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German Pages [448] Year 2014
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
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Sven Oliver Müller
Das Publikum macht die Musik Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert
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Mit 29 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-30064-0 ISBN 978-3-647-30064-1 (E-Book) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter www.v-r.de. Umschlagabbildung: Thomas Rowlandson: »The boxes, O woe is me, t’have seen what I have seen seeing what I see – Shakespear«, 1809 © By permission of the Folger Shakespeare Library © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt I. Einleitung: Die Gesellschaft macht die Musik . . . . . . . . . . . . 7 1. Das Publikum als Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Kommunikation im Musikleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3. Forschungskontexte: Auf dem Weg zu einem »musical turn« in der Geschichtswissenschaft? . . . . . . 19 4. Spielstätten in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 5. Quellenlage und Aufbau der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 II. Kulturelle Distinktion und soziale Ungleichheit
in der Musikrezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1. Orte der Kommunikation: Opernhäuser und Konzertsäle in Berlin, London und Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Musikkonsum und Repräsentation: Zur Verknüpfung von Verhaltensmustern mit sozialer Ungleichheit in Oper und Konzert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
III. Kulturtransfer in Europa: Die Entwicklung gemeinsamer
Repertoires, Ästhetiken und Geschmäcker . . . . . . . . . . . . . . 105 1. Werk und Wirkung: Ästhetische Herausforderungen von Beethoven bis Schönberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2. Virtuosenkult: Der Erfolg charismatischer Künstlerinnen und Künstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 3. Orte für Träume: Von inszenierten Welten und orientalischen Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4. Orte für Alpträume: Feuer und Tod im Opernhaus . . . . . . . . 201
Inhalt | 5 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
IV. Die Ambivalenz der Musikerfahrung: Selbstdisziplinierung
und Kontrollverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
1. Die Erfindung des Schweigens: Die Herausbildung eines neuen Hörverhaltens seit 1820 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2. Saalschlachten: Prügelnde Bürger und streitende Adelige . . . . 259 V. Politischer Konsens und Dissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
1. Politische Selbstbegeisterung: Staats- und Galaaufführungen . . 295 2. Musik als Waffe: Politische Demonstrationen im Vormärz und in der 1848er-Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 VI. Rückblicke und Ausblicke: Die Entwicklung des Publikums
vom 19. ins 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
1. Bilanz: Unterschiede in den Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . 365 2. Ausblick: Das Publikum im 20. Jahrhundert – ein historisches Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 1. Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 2. Zeitungen und Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 3. Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 4. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 1. Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 2. Sachen, Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 3. Kompositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 6 | Inhalt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
I. Einleitung: Die Gesellschaft macht die Musik 1. Das Publikum als Gemeinschaft Der Auftritt der schwedischen Starsopranistin Jenny Lind im Londoner »Her Majesty’s Theatre« im Jahre 1847 zeigte das Ineinanderspiel von Künstlern und Publikum. Ihre Arien aus Giacomo Meyerbeers Robert der Teufel wurden da capo verlangt und sofort gegeben. Die Menge rief, jubelte und winkte mit Hüten und Taschentüchern. Bei einer Szene unterbrach das vor Freude plötzlich aufschreiende Publikum die Lind und zwang sie durch lauten Applaus zu pausieren. Ein ungeheurer Jubellärm füllte das Opernhaus für volle drei Minuten. Das Publikum wollte die eigene Begeisterung nicht kontrollieren, es spendete Beifall unmittelbar nach markanten Spitzentönen, manchmal mitten in einer Arie.1 Die fehlende Konzentration des Publikums mochte Sängern schmeicheln, doch sie verärgerte häufig die Komponisten. In dieser Hinsicht unterschieden sich die öffentlich zugänglichen Opernhäuser kaum vom exklusiven Musikleben der Adeligen in ihren Residenzen. Louis Spohr wunderte sich vor seinem Konzert am Braunschweiger Hof darüber, dass die Herzogin ihn aufforderte, nicht forte zu spielen, denn zu laute Klänge lenkten sie von ihrem Kartenspiel ab. Bürger und Adelige hörten viele der gespielten Kompositionen kaum, weil die Aufmerksamkeit der gegenseitigen Unterhaltung galt. Die Aufführungen der Musiker auf der Bühne zu erleben, war zwar wichtig, wichtiger aber war das Interesse an den sozialen Aufführungen im Zuschauerraum.2 Auf den ersten Blick mag einiges dafür sprechen, derartige Ereignisse als unbedeutsamen Klatsch abzutun. Auf den zweiten Blick spricht aber manches dafür, dem Publikum des 19. Jahrhunderts eine größere Bedeutung beizumessen als bislang geschehen. Verschiedene Hörertypen waren im Musikleben zu bestaunen: Konsumenten und Bildungsbeflissene, Adelige und 1 Vgl. TI, 3.5.1847, MW, 8.5.1847, 302–305, MP, 5.5.1847; DN, 5.5.1847. 2 Louis Spohr hielt in seinen Lebenserinnerungen, Bd. 1, 245 f., fest, dass die soziale Praxis des musikalischen Lärmens ganz Europa im Griff hatte.
Einleitung | 7 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Sensationslustige, Akademiker und Kinder. Die Vielzahl und die Vielfalt der Musikfreunde war eine notwendige Bedingung für die Arbeit der Komponisten, Künstler und Veranstalter. Das führt zur zentralen Frage: Was oder wer ist »das Publikum«? Das scheint zunächst nicht erklärungsbedürftig zu sein. Denn jedermann kennt diese Gruppe und sieht sich, egal ob im Kino oder im Konzert, vor dem Fernseher oder im Theater, immer wieder als Teil dieser Gemeinschaft. Doch wer gehörte im 19. Jahrhundert überhaupt zu dieser Gruppe, bildete sie stets eine Gemeinschaft, wie verhielt sie sich, welche Handlungsmacht fiel ihr zu und wie wandelte sie sich im Laufe der Zeit? Das Publikum ist eine Art »Blackbox«, die neugierig darauf macht, was überhaupt in ihr passiert, wie sie entsteht und sich wandelt. Reale Zuhörer, d. h. die Anwesenden in einer Aufführung zur selben Zeit am selben Ort, sind etwa von denjenigen Rezipienten zu unterscheiden, die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Plätzen Berichte über Konzerte lesen und angeregt darüber diskutieren. Streng genommen sollte diese Pluralität der Rezipienten dazu führen, in der Forschung nicht vom Publikum, sondern von Publika zu sprechen.3 Der Blick richtet sich in dieser Studie auf ein wirkmächtiges, nämlich auf die Geschichte der Besucher musikalischer Aufführungen in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert. Analysiert werden prächtige Galas, der Streit über Komponisten, die Auftritte berühmter Virtuosen und die elitäre soziale Selbstinszenierung des Publikums in den großen Opernhäusern und Konzertsälen dieser drei Metropolen. Das Publikum sicherte seinen Stellenwert in der Gesellschaft durch seine regelmäßige öffentliche Präsenz bei musikalischen Aufführungen und durch seine Debatten über diese Veranstaltungen.4 Ziel ist es, das Verhalten und die Gestaltungsmacht dieser Menschenmenge zu beschreiben. Das Publikum besuchte Konzerte, um sich als soziale und politische Elite kenntlich zu machen, was bedeutete, den eigenen Status in der Gesellschaft darzustellen, anzumelden oder zu verteidigen. Es investierte für seinen Genuss der großen Spielstätten oft viel Geld, bewertete die Leistungen der Künstler und der übrigen Besucher und spendete dem Repertoire Lob oder Kritik. Seine musikalischen Interessen, seine Geschmäcker wurden zu sozialen Praktiken. Deshalb ist diese Arbeit eine Sozial- und Kulturgeschichte des Publikumsverhaltens. 3 Vgl. Dollase, Publikum in Konzerten, in: Strauß (Hg.), Zuschauer, 139–174; ders., Musikkonsumenten, 113–142; Bennett, Theatre Audiences; Small, Musicking. Zudem Hinrichsen, Musikwissenschaft, 78–90; Wegmann, Musicology, 136–145; Höffling, Musik, 83–107. 4 Der Soziologe Gerhard Schulze, Erlebnisgesellschaft, 460, bezeichnet mit dem Begriff Publikum »jedes Personenkollektiv …, das durch den gleichen Konsum eines bestimmten Erlebnisangebots abgegrenzt ist«.
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Aufführungen von Musik erschaffen und erweitern Gemeinschaften. Das ist die erste Hypothese dieser Arbeit. Gezeigt werden soll, wie durch die Verhaltensmuster der Publika im Spielbetrieb eine Verständigung gelang, die sich etwa durch die gesprochene Sprache oder durch das Betrachten von Bildern nicht oder anders vollzog. Damit wird in dieser Studie Neuland betreten. Nach dem heutigen Kenntnisstand ist noch unklar, ob durch musikalische Aufführungen soziale und politische Gruppen erstmals entstanden oder ob es umgekehrt bereits bestehende Gruppen im Musikleben waren, die in der Regel miteinander kommunizierten.5 Verbanden kulturelle Vorlieben und soziale Verhaltensmuster Menschen von unterschiedlicher Herkunft und von unterschiedlichem Status miteinander? Damit ist nicht nur vom gemeinsamen Genuss der Musik die Rede, sondern auch von den Wünschen des Publikums, soziale Beziehungen oder politische Rangordnungen zwischen den Hörern zu bestimmen.6 Innovativ ist dieser Ansatz deshalb, weil die erlernten Verhaltensweisen des Publikums als sozial wirkungsmächtiges, mithin gesellschaftlich relevantes Handeln untersucht und dadurch im Idealfall erklärt werden können. Die zweite Hypothese lautet, dass das Publikumsverhalten nicht historisch unabänderlich bestand, sondern sich über den Zeitraum des 19. Jahrhunderts hinweg veränderte. Die Funktion von Musik in der Gesellschaft wandelte sich im 19. Jahrhundert, und zwar nicht nur, weil die notierten Werke sich änderten, sondern weil sich zwischen 1820 und 1860 die Praktiken des Hörverhaltens veränderten. Die Hörer der Kunstmusik zwangen sich zum Schweigen im Konzertsaal, disziplinierten den Körper und verzichteten auf Saalschlachten. Die Konzert- und Opernhäuser wurden zu Orten, in denen Zuhörer zunehmend vom Urteil der Anderen abhängig wurden und so das eigene Verhalten kontrollierten. Diese Distinktion war sozial erwünscht. Auf diesen Zusammenhang von kultureller Praxis und sozialer Genese hat Jürgen Habermas als einer der Ersten hingewiesen: »Strenger noch als am neuen Lese- und Zuschauerpublikum läßt sich am Konzertpublikum die Verschiebung kategorial fassen, die nicht eine Umschichtung des Publikums im Gefolge hat, sondern das ›Publikum‹ als solches überhaupt erst hervorbringt.«7 5 Der amerikanische Historiker William Weber verwendet für diese Gruppenbildung den Begriff »taste publics«. Weber, Middle Class, bes. 11 f. und passim. Vgl. Samson, Music and Society, 1–49. 6 Vgl. Small, Musicking; 183–221; Frith, Music, 92–101; Cook, Music, 204–214; Fischer-Lichte, Ästhetik, 31–57. Beachtenswert sind aber ebenso die skeptischen Überlegungen von Knoblauch, Kommunikationskultur, 58 f., 314f; sowie die Beiträge in Gusy/Haupt (Hg.), Inklusion und Partizipation. 7 Habermas, Strukturwandel, 101.Vgl. Heister, Konzert, 1 Bd., 100–116.
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Scheut man die Zuspitzung nicht, dann besuchte das Publikum nicht einfach nur öffentliche musikalische Veranstaltungen – es war Bestandteil der Öffentlichkeit. Genauer: Es wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Öffentlichkeit durch den Akt des kollektiven Musikkonsums. Diese Studie handelt von Aufführungen in den Konzert- und Opernhäusern in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert, von den Musik-Debatten in wichtigen Zeitungen und in der Ratgeberliteratur. Dabei fällt die ungleiche soziale Schichtung des Opern- und Konzertpublikums auf. Die große Spannbreite der Eintrittspreise verdeutlicht die leichteren Zugangsbedingungen für den hohen und niederen Adel, für das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum sowie die erschwerten oder nicht vorhandenen Zugangschancen für Kleinbürger, Diener und Arbeiter. Die Hörer finanzierten nicht nur die Konzerte und veränderten die musikalischen Institutionen. Sie wirkten als mächtige Urteilsinstanz, weil sie durch den Spielbetrieb ihren sozialen Status sicherten, politische Interessen legitimierten und kulturelle Regeln festlegten – und nicht zuletzt die Karriere der Komponisten und Künstler beeinflussten. Deshalb ist diese Arbeit nicht die Geschichte des wie immer auch zu definierenden gesamten Publikums, sondern die einer Elite. Im Mittelpunkt stehen die Verhaltensmuster und die Ordnungsstrategien einer zahlenmäßig kleinen, aber politisch, sozial und ökonomisch mächtigen Elite und deren einzelne Gruppen: Hofadel und Monarchen, Bildungsbürger und Unternehmer, Politiker und Journalisten. Sie alle nutzten ihre sozialen Beziehungen und politischen Geschmacksurteile, um auf der musikalischen Bühne durch Beifall oder Protest ihre Interessen und Werte zu demonstrieren. Der den Zuhörern bereitete Genuss der Musik ist von der sozialen Funktion der Aufführungen nicht zu trennen. Das ist die dritte Hypothese. Wichtig ist es, Aufführungen nicht nur musikalisch zu analysieren. Ebenso aufschlussreich ist es, die soziale Praxis des Publikums zu untersuchen, das versuchte, soziale, politische und wirtschaftliche Positionen zu besetzen. Denn soziale Praktiken, so die Annahme, waren zugleich ein Ausdruck und ein Motor seines Handelns. Unter Praktiken werden hier diejenigen Verhaltensmuster verstanden, welche durch regelhafte Wiederholungen zu einem Lebensstil werden konnten. Eine Aufführung zu erleben und dabei zu handeln, kann eine soziale Gemeinschaft zwischen den Musikern und zwischen unterschiedlichen Hörern erschaffen. Hilfreich für diese Arbeit sind die neuen Überlegungen einer Gruppe von Musikwissenschaftlern und Psychologen, die im Anschluss an den als klassisch geltenden Ansatz von John Dewey zur Gruppenbildung durch Hörerlebnisse forschen. Sie heben hervor, dass die musikalische Rezeption erst durch die Synchronisierung zahlreicher verbaler und nonverbaler Verhaltensmuster des Publikums unter10 | Einleitung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
sucht werden kann.8 Die Vergemeinschaftung der Elite im Musikleben, die Freundschaft und die Feindschaft zwischen Adeligen und Bürgern zeigten sich, so die Annahme, in ihren sozialen Praktiken. Um das zu zeigen, richtet sich der Blick auf die Beziehung zwischen Hören und Handlung, auf das Verhältnis von musikalischem Konsum und sozialer Distinktion, auf den Streit über unterschiedliche Geschmäcker und Normen. Deshalb sind musikalische Aufführungen in Oper und Konzert Orte einer Gesellschaftsgeschichte der Eliten.9 Die Bandbreite der Praktiken und Verhaltensmuster im Konzert- und Opernhaus ist beachtlich: Sie reicht von Bewegungen und Gesten über ständigen Blickkontakt bis zu demonstrierten Geschmackspräferenzen, von der Auswahl modischer Kleidung bis zur hierarchischen Sitzordnung. Es geht dabei weniger um einmalige Entscheidungen oder um unerwartete Situationen als um routinierte Lebensstile. Bereits die Wahrnehmungsformen und die Bewertungen von Musik entstanden aus dem sich immer wiederholenden und dadurch erlernten Umgang mit ihr. Abend für Abend kehrten dieselben Zuhörer auf dieselben Plätze zurück, führten die gleichen Gespräche und tranken den gleichen Wein, während sie einem sich wiederholenden Repertoire lauschten.10 Um diese Praktiken erfassen zu können, sind die Überlegungen von Pierre Bourdieu hilfreich. Demnach zeichnet sich der Habitus des Musikliebhabers durch Kunstkenntnis und Kunstempfänglichkeit aus. Eng damit verbunden sind seine Überlegungen darüber, inwieweit die soziale Distinktion zu einem bürgerlichen oder aristokratischen Lebensstil führte.11 Durch diesen Ansatz soll es gelingen, vermeintlich nichtige Details des Musiklebens an die großen gesellschaftlichen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts anzubinden. Ein Musikstück zu mögen oder nicht, sich für die Kleidung und das Gespräch eines Sitznachbarn zu interessieren oder nicht – all das waren mehr als unterhaltsame Selbstverständlichkeiten. Diese Indikatoren offenbaren die gesellschaftlichen Ordnungsstrategien der Eliten des 19. Jahrhunderts. Herzöge und Impresari, Bankiers und Professoren, Berliner und Londoner suchten einigen brennenden Problemen der Epoche mit ih8 Vgl. außer Hargreaves/MacDonald/Miel, People Communicate, 1–25, vor allem Davidson, Bodily Communication, 215–238; die Beiträge in Bernius (Hg.), Erlebnis Zuhören und die Studie John Deweys, Art as Experience. 9 Vgl. dazu die Überlegungen von Cook/Dibben, Musicological approaches, 45–70; DeNora, Aesthetic agency, 161–180; Finnegan, Music Experience, 181–192. 10 Vgl. die Überlegungen zu einer Kulturgeschichte des Publikumsverhaltens in Europa Müller, Analysing Musical Culture, 833–857; Ther, Mitte der Gesellschaft; die Beiträge in Müller [u. a.] (Hg.), Oper im Wandel; insges. Dentith, Society, bes. 1–27. 11 Bourdieu, Soziologie, 159–201; Sozialer Sinn, 97–121; Soziologische Fragen, 147–52. Vgl. Gebesmair, Musikgeschmack; Kaschuba, Symbolisches Kapital, 18–35.
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ren Handlungen im Auditorium zu begegnen – oder zu entfliehen. Das klassische Erklärungsmodell von »challenge and response« gilt gerade für das Musikleben des 19. Jahrhunderts. Im Publikumsverhalten sind die Herausforderungen von sozialer Ungleichheit und konkurrierenden politischen Interessen, von Konsum und Urbanisierung, Fragen des Kulturtransfers und der Geschlechterordnung zu entdecken.12 Der Zeitraum des musikalischen 19. Jahrhunderts entspricht dem des »langen 19. Jahrhunderts« in der europäischen Geschichte, etwa dem Zeitraum von 1790 bis 1910. Diese Epoche ist eine kaum trennscharf zu bestimmende Zeit der »Verwandlung der Welt« (Osterhammel). In diesem Jahrhundert entstanden politische, soziale und ökonomische Bedingungen, welche den Gesellschaften neuartige Möglichkeiten schufen und Probleme eröffneten. Die Industrialisierung, die Demokratisierung und die Medialisierung wirkten weit hinein in das 20. Jahrhundert. Trotz zahlreicher methodischer Einschränkungen spricht vieles dafür, das 19. Jahrhundert als Epoche nachhaltiger Modernisierung zu verstehen. Gleiches gilt auch für die Form und die Reichweite des Musiklebens dieser Zeit. Ohne die Auswirkungen von Besitz und Bildung, ohne wachsende soziale Ungleichheiten und verschärfte politische Ambitionen hätte sich die hier untersuchte Geschichte der Musikrezeption der Eliten in Berlin, London und Wien nicht ereignet.13 Zur Untersuchung der Strukturen und der Wandlungen des Musiklebens dieser Zeit ist es wichtig, auf bestimmte Zäsuren zu achten. So markiert das zweite Viertel des 19. Jahrhunderts, d. h. die Jahre etwa zwischen 1820 und 1850, einen deutlichen Wendepunkt in der Musikrezeption Europas. Damit ist die vierte Hypothese genannt. In diesem Zeitraum erfuhren Opern und Konzerte ein nach heutigen Maßstäben kaum glaubliches Maß an massenmedialer Aufmerksamkeit. Die neuen Anforderungen des Publikums waren für die baulichen Entwicklungen wie auch die zunehmende Professionalität der Musiker der entscheidende Faktor. Diese drei Jahrzehnte waren zugleich eine Phase der Verfestigung eines klassischen Repertoires und der Ausgangspunkt für die Entstehung eines neuen konzentrierten Hörverhaltens. Kurzum: Diese dynamische Übergangszeit setzte in Gestalt neuer Institutionen, Repertoires und Künstlertypen wichtige Impulse, die spätestens seit den 1880er-Jahren zu Standards im Spielbetrieb wurden. Blickt man auf ähnliche kulturhistorische Entwicklungen im 19. Jahrhundert, etwa auf den Übergang zur Kommunikationsgesellschaft, den Aufstieg 12 Das entspricht den Argumenten von Pasler, Composing. 13 Vgl. die Argumente von Osterhammel, Verwandlung, 84–89, 102–09; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, 2. Bd.; Nipperdey, Geschichte 1800–1866.
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des publizistischen Marktes oder auf die Professionalisierung des Wissenschaftsbetriebs, dann setzte das Musikleben weniger neue Maßstäbe, sondern fügte sich ein in diesen große Wandlungsprozess. Zeitlich spannt sich der Bogen dieser Studie von der Wiener Klassik hin zur komplementären Abkehr vom musikalischen Kanon durch die Moderne, von den Kompositionen Ludwig van Beethovens bis zu denen Arnold Schönbergs. Um die Bedeutung der deutschen Romantik nicht zu weit hervorzuheben, richtet sich der Blick auch auf die »Kleinmeister« dieses Jahrhunderts, auf Komponisten, die in verschiedenen europäischen Städten 1840 einen staunenswerten Erfolg erlebten und 1890 beinahe vergessen waren, wie etwa Louis Spohr, Sigismund Thalberg oder Félicien David. Faszinierend ist es, im europäischen Musikleben die Entstehung eines Netzwerks aus Komponisten, Künstlern, Veranstaltern, Kritikern und Konsumenten seit den 1820er-Jahren zu entdecken. Konzerte von Niccolò Paganini und teure Opernproduktionen von Giuseppe Verdi ermöglichten es der Elite, sich individuell, aber auch abhängig von anderen zu erleben. Durch sozialen Zwang wuchs die Aufmerksamkeit für eine gemeinsame Vertrautheit innerhalb des eigenen musikalischen Raums – und damit für erfolgreiche Handlungen. Auch deshalb ist es erklärungsbedürftig, dass der in zahlreichen Situationen öffentlich verbindende Charakter von Musik lange Zeit die Forschung nicht als Kraft von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung interessiert hat. Eine solche sozialintegrative Wirkung ist allen Künsten eigen; im Falle des musikalischen Spielbetriebs aber scheint sie besonders stark ausgeprägt, weil Musik im Opernhaus und im Konzert durch viele Menschen produziert wird und auf viele Menschen ausgerichtet ist. Musik kann als die vielleicht sozialste aller Künste gelten.14 Viele Handlungsweisen sind auf Reaktionen der anderen im Saal angelegt. Ein Hörer entscheidet sich dann zur Kommunikation, wenn er davon ausgeht, dass er von den anderen verstanden und akzeptiert wird. Die Bestimmung der vermeintlich »richtigen« Musik und des »richtigen« Hörverhaltens existieren nicht nur dadurch, dass diese Phänomene den Menschen gefallen, sondern auch dadurch, dass jeder darauf achtet, dass sein Geschmack die anderen im Saal beeindruckt. Ob Franz Schuberts Sinfonien oder Carusos Arien durch das Publikum »verstanden« werden können, ist hier nicht die entscheidende Frage. Entscheidend ist, ob die Musik und ihre Interpreten öffentlich gefallen können. Den musikalischen Geschmack zu praktizieren, ist eine öffentlich zu erkennende Handlung – mit all den da14 Dieser Zusammenhang wird z. B. deutlich bei Isherwood, Music; Schleuning, Bürger; Braun/Guggerli, Macht des Tanzes; Kannonier, Zeitwenden und Stilwenden.
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durch initiierten Selbstzwängen und Fremdzwängen. Das Wissen über die Musik, über Komponisten, Stile und Sänger ist Herrschaftswissen, an welchem die Eingeweihten erkennen, wer zu ihnen gehört und wer nicht. Die ungeschriebenen Verhaltens- und Repräsentationsregeln wirken im Publikum als Distinktionsbarrieren. Denn wer die kulturellen Regeln nicht hinreichend beherrscht, kann durch sie ausgeschlossen werden.15 Offenbar machten die vielen Handlungsmöglichkeiten und Deutungsversuche die Aufführungen für die Hörer attraktiv.16 Dieser kreative Spielraum im Konzert und in der Oper wird hier ausführlich untersucht. Das Publikum teilte die Musik, die es wollte und die es liebte, und dadurch konnte es seine Interessen befriedigen und seinen Lebensstil kultivieren. Der Stellenwert dieses Verhaltens wird dadurch deutlich, dass man für jede der drei Städte und jeden der ausgewählten Spielorte zeigt, welche der konkurrierenden Praktiken und Ziele sich durchsetzen. War das Publikum primär an seinem sozialen Status interessiert oder doch an seinem musikalischen Bildungswissen? Oder waren ihm seine Freude am Konsum und seine politischen Wünsche wichtiger? Doch wer ist das Stammpublikum überhaupt, wer das Gelegenheitspublikum und wie unterscheiden sich die Hörergruppen voneinander? Wie sind die »Peer Groups« zusammengesetzt und welche Unterschiede lassen sich im Verhalten des Hochadels und des Landadels, bei Beamten und Bildungsbürgern finden? Auch die genannten Veränderungen im Verhalten des Publikums und die Entstehung neuer Geschmacksmuster müssen erklärt werden. Welche Rolle spielen die Medien, zumal die Zeitungen, die die unterschiedliche Bewertung der Musik im Publikum verstärken? Welche Rolle kommt den Musikvereinen, den bürgerlichen und adeligen Interessengruppen im Konzertleben zu? Zu zeigen ist, welcher Stellenwert den Künstlern zufiel, welche Gestaltungsmacht die Veranstalter hatten. Inwieweit ist die Freude am Konsum und an der Unterhaltung von den erlernten Benimmregeln zu unterscheiden? Wann und wo wird das Repertoire und werden bestimmte Kunstwerke verklärt oder zu Objekten erbitternden Streits?
15 Folgt man Pierre Bourdieus Habituskonzept, wirkt keine Praxis stärker klassifizierend, das heißt, die Verhaltensmuster und den Geschmack einer sozialen Gruppe ausdrückend und prägend, als der öffentliche Musikkonsum. Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, bes. 277–286, 355–399; sowie zur Bestimmung der soziologischen Reichweite Gebesmair, Grundzüge, 47–75; Fulcher, Symbolic Domination, 312–329. 16 Chancen und Grenzen der Verständigung beschreiben Cross/Tolbert, Music and meaning, 27–43. Vgl. die Beiträge in Strauß (Hg,), Zuschauer; Dollase, Publikum in Konzerten; Glogner-Pilz, Publikumsforschung.
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2. Kommunikation im Musikleben Aus historischer Sicht interessiert Musikkultur, weil für sie und durch sie eine Kommunikationsgemeinschaft konstituiert wird. Die in dieser Arbeit diskutierte Frage lautet, wie das Publikum musikalische Aufführungen nutzte, um miteinander zu kommunizieren. Zu klären ist, an welchen Orten und zu welchen Zeiten soziale Kommunikation im Musikleben stattfand, wo sie entstand, bestand und scheiterte. Kontexte sind und bilden etwa das Gespräch im Konzert, die Lektüre der Tageszeitung oder der Opernbesuch. Die hier gelebten Praktiken und Handlungsweisen waren auf Reaktionen, auf Antwort der anderen im Saal oder in den Medien angelegt. Ein Hörer entschied sich zur Kommunikation, wenn er davon ausging, dass er von den anderen verstanden und akzeptiert wurde.17 Es ist ungemein reizvoll, aber aufwendig und komplex, Musik zu dekodieren. Vielleicht gibt es deshalb so viele Kommunikationsversuche, so viele Kommunikationschancen. Unter Kommunikation wird hier jede artikulierte Handlung verstanden, die eine Beziehung zu einem anderen ermöglicht – und jede Äußerung, die als kommunikativ wahrgenommen oder interpretiert werden kann. Kommunikativ sind Vorgänge der Wissensproduktion und der Wissensvermittlung. Kommunikation dient mithin der Koordination von Handlungen. Sie selbst ist das Ergebnis der Koordination von Handlungen. Sie stellt daher ein Paradebeispiel für soziale Ordnung dar. Ohne die Koordination von Handlungen kann sich die Kommunikation zwischen Individuen, geschweige denn innerhalb einer Gruppe, nicht ereignen. Soziale Beziehungen entstehen durch Handlungen und bilden daher einen Kontext für jede weitere Handlung und damit für die Produktion von Gemeinschaften.18 Kommunikation ist daher nicht nur ein Informationsaustausch, sondern auch ein Mittel der Produktion sozialer Beziehungen. Deshalb reicht es nicht aus, sich allein auf die Struktur der musikalischen Komposition, auf das Verständnis der Tonkunst zu konzentrieren. Aus historischer Hinsicht aussagekräftiger sind der Umgang mit und die Bewertung von musikalischen Aufführungen. Zu selten wird musikalische Kommunikation als Prozess begriffen, das Augenmerk auf die Entwicklung der Interessen und Vorlie17 Vgl. dazu den Ansatz von Knoblauch, Kommunikationskultur, 46–56 und passim; sowie die Beiträge in Knoch/Morat (Hg.), Kommunikation als Beobachtung. 18 Einen Überblick über die Perspektiven der Forschung geben Schützeichel, Soziologische Kommunikationstheorien; Knoblauch, Kommunikationskultur, 1–20; und die Beiträge in Burkart/Hömberg (Hg.), Kommunikationstheorien.
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ben der Musikfreunde gerichtet. Kompetenz ist die Grundlage aller Kommunikation des Wissens. Künstler und Journalisten verwandeln ihre musikalischen Erlebnisse in eine wortreiche Sprache und in geregelte Praktiken. Diese Vermittlungswege müssen ausgelotet, und es sollte nach den musikalischen Deutungen in den Texten, im Konsum oder in den Verhaltensmustern gefragt werden. Exemplarisch lässt sich das an der Wirkung der Emotionen beim Publikum zeigen. Da Emotionen nicht nur körperliche Reaktionen sind, sondern sie auch strategisch von den Hörern eingesetzt werden können, ordnen sie lose strukturierte soziale Gebilde. Gemeinsame Praktiken, Stile und Geschmäcker erzeugten positive Emotionen und bestätigten durch die Akzeptanz anderer die Gültigkeit eigener Überzeugungen. Gleiche Bindungskräfte entfalteten das Weinen und das Klagen. Verdi gemeinsam zu lieben oder Wagner zu hassen, einvernehmlich den Sinfonien Beethovens schweigend zu folgen, aber die lärmenden Adeligen im Saal zu verachten, konnte ein Kollektiv herausbilden. Die Kommunikation mit Emotionen hatte soziale Wirkungen, weil sie eine Dynamik in Gang setzte, die immer mehr Menschen dazu motivierte, an dieser Gemeinschaft teilzunehmen. Die Signalwirkung von Emotionen ist bei musikalischen Aufführungen kaum zu überschätzen.19 Musikalische Kommunikationspraktiken führen durch die sozial, politisch, ökonomisch und emotional ungleiche Verteilung zu immer neuen Grenzziehungen im Spielbetrieb.20 Diese Beziehung, und das ist die fünfte Hypothese, wirkt als eine Kette der Kommunikation. Durch sie lassen sich die Abhängigkeiten zwischen Komponisten, Musikern, Auftraggebern, Journalisten und Publikum erkennen. Wichtig ist es dabei, nicht mit einem traditionellen Sender-Empfänger-Modell zu arbeiten. Das heißt zu glauben, dass einer der Akteure handelt (etwa der Sänger) und der Hörer lediglich der abhängige Konsument wäre. Vielversprechender ist die Annahme, dass alle Glieder in dieser Kommunikationskette einander bedürfen. Diese Beziehungen und Entwicklungen verlaufen in beide Richtungen: vom Komponisten zum Publikum, vom Publikum zum Komponisten.21
19 Einen guten Überblick zur Diskussion über das Verhältnis von Musik und Emotion bieten Juslin/Sloboda (Hg.), Music and Emotion; Bradley, Language of Emotion; Budd, Music; Pettenkofer, Euphorie, 256–85. 20 Grundlegend sind die Beiträge in Miell u. a. (Hg.), Musical Communication. Vgl. Lissa, Theorie, 361–376; Blanning, Culture of Power, bes. 106–161. 21 Vgl. die Beiträge in Müller/Osterhammel (Hg.), Musikalische Kommunikation; sowie Miell u. a., communicate using music, 1–25; McVeigh, Concert Life; Knoch/Morat (Hg.), Kommunikation als Beobachtung.
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Eine Sozial- und Kulturgeschichte der Musik kann dieses Kommunikationsmodell gewinnbringend nutzen. Ein Opernhaus funktioniert als sozial strukturierter Ort, denn es kann dazu dienen, die Besucher im Saal durch die Vergabe der Sitzplätze oder durch die ritualisierten Abläufe der Aufführung zu prägen, so dass sich eine zunächst heterogene Menge allmählich als ein fester Bestandteil dieser Institution begreift. Die Sozialstruktur des Publikums ist nicht nur ein Produkt der Architektur und kulturell determinierter Muster, sondern wird auch von den Besuchern selbst erzeugt. Die oft wortlosen Formen sozialer Interaktion, jene Gesten, Handlungen, Geschmacksurteile und Ausgrenzungsstrategien, stehen heute mehr denn je im Brennpunkt sozialhistorischer Forschung. Die Vermittlungsmechanismen im Musikleben zu untersuchen, könnte zeigen, dass soziale, kulturelle und politische Faktoren das Publikum reizten, weil es ihm Chancen in der Gesellschaft eröffnete.22 Empirisch veranschaulichen lassen sich Vermittlungen zum einen durch den Blick auf die Spielstätten, die Institutionen und die Vereine in Berlin, London und Wien, zum zweiten durch die Praktiken im Publikum und die Verbreitung des Bildungswissens und zum dritten durch einen Vergleich der Publikumsstruktur und der Repertoires in den drei Städten. Diese Zugänge erlauben es, eine Verflechtung sozialer und kultureller Faktoren zu analysieren. Ohne diese Verflechtungsgeschichte ist die Bedeutung des Publikums nicht zu verstehen. So lautet die sechste Hypothese. Zu beobachten ist eine Kommunikationskette, an deren Beginn und an deren Ende die Erwartungen, Wahrnehmungen, Veränderungen und Anpassungen des Publikums stehen. Zunächst besuchte das Publikum die Aufführung und erlebte die Künstler. Dabei verständigte es sich durch sein körperliches Verhalten, seine intensiven Gespräche und am nächsten Tag durch die Lektüre der Zeitungen, in denen auch die Kritiker den Konzertabend bewerteten. Darauf achteten nicht nur die Konzertbesucher, sondern auch die Veranstalter und die Komponisten, um den Spielbetrieb im eigenen Interesse und im Interesse des Publikums auszurichten.23 Die geschichts- und die musikwissenschaftliche Forschung trennt in der Regel die Institutionen der Oper und die des Konzertes voneinander. Der Blick auf die Kommunikation des Publikums im Musikleben aber legt eine 22 Vgl. die Überlegungen in Hauser-Schäublin/Dickhardt (Hg.), Kulturelle Räume; sowie Frevert, Politische Kommunikation, 7–19; einen Forschungsüberblick liefert Walther, Bürger, 377–409. 23 Vgl. Müller, Wagner; Schleuning, Bürger; Ziemer, Moderne; Toelle, Oper als Geschäft; Gooley, Virtuoso Liszt; DeNora, Beethoven; Bauer, Beethoven; Baumeister u. a., Kunst der Geschichte.
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andere Perspektive nahe – die kulturelle Konvergenz. Opern- und Konzertbesucher sind in dieser Arbeit gleichermaßen von Interesse, weil sich beide Orte hinsichtlich der Konsumformen, des Repertoires und der sozialen Praxis bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein nur graduell unterschieden und die Zusammensetzungen ihrer Publika ebenfalls deutlich konvergierten.24 In ihrer sozialen Schichtung, ihrer politischen und ihrer wirtschaftlichen Bedeutung waren sich die Besucher beider Häuser und Institutionen sehr ähnlich. Auffällig sind allenfalls die wachsenden Beschwerden des Bildungsbürgertums über die geschmacklichen Fehlgriffe der aristokratisch dominierten Opernhäuser. Auch deshalb ist hier zu begründen, warum das Bildungsbürgertum neue Konzertserien und neue Musikvereine initiierte. Eine Konsequenz aus dieser Geschichte des kommunikativen Verhaltens der Elite ist, dass der Fokus auf dem Repertoire der sogenannten »ernsten Musik«, das heißt der Kunstmusik des 19. Jahrhunderts liegt. Hier interessieren die stilprägenden Genres der Sinfonien und der Solokonzerte auf der einen und der repräsentativen Opernaufführungen auf der anderen Seite. Das bedeutet umgekehrt, viele Genres auszublenden: Die Kirchen- und die Chormusik ebenso wie die ganze Bandbreite der Unterhaltungsmusik, etwa Arbeiterlieder, Tänze auf einem Fest oder die Musik in den Varietés. Die Aufführungen von Kunstmusik lassen sich empirisch leichter untersuchen, ihr gesellschaftlicher Stellenwert methodisch besser erfassen. Zwar funktionierte diese Kombination aus kultureller und sozialer Ordnung auch in anderen öffentlichen Orten (Tanzlokale, Cafès, Feste, Park) im Musikleben von Handwerkern, Dienern oder Arbeitern – mithin bei anderen Publika. Was dort aber im Vergleich zu den Begegnungsräumen der Elite fehlte, sind die institutionelle Verfestigung der Spielstätten, ein regelmäßiges Repertoire und ein fester Publikumsstamm – und nicht zuletzt die kontinuierliche Berichterstattung in der Presse. Der Blick richtet sich auf formal aufwändig konzipierte Werke und groß besetzte musikalische Gattungen. Untersucht werden Aufführungen, die aus sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ursachen ein großes Publikum benötigten – und somit die öffentliche Kommunikation beflügelten. Diese Aufführungen gelangen in einem Netzwerk aus nie isolierten, aber vielfältig kombinierten Reizen, die genau deshalb so nachhaltig wirkten. Ein Abend im Opernhaus bot den Besuchern eine Fülle von miteinander verknüpften Attraktionen: Klänge des Orchesters und des Chors, die Bewegung der 24 Vgl. etwa Fenner, Opera; Mahling, Musikbetrieb, 27–284; Zerback, Verbürgerlichung, 215–233: sowie die Beiträge in Kocka (Hg.), Bürgerlichkeit.
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Sänger und des übrigen Publikums, Dekorationen auf der Bühne und im Auditorium. Oratorien und Ballette werden fast, Chorgesang, Lieder und die Kammermusik ganz ausgeblendet. Solistische Auftritte von Virtuosen bilden in diesem Ansatz eine Ausnahme und werden untersucht, weil auch deren Auftritte den öffentlichen Umgang mit der Kunstmusik erkennen lassen.
3. Forschungskontexte: Auf dem Weg zu einem »musical turn« in der Geschichtswissenschaft? Warum sollten sich Historikerinnen und Historiker mit Musik beschäftigen? Öffnet das der Geschichtswissenschaft einen neuen thematischen Zugang und erschließt ungewöhnliche Fragestellungen? In den Geschichtswissenschaften wird alle Jahre wieder ein neuer »turn« verkündet. Nach dem »linguistic turn« machte die Forschung einen »iconic turn« oder »visual turn« durch. Diesen Ansätzen liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Medien mehr sind als Übertragungskanäle. Vielmehr strukturiert die Art und Weise öffentlicher Vermittlung selbst soziale und kulturelle Beziehungen. Nun ließe sich auch von der Musik annehmen, dass sie eine wichtige Wirkung auf die Modellierung gesellschaftlicher Relationen ausübt. Das wirft die Frage auf, ob es sich inzwischen anbietet, einen »acoustic turn«, oder, um es aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft genauer zu formulieren, einen »musical turn« auszurufen.25 Um es beruhigend vorwegzunehmen – die vorliegende Studie ist weder in der Lage noch willens, eine neue theoretische Kategorie auszurufen. Weder eine »alte« noch eine »neue« Kulturgeschichte haben die Geschichtswissenschaft, jedenfalls vor etwa 1990, dazu verleiten können, sich eingehend mit Musik zu beschäftigen. Der gleiche Befund gilt für die großen Überblicksdarstellungen der Sozialgeschichte. Thomas Nipperdey widmet der Musik immerhin 16 der 2.671 Seiten seiner dreibändigen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Wolfgang Mommsens zweibändige Geschichte Deutschlands umfasst kursorische Beobachtungen zu einzelnen Fällen, konzentrierte 25 Das ist das Schlagwort des gleichnamigen Sammelbandes von Meyer (Hg.), Acoustic Turn. Ähnliche Argumente finden sich bei Johnson, Academic Turns, 1–26; Müller, Sound, 1–29. Vgl. dagegen die kritischen Bemerkungen über die fehlende methodische Reichweite dieses Konzeptes von Müller, Analysing Musical Culture, 833–857, sowie die Überlegungen von Geisthövel, Tonspur, 157–168; Schwalb, Zeitzeugen, 10–31. Einen wichtigen Überblick über den aktuellen Stand der geschichtswissenschaftlichen Forschung bieten Morat, Geschichte des Hörens, 695–716, und Müller/Osterhammel, Geschichtswissenschaft und Musik, 5–20.
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sich aber eher auf die Literatur. Und Hans-Ulrich Wehler vermeidet in seiner fünfbändigen Gesellschaftsgeschichte konsequent die Musik – abgesehen von drei Seiten über den Richard-Wagner-Kult im Kaiserreich.26 Sogar die Bürgertumsforschung hatte Musik lange Zeit weniger stark beachtet, als dies aus der Perspektive der historischen Subjekte zu erwarten gewesen wäre. Noch erklärungsbedürftiger scheint, warum die Konjunktur des kulturgeschichtlichen Interesses der vergangenen Dekaden und die Diskussion über bürgerliche Weltbilder und Verhaltensweisen die Musik oft nur am Rande thematisiert hat.27 Eine erste Schwierigkeit für die Geschichtswissenschaft besteht im Umgang mit der musikwissenschaftlichen Forschung. Im Selbstverständnis begründete Hindernisse zwischen den Disziplinen beschränkten die Erkenntnismöglichkeiten der Geschichtswissenschaft.28 Die technischen Hürden sind in diesem Falle höher als bei Literatur und Kunst. Über ein Gemälde oder ein Gebäude kann auch der Laie mit einer gewissen Zuversicht sprechen. Der werkanalytische Zugang zur Musik verlangt hingegen Notenkenntnis und ein Wissen um die Grammatik und Semantik der musikalischen Sprache. Wahrscheinlich haben bereits das Tonsystem und die Notation musikalischer Formen, mithin die große Spezialisierung der Musikwissenschaftler, Historiker jahrzehntelang abgeschreckt. Denn durch die Analyse der Schriftsprache schien sich die Vergangenheit deutlich besser erforschen zu lassen als aus der Beschäftigung mit einem Dominantseptakkord.29 Der Ertrag der Musikwissenschaft fällt nur vordergründig befriedigender aus. Denn die Musik- und Theaterwissenschaften haben nur wenig Gewicht auf die Rezeption von Musik und ihre sozialen und politischen Implika tionen gelegt. Die methodische und empirische Abgrenzung der Musikund der Geschichtswissenschaft hat die Erkenntnismöglichkeiten beider 26 Den bisherigen Höhepunkt einer solchen Annäherung markieren die Kapitel über Musik in Thomas Nipperdeys Deutsche Geschichte, Bd. 2, 547–51; ders., Deutsche Geschichte, Bd. 1, 741–52. Vgl. Mommsen, Bürgerstolz; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, 745–48. 27 Vgl. Döcker, Ordnung; Jefferies, Imperial Culture; die Beiträge in Hein/Schulz (Hg.), Bürgerkultur, und in Hettling/Hoffmann (Hg.), Wertehimmel. Vgl. zu England Gunn, Public Culture; Horn, Pleasures & Pastimes; Richards, Commodity Culture. 28 Dieses Problem diskutiert zuletzt Johnson, Introduction, 1–26. Vgl. Herbert, History; Treitler, History and Music, 209–230. Vgl. zu dieser methodischen wie empirischen Grenze der Geschichtswissenschaft insgesamt: Bennett, Audiences, 92–114; Toews, Integrating, 309–331; Weber, Dialogue, 7–21. 29 Positive Ausnahmen von dieser Ausrichtung sind etwa die Ansätze von Döhring/HenzeDöhring, Oper; Küster, Konzert; Salmen, Konzert; Heister, Konzert, 2 Bde.; Forsyth, Bauwerke für Musik, und die Beiträge in Bermbach/Konold (Hg.), Abglanz.
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Disziplinen beschränkt.30 Die Musikwissenschaft hat sich lange Zeit für wenig mehr als die Werke selbst, bestenfalls noch für die Biografien ihrer Ur heber interessiert. Die soziale Rahmung der Produktion und des Konsums von Musik wurde nur am Rande beachtet; deren politische Funktionalisierung und ihr medialer Charakter sind nur peripher in ihren Gesichtskreis getreten.31 Allerdings sind die organisatorischen Probleme des Musikbetriebes, die Aufführungsgeschichte, Management- und Finanzierungsfragen und ebenso die Veränderungen des Repertoires, der Stile und des Orchesters auf hohem Niveau untersucht worden. Ernüchternd ist der Ertrag der Musikwissenschaft und der Musiksoziologie für die Publikumsforschung. Eine genauere Definition der amorphen Kategorie »Publikum« liegt nicht vor. Zwar mangelt es nicht an knappen Hinweisen in einigen Handbüchern,32 doch wird diese Kategorie kaum methodisch erfasst, denn der Schwerpunkt liegt auf empirischen Studien über die Zusammensetzung und die Geschmackspräferenzen der heutigen Konzertbesucher.33 Erstaunlich und erklärungsbedürftig ist es, dass sich in den beiden wichtigsten musikwissenschaftlichen und je 29 Bände umfassenden Lexika, »Musik in Geschichte und Gegenwart« (2010) und »New Grove Dictionary of Music and Musicians« (2001), keine Einträge unter der Rubrik »Publikum« bzw. »audiences« finden lassen. Der gleiche Befund trifft auch auf viele andere einschlägige musikwissenschaftliche Lexika zu.34 Eines der wichtigsten Phänomene im Musikleben wird übersehen oder ignoriert. 30 Vgl. Treitler, History and Music, 209–230. 31 Manche Arbeiten haben aber auch die Frage nach den sozialen und kulturellen Entstehungsbedingungen der Musik und den in den Kompositionen enthaltenen Weltbildern aufgeworfen. Bereits Carl Dahlhaus räumte in seinen Werken dem gesellschaftlichen Kontext der Musik viel Raum ein. Vgl. Dahlhaus, Musik des 19. Jahrhunderts; sowie Ballantine, Music; Leppert, Music and Image; Whitall, Autonomy, 73–101; Wolff, Ideology, 1–12. 32 Vgl. z. B. de la Motte-Haber (Hg.), Lexikon, 392–94; Motte-Haber/Neuhoff, Musiksoziologie, 473–509. 33 Vgl. Bekmeier-Feuerhahn u. a. (Hg.), Zukunft Publikum. Aufschlussreich ist der soziologisch-psychologische Ansatz bei Dollase/Rüsenberg/Stollenwerk, Demoskopie im Konzertsaal; die Befragung der Bayreuther Festspielgäste in: Gebhardt/Zingerle (Hg.), Pilgerfahrt; Fischer-Lichte, Theaterpublikum. 34 Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG); The New Grove Dictionary. Diese Blindstelle haben auch die generell vorzüglich argumentierenden Lexika: Brockhaus Riemann Musiklexikon; Eggebrecht (Hg.), Meyers Taschenlexikon Musik; Michels (Hg.), DtvAtlas Musik. Absurd und amüsant ist die Definition des Publikums in der »Stupidedia. Die sinnfreie Enzyklopädie«: »Das Publikum ist eine Gruppe von Androiden, die von verschiedenen Theatern, Kinos oder ähnlichen kulturellen Zentren gemietet werden können, damit öffentliche Veranstaltungen überhaupt besucht werden.« http://www. stupidedia.org/stupi/Publikum (20. Dezember 2013).
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In den letzten zehn Jahren aber kommt auch in der Musikwissenschaft der Rezeptionsästhetik eine größere Rolle zu.35 Die Trennung zwischen Komposition, Aufführung und Rezeption verliert immer weiter an Bedeutung. Damit ist die Unterscheidung zwischen Komponisten und Rezipienten im Begriff, ihre Substanz zu verlieren. Mit guten Gründen diskutieren Musikund Theaterwissenschaftler die Frage, ob die Untersuchung der Rezeption der traditionellen und oft philologisch untermauerten Vorstellung eines vermeintlich nicht veränderbaren Werkes vorzuziehen ist, weil sie die Wirkung der Musik jenseits der Ästhetik erklärt.36 Erzeugt erst der Umgang des Publikums mit den Kompositionen die Musik? Dem radikalen Konstruktivismus des schwedischen Musikwissenschaftlers Ola Stockfelt muss man nicht unwidersprochen folgen: »The listener, and only the listener, is the composer of the music.«37 Dennoch scheint klar, dass musikalische Bedeutung niemals ein allein werkimmanentes Phänomen darstellt. Das Publikum macht die Musik, so lautet der Titel dieser Studie, weil Entstehung und Erfolg von Kompositionen erst durch die Entscheidungen sozialer Gruppen und die Investitionen der Veranstalter zu erklären sind. Das ist die siebte Hypothese. Hier wird im Anschluss an die laufende Forschungsdebatte zwischen Geschichts- und Musikwissenschaft der Wirkungszusammenhang zwischen den Kompositionen selbst und ihrem Umgang durch das Publikum untersucht. Die Beliebtheit bestimmter Werke oder Gattungen wird dabei weniger durch ihre ästhetische Qualität begründet als durch deren Bewertung durch die Praktiken der Musikfreunde. Eine Einbettung von Musik in soziale und politische Zeitkontexte, wie sie heute der amerikanische Musikwissenschaftler Richard Taruskin vertritt, ist ein relativ neuer Ansatz, und es ist kein Zufall, dass eine umfassende Darstellung der Rolle von Musik in der europäischen Kultur der letzten Jahrhunderte von einem Fachhistoriker, dem englischen Frühneuzeitler Tim Blanning, vorgelegt wurde.38 Auch die Musiksoziologie hat sich von historischen Fragestellungen, wie sie etwa bei Theodor W. Adorno noch wichtig
35 Dieses Phänomen wird heute auch in der Musikwissenschaft regelmäßig gefordert. Siehe auch die Neugründung des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik in Frankfurt/ Main. Vgl. Small, Musicking; Taruskin, Text and Act; Hinrichsen, Musikwissenschaft, 78–90; Cook, Music as Performance, 204–214; Münch, Perspektive, 33–59; die Beiträge in Johnson/Fulcher/Ertmann (Hg.), Opera and Society. 36 Vgl. etwa Hinrichsen, Kunstwerk, 67–87; ders., Musikwissenschaft; 78–90; Gerhard, Urbanization, Toelle, Impresari; Fischer-Lichte, Ästhetik, 42–57. 37 Ola Stockfelt, zit. n. Finnegan, Music, 181–192 (Zit. 184). Vgl. Cook, Music as Performance, 204–214. 38 Taruskin, Western Music; Blanning, Triumph of Music.
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waren,39 zugunsten empirischer Untersuchungen über gegenwärtiges Musikverhalten entfernt.40 Daher bleibt neben Musikwissenschaft und Musiksoziologie Raum für eine von Historikerinnen und Historikern mit den Instrumenten der kritischen Quellenanalyse betriebenen Kultur- und Sozialgeschichte der Musik und des Musikalischen. In den vergangenen zwanzig Jahren haben manche Historikerinnen und Historiker Versuche unternommen, die Musik mit der Geschichte zu verbinden, sie als Teil einer Geschichte von Gesellschaften zu begreifen. Der Pionier einer Sozialgeschichte der Musik im Europa des 19. Jahrhunderts war 1975 der kalifornische Historiker William Weber. In einer immer noch konkurrenzlosen Arbeit untersuchte er die musikalischen Institutionen und das Konzertpublikum in London, Paris und Wien in den 1830er- und 1840er-Jahren.41 Von hoher methodischer Bedeutung sind ebenfalls die Studien Ute Daniels über das Hoftheater im 19. Jahrhundert und Anselm Gerhards über das Musiktheater in Paris – allesamt Arbeiten, die das wechselseitige Desinteresse von Geschichts- und Musikwissenschaft überwunden haben.42 Selbst die Frage nach dem Verhalten und dem Geschmack des Publikums ist in den vergangenen beiden Dekaden vereinzelt aufgegriffen worden. Der wichtigste Anstoß ging dabei 1995 von James Johnsons Buch »Listening in Paris« aus, das die sich wandelnde Beziehung zwischen der in Opern- und Konzerthäusern aufgeführten Musik und den Publikumsreaktionen vom späten 18. bis ins frühe 19. Jahrhundert untersucht. Seine pointierte, doch einer international vergleichenden Überprüfung noch harrende These besagt, dass sich in Paris ein schweigendes Hörverhalten in Folge neuer Kompositionen und neuer Aufführungspraktiken durchsetzte.43 Die relativ wenigen neueren Arbeiten zur historischen Dimension des Musiklebens wie etwa die Monographien von Celia Applegate, Jennifer Hall-Witt, Philipp Ther und Christophe Charle zeichnen das Bild eines heterogenen Publikums, heben das sinnliche Erleben opulenter Inszenierungen und die vielfältigen 39 Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie; ders., Musikalische Monographien. 40 de la Motte-Haber/Neuhoff (Hg.), Musiksoziologie. 41 Vgl. Weber, Music; ders., Musical Taste. Richtungsweisend wurden auch McVeigh, Concert Life; DeNora, Beethoven. 42 Vgl. Daniel, Hoftheater; Gerhard, Urbanization; sowie Bereson, Operatic; Hunter, Culture; Frisch, German Modernism; Walter, Oper; Meyer, Weber, und den Überblick von Ther, Einleitung, 9–24. 43 Johnson, Listening und Picker, Soundscapes, gelang eine Analyse der auditiven Wahrnehmungen und neuer Verhaltensweisen im viktorianischen England. Ebenso stimulierend für die Debatte zwischen den Disziplinen sind der soziologische Ansatz von DeNora, Beethoven und die Arbeit von Gooley, Liszt, über die gesellschaftliche Rezeption von Franz Liszt in Europa. Vgl. zur Untersuchung des Publikumsverhaltens zudem die Überlegungen von Hall-Witt, Representing, 121–144; Huebner, Audiences, 206–225.
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nationalistischen und kulturellen Implikationen musikalischer Vergnügungen hervor.44 Die Kontroverse zwischen Historikern und Musikwissenschaftlern macht deutlich, dass die bestehenden Interpretationen nur widerspruchsfähig, aber kaum konsensfähig sind. Beide Disziplinen reden oft nicht erfolgreich miteinander, weil sie eine andere Sprache nutzen und andere Erkenntnisinteressen haben. Welcher musikalische Experte sollte den historischen Rang des fmoll Quartetts von Beethoven in Frage stellen, welcher historische Experte wollte dessen musikalischen Rang überhaupt diskutieren? Schlimmer noch: Arbeiten Historiker über eine Komposition, was immer noch selten der Fall ist, dann konzentrieren sie ihre Arbeit auf wenige »Meisterwerke« und hangeln sich von einem nachmalig erfolgreichen, ruhmreichen Werk zum nächsten. Das heißt, wir wissen relativ wenig über diejenigen Kompositionen, welche regelmäßig 1830, aber nicht mehr 1970 aufgeführt wurden.45 Die hier genannten Fragen verweisen auf genuin historische Probleme, die einen historischen Ansatz erfordern. Wann und in welchem Zusammenhang das Publikum während der Vorstellungen im Konzerthaus in Berlin aufhörte zu reden, zu essen, herumzulaufen und im Auditorium lauthals zu demonstrieren – das sind Fragen, die Historiker anders beantworten als Musikwissenschaftler. Die Geschichtswissenschaft ist in der Lage, die Entstehung und den Wandel sozialer Praktiken präziser zu erklären. Die gleichen Musikstücke konnten in unterschiedlichen Konzerten und bei unterschiedlichen Hörern unterschiedliche Reaktionen auslösen. Dazu muss der Fokus der Analyse verschoben werden: von musikalischen Werken hin zur Wirkung von Musik, von der Partitur einer Komposition hin zur Aufführungspraxis. Bereits Theodor W. Adorno unterschied zwischen dem gesellschaftlichen »Sinn« und der gesellschaftlichen »Funktion« von Musik und warnte die Forscher davor, sich einseitig auf die Kunstwerte oder nur auf die Marktbedingungen der Musik zu konzentrieren.46 Damit nimmt der Musiksoziologe Adorno eine Perspektive der Sozialgeschichte der Musik ein.
44 Vgl. Applegate, Bach; Charle, Théâtres; Hall-Witt, Fashionable; Gramit, Cultivating; Ther, Mitte; ferner Blanning, Triumph; Steinberg, Listening und die Beiträge in Johnson/ Fulcher/Ertman (Hg.), Opera and Society; Bödeker (Hg.), Concert; Bashford/Langley (Hg.), Music; Müller, Analysing Musical Culture, 833–57. 45 Vgl. Hennion, History, 330–350; Münkler, Theatralisierung 144–163. 46 Adorno, Ideen zur Musiksoziologie; Walther, Bürger, 381.
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4. Spielstätten in Europa Eine vergleichende Matrix liegt den einzelnen Kapiteln zugrunde. Im Fokus steht die Suche nach der Entwicklung von Gemeinsamkeiten im Musikleben in Europa durch einen Vergleich der Spielstätten, der Repertoires, der Künstler und der Publika. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wuchsen die Metropolen in Europa. Der Blick richtet sich hier auf das Opern- und Konzertleben in Berlin, London und Wien. Man mag bedauern, dass Paris, St. Petersburg oder auch die kleineren Zentren wie Mailand, Venedig oder Brüssel nicht einbezogen wurden. Die Ursache für diese Auswahl liegt zum einen darin begründet, dass Berlin, London und Wien exemplarische Beispiele sind für das relative Gewicht des Marktes und des Staates, des Adels und des Bürgertums, der professionell mit Musik befassten Akteure (Komponisten, Dirigenten, Kritiker) und des Laienpublikums bei der Hervorbringung von Aufführungsstandards, Hörgewohnheiten, Geschmäckern und Repertoires. Zum anderen eignen sich kleinere und regionale Spielorte im Unterschied zum Musibetrieb der gewählten Hauptstädte weniger dafür, die sozialen und politischen Entscheidungen der Eliten sowie deren Wirkungen zu untersuchen. Erst der wachsende Wohlstand der gesellschaftlichen Eliten ermöglichte seit den 1820er-Jahren einen bis dahin ungekannten kulturellen Konsum – den Erhalt etablierter und die Entstehung neuer Spielstätten sowie die Verbreitung neuer Konzertserien. Die drei genannten Metropolen boten den Eliten unübertreffliche Möglichkeiten – politisch als Hauptstädte, wirtschaftlich durch die Kapitalkonzentration und die Konsummöglichkeiten, sozial durch den Fortbestand der Aristokratie und die Ausdifferenzierung des wachsenden Bildungs-, Wirtschafts- und Kleinbürgertums. All diese Faktoren galten nicht nur in London, sondern jedenfalls in Ansätzen auch in Wien und in Berlin. Forschungspragmatisch geht es darum, sich musikalische Orte auszusuchen, die so wichtig sind, dass sie ungeachtet mancher unterschiedlicher Einzelaspekte eine historische Generalisierung zulassen. Obwohl Großbritannien als Mutterland der parlamentarischen Demokratie gelten kann, kam dem Hof eine große Bedeutung zu. Gerade in den deutschen Residenzstädten war der Fürstenhof das Gravitationszentrum der Spitzen der Gesellschaft. Eigene Hofkapellen zur Unterhaltung der Aristokraten gehörten selbstredend auch in Berlin und in Wien zum Standard. Für eine Geschichte der Musikkultur ist die Tatsache zu bedenken, dass in den Hauptstädten der Arbeitsmarkt stärker als in anderen Orten an Dienstleistungen orientiert war. Dieser reichte von der Versorgung der höfischen Elite über den teuren Konsum, die Einladung namhafter Künstler bis hin zum Bau Einleitung | 25 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
repräsentativer Opernhäuser.47 Ein markantes Kennzeichen musikalischer Institutionen war die öffentliche Sichtbarkeit. Die Anzahl der Theaterbauten nahm zwischen 1840 und 1900 schnell zu. Die unterschiedlichen Wachstumsraten zwischen den Städten sind beachtlich: Im Jahr 1900 gab es in Wien 10, in Berlin 22, in Paris 36 und in London sage und schreibe 61 Musik- und Sprechtheater.48 Es ist daher nur konsequent, dass sich historische wie musikwissenschaftliche Arbeiten mit den Institutionen des Musikbetriebes in den europäischen Städten beschäftigt haben. Dabei hat sich die Forschung überproportional auf Paris konzentriert, die sogenannte »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« (Walter Benjamin).49 Die Überschätzung der Rolle von Paris gegenüber London ist erst in den letzten Jahren allmählich korrigiert worden. Die beinahe konkurrenzlose Ausweitung der Spielstätten, der musikalischen Genres und des Publikums in London beflügelte die Forschung.50 Das Musikleben im Wien des 19. Jahrhunderts hat aus sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive nur eine relativ geringe Beachtung gefunden.51 Für dieses Manko scheint ausgerechnet die immanent künstlerische Bedeutung der Stadt verantwortlich. Die alles überragende Stellung der Komponisten zwischen der Ersten und Zweiten Wiener Schule lenkte das Forschungsinteresse auf die Biografien und Werke von Wolfgang Amadeus Mozart bis Arnold Schönberg. Vom Musikleben in Berlin schließlich handeln vielleicht die wenigsten Studien. Weder institutionell noch künstlerisch schien die preußische Hauptstadt mit den übrigen westeuropäischen Metropolen konkurrieren zu können. Dass mit dem politischen und urbanen Aufstieg Berlins in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch das Musikleben revolutioniert wurde, hat bislang in der Forschung relativ wenig Beachtung gefunden.52 47 Einen vergleichenden Überblick gibt Osterhammel, Verwandlung, bes. 392 ff., 846 ff. 48 Charle, Théâtres, 25–53. Vgl. aus der überreichen Forschung zum städtischen Charakter des Musiklebens: Hall-Witt, Fashionable; Forsyth, Bauwerke; Freydank, Theater; Ther, Mitte; Otto, Lindenoper. 49 Vgl. etwa Johnson, Listening; Gerhard, Urbanization; Patureau, Palais Garnier; Charle, Théâtres; ders., Paris; Fulcher, Nation. 50 Vgl. neben Weber, Music, insgesamt Hall-Witt, Fashionable; Ehrlich, Philharmonic; Hughes, Renaissance; Rosenthal, Two Centuries; Rohr, Careers; Rowell, Victorian Theatre; Davis/ Emeljanow, Reflecting; Pearsall, Victorian, und die Beiträge in Weber (Hg.), Entrepreneur. 51 Vgl. Hanson, Muse; u. v. a. die richtungweisende Studie von DeNora, Beethoven; sowie Jahn, Wiener Hofoper 1836 bis 1848; ders., Wiener Hofoper 1848 bis 1870; die Beiträge bei Erickson (Hg.), Vienna; Csáky, Ideologie; ferner Dietrich, Polizeiakten; Hellsberg, Demokratie; Notley, Volksconcerte. 52 Vgl. Mahling, Musikbetrieb; Applegate, Bach; Rehm, Musikrezeption; Zalfen, Hauptstadt, 115–135; Muck, Jahre; Freydank, Theater; Henzel, Hofoper; Konzerthaus Berlin; Pederson, Marx, 87–107; Stiftung Berliner Philharmoniker (Hg.), Variationen.
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Der Blick auf die beiden Aufführungsorte Opernhaus und Konzertsaal erlaubt den direkten Vergleich der Publika und der Repertoires.53 In Berlin interessiert primär das Königliche Opernhaus, in Wien das Hofoperntheater (bis 1848 im Kärntnertortheater), in London Her Majesty’s Theatre (das ehemalige King’s Theatre), Covent Garden und das Drury Lane Theatre. Im Konzertleben werden nicht nur Veranstaltungen in bekannten Spielstätten wie in der Philharmonie (Berlin), im Musikvereinssaal (Wien) oder in den Hanover Square Rooms (London) untersucht. Auch verschiedene Konzertreihen liefern wichtige Informationen. In London war die Serie der »Ancient Concerts« nur der Aristokratie zugänglich, die bürgerliche »Philharmonic Society« ein 1813 gegründetes Konkurrenzunternehmen. In Berlin richtet sich der Blick beispielweise auf Veranstaltungen der Singakademie oder auf die philharmonischen Gesellschaftskonzerte, in Wien auf Konzerte der sich ebenfalls 1813 bildenden »Gesellschaft der Musikfreunde« oder auf die der Wiener Philharmoniker ab 1842. Der Erfolg lokaler Musikvereine in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine Bedingung für die Etablierung des professionell organisierten Musiklebens in der Stadt. Als Entwurf kultureller Lebensführung war der Verein für eine wachsende Anzahl von Musikfreunden attraktiv. Die meisten Musikvereine des 19. Jahrhunderts rekrutierten ihre Mitglieder aus dem Bürgertum und dem Adel, dem who-is-who der jeweiligen städtischen Elite.54 Die Bedeutung des Bürgertums in den drei Städten bei der Musikrezeption im 19. Jahrhundert ist kaum hoch genug zu veranschlagen. Die städtische Öffentlichkeit scheint der ideale Ort des Bürgertums zu sein, denn hier entwickelte es in Angleichung und in Abgrenzung vom Musikbetrieb des Hofes und der adeligen Residenz eigene Verhaltensmuster und Institutionen. Die bürgerliche Kunstförderung war einerseits eingebettet in den Niedergang fürstlichen und kirchlichen Mäzenatentums, andererseits wurde sie abgelöst durch die freie Marktwirtschaft des Musikkonsums und den Bedeutungszuwachs städtischer Institutionen. Allerdings ist es noch unklar, ob dieser Wandel im Musikbetrieb allein durch die Bürger bestimmt wurde. Möglicherweise waren Musikvereine und sinfonische Konzerte, Ratgeberliteratur und Klavierunterricht jenseits humanistischer Bildungsideale auch attraktive Produkte für den Adel. Um eine Verklärung des Bürgertums zu vermeiden, ist es deshalb gerechtfertigt, den geleisteten Beitrag der Monarchen und der Adeligen im Spielbetrieb zu berücksichtigen.55 53 Vgl. zu den fast austauschbaren musikalischen Mechanismen Weber, Authority 160–180; ders., Music, 1–17; Charle, Théâtres, 46–53; De Nora, Beethoven, bes. 11–36. 54 Grasskamp, Museumsgründer. 55 Vgl. Schmitz, Kunstvereine; Hein, Wissenspopularisierung; Kaschuba, Kunst, 9–20.
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Opern- und Konzertaufführungen als Teil einer europäischen Elitenkultur zu beschreiben, wirft die Frage auf, ob und inwieweit gemeinsame oder unterschiedliche Formen des Publikumsverhaltens in Berlin, London und Wien bestanden. Der Blick richtet sich auf Angleichungsprozesse und Abgrenzungsstrategien im Konsum, im Repertoire und im Geschmack des Publikums. In den einzelnen Kapiteln wird untersucht, ob gemeinsame Praktiken in den unterschiedlichen Städten und Publika bestanden oder ob der Musikbetrieb in einer Stadt Standards für andere Orte setzte. Dabei geht es nicht nur um einen Vergleich des Spielbetriebs in den drei Hauptstädten, sondern in erster Linie um die Beschreibung parallel geführter Diskurse und gelebter Verhaltensmuster. Ein linearer, in eine Richtung verlaufender Prozess wird dabei nicht zu Tage gefördert, sondern nur Interpretationen und Variationen sozialer Interessen, kultureller Werte und politischer Utopien an bestimmten Orten.56 Wer die politischen, sozialen und kulturellen Strukturen in Europa vergleicht, beschreibt selten die Übereinstimmungen und konzentriert sich auf unterschiedliche Entwicklungen. In dieser Studie wird dagegen eine andere Position vertreten. Die oben erläuterte Vernetzung zwischen Publikum, Aufführung und Kommunikation soll empirisch belegt werden. Denn die Ähnlichkeiten der Musikrezeption und des Publikumsverhaltens in Berlin, in London und in Wien übertrafen die Unterschiede bei Weitem. Das ist die achte Hypothese. Wenn es einen kulturellen Sonderweg gab, dann war es weder ein deutscher noch ein österreichischer, sondern ein britischer Sonderweg.57 In den drei hier untersuchten Städten stechen aber vor allem die Gemeinsamkeiten in der Organisation musikalischer Spielstätten, die oft identischen musikalischen Repertoires und die einander so ähnlichen kulturellen Präferenzen und Verhaltensmuster der Publika ins Auge. Erforscht wird, wie das Reden über Musik und das Konsumverhalten des Publikums Varianten einer ähnlichen sozialen Praxis in den Vergleichsstädten waren. Das methodische Problem liegt auf der Hand: Die Analyse der kulturellen Praktiken in Europa benötigt den Vergleich des urbanen Musiklebens. Das geht über eine narrative Gegenüberstellung erfolgreicher Kompositionen und spektakulärer Aufführungen weit hinaus. Denn der methodische Vergleich ermöglicht es der Forschung, sich nicht nur den Gemeinsamkeiten und Unterschieden kultureller Sachverhalte zu stellen, sondern ist auch in 56 Allerdings liegen bislang nur wenige größere empirische Studien über Art und Häufigkeit der musikalischen Kontakte zwischen den großen Städten des 19. Jahrhunderts vor. Auf dieses Problem verweist Osterhammel, Verwandlung, 386. Vgl. Fuhrmann, Bildungskanon; Vietta, Kulturgeschichte. 57 Vgl. Deathridge, Germany, 50–73; Delanty, Inventing Europe.
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der Lage, die Annahme einer fest gegebenen Konvergenz bzw. Divergenz zu überwinden.58 In der vergangenen Dekade ist der historische Vergleich durch die Anhänger der Transfergeschichte verstärkt in Frage gestellt worden. Eine forschungsinterne Spannung prägt die Auseinandersetzung zwischen der klassischen Komparatistik und der Analyse des Transfers.59 Ein Ausweg aus den Aporien des historischen Vergleichs und der Transfergeschichte ist notwendig. Diese Arbeit versucht beide Ansätze zu nutzen, um eine Verflechtungsgeschichte zu schreiben. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem historischen Vergleich, der die strukturellen Besonderheiten in einer Gesellschaft in Beziehung zur kulturellen Angleichung in Europa stellt. Der Transfer einer spezifischen musikalischen Kultur, das heißt von Kompositionen, Künstlern und Rezipienten, bedarf eines Vergleiches der Wirkung in den europäischen Städten und Gesellschaften.
5. Quellenlage und Aufbau der Studie Der Grund für den unbefriedigenden Forschungsstand zur europäischen Sozial- und Kulturgeschichte musikalischer Aufführungen dürfte kaum im Mangel an einschlägigem Material liegen. Die Quellenlage ist für alle drei Vergleichsstädte ausgesprochen gut. In den zuständigen staatlichen und kommunalen Archiven finden sich die Spielpläne, welche die Rekonstruktion der Aufführungs- und Repertoiregeschichte erlauben, die Rechnungsbücher, die Einblicke in Organisationsprobleme geben, und in einigen günstigen Fällen sogar Abonnement-Listen, welche die mehr oder weniger exakte soziale Zusammensetzung der Besucher offenbaren. Wichtig sind auch die sogenannten Benimmbücher, welche das lernwillige Bildungsbürgertum auch im heimischen Wohnzimmer mit allerlei ästhetischen und sozialen Regeln versorgten. Außerdem liefern Polizei- und Gerichtsakten Informatio-
58 Vgl. zu den Methoden und der Reichweite des Vergleichs Haupt/Kocka, Historischer Vergleich, 9–45; Kaelble, Vergleich; Triebel (Hg.), Gesellschaften vergleichen; sowie die gelungenen Umsetzungen von Bödeker/Veit (Hg.), Sociétés; Bödeker/Veit/Werner (Hg.), Concert; Koselleck/Spree/Steinmetz, Welten, 402–461. Zu Vorteilen und Gefahren des asymmetrischen Vergleichs siehe Kocka, historical comparison, 40–50. Fundierte Kritik übt ebenfalls: Welskopp, Stolpersteine, 339–367. 59 Diese Debatte wurde nahezu zeitgleich in der englischsprachigen, französischen und deutschen Literatur geführt. Vgl. die in der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft 27/3 (2001) publizierten Beiträge über transnationale Ansätze in der Geschichte. Exemplarisch: Conrad, Marginalisierung, 145–169; Einer der Urheber der Debatte in Deutschland war Johannes Paulmann, Literatur, 649–685; ders., Transfer, 21–43.
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nen über auffällig gewordene Aufführungen, seien es etwa die Besuche von Staatsoberhäuptern oder sogar gewalttätige Saalschlachten. Durch die Tageszeitungen und Musikzeitschriften bildeten sich in Berlin, in Wien und in London gleichermaßen Netzwerke kultureller Kommunikation, Orte, an denen über Interessen und Geschmäcker diskutiert werden konnte.60 Durch die Bewertung musikalischer Aufführungen wurden persönliche, soziale und kulturelle Interessen der Musikfreunde bekannt. Sowohl das Publikum als auch die Musiker und die Veranstalter lasen vor und nach den Konzerten die aktuellen Berichte.61 Deshalb eröffnen Tageszeitungen und Musikzeitschriften die besten Möglichkeiten, um den gesellschaftlichen Rang und die Bewertung von Musik zu untersuchen. Dieser Befund mag überraschen, denn musikalische Aufführungen verschwanden im Laufe des 20. Jahrhunderts meist aus den Feuilletons mittlerer Größe im Kulturteil der Tageszeitungen. Der Unterschied zu den Berichten im 19. Jahrhundert könnte kaum größer sein. In Berlin informierten Zeitungen über ein wichtiges Konzert oft auf dem unteren Drittel des Titelblattes. In London fanden Leser die über zwei oder drei Spalten gehende Schilderung einer Galaaufführung im Opernhaus gleich neben dem politischen Leitartikel. Die zeitgenössische Presse bewertete nicht nur die musikalischen Werke und die Qualität der Aufführungen, sondern enthielt auch umfangreiche Informationen über die Erscheinung, die Zusammensetzung und das Verhalten des Publikums. Zu Beginn jeder Spielzeit druckten die großen Tageszeitungen eine vollständige Besucherliste der Opernhäuser ab, das heißt, ein minutiöses Verzeichnis der adeligen und großbürgerlichen Rezipienten, die Sitzplatzverteilung und die Kartenpreise. Anwesende und Abwesende wussten um diese kulturelle Anordnung der Gesellschaft und nutzten sie.62 Die hier verwendete Auswahl an Zeitungen und Zeitschriften anhand der Auflagenzahl, der politischen Ausrichtung und der musikalischen Interessen verdeutlicht gemeinsame und unterschiedliche Bewertungen der glei60 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte II, 520–540; Applegate, Bach, 80–104; Rehm, Musikrezeption, 17–37; Schmitt-Thomas, Entwicklung, und den Überblick über die britische Presse Griffiths (Hg.), Encyclopedia, bes. 24–46; sowie Fellinger, Musikzeitschriften; Tadday, Musikfeuilletons, 9–24. Vgl. auch die kritischen Urteile des preußischen Kabinetts gegen negative Theaterkritiken in den Berliner Zeitungen: Berlin, GSTA, I. HA, Rep. 100, 1118, 3.11.1819. 61 Hinweise zur sprachlichen Struktur der Musik geben MacDonald/Miell/Wilson, Talking about Music; sowie Hargreaves/MacDonald/Miell, communicate using music, 1–25; Cross/Tolbert, Music and meaning, ambiguity and evolution, 27–43. 62 Zur Erhaltung der so wundersamen wie wunderbaren Semantik zumal des frühen 19. Jahrhunderts werden hier im Regelfall die oft ungewöhnlichen Schreibweisen beibehalten. Vgl. Borchardt, Theaterzeitschriften; Riggert, Zeitschrift; insges. Requate, Journalismus.
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chen Konzerte und Opernaufführungen. Der Blick aus der Vogelperspektive auf ausgewählte Aufführungen erlaubt die Vergleichbarkeit des Musiklebens in den drei Städten. Denn warum begeisterten sich die Konzertbesucher in Berlin und in Wien um 1830 gleichermaßen für Beethoven, aber warum übernahm London das konzentrierte Hörverhalten erst nach 1850? Das heißt umgekehrt aber auch, viele Details und Spezifika in der kulturellen und politischen Landschaft der jeweiligen Städte nicht oder nur unzureichend zu berücksichtigen. Diese Grenze der Interpretation ist aber durch die Auswahl des langen Zeitraums notwendig.63 Bereits die ungeheure Menge der Zeitungskritiken liefert wertvolle Quellen zur Sozial- und Kulturgeschichte der Musik. Ausgewählt wurden jeweils 15 bis 20 Blätter in jeder der drei Städte.64 Politisch liberale Zeitungen in London, Berlin und Wien (»Daily News«, »Vossische Zeitung«, »Neue Freie Presse«) werden mit den Bewertungen der konservativen Blätter in den drei Städten kontrastiert (»Morning Post«, »Neue Preußische Zeitung«, »Deutsche Zeitung«). Zu klären ist, ob die politische Orientierung der Zeitungen mit ihrem musikalischen Geschmack identisch war oder nicht. Verteidigte bespielsweise die rechtskonservative Presse im Deutschen Kaiserreich eine Mozartoper entschiedener als ein Werk des Franzosen Camille Saint-Saëns? Außer den Tageszeitungen greift diese Arbeit auf ästhetisch progressiv orientierte Musikzeitschriften zurück, auf diejenigen Blätter, die sich schon früh für die Avantgarde von Wagner bis Schönberg einsetzten (»Neue Zeitschrift für Musik«, »Athenaeum«, »Wiener Theaterzeitung«). Ein traditionelles musikalisches Repertoire verteidigten dagegen in Berlin Zeitschriften wie die »Signale für die Musikalische Welt«, in Wien der »Wanderer« und in London die »Musical World«. Diese warben zunächst für bunte Potpourris in ihren Konzertprogrammen und reihten statt weniger großer Kompositionen viele Gesangsnummern, Chorszenen, Solisteneinlagen und einzelne sinfonische Sätze aneinander. Die Frage ist, inwieweit die Argumente der Fachblätter den Urteilen der Tageszeitungen entsprachen und ob ähnliche Entwicklungen in der Presselandschaft der drei Vergleichsstädte zu erkennen sind. Die Medien stellten dem Publikum Wissen zur Verfügung. Die wachsende Vermittlung musikalischer Nachrichten muss ausgelotet, und es muss 63 Vorbildlich ist die Presseanalyse von McColl, Music Criticism. Vgl. Hahn, Parisian Modernity. 64 Der Blick auf die ästhetischen, sozialen und politischen Präferenzen in Tageszeitungen und Musikzeitschriften lässt auch erkennen, dass deren gesellschaftliche Funktion in weiten Teilen der Forschung nicht hinreichend berücksichtigt worden ist. Diesen wichtigen Hinweis gibt Requate, Mediengesellschaft, 30–42. Vgl. Faulstich, Medienwandel.
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nach den Begriffen, Sprachbildern und musikalischen Kategorien in den Zeitungen gefragt werden.65 Exemplarisch ist das an der Wirkung der Kritiker zu erkennen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten sich die Musikkritiker in der Presse durch. Ihre Urteile beeinflussten das Verhalten des Publikums, das seine musikalische Welt auch durch die Brille des Kritikers wahrnahm.66 Die Kritiker belehrten das Publikum durch ihr musikalisches Wissen und riefen dadurch wieder neue Kenner hervor, die ihr Verhalten an diesen Kanon anpassten oder auch neue Wege beschritten und dadurch wieder die Künstler und die Journalisten beeinflussten.67 Die Kritiker wurden zu einer Vermittlungsgruppe, deren Urteile die Wahrnehmungen und die Verhaltensmuster des Publikums, aber auch des ganzen Spielbetriebes, ja sogar die Arbeit der Komponisten prägten. Das verstärkte in der Wahrnehmung vieler das Spannungsverhältnis zwischen gebildeten Kennern und vergnügungssüchtigen Konsumenten. In London schätzten die Leser etwa die Expertisen von Henry Chorley (»Athenaeum«) und Henry Davison (»Times«).68 Die Karriere von Eduard Hanslick in Wien stellte alles in den Schatten. Sein Berufsethos kannte keine Grenzen. Als ein Erzieher des Geschmacks begründete er ausführlich den musikalischen Rang von Johannes Brahms und demonstrierte die Grenzen von Richard Wagner. Hanslicks verletzendes Geschmacksurteil führte dazu, dass Wagner angeblich überlegte, die Figur des gelehrten Versagers in seinen Meistersingern von Nürnberg als »Hans Lick« zu bezeichnen – bevor er ihn »Beckmesser« nannte. Kompromisslos, aber erfolgreich verteidigte Hanslick den Bestand des musikalischen Regelwerkes und rühmte sich selbst seiner öffentlichen Bildungsstrategie: »Dem Publikum gegenüber fühle ich mich zu dem Geständnis verpflichtet, daß ich eigentlich selbst das Publikum bin, dessen Befriedigung ich bei Bearbeitung dieser Schrift fürerst im Auge hatte. … Meine Vorlesungen waren die ersten musikalischen in Wien und so ziemlich der Anfang der populär-wissenschaftlichen Vorträge überhaupt, wie sie bald darauf Mode geworden sind. Die Neugierde führte mir so manchen Hörer zu, der sich bisher wenig um die Geschichte der Musik gekümmert.«69 65 Vgl. zum Stellenwert der Sprache im Kontext der Rezeption Botstein, Listening; ders., Toward, 427–431; Grazer, Motive, 27–29. 66 Telesko, 19. Jahrhundert. 67 Vgl. die Beiträge in Geisthövel/Knoch, Orte der Moderne. 68 Hilfreich ist ein Blick in manche Erinnerungen: Chorley, Musical Recollections; Davison, Mendelssohn; sowie die vielleicht konkurrenzlosen Beschreibungen von Shaw, Music in London. 69 Hanslick, Leben, 11, 175. Vgl. Karnes, Music, 21–77; McColl, Criticism, passim; de la Grange, Wien, 210 f.
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Nach der Einführung, dem ersten Kapitel, stellt das zweite Kapitel die Bühne vor, auf der das Publikum auftritt. Der Blick richtet sich auf die gesellschaftlichen Strukturen in den Metropolen und auf die Kommunikationsformen der Eliten in den Opernhäusern und in den Konzertsälen in Berlin, London und Wien. Diskutiert werden die sozialen und finanziellen Ungleichheiten innerhalb der Spielstätten. Der Genuss von Kunstmusik in den Konzertreihen und Operngalas verschärfte die soziale Ungleichheit. Untersucht wird der gezeigte soziale Status und der oftmals umkämpfte Einsatz von Distinktionsmitteln. Die teuren Aufführungen der Kunstmusik schlossen viele Kleinbürger und Bedienstete aus. Adelige und wohlhabende Bildungsbürger konnten dagegen in ihren Spielstätten leichter über neue Themen, Präferenzen und Geschmäcker kommunizieren. Gezeigt wird, wie die neuen Zugangsmöglichkeiten zu einer markanten sozialen Auszeichnung der gesellschaftlichen Eliten wurden. Wer kam überhaupt in diese Häuser, wer nicht, und wo saßen die Menschen? Das Opern- wie das Konzerterlebnis war nicht nur ein soziales Erlebnis, sondern stets auch ein Konsumereignis.70 Das Interesse konzentriert sich hier weniger auf die Angebote als auf die Nachfrage des Publikums. Dabei werden Aspekte beleuchtet, die belegen sollen, dass der Konsum im Musikleben bereits im frühen 19. Jahrhundert ein europäisches Phänomen war. Gleichwohl sind die Unterschiede nicht zu verkennen. In London war das Musikleben enger verbunden mit der Konsumkultur als in Berlin und in Wien, weil es in Ermangelung eines staatlich finanzierten Hoftheaters verstärkt der Nachfrage des zahlungswilligen Publikums bedurfte. Zudem wird diskutiert, ob sich die Musikrezeption von anderen Kunstformen unterschied, etwa durch spezifische Eintrittspreise, durch eine eigene Sitzordnung und einen bestimmten Geschmack.71 Das dritte Kapitel handelt von der Entwicklung gemeinsamer und unterschiedlicher Repertoires, Ästhetiken und Geschmackspräferenzen in den drei Vergleichsstädten. Von besonderem Interesse sind die Herausbildung eines immer eingeschränkteren musikalischen Repertoires und der Ausschluss vieler neuer Kompositionen gegen Ende des Jahrhunderts. Untersucht wird eine Entwicklung der Rezeptionspraxis von der Vielfalt hin zu ihrer Vereinheitlichung. Ein kontinuierliches Element war der Streit über die 70 In seiner Rede zur Eröffnung der Kölner Philharmonie 1986 betonte der Komponist Mauricio Kagel diese Besonderheit: »Lebendige Musik zu hören, ist zweifellos eine der extravagantesten Arten, Geld auszugeben.« 71 Vgl. die Positionen von Haupt, Consumption History, 17–35, und Trentmann, Knowing Consumers, 1–27; sowie die Beiträge in Siegrist/Kaelble/Kocka (Hg.), Konsumgeschichte; Kühschelm/Eder/Siegrist, Konsum und Nation.
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Qualität bestimmter Sänger und Dirigenten und über die musikalische Moderne: Beethoven bereitete 1830 Ärger, Schönberg 1910.72 Musikalische Sensationen verstand das Publikum nicht als triviale Unterhaltung. Der Virtuosenkult ist dafür ein gutes Beispiel. Im 19. Jahrhundert bestand ein wachsender Bedarf an der Darstellung des Fremden. Das belegen die prächtigen Inszenierungen im Opernhaus oder die Faszination einer als orientalisch inszenierten fremden Kultur. Was faszinierte die Menschen an den Inszenierungen auf der Bühne, und warum bestaunte und verdammte man die exotischen Reize aus dem »Orient«? Das vierte Kapitel beschreibt die Entscheidungsmöglichkeiten des Publikums, welches sein unbeherrschtes Verhalten allmählich durch ein diszi pliniertes Auftreten ersetzte.73 Die Einbettung des Publikums in musikalische Institutionen kanalisierte dessen Verhaltensweise und die Absicht der Eliten, ihre Konflikte nach den Regeln der Kunstmusik auszutragen. Zu klären ist, warum das Publikum vor 1850 so viele Vergnügungsmöglichkeiten genoss, sich danach aber beherrschte. Wie wurden aus Hörern Zuhörer? Es ist erklärungsbedürftig, warum das bildungsbürgerliche Publikum überhaupt begann, sich schweigend auf die Aufführungen zu konzentrieren, und warum sich diese Entwicklung in Berlin, London und Wien – wenn auch in unterschiedlichem Tempo und zeitlich versetzt – in dieselbe Richtung vollzog. Der Blick auf einzelne berühmte Opernfans wie Königin Victoria oder auf Konzertbesucher wie den Duke of Wellington markiert die schwindenden Differenzen zwischen Adel und Bürgertum. Verursachten neue Kompositionen und Aufführungen oder neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen diesen Wandel? Veränderte sich in erster Linie das Benehmen der Hörer oder der kulturelle Stellenwert musikalischer Aufführungen? Von Interesse sind das Verschwinden der zunächst noch häufigen Saalschlachten und der Übergang von der relativen Unordnung im Publikumsverhalten in der ersten Hälfte zur relativen Ordnung und zur schweigenden Selbstkontrolle in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nicht nur das kontrollierte Hörverhalten, auch die Teilnahme an chaotischen Saalschlachten waren gemeinsame Handlungen, die aus Besuchern nicht nur Gegner, sondern auch Partner machten. Die Wirkungsmacht konkurrierender Emotionen und die sich wandelnde Bewertung dessen, was schön ist und was nicht, verdeutlicht diesen Wandel. Gefühle zu zeigen, sie aber durch den Blick anderer willentlich zu verändern und weniger aggressive Emotionen nun schöner zu finden, machte aus immer mehr Hörern disziplinierte Zuhörer. 72 Vgl. Samson, Composer, 259–284; Small, Musicking, 39–49; Hemmings, Theatre Industry, 77–90. 73 Vgl. etwa Johnson, Listening; Bourdieu, Unterschiede; Schneider, Kunst; 329–340.
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Das fünfte Kapitel untersucht die Verhandlung wichtiger politischer Probleme im Musikleben. Die Inszenierung der Habsburger Monarchie oder des Deutschen Kaiserreichs im Opernhaus stellten Bühnen für die Lösungen politischer Probleme her. Die Teilnahme daran bedeutete die Vertiefung erwünschter politischer Beziehungen in Monarchien und in Demokratien.74 Untersucht wird das Spannungsverhältnis zwischen politischem Konsens und Konflikt anhand gegenseitiger Staatsbesuche der Monarchen in den drei Hauptstädten einerseits sowie die aufziehenden politischen Spannungen im Musikleben der 1830er- und 1840er-Jahre andererseits. Der Blick auf die Konflikte zwischen Adeligen und Bürgern im Konzertbetrieb im Vormärz und die Ereignisse der 1848er Revolution werfen die Frage auf, ob die politischen Demonstrationen im Musikbetrieb den Fortbestand der bestehenden Ordnung in den drei Metropolen gefährdeten. Inwieweit boten musikalische Aufführungen den Anhängern der Monarchie und der Demokratie die Chance, offene politische Machtkämpfe auszutragen? Im abschließenden sechsten Kapitel werden Ergebnisse der Darstellung in Erinnerung gerufen. Der erste Teil kontrastiert die Angleichungen der Repertoires, der Geschmäcker und der Verhaltensmuster im europäischen Musikleben mit den sozialen und politischen Ungleichheiten im Publikum. Dabei wird der Zusammenhalt langfristig bestehender Gruppen mit der Herausbildung neu entstehender Publika verglichen. Darauf folgt ein Ausblick auf den Umgang des Publikums mit der Kunstmusik im 20. Jahrhundert. Dabei wird die Überlegung diskutiert, ob die konservative Rezeption der Kunstmusik und die Anbindung der seit langem bestehenden Verhaltensmuster an die gesellschaftliche Ordnung eine Musealisierung der musikalischen Klassik erschaffen haben, die vieles über die Vergangenheit und weniges über die Zukunft verrät. Bei aller Offenheit der Entwicklung wird eines deutlich: Musikalische Aufführungen gelingen in der Gesellschaft erst durch Kommunikation und Kooperation. Ein Künstler kann das vielleicht treffender als ein Historiker begründen. »Es geht nie darum, dass der auf der Bühne den da unten gut unterhält. Musik funktioniert nur in einer gemeinsamen Kommunikation.« Der Pianist Maurizio Pollini benennt damit akkurat das Thema der vorliegenden Arbeit.75
74 Vgl. dazu die Beiträge in Müller/Toelle (Hg.), Bühnen der Politik; ders./Zalfen, Interesting, 277–300; Kreuzer, Verdi; Rabb, Opera, 321–330. 75 Das ist ein Zitat aus der CD-Reihe der Wochenzeitung »Die Zeit«: Zeit Klassik Edition, Bd. 13. In die gleiche Richtung argumentieren Johnson, Listening, 28–34, 281–85; Neuhoff, Konzertpublika, 473–509; Scott, Music, 544–67.
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II. Kulturelle Distinktion und soziale Ungleichheit in der Musikrezeption 1. Orte der Kommunikation: Opernhäuser und Konzertsäle in Berlin, London und Wien Chancen und Risiken in der modernen Metropole Die Menschen des 19. Jahrhunderts kamen in die Metropolen, um zu leben, und sie blieben, um gut zu leben. Europa verwandelte sich von einem primär agrarisch in einen zunehmend urban geprägten Raum. Am stärksten war das Bevölkerungswachstum europäischer Städte im 19. Jahrhundert in den bereits bestehenden Großstädten und in den Hauptstädten. In diesem Kapitel werden die Rahmenbedingungen aufwendig konzipierter muskalischer Aufführungen in den sich rapide verändernden Städten Berlin, London und Wien, die Zusammensetzung des Publikums und die Professionalisierung des Spielbetriebs umrissen. Der Blick richtet sich auf die Opernhäuser und Konzertsäle und deren Funktion als Begegnungsstätten für die soziale, politische und wirtschaftliche Elite. Dabei werden die Ähnlichkeiten des Musiklebens in Europa ins Verhältnis zu den spezifischen Bedingungen der drei Vergleichsstädte gestellt. Um die gesellschaftliche Reichweite musikalischer Aufführungen genauer zu bestimmen, ist ein skizzenhafter Blick auf die drei Hauptstädte, ihre politische Struktur, ihre Gemeinsamkeiten und ihre Unterschiede im Musik leben notwendig. Man kann anhand der Besucherstruktur der Opernhäuser und Konzertsäle das Verhältnis von Musik und Gesellschaft bestimmen. Dabei ist es notwendig, nicht allein nur auf die Anwesenden des Hofes, des Adels und des Bürgertums in den Spielstätten zu achten, sondern auch auf diejenigen, welche sich manchmal nur unter erschwerten Bedingungen Zutritt verschaffen konnten (Landadel) oder sich Anfeindungen ausgesetzt sahen (Juden, Katholiken in Berlin und in London). Schließlich ist es wichtig, den Stellenwert der Komponisten und der musikalischen Stile in den drei Städten zu vergleichen. Vorab aber einige Zahlen, welche das ungeheure Wachstum und einige Probleme der Hauptstädte verdeutlichen: In London, der am Anfang wie am Orte der Kommunikation | 37 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Ende des 19. Jahrhunderts einwohnerreichsten Stadt der Welt, lebten 1801 1,12 Millionen Menschen, deren Anzahl sich bis 1851 auf 2,69 Millionen und bis 1901 auf 6,57 Millionen jeweils mehr als verdoppelte. Selbst Paris (1800: 555.000; 1900: 3,3 Millionen) konnte damit nicht konkurrieren. Doch auch die preußische Hauptstadt Berlin verwandelte sich im selben Zeitraum in eine europäische Metropole und wuchs von 172.000 (1800) auf 420.000 (1850) und schließlich auf 2,71 Millionen Einwohner (1900). Wien, die Hauptstadt des Habsburgerreiches, zählte 1800 rund 260.000 Einwohner, an der Wende zum 20. Jahrhundert aber 1,67 Millionen.1 Die Ursachen für dieses beispiellose Wachstum waren vielfältig. Verbesserungen im Gesundheitswesen in der zweiten Jahrhunderthälfte begünstigten einen kräftigen Geburtenüberschuss. Gleichzeitig beförderten immer neue Eingemeindungen das Städtewachstum. Die Hauptquelle der Ausdehnung der Städte aber blieb eben die Zuwanderung von Menschen, die sich hier ein besseres Leben versprachen. Doch die Lebenschancen der Neuankömmlinge wurden durch die zahllosen Schattenseiten des urbanen Daseins gefährdet. Regelmäßige Ausbrüche von Epidemien (Cholera) oder von Lungenkrankheiten forderten ihren Tribut. Oft waren die hygienischen Verhältnisse unerträglich, da weder die Versorgung mit sauberem Trinkwasser noch die Entsorgung von Fäkalien gesichert waren. Gleichzeitig ließen die hohen jährlichen Zuwachsraten sowohl die Wohnungsnot als auch die Kriminalität in die Höhe schnellen. Um 1840 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung in London gerade einmal 37 Jahre, in Wien etwas über 40 Jahre.2 Die städtischen Gesellschaften lebten am Rande der Regellosigkeit, und die Menschen sahen sich im Alltag erheblichen Belastungen ausgesetzt. Selbst die Reichen konnten sich kaum den Krankheiten und den Gefahren, dem Gestank und dem Lärm entziehen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Leben in den Metropolen für die Mehrheit ihrer Einwohner unsicher, armselig und kurz. Die Beseitigung von vielen dieser Hindernisse ermöglichte einen Aufschwung der europäischen Hauptstädte. In dem Maße, in dem die Lösung der hygienischen, logistischen und baulichen Probleme in Angriff genommen wurde, verwandelte sich auch das Antlitz der Metropolen. Zeitgenössische Beobachter wunderten sich immer wieder über den rapiden architektonischen Wandel ihrer Städte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Paris und Wien sind die Paradebeispiele für eine gezielte Baupolitik, die 1 Insgesamt hatte Europa im Jahre 1800 etwa 187 Millionen Einwohner, 1850 ca. 266 Millionen und 1900 bereits 420 Millionen. Vgl. zu den Zahlenangaben: Hall, Cities, 657, 176 f.; Nipperdey, Deutsche Geschichte II, 37; Brunn, Metropolis, Berlin, 12 f.; Bled, Wien, 155. 2 Hall, Cities, 684; Hanson, Muse, 20. Vgl. auch den Überblick von Krabbe, Stadt; Briggs, Cities und die Beiträge in Alter (Hg.), Im Banne.
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Städte in Monumente verwandelte. Praktisch gleichzeitig unternahmen Baron Georges Haussmann in Paris und die Architekten der Wiener Ringstraße in den 1850er- und 1860er-Jahren die ehrgeizigen Versuche, durch die rücksichtslose Zerstörung des baulichen Bestandes einen ganz neuen Typus einer repräsentativen Stadt zu schaffen. In der viktorianischen Metropole London erreichten die Prestigebauten dagegen nie ein vergleichbares Ausmaß, da man letztlich utilitaristischen Kriterien den Vorrang vor repräsentativen gab. In Paris und Wien aber schwand die räumliche Enge mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Bauten und Befestigungsanlagen. Breite Boulevards verbanden freie Plätze und strukturierten die Metropolen anhand dieser Sicht- und Verkehrsachsen neu. Zum einen erleichterten diese Verbindungen die Kommunikation zwischen den verschiedenen urbanen Ballungsräumen, zum anderen erhielten die Metropolen so ein neues Gesicht, welches ihrem politischen Rang als Hauptstadt entsprach. Die Repräsentationsarchitektur der Hauptstädte stellte den Versuch dar, die Macht, die Ordnung und die Sicherheit des Nationalstaates zu visualisieren. Das geschah nicht nur durch die schiere Größe der Anlage. Bevorzugt griff man bei der Neukonzeption der Stadtzentren auf historisierende Baustile zurück. Die monumentalen Prachtbauten und Fluchtachsen waren daher mehr als eindrucksvolle oder nützliche Architekturelemente; sie spiegelten die politischen Ansprüche und Weltbilder der regierenden Eliten. Die repräsentativen Stadtzentren waren zu einer Bühne geworden, auf der sich Lebensstil und Lebensqualität öffentlich zur Schau stellen ließen.3 Um 1800 hatte sich in West- und in Mitteleuropa eine neue Öffentlichkeit herausgebildet. Die Metropolen beförderten diesen Prozess, weil sie die Zugänglichkeit zu Informationen erhöhten. Die Großstädte bildeten Räume, die die Begegnung und den Austausch einander fremder Menschen wahrscheinlich machten. Während in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts verschiedene sozial und regional abgegrenzte Öffentlichkeitsformen nebeneinander bestanden, bildete sich in den Großstädten nun ein überregionales Beziehungsnetz heraus. Sicher, diese Verkehrskreise waren zahlenmäßig und sozial beschränkt: Doch in den Salons und Kaffeehäusern, in den frühen literarischen Zirkeln und in den sich seit der Wende zum 19. Jahrhundert rapide vermehrenden Zeitungen und schließlich durch die Erfindung der Eisenbahn formierten sich reale und mediale Begegnungsräume. Während die baulichen 3 Vgl. Zimmermann, Metropolen; Olsen, Stadt, bes. 350–367; Mignon, Architektur, 100– 167; Gunn, Public Culture, 36–59; Hall, Cities, bes. 706–745; Zerback, Verbürgerlichung, 215–233.
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Veränderungen der Städte den Verkehr von Personen erleichterten, beschleunigte die Presse den Transfer von Nachrichten und die intellektuelle Teilnahme von Tausenden persönlich nicht Anwesenden. Der unvermittelte und der vermittelte Austausch der An- und Abwesenden erzeugte ein Gefühl der Zusammengehörigkeit bei denjenigen, die in der Lage waren, sich dieses Kommunikationsstils zu bedienen.4 Gleichzeitig erhöhte sich so die Aufmerksamkeit für bestimmte Werte und Geschmacksmuster. Kulturelles Wissen wurde für immer mehr Menschen optisch und akustisch erfahrbar. Diese kommunikative Verdichtung durch die Metropolen verknüpfte nicht nur erfolgreich die Wissensbestände der Zeitgenossen und die kulturellen Präferenzen, sie warf auch neue Probleme auf. Aus jeder Perspektive heraus betrachtet, war die Metropole eine unfertige Stadt. In ihr vollzogen sich gesellschaftliche Umbrüche, ein rasantes Bevölkerungswachstum, neue Baumaßnahmen und permanente Neuerfindungen. Die Metropole stimulierte bestehende Kommunikationsmöglichkeiten nicht nur, sie erschuf neue.5
Musikalische Begegnungsräume In der Metropole wurden öffentliche musikalische Aufführungen zum Standard. Literatur und Werke bildender Kunst beispielsweise ließen sich auch im Privaten genießen, Opern und Sinfonien vor der Erfindung der Schallplatte nicht. Die entscheidende Veränderung im Unterschied zum Musikleben der Vormoderne aber war nun, dass sich musikalische Aufführungen zunehmend von ihren höfischen oder religiösen Zusammenhängen lösten. Vor dem ausgehenden 18. Jahrhundert hatten nur Wenige Gelegenheiten, Kunstmusik außerhalb der Kirche oder in Gesellschaft von Adeligen zu hören. Die Möglichkeit, Musikdarbietungen gegen Eintritt zu besuchen, verwandelte Musik nicht nur in eine Ware, sondern in einen öffentlichen Gegenstand. Indem Konzert- und Opernaufführungen zugänglich wurden und sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu eigenen Institutionen entwickelten, übten sie die Funktion kommunikativer Räume aus. Durch die medialen Vermittlungs- und ökonomischen Marktmechanismen erlangten musikalische Aufführungen den Wert von Informationen. Musikalische Aufführungen 4 Vgl. Blanning, Culture, bes. 106–161; Ruppert, Wandel, 104–137; Wehler, Gesellschaftsgeschichte II, 520–546; Tolley, Comic Readings, 155–160. 5 Vgl. Osterhammel, Verwandlung, 353–401; Maase, Grenzenloses Vergnügen; Joll, Großstadt, 23–39; Gall, Stadt, 1–12.
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stimulierten Debatten über ästhetische Präferenzen und kulturelle Normen. Im Auditorium kommunizierte die Gesellschaft mit sich selbst.6 Stefan Zweig beschrieb in seiner literarischen Rückschau auf das Kulturleben im Wien des späten 19. Jahrhunderts eine Gesellschaft, die ihre Freude und ihr Prestige auch daraus bezog, dass jedermann auf Musiker und Schauspieler, auf ihre Verdienste und Meriten achtete. Oft stiftete ein gemeinsamer Geschmack kulturelle Beziehungen unter fremden Menschen. »Das kaiserliche Theater … war der Mikrokosmos, der den Makrokosmos spiegelte, der bunte Widerschein, in dem sich die Gesellschaft selbst betrachtete, der einzige richtige ›cortigiano‹ des guten Geschmacks. … Die Bühne war statt einer bloßen Stätte der Unterhaltung ein gesprochener und plastischer Leitfaden des guten Benehmens, der richtigen Aussprache, und ein Nimbus des Respekts umwölkte wie ein Heiligenschein alles, was mit dem Hoftheater auch nur in entferntester Beziehung stand. Der Ministerpräsident, der reichste Magnat … konnte in Wien durch die Straßen gehen, ohne daß jemand sich umwandte; aber … eine Opernsängerin erkannte jede Verkäuferin und jeder Fiaker.«7 Der Bedeutungsgewinn der Öffentlichkeit ist ein wesentliches Kennzeichen moderner Kommunikation. Die Massenmedialisierung, vor allem seit dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts, die Verbreitung ungekannter Stückzahlen von Zeitungen und Bildern, veränderte auch den gesellschaftlichen Stellenwert des Musikkonsums. Für musikalische Aufführungen hieß das: Sie verlangten öffentliche Beobachtung und Teilnahme – zunächst der anwesenden Besucher und dann der breiten Bevölkerung. Die Menschen lasen Berichte über das Ereignis, betrachteten Bilder in der Presse oder sie spielten und sangen daheim populäre Musikstücke. Die Zeitungen reflektierten und entwarfen damit den Stellenwert musikalischer Aufführungen innerhalb der urbanen Gesellschaft. Berichte über das Musikleben hatte der interessierte Leser zunächst im Feuilleton zu suchen; sie wurden nach 1860 aber oft bereits auf dem unteren Ende der ersten Seite der führenden Tageszeitungen platziert. Zeitschriften und Zeitungen schrieben in einer heute unbekannten Ausführlichkeit über jedes nur denkbare Detail des städtischen Musiklebens: Galaaufführungen und Gastspiele berühmter Künstler, Marotten und Erkrankungen von Sängern, die modische Toilette der Damen und die jüngste Saalschlacht im Auditorium.8 6 Grundlegend hierzu immer noch Habermas, Strukturwandel, bes. 86–107. Vgl. Sennet, Verfall, 71–91; La Vopa, Conceiving, 79–116. 7 Zweig, Welt, 30. Vgl. Dieman, Musik in Wien. 8 Vgl. Scott, Metropolis, bes. 15–57; Hall-Witt, Fashionable, 23–56; Ther, Mitte, 63 f.
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Dass musikalische Aufführungen nicht nur Aufmerksamkeit erregten, sondern auch Öffentlichkeit schufen, erkannten viele Zeitgenossen. Über das enthusiastisch gefeierte Gastspiel der Sängerin Henriette Sontag an der Berliner Hofoper 1830, das Anlass zu tagelangem Stadtgespräch gab, hieß es in den Erinnerungen des Generalintendanten Friedrich Wilhelm von Redern: »Berlin hatte damals keine Politik, keine Presse, das Theater allein mußte das Bedürfnis nach Öffentlichkeit befriedigen.«9 Die »Morning Post« in London erkannte noch deutlicher die Verknüpfung zwischen Bühne und Publikum: »The stage was as much an exhibition to the audience as the audience was to the stage.«10 Auch die Schriftstellerin Fanny Lewald wunderte sich immer wieder über die intensive Aufmerksamkeit, die das Publikum der Bühne schenkte. In ihren Augen kam dem Berliner Musikleben im Vormärz durchaus der Charakter einer Ersatzöffentlichkeit zu – ein Urteil, das aber die implizierten kulturellen Darstellungsformen von Politik unterschätzt: »Ich war oft ganz erstaunt darüber, welche Wichtigkeit man einer Theateraufführung, einem Konzerte beilegte. Ich sah mit Verwunderung, daß Personen, die nicht selber ausübende Künstler waren, ihren ganzen Sinn auf das Theater oder das Konzert … gerichtet hatten. … Das Theater ist die heiligste Angelegenheit des Berliner Publikums, der einzige Gegenstand, worüber das ganze Volk Berlins ohne Repräsentativverfassung und freie Presse frei denkt, spricht und schreibt. … Es ist das gewaltige Triebrad der großen Konversationswalkmühle Berlins, der einzige Mittelpunkt des Berliner öffentlichen Lebens. Der Generalintendant der Schauspiele ist nach dem Könige der erste Mann in Berlin, und um Schauspieler und Sängerinnen kümmert man sich mehr als um Minister und Künstler.«11 Opern- und Konzerthaus erfüllten hinsichtlich des Publikums ganz ähnliche gesellschaftliche Funktionen wie die Zentren der Großstadt. Sie waren Teil eines öffentlichen Lebens, ausgelegt auf Sichtbarkeit und Darstellung, auf Begegnung und Genuss. Diese Öffentlichkeit spielte sich auf den Straßen, in den Parks, in den Kaffeehäusern und eben in den Bauwerken für Mu9 von Redern, Unter drei Königen, 120. Vgl. Fischer, Theater, 117–144; Meyer-Hanno, Schneider. 10 MP, 6.11.1837. Vgl. auch das Urteil der MP, 8.6.1844: »Tell me your amusements, and I will tell you what you are.« 11 Fanny Lewald, Meine Lebensgeschichte, zit. n. Köhler/Richter (Hg.), Berliner Leben, 182 f. Vgl. Döhring, Nationalismus, 93–116. Auch Julian Chownitz hielt in seinem Reisebericht aus Wien 1843 fest: Das Theater »bildet überhaupt in Wien einen stehenden Artikel der Conversation, welcher sich auf entsetzliche Weise durch alle Klassen zieht. – Theater! Nichts als Theater! Oper, Posse – nichts als Oper und Posse!«, Chownitz, Wiener Perspektiven, 88.
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sik ab. Hier begegneten sich Privatleute auf der Suche nach dem guten Leben in schöner Umgebung. Ungeachtet zahlloser sichtbarer und unsichtbarer, sozialer und pekuniärer Barrieren, von denen noch ausführlich zu reden sein wird, standen Opernhäuser und Konzertsäle jedenfalls den Eliten weitgehend offen. Bereits ihre reine Größe und ihr aufwändiger Unterhalt machten den regelmäßigen Besuch eines zahlreichen und zahlenden Publikums notwendig. Sie dienten damit nicht nur der Unterhaltung und der Repräsentation, sondern zählten zu den wenigen außerhäuslichen Treffpunkten, in denen sich Bildungsbürger und Wirtschaftsbürger, hoher und niederer Adel in einem institutionalisierten Rahmen begegnen konnten. In Wien waren Opernhäuser und Konzertsäle überhaupt die einzigen Orte, wo die Behörden es der Bevölkerung gestatteten, sich – außerhalb kirchlicher und staatlicher Feiern – in Gruppen zu versammeln. Die Musik bildete hier einen wichtigen, aber eben nur einen Anreiz. In den Bauwerken für Musik traf man Bekannte und Fremde, um Gesellschaft zu finden, einen Kaffee oder ein Glas Wein zu trinken, sich über Musik oder Politik zu unterhalten und gleichzeitig den neuesten Klatsch auszutauschen. Welche Vergnügungen musikalische Aufführungen auch sonst bereiten konnten, als konstituierender Faktor öffentlichen Lebens waren sie spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert nicht mehr wegzudenken. Der Theaterkritiker Moritz Gottlieb Saphir befand zur Aufwertung des eigenen beruflichen Interesses 1828 lakonisch: »Und was Deutschland ohne Theater und Oper wäre? Eine große Langeweile von 11.600 Quadratmeilen mit ungefähr 30 Millionen Einwohnern, da niemand in Gesellschaft ginge, weil niemand wüßte, von was er reden sollte.«12 Der kollektive Konsum von Musik hatte weitreichende Folgen für Zuschnitt und Zukunft des Publikums. Es war kein Zufall, dass der Aufstieg der Musikkultur in Europa und der der bürgerlichen Gesellschaft miteinander verflochten waren. Die permanente öffentliche Innovation bedurfte der Teilhabe vieler Menschen. Bereits im 18. Jahrhundert hatte sich der Begriff »Publikum« als Bezeichnung für eine durch Mitteilung oder Anwesenheit konstituierte Gemeinschaft verbreitet. Zeitgenossen assoziierten damit »öffentlich«, »eröffnen« oder »offenbar machen«.13 Im Französischen und Englischen schwingt bis heute diese Doppelbedeutung im Begriff »public« mit, der sowohl die Gemeinschaft anwesender Zuschauer wie das Offenkundige oder das Veröffentlichte bezeichnet.
12 Zit. n. Bitter-Hübscher, Theater, 415. Vgl. Ringer, Rise, 1–31. 13 Ruppert, Bürgerlicher Wandel, 151. Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte II, 540–546.
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Die Kunstmusik verlor im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend den Charakter des Privaten. Parallel zum Rückgang des Salonlebens und zum abnehmenden Stellenwert von Musikaufführungen bei Hofe zeichnete sich eine zunehmende Professionalisierung musikalischer Aktivitäten ab. Bereits im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts veranstalteten Musiker immer seltener Konzerte in eigener Regie, wohingegen die Anzahl der regelmäßig durchgeführten Konzertveranstaltungen wuchs. Die Ausdifferenzierung der Gattungen und wachsende Ansprüche an die Aufführungen verstärkten die Trennung zwischen Amateuren und Experten, zwischen privaten und öffentlichen Darbietungen. Doch trotz wachsender Spezialisierung der Spielstätten und Aufführungen vollzog sich erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine klare Trennung zwischen Opern- und Konzertbetrieb. In allen hier betrachteten Metropolen mischten sich noch lange die musikalischen Gattungen und die Publika, fanden Konzerte in Opernhäusern und szenische Aufführungen in Konzertsälen statt. Bis in die 1850er-Jahre hinein blieb es die Regel, dass Instrumentalstücke als Pausenfüller im Opernhaus erklangen und ganze Opernszenen die Programmfolge von Sinfoniekonzerten unter brachen. Die »Allgemeine Musikalische Zeitung« etwa lobte 1834 ausdrücklich die Verdienste des Königstädtischen Theater-Orchesters in Berlin, »welches in neuester Zeit Beethoven’s Pastoral-Symphonie, wie die eroica mit grosser Präcision als Zwischenacte ausgeführt hat. Dass auch diese schwerer verständlichen, grossartigen Musikstücke das ziemlich gemischte Publicum lebhaft ansprachen, zeugt von den Fortschritten geistiger Kultur«.14 Wohin ein Europareisender im 19. Jahrhundert auch kam, allerorten schossen repräsentative und meist verblüffend ähnliche Opern- und Konzerthäuser aus dem Boden. Kaum eine Großstadt, die in Europa etwas auf sich hielt, wollte auf Räume musikalischer Vergnügungen und gesellschaftlicher Repräsentation verzichten. Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur eine relativ überschaubare Anzahl von Hoftheatern oder Konzertsälen existierte, hatten diese Spielstätten an der Wende zum 20. Jahrhundert gleichsam flächendeckend ein musikalisches Netz über Europa gelegt. Urbane Räume veränderten den Stellenwert musikalischer Aufführungen. In ganz Europa nahm die Anzahl der öffentlich zugänglichen Bauwerke für 14 AMZ, 36 (1834), 111 f. Felix Mendelssohn-Bartholdy entschied sich in Leipzig 1839 bei der Uraufführung der nachgelassenen »Großen« C-Dur Sinfonie (D 944) von Franz Schubert dafür, diese Komposition als ein in sich geschlossenes Werk zu spielen, und er veränderte den Autographen nur leicht. Vgl. Dürr/Krause, Schubert-Handbuch, 642–661; Todd, Mendelssohn, 372 f.; sowie zur kritischen Wahrnehmung der C-Dur Sinfonie die Überlegungen in Kapitel IV.3.
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Musik rapide zu. Architektonisch betrachtet, traten im Laufe des Jahrhunderts etablierte Stilformen wie Klassizismus, Neorenaissance, Neugotik oder Neobarock allesamt neben- und miteinander auf. Gleichzeitig aber waren diese baulichen Muster, ungeachtet vieler lokaler Unterschiede in den einzelnen Städten und Regionen, international verbreitet. Auch in der baulichen Ästhetik ist eine weitreichende Europäisierung architektonischer Geschmackspräferenzen zu beobachten.15 Dabei ist auch die regionale Vielfalt der musikalischen Landkarte zu bedenken. Denn gerade in den deutschsprachigen Ländern formierte sich das neue Musikleben nicht nur in Berlin, sondern auch in Großstädten wie Hamburg und Leipzig oder in Residenzstädten wie Karlsruhe und Meiningen.16 Ob Zentrum oder Peripherie, ob industrialisiert oder agrarisch, im Deutschen Reich und im Habsburgerreich leistete sich fast jede größere Stadt prachtvolle Opern- und Konzerthäuser. Allein für Italien ist die Anzahl der Opern- und Theaterhäuser für die späten 1860er-Jahre auf 942 Gebäude geschätzt worden, von denen allein zwischen 1861 und 1868 nicht weniger als 198 errichtet wurden.17 Dagegen blieb in Großbritannien und in Frankreich auf Grund der Zentralisierung auch das Musiktheater auf relativ wenige Standorte beschränkt.18 Wenn auch viele dieser Einrichtungen in Ermangelung finanzieller Ressourcen nur saisonal bespielt wurden, verwandelte sich im Laufe des Jahrhunderts insgesamt die Mehrzahl der Spielstätten wegen ihrer Größe, ihrer Ausstattung und ihrer sozialen Funktionen in zentrale urbane Repräsentationsbauten. Nach heutiger Auffassung waren die meisten Gebäude für Musik beängstigend klein und unübersichtlich angelegt. Konzertsäle fassten oft nur wenige hundert Besucher, allein die namhaften Opernhäuser großer Städte boten über 1.000 Menschen Platz. In Berlin beschwerte sich die »Haude- und Spe nersche Zeitung« 1842 über die Enge eines städtischen Konzertsaales: »Die Theilnahme der Musikfreunde hatte sich durch ein zahlreiches Abonnement so über Erwartung lebhaft gezeigt, daß der, nicht über 400 Personen fassende, in akustischer Hinsicht günstige Saal … viel zu klein war, und selbst viele Damen nur stehend, oder im Eingange Platz finden konnten. Dabei war der Saal anfangs zu kalt und voll Zugluft an der Thür, nachher ebenso heiß von der Überfüllung.«19 15 Vgl. Mignon, Architektur, und insges. die Beiträge in Charle/Roche, Capitales. 16 Vgl. Ziemer, Moderne, 9–31; Daniel, Hoftheater; insges. Rürup, Deutschland. 17 Sorba, Teatri, 17–33. Vgl. Forsyth, Bauwerke, passim; Weber, Musical Culture, 71–89. 18 Vgl. Olsen, Stadt; Zerback, Verbürgerlichung; Taylor, Berlin and its Culture; Erickson (Hg.), Vienna; William, Musical Culture, 71–89. 19 HS, 16.11.1842.
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Folgen der Kommerzialisierung und wachsender sozialer Neid sind immer wieder zu beobachten. Blanken Ärger der Opernbesucher löste etwa das rücksichtslose Gedränge um bezahlbare Sitzplätze im Parkett oder der Kampf um Stehplätze aus. Die Zunahme des teurer werdenden Sitzraumes zu Lasten der Stehplätze verringerte die Beweglichkeit, aber auch die soziale Inklusion der ankommenden Hörer. Nach stundenlangem Anstehen erlebten die Besucher nach dem Öffnen der Eingangstüren einen oft sogar gewaltsamen Kampf um den Eintritt. Das Chaos entstand auch deshalb, weil es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur in Ausnahmefällen für das Parkett nummerierte Eintrittskarten gab. Ein Londoner Besucher beklagte, die ihn begleitende Frau sei bei der Rangelei erheblich am Arm verletzt worden: »Bekleidung und Benehmen, werden vom regelmäßigen Opernbesucher gefordert, verwandeln sich aber schlagartig durch die Art und Weise des Einlasses: zierliche Damen und Herren, die keine Athleten sind, werden bei einem Opernbesuch leider benachteiligt.«20 Der bauliche und der institutionelle Wandel musikalischer Spielstätten vom Hoftheater und Salon hin zum städtischen Opernhaus und Konzertsaal erfüllte die Bedürfnisse der immer zahlreicheren Hörer. Das galt zumal für die sich seit dem frühen 19. Jahrhundert in wichtigen städtischen Zentren etablierenden Konzertsäle. Diese Räume für Solisten, Chöre und Orchester waren zwar in der Regel erheblich kleiner als die Opernhäuser. Der Blick auf die Konzertsäle in London oder Berlin zeigt aber einen grundlegend neuen architektonischen Aufbau. Nicht in aufsteigenden Rängen, sondern in meist ebenerdig angeordneten Reihen fand sich das Publikum dem Orchester gegenüber angeordnet. Diese Sitzpläne verraten vieles über die öffentliche Bedeutung des Zuhörens. Zu beobachten ist eine verstärkte Konzentration auf die Aufführung zu Lasten privater Abgeschiedenheit in den abgeschotteten Logen und Rängen. Versuche des Bürgertums nach einer für jederman sichtbaren Ordnung im Saal waren hier zu beobachten. In geringerem Ausmaße galt diese Entwicklung auch innerhalb der neu errichteten Opernhäuser, deren Architektur auf leichtere Zugänglichkeit und Sichtbarkeit für die Gäste zielte. Das nach dem Brand 1844 durch den Architekten Karl Ferdinand Langhans umgebaute Berliner Opernhaus kennzeichnete eine weit großzügigere Raumaufteilung zwischen Parkett, Tribüne 20 »Pursuit of Pleasure and Difficulties«, SP, 25.4.1846. Im gleichen Beschwerdeton heißt es auch aus Berlin: »Es ist unbegreiflich, warum nicht in dem neuen Hause diesem unausstehlichen Drängen nach Plätzen durch eine größere Anzahl fester Sitze ein Ende gemacht hat. Die wenigen Parquetplätze sind augenblicklich vergriffen, und um auf gewöhnlichem Wege zu ihnen zu gelangen, muß man ein wo möglich noch unangenehmeres Gedränge in dem engen Billetverkaufsbureau durchmachen.« NZFM, 22 (1845), 44.
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Abb. 1: Der üppig dekorierte Innenraum des Berliner Opernhauses bei der Neueröffnung 1845.
und Logen. Grandiose und bequeme Eingangstüren gaben die Blicke frei auf ein erhelltes Auditorium, prächtige Leuchter, große Spiegel und geschmackvolle Bilder auf den Gängen und in den Foyers zauberten Eindrücke eines kulturellen Palastes hervor. Treppenhäuser, Galerien, Garderoben und Sitzabstände erfüllten das Bedürfnis der Besucher, sich an der Pracht des Hauses zu erfreuen. Ludwig Rellstab hielt in der »Vossischen Zeitung« voller Stolz fest, dass sich keiner der Kunsttempel in Europa »an Reichthum und wirklicher Schönheit mit dem unsrigen vergleichen kann. … In den Zwischenakten sah man das Publikum vielfältig die Corridors durchwandern, um sich an der wohlbehaglichen und eleganten Einrichtung auch hier zu erfreuen«.21 Im gleichen Tonfall schwärmten Beobachter aus Wien anlässlich der Eröff21 VZ, 9.12.1844. Vgl. HS, 9.12.1844; IZ, 8.3.1845, 152–155;
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nung des neuen Opernhauses 1869 von einem Ort, der, wenigstens auf den besten Plätzen, dem Lebensstil und dem Unterhaltungsbedürfnis der Elite entsprach. »In den Logen kann man den Bedürfnissen der Konversazion und des intimen geselligen Verkehrs in der bequemsten Weise nachkommen, und der Logen gibt es 113 vom Parterre bis zum dritten Stockwerk.«22 Die allmähliche soziale Öffnung des Spielbetriebes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts resultierte aus einer Professionalisierung der Aufführungen. Im Zeitalter wachsender Kommerzialisierung, Popularisierung und sich verändernder Geschmackspräferenzen schwand das Interesse an musikalischen Laien, ad hoc zusammengestellten Ensembles und unzureichend ausgebildeten Solisten. Die gestiegene Nachfrage und die höheren Erwartungen des Publikums beförderten adäquate berufliche Leistungen der Künstler, der Orchester und des Bühnenbildes. Qualität beruhte auf langen und intensiven Vorbereitungen, auf einer minutiösen Ausbildung, so dass statt praktizierender Laien nunmehr musikalische Experten erwartet wurden. Die Gründung des Leipziger Konservatoriums 1843 ist für diese Entwicklung ein gutes Beispiel. Damit stiegen auch die Honorare der Musiker. Das künstlerische Niveau erhöhte sich zusätzlich durch den Einsatz von Stimmführern für bestimmte Instrumentengruppen innerhalb des Orchesters und durch die Etablierung eines die Aufführung leitenden Dirigenten. Das Musikleben veränderte sich im Zusammenwirken von neuer künstlerischer Qualität und neuem Publikumsinteresse, wie beispielsweise die Wiener Presse über die »Gesellschaft der Musikfreunde« 1855 feststellte. Die Ausgaben für die Konzerte hätten sich auch »durch die gestiegenen Anforderungen [erhöht], welche das Publikum an die musikalische Exekution stellt und wonach es nicht mehr möglich ist, unbezahlte Dilettanten zu verwenden, sondern die bedeutenden Unkosten für Besetzung des Orchesters mit Künstlern vom Fach und für wiederholte sorgfältige Proben getragen werden müssen«.23 Zwischen 1820 und 1840 erfanden Konzertbesucher und Musiker den Dirigenten. Bis dahin gaben sogenannte Konzertmeister – das heißt, meist ein Stimmführer der Geigen – die Einsätze. Im Regelfall hatten die Komponisten von Bach bis Beethoven kein Orchester geleitet, ohne selbst ein Instrument zu spielen, und erteilten beispielsweise vom Klavier aus Anweisungen. Louis Spohr war ab 1820 wohl der Erste, der eigenverantwortlich und auf Dauer die Leitung des Orchesters übernahm. Carl Maria von Weber und Felix Mendelssohn gaben dem Orchester die Einsätze zunächst mit Hilfe einiger auf22 Wanderer, (A) 26.5.1869. 23 WZ (M), 30.9.1855. Vgl. Morrow, Unity, 193–206; Partsch, Geschichte, 179–191; Sachs, London, 201–235.
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gerollter Notenblätter, später mit einem Taktstock, und dirigierten manchmal sogar von einem kleinen Podest aus. Der Stellenwert des Dirigenten erreichte in kurzer Zeit den der großen Sänger. Die Dirigenten studierten nicht nur die Partitur und interpretierten die Kompositionen, sie ordneten die Orchestermusiker und das Publikum. Sie gaben beiden Seiten Anweisungen, konzentrierten ihre Arbeit auf die Aufführung einer Partitur – und suchten die Musik und die Zuhörer zu kontrollieren. Das Publikum fokussierte sich auf die Dirigenten, deren virtuose Schlagtechnik und dominanter Habitus Ordnung im Sinfonieorchester evozierte.24 Die Wiener Presse nannte den Taktstock Felix Weingartners einen »Stab der Herrschaft« und beschrieb seinen Auftritt als eine militärisch-politische Leistung, denn »bei der ›Eroica‹ war Herr Weingartner halb Napoleon, halb Bismarck … seine Augen schossen Blitze, sein Kopf fuhr in den Nacken zurück, seine Hände griffen nach dem Donner«.25 Dieser Wandel ist vor allem in der Entwicklung des Konzertlebens zwischen 1820 und 1860 zu beobachten. Öffentliche Konzerte mit einer relativ großen Anzahl von Musikern und einem gemischten Programm lassen sich in drei Gruppen einordnen: staatlich finanzierte Orchester, Liebhabervereine und Konzertvereinigungen sowie private Konzertunternehmer und namhafte Solisten. Die Mehrzahl dieser Veranstaltungen bildeten sogenannte Subskriptionskonzerte. Nur wohlhabende Adelige und Bürger konnten sich an der Subskription wichtiger Konzertserien beteiligen, und nur einzelne Benefizkonzerte dienten zur Förderung gemeinnütziger und wohltätiger Ziele. Institutionell betrachtet, ist eine erhebliche quantitative Zunahme organisierter Konzertserien gerade in London und in Wien zu beobachten.26 Die Programme wurden immer stärker nach künstlerischen und ästhetischen Gesichtspunkten zusammengestellt. Inhaltlich verschwanden um die Mitte des Jahrhunderts die überwiegend gemischten Konzertprogramme, die aus Ouvertüren, Duetten, Chorszenen, Arien, solistischen Einlagen und Tänzen bestanden, zu Gunsten zeitlich verkürzter Veranstaltungen mit wenigen, aber vollständig gespielten Werken. Die Sinfonie ersetzte das Potpourri.27 Durch Musikliteratur verbreiterte und vertiefte das Bürgertum sein Bildungswissen. Das Hörerlebnis im Konzert wuchs nicht allein durch die 24 Vgl. Ebd., Orchestral, 61–84; Leppert, Discipline, 468–470; Hermann-Schneider, Status; ferner die Perspektive auf das 20. Jahrhundert von Lebrecht, Maestro Myth. 25 NWT, 11.4.1897. 26 Vgl. die Statistiken bei Weber, Music, 159–168. 27 Bereits in den 1820er-Jahren eröffneten die meisten Konzerte der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien mit einer Sinfonie, bevor Chöre und Solonummern folgten. Vgl. zur entstehenden Orchesterkultur Weber, Great Orchestras, 243–265; Peyser, Orchestra.
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ständig wachsende Menge von Musikerbiographien und handbuchartigen Musikführern. Die wichtigste Gebrauchsanweisung zur Ausbildung eines Werkkanons waren populärwissenschaftliche Broschüren, die auf wenigen Seiten eine Einführung in die gespielten Kompositionen vermittelten. Die bürgerliche Bildung im Musikbetrieb bedurfte der Erklärung von erfolgreichen »Hörenswürdigkeiten«.28
Wien: Ein überreiches Angebot musikalischer Meister in einer vormodernen Gesellschaft Wien war die Hauptstadt eines dynastischen Reiches, das aus vielen Völkerschaften und Nationen bestand. Mehr noch als Preußen stand Österreich in einem Verteidigungskrieg gegen zwei der wichtigsten politischen Herausforderungen des 19. Jahrhunderts, der Demokratie und dem Nationalismus. Deutsche und Tschechen, Magyaren und Italiener stellten Ansprüche, die der Staat immer schwerer lösen konnte und wollte. Der absolutistisch angelegte Hof mit seiner Regierung um Fürst Metternich klammerte sich oft lernunfähig an die bestehende Ordnung und erschwerte politische und soziale Reformen. Streng genommen gab es keine Regierung, die den Kaiserstaat führte, und auch die Bürokratie arbeitete langsam und ineffektiv.29 Was in der Politik oft misslang, gelang in der Kunstmusik. Als Louis Spohr 1812 Kapellmeister im Theater an der Wien wurde, war für ihn diese Metropole »unbestritten Hauptstadt der musikalischen Welt«.30 Zu Klassikern erklärte man in Europa die Komponisten Haydn, Mozart und Beethoven, und viele große Musiker des 19. Jahrhunderts unternahmen Pilgerfahrten zu ihren Wirkungsstätten. Von der Jahrhundertmitte vielleicht abgesehen, riss in Wien das kulturelle Erbe nicht ab. Für viele junge Komponisten blieb Wien die Wahlheimat (Johannes Brahms, Anton Bruckner, Gustav Mahler, Hugo Wolf). Nicht zuletzt machten die vielfältigen Institutionen der Kaiserstadt und besonders die Kultur der Adelshäuser Wien zu einem musikalisch bedeutsamen Ort. Hierin lag ein wichtiger Unterschied zum Musikleben in Berlin und in London. Adelige Familien, wie gerade Esterházy, Lichnowski und Lobkowitz, engagierten sich als Mäzene, als Veranstalter zunächst halböffentlicher Konzerte und finanzierten ohne Bedenken selbst Beethovens Karriere. 28 Vgl. Grotjahn, Sinfonie, 88–121; McVeigh, Concert, 223–229; Weber, Redefining, 530 f.; Thorau, Hörer, 207–220; zum wilhelminischen Deutschland Vondung (Hg.), Bürgertum. 29 Vgl. Bruckmüller, Sozialgeschichte, bes. 283–345; Rumpler, Geschichte, 125–259; Kořalka, Nationalgesellschaften, 164–175; Nipperdey, Deutsche Geschichte I, 320–344. 30 Spohr, Lebenserinnerungen I, 155
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Weder in der Struktur der Habsburgermonarchie noch im Musikleben ist ein »bürgerliches Zeitalter« zu erkennen. In allen Diensträngen des österreichischen Offizierskorps dominierten Adelige. Der Hochadel verfolgte oft familiäre und habituelle Interessen und achtete auch nach 1848 auf seine Abgrenzung zum aufsteigenden Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum. Der alte Geburtsadel begriff sich selbst als »erste Gesellschaft« und achtete auf soziale Distanz gegenüber der »zweiten Gesellschaft«, etwa den Unternehmern, den Bankiers und den neu Nobilitierten. Etwa bis 1870 lag in Wien die gesellschaftliche Macht in der Hand von etwa 100 Familien fürstlichen und gräflichen Ranges.31 Auch als die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Wiener Hochadels einbrach, demonstrierte er mit dem Besuch der Logen in der Hofoper augenfällig seinen Rang in der Gesellschaft. Kaiser Franz II. wurde regelmäßig bei seinem Besuch mit der Hymne von Haydn, »Gott erhalte Franz den Kaiser«, geehrt. Leider war er kein Musikliebhaber und dachte nicht einmal daran, Haydn für sein beliebtes Werk ein Geschenk anzubieten. Sein Nachfolger Kaiser Ferdinand I. schickte dem erkrankten Gaetano Donizetti 1846 immerhin einen Arzt ins Sanatorium.32 Auch das Quartettspiel und die Gesangsabende bei Hof verraten den hohen Stellenwert adeliger Musikpflege in Wien. Im Unterschied zum privilegierten Hofadel verfügte der Landadel über deutlich zu geringe pekuniäre und soziale Mittel, um in der Hauptstadt ständig anwesend sein zu können. Der Landadel erschien in Wien bevorzugt im Rahmen der öffentlichen Opern- und Konzertsaison im Winter und im Frühling eines jeden Jahres und wohnte dann in den Palais befreundeter Aristokraten oder im Hotel. Im Sommer dagegen blieb die Hofoper für wenigstens drei Monate geschlossen, weil die städtische Aristokratie in dieser Zeit nicht in Wien weilte.33 An kirchlichen und staatlichen Feiertagen war in Wien der Besuch des Opernhauses verboten. Das eröffnete den Orchesterkonzerten neue Möglichkeiten – institutionell, stilistisch und sozial: Diese Konzerte ermöglichten die Entstehung und die Verbreitung der Gattung der Sinfonie. Nicht nur das: Die Konzertsäle waren für alle Eliten zugänglich, für den Adel und für das gehobene Bürgertum gleichermaßen. Das zeigte exemplarisch die erfolgreiche Neugründung der »Gesellschaft der Musikfreunde« 1813. Diese Konzertreihe changierte zunächst zwischen aristokratischem Salon und öffentlichen Konzerten, die man auf Einladung hin besuchen konnte. Im Unterschied zu 31 Vgl. Stekl, Machtverlust, 144–165; Sheehan, Ausklang, 469–486; Bruckmüller, Sozial geschichte, 422–424. 32 La Grange, Wien, 107 f., 228 f. 33 Vgl. Hanson, Muse, 100–103; Reif, Adel, 29–39.
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den Kaufleuten und Händlern interessierten sich gerade Beamte und Lehrer für diese neue musikalische Unterhaltung. Was für den Hochadel galt, traf auch für das städtische Bürgertum zu: Der wachsende Konsum der Konzertmusik war sozial nützlich, weil er dem Erhalt und dem Ausbau eigener Netzwerke diente. Bereits in der Saison 1826/27 erlebte Wien 111 Sinfoniekonzerte; London kam auf einen ähnlich hohen Wert (125). Allerdings veränderte sich das Zahlenverhältnis durch das weit dynamischere Wachstum von London drastisch. In der Saison 1845/46 genossen die Wiener 163, die Londoner aber 381 Konzertveranstaltungen.34 Musikalische Produkte wurden in Wien bereits vor ihrer Aufführung durch Beamte auf ihre staatliche und moralische Zuverlässigkeit hin geprüft. Beleidigte das Werk weder einen König noch einen Minister, berührte es weder die Politik noch die Religion, schien das Werk mithin harmlos genug, hatte es weitere Instanzen, voran die Polizeibehörden, zu passieren. Und unter der Aufsicht anwesender Polizisten standen endlich die musikalischen Aufführungen. Karl August Varnhagen von Ense, Hofmeister und Diplomat aus Berlin, ärgerte sich bei seinem Besuch in Wien über die Anstrengungen des noblen Publikums, sich selbst willig der Zensur auf der Bühne zu bedienen: »Eine kindisch bornierte Zensur beherrscht sie. Statt den Geschmack des Publikums zu bilden, hängt sie von dem verdorbenen Geschmack dieses Publikums, von den aristokratischen Prätensionen der Logenbesitzer ab. Es hat sich für diese Bühne durch Zusammenwirken der Zensur und die Adelsansprüche der Abonnenten eine Atmosphäre des Urteils … gebildet, in dem die gesunde Vernunft manchmal zu ersticken droht.«35 Wien mangelte es zunächst an geeigneten Spielstätten und musikalischen Institutionen. Zwar unterhielt Wien bereits im Vormärz fünf Theater, von denen außer der Hofoper auch zwei Häuser in den Vorstädten regelmäßig Opern auf die Bühne brachten (das Theater an der Wien und das Josefstädter Theater). Doch obwohl das Kärtnertortheater als Hofoper bis 1848 direkt aus der kaiserlichen Schatulle bezahlt wurde, waren auch hier die Bedingungen des Spielbetriebs alles andere als ideal. Zwar bot das Haus über 2.000 Zuschauern Raum, doch Akustik und Belüftung ließen zu wünschen übrig, das Haus war schwer zu beheizen und schlecht zu beleuchten.36 Vor allem aber verfügte Wien bis 1831, als die »Gesellschaft der Musikfreunde« ihr erstes Haus mit ca. 700 Plätzen errichtete, über keinen eigent34 Die Angaben folgen Weber, Music, 87–98, 159–161. Vgl. die Beiträge in Flotzinger/Gruber (Hg.), Musikgeschichte Österreichs, Bd 2. 35 Varnhagen, Tagebücher, 1. Bd., 181. 36 Hadamowsky, Hoftheater; ders., Theatergeschichte; Tschulik, Musiktheater; Prawy, Vienna Opera; und die Beiträge in Seebohm (Hg.), Wiener Oper.
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lichen Konzertsaal. Beethovens IX . Sinfonie war 1824 in der Hofoper uraufgeführt worden, Paganini hatte 1828 seine Konzerte u. a. im großen Redoutensaal der Hofburg, im Burgtheater sowie im Kärntnertortheater gegeben. Die ersten regelmäßigeren Subskriptionskonzerte fanden seit 1833 in eben diesem Redoutensaal statt – ein bezeichnendes Indiz dafür, dass gerade in Wien aristokratische und bürgerliche Aufführungsorte und Präferenzen ineinandergriffen. Und während London bereits um 1850 ein halbes Dutzend Konzertserien aufweisen konnte, verfügte Wien bis 1899 lediglich über zwei Reihen – die der »Gesellschaft der Musikfreunde« (seit 1812) und der Philharmoniker (seit 1842). Auch das war ein Indiz für die weit stärkere Kommerzialisierung und die finanzielle Dynamik des Musikbetriebs in London.37 Schneller als das institutionell und ästhetisch konservative Wiener Musikleben veränderte sich das städtische Erscheinungsbild. Im Zuge der Errichtung der Ringstraße erhielt Wien Bauten von hoher repräsentativer Qualität. Wie in Paris markierte auch in Wien die Oper ein Zentrum der erneuerten Metropole. Die von August Siccard Siccardsburg und Eduard van der Nüll bis 1869 im Stil der Neorenaissance erbaute Oper (2.880 Plätze) war das erste große öffentliche Gebäude an der Ringstraße. Auch Theophil Hansens großer Musikvereinssaal von 1870 (1.640 Plätze) galt als ein Werk des architektonischen Historismus und bediente sich antikisierender Formelemente. Eindrucksvoll demonstrierten diese großdimensionierten Bauwerke den gesellschaftlichen Status der Kunstmusik im politischen Zentrum der Hauptstadt des Habsburgerreiches.38
Berlin: Staatliche Subventionen und die politische Überwachung des Musiklebens Preußen begegnete den Herausforderungen des 19. Jahrhunderts durch seine effiziente obrigkeitsstaatliche Verwaltung. Die gesetzlichen Verfahren, die Sparpolitik und die unabhängige Justiz unterschieden Preußen von dem weit weniger effizient organisierten Habsburgerreich. In Berlin arbeitete ein Kabinett aus Hochadel, Ministern und hohen Beamten eingebunden in Institutionen und Regeln. Andererseits aber war Preußen ein Musterland der Restauration und achtete auf den Bestand der monarchisch-bürokratischen Entscheidungsmacht, indem es die Interessen des Geburtsadels und des 37 Vgl. Hanson, Muse, 77–80, 117 f.; dies., Vienna, 98–118; Planyavsky, Vor-Philharmonische Zeit, 74–111; Bled, Wien, 300–308; insges. Rummenhöller, Vorklassik. 38 Vgl. Olsen, Stadt, 98–100; Wiesmann, Vienna, 84–108; sowie die Beiträge in Erickson (Hg.), Schubert’s Vienna.
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Militärs verteidigte und sich nennenswerten politischen Reformen verweigerte. Auf eine verkürzte Formel gebracht: Preußen war eher lernfähig als lernwillig.39 Auch der preußische Adel musste sich zunehmend auf Feldern der Wirtschaft, der Bildung und der Religion behaupten. Beispielsweise nahm die Zahl derjenigen Landadeligen ab, die genug Boden oder Besitz besaßen, um davon leben zu können. Daher hatten sie ihren gesellschaftlichen Rang durch ein staatliches Amt zu behaupten. Auch wenn Preußen im Unterschied zu Großbritannien das Mittel der Nobilitierung nur sparsam einsetzte, nutzte der effiziente Verwaltungsstaat die Herausbildung des Bürgertums. Was immer die Beamten, die Akademiker und die neuen Unternehmer auch voneinander unterschied, das Bürgertum teilte kulturelle Interessen. Der bedeutendste Anteil am preußischen Kronkassenetat kam den königlichen Bühnen und in erster Linie dem Opernhaus zugute. Der Hofadel organisierte lange Zeit den Betrieb und den Besuch dieser Spielstätte. Dabei waren zwei Kategorien zu unterscheiden: die häufigen Vorstellungen, die auch für ein breiteres Publikum gegeben wurden, und die ausgewählten Veranstaltungen, die nur der König genehmigte. Bei besonderen Anlässen, etwa beim Geburtstag des Königs Friedrich Wilhelm IV., bei der Vermählung eines Kronprinzen oder beim Empfang hochrangiger Diplomaten, lud die Berliner Aristokratie ihre Gäste zu halböffentlichen Operngalas oder zu Hofkonzerten ein. Die preußischen Monarchen waren Freunde eines repräsentativen Musiklebens, aber oft keine Freunde der Kunstmusik. König Friedrich Wilhelm III. achtete auf das Opernzeremoniell, langweilte sich hier aber musikalisch. Privat bevorzugte er Marschmusik. Ein Hofbiograf berichtete, dass dem König Don Giovanni, Freischütz und Fidelio zuwider gewesen seien. Auch hier änderte sich manches im Deutschen Kaiserreich. Kaiser Wilhelm I. ging gerne ins Opernhaus, um sich zu entspannen. Kaiser Wilhelm II. konnte stundenlang über den musikalischen Rang Richard Wagners monologisieren.40 In den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts vergrößerte sich das Publikum und man baute in Berlin neue Spielstätten. Viele Anwälte, Ärzte und Beamte erkannten, dass ihre Chancen in der Gesellschaft auch durch den individuellen Erwerb musikalischer Bildung wuchsen und nicht mehr allein von der
39 Vgl. Sheehan, Ausklang, 359–415; Koselleck, Preußen, bes. 153–162, 217–332; Wehler, Gesellschaftsgeschichte II, 297–369; Nipperdey, Deutsche Geschichte I, 320–337; sowie die Beiträge in Puhle/Wehler (Hg.), Preußen. 40 Vgl. Stamm-Kuhlmann, Hof, 307–319; Philipp, Hof, 386–390; Hübscher-Bitter, Sendung, 194–197.
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Herkunft und dem materiellen Besitz abhingen. Spätestens seit den 1830erJahren erlaubten neue Konzertserien die öffentliche Sichtbarkeit der Bürger und dienten der Herausbildung einer bürgerlichen Elite. Das Repertoire der staatlichen Königlichen Kapelle war überaus konservativ ausgelegt (Potpourris aus Spätbarock und Frühklassik), und erst die Initiativen privat gegründeter Orchester bereicherten das Berliner Konzertleben. Im Ergebnis zeichnete sich in Berlin ein gemeinsamer Musikkonsum von Adeligen und Bürgern ab. Auch die königliche Familie nahm an den Konzerten der von Bürgern organisierten Singakademie teil und erlebte beispielsweise die Wiederaufführung von Bachs Matthäuspassion durch Felix Mendelssohn und Carl Friedrich Zelter 1829. Die Tatsache, dass sich Adelige und Bürger immer öfter im Konzert begegneten, sich in Gespräche über Sinfonien und Solokonzerte vertieften, zeigt, dass sich Berlin wenigstens in seiner kulturellen Praxis weiter als Wien öffnete.41 Die Aufführungen der Kunstmusik im Berliner Opern- und Konzerthaus boten auch gesellschaftlichen Minderheiten aussichtsreiche Möglichkeiten. Das ist exemplarisch an der wachsenden Akzeptanz von Juden zu erkennen. Vor 1870 blieb der Antisemitismus im Berliner Musikleben ein Randphänomen – ein wichtiger Unterschied im Vergleich zu Wien.42 Ein Eiferer wie Richard Wagner erntete bei der ersten Veröffentlichung seiner Schrift über das »Judenthum in der Musik« 1850 zunächst eher Verachtung als Unterstützung.43 Die sich verbessernden rechtlichen und sozialen Bedingungen für die wohlhabenden Juden in Berlin können als eine Folge von Emanzipationsprozessen verstanden werden – auch wenn sie mit einem Bruch jüdischer Tra ditionen verbunden waren. Die Karriere von Felix Mendelssohn Bartholdy (so sein vollständiger Nachname nach der Taufe zum Protestanten) verdeutlicht dies zum Beispiel. Die Teilhabe an musikalischer Bildung ermöglichte Juden einen meist unproblematischen Zugang zum Opernhaus und in den Konzertsaal. Auch die soziale Distinktion verband jüdische und christliche Bildungsbürger. Dennoch ginge es zu weit, die Spielstätten der Kunstmusik zu Orten konfessioneller Integration zu erheben. Vielleicht liegen wegen des geringen Bevölkerungsanteils bürgerlicher Katholiken in Berlin bis heute 41 Vgl. Mahling, Musikbetrieb, 27–123, Applegate, Bach, 10–44; und zur sozialen Schichtung und kulturellen Orientierung des Bürgertums Nipperdey, Deutsche Geschichte I, 255–271; Wehler, Gesellschaftsgeschichte II, 174–238; Geisthövel, Restauration, 148–189; Jefferies, Imperial Germany, 9–41. 42 Vgl. zum Beispiel die nicht seltenen antisemitischen Kommentare in der Wiener Fachpresse: AWT, 29.7.1828, 361; AWT, 12.3.1822, 121 f.; OZ, 21.4.1848, 499–501; Wanderer, 31.3.1848; DZ, (M) 10.4.1897; Kikeriki, 17.1.1901; Kikeriki, 2.7.1908; NWT, 18.6.1908. 43 Wagner, Judenthum, 66–85. Vgl. Weiner, Richard Wagner; Müller, Wagner, 65–80.
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keine näheren Berichte über das Verhältnis zwischen Protestanten und Katholiken im Publikum vor.44 Berlin hatte der musikalischen Reputation Wiens lange nichts Vergleichbares entgegenzustellen. Die Residenz der preußischen Könige hatte trotz ihrer großzügigen Anlage bis zum zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts noch eher das Erscheinungsbild einer mittleren Garnisonsstadt. Die kulturelle Freiheit beschränkten preußische Vorschriften (das Religions- und Zensur edikt 1788) und das politische Klima der Restauration. In Berlin wirkten zunächst keine deutschen Komponisten von Rang. Musikalische Innovationen erhielt die Stadt bis 1850 vor allem durch die Leistungen von Komponisten, die im Ausland Karriere gemacht hatten und dann in Berlin als Generalmusikdirektoren wirkten (Gaspare Spontini, 1820–1841, Giacomo Meyerbeer, 1842–1846). Felix Mendelssohn Bartholdy ärgerte sich über das »ungroßmütige Zurückbleiben in Fortschritt und Entwicklung« und beendete 1845 seine Tätigkeit in Berlin.45 Ihn enttäuschte das Missverhältnis zwischen politischen Repräsentationsversuchen und den mittelmäßigen kulturellen Leistungen – eine Einschätzung, die hinsichtlich des Spielbetriebs der Hofoper und ihres Repertoires zutraf. »Aber da kommt ja schon wieder das Berliner Zwitterwesen; die großen Pläne, die winzigen Ausführungen … Das Wesentliche ist der Eindruck, den mir die Stadt macht, der ist durchaus ein unerfreulicher, erdrückender und dennoch kleinstädtischer. Es ist hier nicht deutsch und doch nicht ausländisch, nicht wohltuend und doch sehr gebildet, nicht lebhaft und doch sehr aufgereizt, ich muß an den Frosch denken, der sich aufblasen will, nur daß er hier nicht zerspringt, sondern am Ende wirklich ein Ochse werden wird – aber ich mag nicht blasen helfen.«46 Berlins musikalischer Ruf resultierte zunächst aus der baulichen und künstlerischen Wirkung seiner Oper. Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff hatte das Theater (1.800 Plätze nach dem Umbau durch Karl Langhans 1844) auf Geheiß und unter Mitwirkung seines Königs Friedrich II. 1741–1743 direkt im Zentrum Berlins errichtet. Die Berliner Hofoper war das erste bedeutende Opernhaus überhaupt, das als frei stehendes Gebäude errichtet wurde. Damit wirkte es als ein frühes Element der Urbanität und verlieh dem anderweitig noch wenig konturierten Zentrum der Stadt fortan sein Gesicht. Auch in Berlin war die Oper Staatsoper, die regierenden Monarchen von Friedrich II. bis 44 Applegate, Bach, passim; Toews, Becoming, 207–278. 45 Zit n. Wolff, Mendelssohn, 110 (14.8.1841). 46 Diese Briefstellen Mendelssohns werden zitiert nach Elvers, Berlinsche Zwitterwesen, 182 (15.7.1841), 178 f. (27.9.1834). Vgl. Hensel, Familie Mendelssohn, und die Beiträge in Kühn (Hg.), Preußen; Puhle/Wehler (Hg.), Preußen.
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Abb. 2: Blick auf die Hofoper in Berlin, 1850.
Wilhelm II. finanzierten die Vorstellungen nicht nur aus dem laufenden Etat, sondern mischten sich oft direkt in die Gestaltung des Spielbetriebes ein. Erst nach dem Neubau des königlichen Schauspielhauses durch Karl Friedrich Schinkel (1821) und der Eröffnung privat betriebener Häuser, die eher komische Opern brachten, wie dem Königstädtischen Theater (1824) und dem Theater der Familie Kroll (1850), verfügte die Spreemetropole über mehrere florierende Opernspielstätten.47 Im Jahr 1872 hielt die »Neue Berliner Musikzeitung« über das kulturelle Wachstum der Stadt fest: »Berlin wird eben Weltstadt; die Veranstaltungen, welche zur Unterhaltung des Publikums getroffen werden, nehmen von Jahr zu Jahr größere Dimensionen an.«48 Dagegen hatte Berlin bis zur Eröffnung der Singakademie in direkter Nachbarschaft zur Hofoper im Jahre 1827 keinen eigenen Konzertsaal – in dieser Hinsicht war es in Wien ganz ähnlich. Es war üblich, dass musikalische Veranstaltungen in Ball- oder Hotelsälen wie in denen des »Hotel de Russie« oder des »Stadt Paris« gegeben wurden. Auch wenn die Eigen 47 Vgl. neben Mahling, Musikbetrieb, passim, auch ders., Berlin, 109–140; Hübscher-Bitter, Sendung, 189–199; Walther, Theater, 377–409; sowie die Beiträge in Quander (Hg.), Apollini et Musis; Ribbe, Geschichte Berlins I, 523–539. 48 NBMZ, 26 (1872), 293. Vgl. Bollert, Musikleben, 603–53; und insges. den Überblick bei Korff/Rürup (Hg.), Berlin.
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initiative vieler privater Unternehmer das Berliner Konzertleben prägte, bildeten die Konzerte der Königlichen Kapelle, zumal die Sinfonie-Soireen ab 1842, sein Rückgrat. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung des musikalischen Angebotes und der Etablierung neuer Konzertserien (vor allem der Philharmoniker seit 1882) erhielt Berlin auch adäquate Aufführungsorte. Durch den Umbau einer ehemaligen Rollschuhbahn in Kreuzberg zur Philharmonie 1887–1888 durch Franz Heinrich Schwechten verfügte auch Berlin über ein Auditorium, das mit seinen über 1.600 Plätzen den Maßstäben der großen europäischen Metropolen genügte. Berliner Konzertveranstalter orientierten sich nach 1850 verstärkt an den Neubauten in Paris und in London.49
London: Der Spielbetrieb stellt sich dem freien Markt Großbritannien unterschied sich in seiner politischen und wirtschaftlichen Ordnung nachhaltig von den Bedingungen in der Habsburgermonarchie und in Preußen. Das politische System beruhte auf einer Allianz weniger hundert Familien, die sich im Unter- und im Oberhaus oft entlang der Parteilinien der liberalen Whigs und der konservativen Tories zu Bündnissen zusammenfanden. Der Stellenwert des britischen Unterhauses war allein daran zu erkennen, dass bürgerliche und adelige Eliten gleichermaßen durch Wahlen ihre politische Macht erhalten konnten und dass nicht der Monarch, sondern der Premierminister öffentliche Ämter zu vergeben hatte. Während sich der Wiener Hof den Herausforderungen des 19. Jahrhunderts oft verweigerte und Preußen immerhin die staatliche Verwaltung optimierte, zeichnete sich Großbritannien dadurch aus, dass es politisch, sozial und wirtschaftlich eine Führungsposition in Europa besetzte – die ungeheuren sozialen Kosten der Industrialisierung mit eingerechnet.50 Die öffentlichen Empfänge und die kulturellen Veranstaltungen in London dominierte der Hochadel (»Nobility«) auf Kosten des niederen Adels bzw. des Landadels (»Gentry«). Die Gentry hatten es aus Gründen der räumlichen Entfernung und ihrer beschränkten finanziellen Mittel weit schwerer, die musikalische Saison in der Hauptstadt zu besuchen. In dieser Hinsicht galten in London die gleichen Rahmenbedingungen wie in Wien und in Ber49 Vgl. Taylor, Berlin, 68–76, 140–152; Freydank, Theater, bes. 198–253; Kühn, Kunst-Corps, 146–162. 50 Vgl. Cunningham, Challenge, 4–79; Hoppen, Generation, 9–124; Thompson, Rise, 13–50, 307–361; McCord, History, 127–243; Fahrmeir, Revolutionen, 185–191; insges. den Überblick von Woodward, Age.
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Abb. 3: Außenansicht des Opera House Covent Garden (1861) mit dem eleganten Foyer der Floral Hall auf seiner linken Seite.
lin. Um den gesellschaftlichen Rang innerhalb der aristokratischen Elite zu erhalten oder auszubauen, war es wichtig, die Opernaufführungen während der Spielzeit zwischen März und Juli zu besuchen. Ein zentraler Unterschied zwischen London und den übrigen Metropolen bestand aber in der Organisation des Opernhauses selbst. In Wien und Berlin beherrschten die Hoftheater den Spielplan und das Gesellschaftsleben. In London gab es diese Institution nicht, und freie Unternehmer warben mit ihren Häusern um die Gunst des Publikums. Durch die fehlenden staatlichen Subventionen war in London ein eigenständig erwirtschafteter Umsatz viel wichtiger.51 Die britische Aristokratie besuchte bis 1860 bevorzugt das Her Majesty’s Theatre (bis 1840 hieß das Haus King’s Theatre). Denn dieses war seit Jahrzehnten etabliert, bot berühmte Sänger und verlangte die höchsten Eintrittspreise. Gebildete und wohlhabende Musikliebhaber aus der »middle class«, aber auch Teile der »gentry«, tendierten zum Royal Italian Opera House in Covent Garden. Dieses war preiswerter, bot ein breites Repertoire an und richtete sich dadurch seit den 1840er-Jahren als ein innovatives Konkurrenz51 Vgl. Hall-Witt, Fashionable, 12–22, 149–172; McCord, History, 90–102; Berghoff Adel, 103–114; Walter, Oper, 71–109.
Orte der Kommunikation | 59 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
unternehmen ein. Die fehlenden Quellen ermöglichen es nicht, die genaue Zusammensetzung des Bürgertums nach Berufsgruppen in beiden Häusern zu klassifizieren. Allerdings geben die Besucherlisten der Presse einen Einblick in die Anzahl, die Titel, die regionale Herkunft und die familiäre Zusammensetzung der Adeligen. Die Bilanz ist wenig überraschend. Das Her Majesty’s Theatre (King’s Theatre) besuchten die etablierten Peers und die führenden adeligen Familien. König George IV. ging regelmäßig in diese Oper – begleitet von seinem Hofstaat und bei einem opulenten Buffet. König William IV. machte sich wenig aus musikalischen Aufführungen, doch seine Nachfolgerin Königin Victoria konnte von öffentlich aufgeführter Kunstmusik kaum genug kriegen. Gemeinsam mit Prinzgemahl Albert ging sie beinahe wöchentlich in die Oper: 1847 beispielsweise erlebte sie 27 Vorstellungen allein im Her Majesty’s Theatre und 9 in Covent Garden.52 Etwa bis 1840 waren die Konflikte zwischen Adeligen und Bürgern im Londoner Musikleben weniger auffällig als die Abgrenzungsversuche innerhalb der adeligen und bürgerlichen Besuchergruppen. Ärzte, Rechtsanwälte und Verwaltungsfachleute, nicht aber das Wirtschaftsbürgertum, gründeten neue Konzertreihen, um ehemals private Aufführungen von Kunstmusik in den öffentlichen Raum zu überführen. Ohne die bestehenden musikalischen Institutionen erweiterten sie in eigener Verantwortung die musikalische Praxis. Auffällig war die Neugründung der »Royal Philharmonic Society« 1813, einer Konzertreihe, welche nicht nur die neuen musikalischen Ideale der »middle class« (Sinfonien, Solokonzerte) befriedigte, sondern auch den ästhetischen Konservatismus (Barock, Chormusik) der aristokratisch dominierten »Ancient Concerts« verdeutlichte.53 Diese institutionelle und soziale Ausweitung des Konzertlebens durch das britische Bürgertum berührte auch Fragen konfessioneller Toleranz. Nur äußerst selten finden sich in der Londoner Presse Berichte über Diskriminierungen von Juden und Katholiken im Opernhaus und im Konzertsaal. Angehörige beider Konfessionen konnten diese Orte betreten und Aufführungen meist ungehindert genießen. Diese Spielstätten vergrößerten die kulturelle Öffentlichkeit in Großbritannien insgesamt. Bereits 1829 gelang die Katholikenemanzipation. Fortan war es auch den Katholiken leichter möglich, Zugang zu wichtigen Staatsämtern zu erlangen. 52 Vgl. Hall-Witt, Fashionable, 112–122, 180–186; McCord, History, 89 f., 145 f. 53 Vgl. Weber, Music, 61–80, 162–164; Gunn, Public Culture, 134–162. Aussagekräftig ist die Biographie des zwischen Deutschland und England pendelnden Konzertunternehmers und Dirigenten Carl Halle, Kersting, Halle.
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Ganz auf der Höhe der ökonomischen Stellung Großbritanniens übte das Londoner Musikleben eine starke Anziehungskraft auf die Künstler in Europa aus. Der Londoner Musikbetrieb konnte sich im Hinblick auf Sänger, Dirigenten, Ensembles und Produktionen erlauben einzukaufen, was gut und teuer war. Tatsächlich gab das Publikum nirgendwo so viel Geld für Musik aus, und nirgendwo ließ sich mit Musik so viel Geld verdienen – und verlieren. Im sogenannten Westend der Metropole, in der Nähe zum Machtzentrum von St. James, warben allein vier Opernhäuser um die Gunst des zahlungskräftigen Publikums. Ursprünglich besaß nur das King’s Theatre am Haymarket die Lizenz zur Aufführung der prestigeträchtigen italienischen Opern. In den übrigen Häusern gab es entweder Sprechtheater oder englischsprachige Opern. Die letzten staatlichen Beschränkungen fielen mit dem Theatre Act 1843; nun durften auch Covent Garden und Drury Lane italienische Opern, Her Majesty’s Theatre englischsprachige Werke geben. Fortan lieferten sich die beiden führenden Londoner Spielstätten – das Her Majesty’s Theatre und das Royal Italian Opera House Covent Garden – einen erbitterten und ruinösen Kampf um die Zuschauer der Londoner Elite, den schließlich das letztere Haus für sich entschied. Doch auch im English Opera House und dem Drury Lane Theatre versuchten Impresari immer wieder, das Opernpublikum zu begeistern. Die Tatsache, dass der Opernbetrieb im Unterschied zu Wien und Berlin ein rein privatwirtschaftliches Unternehmen blieb, bedeutete, dass Londoner Bühnen weder die Vorzüge noch die Nachteile höfischer Patronage erfuhren. Die Folgen waren, dass die bürgerlichen und adeligen Eliten besonders viele berühmte Sänger und aufwendige Inszenierungen erleben konnten, deren hohe Kosten aber durch teure Eintrittskarten gedeckt werden mussten. Deshalb blieb vielen Kleinbürgern der Zugang zum Opernhaus verwehrt.54 Wenn Wien als führende Metropole der Komponisten bezeichnet werden kann, dann war London die führende Metropole des musikalischen Konsums. Die erfolgreich befriedigte Nachfrage nach den besten Künstlern und den wichtigsten Werken spiegelte die ökonomische Macht Londons und stellte die musikalischen Konsummöglichkeiten in Wien und in Berlin deutlich in den Schatten. Die Royal Philharmonic Society vergab großzügig dotierte Auftragswerke – beispielhaft ist Beethovens IX . Sinfonie 1815. Den Londoner Spielplan beherrschten das italienische und das deutsche Repertoire. 54 Vgl. Hall-Witt, Fashionable, 146–184; Sachs, London, 201–235; zur architektonischen Dimension den Band Metropole London, und die italienische Pespektive auf das Geschäft der Impresari Toelle, Oper.
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Nicht nur das: Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und dem Aufstieg »britischer« Komponisten wie Arthur Sullivan und Edward Elgar spotteten viele innerhalb und außerhalb Großbritanniens über »das Land ohne Musik«.55 Die einzigartige Vielfalt des Londoner Konzertlebens reflektierte den wachsenden Unterhaltungsbedarf einer zu ungekanntem Reichtum gekommenen städtischen Elite. Wie in Wien formierten sich auch in London zunächst private Vereine, deren Orchester aus adeligen bzw. bürgerlichen Amateuren bestanden und für öffentliche Aufführungen um wenige Berufsmusiker ergänzt wurden. Vor der Gründung der »Royal Philharmonic Society« im Jahre 1813 existierte hier kein permanent etabliertes Sinfonieorchester. Diese Konzerte fanden in den Argyll Rooms an John Nashs prestige trächtiger Regent Street statt – mithin in der architektonischen Umgebung eines repräsentativen Boulevards. Nach dem Brand der Argyll Rooms 1830 verlagerte sich diese Konzertserie verstärkt in die Hanover Square Rooms. Die von der Aristokratie frequentierten »Ancient Concerts« hatten ihre Spielstätte in der Tottenham Street, gelegentlich auch im Konzertsaal des Her Majesty’s Theatre. Nach heutigen Maßstäben waren im frühen 19. Jahrhundert alle diese Orte Kammermusiksäle, die lediglich 300 (Argyll Rooms), 500 (Hanover Square Rooms) bzw. 800 (Konzertsaal im Her Majesty’s T heatre) Personen fassten. In London – und auch in Paris – waren Konzertsäle zunächst viel kleiner als die bis zu 2.000 Zuschauer fassenden Opernhäuser. Bereits die Abmessungen der Bauwerke für Musik zeigten ihren sozialen Stellenwert.56 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen die Anzahl der Konzertserien und die Größe der Konzertsäle zu. Bereits zwischen der Saison 1826/27 und 1846/47 verdreifachte sich die Anzahl der Konzerte in London, und in Paris verfünffachte sie sich sogar.57 Den steigenden Bedarf an Konzertsälen für breitere Hörerschichten befriedigten in der zweiten Jahrhunderthälfte die St James’s Hall (1856), die 2.500 Zuhörern Platz bot, und die gewaltige Royal Albert Hall (1871), die sogar 8.000 Menschen fasste. Am Ende des Jahrhunderts besuchten über 10.000 Besucher wöchentlich die großen Konzerte in London, und selbst in Städten mittlerer musikalischer Bedeutung wie Manchester etablierten sich neue Konzertserien.58
55 So der Titel des Buches von Schmitz, Land ohne Musik. 56 Vgl. Forsyth, Bauwerke; Kerr, Pleasures, und über Paris Zur Nieden, Grand Spectacle. 57 Weber, Music, 19 f. 58 Vgl. Mc Veigh, Free Trade, 67–94; ders., Concert Life, bes. 53–69; ders, Musical Culture, 71–89; Ehrlich, First Philharmonic, passim; Langley, Building an Orchestra, 159–228; Blanning, Triumph, 153–162.
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Abb. 4: Die Royal Albert Hall griff in ihrer Form, ihrer Größe und ihrem Dekor auf die römische Antike zurück.
Keine Stadt in den deutschen Staaten, respektive im Deutschen Kaiserreich, konnte darin mit London konkurrieren. Entsprechend fiel die staunende Bewunderung reisender Deutscher aus. Exemplarisch für die London-Begeisterung deutscher Musiker und Journalisten war die Freude Eduard Hanslicks. Nur noch in Superlativen schwärmte er vom größten Konzertsaal der Welt. »Die grandiose Albert Hall steht auf der Stelle des Weltausstellungsgebäudes von 1862 und wurde im März 1871 von der Königin persönlich eröffnet. … Zwölftausend Personen haben darin Platz, nicht etwa gedrängt, sondern auf bequemen, von allen Seiten amphitheatralisch aufsteigenden Sitzen, zu welchen 26 verschiedene Eingänge führen, nebst einem zu den obersten Plätzen emporragenden Ascenseur, der fortwährend funktionirt. Und dieser unabsehbare Raum soll hinreichend gefüllt, ja ausverkauft sein in einem Concert? Ich habe das Unglaubliche selbst gesehen und kann mir nichts Imposanteres … denken.«59 59 Hanslick, Skizzenbuch, 269, 278. Hanslicks Begeisterung erhöhte die tatsächliche Anzahl der Besucher (8.000) auf 12.000.
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Durch musikalische Aufführungen bildeten sich Kommunikationsgemein schaften in den großen Städten des 19. Jahrhunderts. Dabei sind zwei Perspektiven zu beachten, die einander aber nicht widersprechen. Auf der einen Seite sind ähnliche Strukturen und Entwicklungen in den europäischen Musikleben zu erkennen. Die Aufführungsorte, das Publikum und die öffentliche Kommunikation der Akteure im Musikleben entsprachen einander in den drei Vergleichsstädten. Operngalas und Konzerte funktionierten in allen Städten nur durch einen professionellen musikalischen Spielbetrieb. Zudem mussten sie auch die ähnlichen Interessen, Geschmäcker und Verhaltensmuster des elitären Publikums bedienen. Auf der anderen Seite aber sind im Musikleben in Berlin, London und Wien viele Unterschiede im Umgang der bürgerlichen und adeligen Eliten miteinander im Opernhaus und im Konzertsaal zu erkennen. Die Eliten stritten über die politischen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen entlang der in den Auditorien erlernten Regeln und Praktiken.60 Von diesen sozialen Deutungskämpfen und Distinktionsformen handelt das folgende Kapitel.
2. Musikkonsum und Repräsentation: Zur Verknüpfung von Verhaltensmustern mit sozialer Ungleichheit in Oper und Konzert Finanzielle und soziale Kosten der Kunstmusik Wer sich heutzutage für eine musikalische Aufführung interessiert, hat für einen Besuch eigentlich wenig zu tun. Die Zuhörer und Zuschauer entscheiden sich für eine dem eigenen Geschmack passende Vorstellung, wählen den gewünschten Termin und den für sie angemessen erscheinenden Preis der Eintrittskarte. Der Genuss von Musik in Oper und Konzert gestaltet sich nicht schwieriger als der Besuch einer Ausstellung, eine Kneipentour oder eine Urlaubsreise. Zudem kann die eigene Präsenz im Konzert durch andere Formen der Vermittlung ersetzt werden. Bedenkt man die mediale Dauerpräsenz der Musik im Radio, auf CD oder im Internet, ist es für viele leicht geworden, diese Kunstform alltäglich zu erleben. Der Zugriff auf das Musikleben gelingt im 21. Jahrhundert viel leichter als im 19. Jahrhundert. Doch die soziale Ausweitung und kulturelle Differenzierung des Musiklebens in öffentlich zugänglichen Opernhäusern und Konzertsälen priesen Be60 Vgl. Charle, Histoire Culturelle, 9–22 ; ders. Opera, 243–266; Hüttner, Vorstadttheater, 81–102.
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obachter wie die »Vaterländischen Blätter« aus Wien schon im Jahr 1808 begeistert als einen gesellschaftlichen Fortschritt aller Schichten. Musik bilde nicht nur die Hörer, sie mache die Menschen gleicher und glücklicher: »Die Tonkunst wirkt hier täglich das Wunder, das man sonst nur der Liebe zuschrieb: Sie macht alle Stände gleich. Adelige und Bürgerliche, Fürsten und ihre Vasallen, Vorgesetzte und ihre Untergebenen sitzen an einem Pulte beysammen, und vergessen über die Harmonie der Töne die Disharmonie ihres Standes.«61 Wie aber jenseits dieses kulturellen Idealismus die soziale Differenz einen musikalischen Abend prägte, zeigte der Opernbesuch eindringlicher als der Konzertbesuch. Der Besuch einer Loge war deshalb ansehnlich, weil man sich durch sichtbare Distinktion und öffentlich demonstrierten Wohlstand hervorhob. Für viele Menschen war die soziale Unterscheidung wichtiger als die musikalische Unterhaltung. Im Galizischen Lemberg amüsierte sich eine Tageszeitung 1872 über die Logenbesitzer: »Welch ein Genuss, da zu sitzen und auf die eigene Loge zu schauen, sich dabei zu denken, dass die Loge 25 Gulden kostet. Doch damit nicht genug: Es ist ein noch größerer Genuss zu wissen, dass die anderen uns in der Loge sehen und dabei wissen, dass die Loge 25 Gulden kostet.«62 Der Besuch musikalischer Aufführungen erschloss eine wichtige soziale Dimension. Aristokraten und Bildungsbürger, Kaufleute und Beamte platzierten sich in den Sälen. Wohlstand, Bildung und Geburt waren Kriterien, die den Zugang ermöglichten. Die Musikkonsumenten stellten im Laufe eines Abends ihre sozialen Netzwerke und prestigeträchtigen Verhaltenskodizes zur Schau. Die über mehrere Stunden dauernden Vorstellungen brachten den städtischen Eliten eine größere Reputation ein als beispielsweise ein Ausritt im Park. Sei es in London und Paris, in Wien oder in Berlin; bereits die Zeitgenossen redeten von einem Akt des »Sehen und Gesehen werdens«. Die »Illustrirte Zeitung« spottete über eine »elegante Modewelt, die da kommt ins Konzert wie ins Theater … immer in der Hauptsache mit ein und derselben Absicht: sie will nur sehen und gesehen werden. Damen von oft stark angefochtener Schönheit, aber immer pyramidaler Eitelkeit, Männer die ihre Unwiderstehlichkeit nicht leicht in Frage stellen lassen«.63 61 Zit. n. Antonicek, Biedermeierzeit, 279–332 (Zit. 281). 62 Zit. n. Ther, Mitte, 60. Vgl. Müller, Distinktion, 167–187. 63 IZ, 6.6.1874, 434. Schon 1790 ärgerte sich ein Kulturexperte in der »Musikalischen RealZeitung« über die eigene Zurschaustellung der meisten Konzertbesucher: »Nichtkenner von beiderlei Geschlecht besuchen ein Concert blos aus bon ton, langer Weile, Begierde zu sehen und gesehen zu werden, und diesen ist die Nothwendigkeit lange zu zuhören und zu schweigen allzu unbehaglich, als daß sie sich derselben nicht auf alle Art zu überheben suchen«, zit. n. Schleuning, Bürger, 153. Vgl. Buxbaum, Mode aus Wien.
Musikkonsum und Repräsentation | 65 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Konzert- und Opernbesuche werden in diesem Abschnitt als soziale Praktiken untersucht, mit deren Hilfe die Zuhörer eigene Interessen und Geschmäcker artikulierten. Es kommt darauf an zu zeigen, wie sich bestehende soziale und politische Gruppen im Musikleben verhielten und ob sich möglicherweise neue Gemeinschaften herausbildeten. Der Blick wird hier auf diejenigen Verhaltensmuster des Publikums gelenkt, welche durch regelhafte Wiederholungen zu einem Habitus werden konnten. Der Schwerpunkt liegt auf dem Zeitraum zwischen 1810 und 1850, denn hier entwickelten sich Standards im Publikumsverhalten, die weit in das 20. Jahrhundert hineinreichten. Es geht darum zu zeigen, wie die Repräsentation und der Konsum der Adeligen und der Bürger im Auditorium einerseits deren Zusammenhalt erleichterte, andererseits aber die soziale Ungleichheit gegenüber den Unterschichten verstärkten. Hier wird die Überlegung vertreten, dass Repräsen tation und Konsum Kommunikationsformen darstellten. Im Anschluss an die Ergebnisse der Konsumgeschichte wird die Bedeutung eines Konsumguts nicht auf seinen Gebrauchswert reduziert, sondern auch beachtet, dass mit Konsumgütern gehandelt und kommuniziert werden konnte.64 Ein Netzwerk aus sozialen Praktiken, die um musikalische Produkte kreisten, verstärkte oder begründete Beziehungen innerhalb des Publikums. Das Interesse konzentriert sich hier, u. a. im Anschluss an Ideen von Frank Trentmann und John Brewer, weniger auf die Angebote als auf die Nachfrage des Publikums, auf die Inszenierung und den Gebrauch von Konsumgütern. Behandelt werden die Anwesenden im Saal und die Organisation des Spielbetriebs, nicht die Opernproduktionen selbst.65 Wichtig ist es zu entschlüsseln, wie es das Publikum unternahm, seine gesellschaftliche Stellung durch den im Auditorium öffentlich gezeigten Wohlstand zu festigen. Von besonderem Interesse ist es, Kommunikationskreisläufe zu verfolgen, das Zusammenspiel zwischen den Veranstaltern und den Institutionen, der Presse und dem Publikum.66 Das Musikleben hielt anspruchsvolle Produkte bereit, deren Konsum dem Publikum große Aufmerksamkeit und hohe finanzielle Mittel abverlangte. Zu zeigen ist hier, wie wichtig es den Eliten war, im Auditorium öffentlich den eigenen teuren Konsum zu demonstrieren. Für viele Bürger und Adelige waren weniger die Kosten des Konsums als dessen Zurschaustellung von Bedeutung. Sichtbar wurde das durch kostspielige Eintrittskarten, durch teure 64 Vgl. Brewer/Porter, Introduction; Siegrist, Konsum; Dentith, Society, bes. 1–27. 65 Vgl. den Forschungsüberblick von Trentmann, Contemporary Society; sowie die Beiträge in Brewer/ders. (Hg.), Consuming Cultures. 66 Den Ansatz einer »Produktkommunikation« im modernen nationalen Diskurs verfolgen die Aufsätze in Kühschelm/Eder/Siegrist (Hg.), Konsum und Nation.
66 | Kulturelle Distinktion und soziale Ungleichheit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Mode und den strategischen Gebrauch des Geschmacks. Die adelige und die bürgerliche Elite achtete darauf, Kunstschönheit und Käuferwillen als Synthese zu begreifen. Auf die Geschmackswünsche der Konsumenten zielte das Instrumentarium der Werbung, so dass Vorlieben und Vorgaben exzellent zusammenspielten. Vielleicht waren die geschmacklich versierten Kaufangebote der Musikwerke ein Indiz dafür, was Konsumenten wollen sollten. Möglichweise ist durch die Analyse vieler Opern- und Konzertaufführungen zu erkennen, dass die Bedeutung des Musikgeschmacks als ein Leitbild guten Konsumgeschmacks wirkte. Zunächst werden die Zugangsmöglichkeiten des Publikums in die Opernhäuser deutlich gemacht. Wie hoch waren die Eintrittspreise und wie funktionierte die Kartenverteilung? Wer kam überhaupt in die Häuser, wer nicht, und wo saßen die Menschen? Dabei richtet sich der Blick auf den Stellenwert der Repräsentation, etwa auf das Bestreben der Elite, sich regelmäßig im Opernhaus zu zeigen, oder auf die Etikette der Mode. Wichtig ist es auch, die Konflikte zu bedenken, den Streit um Privilegien, um Freikarten und um unterschiedliche Anfangszeiten. Dabei werden Aspekte beleuchtet, die belegen sollen, dass die Konsumgeschichte im Musikleben bereits im frühen 19. Jahrhundert ein europäisches Phänomen war.67 Schließlich kommt es darauf an zu fragen, ob durch den öffentlich demonstrierten Geschmack, durch ähnliche Formen des Konsums und der Repräsentation das Zusammenspiel zwischen den Eliten gelang. Bildete sich in der Kommunikation zwischen Adeligen und Bürgern eine »musikalische Gemeinschaft« jenseits der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Unterschiede heraus? In den europäischen Hauptstädten spielte sich der Musikkonsum nach erstaunlich ähnlichen Regeln ab. In Berlin, London und Wien stechen gerade die Gemeinsamkeiten in der Werbung der Veranstalter, die kulturellen Präferenzen der Besucher und die Konsumgewohnheiten des Publikums ins Auge. In diesen Städten sind nicht allein eine Zunahme der Opern- und Konzerthäuser und eine vergleichbare Ausdifferenzierung der musikalischen Genres zu beobachten, sondern auch ein Austausch von Gattungen und Kompositionen, von Musikern und Geschmacksregeln. Joseph Haydns Aufenthalt in London 1791/1792 ist ein aussagekräftiges Beispiel dafür, dass der Musikkonsum in einer Metropole mittelfristig zur Nachahmung in vielen Städten taugte. Zum einen achtete Haydn in seinen Sinfoniekonzerten sorgfältig darauf, den selbstbewussten Geschmack des 67 Vgl. die Überlegungen von Haupt, Consumption History, 17–35; ders., Konsum und Handel; die Beiträge in: Siegrist/Kaelble/Kocka (Hg.), Europäische Konsumgeschichte; zumal Cleve, Konsumenten, 449–62.
Musikkonsum und Repräsentation | 67 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Londoner Publikums zu befriedigen. Zum anderen klagte er über die Defizite der musikalischen Unterhaltung in Wien. An der Wende zum 19. Jahrhundert glaubte Haydn, dass die Musikfreunde auf dem Kontinent vieles von dem intensiven Musikkonsum der Briten zu erlernen hätten.68 Im Vergleich zu manchen anderen kulturellen Entwicklungen unterlagen der Opern- und Konzertbesuch im besonderen Maße sozialer Ordnung und wirtschaftlicher Ungleichheit. Gerade das Musiktheater war eine Begegnungsstätte, welche obere und mittlere – aber nur selten untere – gesellschaftliche Gruppen zur gemeinsamen Unterhaltung zusammenführte. Durch eine moderate, aber keinesfalls großzügige Preispolitik ermöglichten Veranstalter den Zugang bürgerlicher und kleinbürgerlicher Besucher. Das bedeutete umgekehrt, dass gerade der Zugang selbst eine soziale Auszeichnung darstellte und sich die tonangebenden Gesellschaftsschichten ihrer selbst versichern konnten. Der Besuch von Opernhäusern und Konzertsälen machte den eigenen Wohlstand und den sozialen Rang öffentlich sichtbar.69 Architekten und Auftraggeber versuchten, die Bedürfnisse des Publikums zu befriedigen. Die Größe, der Bauplan und die Ausstattung verraten zweierlei – die Pläne der Musikproduzenten und die gesellschaftlichen Interessen der Besucher.70 Regelmäßig ereiferten sich die Zeitungen darüber, dass der Besuch vor allem eines Opernhauses eine anstrengende und zeitaufwändige Unternehmung bildete. Termine, Transportmöglichkeiten, Abendessen, Kleidungsvorschriften und Logenplätze mussten aufeinander abgestimmt werden. Um das Wohlbefinden der Zuschauer zu garantieren, umfasste dieses Regelwerk auch die adäquate Nutzung des Auditoriums. Der »Examiner« unterstrich ironisch: »Die Theater benötigen einen ersten Rang. … Erst dieser ermöglicht es, auf die Geschmacklosigkeit und die Langeweile derjenigen Leute zu schauen, die sich glücklich schätzen könnten, wenn ihre ganze Seele nicht das Resultat ihrer Erscheinung wäre und die hätten ansehnlich sein können, wenn sie nicht der Versuchung erlegen wären, erlesen wirken zu wollen.«71 Weitreichender als die architektonischen Veränderungen war der Wandel des musikalischen Spielbetriebes. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts veränderten sich die Produktionsbedingungen rasant. Die Kosten der Inszenierung, der öffentlichen Vermarktung und Werbung sowie die 68 Vgl. Tolley, Comic Readings, 153–178; Rushton, Learning in London; sowie Morrow, Concert Life. 69 Vgl. Hanson, Muse, 77–99; Grotjahn, Sinfonie, 73–121; McVeigh, Concert Life, 223–229; Weber, Transformation, 18–29. Siehe zu Frankreich Fulcher, Image; Corbin, Time, 39–61. 70 Vgl. Small, Musicking, 19–29. 71 EX, 19.6.1831, 390.
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Künstlergagen stiegen rapide an. Die Produzenten, also die Unternehmer, die Künstler und die Städte sahen sich einem verstärkten Wettbewerb ausgesetzt. Hierin unterschieden sich Metropolen wie London, in denen die Spielstätten im risikoreichen Privatbesitz waren, von den staatlich subventionierten Aufführungen einer monarchischen Hofkultur wie in Berlin und Wien. Eine aristokratische Exklusivität innerhalb der Oper ließ sich aufgrund wirtschaftlicher Herausforderungen immer weniger aufrechterhalten. Nicht zuletzt durch ihre kritische Finanzlage öffneten die Hoftheater in Berlin und in Wien zu Beginn des Jahrhunderts verstärkt ihre Häuser, um ein zahlendes Publikum außerhalb der Aristokratie zu gewinnen.72 In den Opern- und Konzerthäusern bemühten sich adelige und bürgerliche Eliten sowie die neu gegründeten musikalischen Vereine um ökonomischen Erfolg. Das lässt sich gerade in London beobachten. Im Unterschied zu Berlin und Wien wurde keines der großen Opernhäuser, weder das Her Majesty’s Theatre noch Covent Garden oder das Drury Lane Theatre, durch den Hof finanziert. Diese Spielstätten leiteten meist bürgerliche Unternehmer und Investoren aus der Finanzwelt, die oftmals horrende Summen ausgaben, die Sänger, Orchester und Bühnenbilder bezahlten, um dadurch das finanzkräftige adelige und bürgerliche Publikum anzuziehen. Londoner Musiktheater wurden von den Eliten des Staates besucht, aber privat finanziert. Erfolge und Pleiten, fantastische Gewinne und Konkurse waren vorprogrammiert. Einige Impresari suchten die Spielstätten selbst zu erwerben, andere die Häuser und eine Anzahl von Künstlern für eine laufende Saison zu pachten. Doch auch in Berlin und in Wien führte die Mobilisierung ökonomischer Mittel jenseits der höfischen Gesellschaft seit den 1830er-Jahren zu einem Niedergang etablierter Konsumgewohnheiten und zu einer neuen Strategie der Veranstalter, die Besucherzahlen zu erhöhen. Die Unternehmer versuchten nicht ein Massenpublikum, sondern verstärkt Großbürger und Adelige zu gewinnen, d. h. ihr Stammpublikum zu motivieren.73 Die Impresari der Aufführungen, aber auch viele Journalisten bedienten sich werbewirksamer Sprachbilder und Grafiken, um durch den Verweis auf öffentlich verbreitete Bedeutungsmotive den Konsum der Interessenten zu stimulieren. Die ökonomischen Bedingungen des Musikkonsums sind von den Verhaltensmustern des Publikums nicht zu trennen. Musikalische Ideale und Legenden über Gesangsstars, Anzeigen in der Presse und der Erwerb von Eintrittskarten, all das formierte sich zu einer Assoziationskette, die Glücksgefühle bei den Musikkonsumenten evozieren konnte. Im Erwerb, dem Ge72 Vgl. Toelle, Oper, 50–67; Walter, Oper, 318–324; insges. Stekl, Wiener Hof, 17–60. 73 Vgl. Hall, Fashionable, Acts, 146–184.
Musikkonsum und Repräsentation | 69 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
nuss und der Verschwendung musikalischer Waren ist eine Vielfalt neuer Lebensstile zu erkennen. Die Konsumgesellschaft ermöglichte es den Hörern, durch den Erwerb musikalischer Waren sozialen Sinn und emotionale Befriedigung zu erhalten. Der amerikanische Historiker Peter Stearns unterstrich eindringlich die Beziehung zwischen kulturellem Kontext und Genugtuung: »Eine Konsumgesellschaft setzt voraus, dass sehr viele Menschen ihre persönliche Identität, ihre Suche nach Sinn, ja selbst ihre emotionale Befriedigung auf das Streben nach und den Erwerb von Waren gründen.«74
Eintrittspreise, Kosten und Defizite Die Sitzplatzanordnung in den Opern- und Konzerthäusern demonstrierte den sozialen Rang der Anwesenden innerhalb der Gesellschaft. Der Logenverteilungsplan zeigte die Präsenz der Eliten, d. h. den Status des Monarchen, der Adeligen, der Bürger, des Militärs und der Beamten. Das Publikum besuchte die musikalischen Orte nicht allein wegen der gebotenen Kunst, sondern auch zur Festigung ihrer sozialen Stellung durch die Auswahl schwer zu bekommender und teurer Sitzplätze. Die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht bestimmte den Zugang zu den Spielstätten der Kunstmusik, da die Besucher sich hier ihrer Stellung versichern und sich nach außen und innen abgrenzen konnten. Die Reihung der Sitzbänke in den neuen Konzertsälen und die architektonische Gegenüberstellung der Plätze an beiden Seiten des Raumes band das Publikum verstärkt aneinander und setzte es leichter einer gegenseitigen Beobachtung aus. Häufig assoziierten Musikfreunde diese Sitzplatzanordnung mit den Gottesdiensten in einer Kirche. Denn man saß an einem geweihten Ort aufgereiht beisammen, richtete sich auf ein Zentrum im Raum aus und passte sein Verhalten den Regeln der Gemeinschaft an.75 Das Konzerthaus trennte baulich betrachtet die Hörergruppen nicht so scharf voneinander wie das nach Rängen und Logen gegliederte Opernhaus. Wie bereits Theodor W. Adorno mit Recht bemerkt hat, stellte der Opernbesuch im Vergleich mit dem Konzertbesuch das repräsentativere und sozial exklusivere Ereignis dar.76 Hier war gute Kunst das beste Geschäft für die Unternehmer wie für das Publikum gleichermaßen. Wohlstand brachte 74 Stearns, Stages of Consumerism, zit. n. Haupt, Konsum und Handel, 27. Vgl. zum Verhältnis von Konsum und Gesellschaft Haupt, ebd., 9–28, 110–116; Adorno, Einleitung, 144–166; Toelle, Oper als Geschäft, 51–67; Baumol, Economics, 72–101. 75 Vgl. Matthes, Raum, 289–299. 76 Adorno, Bürgerliche Oper, 24–39. Vgl. Früchtl, Schein, 164–182.
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der Elite einen Logenplatz und damit wieder Prestige. Charles Lemercier de Longpré, der Baron d’Haussez, hielt über das Londoner Kings Theatre 1833 fest, dass dessen gesellschaftlicher Status vor allem vom exorbitanten Eintrittspreis abhänge: »Die hohen Eintrittspreise verbieten es denjenigen, die sich zu den feinen Kreisen zählen, abwesend zu sein. Die Oper ist das bestbesuchte Theater in London, nicht weil es das Beste, sondern weil es das teuerste ist.«77 Die Kartenpreise in den europäischen Opern- und Konzerthäusern variierten. Die besten Karten für Opernvorstellungen waren meist viel teurer als die Tickets für sinfonische Konzerte, allerdings gab es im Opernhaus manchmal preisgünstige Billets. Italienische Opernaufführungen kosteten in Wien doppelt oder dreimal so viel wie deutschsprachige, namhafte Solisten zogen ein größeres Publikum an, kosteten aber auch mehr. Die Wiener »Gesellschaft der Musikfreunde« betonte, dass allein die Privatmittel ihrer Besucher ohne irgendeinen Beitrag aus staatlichen Mitteln den Betrieb ermöglichten (der Jahresetat lag 1850 um die 10.000 Gulden).78 Wie hoch die Kosten der Konzertserien auch ausfielen, sie machten nur ein Bruchteil des Finanzbedarfs der Opernhäuser aus. Die Gagen der Sänger, Chöre und Orchester sowie die Produktionen der Bühnenbilder stellten die Veranstalter vor große Herausforderungen. Die Wiener Hofoper erhöhte die Eintrittspreise bei außerordentlichen Spektakeln, um neben dem festlichen Bühnenbild auch zusätzliche Sänger und Choristen zu gewinnen.79 Der Ent77 Baron d’Haussez, Great Britain, 237 f. 78 WZ (M), 30.9.1855: Jeder der bürgerlichen und adeligen Abonnenten wird hier im erhaltenen Wiener Archiv gelistet und der beglichene Betrag von 20 Gulden quittiert. Insgesamt stehen 1820 direkte Einnahmen von 2.765 Gulden den Ausgaben von 3.293 gegenüber. Damit ergibt sich ein Defizit von 528 Gulden, 1821 betrug das Defizit sogar 685 Gulden. Wien, GMF, 1778/30. Vgl. auch das im Voraus berechnete Defizit für den Spielbetrieb des Kärntnertortheaters für die Jahre 1822–1833 (erwartet wird ein Verlust von 492.983 Fl.). Wien, VA, P. H. 5604/1821, 11.9.1821. 79 Die Preislisten der Wiener Hofoper verdeutlichen, dass die unterschiedliche Kaufkraft der Besucher für den öffentlichen Betrieb der Spielstätte ebenso wichtig war wie der wirtschaftliche Gesamtetat einer Saison. Wien, HHStA, Generalintendanz, Hofoper, Karton 4, 1806–1810, Schreiben von Fürst Lobkowitz an den Oberkämmerer, 12.3.1807. Loge: Erstes Parterre: Dritter Rank: Zweytes Parterre: Fünfter Rank: Gesperrer Sitz im Ersten Parterre: Gesperrter Sitz im Dritten Parterre:
9 Fl. 1 Fl., 30 Kr. 45 Kr. 36 Kr. 18 Kr. 2 Fl., 20 Kr. 1 Fl., 10 Kr.
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wurf der Wiener Direktion ging beispielsweise für die Spielzeit 1863–64 von 250 Vorstellungen in 9 Monaten aus. Eine Loge im I. und im II. Rang »zur täglichen Benützung« kostete 15 Gulden, im III. Rang 10 Gulden, ein Sperrsitz im I. Rang betrug 2.20 Gulden und im III. Rang 70 Kreuzer. Ein reiner Stehplatz im Parterre kostete lediglich 4.50 Kreuzer.80 Das K. K. Hoftheater war ein defizitäres Unternehmen. Der geplante Etat ging für die Saison 1857/58 von Einnahmen in Höhe von 331.856 Gulden aus, denen mit Ausgaben von 548.309 Gulden ein riesiges Defizit gegenübestand. Die Liste der Kosten verzeichnete die Entlohnung für die Direktion, die Billeteure, die Kasse, das Orchester, das Personal und die Preise für Bühnenbild, Garderobe, Beleuchtung und Heizung. Vor allem fielen die Ausgaben für die italienische Oper ins Gewicht: Mit 102.559 Gulden waren 60 italienische Vorstellungen 40 % teurer als 180 deutsche (63.541 Gulden). Dieses Defizit plante die Direktion jedes Jahr fest ein, und der Staat glich es aus den Haushaltmitteln aus.81 Die genannten Summen sind in allen drei Vergleichsstädten horrend, dabei ist aber zu bedenken, dass die überlieferten Abrechnungen, Briefe, Kostenvoranschläge und Ausgabenotizen der zuständigen Intendanten vorsichtig zu interpretieren sind. Denn die Veranstalter achteten darauf, sich als begabte, aber durch die finanziellen Verhältnisse getriebene Unternehmer zu inszenieren.82 Manche Unterschiede fallen aber ins Gewicht. Die Finanzgeschichte der Hoftheater in Berlin und in Wien kann als eine Geschichte der Defizite verstanden werden. Während die Opernhäuser in London sich als selbstständige Unternehmen bemühen mussten, ihre Kosten durch die hohen Eintrittsgelder zu decken, bedurfte der Spielbetrieb in Preußen und in der Habsburger Monarchie staatlicher Subventionen. Dem Etat der Berliner Hofoper lag bei jährlichen Gesamtkosten von etwa 300.000 bis 350.000 Gulden und Einnahmen von ca. 200.000 Gulden ein regelmäßiger und fest eingeplanter staatlicher Zuschuss von 140.000 Gulden zu Grunde. Die Aufstellung der Einnahmen und der Ausgaben der königlichen Theater von 1816 bis 1862 ergab einen Überschuss lediglich für die Jahre 1823 und 1824. Das dem Staatshaushalt aufgebürdete Defizit betrug zwischen 25.256 Talern (1817) und 77.950 Talern (1837). Allein für das Jahr 1834 machte der Fehlbetrag im Opernhaus 22.544 Taler aus und damit beinahe das gesamte Defizit aller Berliner Theater
80 Ebd., Karton 86, 1863–1864. 81 Ebd., Karton 81, 1857, Nr. 493. 82 Vgl. die Ergebnisse von Toelle, Oper als Geschäft.
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(28.427 Taler).83 Im Unterschied zum Opernhaus verrät das Verzeichnis der im November 1824 im königlichen Schauspielhaus abonnierten Logen und Plätze nicht nur einen zahlenmäßig größeren Anteil des Bürgertums im Publikum, sondern auch die hier finanziell weit ausgeglichenere Bilanz. Das Sprechtheater war im Vergleich zum Opernhaus eine kostengünstige Veranstaltung.84 In London wusste praktisch jedermann von den hohen Kosten und der großen Anzahl der Aufführungen. Hector Berlioz notierte während seines Aufenthaltes im Jahre 1853: »Es gibt keine Stadt auf der Welt, davon bin ich überzeugt, wo man die Musik so konsumiert wie in London.«85 Das Musikleben der Stadt war gekennzeichnet durch ein weltweit einzigartiges Überangebot an Opern- und Operettenaufführungen, Kirchenmusik, sinfonischen und kammermusikalischen Konzerten. Auch der wortgewaltige Wiener Großkritiker Eduard Hanslick wunderte sich über den Londoner Musikkonsum. In dieser Stadt sei es schwer, aus den Briten »klug zu werden; sie vertilgen unermeßliche Quantitäten Musik, von allerverschiedenster Qualität mit derselben Andacht, mit demselben Beifall. An ihrer Musikliebe ist nicht zu zweifeln; ob diese Liebe erwidert wird, mag dahingestellt sein«.86 Nach seinem mehrmonatigen Londoner Aufenthalt im Jahre 1886 urteilte er über die dortige »Musik-Überschwemmung«: »Der Wiener Concertsturm [ist] gering gegen den Pariser und gar nichts gegen London, wo auf das Feldgeschrei: ›The season!‹ sich alles erhebt, was in England spielt, geigt und singt, und alles hinzuströmt, was musikalisch berühmt ist auf dem Continent.«87 Verglichen mit den übrigen europäischen Spielstätten, reichten in London die Eintrittspreise in ungewöhnliche Höhen. Selbst die schlechtesten Konzertkarten der Londoner Veranstaltungen kosteten umgerechnet doppelt so viel wie die Eintrittskarten für Wiener Veranstaltungen. Im Zuge ihres wachsenden Wohlstandes grenzten sich Adel und Großbürgertum durch den Kauf ihrer teuren Eintrittskarten noch stärker von den übrigen sozialen Schichten ab. Der Direktor des King’s Theatre, William Ayrton, prognostizierte in der Saison 1822 die erheblichen Einnahmen von 104.789 £ bei geplanten 22.366 Besuchern.88 83 Berlin, GSTA, I. HA, Rep. 89, 21050, Bl. 1; I. HA Rep. 126, Z Nr. 5, Einnahmen und Ausgaben für die königlichen Schauspiele ab 1823. Vgl. Walter, Oper, 89–98, und die Beiträge in Weber (Hg.), Entrepreneuer. 84 Berlin, GSTA, BPH, Rep. 19, Theater M, Nr. 12, Bl. 3 f.; November 1824. 85 Berlioz, Soirées de l’Orchestre. 86 Hanslick, Leben, 372. 87 Hanslick, Musikalisches Skizzenbuch, 269. Vgl. Garside, Londonbild, 227–269. 88 London, BL, William Ayrton Papers, Vol. II, Add. 52335, Bl. 125 f., Season 1822; Vgl. Weber, Music, 30–34:
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Vor dem Hintergrund der unternehmerischen Strategie in London, die Oper als einen Betrieb zur Gewinnmaximierung zu nutzen, und der sich gleichzeitig zwischen 1800 und 1829 verdoppelnden Subskribentenpreise verwundert die offene Kritik an diesem kulturellen Raubrittertum kaum. Die Impresari waren Opfer und Täter in einer Person in der sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts rasch wandelnden Opernindustrie. Bald konnten sie nur noch durch verstärkten Einsatz von Sensationsangeboten, Feilschen oder Betrug ihre Häuser erhalten. Der Londoner »Spectator« polemisierte gegen den wachsenden Status der Wirtschaftsbürger im Opernhaus: »The boxes, once the resort of rank and character, are now let to the highest bidder, of whatever calling or reputation.«89 Number of Persons:
Receipts at the doors:
Pfund
Shilling
Pence
974
Boxes
511
7
0
16.375
Pit
9.629
0
6
4.869
Gallery
1.262
10
0
148
Gallery Boxes
48
5
0
11.451
2
6
22.366
Statement showing under what class person were admitted to the theatre this season: Property and Silver Tickets:
Number of Persons:
Ivory Ticket
16.831
Cards from Mr Ebers
2.466
Silver Tickets
1.266
Total:
20.263
Free List: Pit
3.876
Gallery
1.072
Orders: Boxes
7.739
Pit
1.739
Gallery
16.441
30.867
Subscriptions: By Ivory Ticket for whole or part of the season
22.595
Sold for the boxes in Bond St
4.009
Ditto for the Pit ditto
1.966
Ditto for the Gallery ditto
2.242
Money at the doors: Paid at the doors brought over
22.366
53.359 104.789
89 SP, 27.4.1839, 389.
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Auch in Berlin verteidigte sich die Intendanz gegen Beschwerden. Es sei auch in London und Paris ganz üblich, Tickets wie eine Ware weiterzuverkaufen. Behörden könnten nichts dagegen machen, dass andere als die für die ersten beiden Vorstellungen zugeteilten Personen durch Weiterverkauf Einlass ins Opernhaus fänden. Gerade auf den preiswerteren Plätzen im Parkett und im III. Rang ließe sich die Nachfrage durch den freien Verkauf unter dem großem Andrang der begierigen Musikfreunde oft nicht befriedigen: »So erweist es sich, daß die Zahl der vorhandenen Plätze den Wünschen um Billets, bei besuchten Vorstellungen nicht entspricht.«90 Die Angehörigen der Unterschichten konnten die Opernhäuser in Berlin, in London und in Wien nur auf den billigen Sitz- oder Stehplätzen betreten. Die Ursachen dafür lagen nicht nur im fehlenden Bildungswissen und in ihrer Entscheidung, sich freiwillig einer ihnen ästhetisch fremden musikalischen Hochkultur zu entziehen. Am wichtigsten für den fehlenden Zugang waren wohl die hohe finanzielle Belastung und die zu frühen Anfangszeiten. Selbst für das Kleinbürgertum waren Opernkarten in den relativ preiswerten Logen im dritten Rang oft unbezahlbar – zwei der besten Plätze im Haus kosteten in Berlin etwa ein Prozent des durchschnittlichen Jahreseinkommens eines Handwerkers.91 Das im Verhältnis zur Nachfrage geringe Angebot an Sitz- und Stehplätzen im Parkett verstärkte den Ausschluss ärmerer Musikhörer zusätzlich. Die »Neue Zeitschrift für Musik« urteilte aus bildungsbürgerlicher Perspektive über Berlin dazu im Jahre 1845: »Es ist unbegreiflich, warum man nicht in dem neuen Hause diesem unausstehlichen Drängen nach Plätzen durch eine größere Anzahl fester Sitze ein Ende gemacht hat. Die wenigen Parkettplätze sind augenblicklich vergriffen.«92 Gleichzeitig mussten aber auch viele musikliebende Adelige zur Kenntnis nehmen, dass das aufsteigende Bürgertum begann, ihnen den Platz im Opernhaus wie in der Gesellschaft streitig zu machen. In England empörten sich etablierte Noble über neue Unternehmer oder Offiziere, welche die stupenden Summen für die Loge offenbar leicht aufzubieten vermochten und sie so verdrängten.93 Im gleichen Tonfall 90 HS, 30.12.44. Vgl. VZ, 21.12.1844. Vgl. zu sozialen Bedrohung vieler Musiker in London Beedell, Decline. 91 Vgl. dazu die »Jezzige Eintheilung der Logen in dem königlichen Opern-Hause«, Berlin, GSTA, I. HA Rep. 36, Nr. 2417, Bl. 12 a, 28.11.1798; sowie Hall, Fashionable, 105–108; Walter, Oper, 320–324; Bitter-Hübscher, Theater, 416 f. und die Beiträge in Cople (Hg), Rich. 92 NZfM, 22 (1845), 44. 93 »Der Adel musste sich, aufgrund der Missachtung direkter Anweisungen, neuer Konkurrenz stellen. … Im Jahre 1811, als man den Versuch unternahm, das Abonnement auf £ 315 anzuheben, teilte der Betreiber (William Taylor) der Marquise von Downshire und einigen weiteren Damen mit, dass, falls ihnen seine Konditionen nicht gefallen sollten, sie
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hieß es auch aus Wien: »Die Aristokratie schließt sich in Wien in sich und unter sich ab – nicht besser als in England, vielmehr pedantischer. Denn in England haben sämtliche Intelligenzen und jede Capacität in diesen Cirkel Zutritt, was in Wien keineswegs der Fall [ist].«94
Distinktion als soziale Strategie Die Architektur der Opernhäuser und die Sitzordnung standen in einer engen Wechselbeziehung. Die prächtigen Auditorien ermöglichten und erzwangen die sichtbare Anordnung unterschiedlicher Schichten. Wer sich in formale Kleidung hüllte, sich durch überdimensionierte Treppenhäuser in einen reich geschmückten Saal und in eine in der Regel teure Loge bemühte, um sich den Blicken zahlreicher Betrachter darzubieten, der musste sein Verhalten beinahe zwangsläufig an die ausgesprochenen wie unausgesprochenen Konventionen der Selbstinszenierung anpassen.95 Auf diese Weise verwandelte das Publikum den musikalischen Raum der Oper in einen sozial differenzierten Raum: Die Besucher betraten durch verschiedene Eingänge das Auditorium, verblieben während der Vorstellung in getrennten Bereichen und verbrachten selbst die Pausen in gesonderten Foyers. Bürgertum und Adel waren in der Art und Weise, wie sie an einer Aufführung teilnahmen, peinlich darauf bedacht, sich voneinander und gleichzeitig vom Kleinbürgertum und der Arbeiterklasse zu unterscheiden. Die Intendanz der Londoner Opernhäuser beispielsweise unterstrich deren soziale Funktion, indem sie Listen der Subskribenten und der belegten Logen und Sitze veröffentlichte. Diese Listen wurden zu Beginn jeder Saison auch in den führenden Tageszeitungen vollständig abgedruckt.96 Deshalb wusste jeder, wer Teil der erlesenen Gesellschaft war und wer nicht. Man konnte Leute im Zentrum und an der Peripherie des Geschehens ausmachen, Menschen, die sich mochten und solche, die sich aus dem Weg gingen. Der Sitzplan des doch ihre Loge aufgeben könnten. Es gäbe genügend Damen in der Stadt, die bereit wären, dasselbe oder mehr zu zahlen. … Es war bemerkenswert, dass diese Damen allesamt von drei Neureichen ausgebootet wurden; Colonel Ironside, Mr. Paul Benfield und Mr. Petrie.« London, BL, Veritas, Opera House, 12. 94 Chownitz, Wiener Perspectiven, 162. 95 Vgl. Braun/Gugerli, Macht, bes. 166–202; Bennett, Audiences, 133–147; Small, Musicking, 19–29. 96 Vgl. Her Majesty’s Theatre, A List of the Subscribers for the Season 1845, London 1845; MP, 8.6.1844. Vgl. Die Sitzplatzordnung in der Berliner Hofoper, Berlin, GSTA, I. HA Rep. 36, Nr. 2417, Bl. 12 a, 28.11.1798, »Jezzige Eintheilung der Logen in dem königlichen Opern-Hause«.
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Abb. 5: Sitzplan mit den Namen der adeligen und bürgerlichen Abonnenten des Londoner »King’s Theatre« im späten 18. Jahrhundert (Saison 1782–1783?).
Opernhauses ließ sich als Karte zur Deutung der sozialen Topographie der Londoner Gesellschaft lesen.97 Der Berichterstatter der »Morning Post« listete für die Saison 1844 im Her Majesty’s Theatre auf zwei Seiten die nach Plätzen im Rang und Parkett geordneten Subskribenten auf und stellte zum elitären Charakter der Versammlung voller Stolz fest: »Die Oper schien mir manchmal ein gigantisches Kriegsschiff zu sein, mit seinen Ebenen und Decks, und Lord A-F, der seine Befehle inmitten des Jubels der Mannschaft ruft.«98 Berichtete man über die Aristokraten, dann schrieb man über das Erscheinungsbild dieser sozialen Befehlshaber, über die Pracht ihrer Logen, die Eleganz ihrer Kleidung und die Bemühungen ihrer anwesenden Dienerschaft. Von den 208 genannten Namen in den Logen zählten 91 Subskribenten zum Erbadel. Ein derartig 97 Vgl. Wasson, Born to Rule. 98 MP, 8.6.1844.
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Abb. 6: Blick in das gut besuchte Opera House Covent Garden während einer Vorstellung 1843.
präsentes Publikum versprach, Kunst und Klasse gleichermaßen zu fördern. In der Oper angemessen zu erscheinen, galt als ein gesellschaftliches Erkennungszeichen: »After having travelled over Europe, and visited more distant countries, I fancy that I have discovered a test which may readily be applied to n ations as well as to individuals: ›Tell me your amusements, and I will tell you what you are‹.«99 Umgekehrt gab es Plätze, welche die englischen Aristokraten in der Regel tunlichst zu vermeiden trachteten – die Sitze im Parkett, die sogenannten »stalls«. In der Sprache der Zeit waren damit die bestuhlten ersten Reihen des Parketts gemeint, hinter denen sich die »pit«, die Stehplätze bzw. die nicht nummerierten Holzbänke, anschlossen. Im Jahre 1845 etwa buchten 156 Subskribenten aus dem Bürgertum, aber nur 21 Aristokraten Plätze in den »stalls«.100 Offenbar waren diese Sitze schlicht zu nah an der von Klein99 Ebd. Vgl. Dilcher, Adel, 57–86. 100 Ebd. Vgl. Hall-Witt, The Re-fashioning; dies., Reforming, 220–237; Weber, Redefining, 507–532.
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bürgern dominierten »pit« gelegen. Hier herrschte bei begehrten Vorstellungen vor und während der Aufführung ein dauerndes Stoßen und Drängen um die nicht reservierten Plätze. Während die Besucher der »pit« sich etwa eine Stunde vor Vorstellungsbeginn um ihren Sitz bemühen mussten, zog die aristokratische Elite es oft vor, ihren Status dadurch zu demonstrieren, dass sie sich erst im Laufe des ersten Aktes in die Oper begab. Selbstredend zog der Adel dabei die Logen vor. Der Aufstieg der Ränge entsprach dem sozialen Abstieg der Besucher. Die Adeligen des Königshauses und der noblen Familien, die Verwaltungsspitzen, höhere Offiziere, erfolgreiche bürgerliche Kaufleute, Unternehmer und Bankiers waren es allesamt, welche die Logen im ersten Rang der großen Opernhäuser einnahmen. Die Mehrheit der elitären Besucher pachtete für die ganze Spielzeit eine meist vier bis acht Plätze bietende Loge, die sie mit Verwandten, Freunden oder Kollegen teilte.101 Als besonders begehrte Plätze galten die Proszeniumslogen oder die Sitzplätze am Rande der Bühne, denn diese relativierten die Grenzziehung zwischen Publikum und Vorstellung und verstärkten die Inszenierung der Eliten zusätzlich. Gleichrangige Besucher, das heißt Verwandte und Freunde, wichtige Geschäftspartner und hohe Politiker, luden sich gerne zum wechselseitigen Besuch ihrer Logen ein. Das galt auch umgekehrt. Neu ankommende Adelige vom Land beispielsweise erhielten vor 1850 viel häufiger als Bürger das Privileg, in die Logen der Aristokratie gebeten zu werden. Wie entscheidend diese theatralische Platzwahl auch für die Zeitgenossen war, hielt ein Londoner Beobachter fest: »The system of management before the curtain is of a piece with that of the stage.«102 Im zweiten Rang besetzten die Logen vor allem hohe Beamte und das gehobene Bürgertum, also Direktoren, Richter, Anwälte und Ärzte. Im dritten Rang oder auf den Sperrsitzen oder Stehplätzen im Parkett, das heißt, auf den billigsten Plätzen, fanden sich junge Kaufleute, Lehrer, Studenten, bessergestellte Handwerker, Gesellen, Angestellte des Theaters und manchmal auch Bedienstete. Die städtischen Eliten versammelten hier einige ihrer Diener und Kutscher.103 Gerade im Opernhaus stellten Aristokraten und Bürger gleichermaßen ihren Rang in der Gesellschaft zur Schau und achteten darauf, ihre Reputation 101 Vgl. Wien, HHStA, SR Oper, Karton 41: Logen und Abonnements 1850–60; und zu den Abonnementsbedingungen in Paris, Huebner, Opera Audiences, bes. 207–21. 102 SP, 27.4.1839, 389. 103 Ähnliches galt für die bereitgestellten Bediensteten vor und im Konzertsaal, London, BL, RPS/MS/322 (=48.5.2) Phil. Society 1867–72 (25.3.1868). Vgl. Shepherd, Social Categories, 69–79.
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durch Repräsentation zu festigen. Soziale Ungleichheit und politische Macht wurden so sichtbar gemacht. Die herrschenden Eliten konnten hoffen, durch die Aufführung der etablierten gesellschaftlichen Beziehungen sich selbst zu bestätigen, sich trotz mancher Differenzen als musikalische Gemeinschaft auszuzeichnen. Ein typischer Zeitungsbericht verdeutlicht, wie die Berichterstattung über einen Opernbesuch soziale Bedeutung kreierte. Das Londoner Blatt »The Morning Post« schrieb am 1. Mai 1850 über eine Aufführung in Covent Garden vom Vorabend: »The opera of Zorà was repeated last evening to a crowded audience. The following is a list of the nobility and gentry who visited the theatre: Her Majesty’s box was occupied by the Earl and Countess of Listowel and Lady Augusta Hare and Party. The general audience included, among others, the Marchioness of Westmeath, the Earl and Countess Talbot and Lady Victoria Talbot. …«104 Diese Liste verlängerte sich um nicht weniger als 85 Personen, oft mit dem Zusatz »and party«: absteigend vom Hochadel zum Landadel, gefolgt von Parlamentariern, Militärangehörigen und reichte bis hinab zu Geschäftsleuten und bürgerlichen Mistresses und Misters. Aus dieser Aufzählung bestand der gesamte Bericht. Keine Zeile findet sich hier über die musikalischen Qualitäten des Abends oder über die unbeachtet gebliebene Rossini-Oper Zorà selbst. Ähnliches ist im »Ceremonial-Buch« des preußischen Hofes aus dem Jahre 1877 zu erkennen. Zur Anschauung gebracht wurden dem elitären Publikum die geltenden Vorschriften, die es ihm im Zuge einer Operngala erleichtern sollten, die vielfältigen Bestimmungen zu erlernen und dadurch die sozialen und politischen Rangverhältnisse zu erkennen. Der Staatsbesuch des Kaisers von Österreich Franz Joseph I. in Berlin mit der obligatorischen »dramatischen Abendunterhaltung« am 18. Dezember 1852 bot den Entwurf für viele weitere Repräsentationszeremonien im Opernhaus. Die folgenden Zeilen liefern einen ermüdend formalen, doch gleichwohl erhellenden Bauplan. »Im ersten Rang rechts … werden auf den Vorderplätzen sämmtliche dem diplomatischen Corps angehörigen Damen und dahinter die Herren desselben, im ersten Range links auf den Vorderplätzen sämmtliche bei Hofe vorgestellten Damen, mit Ausnahme der Fürstinnen, und dahinter die Excellenzen-Herren, im Orchester-Proscenium rechts und links die Fürsten und deren Gemahlinnen, im Parquet die General-Majors, die Räthe erster Klasse, die Königlichen Kammerherren, die Räthe zweiter Klasse, die Mitglieder beider Häuser des Landtags, insofern dieselben nicht höheren Rang besitzen, die Stabs-Offiziere etc. placirt. … Sobald Seine Majestät der König dem Ober-Ceremonienmeister zu befehlen geruhen, dass die Vorstellung begin104 MP, 1.5.1850.
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nen solle, setzt dieser den General-Intendanten der Königlichen Schauspiele hiervon in Kenntniss und ertheilt sodann den im Zuschauerraum befindlichen Personen den Wink zur Erhebung von den Plätzen, während der General-Intendant dem Dirigenten des Orchesters das Zeichen zum Beginne der Ouverture giebt. Unter den Klängen der Musik treten Ihre Königlichen Majestäten mit den Höchsten Herrschaften, den Hofstaaten und Gefolgen in die grosse Königliche Loge … ein und geruhen die Anwesenden huldvoll zu begrüssen. … Ihre Majestäten [geruhen] im ersten Zwischenacte den vornehmsten Theil der Gesellschaft, welcher im ersten Range und im OrchesterProscenium placirt ist, in dem … hinter der grossen Königlichen Loge gelegenen Saale zu empfangen«.105 Der adäquate Besuch musikalischer Aufführungen wirkte als ein Netzwerk zwischen adeligen und bürgerlichen Eliten. Trotz sozialer Konkurrenz setzte sich auf lange Sicht ein ähnlicher Lebensstil durch. Dieser half, über die situativen Momente im Musikbetrieb hinaus, sich von denen im Kunstkonsum und Kennerschaft ungeübten Menschen zu unterscheiden. Der kulturelle Austausch verstärkte die Angleichung und die Abgrenzung adeliger und bürgerlicher Eliten gleichermaßen. Hier wirkten die geltenden Verhaltensmuster und der vor aller Augen zur Schau gestellte eigene Geschmack. 1843 berichtete der aus Wien zurückkehrende Sachse Julian Chownitz: »Die leitenden Häuser … führen die Gesellschaft mit fast unsichtbarer Hand und ihre Macht hat in dieser Beziehung etwas zwingendes.«106
Verfeinerte Benimmregeln werden zur Belastung So chancenreich diese soziale Zurschaustellung auch schien, so verpflichtend war die allabendliche Teilnahme jedes Mitgliedes dieser musikalischen Gemeinschaft. Darin ähnelten sich die Interessen und die Konventionen der Eliten in allen drei Städten. Ob Hofadel oder Landadel, ob Bildungs- oder Wirtschaftsbürgertum, niemand konnte einfach nur erscheinen, sondern musste öffentlich akzeptierten Regeln und Verhaltensformen folgen. Viele Besucher und Journalisten unterstrichen ganz offen die Bedeutung sozialer Repräsentation und Distinktion. Die Wiener »Sonntagsblätter« hielten fest: »Man fürchtet nicht zu den Gebildeten der Residenz zu gehören, wenn man sich nicht mit allen übrigen Gebildeten der Residenz ein Rendezvous im Konzert105 Stillfried-Alcántara, Ceremonial-Buch, 62–64. Vgl. Schwengelbeck, Herrschaftsrepräsentationen; Geisthövel, Wilhelm I. 106 Chownitz, Wiener Perspectiven, 163.
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saale gibt.« Das Konzert stelle »eine exklusive Aktiengesellschaft [dar], welche die ›Saison‹ hindurch die Bildung der Residenz als Monopol betreibt«.107 Anlässlich seiner Wienreise unterstrich Julian Chownitz diesen durch die Hörer selbst kreierten Sachzwang ironisch in einem fiktiven Dialog: »Vor dem Gebäude des Conservatoriums (zwei Bekannte begegnen sich): A (verwundert): Sie warten schon auf mich? Allein da oben ist noch Musik. Das Concert kann noch nicht zu Ende sein. B: Gleichviel lieber Freund, es fehlte wenig, und ich selbst wäre zu Ende gewesen. A: Aus Kunstentzücken? B: Aus Kunst-Ennuyé! Ach, wie langweilig diese Concerts spirituels sind! A: Aber weshalb besuchen Sie sie dann? B: Bester – (lächelnd), Man muß ja! Es gehört ›quasi‹ zum ›Ton‹.«108
Derartige Gespräche waren Vorsichtsmaßregeln, mit denen die Besucher sich in ihrem eigenen kommunikativen Netzwerk einsperrten. Diese Richtlinien beschrieben Journalisten, Bürger und Kunstfreunde in Schlüsselbegriffen. Besonders verbreitete Worte waren Mode/fashion, klassisch/classical oder ernst/serious. Das Londoner Blatt »Harmonicon« beispielsweise mahnte zur besseren Beachtung der kulturellen Spielregeln in der Oper und rühmte den Verhaltenskodex der herrschenden Spitzen der Gesellschaft, den man wahrhaft schätzen müsse: »the etiquettes and elegances of the Fashionable World – the sphere in which the true Patrons of the Opera move.«109 Weniger euphorisch als spottend hieß es zur Geltung und den Grenzen der musikalischen Modewelt aus Wien, dass die hier Herrschenden die »Fortschritte des Bewusstseins der Gegenwart« verkennen, auch wegen ihrer »fashionabeln Rococosucht«.110 Oft nahmen die Zeitgenossen die Begriffe Mode/fashion wörtlich und achteten auf die passende Abendkleidung der Besucher. Für die adeligen und bürgerlichen Musikliebhaber auf den besten Plätzen stand es außer Frage, die neuesten Kleider und Anzüge nebst kostbarem Schmuck und Zierrat zu tragen. Die Damen wurden etwa ersucht, bei wichtigen Anlässen in erhabenen weißen Kleidern, die Herren, wenn möglich, in schwarzen Fräcken zu erscheinen.111 Sogenannte Benimm- und Manierbücher gaben zahlreiche Kleidungs hinweise. Diese Ratgeber erteilten Anstandsregeln, welche die Bürger und 107 108 109 110 111
Sonntagsblätter, 16.11.1845, 1064 f. Chownitz, Wiener Perspectiven, 151 f. Harmonicon, 1831, 236. Vgl. Langley, Life, 137–163. AMZ, 47 (1845), 729 f. Vgl. Wien, Archiv der GMF, 8401/125.
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die Adeligen bereits daheim erlernen sollten. Über vorbildliche Kleidungs ratschläge für die Damen informierte der »Gute Ton« von 1891, schließlich war er ein »Handbuch der feinen Lebensart und guten Sitte«. Dort heißt es: »Für kleinere Theater genügt Promenadentoilette mit helleren Handschuhen, in großen königlichen Theatern ist Gesellschaftstoilette am Platz, da man großen Kunstleistungen mindestens so viel Weihe seiner äußeren Erscheinung entgegenzubringen hat wie rein gesellschaftlichen Zwecken. In Frankreich, Italien hat sich diese vornehme Sitte von besonders gutem Ton bereits längst als Gewohnheit eingeführt. In Deutschland ist das Publikum in dieser Beziehung noch zurück.«112 Das Herrenbrevier der »Gentleman« verglich die elegante Männermode in Berlin mit der in London – auch wenn die genannten feinen Unterschiede im Frack und in den Westen nur im Detail bestanden: »In Berlin (schwingt man sich) vernünftigerweise zu mehreren Fracks auf: dem Bummelfrack für die Strapazen öffentlicher Bälle, für Nachtlokale, für Spielabende – den Gesellschaftsfrack für private Geselligkeit, Theater und Klub. Die Westen! Um mal bei der Gelegenheit ein energisches Wörtchen zu sprechen – in den tonangebenden und zugegebenermaßen kompetenten ersten Londoner Gesellschaftskreisen kennt man nur ein Schema, und das heißt: Frack – weiße Weste, weiße Krawatte, weiße Perlen im Oberhemd.«113 Exquisite Kleidung schätzte man im späten wie im frühen 19. Jahrhundert gleichermaßen. Noch 1888 erachtete Eduard Hanslick, der penibelste Künstler unter den Kritikern, die strengen gesellschaftlichen Kleidungsvorschriften als ein Problem des Musiklebens. Über seinen Besuch in London hielt er fest: »Im Theater- und Concertleben existirt hier … eine seltsame Beschränkung der persönlichen Freiheit: die ausdrückliche Vorschrift der Abend-Toilette. Sei nach der Italienischen Oper, diesem Mode-Rendezvous der Reichen und Vornehmen, das kindische Gebot: ›Evening dress indispensable!‹ vergönnt. Aber mit welchem Rechte kann man einem Musikfreunde, der für sein Geld ein philharmonisches Concert besuchen will, vorschreiben, er müsse unbedingt in Frack und weißer Cravatte erscheinen? … Kann das in Wahrheit eine musikalische Nation sein, welche uns den Genuß einer Beethovenschen Symphonie durch lächerliche Kleider-Ordnung erschwert und verleidet?«114 George Bernard Shaw, der größte Künstler aller Kritiker, witzelte über die Praktiken seiner Zeitgenossen, das Musikleben nur in »class uniforms« aus112 Der gute Ton, Kapitel 10. 113 Koebner, Gentlemen, 12. 114 Hanslick, Skizzenbuch, 303. Vgl. Banfield, Aesthetics, 455–473.
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staffiert genießen zu dürfen. Er spottete über die Kleidungsanweisungen der »Royal Philharmonic Society«: »Evening dress at the Society’s Concerts … should be considered compulsory in the centre block …, also in the front row in the area immediately outside this block & in the 2 rows of the Grand Circle.«115 Um seine Satire auf die kleidungsfixierte Gesellschaft zu vollenden, wandte Shaw sich 1905 in einem langen Leserbrief an die »Times«. Hierin führte er der Gesellschaft den Unsinn neuer weiblicher Moden vor. Für Männer sei die Auswahl ihrer Abendkleidung einfacher. Dadurch unterschieden sie sich sozial und kulturell sittsamer von den modisch verkleideten Frauen. So habe Shaw selbst kürzlich hinter einer Dame im Drury Lane Theatre sitzen müssen, deren Hut geziert mit den zwei Flügeln einer Möwe (sic) ihm die Sicht raubte. Die Empfehlung an das Management in Covent Garden lautete daher, die Männer in der Oper vor Frauen mit toten Vögeln auf dem Hut zu schützen.116 Die Direktionen der großen Opernhäuser akzeptierten in der Regel schlichte Abendkleidung nur für die Zuschauer im dritten Rang und auf den Stehplätzen. Für Galaabende oder Festveranstaltungen um 1900 indes veröffentlichte die Berliner Theaterleitung eigens besondere Kleidungsvorschriften, deren Missachtung den Eintritt verwehrte. »Zu den im königlichen Opernhause und allerhöchsten Befehl stattfindenden Gesellschaftsabenden … werden die Billets für den I. Rang, daß Parkett und der II. Rang nur unter der ausdrücklichen Bedingung verkauft, daß die Besucher im Gesellschaftsanzug (Damen in ausgeschnittenen hellen Kleidern, Herren in kleiner Uniform bzw. Frack und weißer Binde) erscheinen. Besuchern in nicht vorschriftsmäßiger Kleidung kann der Eintritt nicht gestattet werden.«117
115 London, BL, RPS/MS/289 (=48.2.11) Directors’ Meetings 1893–98, Bl. 72 – 14.11.1895. Vgl. Ehrlich, First Philharmonic, 160 f.; ders., Profession; Kitson, Davison; insges., Schwanitz, Kulturgeschichte, Bd. 2. 116 TI, 3.7.1905. Vgl. die dreibändige Sammlung von Shaws Kritiken, Music in London. 117 Berlin, GSTA, BPH, Rep. 119, 558, 14.3.1908: Zeitungsnotiz der Generalintendanz der königlichen Schauspiele (Herv. im Orig.). Vgl. Fenner, Opera, 85–93. Wie penibel und distinguiert auch Wirtschaftsbürger vor dem Ersten Weltkrieg ihre Kleidungskultur zelebrierten, veranschaulichen die Erinnerungen einer Industriellentochter über die wechselnde Garderobe ihres Vaters anlässlich einer »Parsifal«-Vorstellung: »Die Aufführung begann um vier Uhr nachmittags, da hatte mein Vater einen dunklen Anzug an, in der ersten großen Pause kam er nach Hause geeilt und legte den Gehrock an. Und in der zweiten großen Pause erschien mein Vater wieder und warf sich in den Frack.« Zit. n. Budde, Weg ins Bürgerleben, 141 f.
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Der Streit um Freikarten und Anfangszeiten Die Zurschaustellung von Wohlstand und Geschmack, von Konsum und Klasse provozierte immer wieder Konflikte im Publikum. Bereits die selektive Vergabepolitik der Opernkarten in Wien und Berlin blieb etwa bis 1850 eine Quelle öffentlichen Unbehagens. Anders formuliert: Bestimmte Auserwählte erhielten immer wieder Freikarten. Die Monarchie vergab an gesellschaftliche Eliten, das heißt an den Adel, höhere Beamte und hohe Offiziere, ein beträchtliches Kontingent an Freikarten für einzelne Abende oder für die ganze Spielzeit. Viele Logen und Plätze erhielt man für die ganze Spielzeit, manche Logen wurden als Teil eines Nachlasses vererbt.118 Die Freibillets blieben nach Möglichkeit stets auf einen kleinen Kreis, oft mit höfischen Dienstverpflichtungen, beschränkt (sogenannte »Hofbillets« oder »Billet de Cour«). Alle Ausgewählten mussten auf einer Liste verzeichnet sein. Die Verteilung der Logen hatte die Direktion für jede Spielzeit eingehend zu begründen, schließlich war die Sitzplatzvergabe eine komplizierte diplomatische Mission im Interesse des Adels. Für Wien beispielsweise erhielten 1821 »freyen Eintritt in das Kärnthner thor-Theater« auf dem sogenannten »Parterre Noble«: der Hofstaat im Gefolge Sr. k.k. Majestät, der Hofrath Beer und Frau, der Oberkämmerer Hofrath Schloissnigg, der Hofarzt Abbate Casti, der Theateroberinspektor Gallarat, die Herren Weiss und Einem von der Polizeidirektion, Doktor Eppinger und Familie, der Hofrath Eder und der General Rollin. Damit aber hatte diese Versammlung der dienstverpflichteten Hörer gerade erst begonnen. Auf den Folgeseiten dieser Denkschrift wurden als Berechtigte für Freikarten noch genannt: sämtliche Herren Hofminister und Inspektoren bei den Erzherzögen und Erzherzoginnen, Baron Hager, Hofrath Ley, Graf Joseph Sedlnitzky (der Leiter der Polizei- und Zensurhofstelle), Hofrath Sieber, Hofrath Vesque und Frau sowie der gesamte Stab der Theaterdirektion und des Hofkämmerers. Die abschließende Beilage listet 95 Personen auf, denen im Laufe des Jahres 1821 zusätzliche Freibillets bewilligt wurden. Neben weiteren Adeligen und Beamten waren das prominente Künstler, ausgewählte Bürger und mehrere hohe Offiziere.119 118 Hanson, Muse, 93–99. 119 Wien, HHStA, Generaldirektion, Karton 11, 1821. Vgl. Karton 69, 1823–25: Nr. 19, Brief und Plan vom 30.10.1824. Der Verwaltung der Berliner Hofoper – GSTA, I. HA, Rep. 89, 21047, Bl. 2, 27.1.1831, Brief des Generalintendant Redern an den preußischen König – wurde dadurch auch der relativ knappe Raum für den freien Zugang der Angehörigen des Hofes deutlich. … Die Ober-Rechnungs-Kammer hat … angetragen die Vertheilung
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Der Bestand derartiger Listen sorgte immer wieder dafür, dass sich vor allem zwischen 1820 und 1840, d. h. in der Phase des Zustroms neuer Hörer und durch die Konkurrenz der vielen neu entstehenden musikalischen Spielstätten, erbitterte Debatten darüber abspielten, wen man auch in Zukunft unentgeltlich und auf Einladung in das Opernhaus einlassen sollte. Der Entwurf für die Zulassung der Gäste ins Londoner King’s Theatre 1831 änderte sich beispielsweise mehrfach und veranschaulichte unter anderem, dass sich hier eine Auseinandersetzung um in der Oper erwünschte und unerwünschte Aristokraten abspielte. Erst ab der Mitte des Jahrhunderts waren einer breiteren Öffentlichkeit viele Zulassungsbedingungen bekannt. Vorher hing vieles von der Laune der Impresari ab. Warum strich der Veranstalter beispielsweise die Countess Dowager of Pembroke und den Earl of Clanwilliam, setzte die Herrschaften am Ende aber wieder auf die Zugangsliste? Auf diese interessante Frage geben die erhaltenen Quellen leider keine Antwort. Man kann nur vermuten, dass die beiden Adeligen für eine gewisse Zeit in soziale Ungnade gefallen waren. »The proprietor of the KT is strictly enjoined to give positive orders to the Door Keepers not to permit any person to pass whose names are not on the inclose list or without permission from the Lord Chamberlain. … The Door Keepers have strict order not to permit: Countess Dowager of Pembroke, Earl of Clanwilliam.«120 Die Verletzung der Eintrittsregeln, Bestechungen, Korruption und der Kampf um zusätzliche Freikarten bestimmten über Jahrzehnte hinweg die Korrespondenz der Theaterdirektionen. Besonders häufig waren Berichte über unerwünschten Zugang und bettelnde Nachfragen um freien Einlass. Die Verantwortlichen wie auch das Publikum ärgerten sich besonders über Trickbetrüger. Die Administration des Wiener Hoftheaters beispielsweise hielt häufige Missbrauchsfälle fest: Einzelne hätten ihr Ticket an Fremde (»personnes étrangères«) verkauft oder gar auf der einen Seite das Theater mit freiem Eintritt betreten, es auf der anderen sogleich wieder verlassen und sich das Eintrittsgeld nachträglich auszahlen lassen. Obwohl man bei einigen Fällen überlegt habe, die Polizei einzuschalten, habe man doch davon Abstand genommen. Einerseits, weil viele Billets »an eine andere sehr ehrenvon Freibillets einzuschränken, und da die Zahl der Theater Mitglieder … sehr bedeutend ist, so haben bereits seit dem vorigen Jahre den Kammer Musikern … dergleichen nur sehr selten bewilligt werden können. Ich habe mich ferner um so mehr veranlaßt gesehen, den sämtlichen zu den Hofstaaten der jüngeren Prinzen des kgl. Hauses gehörenden Personen die freien Entrees zu verweigern, als zu deren Bewilligung ein bestimmter Allerhöchster Befehl bei der General-Intendantur bisher nicht bestand.« 120 London, PRO, LC 7/4/2 Theatrical Papers, By order of the LC, Belfast 17.6.1831 (meine Herv.).
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werte Person« weitergereicht wurden, andererseits »um nicht den wahren Besitzer zu verletzen«.121 Empört suchten Wiener Pächter, bei den verantwortlichen Beamten den regelmäßigen Missbrauch des freien Eintritts zu verhindern. Bestimmte Personen beträten die Hofoper aus Gewohnheit oder Gewinnsucht, nicht aus notwendiger Genehmigung heraus. Wie unzureichend die Kontrolle der eingelassenen Besucher war, zeigte in Wien ein »M. Hoffourrier Tettel«, der in Begleitung immer wieder die erste Galerie betreten habe. Obwohl er selbst über kein Hofbillet verfüge, der Kontrolleur ihn darauf aufmerksam machte und den Eintritt verweigerte, sei Tettel dennoch im Haus geblieben. Gelegentlich sei er einfach gegangen und habe mit dem Hofbillet eines Bekannten das Haus durch die Eingangstür zum rechten Parkett erneut betreten. Solche Fälle, in denen die Billets fremd genutzt würden, seien leider sehr häufig: »So dass die Billets nicht nur den Besitzern zugeordnet werden können.« Die Pächter hätten auch diesen Fall gerne schweigend übergangen, aber: »Es ist peinlich Sie mit diesem Bericht zu belästigen, und ich hätte diesen Angelegenheit dem König verschwiegen, wie ich es bei allen anderen dieser Art mache, wenn nicht Herr Tettel gedroht hätte selbst seine Beschwerde vorzutragen.«122 Betrug und Bettelei prägten die Jagd auf Billets gleichermaßen. Weit häufiger als die öffentliche Missachtung der geltenden Eintrittsregeln waren bittende Schreiben an die Theaterdirektion. Gerade für Wien und Berlin haben sich zwischen 1821 und 1905 zahlreiche Bettelbriefe an die Monarchen mit mehr oder weniger triftigen Begründungen für Freikarten erhalten. Begleitet wurden die Schreiben von entsprechenden Ablehnungen oder Gewährungen – oft unterzeichnet durch den Kaiser oder den König selbst. Aus heute meist kaum ersichtlichen Gründen ereigneten sich dabei gnädige Zulassung oder deutliche Ablehnung der Bittsteller. In Berlin etwa erging der Beschluss, dem Theaterarzt, dem Geheimen Rat Dr. von Graefe, für die Dauer seiner Abwesenheit aus Berlin seine Freikarte zu entziehen. Sein »Freiplatz im Opernhause Parquet Loge No. 1 [werde] fast täglich von der Schwiegermutter desselben benutzt«. Dieser »Missbrauch« müsse sofort abgestellt wer121 Wien, HHStA, Nr. 22: Brief der Administration des Hoftheaters (Duport und Barbaja), 22.12.1823. 122 Wien, HHStA, Karton 69, 1823–25, Nr. 3, Brief von Duport und Barbaja an Hofkämmerer, 5.2.1824. Zur Kontrollpraxis der Besucher in London hieß es: »Am Ende des Programmhefts des 2. Konzerts am 20. März 1820 steht gedruckt: ›Einige Personen haben unsachgemäß Einlass zum letzten Konzert erlangt; die Leitung ist deshalb mit großem Bedauern verpflichtet, alle Abonnenten dazu aufzufordern, in Zukunft ihre Tickets am Eingang vorzuzeigen.‹.« London, BL, Sir George Smart Papers, Vol. IX., MS ADD 41779, Bl. 10.
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den, »da … sämtliche Freikarten nur für die Person ertheilt wären, und bei Abwesenheit cassieren müßten«.123 Diejenigen Besucher, welche durch staatliche Zuwendung, soziale Anerkennung oder durch eigene finanzielle Möglichkeiten begehrte Opernund Konzertkarten erhielten, erschienen in den Aufführungen zu ganz unterschiedlichen Zeiten. Ein auffälliger Indikator für den gesellschaftlichen Stellenwert der Vorstellungen zeigt sich in den sich verschiebenden Anfangszeiten. Am Ende des 18. Jahrhunderts begannen Opernaufführungen meist zwischen 17.00 und 18.00 Uhr, um 1810 zwischen 18.00 und 19.00 Uhr und etwa seit 1840 selten früher als 19.30 oder 20.00 Uhr. Die zeitliche Verschiebung vom Nachmittag in den Abend resultierte aus der gleichzeitigen Professionalisierung des Musik- und Berufslebens. Viele konnten ihre Geschäftsinteressen nicht zu früh am Tage ruhen lassen: »Da ein großer Theil des Publikums den Wunsch geäußert hat, daß die Spektakel in den k.k. Hoftheatern … um sieben Uhr anfangen möchten, und es wirklich billig ist, auf dies so geflissentliche Ansinnen der k.k. Beamten und der Kauf- und Gewerbeleute, welche nicht früher von ihren Berufsgeschäften abkommen können, Rücksicht zu nehmen, hat man sich entschlossen diesen Wunsch zu befriedigen und die Vorstellungen vom 1ten Jänner 1808 an … um 7 Uhr anfangen zu lassen.«124 Mit einer veränderten Disziplin im Arbeitsalltag und im Freizeitvergnügen hatte das aber nur teilweise etwas zu tun. Gerade der Mittlere und der Hohe Adel erachtete es oft als vorbildlich, erst im Laufe des ersten Aktes gegen 21.00 Uhr das Haus zu betreten: Je wichtiger die Besucher sich fühlten, desto später kamen sie. »Es gehöre zum guten Ton, überall zu spät zu kommen und dadurch Aufsehen zu erregen«,125 urteilte die »Allgemeine Musikalische Zeitung« 1845. Und noch 1912 erhielt die Wiener Theaterdirektion eine Beschwerde: »Viele im Publikum kommen zu spät und fänden dann noch Einlass auch wenn der halbe Akt schon gelaufen. Diesen Zustand könne man vielleicht in der Volksoper, doch aber kaum in der Hofoper dulden.«126 Zeitlich noch uneinheitlicher fielen die Anfangstermine der sinfonischen Konzerte aus. In den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts begannen in Wien die Orchesterkonzerte der »Gesellschaft der Musikfreunde« um die Mittagszeit, etwa um 12.30 Uhr. Da diese Tage nicht immer auf einen Sonntag fie123 Berlin, GSTA, BPH, Rep. 19, Theater M, Nr. 2, Bd. 3, 19.10.1829. 124 Brief der Direktion (Esterházy) an Hofkämmerer, 5.12.1807, Wien, HHStA, Karton 4, Nr. 24, 1806–1810. 125 AMZ, 47 (1845), 730. Vgl. Fenner, Opera, 85 f.; insges. Cunningham, Leisure. 126 Wien, HHStA, Oper 1912 – Karton 272: Sammelakten Nr. 12, Nr. 10: Beschwerde von Jean Reimer, 15.2.1912; Vgl. Hinrichsen, Musik-Gesellschaft, 127.
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len, verstärkte sich durch den derartig geregelten Konzertbesuch die herausgehobene gesellschaftliche Position der so privilegierten bürgerlichen und adeligen Musikliebhaber. Seit den 1830er-Jahren aber verschoben sich auch im Konzertbetrieb allmählich die Anfangszeiten. An Wochentagen wie an Sonn- und Feiertagen fanden viele Konzerte nicht mehr in der Mittagszeit, sondern gegen 16.00 Uhr statt. Zuvor hatten die Wiener Behörden es abgelehnt, die Gesellschaftskonzerte statt um die Mittagszeit am Abend stattfinden zu lassen, weil sie eine Konkurrenz mit den Theatern zu vermeiden trachteten.127 In der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen fast alle Veranstaltungen am Abend. Denn nicht nur die bürgerliche, auch die adelige Elite sah sich durch neue ökonomische und soziale Herausforderungen dazu gezwungen, häufiger und länger zu arbeiten. Weder der Hofadel noch der Landadel, weder Bildungs- noch Wirtschaftsbürger in Berlin, London und Wien hatten fortan die Zeit, mehrmals in der Woche in die Oper oder ins Konzert zu gehen. Die Anfangszeiten glichen sich europaweit an. Die Konzerte der Londoner »Royal Philharmonic Society« suchten auch die Aristokraten immer seltener verspätet auf, und ab 1868 fanden sich auf den aufwändig gedruckten Ankündigungen der hervorgehobene Hinweis »Eight o’clock precisely«.128
Musikvereine und Konzertserien – Die Wirkung neuer Institutionen im Spielbetrieb Im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts bekamen die Opernhäuser durch die Konzertsäle, durch die von professionellen Orchestern gespielte Sinfonie und durch die Entstehung musikalischer Vereine neue Konkurrenz. Ein Vergleich zwischen dem Spielbetrieb im Opernhaus und Konzertsaal und zumal der Blick auf die neuen privat organisierten Musikvereine liegt auf der Hand. Denn es ist aufschlussreich, Institutionen zu untersuchen, die sich auf der einen Seite durch neue musikalische Geschmäcker und veränderte Konsumweisen der Hörer vom Spielbetrieb in den Opernhäusern unterschieden, sich auf der anderen Seite aber aus einem weitgehend identischen Publikumsstamm speisten. Das Konzertpublikum war dem Opernpublikum in sozialer, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht sehr ähnlich. Dabei hatten diese Vereine auch in Berlin und in Wien stets um ihre zahlungswilligen Mitglie127 Concertprogramme 1815 bis 1877, Wien, GMF, 2712/47, 1778/30. 128 London, BL, RPS/MS/322 (=48.5.2) Phil. Society 1867–72, 6.7.1868. Vgl. Weber, Miscellany, 299–320.
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der zu werben und achteten deshalb darauf, moderatere Eintrittspreise zu erheben. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts musste das Konzertpublikum weit eher als das Opernpublikum für jede Saison, ja, für jedes Konzert neu gewonnen werden, was die Konkurrenz im Musikbetrieb zusätzlich verschärfte.129 Zwischen 1810 und 1830 bildeten sich in Wien (1812), in London (1813) und in Berlin (1825) neue Konzertserien heraus, die von musikalischen Vereinen initiiert, organisiert und bezahlt wurden. Die Konzertserien lassen sich in drei verschiedene Formen unterteilen: Die hier mit Abstand am weitesten verbreitete Institution waren die sogenannten Benefiz- oder Liebhaberkonzerte, welche für lediglich einen Abend gegen Entgelt für einen Künstler oder ein Ensemble die Hörer anzogen. Die zweite sich herausbildende Form stellten geschlossene Konzertvereinigungen dar, die nur eine mehr oder minder genau bestimmte Auswahl aus gesellschaftlich gewünschten Mitgliedern zu ihren Konzerten zuließen. Die dritte und modernste Form schließlich waren die aus professionellen Musikern zusammengesetzten Konzertgesellschaften, die sich auf der Grundlage einer im Prinzip für jedermann käuflichen Eintrittskarte für die ganze Spielzeit finanzierten. Durch die beschränkten technischen Fähigkeiten der Dilettanten und durch die Konkurrenz anderer Konzertveranstalter stieg die Anzahl gut ausgebildeter Musiker in allen drei Vergleichsstädten rasant an. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden aus den ursprünglich nur unregelmäßig erscheinenden Vereinsmitgliedern informierte Zuhörer und schließlich ein zahlendes Konzert- und Abonnementspublikum. Bildung und Konsum öffneten und anonymisierten den Spielbetrieb gleichzeitig.130 Der Blick auf einige ausgewählte Konzertreihen in London und in Wien soll die sozialen Praktiken und die Grenzen des Musikkonsums veranschaulichen: Zunächst fällt der Blick auf London, denn hier erfreuten sich die »Ancient Concerts« (ursprünglich antiquiert als »Antient« bezeichnet) lange einer besonderen Stellung. Der Rang dieser Veranstaltung lag in der Zusammensetzung des Publikums. Die Veranstalter der Konzertserie akzeptierten etwa bis 1810 allein hohe Adelige und führende Kleriker Großbritanniens. Nur nach dieser sozialen Stellung bestimmten die Direktoren die Mitglieder in diesem so feinen wie kleinen Kreis. Die musikalische Gemeinschaft fungierte als ein Netzwerk, das gegenseitige Beachtung, kulturellen Austausch und sozialen Status bot. Die Anwesenheit der Monarchen und des Hofes – von George III. 1785 bis zu Prinz Albert 1848 – erhöhte den gesellschaftlichen Rang der 129 Vgl. Grotjahn, Sinfonie, 100 f.; Weber, Music, 53. 130 Vgl. Weber, Music, 13–22; Heister Konzert, Bd. 1, 104–108; Leppert, Discipline, 463 f.; Hinrichsen, Musik-Gesellschaft, 10–32.
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Abende zusätzlich. Bereits die Namen und Titel der hochadeligen Direktoren ließen die Exklusivität dieser Konzerte erkennen. Zu den in diesem Zeitraum aufgenommenen 400 bis 700 Personen zählten 1810 beispielsweise sechs Direktoren im Range eines Earls, sechs »Royal Subscribers« inklusive des Prince of Wales, fünf Herzöge sowie 125 Adelige nebst ihren Familien. Die Anzahl der »non titled subscribers« belief sich auf 456. Unter den in dieser Rubrik dominierenden Familienangehörigen, den Bischöfen und Repräsentanten der Anglikanischen Kirche waren nicht mehr als eine Handvoll wichtige Geschäftsleute (beispielsweise drei Personen 1830, acht Personen 1848). Häufiger zeigten sich in diesem Kreis führende Juristen und Mediziner. Handverlesene Spitzen des aufsteigenden Bürgertums versuchten, sich durch die Nähe zur Aristokratie aufzuwerten.131 Die adligen Direktoren versammelten sich am Tag des Konzertes zu einem großen gemeinsamen Dinner, zu dem oft auch der Dirigent eingeladen wurde. Am Abend besetzten die Herren in bequemen Fauteuils, gemeinsam mit ihren Freunden und Verwandten, einen exklusiven, geräumigen und nur ihnen vorbehaltenen Platz direkt vor dem Orchester in den Hanover Square Rooms. Der Einzug der adeligen Direktoren erfolgte in Form einer schreitenden, oft mit Standarten angeführten Prozession, zu der das Orchester einen Marsch spielte. Auch diese Zeremonie unterstrich gemeinsam mit der bewusst minimierten Liste der Subskribenten den exklusiven Charakter der Veranstaltung. Die Presse begann diese Konzertberichte oft mit einer minutiösen Auflistung dieser Häupter der Aristokratie. Über einen Abend aus dem Jahre 1846 hieß es zum Beispiel: »The present establishment consists of the following: Directors – His Majesty the King of Hanover, His Royal Highness Prince Albert, His Royal Highness the Duke of Cambridge, His Grace the Archbishop of York, the Duke of Wellington, the Earl of Westmorland, the Earl Howe, and the Earl of Cawdor.«132 Der Herzog von Wellington nahm in dieser Gruppe eine besondere Position ein. Der Sieger von Waterloo 1815 und wenig erfolgreiche Premierminister von 1828 bis 1830 zog stets die bewundernden Blicke der britischen Öffentlichkeit auf sich. Das galt selbst dann, wenn der Feldmarschall nicht seine Truppen, sondern als Direktor der »Ancient Concerts« seine Musi131 Das belegen u. a. die Aufnahmelisten in der British Library. Unter ihrem Namenszug standen zuerst Adelige, dann der hohe Klerus, alle dem Rang nach absteigend vom Duke bis zum Sir. Schließlich folgten »non titled subscribers«. London, BL, Lee, List of the Subsribers, 1607–1212; Wilding, Performances, 11778.aa26. Vgl. Matthew, Concerts, 55–79; Weber, Music, 64–75. 132 London, BL: Parry, Notices, Vol.1. 1849, 27.5.1846. Vgl. den differenzierten Überblick zur britischen Musikkultur des 19. Jahrhundert in Zon (Hg.), British Music Studies.
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ker abends befehligte. Bislang völlig unbekannt ist die Tatsache, dass Arthur Wellesley, Herzog von Wellington als Laiendirigent auftrat. Alle ein oder zwei Jahre leitete er vom Podium aus das etwa 70 Musiker umfassende Orchester der »Ancient Concerts«. Eine Ausnahme war das nicht, denn auch die übrigen Direktoren zementierten ihre gesellschaftliche Stellung dadurch, dass sie die Programme der Konzertabende und die Gruppe der einzuladenden Musiker festlegten – und gelegentlich auch eigenhändig dirigierten. Von dem Konzert am 10. Mai 1838 ist ein herrliches Bild vom dirigierenden Wellington erhalten. Der Stich von John Doyle zeigt den Dirigenten, wie er die Generalprobe des versammelten Orchesters leitete. Der Feldmarschall als Dirigent gab mit erhobenem Taktstock seinen Mitspielern genaue Spielanweisungen – festgehalten in Form einer Sprechblase. In diesem einem Comic ähnelnden Bild sehen und hören wir Folgendes: »Noch einmal! da capo! – wir haben letztes Mal troppo presto (viel zu früh) angefangen – um den richtigen Effekt für diese Komposition zu erzielen, sollte der erste Satz moderato aber con expressione sein – ich bitte zunächst die Hörner ihren Eifer zu bändigen; danach sollten sie ein wenig lebhafter spielen, aber setzen sie noch nicht alle Kraft ein, bis sie von mir das Zeichen bekommen – dann wechseln sie ganz präzise auf fortissimo & tutti.«133 Die ihm gewogene konservative Presse rühmte den durch Wellington erreichten Drill des Orchesters: »The Fifth meeting proved to us how excellent the Duke of Wellington is in musical, as well as martial, generalship.«134 Auf dem Programm standen an diesem Abend allein Auszüge aus Georg Friedrich Händels Oratorien – eine dem Geschmack der adeligen Direktoren ganz entsprechende Auswahl, zu der meist etwa 10 bis 15 kürzere Concerti Grossi, Opern- und Oratorienszenen zählten. Bis in die 1830er-Jahre hinein spielte man überwiegend nur Werke von seit wenigstens 20 Jahren verstorbenen Komponisten. Das heißt, man hörte Stücke aus dem Barock und der Renaissance, nur selten etwas aus der Frühklassik. Erst 1826 tauchten eine Mozartsinfonie, 1834 eine Sinfonie von Haydn und 1835 die Prometheus-Ouvertüre von Beethoven auf dem Spielplan auf.135 Diese vorsichtige Öffnung resultierte aus der Krise und dem Niedergang der Konzertreihe. Das Publikum schrumpfte von 742 (1825) auf 411 Subskribenten (1832). Bei ihrer Auflösung 1848 verzeichneten die »Ancient Concerts« 133 London, RCM: Engraving: The Duke of Wellington Conducting, 10.5.1838. His Grace on this occasion made his debut as a musical director & certainly acquitted himself ably & successfully. Published by T. Mc Lean, 26, Haymarket, 14th May 1838. 134 AT, 12.5.1838 135 Vgl. Ellsworth, Concertos, 169–181; sowie Weber, Handel, 43–69.
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Abb. 7: Der Herzog von Wellington leitete 1838 als Dirigent eine Probe des Orchesters vor der Aufführung eines »Ancient Concerts« und erteilte dabei genaue musikalische Anweisungen.
nur noch 158 Mitglieder. Namhafte adelige Repräsentanten suchten vergeblich, durch einige Reformen ihr Publikum zu erhalten. Ursprünglich waren Konzertkarten dieser Serie in keinem Fall übertragbar. Im Jahre 1835 kündigte man stolz an, engen Familienangehörigen, also Vätern und Söhnen, Müttern und Töchtern, Brüdern und Schwestern, dieses Privileg zu ermöglichen. In Einzelfällen durfte sogar ein Freund der Familie zu einem Konzert mitgebracht werden – wenn er den astronomischen Preis (»one guinea each«) für den Abend zahlte.136 Doch die konservative soziale Zusammensetzung und das musikalischkonservative Programm befriedigten die Londoner Aristokraten, geschweige denn die Bürger, immer weniger. Das Festhalten an diesem musikalischen Lebensstil beschädigte am Ende die Reputation der adeligen Konsumenten. Das Publikum insgesamt verlangte verstärkt die Aufführung von als »modern« erachteten zeitgenössischen Werken durch ein professionelles 136 London, BL: John Parry, Notices of the Concerts of Ancient Music. Written for the Morning Post 1834 to 1848, Vol.1. 1849. Vgl. Irving, Ancients.
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Orchester, statt eine antiquierte Konzertauswahl von musikalischen Amateuren geboten zu bekommen. Liberale Zeitungen und Zeitschriften spotteten immer häufiger über die Erscheinung und das Musikprogramm der älteren, exzentrisch erscheinenden Direktoren. Die führende Satirezeitschrift »Punch« witzelte über diese »halbtot« erscheinenden Herrschaften: »The Ancient Concerts are supposed to be thus named after the style of the audiences that attend them, as well as from the musical exhumations which take place here.«137 In einem Zeitalter des parlamentarischen und ökonomischen Wandels verlangten neue wie alte Eliten einen größeren öffentlichen Gestaltungsraum – und das auch im Musikleben.138 Die »Royal Philharmonic Society« unterschied sich als neu geschaffene bürgerliche Institution von den »Ancient Concerts«. Diese Vereinigung war offener – sowohl in ihrer sozialen Struktur als auch in ihren ästhetischen Präferenzen. Zwar nahm auch die »Royal Philharmonic Society« nur diejenigen auf Antrag auf, welche ihre Direktoren auswählten. Doch zu diesen Mitgliedern zählten sowohl Großbürger als auch Aristokraten. Beide Gesellschaftsschichten verband das gemeinsame Interesse an einem neuen musikalischen Geschmack und dem kulturellen Austausch. Wiederum griffen Sinfonie und Reputation, Musik und Macht ineinander. Die zahlenmäßig stärkste Gruppe dieser Konzertserie bildeten die Bürger – überwiegend Geschäftsleute, Juristen, Musiker oder Musikalienhändler. Seit der Mitte des Jahrhunderts dominierte hier das mittlere Bürgertum. Aber auch der Adel fehlte nicht. Im Gründungsjahr 1813 etwa waren von den 300 neuen Mitgliedern 44 am Titel erkennbare Adelige, zu denen sich mehrere Viscounts und Marquises rechneten, und für das Jahr 1820 listete man »712 Honorary Subscribers«, unter denen man 50 Adelige nannte. Eine monarchische Patronage festigte das soziale Kapital der Mitglieder der Konzertgesellschaft, denn seit 1832 stand in großen Lettern über der jährlichen Teilnehmerliste: »Under the immediate Patronage of Their Majesties«.139 Die »Royal Philharmonic Society« nahm Männer und Frauen auf, kennzeichnete sie aber ab 1835 durch die Farbe ihrer Eintrittskarten. Die Damen verfügten über ein Stück rosa Papier, das der Herren war blau und das der Musiker weiß.140 Die farbliche Kennzeichnung der Geschlechter war so ansprechend wie konventionell. Die Idee, Vertreter der Presse für einen Abend 137 Punch, 2 (1842), 176. Und der »Spectator« beobachtete scharf: »The solicitation was always from and not to the public.«, SP 1833, 21.12.,1294. 138 Vgl. Matthew, 65–68; Weber, Music, 71–75. 139 Vgl. London, BL: RPS/MS/318 (=48.8) List of Subscribers Philharmonic Society 1813–68 (incomplete). Hilfreich ist auch der Überblick von Mandling, Fall, 41–58. 140 Ebd.: RPS/MS/280 (= 48.2.2) Directors’ Meetings 1822–37, 21.11.1835.
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einzuladen, folgte der Überzeugung, durch eine Berichterstattung in den wichtigen Londoner Tages- und Wochenzeitungen den Stellenwert der Konzerte in der Öffentlichkeit zu behaupten. Und so baten die Direktoren Journalisten und Verleger regelmäßig zum Besuch ihrer Konzerte.141 Durch eine strengere Kontrolle der Zugangsberechtigung unterschieden sich die Musikvereine von den Opernhäusern. Die Direktoren übten eine Form der Mitgliederzensur aus. Diejenigen, welche dabei beobachtet wurden, ohne gültige Eintrittskarte Konzerte besucht oder ihre Karten an Freunde verteilt zu haben, mussten diesen Vorfall minutiös begründen oder wurden gleich aus der Gesellschaft ausgeschlossen.142 Schwieriger und letztlich so unklar wie undurchschaubar waren die Aufnahmebedingungen für neue Mitglieder. Zahlreiche Anträge auf permanente Aufnahme erreichten den Vorstand wöchentlich. Manche nahmen die Direktoren auf, andere lehnten sie ab, obwohl sie aus den gesellschaftlich gewünschten Schichten stammten. Abgesehen von einer notwendigen Beschränkung der Sitzplätze ist es zum Beispiel kaum zu erklären, warum die Direktoren die Countess of Dartmouth, Lady Mary Legge, und Lady Barbara Legge aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung aufnahmen (»in consideration of their rank«), Lady Pocock, Mr. Chapman, Major Fortheringham aber ein Abonnement verweigerten.143 Ebenso rigide wie undurchschaubar erwies sich die soziale Klassifizierung von Mitgliedern in den Gründungsjahren der Gesellschaft. Die Direktoren untersagten beispielsweise im Jahre 1821 einem Mr. Hoffman den Zugang zu ihren Konzerten, weil sie ihn lediglich für einen gesellschaftlich belanglosen Arbeiter in einem Bekleidungsgeschäft hielten. In einem höflichen, aber unmissverständlichen Empfehlungsschreiben an die Direktoren unterstrich ein Freund des Abgewiesenen, dieser arbeite nicht einfach in diesem Geschäft, sondern sei der angesehene Eigentümer und könne daher keineswegs als der Angehörige einer Unterschicht ferngehalten werden: »Mr. Hoffman ist ganz sicher der Eigentümer eines Bekleidungsgeschäfts in Bishopsgate Street, wo er gelegentlich, wie so viele andere Händler, in seinen Büroräumen zu sehen sein dürfte, aber ich bezweifle stark, dass er jemals dabei gesehen wurde, wie er in dem Laden Kundschaft bedient hat; er steht weit über solchen Dingen … und würde keine Schande für die Philharmonischen 141 Ebd.: RPS2/MS/81 (=48.2.3.) Directors’ Meetings 1837–47, Bl. 54 – 24.1.1841. 142 Ebd.: RPS/MS/280 (= 48.2.2) Directors’ Meetings 1822–37: Bl. 182 – 17.3.1822: »Resol. that the Secr. write to Colonel Stonger requesting to know how he was admitted at the last concert.« Ebd., 22.5.1831, Dir.: »Resolved that Mr. Gilbert Brandon be informed that in consequence of his having transferred his Ticket it is thereby forfeited.« 143 Ebd.: RPS/MS/279 (= 48.2.1) Directors’ Meetings 1816–22, Bl. 155 – 11.2.1821; Bl. 177 – 10.1.1822.
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Konzerte sein … Eine solche Person sollte als Ladenbesitzer meiner Meinung nach nicht ausgeschlossen werden.«144 Im Laufe der 1830er- und 1840er-Jahre musste die »Philharmonic Society« eine ähnliche Krise wie die »Ancient Concerts« durchlaufen: Die Mitgliederzahlen sanken 1843 beispielsweise auf 313 Personen.145 Eine Ursache dafür war die verstärkte Konkurrenz durch immer neue musikalische Gesellschaften in London. Denn gerade weil die »Royal Philharmonic Society« Standards im britischen Musikleben vor dem Hintergrund einer sich ohnehin ausdifferenzierenden Gesellschaft setzte, beförderte sie selbst den Aufstieg neuer Konzertserien. Im Unterschied zu den untergehenden »Ancient Concerts« gelang dieser Gesellschaft ein Ausweg aus ihrer Krise. Zum einen öffnete sich diese Konzertreihe einem breiteren bürgerlichen Publikum, sie wurde daher weniger wohlhabenden Hörern zugänglich, und zum anderen warb sie für ein professionelles Programm im Spielbetrieb. Zwischen 1810 und 1850 schufen die Londoner Musikvereine neue Konzertserien und bewegten bürgerliche und adelige Hörer gleichermaßen zum Besuch ihrer Veranstaltungen. In dieser Zeit bildete sich ein professionell organisiertes Musikleben in einer sich auch sozial vorsichtig öffnenden Gesellschaft heraus. Allerorten sprachen die Zeitungen von einem Fortschritt in der Musik und von einer Reform des musikalischen Spielbetriebes. Vor allem habe die soziale Öffnung im Theater und im Konzert der Kunst gedient: Die »Musical Times« hielt 1863 fest: »We feel that the breaking down of the barriers which had hitherto held the multitude back has been of infinite service to the art.«146 In fortschrittlichen Gesellschaften könne jedermann bezahlbare Karten für jedwede Vorstellung erwerben. Die so praktizierte Kunst stelle ein »democratic movement« dar.147 Diese Formulierung ist so faszinierend wie falsch. Denn die Auffassung von manchen bürgerlichen Zeitgenossen wie von Teilen der Forschung, das Musikleben sei nur durch gleichmachende, ja demokratische Tendenzen geprägt worden,148 wird allein durch die nach wie vor bestehende soziale und politische Ungleichheit des Publikums in Frage gestellt. Erst an der Wende zum 20. Jahrhundert zeichnete sich eine massive soziale Öffnung und eine kulturelle Ausdifferenzierung des Spielbetriebes ab. 144 Ebd.: RPS/MS/338 (=48.13.6) Letters Vol. 6, Bl. 11 – 8.2.821. Vgl. Ehrlich, Philharmonic, 1–56; sowie die ältere Darstellung von Elkin, Philharmonic. 145 Vgl. London, BL, RPS/MS/318 (=48.8) List of Subscribers Philharmonic Society 1813–68 (incomplete). 146 MT, Oktober 1863, 133. 147 Ebd., 134. 148 Vgl. zu dieser Fehleinschätzung etwa Heister, Konzert, Bd. 1, 124, 182.
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Das englische Satiremagazin »Punch« spottete 1854 treffend darüber, wie die gemeinsamen Praktiken und Konsumgewohnheiten des Großbürgertums und des Adels den gesellschaftlich separierenden Charakter im Musikleben verstärkten. »We have two operas in full swing; … one an opera for the millionaire, and the other an opera for the million.«149 Bezeichnend für die soziale Überlegenheit der musikliebenden Londoner Elite war die Aufforderung mancher Journalisten, gesellschaftliche Unterschichten im Her Majesty’s Theatre auszugrenzen – denn Lehrlinge oder Verkäufer seien einfach fett und dreckig. »Seine Lage im edelsten und am leichtesten zu erreichenden Teil der Metropole zeichnen es als Tempel der hochkulturellen Unterhaltung aus, der sich am besten darauf verstand, dem Geschmack des Hofes und der Aristokratie zu genügen. … Falls das Opernhaus jemals seinen aristokra tischen Charakter verlieren sollte, verliert es seinen Nutzen. Die hohe Gesellschaft wird sich nicht mit einer Atmosphäre aus billigen Möbeln und Stadtstaub zufrieden geben, oder sich zwischen fette Bürger und deren Begleitung quetschen.«150 Ein Vergleich der Londoner Konzertreihen mit der Organisation der »Gesellschaft der Musikfreunde« in Wien liegt auf der Hand. Zunächst ähnelte die Struktur dieser Gesellschaft durchaus dem Londoner Spielbetrieb. Die 1812 von gut 400 Interessierten ins Leben gerufene Vereinigung war der größte Musikverein im deutschsprachigen Raum in dieser Zeit. In diesem Verein ist ein repräsentativer Querschnitt der Wiener Elite zu erkennen: Hohe und mittlere Adelige, Bildungsbürger und Bürokraten nebst einzelnen Musikern und Literaten. In einem internen Rundschreiben betonten die Mitglieder 1818 selbstbewusst den distinguierten und elitären Charakter ihrer Konzerte: »Die Gesellschaft … betrachtet sich aus dem Gesichtspuncte einer Privat-Gesellschaft, welche auf freundschaftliche Weise in einem Privathause zusammenkommt, um sich mit Musik und anständiger Conversation zu erheitern. … Die Directoren halten sich überzeugt, daß die Eintrittskarten von den Eigenthümern derselben nur an ihnen wohl bekannte, mithin an Personen gelangen werden, die in einer Gesellschaft von Personen der gebildeten Classen mit Anstand erscheinen können.«151 Im frühen 19. Jahrhundert ist ein öffentlich zugänglicher Konzertbetrieb erst in Ansätzen zu erkennen. Exklusivität und Offenheit ließen sich nicht 149 Punch, 26 (1854), 222. 150 London, BL, Ankündigung des Her Majesty’s Theatre, Season 1860; ebd., Haymarket Theatre, Cuttings from Newspapers, Vol.3, 1807–29, Theatre Cuttings 43, King’s Theatre, 8.6.1829. 151 Wien, GMF, 3697/32, 1818, 2, 12 f. Vgl. Bisanz, 620–622.; Hinrichsen, Musik-Gesellschaft, 18, 24.
Musikkonsum und Repräsentation | 97 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
strikt voneinander trennen. Die Rechtsform des Musikvereines sollte als eine Schnittstelle zwischen den Bereichen des »Privaten« und des »Öffentlichen« verstanden werden, als eine neue Organisationsform und als ein entstehender Lebensstil der städtischen Eliten. Das hieß zum einen, dass auch die Wiener Konzertreihe eine rigide Kartenverteilungspolitik vornahm und die wenigen Ausgewählten meist nicht ihr Billet an andere Hörer übertragen durften. Zu diesen Rechten zählten der Eintritt zu den Gesellschaftskonzerten und der Anspruch auf Eintritt zu den Generalproben, in die eine weitere Person mitgebracht werden durfte. Anders als in London wurde jährlich die öffentliche Aufführung einiger wichtiger musikalischer Werke für ein größeres Publikum veranstaltet, selbstredend stets zum »Besten des Fonds der Gesellschaft«.152 Zum anderen nahmen die Wiener Musikliebhaber nur ausgewählte Großbürger und Adelige in ihren Verein auf. Das Verzeichnis sämtlicher Mitglieder listet für 1817 z. B. 690 Namen auf. 255 Personen davon gehörten dem Adel an (Fürsten, Grafen, Barone und Freiherren). Den leitenden Ausschuss besetzten im Jahre 1846 zwölf, allesamt großbürgerliche Herren (Staatsbeamte, Hofräte und Advokaten); das Verzeichnis der Mitglieder nannte 450 Personen – etwa ein Drittel hiervon war weiblich. Praktisch alle Spitzen der Gesellschaft aus Bildung, Handel, Staatsdienst und Kunst, aber eben auch manche Fürsten, Grafen, Barone waren hier gemeinsam mit ihren Frauen vertreten.153 Im Unterschied zu London erscheinen die musikalischen Verbände in Wien eher als Privatvereine, die sich bis in die 1850er-Jahre oftmals rigide einer öffentlichen Beurteilung verschlossen. Die »Royal Philharmonic Society« warb um neue Besucher und lud regelmäßig Journalisten ein, während man sich in Wien zunächst gegen eine soziale Öffnung der Musikvereine und letztlich gegen eine plurale Gesellschaft sperrte. In Wien beschwerte sich das Direktorium der »Gesellschaft der Musikfreunde« bitterlich über einige Wiener Zeitungen oder einzelne Journalisten, welche ihre Konzerte besucht hatten. Nicht Lob oder Kritik war der Gegenstand der Empörung – vielmehr hatten fremde Personen es überhaupt gewagt, diese private Veranstaltung zu betreten und den Abend öffentlich zu bewerten. Als wahrhafte Untertanen der Habsburgermonarchie riefen die tonangebenden Direktoren daher den Staat zu Hilfe. Nichts stärkte die Zensur mehr als die flehende Bitte der Bürger, die Zensurstelle möge das Musikleben zensieren. 152 Vgl. Wien, GMF, 7361/82, Statuten der Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates, Wien 1814, 8, 28. 153 Wien, GMF, 8399/125, Jahresbericht und Mitgliederverzeichniß der Gesellschaft der Musikfreunde des oesterreichischen Kaiserstaates, 1817, 1846, 1847. Grundlegend zur Geschichte des Berliner Konzertwesens ist Mahling, Musikbetrieb, bes. 31–56.
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In regelmäßigen Briefen an den Präsidenten der Zensurbehörde Graf Sedlnitzky betonte man die Notwendigkeit, Konzertkritiken Einhalt zu gebieten. Die Direktoren der »Gesellschaft der Musikfreunde« schrieben 1817 etwa, die Gesellschaftskonzerte seien Privatkonzerte, geöffnet nur für Mitglieder. Dennoch hätten mehrere Musikblätter, besonders der »Sammler« und die »Musikzeitung«, fortgesetzt und oft kritisch berichtet. Graf Sedlnitzky gab an den damaligen Präsidenten Graf Appony seine – und von der Gesellschaft gewünschte – Zensurmaßnahme bekannt: »Euer Excellenz Schreiben vom 25.d.M. gemäß, habe ich den hiesigen Zensurbehörden die Vorschrift ertheilt, daß von jenen Privatkonzerten, welche die Gesellschaft der Musikfreunde des öster. Kaiserstaates in den bestimmten Monaten gewöhnlich gegeben werden, in den öffentlich hier erscheinenden Tageblättern nur dann Notiz angezeigt werden dürfe, wenn die dießfälligen Aufsätze von dem Präses der Gesellschaft oder dessen Stellvertreter vidiert worden sind, um hierdurch jede Gefahr, welche diese … aller Unterstützung so würdigen … Anstalt in ihrer Entwicklung finden könnte, möglichst abzuwenden.«154 Offenbar nutzten die Beschwerden gegen die Presse gar nichts. Eine Grundregel jeder Gesellschaft galt auch hier: Regelmäßige Bitten oder Drohungen beweisen nur, dass die implementierten Vorschriften nur wenig beachtet wurden. Für das Jahr 1821 findet sich erneut ein Bittschreiben an Graf Sedlnitzky, welches den rein privaten Charakter dieser Konzertreihe unterstreicht. Die Besucher dieser Konzerte begriff man als handverlesene Gäste und stilisierte die Aufführung als geschlossene Vereinsveranstaltung, welche gar nicht öffentlich zu beurteilen sei. Zur sozialen, finanziellen und medialen Öffnung der Hochkultur war es hier noch ein weiter Weg: »Die Gesellschaft hält … nur öffentliche Beurtheilungen von Concerten, welche sie unentgeltlich, nicht öffentlich sondern nur für die Mitglieder und der von ihnen geladenen Personen gibt, für nur Privatunterhaltung, und die öffentliche Beurtheilung, selbst die günstige, für einen Eingriff in die Hausrechte. In diesen Concerten sind die Personen, welche sie besuchen, eigentliche Gäste. … Die Gesellschaft glaubt daher Eure Exzellenz bitten zu dürfen den Herrn Vertretern der öffentlichen Blätter die bestimmte Anweisung zu geben, daß sie Beurtheilungen der Gesellschaftsconcerte der Gesellschaft, als einen der öffentlichen Beurtheilung gar nicht unterliegenden Gegenstand, nicht zuzulassen haben.«155
154 Vgl. Wien, GMF, Gesellschaftsakten 1817, Schreiben vom 25.1. und 29.1.1817 (Herv. im Orig.). 155 Wien, VA, P. H. 208/1821, 8.1.1821 (Herv. im Orig.).
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Eine Verstärkungsschleife: Bürger und Adelige konsumieren und kommunizieren Bilanziert man die gezeigten Debatten über die musikalischen Angebote und den sozialen Gebrauchswert der Opern- und Konzertaufführungen, fällt auf, dass über die Verteilung diese Konsumgüter stets gestritten wurde. Keine Einwegkommunikation vom Musiker zum Publikum oder vom Unternehmer zum Konsumenten ist zu beobachten, sondern vielmehr eine Kette sozialer Praktiken, die sich auf die Aufführungen im Spielbetrieb bezogen, sie erschufen, variierten und vervielfältigten. Die Mittler in diesem Kommunikationskreislauf waren die Veranstalter und die Vereine, die Urteile der Journalisten und die der selbsternannten Kenner. Diese lieferten nicht nur Konsum- sondern auch Identitätsangebote, deren Zusammenspiel die adeligen und bürgerlichen Eliten in Kontakt brachte. Blickt man auf die Aufführungen der Kunstmusik, ist jedenfalls in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schwer zu entscheiden, ob hier die Gemeinsamkeiten oder die Unterschiede zwischen Adel und Bürgertum dominierten. Aristokraten und Großbürger besuchten oft einvernehmlich die neuen attraktiven Konzertserien. Das ist selbst in Wien, einer höfischen Stadt mit beschränktem sozialem Austausch zu beobachten. Der Glaube an gemeinsame kulturelle Präferenzen, gewünschte Verhaltensstandards und die gegenseitige Beobachtung im Auditorium stimulierte die Kommunikation zwischen den Eliten. Die soziale Stellung resultierte auch aus kulturellen Kenntnissen – und umgekehrt. Diese Verständigung zwischen Großbürgertum und Adel ist in der älteren Forschung oft als eine vorherrschende Verbürgerlichung der Gesellschaft bezeichnet worden.156 Statt aber gerade das Musikleben des 19. Jahrhunderts als Siegesallee einer autonomen bürgerlichen Kultur zu begreifen, ist hier die starke kulturelle Position der Aristokratie nicht zu bezweifeln. Die Imitation und die Weiterentwicklung adeliger Lebensstile durch das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum zeigten vielmehr die wachsende Angleichung und den Austausch beider Gruppen. Folgt man Tia DeNora in ihrer Analyse des Aufstiegs Ludwig van Beethovens in Wien, dann ist auch das soziale Prestige der kunstliebenden Adeligen ihrem musikalischen Geschmack zu verdanken. Entgegen der Fehleinschätzung der älteren Sozialgeschichte kann man die Durchsetzung eines bestimmten Repertoires und ihres Vorreiters Beethoven nicht allein dem 156 Vgl. dazu etwa Blanning, Culture, 110 f.; Gerhard, Urbanization, 33; Heister, Konzert, Bd. 1, 166 f., dagegen argumentiert Augustine, Patricians, 243–254.
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Bürgertum zuschreiben. Führende Wiener Aristokraten förderten diesen Komponisten finanziell, organisierten viele seiner Konzerte und verbreiteten seinen Ruhm, noch bevor das Bürgertum diesen verklärte.157 Im Jahre 1830 beispielsweise veranstaltete selbst die sich als verschlossen inszenierende Wiener »Gesellschaft der Musikfreunde« ein Wohltätigkeitskonzert zur Linderung der durch die Donauüberschwemmung entstandenen Schäden. Die Protokolle belegen, dass an diesem Abend viele Bildungsund Wirtschaftsbürger gemeinsam mit den Adeligen musizierten. Auffällig war eine Bearbeitung Carl Czernys von Rossinis Semiramide-Ouvertüre für acht zweihändig gespielte Klaviere. An diesen Klavieren spielten die Gräfinnen von Herberstein, von Taaffe, von Esterhazy, von Dietrichstein, von Lebzeltern, von Wallis, die Freiin von Maltzahn, die Fürsten von Lobkowitz und Windisch-Grätz, die Grafen von Mniszek, von Esterhazy, Amade, von Kuefstein, Györy und von Gallenberg.158 Die enge personelle Beteiligung der führenden Aristokraten in einer nach heutigen Maßstäben als Promi-Show erscheinenden Veranstaltung ist ein Indiz für die intensive Beteiligung vieler Adeliger an diesem bürgerlichen Musikverein. Die Ausgangsfrage, ob die Kommunikation zwischen Adeligen und Bürgern eine »musikalische Gemeinschaft« hervorbrachte, kann hier nur mit einem offenen »sowohl als auch« beantwortet werden. Der kollektive Genuss in Opernhäusern und Konzertsälen, die gegenseitige Beobachtung der Adeligen und Bürger brachte keine neue soziale Klasse hervor, nicht einmal eine stabile politische oder wirtschaftliche Interessengemeinschaft. Zu beobachten ist dennoch eine erfolgreiche Verständigung zwischen Hochund Landadel, Wirtschafts- und Bildungsbürgertum. Musikalische Praktiken stifteten Gemeinschaft und konnten soziale Trennlinien in konkreten Situationen nicht auflösen, aber abschwächen. Die Liebhaber der Musik waren gleichzeitig Liebhaber der Gesellschaft, spazierten von Loge zu Loge und stellten sich einander gegenseitig vor wie in einem Salon. Adelige und Bürger nutzten den gleichen kulturellen Apparat, verständigten sich durch Geschmack und Konsum, durch die Sitzordnung als soziales Statussymbol und die elegante Kleidung als Mittel der Repräsentation. Diese Beobachtung relativiert Pierre Bourdieus Einschätzung, wonach Konsum und Freizeitverhalten gleichsam notwendige und kaum austauschbare Produkte einer jeweiligen sozialen Klasse wären. Denn folgt man seinem Habituskonzept, wirkt 157 Vgl. DeNora, Beethoven, bes. 11–36; Botstein, Music and its Public, 287–296; Weber, Music, 90–98; siehe zum Stellenwert der Wiener Opernhäuser Jahn, Hofoper 1836–1848, passim; Antonicek, Biedermeierzeit, in: Gruber, Barock zum Vormärz, 280–304; ders., Musik, 80–82; Gruber, Biedermeier, 83–86. 158 Wien, GMF, 14771/152, 4.4.1830. Vgl. Rummenhöller, Vorklassik.
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keine Praxis stärker klassifizierend, das heißt, die Verhaltensmuster und den Geschmack einer sozialen Gruppe ausdrückend und prägend, als der öffentliche Musikkonsum.159 »Durch die ofte Wiederkehr immer der nämlichen Gesichter bekommt das Concert das Ansehen einer Privatversammlung von lauter Freunden und Bekannten«,160 hieß es 1843 aus Wien. Den gleichen Tenor stimmte die Londoner Presse an und betonte, dass Konsum und Repräsentation die verschiedenen Eliten allabendlich verbanden. »Die Oper … ist zweifelsohne der Tempel der Mode und Exklusivität – sie ist der Ort, an dem sich die ›drei, vier Tausend, für die Gott die Welt geschaffen hat‹, wieder vereinen, der neutrale Boden der hohen Gesellschaft. Hier gehen alle politischen Unterschiede in einander über und werden für die Zeit des Aufenthaltes vergessen; und es ist die Pflicht eines jeden, der zu den verschiedenen Cliquen, in die sich auch die Welt der Mode aufteilt, gehören will, so konziliant wie möglich zu sein.«161 Die Angebote des Musiklebens nutzte die Elite oftmals strategisch und setzte die Schönheit der Musik und den sozialen Rang in Eins. Über diese weitreichende Angleichung vieler Adeliger und Großbürger im Opernhaus hielt eine Autorin aus London fest: »Daraufhin erlebte das Opernhaus beides – eine moralische und eine materielle Veränderung. Obwohl es bis zu einem gewissen Grade immer noch ein Treffpunkt für die gehobenen Schichten bleibt, erscheint die Gesellschaft selbst jetzt vielfältiger und weil ihre Demarkationslinien so oft überschritten wurden, kann niemand sagen, wie lange diese überhaupt noch existieren werden.«162 Nach 1850 verband eine Synthese aus Bildung und Unterhaltung, aus Kunst und Luxus viele Adelige und Bürger. »The opera has ceased to be an aristocratic luxury, and has become a public entertainment.«163 Für jedermann sichtbar war das durch Konsum und Repräsentation gesicherte Zusammenspiel der Eliten im Musikleben. Sie profitierten von ihren kostenintensiven und aufwendig genutzten sozialen Praktiken. Was immer auch für soziale, politische, ökonomische und konfessionelle Unterschiede zwischen Adel und Großbürgertum bestanden, ihnen gelang eine harmonische Inszenierung ihres gesellschaftlichen Ranges im Opern- und Kon159 Vgl. Bourdieu, Unterschiede; bes. 277–286; 355–399; ders., Ursprung, 147–152; ders., Sozialer Sinn, 222-245; ders., Sozialer Raum, 7–46; sowie zur Bestimmung der soziologische Reichweite Gebesmair, Grundzüge, 47–75; Fulcher, Domination, 312–329. 160 NZfM, 19 (1843), 82. 161 Murray, World of London, 156 f. 162 Byrne, Gossip, 53. 163 Zit. n. Hall, Fashionable Acts, 146. Und der SP, 7.3.1840, 230 hielt fest: »The fashionables have now something to vary the round of their tasteless and heartless pastimes. … The Italian opera might be to them an entertainment of a higher and better cast.«
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zerthaus. Im Foyer des königlichen Opernhauses in Berlin zeigte sich nach Meinung der »Illustrirten Zeitung«, dass sich hier jene »Schlucht überbrücke, die einst die Geburts- und Geistesaristokratie, den Adel und die Plutokratie, Christenthum und Judenthum so schroff geschieden. Nichts eint bekanntlich Menschen schneller und nachhaltiger als gemeinsame Interessen. … Nirgends sind die gemeinnützigen Veranstaltungen häufiger und auch besuchter als hier. … Eben der Zweck … eint alle Klassen der Gesellschaft, denen durch gleiche Bildung und Erziehung eine gewisse Parität zusteht.«164
164 IZ, 28.3.1901, 471, 474.
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III. Kulturtransfer in Europa: Die Entwicklung gemeinsamer Repertoires, Ästhetiken, und Geschmäcker Der Kulturtransfer in Europa beschleunigte sich im 19. Jahrhundert. Nicht nur die musikalischen Institutionen, auch die Repertoires der Programme und die Präferenzen des Publikums glichen sich an, weil die gleichen Unternehmer, Sänger und Werke nun europaweit erlebt werden konnten. Polemiken gegen unprofessionelle Orchester, potpourrihafte Konzertprogramme, überteuerte Virtuosen und eine agitierende Claque finden sich zeitversetzt fast in ganz Europa. Dieser Befund erscheint umso erklärungsbedürftiger, wenn man die deutlichen Unterschiede in der Organisation und der sozialen Zusammensetzung des jeweiligen Konzert- und Opernpublikums in den europäischen Städten bedenkt. Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sich etwa seit 1860 ein deutscher Bürger und ein englischer Aristokrat im Konzert und in der Oper ähnlich benahmen und überaus ähnlichen Aufführungen derselben Werke lauschten. Macht man sich auf die Suche nach den – in der Forschung wie im Feuilleton viel zitierten – gemeinsamen europäischen Praktiken, Traditionen und Orten, scheint die Musik eine geradezu ideale Bezugskategorie darzustellen. Musikalische Aufführungen und Praktiken sind damit gleichzeitig komprimierter Ausdruck sowohl der spezifischen Kultur eines Landes als auch gesamteuropäischer Transfers.1 Im Laufe des 19. Jahrhunderts bildete sich ein Standardrepertoire im Spielbetrieb europäischer Metropolen heraus. Außer Mozart und den BelcantoOpern von Vincenzo Bellini und Gaetano Donizetti erfreuten sich Giacomo Meyerbeers Grand Opéra und die Werke Giuseppe Verdis großer Beliebtheit. Und schließlich ist die Rolle der Musikdramen Richard Wagners auch auf diesem Felde kaum zu überschätzen. Seine Werke wurden in ganz Europa durch reisende Opernkompanien, wie etwa die von Angelo Neumann, noch zu Wagners Lebzeiten zwischen London und Petersburg aufgeführt. Die vernichtende Kritik wie die euphorische Verklärung als kulturelle und politi1 Vgl. François, Lieux de mémoire, 290–303; Weber, Mass Culture, 5–21; Borchard, Kulturpolitik, 171–194.
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sche Offenbarung demonstrierten eine neue internationale Bewertung nicht allein von Wagners Werken. Der intensivere und beschleunigte Austausch musikalischer Stilformen zeigte sich ebenso deutlich im Siegeszug der Sinfonien von Ludwig van Beethoven und Johannes Brahms, von Antonin Dvořák und Camille Saint-Saëns. Doch nicht nur die Libretti und Partituren reisten durch Europa, auch die Komponisten selbst, die Virtuosen, Sänger und Dirigenten waren auf dem Kontinent unterwegs. Auch die Städte jenseits der großen Musikzentren London, Paris und Wien wurden durch diesen intensivierten Kulturtransfer erfasst.2 Erklärungsbedürftig sind die zunehmende Ähnlichkeit des Repertoires, der ästhetischen Präferenzen und der Aufführungen selbst. Es waren nicht allein die Opern, die eine gemeinsame Ästhetik der Höfe förderten, oder die Konzertsäle, welche den Zusammenhalt der bildungsbürgerlichen Gesellschaft festigten, sondern der Diskurs über sie. Bedeutsam sind die öffentlichen Debatten über Kunst, Künstler und ihre Kosten. Unabhängig davon, ob sich im Publikumsverhalten oder in den Schriften der Kritiker Zustimmung oder Ablehnung abzeichneten, entscheidend wurde, dass sich ein musikalischer Kommunikationsraum bildete, welcher weite Teile des europäischen Kontinents erreichte. Zu beobachten und zu erklären bleibt, warum sich ähnliche Repertoires und Rezeptionen in Europa entwickelten.3 Die Analyse von Rezeptionsmechanismen, Institutionen und bestimmten Künstlern bietet einen Zugang, um die Veränderung und die Ausrichtung von Kulturtransfers zu untersuchen. Dadurch lassen sich Konvergenzen zwischen verschiedenen Spielstätten zeigen, trotz all der bestehenden Unterschiede in der Organisation und den nationalen Kontexten.4 Das eigentlich Charakteristische beim Wandel der Repertoires und des Publikumsgeschmacks war, dass diese Entwicklung ab etwa 1830 in den großen Metropolen nahezu parallel verlief. Dabei sollte nicht von einem reinen Sender-Empfänger-Modell ausgegangen werden, beispielsweise der Erfolg der Sinfonien Beethovens in Wien als Initialzündung für den Beethovenkult in ganz Europa verstanden werden. Wichtig ist zu bedenken, dass viele musikalische Entwicklungen parallel verliefen, die Verbreitung vieler Werke, Praktiken und Institutionen im Spielbetrieb konvergierten, ohne jemals einem praktisch verwirklichten Entwurf zu folgen.5
2 Vgl. Ther, Mitte; Bereson, Operatic State; Bödeker (Hg.), Le concert et son public; Large/ Weber (Hg.), Wagnerism; Johnson, Beethoven, 23–35; Kramer, Cultural Practice. 3 Michael Walter, in Stachel/Ther (Hg.), Wie europäisch ist die Oper, 11–30. 4 Vgl. zur Definition von Netzwerken Castells, Materials, 5–24. 5 Ther, Mitte und Scott, Sound of the Metropolis.
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Wichtig ist es, den Kulturtransfer nicht nur als symmetrischen oder harmonischen Austauschprozess zu konzipieren, sondern ebenso die Widerstände gegen als fremd und übermächtig wahrgenommene kulturelle Einflüsse zu analysieren. Daher ist zu fragen, in welchem Verhältnis eher spannungsarme zu konfliktreichen Formen des Kulturtransfers standen. Mit Hilfe der Untersuchung des Kulturtransfers zwischen europäischen Gesellschaften lässt sich demonstrieren, dass sich jede »nationale« Teilkultur auf der Ebene der Rezeption kultureller Produkte im Wechselspiel von Austausch und Abgrenzung formiert.6 Ein wichtiges Element der Konvergenz war die Abnahme von Uraufführungen und die wachsende Bedeutung von Klassikern, also Stücken, deren Wert so hoch veranschlagt wurde, dass sich ein Kanon herausbildete. Mit dem Begriff der »Klassik« lässt sich eine neu entstehende Kommunikationsform beschreiben, die zu Normen erhobene ästhetische Leistungen und Werke unterstreicht. Damit war seit der Wende zum 19. Jahrhundert eine Setzung verbunden, welche oft für widersprüchliche Bewertungen situationsund interessengebunden genutzt werden konnte. Die sog. »absolute Musik« etwa der drei Wiener Komponisten Haydn, Mozart und Beethoven wurde von Kritikern wie E. T. A. Hoffmann mit dem Begriff der »Klassik« zusammengebracht. Die Klassik, der musikalische Kanon und die Rezeptionsmuster der Zuhörer entwickelten sich zu einer Konstruktion des Bildungsbürgertums und der middle-class.7 Das Publikum richtete seinen Musikkonsum nach der Aufwertung oder nach der Umwertung des Repertoires aus. Die Zuhörer des 19. Jahrhunderts orientierten sich an bestehenden musikalischen Spielplänen und stritten über mögliche Fortschritts- und Verfallsgeschichten. Anerkennungswürdige Werke und Künstler hatten einerseits die etablierten Formgesetze der Gattung zu erfüllen, andererseits einmalige Strukturen und Überraschungen zu bieten. Ein Maßstäbe setzendes Werk belegte man mit dem Begriff der »Klassik«, einen Virtuosen erhob man zum »Genie«. Die Zeitungsberichte bedienten sich eines üppigen und dabei gleichzeitig stereotypen Rezensionsvokabulars, mit dem sie eine vollendete Schöpfung der »Klassik« postulierten.8
6 Vgl. Werner/Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung; Espagne, limites du comparatisme, 112–121; Paulmann, Internationaler Vergleich, 649–685. 7 Vgl. einige Anmerkungen im Artikel »Klassik« – Wichtig zum langfristigen Umgang mit dem Konzept der »Klassik« sind Kropfinger, Klassik-Rezeption, 301–379; Schulz/Doering, Klassik, bes. 7–22, 95–114. 8 Vgl. Geck, Beethoven, 100–108; ders./Schleuning, Geschrieben, 211–216; und die Beiträge in Goldschmidt/Köhler/Niemann (Hg.), Beethoven-Kongress.
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In vier einzelnen Abschnitten werden in diesem Kapitel die Entstehung musikalischer Konventionen, die Faszination neuer Genres und der Streit um bestimmte Künstler in Europa untersucht. Deutlich werden dabei Lernprozesse mit offenem Ausgang. Zunächst ist zu zeigen, welche Komponisten zu »Klassikern« erkoren wurden und welche Werke die Eliten zur kulturellen Norm erklärten. Warum endete die Suche nach musikalischer Größe darin, das Repertoire zu kanonisieren und zunehmend nur noch die Werke Verstorbener zu spielen? Im zweiten Abschnitt richtet sich der Blick auf die Karrieren erfolgreicher Virtuosinnen und Virtuosen. Was faszinierte das Publikum an diesen Künstlern und warum polemisierten manche gegen deren vermeintliche musikalische Irrwege? Im dritten Abschnitt wird danach gefragt, ob die Suche nach unbekannten ästhetischen Reizen in den Spielstätten und die Faszination für den entlegenen Raum des Orients gezielt zur Legitimation der politischen Ungleichheit zwischen der eigenen und der fremden Welt genutzt wurden. Nach den Deutungen orientalischer Traumlandschaften handelt der vierte Abschnitt von den durch Brände der Opernhäuser in Berlin, London und Wien erzeugten Ängste und Wünsche im Publikum.
1. Werk und Wirkung: Ästhetische Herausforderungen von Beethoven bis Schönberg Zu Beginn des 19. Jahrhunderts suchte das Publikum in Berlin, London und Wien nach neuen musikalischen Reizen. Dieser Erwartungshorizont des Publikums war aber in jeder Hinsicht widersprüchlich. In der Wirkung der musikalischen Werke ist eine Suche nach ästhetischer Disziplinierung und Unruhe, nach sozialer Angleichung und Abgrenzung zu beobachten. Das Publikum erwartete im Repertoire die Erfüllung formaler Prinzipien, gleichzeitig aber auch neuartige Reize. Ästhetische Herausforderungen verursachten Konflikte, und Konflikte erleichterten die Auswahl des Repertoires. Kulturelle Normen verursachen meistens Streit. Zu klären ist daher, inwieweit die Erschaffung der von den Zeitgenossen als »modern« begriffenen Stilformen im 19. und frühen 20. Jahrhundert kulturelle und nationalistische Konflikte provozierte. Um diese Frage zu diskutieren, erfolgt hier eine Konzentration auf bekannte Werke und erfolgreiche Komponisten, weil nur häufig aufgeführte Stücke öffentliche Debatten auslösen konnten. Vor allem geht es um die Definition und die Rezeption der Sinfonien von Beethoven, Schubert, Bruckner und Mahler, der Kompositionen von Wagner, Strauss und Schönberg. Auf der einen Seite werden hier die Verehrung und die Verklärung ausgewählter »Genies« gezeigt, auf der anderen Seite aber 108 | Kulturtransfer in Europa © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
deutlich gemacht, dass die Werke gerade dieser Komponisten Widerwillen und Widerstand in Berlin, London und Wien auslösten. Der Blick auf deren bejubelte – aber oft auch umstrittene – musikalische Schöpfungen bedeutet umgekehrt, die weniger unumstrittenen Komponisten (etwa Weber und Mendelssohn) oder die im Konzertsaal zunächst ohne große Aufmerksamkeit gebliebenen Werke (Spohrs Sinfonien oder Georges Bizets Orchestersuiten) eher am Rande zu betrachten. Die Aufführungen bestimmter Werke wurden zu Ereignissen, die das Publikum nicht nur hören, sondern auch sehen, erleben und fühlen konnte. Die Reizüberflutung überforderte die Musikfreunde nicht nur, sie stimulierte auch die Konzentration auf bestimmte Werke – jedenfalls in vielen Fällen. Mendelssohns Leitung der IX . Sinfonie Beethovens, »dieses überaus langen und complicirten Tongedichts«, bewerteten manche Zeitgenossen kritisch, weil »diese Beethovensche Sinfonie eben so enthusiastische Bewunderer der genialen Erfindung, als Zuhörer finden [dürfte], welche von dem Eindruck des Ganzen mehr betäubt und verwirrt, als befriedigt werden«.9 Umgekehrt aber versetzte der »Ideen-Reichthum« der siebte Sinfonie in A-Dur von Beethoven das Berliner Bürgertum 1828 in Wut. »Das elegische Andante in A moll ist durch die Neuheit der Melodie, die geniale Instrumentierung und den reizenden Mittelsatz in Dur seit der ersten Aufführung dieser colossalen Tondichtung in Wien ein Lieblings-Musikstück aller gebildeten Musikfreunde geworden. … Einen höheren Nerven-Reiz, als dies Rondo, gut ausgeführt, zu hören, giebt es im Bereich des Empfindungs-Vermögens nicht.«10 Und im Pressebericht aus dem Jahre 1846 über Wagners Fliegenden Holländer hieß es, dass bereits die »viel modulierende Ouvertüre« die Zuhörer »überrascht und betäubt«11 habe. Die Überraschung und der »Nervenreiz« resultierten zum großen Teil aus den neuen musikalischen Mitteln. Unter der Vielzahl neuer Klangmöglichkeiten ist die Zunahme an stimmlicher und orchestraler Besetzung, zumal die Ausweitung des Bläserapparates, die höhere Lautstärke und die Ablösung der traditionellen, nach jeder Arie unterbrochenen Nummernoper durch gänzlich durchkomponierte Werke zu beobachten.12 9 HS, 29.3.1844, (Herv. im Orig.). Weiter heißt es hier: »Das sehr lange Adagio enthält vortreffliche Melodien, Modulationen und ganz neue Instrumental-Effecte, ist indes im Ganzen noch schwer verständlich, und zuletzt ermüdend.« Schlusssatz, der »nach einigen sonderbaren Abschweifungen imonirend endet«. Vgl. Dahlhaus, Musik, 125–132; Bauer, Beethoven, 128–157. 10 HS, 9.2.1828. 11 AMZ, 46 (1844), 187–189. 12 Vgl. Döhring/Döhring-Henze, Oper, 282–296, sowie Bermbach/Konold, Entwicklungsgeschichte, 9–28.
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Das Publikum des 19. Jahrhunderts erfand bei der Suche nach großen Kompositionen den Kult um große Komponisten. Musikalische Kenner verwandelten Komponisten immer öfter in Genies. Die Zuschreibungen des Publikums auf diesen Idealtyp sagten wenig über die tatsächlichen Künstler und vieles über ihre bürgerlichen Verehrer. Denn was immer Mendelssohn oder Brahms wirklich für Persönlichkeiten gewesen sein mögen, viele Kenner verwandelten sie in kulturelle Ideale um sich dadurch selbst zu erheben. Die Heroisierung des Genies gelang auch deshalb, weil die Zuhörer sich um die eigene Identifikation und das eigene Erlebnis mühten.13 Formal war der Geniekult wirkungsmächtig, seine kulturelle Reichweite beachtlich – denn der zum Genie erhobene Künstler konnte im Prinzip jedem Bürger alles verheißen. Das Geniebild hatte den Vorzug, nichts konkret zu versprechen, aber wünschbare Ideale zu eröffnen. Denn das Genie überwölbte viele Kategorien: Es war überlegen, transzendent, unabhängig, stark und in besonderem Maße männlich. Gerade das Charisma und die Karrieren von Beethoven und Wagner eigneten sich vorzüglich für einen Kult um ihre titanenhafte Männlichkeit.14
Das Wunder Beethoven – ein schweres Erbe Seit den 1830er-Jahren kam die gebildete musikalische Welt in Europa an einem ihrer Genies nicht vorbei: Ludwig van Beethoven. Nicht nur das Publikum und musizierende Liebhaber, auch viele Komponisten standen in einer ästhetischen Abhängigkeit von diesem kulturellen Ideal. Jenseits seiner kompositorischen Leistungen machte die ideelle Verklärung Beethoven zum vielleicht wichtigsten Mann der Musikfreunde – weil alle solche Angst vor ihm hatten.15 Beethovens Formkonzept, das namentlich in der Sinfonie Monumentalität und Differenziertheit aufeinander bezog, begründete einen Rezeptionsprozess in der Orchestermusik, der ohne ihn wohl erst deutlich später entstanden wäre. Die Konzerte der »Gesellschaft der Musikfreunde« in Wien hatten schon in den ersten beiden Dekaden ihres Bestehens zwischen 1815 und 1835 regelmäßig Beethovens Kompositionen auf dem Programm. Fast jedes 13 Vgl. Samson, Composer, 259–269; Knittel, Construction, 118–131; Dahlhaus, Musik, 125–132; Beller-McKenna, Deutsch, 3–19. 14 Vgl. Borchard, Beethoven, 65–83; Bauer, Beethoven, 173–201; Newman, Beethoven Mys tique, 354–387. 15 Vgl. Kunze, Beethoven, vii-xviii; Geck, Beethoven, 100–108; Buch, Beethovens Neunte, 127 ff.
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Konzert wurde in diesem Zeitraum mit einer Sinfonie begonnen, jede zweite oder dritte Aufführung immerhin mit einer Beethoven-Sinfonie.16 Das Publikum konzentrierte sich besonders auf die Gegensätze und die Kontraste in seinen Werken. Durch ihre Auswahl der Sinfonien veränderten Beethovens Verehrer sein Schaffen. Die Zuhörer reduzierten den Stellenwert Beethovens im europäischen Konzertrepertoire auf eine überschaubare Anzahl seiner als »ernst« rezipierten Werke und ignorierten die vermeintlich »heiteren« Produkte. Die ungraden Sinfonien – das heißt die Nummern drei, fünf, sieben und neun – sowie die drei letzten Klavierkonzerte und Fidelio ließen sich durch dieses Wertesystem leichter begreifen als das Violinkonzert oder die frühen Streichquartette.17 Ludwig van Beethoven ist vielleicht mit Ausnahme Richard Wagners der einzige Komponist, über den die musikalische Gesellschaft in Europa nicht zur Ruhe kam. Gerade nach Beethovens Tod holte sich die Öffentlichkeit den Vergangenen in ihre Gegenwart zurück. Die Rituale und Zeremonien musikalischer Mythen verklärten den Komponisten zum Herrn der Kulturordnung. Denn politisch konnte man ihn nicht unparteiisch bewerten. In der Mitte des 19. Jahrhunderts ist eine staunenswerte Anzahl an mächtigen Bewunderern, aber ein beschämender Mangel an kritischen Interpretationen zu entdecken. Monarchen und Präsidenten, Unternehmer und Kleriker, Bürger und Adelige, Linke und Rechte – sie alle nutzten das »Genie« als Quelle beschönigender Deutungen. Beethovens Präsenz entstammte einem Netzwerk der Erinnerungen und Erzählungen, der Erlebnisse und Erfindungen. Das Fest um die Enthüllung seines Denkmals in Bonn 1845 belegt, wie früh Beethoven zu einem Mythos der europäischen Kulturgeschichte wurde. Franz Liszt und Louis Spohr hatten sich lange nicht nur um die Mittel für das Denkmal, sondern auch um die Organisation eines mehrtägigen Staatsfestes bemüht. Liszt dirigierte in der neuen Bonner Beethovenhalle seine »Kantate zur Inauguration des Beethoven-Monumentes«, Spohr sekundierte durch Aufführungen der »Missa Solemnis« und der IX . Sinfonie. Die angereisten Musikliebhaber, Geschäftsleute und Journalisten erbauten sich hier als Gläubige an einer kultischen Feier. Bedauerlicherweise erschienen die aristokratischen Gäste, König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, Königin Victoria und Prinz Albert von Großbritannien, erst in dem Moment, als Liszt seine Kantate zum Ende gebracht hatte. Das Publikum entschied sich dafür,
16 Wien, GMF, 2712/47. 17 Vgl. Knittel, Construction, 136–139; Bonds, Music.
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»God save the Queen« stehend zu singen, und Liszt dirigierte die BeethovenKantate noch einmal von vorne.18 Den Glanzpunkt setzte der Besuch des europäischen Hochadels zur Denkmalsenthüllung am folgenden Tag. König Friedrich Wilhelm IV. und Königin Victoria nahmen beide auf dem Balkon des Palais des Grafen Fürstenberg mit ihrem Hofstaat Platz. Die britische Königin ließ den Stoff, der das Denkmal verhüllte, fallen – und ärgerte sich dann doch. Denn sie musste feststellen, dass das zum Monument geformte Genie ihr seine Rückseite präsentierte. Offenbar hatte keiner der Zeremonienmeister bemerkt, dass das verhüllte Denkmal von den Monarchen weg, gerade nach der gegenüberliegenden Seite ausgerichtet war. Beethoven blieb eben auch nach seinem Tode ein widerspenstiger Einzelgänger.19 Bereits 1818 verglich die »Allgemeine Musikalische Zeitung« die Schönheiten von Beethovens siebte Sinfonie mit dem Werk eines Gottes. Die Verklärung relativierte jede Autonomie der Ästhetik. Denn diese Schöpfung erlaube »den Blick der Welt auf eine Riesenarbeit … die – der Stolz der Gegenwart – das Erstaunen und den Neid unserer Nachkommen erwecken muss, die nicht geboren – erschaffen ward, und – gleich Minerven – nur dem Gehirne eines Gottes entspringen konnte«.20 Der Geniekult bediente den Reiz musikalischer Aufführungen und diese wiederum den Geniekult. Die Uraufführung der IX . Sinfonie in Wien 1824 begeisterte das Publikum und die Kritiker gleichermaßen, denn die Größe des Genies war nun für alle Anwesenden selbst zu erleben: »Das Scherzo trat durch die Genialität, mit welcher Beethovens Geist sich hier bewegt, über alle anderen Sätze hervor. … Die Exekution dieses Tonstücks wurde von den enthusiastischen Ausrufungen des Publikums mehrfach unterbrochen.« Das Publikum habe Beethoven freudig empfangen, »hörte seine wundervollen, gigantischen Schöpfungen mit der gespanntesten Aufmerksamkeit an, und brach oft während den Theilen, nach jedem derselben aber widerholtermahlen in jubelnden Beyfall aus. … Der sehnlichste Wunsch eines zahlreichen Publikums geht wohl dahin, diese Kunstwerke, welche das Göttliche in der Menschennatur so herrlich offenbaren, bald wieder zu hören; möchte er in Erfüllung gehen!«21 18 IZ, 20.9.1845, 182. 19 Aufschlussreich sind auch die Zeitungsausschnitte im Londoner Royal College of Music, MS 1163, August 1845; sowie in der IZ, 23.8.1845, 124 f.; ebd., 20.9.1845, 179–182. Vgl. zum Ablauf des Rituals in Bonn Young, Beethoven, bes. 42–76; Buch, Beethovens Neunte, 161–190. 20 AMZ, 17.1.1818 (Herv. im Orig.). 21 Sammler, 18.5.1824, 240; AWT, 13.5.1824. Vgl. die Beiträge in Ulm (Hg.), Symphonien Beethovens, bes. 246–263.
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Abb. 8: Viele Besucher feierten die Enthüllung des Beethoven-Denkmals auf dem Bonner Münsterplatz durch Königin Victoria 1845.
Die Komponistengeneration nach Beethoven richtete ihre neu geschaffenen Sinfonien an dem Modell Beethovens aus. Viele versuchten, die thematische Konzentration im Sonatenhauptsatz, die Kontrastierung dynamischer und harmonischer Gegensätze, vor allem die konsequente Entwicklung des Werkes in einem formalen Spannungsbogen zu verwirklichen. Spohr und Dvořák, Bruckner und Mahler fürchteten sich bei der Komposition ihrer neunten Sinfonien. Bemerkenswert waren nicht nur der Glaube der Konzertbesucher und der Feuilletonleser, sondern auch die persönlichen Ängste vieler Komponisten: Die Niederschrift »der Neunten« bedrohe jeden Schöpfer mit dem Tod. Dvořák weigerte sich nach der Vollendung seiner neunten Sinfonie (e-moll), eine weitere zu schreiben, und komponierte stattdessen »sinfonische Dichtungen«. Bruckner rang viele Jahre um den Finalsatz seiner neunten Sinfonie (in d-moll, in der gleichen Tonart wie die IX . Beethovens) und hoffte, diese als gläubiger Katholik dem »lieben Gott« (dem christlichen, nicht Beethoven) zu schenken. Bei seinem Tod hinterließ er das Werk unvollendet. Mahler schließlich, von Angst und Schöpfungskraft gleichermaßen besessen, unternahm 1909/10 den Versuch, seine neunte und zehnte SinWerk und Wirkung | 113 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
fonie in einem Zug hintereinander zu erschaffen. Die zehnte Sinfonie blieb unvollendet.22 Arnold Schönberg schrieb in seinem Nachruf auf Gustav Mahler 1912, dass es auch in Zukunft keinem Komponisten gelingen werde, eine zehnte Sinfonie zu schreiben. Eine zehnte gehe nicht nur über die künstlerischen, sie gehe über die menschlichen Möglichkeiten hinaus. »Was seine Zehnte … sagen sollte, das werden wir so wenig erfahren wie bei Beethoven und Bruckner. Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muss fort. Es sieht so aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden sollte, was wir noch nicht wissen sollen, wofür wir noch nicht reif sind. Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits nahe. Vielleicht wären die Rätsel dieser Welt gelöst, wenn einer von denen, die es wissen, die Zehnte schrieb. Und das soll wohl nicht so sein.«23 Beethoven hatte ein sinfonisches Erbe hinterlassen, das Experten und Laien gleichermaßen als übermächtig empfanden. Seine IX . galt als Gipfelpunkt, wenn nicht gar als Schlussstein der Gattung. Richard Wagner glaubte, dass der Rang von Beethovens letzter Sinfonie jeden kompositorischen Fortschritt im herkömmlichen Sinne ausschließe und nur ein Kunstwerk der Zukunft – sein Kunstwerk – der musikalischen Ästhetik neue Horizonte eröffne. Dieses Werk »ist das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft. Auf sie ist kein Fortschritt möglich, denn auf sie unmittelbar kann nur das vollendete Kunstwerk der Zukunft, das allgemeinsame Drama, folgen, zu dem Beethoven uns den künstlerischen Schlüssel geschmiedet hat«.24 Und in Beethovens machtlosen Nachfolgern erkannte Wagner »Menschen, die uns auf eine oft reizend umständliche Weise mitteilen, daß sie uns nichts zu sagen haben«.25 Zu Beethovens Beisetzung verfasste Franz Grillparzer eine Rede, die der Hofschauspieler Heinrich Anschütz den zahllosen Trauernden entgegenschleuderte: »Ein Künstler war er, und wer steht auf neben ihm? … Alles hatte er durchmessen, Alles erfaßt. Der nach ihm kommt, wird nicht fortsetzen, er wird anfangen müssen, denn sein Vorgänger hörte nur auf, wo die Kunst aufhört.«26 Genau deshalb wollten viele jüngere Komponisten mit ih22 Gustav Mahlers Briefe, hg v. Blaukopf. Vgl. Hansen, Mahler; Ulm (Hg.), Mahlers Symphonien; Floros, Bruckner; Ulm (Hg.), Symphonien Bruckners. 23 Schönberg, Prager Rede, 55 f. Vgl. Ulm (Hg.), Mahler, 289–299. 24 Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, Gesammelte Schriften Bd. 3, 42–177 (Zit. 96, Herv. im Orig). Vgl. Volbach, Deutsche Musik, 101–132. 25 Wagner, Oper und Drama, Gesammelte Schriften, Bd. 3, 282. Vgl. zur kulturellen Politisierung Beethovens, Dennis, Beethoven in German Politics, bes. 1–31; sowie die Beiträge in Loos (Hg.), Beethoven und die Nachwelt. 26 Zit. n. Beethoven-Haus Bonn, Drei Begräbnisse, 116 (Herv. im Orig.).
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rer Arbeit aufhören, bevor sie angefangen hatten. Der romantische Beethoven-Mythos verbreitete die mächtigen Bilder eines zornigen, kompromisslosen und nur dem Allerhöchsten unterstehenden Genies. Auch Johannes Brahms fürchtete, dass sich eine Sinfonie nach Beethoven kaum noch erschaffen lasse. Denn dieser Titan habe diese Gattung bereits zur Vollendung geführt, was sollte da noch folgen? An der Grenze der Resignation hielt er in einem Gespräch mit dem Dirigenten Hermann Levi fest: »Ich werde nie eine Symphonie komponieren! Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört. … Ach Gott, wenn man wagt, nach Beethoven Sinfonien zu schreiben, so müssen sie ganz anders aussehen.«27 Gleichsam inkonsequent und konsequent zugleich erhob der Dirigent Hans von Bülow die 1876 uraufgeführte erste Sinfonie in c-moll von Brahms zur zehnten Sinfonie Beethovens. Im Hauptthema des letzten Satzes griff Brahms auf die Melodie und die Harmonie des Finales der IX . Sinfonie zurück. Erklärungsbedürftig bleibt hierbei aber die Frage, warum nur eine relativ überschaubare Menge von Komponisten zu Heroen erhoben wurde. Der Ruhm Beethovens und Wagners erreichte eine mythische Größe, aber die Reputation Haydns und Mendelssohns war weit geringer. 1841 schrieb Robert Schumann, man begegne zwar Haydn noch anerkennend, aber »tieferes Interesse hat er für die Jetztzeit nicht mehr«.28 Im Jahr zuvor, 1840, hielt Schumann in seiner »Neuen Zeitschrift für Musik« dagegen seine verklärende Sicht auf den Freund Felix Mendelssohn Bartholdy fest: »Er ist der Mozart des 19. Jahrhunderts, der hellste Musiker, der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut und zuerst versöhnt.«29 Doch den Meister der Gegenwart in den Rang Mozarts zu erheben, konnte für viele bedeuten, ihn zu einem Meister der Vergangenheit zu erklären. Genau die Sprache Schumanns zeigt, dass es oft die als vollkommen bewerteten Komponisten waren, deren Erfolge das Publikum als unvollkommen, weil zu leichtfertig, abwertete. Das Publikum bevorzugte weniger den musikalischen Gehalt der meisten Kompositionen als die eigenen, über Jahre und Jahrzehnte hinweg regelmäßig erzeugten Wunschbilder. Ausgerechnet der Vergleich mit Beethoven diente regelmäßig zur Abwertung zeitgenössischer Komponisten. Der »Examiner« lobte beispielsweise 1831 in London zunächst eine orchestral auffällige und lautstarke Darbietung der fünften Sinfonie in c-moll und berichtete, dass sich dadurch viele der Zuhörer begeistert von ihren Plätzen erhoben hät27 Zit. n. Kross, Brahms, Bd. 2, 732. 28 Zit. n. Dahlhaus, Musik, 26. 29 NZfM, 13 (1840), 198. Vgl. Todd, Mendelssohn, 347–386, 104–112; insges. Geck, Schumann, bes. 191–224.
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ten. Im gleichen Konzert der Philharmonic Society folgte darauf aber noch eine weitere Sinfonie in c-moll, die fünfte Sinfonie von Louis Spohr. Nach Meinung des Blattes sei diese gut ausgeführt, verfüge aber im Vergleich zu Beethoven eben über keine guten Orchestereffekte. Spohr habe sich zu deutlich am vergangenen Stil Mozarts orientiert und die heutzutage erwünschte Form der Sinfonie nicht erfüllen können. »The score is too crowded with small points and imitations. … In the colossal symphonies of Beethoven we have those great masses.«30
Wagner und die Wagnerianer – Der Erfolg einer Marke Manchen Komponisten gelang es, in ihren Werken der Erwartungshaltung des Publikums zu entsprechen – wenigen sogar, selbst die Ideale und Sehnsüchte der Kunstfreunde zu erzeugen. Der in Europa vielleicht erfolgreichste Schöpfer seiner Werke und Visionen in der Gesellschaft nach Beethoven war Richard Wagner. Denn was immer seine Anhänger diesem auch Wunderbares zuschrieben – Wagner machte sich selbst zum Mythos. Wagner wurde auch deshalb zum Propheten neuer Klang- und Ausdrucksmöglichkeiten, weil er Musikdramen schuf, in denen er sich mit der Welt identisch machte. Seine Eitelkeit überstieg jede Vorstellungskraft; staunenswert war seine Fähigkeit, unerhörte Summen für sich zu erbetteln, die er nur in Ausnahmefällen zurückgab. Wahrscheinlich hat er seine Umwelt und die ihn umgebenden Menschen allein in Bezug auf sich selbst betrachtet. Ihn interessierte letztlich nur das, was er dachte und tat. Sein Künstlerleben konzentrierte er auf seine Interessen, Werte und Werke, in denen er versuchte, das menschliche Sein zu überwölben. Und das Erstaunliche war wohl, dass seine zunächst wenigen, dann zahlreichen und schließlich zahllosen Verehrer sich Wagners Wunderwelt anschlossen. Weder waren sich die Karikaturisten noch das Publikum darin einig, ob sie Wagners Ruhm überhaupt noch erfassen konnten.31 Das zeigt diese Karikatur im »Simplicissimus« anlässlich seines 100. Geburtstags. »Vielleicht ist sein Charakter dabei im Spiel«, notierte die Amerikanerin Amy Fay ärgerlich, »denn er hat alle Gesetze der Ehre, Dankbarkeit und Moral sein Leben lang außer Cours gesetzt. … Hier zu Lande vergibt man je-
30 EX, 5.6.1831. 31 Vgl. Müller, Wagner; Veltzke, Mythos; ders., Patron; Taylor, Das Monstrum; Dellin, Wagner, bes. 523–814; Carr, Wagner-Clan, bes. 13–128; sowie die Beiträge in Müller (Hg.), Richard Wagner. Vgl. die werkimmanente Gegenposition von Petra Wilberg, Mythische Welt, bes. 225–262.
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Abb. 9: Karikatur im »Simplicissimus« über die Verklärung Richard Wagners in der deutschen Öffentlichkeit aus Anlass seines einhundertsten Geburtstags 1913.
doch der Kühnheit und dem Genie alles, und ich muß sagen: können wir von Deutschland Musik – so kann Deutschland von uns Moral lernen!«32 Der Wagnerismus war eine kulturelle europäische Bewegung, die über die Liebe zu Wagners Musik weit hinausreichte. Die kulturelle Präsenz Wagners bewunderten manche Zeitgenossen, und andere, wie Karl Marx, hassten das politische »Bayreuther Narrenfest« dieses »neudeutsch-preußischen Reichsmusikanten«. »Allüberall«, schrieb Marx 1876 an seine Tochter Jenny, »wird
32 Fay, Musikstudien, 74.
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man jetzt mit der Frage gequält: ›Was denken Sie von Wagner?‹«33 Wagners universales Musikkonzept erlaubte die Aneignung seiner Musikdramen in zahlreichen europäischen Gesellschaften. Über die Aufführung der Walküre in Wien schrieb die Presse: »Der Prophet kommt zum Berge, und Bayreuth, nachdem es Europa bei sich zu Gaste gesehen, begibt sich nun selbst auf die Wanderschaft nach Europa.«34 Wie immer Wagners Kritiker ihn auch abwerteten, die Neuheit seiner Ästhetik beherrschte die Debatten von London bis Lemberg. Am Ende des 19. Jahrhunderts war seine zukunftsweisende Musik längst zum etablierten Bestandteil europäischer Musikkultur mutiert. Und wenn Wagners Gegner dessen Werk als kulturelle Belastung diffamierten, warben seine Anhänger für einen notwendigen Lernprozess, der dem Hörer nur durch professionelles Studium musikalischen Genuss ermögliche. Der amerikanische Autor Mark Twain litt unter den Klängen Wagners. Auf seiner Europareise besuchte er das Opernhaus in Mannheim und erlebte eine Aufführung des Lohengrin. Er polemisierte trefflich gegen die zu Lasten der endlosen Erzählungen fast vollständig fehlende Handlung. Er habe körperlich gelitten – dann aber hörte er den Brautzug im dritten Akt. »Das war Musik für mein ungebildetes Ohr – geradezu göttliche Musik. … Es schien mir, daß ich die Qualen, die ihnen vorausgegangen waren, fast noch einmal würde erdulden mögen, um abermals so geheilt zu werden.«35 Was als Inbegriff radikaler Modernität begonnen hatte, avancierte zum musikdramatischen Standard. Positiv gewendet, befand die »Illustrated London News«: »The cry ›Music of the Future‹ is no longer heard, for the simple and sufficient reason that the master’s works now belong to the Music of the Present.«36 Auch wenn die Gefolgsleute des Bayreuther Meisters ihn bereits seit den 1850er-Jahren zum »Musiker der Zukunft« erhoben,37 verweist der Wagnerismus eher auf den Personenkult seiner Zeitgenossen. Gleich Beethoven war es gerade das Publikum, das – ungeachtet Wagners eigener lebenslanger Selbstinszenierung – die Geschichte seiner Bühnenhandlung, seine komposi 33 Zit. n. Nike Wagner, Über Wagner, 84 f. »Die ganze musikalische Welt ist in Streit über Wagner«, resümierte Amy Fay, Musikstudien, 68. »Die eine Hälfte ist auf seiner Seite und erklärt; daß er in Zukunft mit Mozart und Beethoven in einer Reihe stehen werde, die andere Hälfte bilden seine erbitterten Gegner; sie sagen, er schreibe nichts als Dissonanzen und sei auf gänzlich falschem Wege.« Vgl. die Karikatur der IZ, 13.2.1908; sowie Large/Weber, Introduction, 15–27. 34 NFP, 7.3.1877 (M). Vgl. das Spektrum des Wagnerkultes in den Beiträgen von Croll (Hg.), Wagner. 35 Twain, Europa, 67. 36 ILN, 18.6.1892, 747. Vgl. AT, 11.6.1892, 769 f., und bereits MP, 25.7.1870; sowie Döhring/ Henze-Döhring, Oper, 282–296, und die Beiträge in Bermbach/Konold (Hg.), Der schöne Abglanz. 37 Kladderadatsch, 13.1.1856, 7.
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torische und instrumentelle Verfeinerung goutierte. Aus London berichtete die »Morning Post« 1882 über eine Aufführung des Rheingoldes, welche alle Sinne befriedigte: »Alles wirkte neu und faszinierend. Als sich nach dem Vorspiel der Vorhang öffnete und den Blick auf die wunderschöne Szenerie am Grund des Flusses preisgab, auf die Nixen oder Rheintöchter, die auf der Flut daherglitten, ging ein anerkennendes Raunen durch das Publikum – aber nicht mehr als das, da alle vom Verlauf der Geschichte wie gebannt waren. … Wagner’s Stimmen sind Instrumente mit Verstand. Seine Instrumente sind Stimmen, die dabei helfen, Gedanken auszudrücken.«38 Wagner selbst reiste in mehrere Städte in Europa, um sein Werk und sein Budget zu retten. Am 1. Mai 1877 traf der Meister mit seinem »Hofstaat« in London ein. Die Stadt hatte sich vollends zum politischen und wirtschaftlichen Zentrum eines Weltreiches gewandelt. Nach einem Besuch der riesigen Londoner Dockanlagen zog Wagner eine Parallele zwischen der industriellen britischen Weltmacht und seiner Verzerrung derselben im Rheingold. Cosima notierte seinen Ausspruch: »Der Traum Alberichs ist hier erfüllt, Nibelheim, Weltherrschaft, Tätigkeit, Arbeit, überall der Druck des Dampfes und Nebel. – Abends Tannhäuser italienisch! O! … alles schrecklich.«39 Seine Ankunft in London war eine mittlere Sensation. Die Presse kündigte den Auftritt des berühmten, berüchtigten, spleenigen, in jedem Fall hochinteressanten Herrn aus Deutschland Wochen vorher an. Die Erwartungen waren hoch, ein Festival allein mit Opernszenen, Ouvertüren und Märschen Wagners angesetzt. Acht Konzerte leitete Wagner zwischen dem 7. und 29. Mai. 1877 – die letzten beiden Abende zu ermäßigten Preisen, denn die 8.000 Plätze der riesigen Londoner Royal Albert Hall waren nicht leicht zu verkaufen. Der finanzielle Gewinn fiel auch deshalb insgesamt bescheiden aus. Wagners Freunde hatten ein gewaltiges Orchester von 169 Musikern auf die Beine gestellt, doch selbst diese Anzahl genügte kaum, um den gewaltigen Dom dieser Halle akustisch zu füllen. Ihren Glanz bekam diese Konzertreihe nur durch die öffentliche Inszenierung. Denn Wagner selbst verstand kaum Englisch und hatte Probleme, den Musikern seine Vorstellungen zu vermitteln. Erschöpft überließ er die zweite Hälfte an jedem Abend dem Dirigenten Hans Richter. Da das Publikum aber zahlte, um den »Meister« selbst zu hören und zu sehen, saß dieser in der zweiten Konzerthälfte auf
38 MP, 6.5.1882. Vgl. die freundliche Distanz von George Bernhard Shaw, The Perfecte Wagnerite. 39 Cosima Wagner, Tagebücher, Bd. 2, 1052. Vgl. Schieder, Wagner, 571–598; Dahlhaus/Deathridge, Wagner; Dahlhaus, Wagners Konzeption.
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offener Bühne neben dem Orchester in einem thronähnlichen Sessel und genoss seine eigene Musik.40 Eduard Hanslick, in diesen Jahren ein engagierter Verfechter der Musik von Johannes Brahms und ein entschiedener Kritiker der Werke Richard Wagners, berichtete streng über diese monumentale Inszenierung in der Royal Albert Hall. »Eine irrige Prophezeiung. Ich sah jetzt, wie Wagnersche Opernmusik in der entsetzlichsten Form als Konzert von dem Londoner Publikum mit einer Ausdauer und Geduld genossen wird, die geradezu bewunderungswürdig ist. … Sie als Konzert anzuhören, ist eine Verkehrtheit und eine Marter. Das Liebesduett, das der kahlköpfige, brillenbewaffnete Tristan und die modern frisierte Isolde steif aus ihren Notenblättern absangen, wirkte geradezu komisch. Ob der andächtige Ernst, mit dem die Engländer diese Parodie zu sich nahmen, ein Zeichen ihrer fortgeschrittenen musikalischen Bildung sei, möchte ich fast bezweifeln. … Natürlich hat die Mode auch ein starkes Wort mitzusprechen, und Wagner ist die neueste Mode.«41 Anlässlich der ersten Bayreuther Festspiele 1876 kamen die Kaiser Wilhelm I. und Dom Pedro II. von Brasilien. König Ludwig II. von Bayern erschien erst zum dritten Zyklus des Rings, weil er niemanden treffen wollte. Richard Wagner gab sich die Ehre, den Deutschen Kaiser selbst am Bahnhof »mit einem gewissen Ausdruck der Gleichberechtigung« zu begrüßen.42 Das Musikdrama erhob das Genie in den Rang eines tonangebenden Aristokraten. Es war Wagner selbst, der in seiner gewohnten Bescheidenheit im Rückblick auf die Bayreuther Festspiele 1876 seinen Ruhm auf den Punkt brachte. »Es scheint sehr wahrhaftig, daß so noch nie ein Künstler geehrt worden sei, denn hatte man erlebt, daß ein solcher zu Kaiser und Fürsten berufen worden war, so konnte doch niemand sich erinnern, daß je Kaiser und Fürsten zu ihnen gekommen seien.«43 König Ludwig II. verehrte Richard Wagners Musikdrama und sehnte sich gleichzeitig persönlich nach ihm. Er rettete Wagner vor dem finanziellen Bankrott, gab ihm in München zeitweilig eine künstlerische Heimat und schmeichelte ihm beispielsweise dadurch, dass der Komponist anlässlich der Premiere der Meistersinger von Nürnberg 1868 an seiner Seite in der Königsloge des Nationaltheaters sitzen durfte. Nur selten erwiderte Richard Wagner diese künstlerische Liebe. Er betrachtete Ludwig II. nicht nur als seinen 40 Vgl. ILN, 12.5.1877, 443: The Wagner Festival; sowie Sessa, Shrine, 246–277; und zur Reichweite des »Meister«-Begriffs in der Verdirezeption in Deutschland; Kreuzer, Verdi, 132–137. 41 Hanslick, Leben, 371 f. 42 von Albedyll-Alten, Hannover und Preußen, 291. 43 Zit. n. Gregor-Dellin, Wagner, 716. Vgl. Weber, Das Bild Richard Wagners.
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Förderer, sondern auch als seinen Problemfall. Ohne jemals auf die königliche Alimentation und seinen politischen Einfluss in München verzichten zu wollen, befremdete ihn Ludwigs Verweigerung, auf großer Bühne zu agieren, und dessen Flucht in transzendentale Visionen. Die Reise des Königs kam einer Götterdämmerung näher als einem Rheingold.44 Auch Wagners Besuche in Berlin in den Jahren 1871 und 1881 glichen einer musikalischen Aufregung mit dem Nimbus einer Hofhaltung. Die Menge drängte in den Saal der Singakademie, stritt um die verbliebenen 1.000 Plätze und stand oft auf den Zehenspitzen, um Wagner überhaupt sehen zu können. Viele im Publikum erhoben sich, die Menschen schrien »Hoch« und das Orchester begrüßte den Komponisten mit einem dreimaligen Tusch. Wagners Nichte schritt die Estrade herunter, überreichte ihm einen Lorbeerkranz und küsste ihn. Bei seinem Konzert im Opernhaus wählte Wagner ein von ihm selbst dirigiertes Programm aus, welches nur aus seinen eigenen Werken bestand – bezeichnenderweise nur ergänzt um die fünfte Sinfonie in c-moll von Beethoven, »von der er sagte, daß Niemand außer ihm sie verstände«.45 Nur das Genie verstand eben das Genie. Allenfalls Anton Bruckner verstand das Genie Richard Wagner auf eine Weise, die selbst diesen einigermaßen befriedigt haben dürfte. Bruckner erschien praktisch frei von jedem künstlerischen Selbstbewusstsein und richtete sich innerhalb der hierarchischen Ordnung seiner Zeit ein, indem er sich gegenüber allen Aristokraten und Erzherzögen devot benahm. Richard Wagner aber verehrte er bis zur körperlichen Unterwürfigkeit. Wagner empfing ihn 1882 in Bayreuth und fragte ihn, wie ihm denn der Parsifal gefallen habe. Bruckners Reaktion erstaunte Wagner tatsächlich, denn sein Gast fiel vor allen Anwesenden auf die Knie, ergriff küssend Wagners Hand und erklärte: »O Meister, ich bethe Sie an!« Der Meister suchte sich aus dieser auch für ihn peinlichen Abhängigkeit zu befreien und verabschiedete sich beruhigend mit den Worten: »Nur ruhig – Bruckner – gute Nacht!«46 Selbstredend rief ein derartiger Enthusiasmus Widerspruch hervor. Kluge Kritiker wie Daniel Spitzer polemisierten brillant gegen die kindliche Publikumsverehrung der Werke Wagners: »Weh, wie wenig Wonne ward mir wanderndem Wiener Spazierwalt durch Wagners ›Walküre‹! … Alles war 44 Vgl. zum Verhältnis zwischen Wagner und Ludwig II.: Naegele, Parsifals Mission, bes. 153–226; Müller, Wagner, 120–126; insges. Grey, Selbstbehauptung, 303–325; Gregor- Dellin, Wagner, bes. 523–814. 45 Vgl. Fay, Musikstudien, 70–74. Zit. 73. Vgl. Wagners Eloge »Eine Pilgerfahrt zu Beethoven«, in: ders., Deutscher Musiker, 7–35. 46 Vgl. Ulm (Hg.), Bruckner, 109–116, 208–212 (Zit. 110); sowie zur Persönlichkeit dieses Komponisten Floros, Bruckner.
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wahnsinnig: der Text, die Musik, die Wagnerianer und die Eintrittspreise. … Die Wagnerianer … haben in der Klatschkunst nach dem Muster der unendlichen Melodie den unendlichen Applaus geschaffen. … Die Wagnerianer waren ganz weg vor Entzücken, und ich war auch ganz entzückt, als ich weg war.«47 Die Deutungsoffenheit der Wagnerschen Kunstform verursachte seit dem späten 19. Jahrhundert politische Konflikte. Im Zeitalter innenpolitischer Krisen und außenpolitischer Ambitionen passte sich das Bild vom »Deutschen« Richard Wagner beängstigend gut in die nationalistischen Öffentlichkeiten in Europa ein. Zumal nach der Entstehung des Deutschen Kaiserreiches 1871 gewann der Wagnerismus einen nationalistischen Stellenwert in deutschsprachigen Ländern. Ein ähnliches politisches Bekenntnis war in Großbritannien zu entdecken, während die französische Rezeption Wagners die eigene große Operntradition und den Zorn auf den verlorenen Krieg gegen Deutschland in Rechnung stellte. Mit anderen Worten: Politisch ließ sich Wagner nicht neutral bewerten. Die Musikfreunde liebten oder hassten ihn. Er war eine Quelle affirmativer und diffamierender nationalistischer Deutungen – im 19. Jahrhundert in Europa und im 20. Jahrhundert in der ganzen Welt. Gerade die emotionalen Deutungen seines Werkes setzten Gefolgsleute und Kritiker strategisch ein, um ihre kulturellen Interessen, ja ihre gesellschaftlichen Weltbilder durch immer schärfere Polemiken durchzusetzen.48 Der Konzertauftritt des französischen Komponisten Camille Saint-Saëns 1886 in Berlin eignet sich trefflich, um den politischen Kulturkonflikt zwischen deutscher und französischer Größe zu zeigen. Im philharmonischen Gesellschaftskonzert war Saint-Saëns ein von manchen Zuschauern unerwünschter Franzose. Die Presse hatte Tage vorher Berichte über dessen Kunstauffassung verbreitet, vor allem seine Stellungnahme zu Wagners Opern. In der Zeitschrift »La France« bezog er unmittelbar vor seiner Deutschlandreise Stellung gegen eine Aufführung des Lohengrin in Paris. Wichtiger, als diese deutsche Musik vergangener Tage zu spielen, meinte Saint-Saëns, sei es, neue Musik zu fördern. Der Komponist profilierte sich mithin öffentlich als geschäftsorientierter Kulturmanager. Manche patriotischen Berliner Hörer vergaßen ihm das nicht. »So kam es gestern zu einer Demonstration gegen Herrn Saint-Saëns, die zugleich die Direction dieser Concerte belehrt haben dürfte, daß sie taktvoller gehandelt hätte, … das Auftreten des Genannten zu vertagen. … Herr Saint-Saëns 47 Daniel Spitzer, Die Walküre, Wien 1877, zit. n. Hering (Hg.), Meister, 264–270. 48 Vgl. zur Politik- und Emotionsgeschichte der Rezeption Wagners in Europa Müller, Wagner, bes. 90–100.
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hatte sich bereits an das Pianoforte gesetzt … als das bei seinem Erscheinen herrschende Stillschweigen durch den ungeschickten Versuch einiger Anwesenden, ihn mit Applaus zu bewillkommnen, unterbrochen wurde. … Mit Zischen, Pfeifen, lautem Gejohle und den Rufen: ›Lohengrin!‹ wurde dem Beifallsklatschen ungestüm begegnet. Es dauerte eine Zeit, bis dieser Lärm sich legte; endlich konnten das Orchester und der Pianist in Aktion treten.« Die Mehrheit schwieg am Ende oder applaudierte zurückhaltend. Mitten in seinem hier von ihm selbst aufgeführten 4. Klavierkonzert c-moll aber setzte das Zischen wieder ein. Saint-Saëns wählte eine Niederlage mit Stil. Er bewahrte gegenüber der lautstarken Opposition stets die Ruhe und suchte das zu spielen, was möglich war.49 In spöttischer Distanz zum musikalischen Nationalismus urteilte Friedrich Nietzsche: »Aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die … von dieser Cultur als das Schrecklich-Unerklärliche, als das Uebermächtig-Feindselige empfunden wird: die deutsche Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben.«50
Großbritannien entdeckt seine eigenen musikalischen Helden Das nationalistisch bewertete Repertoire ließ sich gleichzeitig negativ und positiv politisieren. Die Suche nach großer Musik und großen Komponisten bedurfte gerade dann zunehmend der Idealisierung der eigenen Vergangenheit, wenn musikalische Traditionen von Rang im Repertoire eines Landes fehlten. Großbritannien, das »Land ohne Musik«,51 ist ein aussagekräftiges Beispiel für die Erschaffung vermeintlich authentischer musikalischer Traditionen. Seit den ausgehenden 1860er-Jahren erhob sich in Großbritannien zunehmend der Ruf nach dem Aufbau einer eigenen Musikkultur. Die deutsche Musik und die deutschen Musiker waren erklärte Vorbilder. Eine genuin englische Musik sollte mit Hilfe umfangreicher staatlicher und privater För49 NPZ, 24.1.1886. Vgl. VZ, 23.1.1886 (A). 50 Nietzsche, Geburt der Tragödie, 127 (Herv. im Orig.). Vgl. ders., Wagner in Bayreuth. Grundlegend sind die Arbeiten von Hans-Joachim Hinrichsen. Vgl. Hinrichsen, Bach, 119–138; ders./Heinemann, Bach und die Nachwelt, Bd. 1, 11–28. 51 Das ist der viel kolportierte Buchtitel von Oskar Schmitz, Das Land ohne Musik. Vgl. die zeitgenössische britische Perspektive vor dem Ersten Weltkrieg Forsyth, Music and Nationalism; insges. zum politischen Antagonismus Massie, Dreadnought. Auch der Ire George Bernard Shaw bezweifelte die musikalische Kompetenz der Engländer: »Even the Americans have a higher appreciation of music than the English.« Shaw, Music in London III, 28.1.1891, 117.
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dermaßnahmen eine Quelle nationalen Stolzes bilden. Nach einheimischen Talenten fahndete man höchst energisch, bis man diese in Gestalt von Komponisten wie William Sterndale Bennett, Arthur Sullivan und schließlich Edward Elgar kreierte. Befriedigt quittierte man in Großbritannien die allmähliche Anerkennung englischer Musik durch das deutsche Publikum und durch deutsche Kritiker.52 Betrachtet man die europäischen Aufführungszahlen, dann war Arthur Sullivan der national wie international bedeutendste britische Komponist vor dem Ersten Weltkrieg. Die Londoner »Times« schickte beispielsweise extra ihren Deutschlandkorrespondenten in die erste Berliner Aufführung von Arthur Sullivans und William S. Gilberts komischer Oper The Mikado im Wallner Theater 1886 – und freute sich, den großen Erfolg zu melden, schließlich seien die Berliner »the most critical public in Europe«.53 Auch der deutsche Kronprinz und der nachmalige Kaiser Wilhelm II., war ein erklärter Fan Arthur Sullivans, besuchte die erste Vorstellung dieser »Savoy Opera«.54 Selbst der gestrenge Eduard Hanslick hielt über die internationale Erfolgsserie des Mikado fest: »Mehrere Schauspielertruppen durchziehen mit diesem einen Stücke Amerika; eine derselben drang bereits nach Australien, eine andere – was noch wunderbarer ist – nach Hamburg und Berlin.«55 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten »nationale Opern« Konjunktur. Die britische Öffentlichkeit feierte 1891 die Eröffnung des English Opera House in London mit Arthur Sullivan’s Oper Ivanhoe. Der Komponist der Savoy Operas (benannt nach dem gleichnamigen Luxushotel) hatte eine große »nationale Oper« geschaffen. Das heute praktisch vergessene Stück war eine der erfolgreichsten englischsprachigen Opern überhaupt und erlebte allein in diesem Haus 155 Aufführungen in der ersten Spielzeit. Die kulturelle Ankunft Großbritanniens in der Riege der europäischen Kunst zeigte sich in den enthusiastischen Bekundungen der Presse. Die »Illustrated London News« setzte ihren Bericht sogar auf die Titelseite, verwies in ihrem Artikel immer wieder auf den englischen Charakter dieser Musikkultur und trompetete den musikalischen Nationalismus stolz heraus: »Mr. Carte’s wunderschönes neues Theater ist ein englisches Opernhaus; auf seiner Bühne wird eine Geschichte inszeniert, die das unveräußerliche Geburtsrecht eines jeden Briten ist; und die Geschichte wird durch Musik erzählt, die in erster Linie eines ist: englisch. … Für eine englische Oper, englisch, oder zumindest eng52 »Contemporary British composers are making their foothold in Germany ever surer«, MT, August 1910, 513. 53 TI, 3.6.1886, 6. Vgl. Temperley, Xenophilia, 1–19. 54 Vgl. Jacobs, Arthur Sullivan; Richards, Imperialism, 19–43. 55 Hanslick, Skizzenbuch, 288. Vgl. VZ, 5.6.1886; NPZ, 6.6.1886; NZ, (MA), 6.6.1886.
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lischsprachige Schauspieler und Musiker. Schaut man auf die Namen des Ensembles und der 63 Musiker sieht man sein Prinzip des musikalischen Nationalismus streng gewahrt.«56 Sullivan avancierte zum ernsthaften Komponisten und Edward Elgar zum Barden des Britischen Weltreiches. Seine weit reichende Unterstützung im Musikbetrieb und in den Zeitungen zeigte den öffentlichen Wunsch vieler Briten, einen Landsmann zum musikalischen Genie zu erheben.57 Im Jahre 1904 beispielsweise gab es ein eigenes dreitägiges Festival, ausschließlich mit Werken Edward Elgars, in Covent Garden. Gefördert durch Edward VII., den Hof, namhafte Künstler und fast die ganze Presse verwandelte sich der ehemalige Kleinbürger Elgar zum musikalischen Helden seiner Zeit.58 Bereits 1905 postulierte die »Times« die kulturelle Überlegenheit der neuen englischen Musik über irgendwelche Produkte aus dem deutschen Ausland: »Wenn es überhaupt eines Beweises der großen Überlegenheit des durchschnittlichen englischen Komponisten gegenüber dem durchschnittlichen deutschen Komponisten bedarf, so würde es genügen, die beiden neuen Stücke zu sehen, die gestern Abend bei den Promenadenkonzerten aufgeführt worden sind.«59 Ihrem Urteil zufolge verblasste an diesem Abend die »mittelmäßige« vierte Sinfonie Gustav Mahlers im Vergleich zu den »wunderbaren« Orchestervariationen »Helena« von Granville Bantock. Nichts ist groß oder klein – außer im Vergleich.
Wachsende Kanonisierung des Repertoires und der kulturellen Traditionen Etwa seit 1830 formierte sich ein musikalischer Kanon im europäischen Musikrepertoire. Nur die als »groß« und »klassisch« bezeichneten Stücke erreichten einen kanonischen Status auf den Spielplänen. Händel und Mozart, Verdi und Wagner erwarben einen europaweiten Marktwert, an den Luigi Cherubini und Spohr nicht heranreichten. Die internationale kulturelle Angleichung war im Ergebnis eine Aneignung von relativ wenigen Sinfonien, Konzerten und Opern. Großen Erfolg hatten vor allem diejenigen Stücke, welche man schon kannte. Der Rang zeitgenössischer Komponisten verblasste vor der Reputation der bereits verstorbenen Meister. Je länger das 56 ILN, 7.2.1891, 166, 168–170. 57 Vgl. zu Elgars Erhebung in den musikalischen Adelsstand Hughes, Duc D’Elgar, 41–68. 58 Vgl. DN, 16.3.1904; TI, 15.3.1904; sowie Hughes, Renaissance, 115–137, 161–184; Temperley, State of Research, 1–16; ders. (Hg.), Lost Chord. 59 TI, 27.10.1905.
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Leben eines vergangenen großen Komponisten zurücklag, desto weiter reichte sein Ruhm in die Zukunft. Zwar begannen bürgerliche und adelige Musikliebhaber bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts damit, lebende Komponisten zu Genies zu erklären. Doch wurde dieser Kult in der zweiten Jahrhunderthälfte viel häufiger, weil das Publikum auf diese Weise das schon lange bestehende Repertoire legitimieren wollte. Um 1800 bot das Konzertprogramm meist zeitgenössische Musik und blendete die Musik der Vergangenheit aus – um 1900 war es unter dem Diktat des klassisch-romantischen Stiles umgekehrt. Die Pflege der »alten Musik« begann daher nicht erst mit Wanda Landowska und Nikolaus Harnoncourt im 20. Jahrhundert, sondern bereits im 19. Jahrhundert. In Wien etwa erklangen in Sinfoniekonzerten im Jahre 1848 schon zur Hälfte die Schöpfungen verstorbener Tonsetzer – 1860/61 waren es bereits 83 %.60 Zwischen 1862 und 1871 gab die »Gesellschaft der Musikfreunde« eine Reihe ausgewählter »Historischer Konzerte« – Musterbeispiele für den musikalischen Historismus.61 Der Begriff der »Klassik« verwandelte sich in eine konservative Kategorie, denn viele Musikliebhaber suchten die durch den gesellschaftlichen Wandel bedrohten Werte und Werke zu bewahren. Im Zeitalter rapider wirtschaftlicher, sozialer und politischer Umwälzungen entschied sich das Publikum für einen Gewinn an kultureller Sicherheit und machte sich auf die Suche nach den Werken derjenigen Genies, die es schon seit langem gelernt hatte zu bewundern.62 Gerade weil die Musikhörer immer dieselben Werke einforderten, missfiel ihnen Unbekanntes, Neues oder gar Avantgardistisches. Manche Beobachter erkannten, dass nur die regelhafte Wiederholung bekannter, aber nicht zu schwieriger Stücke das Publikum zur Aufmerksamkeit zwinge. Im Sinfoniekonzert der königlichen Kapelle in Berlin etwa würden erneut die gleichen Werke der gleichen Komponisten gegeben, »weil das Publikum dieser Soiréen eine große Abneigung gegen alles Ungewohnte an den Tag legt und nur solche Werke zu hören begehrt, welche es mit gutem Gewissen beklatschen kann«. Durch »das kategorische Verlangen des Publikums« nähmen die Veranstalter immer seltener Novitäten in das Konzertprogramm auf. »Wozu soll sich auch die Kapelle die Mühe geben, z. B. die schweren Orchesterstücke Robert Schumann’s einzuüben, wenn sie sich nur durch Still-
60 Vgl. Weber, Transformation, 257, 240; Grotjahn, Sinfonie, 154–158, 198–201. 61 Vgl. Krones, Historische Konzerte, 115–125. 62 Vgl. Reimer, Repertoirebildung, 241–260: Samson, Composer, 259–284; Weber, Transformation, 169–207; ders., History, 336–355; und insgesamt zur musikalischen Konservierung der »Klassik« im 20. Jahrhundert die Überlegungen in Kapitel VI.
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schweigen, Naserümpfen, Achselzucken oder gar Zischen belohnt sieht? … Stabil wie das Publikum sind auch die Programme der neun Symphonie soiréen.« Immer wieder hörte das untereinander bekannte Publikum bekannte und geschätzte Stücke: Beethovens Sinfonien, die sechs späten Sinfonien Mozarts und einige der beliebtesten Sinfonien von Haydn, zudem Ouvertüren von Weber, Cherubini und Mendelssohn.63 Durch die Kanonisierung enstanden musikalische Traditionen. Die rückwärtsgewandten Utopien des Publikums erschufen eine kulturelle Musea lisierung des Musiklebens. Die Aufwertung einer versunkenen Vergangenheit stellte dabei mehr dar als den Versuch, Kontinuitätsbrüche der Gegenwart zu kompensieren. Ausgewählte Kunstwerke und ausgewählte Komponisten mussten nicht nur wiederholt geboten werden – je häufiger das Publikum ein »altes« Werk hören wollte, desto lebhafter schien es. Im Winter 1825 etwa hörte das Berliner Publikum die Beethovensche »Pastorale« gleich vier Mal, und die Presse rühmte die Repetition. »Muß denn immer neues gespielt werden? Nur werthlose Kompositionen mag man nicht wieder hören. … Ein Kunstwerk ist solange neu, als es unserem Geist und Herzen Nahrung gewährt. Manches wird schon in der Probe alt befunden, manches wird nach hundertmaligem Hören noch neu sein.«64 Noch im 20. Jahrhundert war einer der führenden Dirigenten alter Schule, Hans Knappertsbusch, dafür bekannt, dass er stilistische Abweichungen vom musikalischen Kanon hasste. Nach seiner Auffassung habe die gleiche Kunst immer wieder gleichrangig wiederholt zu werden. Mehr noch, selbst die Probe der kanonisierten Sinfonien schien ihm oft überflüssig, und einem zur Einstudierung einer Beethoven-Sinfonie versammelten Orchester erklärte er bündig: »Sie kennen das Werk, ich kenne das Werk. Auf Wiedersehen heute Abend!«65 Die von den bürgerlichen Eliten betriebene Kanonisierung exkludierte die vermeintlich Ungebildeten. Der Verteilungskampf um den Rang der ausgewählten Werke im Musikleben wurde regelmäßig mit nicht-musikalischen Mitteln geführt. Kanonisch organisierte Konzertprogramme nutzten der Herrschaftsstabilisierung der Elite, welche ihren Status durch ihren Musikgeschmack festigte.66 Kanons exkludierten ästhetisch, das heißt, sie wirkten durch den Ausschluss nicht akzeptierter Stile und Werke ebenso auf das Musikleben wie durch die Inklusion der »großen« Schöpfungen der Meister. Ex63 NZfM, 38 (1853), 6. Vgl. Bledsoe, Mendelssohn’s Canonical Status, 139–153. 64 BAMZ, 2 (1825), 358. Vgl. Weber, Musical Canon, 336–355. 65 Zit. n. Pflicht, Meisterwerk, 148. 66 Vgl. Ellis, Structures, 356–359.
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emplarisch ist diese Praxis an der Etablierung der sinfonischen Konzerte zu beobachten. Die Sinfonie errang in zwei Perioden, etwa zwischen 1800 und 1830 und dann wieder ab 1870, den höchsten Rang im Orchesterrepertoire. Die Grundlage und die Typen der kanonischen Aufwertung der Sinfonie sind nur teilweise erklärbar, zumal das Modell des reinen Sinfoniekonzerts empirisch betrachtet ein Ideal blieb. Sicher scheint aber, dass das Sinfoniekonzert seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch deshalb zur Norm wurde, weil die Veranstalter die Vielfalt der gespielten musikalischen Gattungen im Konzert aus formalen Gründen reduzierten, im Programm ästhetisch immer ähnlichere »große« Werke zusammenstellten und vermeintlich weniger wertvolle und als unterhaltend geltende Stücke ausschlossen.67 Die rapide Aufwertung der Sinfonie traf auf die Abwertung der zeit genössischen Oper. Selbstredend zielte ein Großteil der Kritik dabei auf Richard Wagner, dessen Musikdramen die Grenze des formal Akzeptierten erweiterten. Der Streit um die Berliner Premiere der Meistersinger von Nürnberg 1870 gipfelte in einer wütenden Auseinandersetzung zwischen den Anhängern der zeitgenössischen Musik, das heißt den Gefolgsleuten Wagners, und denjenigen Zuhörern, welche in einem derartigen Operntypus eine formale Entgleisung erkannten. Das Foyer der Hofoper bot einen vermutlich sehenswerten Anblick. Da gab es Wutausbrüche, Schreie und Debatten, die immer kurz davor schienen, in körperliche Gewalt auszuarten. Durch die Erregung, die Wagner beim Publikum hervorgerufen hatte, erhielt jeder im Saal die Chance, Zeuge eines Kampfes zwischen Anhängern und Feinden zu werden. Klatschen und Zischen mischten sich, und die Wagneranhänger verlangten Ruhe von den Protestrufern. Im Finale des zweiten Aktes »verdoppelte sich der Parteien-Kampf, der stellenweise die Musik überlärmte. … Im Zwischenact spielte in den Corridoren eine Art von Theater-Parlament: lauter und heftiger, wie man es sonst hier gewöhnt ist, hörte man streiten, sah man gestikulieren«.68
67 Vgl. Grotjahn, Sinfonie, 73–121, 143–202; Dahlhaus, Musik, 197–203, 220–229. 68 NPZ, 3.4.1870. Vgl. NBMZ, 6.4.1870, 106 f.; NZfM, 66 (1870), 433 f.; Müller, Wagner, 25–48; Münkler, Kunst und Kultur, 45–60; und zum Hass auf Wagner in der Presse Tappert (Hg.), Hurenaquarium.
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Beethoven überfordert und Schubert schadet – wachsende Kritik an neuen Komponisten Eines der wichtigsten ästhetischen Probleme des Musiklebens bildete die Schwierigkeit, musikalische Grenzen verbindlich zu bestimmen. Ein wachsendes Problem für den Musikbetrieb zwischen Beethoven und Schönberg wurde, dass die Künstler im Gegensatz zum Publikum dafür optierten, immer neue kompositorische Grenzen zu überschreiten. Sinfonien und Opern wurden länger und durch einen erheblich erweiterten Orchesterapparat lauter. Die Komponisten experimentierten mit der Melodik und Harmonik, erschlossen neue Bereiche des Tonsystems und machten es dem Publikum immer schwerer, musikalische Zusammenhänge zu erfassen. Joseph Haydns 103. Sinfonie in Es-Dur (Uraufführung 1793) führten 50 Musiker in 30 Minuten auf, an Gustav Mahlers 3. Sinfonie (Uraufführung 1903) wirkten über 300 Musiker im Orchester und im Chor mit, und sie dauerte 100 Minuten. Auch der Bläserapparat weitete sich drastisch aus: Haydns 94. Sinfonie in G-Dur war besetzt mit zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Fagotten, zwei Hörnern und zwei Trompeten. Die gewaltige Besetzung von Bruckners 8. Sinfonie in c-moll umfasste drei Flöten, drei Oboen, drei Klarinetten, drei Fagotte, acht Hörner, vier Wagner-Tuben, drei Trompeten, drei Posaunen, eine Basstuba und eine Kontrabasstuba. Es waren derartige Grenzüberschreitungen, welche die Suche nach stabilen musikalischen Regeln einerseits und den Widerwillen gegen angebliche Formlosigkeit andererseits erzwangen. Inwieweit die Abgrenzung gegen die »neue« Musik Hand in Hand mit der kulturellen Kanonisierung des Repertoires ging, belegt erneut die Auseinandersetzung mit dem Werk Ludwig van Beethovens. Sicher, der verklärende Ruhm des Menschen und seiner Kompositionen kannte keine Grenze. Dennoch bedurfte es eines Jahrzehnte dauernden Normierungsprozesses des Publikums, bis es die stilistischen Herausforderungen Beethovens lernend in seinen Spielplan integrierte. Beethovens Sinfonien stellten für die Mehrheit des Publikums und der Musikkritiker erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts Maßstäbe setzende Vollendungen dar. Die Londoner Erstaufführung der IX . Sinfonie 1825 unter der Leitung von Sir George Smart in den Philharmonic Concerts verursachte größeren ästhetischen Widerwillen als Genuss. Denn Beethoven habe hier seine handwerklichen Fähigkeiten überzogen, befand der »Harmonicon«. Vor allem dauere das Werk unerhörte 65 Minuten, das sei einfach ein Angst machender Zeitraum. So leide die Kraft der Musiker wie die Geduld des Werk und Wirkung | 129 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Publikums gleichermaßen, und beinahe die Hälfte der Hörer hätte den Saal vor dem Ende der Sinfonie verlassen. Diese Sinfonie sei wenigstens doppelt so lang wie gewünscht, und ihre Teile wiederholten sich immer wieder. Ihr Aufbau sei letztlich heterogen, der Schlusschor allein passe gar nicht zu einer Sinfonie. Der Vorschlag der Kritik lautete, das Werk zu verbessern: Die drei ersten Sätze sollten gekürzt, dann der Chor gemeinsam mit den vielen Wiederholungen gestrichen werden.69 Und gleiches galt für seine sechste Sinfonie in F-Dur, denn auch die »Pastorale« sei mit 40 Minuten für das Publikum schlicht zu lang. Eine vernünftige Aufführungsdauer (»a rational time«) stellten 30 Minuten dar.70 Die Kritik an der unpassenden Größe, Besetzung und Spieldauer der IX . Sinfonie korrespondierte mit dem beißenden Spott gegen die erlebten ästhetischen Regelverletzungen Beethovens. Der Ansicht Ludwig Rellstabs zufolge habe das Berliner Publikum 1826 diese Erstaufführung der Sinfonie im besten Fall als fremdartig, im schlimmsten als komisch bewertet. Denn die IX . Sinfonie sei ein »merkwürdiges Werk«, mit »mancher unmotivierten Seltsamkeit. … Vom letzten Satz müsse man sagen, dass er an barocker Seltsamkeit alles überbietet«. Alles habe »unwillkürlich komische Wirkung; namentlich die, wo das Fagott in abgestoßenen Noten allein eintritt, schien zu bewirken, dass die Damen betroffen wurden, und die Gesichter der Herren sich zum Lachen verzogen«.71 Louis Spohr genoss das Privileg, Beethoven noch selbst in Wien kennengelernt zu haben. Das Genie zu bewundern, bedeutete für Spohr aber, die IX . Sinfonie als niedere Verirrung aus dem Kanon des musikalischen Geschmacks auszuschließen. Seine mangelnde Bildung habe selbst Beethoven gegen Ende seines Lebens dämlich gemacht. »Ich gestehe frei, daß ich den letzten Arbeiten Beethovens nie habe Geschmack abgewinnen können. Ja, bei mir beginnt das schon bei der viel bewunderten neunten Symphonie, … deren vierter Satz mir aber so monströs und geschmacklos und in seiner Auffassung der Schillerschen Ode so trivial erscheint, daß ich immer noch nicht begreifen kann, wie ihn ein Genius wie der Beethovensche so niederschreiben konnte. Ich finde darin einen neuen Beleg zu dem, was ich schon in Wien bemerkte, daß es Beethoven an ästhetischer Bildung und an Schönheitssinn fehlte.«72 69 Harmonicon, April 1825, 69. Entsprechend auch MP, 23.3.1825. Vgl. noch MT 31 (1890), 474, denn auch 1890 gingen viele aus dem Publikum vor dem Finale bereits nach Hause. Grundlegend zur Rezeption der IX. Sinfonie Beethovens in Europa sind die Arbeiten von Levy, Performances; Eichhorn, Beethoven und Buch, Beethoven. 70 Harmonicon, Juni 1828, 137. Vgl. Wallace, Beethoven’s Critics. 71 VZ, 29.11.1826. 72 Spohr, Lebenserinnerungen, Bd. 1, 180.
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Die destruktive Kritik der »Allgemeinen Musikalischen Zeitung« reichte vielleicht noch weiter. Deren Kunstkenner beförderten Beethovens IX . Sinfonie wegen ihres vermeintlich unpassenden Schlusschores aus dem Bereich der musikalischen Komik in die Welt des körperlichen Leidens. Im Jahre 1828 galt Beethoven vielen Musikfreunden als ein unglücklicher komponierender Kranker, der die Grenzen des Genres so mutig wie hilflos überschritten habe. »So gestehen wir ganz offen, dass wir nicht zu denen gehören, die davon entzückt sind. Im Gegentheil halten wir das Werk für eine höchst merkwürdige Verirrung des durch gänzliche Gehörlosigkeit unglücklich gewordenen, nun erlösten Mannes. … Das Scherzo wäre schön, wenn es nicht durch seine Länge den guten Eindruck wieder zerstörte. … Das Uebrige … erfüllt uns um so mehr mit Schmerzen, je mehr wir wissen, wie viel wir an Beet hoven verloren haben.«73 Schwerer noch als die mühsame Akzeptanz Beethovenscher Komposi tionen fiel dem Publikum die Entdeckung unbekannter Sinfonien. Nicht nur die Begegnung mit dem Neuen, auch die Auseinandersetzung mit den noch nicht im Repertoire etablierten Stücken wurde den Musikhörern über die Jahre immer mühsamer und unbequemer. Ein aussagekräftiges Beispiel dafür sind die Werke von Franz Schubert. Während dieser sich als Liedkomponist nicht nur im deutschsprachigen Bürgertum recht schnell einen Namen machte, blieb er als Sinfoniker unentdeckt. Seine 1822 entstandene h-moll Sinfonie (D 759), die »Unvollendete«, erlebte ihre nicht unumstrittene Wiener Uraufführung erst 1865. Schlimmer noch traf es seine »Große« C-Dur Sinfonie (D 944). Robert Schumanns bekanntes Diktum von den »himmlischen Längen« des Werkes veranschaulicht seine und Felix Mendelssohns Begeisterung mehr als die des Publikums.74 Kurz nach der Leipziger Uraufführung 1839 gab auch die Wiener »Gesellschaft der Musikfreunde« die ersten beiden Sätze dieser Sinfonie im Redoutensaal zum Besten. Sicherheitshalber hatte man den dritten und den vierten Satz weggelassen, um der anstrengenden Dauer des Werkes Herr zu werden. Zur Auflockerung des Abends setzten die Veranstalter zwischen die beiden gespielten Sätze der Sinfonie eine Arie von Gaetano Donizetti aus Lucia di Lammermoor, welche die k.k. Hofopernsängerin Leopoldine Tuczek unter dem großen Beifall des Publikums vortrug. Dann ging es mit Schubert weiter. Gerade das Andante sei »sehr melodiös und herrlich instrumentirt; das Thema wiederholt sich jedoch, obgleich bisweilen in schönen Wendungen, zu 73 AMZ 30 (1828), 245 f. 74 Vgl. Dürr/Feil, Schubert; Brusatti, Schubert; sowie zu Schuberts eigenen Beobachtungen über seine Kompositionen Werlé (Hg.), Franz Schubert in seinen Briefen.
Werk und Wirkung | 131 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
oft, wodurch dieser Satz eine zu große, die Wirkung des Ganzen beeinträchtigende Länge erhält«.75 Die Allgemeine Wiener Theaterzeitung erkannte in der C-Dur Sinfonie nur eine »Jugendarbeit des im Liede noch immer unübertroffenen Tonsetzers. … Zur Verherrlichung seines Namens dürfte das Werk schwerlich beitragen. Die zwei weggelassenen Sätze sollen sogar noch schwächer sein, als die beiden gespielten«.76 Ebenso wenig fand 1846 die Berliner Soiree der königlichen Kapelle mit dieser Sinfonie die Gnade der Zuhörer. Das Neue befremdete, der Ideenreichtum gefiel selten, und die Spieldauer missfiel immer. Wunderbarer als die Herausforderungen durch Schubert erschien eine gefälligere Sinfonie von Haydn, dessen Wiederholung das Publikum sogar erklatschte. Die ästhetische Rückwendung stellte eine wichtige Reaktion auf neue musikalische Reize dar. Denn dieses Werk sei eine »an Erfindung überreiche, jedoch in der Ausführung der geistreichen Motive zu einer übermäßigen Länge ausgedehnten Sinfonie des genialen Franz Schubert. … Der erste Satz allein enthält reichen Stoff zu mehreren Musikstücken, ermüdet indeß durch die zu lange Dauer. … In völligem Contraste mit dieser Sinfonie war die einfach anmuthige, klare, kindlich heitere, naiv unschuldsvolle Sinfonie von J. Haydn in G -Dur … und einem so lieblichen Rondo, daß letzteres auf allgemeines, lebhaftes Verlangen wiederholt werden mußte«.77 Ludwig Rellstab schließlich wertete im Einvernehmen mit seinen Zuhörern die »Große« C-Dur Sinfonie als krankhafte Abkehr eines Komponisten von den gewünschten Idealen. »Es liegt selbst dem Vorzüglichsten darin, unserm Gefühl nach, etwas Krankhaftes zu Grunde. … Wir glauben uns nicht zu täuschen, wenn wir uns diesmal mit der allgemeinen Meinung des Publikums ziemlich im Einklang vermuthen.«78 Mit seinem Unwillen und seinem Unverständnis gegenüber neuen musikalischen Reizen verband das Publikum seinen Hass auf Innovationen, auf die »intellektuelle Krankheit«. Manche Journalisten überraschte es nicht, dass beispielsweise Robert Schumann nervlich krank wurde. Denn leider habe er als guter Pianist und Musikschriftsteller angefangen, selbst zu komponieren. Das Ergebnis sei heutzutage eindeutig: »Schumann went mad, and Wagner reigned alone.« Das zeige auch die Aufführung des Oratoriums Das Paradis und die Peri, in dessen Umkreis diese Kritik entstand. Es sei ein 75 Sammler, 24.12.1839, 616. 76 AWT, 17.12.1839. 77 HS, 4.12.1846. 78 VZ, 4.12.1846. Vgl. zur problematischen und lange schlichtweg fehlenden Rezeption der Werke Schuberts in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Beiträge in Dürr/Krause (Hg.), Schubert Handbuch, bes. 114–132, 642–661; Ulm (Hg.), Schuberts Symphonien, 216–239.
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Sammelsurium aus Versatzstücken ohne erkennbares Konzept, mit einem Wort – langweilig.79 Das Publikum suchte nicht nur für diese ästhetischen Ideale zu werben, sondern auch selbst abends im Konzert mit den Füßen abzustimmen. Unverständnis und Spott trafen besonders die Sinfonien Anton Bruckners. Die Polemik gegen Bruckner, zu der sich viele Anhänger der Musikepoche der Klassik und der Romantik entschlossen, richtete sich gegen einen dem Gemüt nach unsicheren Menschen. Bruckners monumental angelegte Sinfonien befremdeten traditionelle Hörer schon durch ihre riesenhafte Besetzung, ihre ungeheure Spieldauer und ihre markanten musikalischen Kontraste. Bruckners Musik irritierte letztlich, weil seine Sinfonien die musikalische Logik, mithin die etablierten Traditionen, herausforderten.80 Der Humor ist die schärfste Waffe, denn es gibt kein Gegenmittel. Der Komponist sei »unstreitig ein Original«, seine wenigen Freunde aber hätten verhindern sollen, »sich der komischen Scene auszusetzen, daß der grosse Musikvereins-Saal sich allmählich immer mehr leerte, je weiter die Ausführung der Sinfonie vorschritt. … Schließlich klatschten sogar einige Spaßvögel sehr lebhaft Beifall, indem sie ›Bis‹ und ›Da capo‹ riefen«.81 Die Zuhörer hätten wie die Kritiker »seine gigantische Symphonie nicht verstanden. … Vielleicht eine Vision, wie Beethovens ›Neunte‹ mit Wagners ›Walküren‹ Freundschaft schließt und endlich unter die Hufe ihrer Pferde geräth«.82 Die Wiener Aufführung seiner zweiten Sinfonie in c-moll 1877 schien so lange zu gefallen, bis Bruckner am Ende des Abends dieses Werk selbst dirigierte. Viele Zuschauer ahnten nichts Gutes und belohnten sich damit, dass sie die Vorstellung nach und nach verließen. Der dirigierende Komponist wurde am Ende nur von einem kleinen Teil des Publikums bejubelt und über die Flucht der Mehrheit der Zuhörer durch lebhaften Applaus hinweggetröstet. Die verbliebenen Kritiker hörten nur »eine bunte, planlose Aneinanderflickung von Fetzen und musikalischer Ideen … statt mit dem schon an und für sich wohlklingenden Namen ›Symphonie‹« belohnt zu werden.83 Die »Wiener Zeitung« konzentrierte entsprechend ihre Polemik auf die unregelmäßige Struktur dieser Sinfonie und die lautstarken Kontraste, welche man als Resultat eines Fieberschubes begreifen müsse. »Es ist ein ganz ungeheuerliches Werk, dessen Wagnisse und Seltsamkeiten sich nicht mit 79 TI, 24.6.1856. 80 Vgl. Floros, Bruckner; die Beiträge in Ulm (Hg.), Symphonien Bruckners; Dahlhaus, Musik, 220–229. 81 DZ, 19.12.1877 (M). 82 NFP, 18.12.1877 (M). 83 DZ, 19.12.1877 (M).
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wenigen Worten charakterisieren lassen. … ungezügelter und ungeschulter Naturalismus, dem keine Rohheit zu groß … mit einer wahrhaft kindlichen Gutgläubigkeit. … Man kommt bei dieser Musik aus dem Kopfschütteln nicht heraus, greift sich wohl zuweilen auch an den Puls, um sich zu überzeugen, ob das Gehörte nicht etwa Produkt selbsteigenen Fiebers ist.«84 Noch 1892 erschien Bruckner in der Presse als ein formal ungeschlachter Außenseiter, der nicht nur die Orchesterkultur dem Opernstil Wagners unterwerfe und damit auf der Suche nach der musikalischen Zukunft den Horizont der Gegenwart verfehle. Am schlimmsten sei, dass diese sinfonische Masse die geltende Form der Sinfonie zerstöre und die bestehende ästhetische Sicherheit in Unordnung versetze. Seine achte Sinfonie in c-moll habe »als Ganzes befremdet, ja abgestoßen … in der Übertragung von Wagner’s dramatischem Styl auf die Symphonie. … Zwischen Trunkenheit und Oede hin und her geschleudert, gelangen wir zu keinem sicheren Eindruck. … Alles fließt unübersichtlich, ordnungslos, gewaltsam in eine grausame Länge zusammen. … Es ist nicht unmöglich, daß diesem traumverwirrten Katzenjammerstyl die Zukunft gehört – eine Zukunft, die wir nicht darum beneiden. … Man sieht wie der Wagnerismus … Schule macht«.85
Der Hass auf Richard Strauss und Gustav Mahler um 1900 An der Wende zum 20. Jahrhundert blieben die musikalischen Formen entweder konventionell oder lösten sich auf. Der konstatierte Eklektizismus der Stile und Gattungen kann daher weniger als Ausdruck einer kulturellen Krise, sondern vielmehr als Reaktion auf den wachsenden Experimentcharakter der europäischen Musikkulturen begriffen werden. Die an den selbstgezimmerten Kanon Gewöhnten verteidigten ihre Errungenschaften, während die Avantgarde auf Differenzierung setzte. Konservatismus und Innovation kennzeichneten um 1900 das Musikleben.86 Die »Moderne« lässt sich weder trennscharf bestimmen noch einvernehmlich aushandeln. Für heutige Soziologen und Historiker erkennbar ist allenfalls eine Diversifizierung, eine komplexe »Vielfalt der Moderne«.87 Weil die Frage nach der Verbreitung der Moderne in ganzen Gesellschaften letztlich eine zu anspruchsvolle Aufgabe darstellt, kann man diese Kategorie wohl 84 WZ, 17.12.1877 (A). 85 NFP, 23.12.1892 (M). 86 Vgl. Danuser, Musik, 11–24; Döhring, Oper, 327–333; Dahlhaus, Musik, 328–332; insges. Mommsen, Bürgerliche Kultur. 87 Eisenstadt, Vielfalt der Moderne. Vgl. Osterhammel, Verwandlung, bes. 1279–1301.
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besser als eine Form der Wahrnehmung denn als eine trennscharfe Gattung definieren, da die Abstufungen des Neuen zu komplex und wandelbar ausfielen. Sicher dagegen scheint, dass sich in einem Zeitalter rapider wirtschaftlicher, sozialer und politischer Umwälzungen gleichzeitig positive und negative Aspekte – völlig verschiedene Wege in die Moderne vollzogen.88 Da alle vorstellbaren Lebensstile und Musikgenres als »modern« bezeichnet werden konnten, war diese Epoche letztlich ein Konzept der Jetztzeit, das versprach, morgen anders auszufallen. Modernisten wie Antimodernisten bildeten ihre komplexe Umgebung nicht ungefiltert ab, sondern markierten in vereinfachten Darstellungen ihre jeweilige kulturelle Leitlinie. Dabei führte die Feststellung eines Verlustes an Sicherheit oft zum Verlangen nach einer neuen Gewissheit. Denn auch die Musikkonsumenten glaubten zu wissen, was »modern« ist, da sie zu wissen glaubten, was »traditionell« ist. Drei Beispiele sollen diesen Kampf um die neue Musik verdeutlichen. Beachtenswert sind die Karrieren von drei Komponisten und ihrer Werke in drei Städten und deren vergleichbare Rezeption: Der Streit um die Werke von Richard Strauss in Berlin und Wien, von Gustav Mahler in Wien und von Arnold Schönberg in Wien und London. Deren Karrieren offenbarten massive ästhetische Differenzen zwischen den kulturellen Lagern in Europa, aber eine große Ähnlichkeit über die Ländergrenzen hinweg. Die Opern von Richard Strauss bewunderten oder verachteten Deutsche und Engländer gleichermaßen. Strauss nutzte erweiterte musikalische Klangformen, welche sich aber fraglos noch innerhalb des akzeptierten Tonsystems bewegten. Gleichwohl warf ihm die Presse in Berlin, London und Wien vor, die musikalische Kunst tonlos und disharmonisch zu verwirklichen. Nach dem Urteil der »Daily News« verflüchtigte sich im Jahre 1910 der Unterschied zwischen den Geräuschen des modernen Autos und dieser modernen Oper Elektra. »Strauss ist modern – im Guten wie im Schlechten. Seine Musik trifft den Nerv der Zeit. Sie ist genauso ein Ausdruck des Jetzt wie der Verkehrslärm des Automobils. Es geht an dieser Stelle nicht darum, ob dies gut oder schlecht sei; es ist vielmehr eine Wahrheit, der wir ins Auge blicken müssen. Vielleicht handelt es sich um eine vorrübergehende Phase rassischer Neurasthenie; hoffen wir, dass es so ist; aber sie existiert. Das Antlitz der Welt verändert sich Stück für Stück.«89 Die »Illustrated London News« erkannte in der Elektra eine durch die kompositorischen Möglichkeiten der zeitgenössischen Musik verschul88 Vgl. Loo/Reijen, Modernisierung, 11–43; Frisch, Modernism, 7–35. 89 DN, 19.2.1910. Vgl. zur Rezeption Schreiber, Opernführer III, 230–321, über Dresden Ther, Mitte, 164–179.
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dete ästhetische Zerstörung. Gerade weil Strauss’ Orchesterapparat über so zahlreiche Mittel verfüge, bedrohe er durch die dissonante Leugnung der etablierten musikalischen Klangregeln die geschätzte Ordnung der Gegenwart: »Es steht außer Frage, dass es sich hierbei um einen der wichtigsten Beiträge zur modernen Zeit handelt. ›Elektra‹ kommt beinahe ohne Melodie aus; die Musik ist voller Dissonanzen; es scheint ohne Rückbezug auf irgendwelche Tonleitern geschrieben zu sein und lässt wenig bis keine Bestrebung erkennen, einen Rhythmus aufrechtzuerhalten.«90 In den vielen europäischen Städten, in denen Salome und Elektra zu hören waren, berichtete die Presse nicht nur über die vermeintlich musikalischen Herausforderungen und die grenzüberschreitende Handlung des biblischen bzw. antiken Dramas. Ebenso wichtig schienen die neuartigen Bühnengeschichten. Die Zuschauer strömten auch deshalb in die Theater, um Eros, Verschwörung und Mord mitzuerleben, sich akustisch und habituell zu erregen. Den Kritikern erschienen Strauss und sein Textdichter Hugo von Hofmannsthal nicht nur als kulturelle Scharlatane, sondern ebenso als Erfinder eines »opernhaften« Showbusiness. Strauss sei selbst wohl nicht klar, dass ihn »nicht mehr der heilige Geist der Kunst, sondern der Dämon der Sensation und die Erwerbsgier zum Reden mit Tönen antreibt«. Daher herrsche hier die Ansicht, dass seine Musik nur das »derzeitige große Sesationsbedürfniss« befriedige.91 Auch in London galt die Salome als »sensational and decadent. … The success of ›Salome‹ indicates nothing more certainly than the decadence of public taste«.92 Konservative im Publikum klagten über die gebotenen dramatischen Experimente und die kompositorischen Risiken. Die exotische Atmosphäre orientalischer Stoffe vermische sich krankhaft mit dem sexuell perversen Verhalten der Frauen auf der Bühne und schädige letztlich nur das Nervenkostüm der Männer im Publikum.93 Über das sexualisierende – mithin destruktive – Potenzial der Salome in Berlin urteilte die »Neue Preussische Zeitung«, dass die ganze Partitur eine Orgie musikalischer Martern bilde und dadurch die kranke Weltsicht des Komponisten belege. »Dass das perverse Schauspiel des pervers veranlagten englischen Schriftstellers Wilde an einer hiesigen Bühne einen großen und nachhaltigen Erfolg erzielen konnte, mag ein bedenkliches Zeichen sein … in unserer hastenden, stets nach Neuem begierigen Zeit. … Jetzt ist die sexuelle Psychiatrie das Ideal aller modernen Leute. … Dargestellt wirkt die Handlung im höchsten Grade abstoßend. … 90 ILN, 26.2.1910, 306. 91 IZ, 18.2.1909. 92 ILN, 17.12.1910, 984. 93 DN, 9.12.1910. Vgl. Kümmel, Musik, 108–146.
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Man sollte meinen, daß der Täufer doch zu hoch stehe, um als Gegenstand der geilen Lüßte einer pathologisch veranlagten Dirne benutzt zu werden; aber was ist denn solchen ›Modernen‹ noch heilig?«94 Gustav Mahlers Karriere und seine Kompositionen waren grenzenlos: Er leitete mit ungeheurem Erfolg die Wiener Hofoper und die Wiener Philharmoniker, er reiste mit seinen Musikern durch Europa, und seine komplexen Sinfonien reisten um die ganze Welt. Dass er den herrschenden klassischromantischen Traditionsstrom zu überschauen und dabei dieses System durch seine Kompositionen zu erweitern vermochte, verdeutlicht sein musikalisches Talent und seinen persönlichen Mut.95 Folgt man der Metapher von Leonard Bernstein, dann erscheint Mahler als ein Koloss, der mit gespreizten Beinen über der zeitlichen Grenze des 19. Jahrhunderts steht. Der eine Fuß ruht im kulturell relativ sicheren 19., der andere im relativ unsicheren 20. Jahrhundert.96 Gemeinsam mit Strauss und Schönberg verwirklichte Mahler den romantischen Abgesang einer Epoche, und alle drei schlugen völlig verschiedene Wege in die musikalische Moderne ein. Theodor Adorno erkannte in dieser ästhetischen Verunsicherung Mahlers Aktualität für das 20. Jahrhundert.97 Gustav Mahler entwickelte neuartige Ausdrucksformen in seinen Sinfonien. Es entstanden zweisätzige (die Achte) und sechssätzige Sinfonien (die dritte), Werke mit einem riesigen Orchesterapparat und mit riesigen Chören, mit musikalischen Unterbrechungen, Fragmentierungen und Wiederholungen. Formal betrachtet verschränkte Mahler die Gattung der Sinfonie 94 NPZ, 6.12.1906 (A). Vgl. zu dieser Argumentation bereits den Artikel, der Wagners reine Kunst gegen den vermeintlichen Stilbruch des Eros verteidigt: NZfM, 66 (1870), 433 f.: »Richard Wagner’s Musikdramen und die Sittlichkeit.« Das sinnliche Finale des ersten Aktes der Walküre hatte bereits 1855 erbitterte Kommentare Arthur Schopenhauers evoziert. Wagners exzessive Dichtung bewegte und ärgerte den Philosophen. Der Ehebruch der Geschwister Siegmund und Sieglinde und deren körperliche Verschlingung auf offener Bühne, die in der Zeugung Siegfrieds münden muss, begriff Schopenhauer als eine Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung durch geschlechtliche Maßlosigkeit. Richard Wagner erhielt kein Antwortschreiben von Schopenhauer, als er diesem die Dichtung seines Ringes zusandte. Es existieren allerdings Schopenhauers handschriftliche Kommentare an den Seitenrändern des Librettos und die Überlieferung einiger der Urteile des Philosophen. Als moralisch brüchig und gesellschaftlich peinlich bewertete Schopenhauer in seinen Randnotizen das Finale des ersten Akts der Walküre. Es war für Schopenhauer allerhöchste Zeit, den Vorhang in dieser Liebesszene endlich fallen zu lassen: »Einmal heißt es, der Vorhang fällt rasch. Wenn er aber nicht rasch fällt, dann kriegen wir böse Dinge da zu sehen.« Schopenhauer, Gespräche, 215. 95 Vgl. Hansen, Mahler, passim; Painter, Sensuality, 236–256; Geck, Beethoven, 408–424. 96 Bernstein, Erkenntnisse, 177–186. 97 Vgl. Adorno, Musikalische Schriften V, 226–250; ders., Wiener Gedenkrede 1960, Musikalische Schriften I–III, 323–50; insges. ders., Monographien, 149–319.
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und des Liedes, ästhetisch betrachtet rechtfertigte er alles Übermaß, nutzte Diskontinuität und Eklektizismus. Mahler konzipierte seine Sinfonien in der Kategorie des Universalen und versuchte, in einem Experiment die Welt zu erschaffen, indem er sie musikalisch beobachtete. In der Entstehungsphase seiner dritten Sinfonie schrieb Mahler 1896 an seine Freundin Natalie BauerLechner »Aber Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen. Der immer neue und wechselnde Inhalt bestimmt sich seine Form von selbst.«98 Wenn es ein Ergebnis gab, dann war es die Suche nach neuen formalen und ideellen Strukturen in der Musik. »Mahler gilt als durchaus moderner und dabei universeller Musiker«, urteilte das Wiener »Fremdenblatt« neugierig.99 Was er erfand, bewegte ihn und seine Anhänger tief, die Mehrheit des Publikums aber gar nicht. Karikaturen spotteten darüber, dass kein Publikum im Saal übrig bleiben konnte, weil jeder Musiker der Stadt gebraucht würde, um seine Mammutsinfonien aufzuführen. Mahlers neue Musik befremdete die Zuhörer der Jahrhundertwende durch ihre Kontraste, welche den Verlust des erreichten musikalischen Standards befürchten ließen. Über die sechste Sinfonie las man in Wien, dass die »ungeheuer dimensionierten und alle Mittel ausnützenden Werke der Moderne nur selten für die objektive Kunstbewertung maßgebend sein können«. Mahler ist »einer der kühnsten Rufer im Streit«. Verstörend ist »sein Häßlichkeitskultus, seine dämonische Neigung zum Exzessiven, Exorbitanten, Maßlosen und Übermenschlichen«. Die tönenden Eiskristalle hätten auf eine kunstsinnige Dame so unterkühlend gewirkt, dass sie sich in ihre Pelzboa schlug.100 Regelmäßig fokussierte die Kritik, dass Mahler die musikalischen Regeln und mithin letztlich den gesellschaftlichen Rang der »großen« Aufführungen gefährde. Schon in seiner zweiten Sinfonie, so verkündete die Presse 1895 in Berlin, werfe »der Com ponist jede Form über den Haufen, gefällt sich in den haarsträubendsten Dissonanzen und modulatorischen Verschrobenheiten. Diesen Satz zu hören, war eine förmliche Strafe für jedes gebildete musikalische Ohr«, obwohl es doch gelte, »die künstlerische Grenze immerhin einzuhalten«.101 Gustav Mahler, dem Wanderer zwischen den Welten der musikalischen Tradition und der sinfonischen Innovation, waren die extremen Reize seiner Kompositionen durchaus bewusst. Oft glaubte er, dass dem Publikum eher 98 Zit. n. Ulm (Hg.), Mahlers Symphonien, 104. Vgl. auch Mahlers Korrespondenz in der Auswahl von La Grange/Weiß (Hg.), Ein Glück ohne Ruh’; sowie in Blaukopf (Hg.), Gustav Mahlers Briefe. 99 FB, 9.4.1897 (M). 100 FB, 5.1.1907 (M). Vgl. zu dieser Perspektive auch SP, 25.1.1913, 153 f.; DN, 20.1.1913. 101 Signale, 53 (1895), 311; VZ, 14.12.1895 (AA).
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in der Zukunft als in der Gegenwart seine Werke verständlich sein würden. Nach der ersten Probe in Köln zur Uraufführung der fünften Sinfonie schrieb Mahler am 14. Oktober 1904 an seine Frau Alma: »Lieb’s Almschi! … Das Scherzo ist ein verdammter Satz! … Das Publikum – o Himmel – was soll es zu diesem Chaos, das ewig aufs Neue eine Welt gebärt, die im nächsten Moment wieder zu Grunde geht – zu diesen Urweltsklängen … für ein Gesicht machen? Was kann eine Schafherde zu einem ›BrudersphärenWettgesang‹ anders sagen, als blöken!? … O, könnt ich meine Symphonien 50 Jahre nach meinem Tode uraufführen!«102 Die Wiener Presse kontrastierte geschickt die vermeintlich groteske orchestrale Besetzung dieser Sinfonien mit der notwendigen Distanz des unwilligen Publikums und der unreifen Freude der jugendlichen Zuhörer an diesen musikalischen Exzessen. »Krupp macht nur Kanonen, Mahler nur Symphonien … Neu sind nur die Celesta und die Kuhglocken im Orchester. … Es ist manchmal, als wären alle die großen Beispiele aus der Vergangenheit vergessen und verthan, als wäre die Kenntniß dessen, was den Ewigkeitswerth einer Musik ausmacht, völlig verschwunden. … Man muß nur die jungen Leute im Stehparterre sehen, wie die klatschen und sich freuen und glücklich sind!« Hinter dem letzten leuchtenden Komponisten Brahms beginne heute »der Circus der Moderne«.103 Nur die Verteidigung der Gegenwart ermögliche den Musikkennern daher, die Zukunft konservierend zu bewahren. Mahlers sechste Sinfonie fungiere daher als »ein Objekt des Kampfes« zwischen den Parteien und den Altersgruppen.104 Denn nur der kleine jugendliche Teil des Publikums demonstriere lautstark für dieses musikalische Chaos. Erst die Unreife der anwesenden 15-jährigen Backfische und Jünglinge habe zum Applaus geführt. Mahlers musikalische Moderne begriffen seine Feinde – nicht nur, aber vor allem – in Wien als einen gefährlichen jüdischen Missgriff. Der Antisemitismus bündelte den Hass auf die Juden in der Hauptstadt des Habsburgerreiches und auf deren berufliche und bürgerliche Etablierung. Die relativ hohe Anzahl der Juden in Wien (147.000 im Jahre 1910) konnte zum Anlass genommen werden, den kulturellen Wandel als ein Produkt jüdischer Lebensart zu verdammen.105 Und auch wenn der Anteil von Juden an der Musikkultur und der Wissenschaft im Fin de siècle besonders groß gewesen 102 La Grange/Weiß (Hg.), Glück, 220 f. Vgl. die Urteile von Alma Mahler, Mahler; sowie Ulm (Hg.), Mahlers Symphonien, 153–163. 103 Illustriertes Wiener Extrablatt, 5.1.1907. 104 WZ, 5.1.1907 (A). Vgl. DZ, 6.1.1907 (M); DZ, 5.1.1907 (M). 105 Vgl. Hamann, Hitlers Wien, 112–124, 467–479; Ther, Deutsche Geschichte, 129–148; Bled, Wien, 285–291; Banks, Vienna, 74–98.
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Abb. 10: Antisemitische Karikatur im Wiener »Kikeriki« (1901), die Wagners Götter deshalb entstellt zeigte, um die Leitung der Hofoper durch Gustav Mahler in Frage zu stellen.
sein mag – die antisemitische Feindschaft traf Gustav Mahler gerade wegen seiner öffentlichen Präsenz. Mahlers Stellung als Musikdirektor der Hofoper sei eine Blamage und eine Gefahr, befand die rechtsnationale »Deutsche Zeitung«. »Mahler ist Jude. Und nun fragen wir, ist es opportun, an die deutsche Oper einer Stadt, in der sich eine starke Bewegung gegen die furchtbare Verjudung der Kunst mit Erfolg soeben Bahn bricht, gerade einen Juden zu berufen?«106 Das »Alldeutsche Tageblatt« ging noch einen Schritt weiter und beschrieb Mahlers Rücktritt 1908 als das Scheitern eines kulturell und ethnisch abscheulichen Juden: »Heute können auch Juden entlassen werden! Solange Mahler an der Hofoper gewirtschaftet hat und zahllose Existenzen zu Grunde richtete … hat die jüdische Presse kein Wort des Tadels gefunden.« In Wien würden »die Juden-
106 DZ, 10.4.1897 (M) (Herv. im Orig.). Vgl. ebd., 18.3.1900 (M).
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platten einen schuldlosen Künstler hinausekeln, bloß weil sie für einen plattfüßigen Rassegenossen einen Platz brauchen«.107 Viele Wiener Musikkenner verdammten Mahler als eine jüdische Bedrohung der erreichten kulturellen Errungenschaften. Das Satireblatt »Kikeriki« spottete antisemitisch über Mahler und seinen angeblich initiierten Missbrauch Wagners, indem es den Kikeriki-Hahn zeigte, der versuchte, Weingartner als Jude zu verkleiden: »In der Hofoper. Direktor: Was soll ich denn tun um der opponierenden Mahlerclique den Mund zu stopfen? Kikeriki: Das aufsetzen!«108 Tatsächlich bedeutete der rechtskonservativen Wiener Presse Mahlers Stellung an der Hofoper »einen Triumph des Kunstjudenthums«,109 denn ein Fremder habe sich aufgeschwungen, die deutsche Musikkultur zu gefährden. Mahlers Erfolge provozierten antisemitische Verschwörungs fantasien. Wiederum der »Kikeriki« zeigte die Verwandlung von zwei nordischen Göttern aus dem Ring des Nibelungen in physiognomisch entstellte Juden und demonstrierte so Mahlers jüdische Wirkung auf Wagner: »In unserer Oper werden die Freya und der Wotan bald so aussehen?«110
Der Fall Schönberg und die Grenzen der musikalischen Moderne Die Musikkultur änderte sich mit Arnold Schönberg. Er fungierte in der Wahrnehmung seines Publikums und der Musikwissenschaftler späterer Zeit als ein Prophet der neuen Musik. Schönberg zog aus dem Traditionalismus der Musikkultur einerseits und der ästhetischen Neuorientierung der Jahrhundertwende andererseits die Konsequenz: Er überschritt nicht nur die musikalischen Formen und die Gattungen seiner Epoche – er ersetzte sie. Die Harmonielehre erachtete er als Überbleibsel eines unfähig gewordenen musikalischen Systems. Das grundlegend Neue, das die Musik Arnold Schönbergs, Alban Bergs und Anton Weberns ausmachte, ist ihr Aufgeben der sogenannten tonalen Musik. Während sich in der tonalen Musik alle Töne auf einen Grundton beziehen und so Regelmäßigkeit und Bedeutung erhalten, entfällt nun die Ausrichtung auf einen Grundton. Mehr noch: Durch die Technik der Zwölftonmusik verweisen alle Töne aufeinander, avanciert keiner der gleich107 Alldeutsches Tageblatt, 12.2.1908. In einem Atemzug witzelte auch der Punch, 144 (1913), 82, Mahlers 7. Sinfonie müsse durch seine Londoner Aufführung bezeichnet werden als »The Wandering Jew«. 108 Kikeriki, 2.7.1908. Vgl. Knittel, Dirigent, 257–276. 109 OR, 13.4.1897. Vgl. Pulzer, Liberalismus, 32–38. 110 Kikeriki, 17.1.1901. Vgl. Pople, Styles, 601–620.
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gewichtigen und vom Komponisten in eine Zwölfer-Reihe gesetzten Töne zum harmonischen Bezugspunkt. Bereits diese Neuregelung erschwerte dem mit dem Gewohnten Vertrauten den Genuss. Bewegt von seinem Glauben an eine musikalische Revolution wirkte Schönberg weniger in direkter Konfrontation mit dem Publikum – als vielmehr jenseits von ihm.111 Der kommunikative Zusammenbruch prägte die Musikkultur des Fin de siècle. Die atonale Musik provozierte die Erwartungen, sie zerstörte den tradierten Schönklang und ärgerte daher die meisten Zuhörer. Wie elitär sich auch viele Musikfreunde als kulturelle Speerspitzen begreifen mochten – Schönberg war schon weit »fortgeschrittener«. Blickt man auf die Rezeption früher atonaler Musik, so verschloss sich diese gerade durch ihre formale Offenheit den Zuhörern. Nur in öffentlichkeitswirksamen Saalschlachten wie der in Wien 1913 kam es zu handgreiflichen Protesten. Im Regelfall mischten sich Kritik und Spott in den Besprechungen und demonstrierten so, dass nicht nur Schönberg jenseits der Werte seines Publikums komponierte, sondern dass auch die Zuhörer sich seinen musikalischen Formen verweigerten. Im Urteil mancher Beobachter ließen sich seine Stücke streng genommen gar nicht mehr genauer besprechen. Nach dem Bericht des »Spectator« herrschte unter allen Kritikern linker, liberaler und rechter Provenienz dazu nur eine ablehnende Meinung: Schönberg sei nicht nur ein exzentrischer, sondern ein schlechter Komponist. »If centuries hence this music is acclaimed great (which is very doubtful), there is no reason why anyone should pretend to like or understand it now.«112 Die atonale Musik erwies sich in ganz Europa als ein schwieriger ästhetischer Exportartikel. Als man in den Jahren 1912 und 1914 Schönbergs »Fünf Orchesterstücke« in London aufführte, begegnete das Publikum diesen mehrheitlich verwirrt und feindselig. Immerhin kam es in London nicht zu einem körperlichen Kampf, und einige der jüngeren Konzertbesucher applaudierten sogar interessiert. »Der passendste Kommentar über die Stücke ist, dass das Publikum hörbar zu lachen begann und nach dem Ende lautstark zischte und buhte. … In Wien, dies sei hier angemerkt, hat das Publikum einen Tumult angezettelt, nachdem es sie gehört hatte. London dachte dasselbe, aber drückte seine Meinung etwas friedlicher aus. … Das Resultat 111 Alexander Ringer, Schönberg, gelingt die Einbettung des Lebens dieses Komponisten in sein Werk. Vgl. Buch, Le cas Schönberg; Frisch, German Modernism, bes. 118–137; Danuser, Musik, 35–110; Steinberg, Listening, 212–224; den Vergleich der Avantgarde von Neighbour/Griffith/Perle, Schönberg, Weben, Berg; Eybl, Einleitung: Befreiung des Augenblicks, in ders., Befreiung, 13–82; Eggebrecht, Sprache der Musik, 195–220; sowie die Beiträge in Frisch (Hg.), Schoenberg and his World. 112 SP, 31.1.1914, 186 f.
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ist, dass eine vermutlich intelligente Öffentlichkeit quasi gezwungen wurde, unsinniges Durcheinander, wie es Herr Arnold Schönberg dem englischen Publikum am Samstag präsentierte, zu hören. … Herr Schönberg lässt uns ratlos zurück, aber mit der Erkenntnis, dass die Engländer noch nicht degeneriert genug sind, um seine ›Musik‹ zu akzeptieren.«113 Die Sprache der Degeneration schloss nahtlos an den Hass auf die Werke von Strauss und Mahler an, intensivierte die Polemik aber um den biologistischen Diskurs der Neurasthenie. Die zeitgenössische Musik fiel nicht nur der ästhetischen, sondern auch der neurologischen Kritik anheim. In ganz Europa galten das Anhören atonaler Musik im Allgemeinen und die der Zweiten Wiener Schule im Besonderen oft als Formen des körperlichen Masochismus’ und nervlicher Krankheiten. Immer wieder deuteten Kritiker die »extremmoderne musikalische Richtung«114 als eine medizinische Belastung. Mit Bildern der Krankheiten und des Ekels vor kulturellen Exkrementen überschütteten diese Kritiker die Komponisten. Das Werk Schönbergs »peinigt nicht nur Sinne und Gemüt eines normalen Musikmenschen, es berührt im physischen Sinne schmerzhaft«.115 Und noch deutlicher: »If there be more in his message than sheer ugliness, we have yet to grasp the significance. Frankly, we regard it as the music of mental aberration.«116 Um die Akzeptanz der neuen Musik entbrannte ein Parteienkampf. Allerdings blieb das Lager der Fortschrittsgläubigen schwach, beschränkt auf einige Kritiker und jüngere Konzertbesucher. Für die Mehrheit der bildungsbürgerlichen Kulturpatrioten kam es auf die Verteidigung ihrer ästhetischen Besitzstände und der teuren musikalischen Traditionen an. Konservatismus und Kulturkritik interagierten einvernehmlich. Gerade der sich über Jahrzehnte erstreckende Prozess der Disziplinierung und Angleichung des Publikums verschloss es gegen habituelle und ästhetische Innovationen: Demnach hatte der Musikfreund den hohen und gesunden musikalischen Standard vor Schönberg und dessen Gefolgsleuten zu schützen. »Erschießen sollte man ihn! Erschießen!«, brüllte ein Cellist wütend bei einem Berliner Schönbergkonzert 1912.117 Die zeitgenössische Musik musste im Notfall gewaltsam bekämpft werden. Die musikalische Moderne wurde am Ende eher ignoriert als gehasst. Wer die Zweite Wiener Schule nicht kannte, konnte sie nicht verachten. Der wegen des Nationalsozialismus schließlich im amerikanischen Exil lebende Schön113 114 115 116 117
DN, 4.9.1912, MP, 19.1.1914. Vgl. AT, 7.9.1912, 255; insges. Schneer, London 1900. NWB, 22.12.1908. FB, 11.2.1907 (A). ILN, 24.1.1914, 128. Vgl. ILN, 14.9.1912, 404, MT 53 (1912), 660. Zit. n. Glatzer (Hg.), Das Wilhelminische Berlin, 226.
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berg verfolgte auf einer Hollywood-Party das Geplauder der Gäste über Geld, Mode und Film. Glücklicherweise wandte sich eine Managerin an den Komponisten mit einer brillanten Erkenntnis: »Mister Schönberg – so heißen Sie doch, nicht wahr? Ich hörte, Sie sind Komponist. Was war denn Ihr letzter Hit? Ach, spielen Sie uns doch einen Ihrer Songs!«118 Nur Theodor W. Adornos intellektueller Humor vermochte es, diese Isolierung der Avantgarde von der Regression der Unterhaltungskultur pointierter zu fassen: »Das Wort Kunstgenuß klingt komisch: wenn nirgends sonst, dann gleicht die Musik Schönbergs den Schlagern darin, daß sie sich nicht genießen läßt.«119 An der Wende zum 20. Jahrhundert kennzeichneten Abgrenzungen und Ausgrenzungen das musikalische Repertoire in Europa. Zu beobachten ist eine bis in die Gegenwart fortscheitende Musealisierung der Nachfrage und des Angebotes im Konzert- und Opernhaus. Bereits der Blick auf den Spielplan der Berliner Hofoper aus dem Jahre 1901 verdeutlicht diesen Kanon der Konservierung. In der Spielzeit 1900/01 kamen 59 Werke auf die Bühne: 10 Opern Wagners an 66 Abenden führten die Rangfolge des Musikbetriebes an, mit 5 Opern an 25 Abenden besetzte Mozart die zweite Position und Meyerbeer Rang drei durch 2 Opern an 21 Abenden. Den Spielplan beschloss eine lange Liste derjenigen Komponisten, die – damals wie heute – mit nur einem Werk vertreten waren, darunter Bizet, Weber, Beethoven und Charles Gounod.120 Der russische Komponist Peter Tschaikowski wunderte sich auf seiner Konzertreise durch deutsche Metropolen bereits 1888 über den konservativen musikalischen Kanon. Im einstigen Mutterland innovativer Musik beobachtete er den Unwillen, ja, die Unfähigkeit des Publikums, sich jenseits des klassischen Kanons mit den neuen Werken des späten 19. Jahrhunderts auseinanderzusetzen. »Hier erst begriff ich endlich, dass das Schaffen eines Künstlers zuweilen nicht absolut, also nach Wert und Verdienst beurteilt wird, sondern nach zufälligen Umständen. … Die große Mehrheit des deutschen Publikums ist ausgesprochen konservativ und lehnt alles Neue in der Musik vehement ab. Wenn die Leute sich auch bis zu einem gewissen Grade mit dem Siegeszug Wagners über die Opernbühnen abgefunden haben, so pochen sie dafür im Konzertsaal umso fester auf die klassischen Traditionen. So stoßen Franz Liszt und seine Adepten in ihrem Streben, 118 Zit. n. Pflicht, Meisterwerk, 27. 119 Adorno, Dissonanzen, 14. Vgl. auch Adornos Analysen in ders., Ästhetische Theorie. 120 Signale, 59 (1901), 82 f. In einer kleinen Spitze gegen die Schwäche des musikalischen Frankreichs schloss diese Liste mit den Worten: »Was geboten ist … gehört der Vergangenheit an«. Vgl. auch den statistischen Rückblick auf die Aufführungen in den Theatern in Berlin, Schäffer/Hartmann, Königliches Theater.
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die Konzertsäle zu erobern, auf den fast unüberwindlichen Widerstand des Publikums.«121 Gleiches galt für das Repertoire in den Konzertsälen des 20. Jahrhunderts. Signifikante Unterschiede zwischen Berlin, London und Wien sind kaum auszumachen. Aussagekräftiger als der radikale Bruch mit der musikalischen Innovation war die Konservierung des etablierten Repertoires – die Verlängerung des Kanons des 19. weit hinein ins 20. Jahrhundert. Beethoven wurde noch beinahe zu Lebzeiten kanonisiert, Mahler erst 50 Jahre nach seinem Tod seit den 1960er-Jahren – und Schönberg wird vielleicht niemals durch das Publikum in den Rang eines Genies erhoben werden. Unabhängig davon, ob die Musikfreunde heutzutage die Aneignungen und die Ablehnungen »klassischer« Musik lieben oder verdammen – ihre Praktiken und Geschmäcker verlängern den Kanon des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein. Bereits 1949 ärgerte sich Hanns Eisler über diesen Widerspruch: »Selten in der Geschichte der Musik waren die Hörer so unzufrieden mit ihren Komponisten, aber auch selten waren die Komponisten so unzufrieden mit ihren Hörern.«122
2. Virtuosenkult: Der Erfolg charismatischer Künstlerinnen und Künstler In den europäischen Metropolen konnten sich die Musikfreunde den Virtuosen kaum entziehen. Opernensembles und Orchester boten ihrem Publikum regelmäßige und mehr oder weniger qualitativ hochstehende Vorstellungen – Virtuosen aber setzten gewohnte künstlerische Maßstäbe außer Kraft. Instrumentalisten und Gesangsartisten traten oft nicht nur in den etablierten Spielstätten auf, sie organisierten häufig eigene Konzerttourneen durch Europa. Ihre technischen Leistungen wie ihr Erscheinungsbild riefen eine Begeisterung und eine Verehrung durch das Publikum hervor, die im 20. Jahrhundert nur von großen Popstars erreicht wurde. Sicher, Virtuosen entstanden und verschwanden, aber ihre Auftritte wurden jahrelang intensiv beachtet, der Ruhm ihrer Karriere überdauerte Jahrzehnte, manchmal Jahrhunderte. Ein Ausnahmecharakter eines solchen reisenden Virtuosen war Franz Liszt. Er setzte das Publikum seinem emotionalen musikalischen Angriff aus. Über eines seiner Solokonzerte in der Berliner Singakademie im Jahre 1841 hielt Karl August Varnhagen von Ense in seinem Tagebuch seine Ein121 Tschaikowski, Erinnerungen, 69 f. 122 Eisler, Musik, 49.
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drücke fest. Beachtlich war, dass der Diplomat überhaupt durch diesen Virtuosen gerührt werden konnte: »Er spielt ganz allein, wunderbar, beispiellos, zauberhaft, mit allgemeinem heftigsten Beifall. Seit Paganini hab’ ich keinen solchen Meister gehört. Wir hatten ganz nahe Plätze, und sahen den geistvollen, feinen, schönen Mann ganz genau. Zuletzt spielte er einen chromatischen Galopp, den ich nicht aushalten konnte; er hatte meine Pulse in seiner Gewalt, und sein Spiel beschleunigte sich so, daß ich schwindlig wurde.«123 Heinrich Heine beschrieb diese kollektive und individuelle Begeisterung als »Lisztomanie«. Ursprünglich habe er gedacht, so Heine, der Schwindel der Zuhörer stamme allein aus dem Wunsch nach Abwechslung und Unterhaltung. Dann aber habe ihn selbst die Erfahrung eines Konzertes von Franz Liszt in Paris von dessen Größe belehrt: »Wie gewaltig, wie erschüttert wirkte schon seine bloße Erscheinung! Wie ungestüm war der Beifall, der ihm entgegenklatschte! Auch Buketts wurden ihm zu Füßen geworfen. Es war ein erhabener Anblick, wie der Triumphator mit Seelenruhe die Blumensträuße auf sich regnen ließ, und endlich, graziöse lächelnd eine rote Kamelia, die er aus einem solchen Bukett hervorzog, an seine Brust steckte.«124 Um die Selbstinszenierung der Künstler und Künstlerinnen und der Bewertung durch ihr Publikum geht es hier. Der Fokus richtet sich auf stark besuchte Opernhäuser und Konzertsäle in Berlin, London und Wien. Der Schwerpunkt liegt auf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auf den Karrieren der drei Instrumentalisten Niccolò Paganini, Franz Liszt und Sigismund Thalberg sowie auf der dreier Gesangsartisten – Angelica Catalani, Jenny Lind und Enrico Caruso, letzterer feierte seine Triumphe jedoch erst am Ende des Jahrhunderts. Zu zeigen ist, dass nur relativ wenige Künstler den Rang eines musikalischen Stars erreichten, diese sechs aber wurden zu teilweise noch heute berühmten Legenden. Wann, wie lange und warum wurden sie zu Virtuosen und Virtuosinnen? Unter welchen Bedingungen avancierten sie zu Künstlern der Gesellschaft? Auch das soll anhand der Wahr nehmungsmuster und der Verhaltensformen der adeligen und bürgerlichen Eliten in den drei Vergleichsstädten gezeigt werden. Daher ist die Frage nach kulturellen Grenzziehungen wichtig. Was galt als akzeptierter sinnlicher Reiz, was als potenzielle Bedrohung? Waren die Konzerte, aber auch die Berichterstattung und die Fanartikel integrative Elemente der sozialen Gemeinschaftsbildung im Musikleben oder konfliktbelastete Streitobjekte? Zu zeigen ist, wie Musik, Sinnlichkeit und Sitte ineinanderwirkten. 123 Varnhagen, Tagebücher, 2.Bd., 385 f. 124 Heine, Werke, Bd. 3, Musikalische Saison von 1844, 587 f. Vgl. auch Wagners Polemik »Der Virtuos und der Künstler«, in: ders., Deutscher Musiker, 103–119.
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Dabei ist auch ein Blick darauf zu werfen, wie der öffentliche Ruhm manche Virtuosen in Charismatiker verwandelte. Eine charismatische Führungsfigur überwölbte im Glauben der Anhänger viele Kategorien: Sie war überlegen, transzendent, unabhängig und in besonderem Maße stark. Gerade die Karriere von Franz Liszt kann als Testfall gelten für die strategisch eingesetzten Inszenierungstechniken eines Ausnahmekünstlers einerseits und der Hingabebereitschaft des Publikums andererseits. Resultierten Ruhm und Charisma primär aus den Fähigkeiten der Künstler und Künstlerinnen, den Zuschreibungen des Publikums oder aus dem entstehenden musikalischen Markt in Europa? Und das heißt insgesamt, danach zu fragen, ob das Virtuosentum des 19. Jahrhunderts als Fortbestand älterer Traditionen oder eher als ein Produkt neuartiger kultureller Transfers in Europa zu verstehen ist. Denn bereits im 18. Jahrhundert gelang es einigen Gesangsstars der italienischen Oper, eine vergleichbare künstlerische und wirtschaftliche Position zu erreichen. Die internationale Präsenz der Virtuosen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist nicht allein durch den sich angleichenden Geschmack und die herrschenden kommerziellen Interessen zu verstehen, sondern ebenso dadurch, dass die Überwindung weiter Strecken zwischen den europäischen Metropolen mit der Eisenbahn leichter zu bewältigen war als mit der K utsche. Die Größe ihres Bekanntheitsgrades in Europa gründete sich daher auf die verbesserten Reisemöglichkeiten. Einer wie Paganini, der durch alle wichtigen Metropolen des Kontinents reiste, gab an, schon in den drei Jahren zwischen 1828 und 1831 fast 200 Konzerte in 40 Städten gegeben zu haben – und behauptete, dabei pro Jahr 5.000 Kilometer in einer Kutsche bewältigt zu haben. Derartige europäische Virtuosentouren setzten standardisierte Vorbilder, welche das Publikum beobachten wollte und die Konkurrenten zu erreichen suchten. Die amerikanische Pianistin Amy Fay hielt darüber fest: »Jemand fragte Liszt, was er wohl sein möchte, wenn er kein Musiker geworden wäre. ›Der erste Diplomat Europas‹ war die Antwort.«125 Gerade die Karriere von Franz Liszt in den europäischen Ländern und Städten ist ein exzellentes Beispiel dafür, dass die um Liszt kreisenden nationalistischen Deutungen – so paradox das klingt – eine europäische Dimension umfassten. Liszt zeichnete sich nicht nur durch seine komplexe kompositorische Formsprache aus und die ihm auf dem ganzen Kontinent in unterschiedlichen Orten entgegengebrachte Verehrung der Publika. In seinem eigenen Leben sind Nationalismus und Universalismus nur schwer voneinander zu trennen. Der gebürtige Ungar korrespondierte primär auf 125 Fay, Musikstudien, 139.
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Französisch. In Weimar ließ er sich als Katholik in einem protestantischen Stammland nieder, im Alter hingegen zog es ihn nach Rom. Die deutschen Staaten, Österreich-Ungarn, Frankreich und in gewisser Hinsicht auch die Schweiz reklamierten ihn als ein Kind ihres Landes.126 Die weit reichende Öffnung des geografischen Raums, des Marktes und des Repertoires gelang beispielsweise dann nicht, wenn man wie in Berlin die Spitzengagen weltberühmter Primadonnen nicht zahlen konnte. Maria Malibran wollte unter diesen Konditionen nie nach Deutschland kommen. Eine Generation später aber freute sich eine Sängerin wie Adelina Patti darüber, die bestbezahlte Künstlerin ihrer Zeit zu sein. Und Angelica Catalani feierten die Berliner während eines Gastspieles als »erste Sängerin Europa’s«.127 Der Ruhm mancher reisenden Künstler erregte nicht nur positive Neugier. Wiederum tratschten die Zeitgenossen – und am neugierigsten und boshaftesten über Paganini. Seine vielen Skandalgeschichten, Berichte über Affären und seine Unansehnlichkeit riefen in Wien kaiserliche Beamte auf den Plan. Die Polizei- und Zensurhofstelle observierte mit Hilfe der Behörden aus Prag die Europareise Paganinis. Spitzel verfertigen Dossiers über die als berüchtigt gewertete Person. Angeblich wichtige Vorfälle hielten die habsburgischen Zensoren fest, unter anderem, dass Paganini in Karlsbad zur Kur gewesen war, welche Krankheit er habe, wo er wohnte, wie sein Tagesablauf und schließlich seine Weiterreise sich gestalteten.128
Virtuosen als Unternehmer und Verkaufsobjekte Reisende Virtuosen und Virtuosinnen agierten als reisende Unternehmer. Unterstützt von Sponsoren, Veranstaltern und Presse, hatten die Musikstars ihre Tourneen aus kommerziellem Interesse heraus vorab zu planen. Dass die Gastspiele stets auch Konsumartikel waren, zeigte sich in der hohen Nachfrage und den hohen Preisen der Auftritte. Diese Summen deckten neben den privaten Interessen der Virtuosen Kosten für Agenten und Manager, für die Reise und die aufwändige Unterbringung vor Ort, für Gastgeschenke und für weitere persönliche Wünsche. Die Künstler verhandelten geschickt über ihre Einkünfte und bemühten sich um die Abgrenzung zu missliebigen Konkurrenten. Heinrich Heine erkannte in der minutiösen Organisation der Tourneen die Quelle der Beliebtheit der Virtuosen. »Es will mich manchmal 126 Vgl. die Beiträge in Altenburg/Oelers (Hg.), Liszt und Europa. 127 HS, 27.6.1816. Vgl. Schmitt-Thomas, Entwicklung, 608–635; Müller, Bernhardt, 230–233. Insges. zum Stellenwert wichtiger Primadonnen in London, Fenner, Opera, 198–246. 128 Wien, VA, P. H. 4249/1828, Paganini, Prag, 18.10.1828.
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bedünken, die ganze Hexerei ließe sich dadurch erklären, daß niemand auf der Welt seine Sukzesse, oder vielmehr die mise en scène derselben so gut zu organisieren weiß, wie unser Franz Liszt. … Die vornehmsten Personen dienen ihm als Compères, und seine Mietenthusiasten sind musterhaft dressiert. Knallende Champagnerflaschen und der Ruf von verschwenderischer Freigebigkeit … lockt Rekruten in jede Stadt.«129 Die kaufmännischen Ziele erfüllten sich in den europäischen Metropolen weit eher und leichter als in den finanziell vergleichsweise schwächer ausgestatteten Provinzstädten. Regelmäßig verdoppelten oder verdreifachten Virtuosen dort die üblichen Eintrittspreise. In London verwirrten die Musikliebhaber die künstlerischen und finanziellen Verdienste Paganinis. In der Presse hieß es zunächst, er kriege jeden Abend 2.000 £, bis es in anderen Blättern berichtigend lautete, seine Konzerte im King’s Theatre kosteten je 3.230 Guinnies, wovon Paganinis Anteil sich auf 2.200 £ belaufe. In einem Rechtfertigungsschreiben behauptete der Veranstalter Laporte, hier finanziell ganz angemessen gehandelt zu haben.130 Ähnliches galt in Berlin. Offen berichteten Zeitungen darüber, dass gerade die hohen Kartenpreise für Paganini das neugierige Publikum noch stärker in den Saal trieben. »Der Concertsaal des Königlichen Schauspielhauses war, des ungewöhnlichen Preises und der sich durchkreuzenden Gerüchte über den wahren Werth des Künstlers ungeachtet, ganz gefüllt, und der Beifall bis zum übermäßigsten Enthusiasmus steigend.« Der italienische Geigenstar nahm mit zwei Talern für jeden Platz eine Summe ein, welche die italienische Primadonna Catalani mit dem Satz von drei Talern im Parkett und vier Talern in der Loge noch übertraf. Immerhin sicherte sich der preußische Staat für die darauf folgende Vermietung der Hofoper ein Drittel der Einnahmen von Paganini.131 Das Publikum strömte nicht nur in die Häuser, sondern verursachte auch unfeine Streitereien und Rangeleien vor den Kartenbüros. Über die personellen und persönlichen Kosten im Vorfeld eines bevorstehenden Auftrittes der »schwedischen Nachtigall« Jenny Lind in Berlin 1844 schrieb ein Leser der »Vossischen« Zeitung erbost: »Keine Hauptstadt der bewohnten Welt [dürfte] ein Billetverkaufs-Büreau mit solchem Eingange aufzuweisen haben, als das der hiesigen Königlichen Schauspiele. Gewiß ist jeder zu dieser Überzeu129 Heine, Werke, Bd. 3, Musikalische Saison von 1844, 588. 130 AT, 21.5.1831, 333 f.; Harmonicon 1831, 137–141. Vgl. Walter, Oper, 150–168; Gooley, Liszt, 157 f. 131 HS, 6.3.1829; HS, 27.6.1816. Berlin, GSTA, BPH, Rep. 19, Theater M, Nr. 2, Bd. 3: TheaterCuratorium, Protocolle über die Conferenzen 1829–30, 8.4.1829. Vgl. Mayer, Gestöhn, 182–189.
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gung gelangt, der sich am Morgen des 18ten d.M. mit einem Billete zur 2ten Vorstellung der Norma zu versorgen gedachte. Inmitten einer stets wachsenden Menge konnte man sich weder rohen Flüchen noch groben Thätlichkeiten entziehen, und während stundenlangen Verlaufes dieser Scenen war kein Polizei-Beamter zu sehen, der dem ruhig Wartenden Schutz geboten oder einen sicheren Rückgang verschafft hätte.«132 Derartige Beobachtungen zeigen: Virtuose und Publikum standen in einem engen Verhältnis zueinander. Virtuosen kreierten ihr Publikum und das Publikum die Virtuosen. Genau im Zusammenspiel des Künstlers und des Kollektivs entstand der Virtuosenkult. Das Genie hatte mit den Erwartungen tausender Köpfe zu ringen, in einem Kampf, in dem es zu siegen entschlossen war und oft rasch gewann, denn ein so zahlreiches Publikum hätte angesichts der höchsten Preise kaum öffentlich seine Enttäuschung zugegeben. Was im Virtuosenkonzert geschah, war nie weltfern oder traumhaft, sondern in seiner Aufmachung, seiner Mode und seinen Preisen eine neue Wirklichkeit der Musikkultur. Auf mehreren Standbeinen ruhte der Glanz des Künstlers: Er oder sie hatten durch ihr Spiel oder ihre Technik ein ungeahntes Erlebnis zu schaffen, in den musikalischen Markt durch die Anziehung Höchstpreise zahlender Besucher einzusteigen, musikalische Konkurrenten zu entwerten und durch eine intensive öffentliche Berichterstattung die persönlichen Charakteristika zu verbreiten. Geschickt kombinierten viele Virtuosen in ihren überlangen Programmen bekannte musikalische Lieblingsstücke des Publikums mit eigenen Kompositionen; Instrumentalisten verbanden Soloauftritte und Orchesterdarbietungen. Liszt beispielsweise gab aus dem Gedächtnis heraus bis zu fünfzig einzelne Stücke zwanzig verschiedener Komponisten. Manche dieser kleineren Werke waren Premieren, die meisten Wiederholungen oder Zugaben. Talente machten den meist vergeblichen Versuch, ihr Repertoire zu erweitern, das Genie wiederholte es. Dabei schwärmten zeitgenössische Berichte nicht nur von der musikalischen Qualität, sondern von der magischen Erscheinung und außermusikalischen Präsenz des Künstlers. Nicht nur die technischen Leistungen der Musikstars, auch ihr Aussehen, ihr Stil, ihr Geschmack und ihre Manieren machten die Zuschauer neugierig. Die Virtuosität eines Liszt oder Paganini, einer Lind oder eines Caruso entsprang wechselnden Diskursen, sich überschlagenden Bedeutungen und Bildern. Das machte es den Zeitgenossen schwer, die gezeigten Aufführungen anders denn als staunenswert zu begreifen.133 132 VZ, 21.12.1844. 133 Vgl. Dahlhaus, Musik, 110 f.; Gibbs, Words, 200–205; Gooley, Virtuoso, 10 f.; Gooley, Liszt, 145–147.
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Virtuosen wie Paganini und Liszt agierten als freie Unternehmer und Konzertstrategen, sie mobilisierten alle Möglichkeiten der Metropolen, in denen sie auftraten, um die eigenen Karrierechancen durch das Publikum zu vergrößern. Gesangsstars wie die Catalani und die Lind erzielten auf der Bühne der Opernhäuser, das heißt auf der Basis einer etablierten Institution des Musikbetriebes, einen vergleichbaren Status. Die größten Erfolge feierten Virtuosen in den 1830er- und 1840er-Jahren durch ihre Konzertreisen. Ausgangspunkte dieser Karrieren waren die ungewöhnlichen technischen Fähigkeiten dieser Künstler und Künstlerinnen, verstärkt durch variantenreiche Tricks. Ältere Techniken und Traditionen überlagerten die Virtuosen durch ihr Improvisationstalent. Die musikalische Form der gebotenen Kompositionen ergänzte man durch unbekannte und spielerisch erscheinende Effekte. Die Fähigkeit, einen Augenblick technisch frappierend und künstlerisch unerwartet zu beherrschen, erstaunte das Publikum.
Meisterinnen und Meister dramatischer Auftritte Die frappierenden Griffe der Spieler auf den Instrumenten, die Geschwindigkeit der Improvisation, die Feinheiten wie die Höhe der Stimmlagen, Riesensprünge und Variationsketten – kurzum, ausschlaggebend war die technische Beherrschung eines Genres. Die »Sonntagsblätter« hielten über die Fingerfertigkeit der Virtuosen so ironisch wie begeistert fest: »Die Konzerte sind die musikalischen Wunderkinder der Zeit, der Zeit, welche Kapricen hat, der Mode. Virtuosität und Technik sind die Lebenskategorien der Konzerte; Virtuosität ihr prunkvolles Leben, Technik ihre glänzende, blendende Erscheinung.«134 Giacomo Meyerbeer rühmte sich, der wahre Entdecker von Jenny Lind zu sein, »der Schöpfer ihres Ruhmes«, schließlich habe er sie auf die Opernbühne nach Berlin gebracht.135 Selbstredend schuf die Zusammenarbeit zwischen Komponist und Künstler, zwischen Veranstalter und Virtuose eine Grundlage für den Ruhm und das Einkommen der Talente. Im Mittelpunkt aber blieben die Wirkungen der Aufführungen, nicht allein die Technik, sondern die Präsenz der Virtuosen. Die Auftritte der Künstler und Künstlerinnen reizten das Publikum weit mehr als die gebotenen Musikstücke, denn die Neugier richtete sich nicht darauf, was die Menschen hörten, sondern
134 Sonntagsblätter, 16.11.1845, 1064 f. 135 Vgl. Meyerbeer, Jenny Lind.
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von wem sie es hörten.136 Über diese geschmackliche Auswahl und die alles überlagernde Konzentration des Publikums auf »ihre« Artistin hieß es aus London anlässlich eines Auftrittes von Jenny Lind etwa: »However, the public interest … was not in Meyerbeer’s opera, but in the representative of Alice – Madlle. Jenny Lind.«137 Das gleiche Urteil fällte auch die »Musical World« – nicht das Werk, die Wirkung des Stars zähle: »Die Sänger und nicht die Komponisten beschäftigen die Menschen: sie denken nicht an was sie hören, sondern an wen. Eine Oper ist für sie eine Kompositionsform voller entzückender Soli für den Hauptsänger; und die langweiligen Füllpassagen dazwischen geben ihnen genug Zeit, um sich im Haus umzusehen und mit ihren Freunden zu plaudern.«138 Technik, Kunst und Künstlichkeit waren bei den großen Virtuosen und Virtuosinnen nicht auseinanderzuhalten. Um die eigenen Möglichkeiten anschaulich zu demonstrieren, ließ Liszt oft zwei Konzertflügel gleichzeitig auf die Bühne stellen – für den Fall, dass bei einem eine Saite reiße, oder für den Fall, dass das Publikum noch nicht hinreichend begeistert gewesen sein sollte. Paganini spielte an bestimmten Abenden vollständige Kompositionen mit Variationen allein auf einer einzigen Saite seiner Violine. Die Londoner »Morning Post« bezeichnete Paganinis Geige als einen körperlichen Teil des Künstlers, mit dem er das Publikum beherrsche. Gleiches gelte für den Reichtum seines Programms. Einem seiner Konzerte schlossen sich trickreiche Variationen über einen Karneval in Venedig an: »With the playful and sparkling hilarity of the allegretto, the sensations of his audience were by turns elevated and serene; depressed and mournful, lightsome and joyful.«139 Ähnliches beobachteten Journalisten in Berlin über Paganinis Leistungen. In einer an Pathos reichen Sprache war zu lesen: »Die Seele der getragenen Stellen, der reine Glockenklang der Höhe, die Energie kräftig rollender Passagen, die mit einer unbegreiflichen Bestimmtheit vorgetragen wurden, rissen die Hörer zu einem stürmischen Enthusiasmus fort.«140 Franz Liszts Berliner Auftritte wenige Jahre später ließen regelmäßig ein Zusammenspiel zwischen dem Virtuosen und dem Publikum erkennen. Erfolg hatte er deshalb, weil er auf dessen Erwartungen zielte. Und umgekehrt: 136 Dazu hielt die MW, 3.4.1845, 160 (Herv. im Orig.), unter der Überschrift »Music, as Variously Interpreted« exakt beobachtend fest: »Take a family in the higher ranks of society, for instance, and question them upon their love for the art. You will find that their musical ambition is limited to a box at Her Majesty’s Theatre.« 137 MW, 8.5.1847, 303. 138 MW, 3.4.1845, 160 (Herv. i. Orig.). Vgl. Dahlhaus, Musik, 113; Hall-Witt, Fashionable, 42–45. 139 MP, 11.6.1831. 140 VZ, 17.3.1829.
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Neuartige Griffe, plötzliche Sprünge, Arpeggien und Läufe, insbesondere die Wiederholung beliebter Stücke, resultierten aus den Sehnsüchten der Zuhörer. »Das von F. Schubert so höchst genial aufgefaßte Lied ›Erlkönig‹ trug Hr. Liszt in den Sextolen-Figuren der linken Hand und Sprüngen so enorm fertig, und die zarten Melodien so reizend vor, daß der enthusiastische Beifall nicht eher endete, bis der gefällige Künstler (dessen Länge der Hände und Finger die weiten Ablangungen der Töne nur möglicht macht) den ›Erlkönig‹ ebenso anziehend wiederholte, und dann die Kunst-Feier durch den Vortrag seines Galop-chromatique beschloß, dessen immense Schwierigkeiten keine Beschreibung zulassen.«141 Der abschließende Satz verrät ebenso die Grenzen der Wahrnehmungsund der Sprachfähigkeit der Anwesenden. Journalisten und Hörer verwiesen auf die Tatsache, dass es trotz allen Staunens am Ende unmöglich sei, die technischen Fähigkeiten des Virtuosen zu beschreiben. Die Aufführung selbst verhindere eine genauere musikalische Analyse. Die Grenzenlosigkeit eines Virtuosen könne nicht mit Hilfe der eigenen begrenzten Sprache erfasst werden, befand etwa die »Morning Post« über Paganinis Fähigkeiten. »Auch nur der Versuch einer Beschreibung dieser Wunder ist unmöglich, welcher uns ohnehin weit weg von dem führen würde, was wir uns erlauben können. Zu sagen, dass niemand, der ihn zum ersten Mal gehört hat, irgendetwas ähnliches schon einmal gehört haben könnte, würde bedeuten, nichts zu sagen; und zu behaupten, dass sie das, wovon sie sich unmöglich im Voraus eine Vorstellung hätten machen können, gehört haben, ist nichts als die banale Wahrheit.«142 Auch häufiges Zuhören, Beobachten und Staunen erkläre diesen Künstler nicht, meinte etwa die »Wiener Theaterzeitung«. »Das ist Paganini! Wer ihn nicht gehört hat, kann auch keine Ahnung von ihm haben. Sein Spiel zu detailliren ist durchaus rein unmöglich; da wird auch ein oftmahliges Hören nicht viel helfen. Wenn ein neues Gehirn auf einer Bahn erscheint, von der man weder Sehne noch Radius errahten kann, da führen auch lange oft wiederholte Observationen nur zu Hypothesen.«143 Ähnliches hielt die Presse über Franz Liszts zweites Berliner Konzert fest. Nicht einmal die eigene Wahrnehmung könne das Genie des Künstlers erfassen. »Immer neu fragen wir uns ob es Wahrheit ist, was wir hören und sehen; beide Sinne wollen kaum ausreichen uns die Überzeugung von der wirklichen Existenz dieser kolossalen Rapidität, dieses Zusammenfassens der Massen zu geben.«144 141 142 143 144
HS, 29.12.1841. MP, 4.6.1831. AWT, 5.4.1828, 167. VZ, 3.1.1842.
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In den Konzerten der Musikstars schmiedeten sich eine Stadt voller Zuschauer und ein Saal voller Zuhörer zu einer durch Rausch und Taumel zusammengeführten homogenen Gemeinschaft. Dieses Phänomen prägte die Veranstaltungen. Die Erwartung der Elite und die künstlerische Glanzleistung, die Teilnahme des Publikums und die Verehrung der Stars – all das wirkte an einem Abend ineinander. Die Auswahl der Spielstätten reichte dabei von den großen Konzert- und Opernhäusern hin zu Hallen in Hotels und in ausgewählten Salons. Paganinis Konzerte sorgten bereits vor der Vorstellung für einen Andrang der Menge. Männer brachten ihre Frauen, Mütter ihre Töchter, Adelige ihre Gefolgschaft herbei, um dieses einzigartige Ereignis gemeinschaftlich zu erleben. Zeitgenössische Berliner Karikaturen zeigen ein unerhörtes Gerangel der Besucher eines Paganinikonzertes. Ganz auf die sich raufende Menge im Vordergrund konzentriert, heißt es im Untertitel: »Wie die Berliner zwei Taler mit Gewalt loswerden.« Was für Paganini galt, galt gleichermaßen für Jenny Lind: Schon vor der Londoner Aufführung drängten sich viele Schaulustige, die sonst eine Oper nur selten von innen gesehen hatten, vor dem Her Majesty’s Theatre, viele Gaffer und Kutschen verstopften den Haymarket. Der Ruf nach der gefeierten Sängerin ertönte auf vielen Straßen und Plätzen, aus den Fenstern dicht mit Zuschauern belegter Häuser. Die meisten Besucher hatten die größte Mühe, um überhaupt ins Gebäude zu gelangen. Und diese Begeisterung vollzog sich, bevor die Lind auch nur eine Note sang. Noch im Jahre 1913 zahlte das aufgeregte Publikum in London nicht nur die üblichen Höchstpreise, um Caruso in Covent Garden zu erleben. Hunderte verbrachten die halbe Nacht vor der Theaterkasse, um überhaupt einen Platz erwerben zu können. Von Caruso stammte das Wort: Eine Aufführung des Troubadour sei im Prinzip ganz einfach, man benötigte dazu nur die vier besten Sänger der Welt. Sein eigener Ruhm überstrahlte dieses Bonmot – auch ein einziger Tenor befriedigte das Publikum vollauf.145 Es ist daher wenig verwunderlich, dass die Auditorien bis zum Platzen gefüllt waren. Der – durch intensive Berichterstattung, ihre Mitwirkung in Konzerten und durch Werbeplakate der Veranstalter – klug vorbereitete Auftritt Angelica Catalanis in Berlin 1827 ermöglichte es, die Säle zu füllen. Das Schauspielhaus fasste 1.700 Personen statt der verordneten 1.200 Besucher. Ausgewählte Adelige und wenige Bürger hatten vor dem offiziellen Einlass 145 Die DN, 21.5.1913, benennt »Caruso’s Return to London« als seine »Historic Night«. Und die MP, 21.5.1913 schreibt: »The interest displayed in the event was very great. In spite of increased prices amounting to double those usually charged, there was not a vacant seat in the house when the curtain rose on ›Pagliacci‹.«
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Abb. 11: Das Berliner Publikum verzichtete 1829 auch nicht auf harten körperlichen Einsatz, um ein Konzert Paganinis erleben zu können.
schon in den ersten Reihen vorne Platz genommen. Den übrigen blieben allenfalls der Vorsaal und die Konditorei nebst Galerien und Treppen zum geräuschvollen Aufenthalt. Der Kritiker Ludwig Rellstab ärgerte sich über das Vordrängeln, über bevorzugt Behandelte, die sich durch Seitentüren illegitim ein Vorrecht auf die besten Stühle sicherten. Das gedrängte Publikum beschränkte sich auf den Jubel für das Gesangstalent der Catalani. Geleitet vom Kapellmeister Möser begleitete sie ein Orchester mit Barockkompositionen, mit Werken von Spontini und Beethoven, und natürlich mit vielen italienischen Arien: »Der Zugang zu dem Innern des Kunst-Heiligthums fand große Schwierigkeiten, welche nur wenige mit der Lokalität Vertraute zu besiegen wußten. Der Concertsaal, nebst Vestibüle, Gallerien, Treppen, VorVirtuosenkult | 155 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
sälen u.s.w. war überfüllt, und eine Scirocco-Hitze, verbunden mit dem unvermeidlichen Geräusch der Gehenden und Kommenden ließ die Zuhörer manche feinere Nüance der Kunstleistungen verlieren.«146
Franz Liszt – ein bewundertes Ausnahmetalent Im ersten Berliner Konzert von Franz Liszt versammelten sich in der Singakademie der König, der Graf von Nassau und eine glänzende Riege der tonangebenden Aristokraten Preußens. Und Teilnehmer aus Wien bezweifelten, ob man den Auftritt dieses Virtuosen überhaupt als Konzert bezeichnen könne. Die adelige Elite, vor allem aber die große Menge der Bildungsund Wirtschaftsbürger ließen für den Künstler selbst auf dem Podium kaum noch Raum. »Von einem Orchester ist bei diesen Concerten keine Rede mehr, denn der dafür vorbestimmte Platz wird von den Zuhörern in Anspruch genommen, und der Concertgeber selbst findet nicht einmal soviel Raum, um nach jedem Stücke, wie es sonst üblich ist, förmlich abzutreten.«147 Redeten die Zeitgenossen über die Bühnenpräsenz eines Künstlers, sprachen sie in erster Linie über Franz Liszt. Paganini begeisterte und erschreckte, Catalani und Caruso feierte man, doch Liszts Persönlichkeit war auf der Bühne bereits präsent, noch bevor er zu spielen begann. Liszt inszenierte seine virtuose Spieltechnik auf dem Klavier wie ein Opernmanager, um die eigenen Wünsche und die des Publikums zu befriedigen. Der Lebemann verfügte über den Charme eines Entertainers und die Erscheinung eines Paolo Conte. Er schlenderte oft schon lange vor dem Anfang des Konzertes in der Mitte seines Publikums, plauderte mit eigenen Bekannten oder wichtigen Personen der Stadt, geleitete die Damen an ihre Plätze, schaffte Raum und Ordnung und tauchte als Führungspersönlichkeit bald hier, bald dort im Saal auf. In Berlin gab Liszt in kaum fünf Wochen 11 Konzerte und 9 Soireen, und dieser Erfolg resultiere daraus, so die »Vossische Zeitung«, dass er ein »Künstler [sei], der sich überhaupt dem Publikum gegenüber auf die einnehmendste Weise entgegenkommend zeigt. … Es ist überhaupt eine Eigenthümlichkeit des so außerordentlich Begabten, daß seine Persönlichkeit sich in natürlichster Freiheit mit seinem künstlerischen Auftreten verbindet und sich so eine gewissermaßen individuelle Verbindung zwischen ihm und dem Publikum herstellt, die den Antheil auf den höchsten Grad steigert«.148 146 Vgl. AMZ, 29 (1827), 355 f.; HS, 2.5.1827; VZ, 2.5.1827. 147 HS, 29.12.1841; AWT, 10.5.1838, 415 f. (Zit.) 148 VZ, 7.1.1842. Vgl. Botstein, Mirror, 527 f.
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Diese visuelle Erscheinung des Virtuosen erinnerte manche Zeitgenossen an Vorstellungen im Opernhaus, weil auf meist undurchschaubare Art und Weise Inszenierung, Deutung, musikalische Mittel und Effekte ineinanderwirken. Die visuelle Form der künstlerischen und künstlichen Kommunikation hatte aber bereits E. T. A. Hoffmann beschrieben. In seinen »Briefen über die Tonkunst in Berlin« unterstrich er die synästhetische Wirkung von Hören und Sehen. Der einzigartige Reiz bestimmter musikalischer Aufführungen stamme eben aus dem Zusammenspiel optischer und akustischer Reize: »Ich sage mit Bedacht: sehen und hören. Die allgemeine Begierde, im Konzert nicht allein zu hören, sondern auch zu sehen, das Drängen nach Plätzen im Saal, wo dies möglich ist, entsteht gewiß nicht aus bloßer müßiger Schaulust: man hört besser, wenn man sieht; die geheime Verwandtschaft von Licht und Ton offenbart sich deutlich; beides, Licht und Ton, gestaltet sich in individueller Form, und so wird der Solospieler, die Sängerin selbst die ertönende Melodie!«149 Jenseits der musikalischen Fähigkeiten des Meisterspielers stach dessen Visualisierung ins Auge. Detailliert sprachen die Zuschauer etwa über Liszts Spielhaltung, beschrieben die Form seiner Hände und die langen Finger. Er nehme die Arme sehr hoch und lasse von oben herab seine Finger auf die Tastatur herabregnen.150 Wie etwa Dana Gooley gezeigt hat, können Liszts Aufführungen als bildhafte Ereignisse verstanden werden.151 Zusehen wurde hierin beinahe so wichtig wie zuhören. Und umgekehrt: Der Virtuose beachtete während seines Auftrittes so eingehend das Publikum, wie die Zuschauer ihn fixierten. Über diese Interaktion zwischen Kunst und Wahrnehmung notierte Amy Fay: »Liszt kennt die Macht, die er über die Menschen hat; er richtet seine Augen beim Spiel stets auf einen von uns, und ich glaube, er versucht, uns das Herz aus der Brust zu ziehen. … Bei seinem Spiele sind zwei Personen in ihm – der Zuhörer und der Spieler.«152 Franz Liszt war der König aller Virtuosen, den seine Fans wie keinen zweiten körperlich zu erreichen und sinnlich zu berühren suchten. Seine zahllosen Abbildungen zeigen nicht nur die bekannte soziale Beachtung in Zeitschriften und Karikaturen, sondern letztlich eine erotische Suche des Publikums nach seiner Nähe. Er vermochte durch seine Präsenz, seinen Charme und durch sein Aussehen gerade weibliche Zuhörer zu bewegen. Denn sein künstlerischer Ruhm speiste sich auch aus seinem Nimbus als sinnlicher Verführer adeliger Damen. Jeder Mann und jede Frau wusste, 149 150 151 152
Hoffmann, Dichtungen und Schriften, 367. Vgl. Allgemeine Preußische Staatszeitung, 29.11.1841. Gooley, Virtuoso, passim. Vgl. Keiler, Liszt and Beethoven, 116–131. Fay, Musikstudien, 134.
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dass Liszt die drei Gräfinnen Adèle Laprunarède, Pauline Plater und Marie d’Agoult – die Mutter seiner Tochter Cosima – erobert hatte. Betrat Liszt die Konzerthalle, stimulierte das nicht nur männliche Hochrufe, sondern auch weibliche Aufschreie. Nicht nur nach den Maßstäben des 19. Jahrhunderts erfüllte er Schönheitsideale und achtete penibel auf modische Kleidung und seine Haartracht. Bereits der optische Unterschied zu Niccolò Paganini war gewaltig. Liszts erotische Ausstrahlung im Konzert begründete erneut seine öffentliche Macht – vor allem über seine weiblichen Fans. Ungarische Zeichnungen rückten diesen Virtuosen als heilbringenden Erlöser in die Mitte einer Gruppe von Frauen, welche ihn, seine Hände küssend, kniend um Berührung und Zuneigung bitten.153 In der vielleicht berühmtesten Karikatur fängt Theodor Hosemann Liszt Anfang 1842 in einem Konzert ein. Mit der Unterschrift »Berlin, wie es ist – und trinkt« stellt der Graphiker zur Schau, wie Frauen in ergebene Rage versetzt werden – und das weniger durch die Musik, sondern in erster Linie durch sein Spiel und seine Erscheinung. Die Frauen trinken, gieren, starren, werfen Kusshändchen und Blumen oder verlieren die Besinnung.154 Gerne ließ Franz Liszt seine Seidenhandschuhe, die er auf dem Podium vor dem Konzert abzustreifen pflegte, wie beiläufig ins Parkett fallen, wo sich dann die Damenwelt um dieselben raufte. Friedrich Engels beobachtete diese Szene mit eigenen Augen und schrieb spottend über diesen öffentlichen Exzess an Karl Marx: »Die Berliner Damen sind aber so vernarrt gewesen, daß sie sich im Konzert um einen Handschuh von Liszt, den er hat fallen lassen, komplet geprügelt haben. … Den Thee, den der große Liszt in einer Tasse stehen ließ, goß sich die Gräfin Schlippenbach in ihr Eau-de-CologneFlacon, nachdem sie die Eau de Cologne auf die Erde gegossen hatte; seitdem hat sie dies Flacon versiegelt und auf ihren Sekretär zum ewigen Andenken hingestellt und entzückt sich jeden Morgen daran, wie auf einer deßhalb erschienenen Karikatur zu sehen ist.«155 Die Männer betrachteten interessiert den Auftritt von Liszt, aber dem Geschlechterideal des 19. Jahrhunderts entsprechend stellten sie sich in ihren Selbstbeschreibungen als beherrschte Kunstkenner dar. Diese männliche Kontrolle der Sexualität war für den Ruhm des Virtuosen, für seine Rolle als erotischer Machthaber zentral. Liszt wusste um seine körperliche Ausstrahlung – und zumal seine weiblichen Verehrer wussten es ebenfalls. Die amerikanische Pianistin Amy Fay hielt 1873 in sinnlich-erotischer Anteil153 Vgl. Worbs, Dampfkonzert, 186 f. 154 Vgl. Worbs, Dampfkonzert, 34; Gooley, Liszt, 210–215. 155 Marx/Engels, Gesamtausgabe, Briefwechsel Bd. 1, 230 (16.4.1842).
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Abb. 12: Die Karikatur ironisiert die Wirkung Franz Liszts auf das Berliner Publikum 1842. Gerade die ohnmächtig werdenden Damen könnten sich ihm demnach kaum entziehen.
nahme fest: »Ich kann wohl sagen, daß in Liszt mein Ideal endlich in gewisser Weise realisiert ist. Er geht weit über Alles was ich erwarte. Wenn er am Clavier sitzt, sieht er vollendet schön aus. … Ich freue mich seiner wie eines ausgewählten Kunstwerkes. Seine persönliche Anziehungskraft ist unendlich groß, ich kann es kaum ertragen, wenn er spielt.«156 Den Glanzleistungen der Virtuosen und Virtuosinnen folgten Zugaben, dem Applaus Unterbrechungen. Die brillanten und besonders beliebten Nummern sparten die Instrumentalisten für den Schluss des Abends auf. Franz Liszts zweites Berliner Konzert rührte die Zuhörer zu Tränen. »Der nicht enden wollende Beifallssturm giebt den allgemeinen Wunsch zu erkennen, die Bitte um Wiederholung. Liszt erfüllt das Begehren.«157 Der »Vossischen Zeitung« verschlug es erneut fast die Sprache bei ihrem Bericht über diese Konzerte, da das Publikum eine »Condensation aller auf das Aeußerste gesteigerten musikalisch-sinnlichen Reizungen« erlebte. »Die sinnliche An156 Fay, Musikstudien, 133. 157 HS, 3.1.1842.
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regung jedoch noch ungleich höher steigernd, [vollbrachte] … der Vortrag des vielgekannten und gehörten und doch jetzt zum erstenmale gehörten Erlkönigs von Schubert der die Versammlung wahrhaft hinriss, und ein, mehr durch den erneuerten Beifall, wie durch bestimmtes Begehren ausgedrückt Da Capo veranlasste.«158 Die Teilnahme des Publikums erschöpfte sich nicht allein im stets beschriebenen Jubel und in den ohrenbetäubenden Geräuschen im Auditorium. Die Londoner Presse begeisterte 1847 ihre Leser in vielen Artikeln über den nur hier erreichten einzigartigen Enthusiasmus des Publikums über Jenny Linds Auftritt in Bellinis Sonnambula. Doch selbst dieser Jubel wurde für viele begeisterte Londoner Musikliebhaber beim Besuch der Königin Victoria und des Prinzgemahl Albert übertroffen. Das Königspaar erschien nebst Hofstaat an zwei Abenden hintereinander im Opernhaus. Das Publikum berührte die emotionale Anteilnahme der fanatischen Opernfreundin Victoria. Von Linds Gesang bewegt, warf die Königin der Briten eigenhändig aus der Loge ein bereitliegendes prächtiges Bukett der Königin der Herzen auf die Bühne herab.159
Männerfantasien und Frauenfantasien Deutlich wird aus diesen Geschichten, wie musikalische Aufführungen Männer- und Frauenbilder vervielfältigten. Künstlerinnen auf der Bühne waren nicht nur gut, sondern auch schön. Physische Attraktivität war bei manchen Männern erwünscht, bei Frauen unerlässlich. Ludwig Rellstabs Männerfantasie stilisierte auf diese Weise Jenny Lind: »Am Sonntag Norma, Jenny Lind. … Sie ist kein Nachbild irgendeiner anderen Künstlerin, sie ist eine völlig selbstständige Erscheinung, die wir … die vollendete Weiblichkeit des Gesanges nennen würden. … Eine edle Anmuth bezeichnet jede ihrer Bewegungen, die eben so weiblich sind, wie der liebliche Ausdruck des Gesanges.«160 In ähnlicher Wertung, noch dazu mit einem Blick auf ihre makellose Schönheit nebst wohlgeformter Figur, hieß es aus London: »Eine menschlich-göttliche Stimme. … Niemand hat an diesem Abend das Theater verlassen ohne das Gefühl, dass sie ›wunderschön‹ sei. … Sie ist von feiner Statur und wohl geformt; ihre Gesichtszüge sind anmutig; ihre Bewegung voller Grazie.«161 158 159 160 161
VZ, 29.12.1841. Vgl. ILN, 15.5.1847, 317. Vgl. Hall-Witt, Fashionable, 253. VZ, 17.12.1844 (Herv. i. Orig.). SP, 8.5.1847, 443.
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Musikalische, sprachliche, bildliche und vor allem soziale Interpretationen machten aus den Bühnenstars Männer und Frauen. Die Wiederholungen der Aufführungen bildeten dabei die Regel. Die Zuschauer, Journalisten und Grafiker reproduzierten so im Auditorium die gewünschte Geschlechterordnung.162 Für Jenny Lind hieß das zusätzlich: Eine Primadonna Assoluta wurde durch ihre allabendliche Erscheinung und durch die tägliche Berichterstattung zu einem Frauenideal ihrer Zeit, zum »Adel echter Weiblichkeit« mit einem »Anflug einer geistigen Jungfräulichkeit«.163 Diese ideale Frau hatte nach Meinung der schreibenden Zeitgenossen nicht nur vollkommen und übermenschlich zu erscheinen, sondern als Frau und Freundin, als Mensch und Mutter durch die Darbietung ihrer Kunst mitten im Leben zu stehen. Kurzum: Aufführungen setzten Normen. Lind gebe ihren Betrachtern eine »verwirklichte Erscheinung der Reinheit, der Unschuld. … Eine geniale Künstlerin … muss alle Situationen gelebt haben, wenigstens sie immer leben können, sie muss Weib, Geliebte, Mutter und – Künstlerin in sich aufgehen lassen, als Wunderblüthe in entsprechender Wahrheit«.164 Maria Malibran brachte als Leonore in Beethovens Fidelio das Publikum zum Weinen – auch das weibliche: »Als die Heldin, nach den Strapazen von Tapferkeit und Anstrengung, die ihrem Gemahl das Leben retteten, erschöpft und der Ohnmacht nahe zu Boden sinkt, brach der gesamte weibliche Teil des Publikums – und auch einige des starken Geschlechts – in Tränen aus.«165 Tränen waren aber bei Männern und Frauen in allen hier untersuchten Städten gleichermaßen zu beobachten. Lind rührte die Wiener Zuschauer genau wie die Londoner, denn sie löste bei ihren Anhängern durch ihr Auftreten eine kaum kontrollierbare Bandbreite von Emotionen aus: Leidenschaft und Leiden, Freude und Herzklopfen: »So gerade, nur so, nehmen wir im Anhören der Lind, muß ein menschliches Herz in Freud und Leid der Liebe jubeln, und weinen – in Tönen. … Wenn sie jene Leidenschaft Kund gibt, die mit ›Eifer sucht, was Leiden schafft‹, geschieht es mit demjenigen seelenhaften Zauber, der ein abgewendetes Männerherz an eine verlassene Weiberbrust zurückzuführen pflegt.«166 Eine der berühmtesten Beispiele der männlichen Gier nach den weiblichen Reizen der Jenny Lind stellt eine Hamburger Karikatur aus dem Jahre 1845 dar. In einer Opernszene steht die sich verneigende Sängerin vor einem 162 Vgl. Oster/Ernst/Gerards (Hg.), Performativität, 10–17. 163 AWT, 24.4.1846, 391. 164 NBMZ, 1 (1847), 119. Vgl. zu dieser Perspektive auf ein weibliches Ideal zwischen öffentlicher Mutterschaft und Erotik Brandt, Germania. 165 MC, 10.5.1836. 166 AWT, 1.5.1846, 414; AWT, 25.4.1846, 933.
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nicht musizierenden Orchester, das offenbar aufgrund des Publikumslärms zu spielen nicht mehr in der Lage ist. Hunderte Männer drängen von ihren Plätzen, die Hände flehentlich in Richtung der Lind streckend, nach vorne, viele Herren rangeln und raufen miteinander, um wenigstens einen Sichtplatz zur Erfüllung ihrer Sinne zu bekommen. Die wenigen Damen dagegen verharren – wenig überraschend – in frostiger Distanz. »Wir sind beglückt! wir sind entzückt! die Lind hat uns den Kopf verrückt«, heißt es in der Unterschrift.167 Diese Karikatur war weniger eine Darstellung der keineswegs effektsüchtigen Jenny Lind als vielmehr ein Dokument eines erotischen männlichen Enthusiasmus. Ein erotisches Zusammenspiel verband die männlichen und weiblichen Fans der Virtuosen miteinander. Die meisten Stiche zeigen allerdings nur die Begierde der Männer, im Unterschied zur augenscheinlich desinteressierten Selbstkontrolle der Frauen. Das »Illustrated London Life« fing 1843 die männliche Annäherungen an eine schöne Diva auf der Bühne des Her Majesty’s Theatre in einer grotesken Darstellung ein. Fast alle Operngläser der jüngeren Männer in den Logen waren auf die allein agierende Sängerin auf der Bühne gerichtet. Diese optische Satire offenbarte nicht nur den Spott über unangepasste Männer, sondern zeigt reale Ambitionen der männlichen Zuschauer, die versuchten, körperliche Nähe aus der Distanz heraus zu gewinnen. Ein ähnliches Bild bot im »Punch« ein Mann, der – bewaffnet mit einer als »common garden« (!) beschrifteten Broschüre – mit seinem Opernglas drei ansehnliche Schöne in der Nachbarloge anvisierte. Der Kommentar spottete über »the anomalies in fashion and dress that prevail in the new establishment«.168 Beide Stiche zeigen jedenfalls das intime Interesse der Männer am anderen Geschlecht – gleichzeitig aus der Nähe und aus der Distanz in der Oper. Gerade die sinnlichen Erfolgschancen der weiblichen – weniger hingegen der männlichen – Bühnenstars verursachten Gerede über die Gefahren der Bewunderung. Die vom Publikum verlangte Attraktivität führte zu einer Beeinträchtigung des guten Rufes – der Künstler und der Zuschauer. Die Angst vor einer erotischen Bedrohung war mithin eine Folge der durch die Publikumsbewunderung zusätzlich verstärkten Reize.169 Debatten über die Körperkontrolle, ja über erotische Wirkungen verknüpften zwei Bedeutungsebenen miteinander: die Erfüllung und die Gefährdung akzeptierter sozialer und kultureller Regeln. Der in sich selbst begründete Widerspruch war ele167 Vgl. zudem Hutcheon, Bodily Charm, 28 f., 153–165. 168 Punch, 12 (1847), 194. 169 Vgl. Hutcheon, Bodily Charme, 181.
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Abb. 13: In dieser satirischen Darstellung verwirrte Jenny Lind in einem Konzert die Männer derartig, dass sie die Beherrschung verloren und versuchten, auf die Bühne zu stürmen.
Abb. 14: Für viele männliche Musikkenner zeigte sich der eigentliche Reiz einer Vorstellung weniger auf der Bühne als im Publikum. Karikatur aus dem Londoner »Punch« 1847. Virtuosenkult | 163 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
mentar und letztlich unlösbar. Denn musikalische Aufführungen versprachen zu verführen und durften genau das aber nicht zulassen. Vor allem durch die öffentliche Darstellung der erotischen Möglichkeiten stand oft zu befürchten, dass die Musiker und ihr Publikum einander preisgaben. Die Presse kritisierte regelmäßig unangemessene Geschlechterverhältnisse. In seiner gewohnt phantasievollen Sprache spottete das Londoner Satireblatt »Punch« zum Beispiel über eine Anzeige im »Manchester Guardian«. Dieser habe, ohne Anerkennung der akzeptierten Moral der Geschlechter, doch tatsächlich eine Anzeige geschaltet, in der das Bett (sic) der Jenny Lind, von ihr Höchstselbst berührt in der Bellini-Oper La Sonnambula, nunmehr zum Verkauf stünde: »Making Much of Jenny Lind. … Jenny Lind – Immense Attraction. The Bed, on which Jenny Lind slept in La Sonnambula, is Now on View and On Sale.«170 Die sinnliche Wirkung der Primadonna Assoluta auf ihre männlichen Gefolgsleute ist ebenso gut in den Geschichten belegt, in denen sich gestandene Männer anstelle der Pferde vor die Kutsche der Sopranistin spannten und sie vom Theater zum Hotel zogen. Geschlechterverhältnisse ließen sich aber auch im Virtuosenkult vertauschen. Während Lind die Männer verführte, verführte Enrico Caruso – ganz der Pionier eines italienischen Tenors – allein die Frauen. An der Wende zum 20. Jahrhundert zeigten Grafiken diesen eher üppigen Mann im Opernkostüm von mehreren faszinierten Frauen umstellt. »Caruso-Fieber« titelte man in Wien 1907 und ergänzte in der Bildunterschrift: »Er ist göttlich! Durch seine Trikots schimmert das Fleisch durch.« Die Berliner Satireschrift »Kladderadatsch« schloss sich dem erotischen Ruhm Carusos an und veröffentlichte ein Gedicht über seine erfolgreichste Rolle auf der Bühne: die des Frauenverführers. »Caruso, Caruso! Sag’ mal, was stellst denn du so Ganz Sonderbares mit Frauen an? Du bist ja der reine Don Juan.«171
Die grenzenlose Freude der Zuhörer ärgerte Gebildete und Anstandsdamen, Geistliche und diejenigen, welche keine Eintrittskarte bekommen hatten. Die Virtuosen hätten das Publikum schwach gemacht. Gerade ein Ausnahmespieler wie Niccolò Paganini rief 1828 die Wiener Zensurbehörden auf den Plan, weil dieser vermeintlich drohte, die Zuhörer in den Wahnsinn zu trei-
170 Punch, 13 (1847), 103. 171 Kladderadatsch, 7.2.1909, 95. Vgl. Rollka, Belletristik.
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Abb. 15: Auch ein Vorbild des Gesanges hat Übergewicht. Spott über Enrico Caruso inmitten seiner weiblichen Fans in Wien 1907.
ben und so die gesellschaftliche Ordnung zu gefährden.172 Obwohl Paganini nicht der erste europäische Virtuose von Rang war, der die Wiener Musikszene eroberte, versuchte die Polizeihofstelle, dem öffentlichen Taumel um diesen Künstler Einhalt zu gebieten. Im Abschlussbericht hielten die Beamten nach eingehender Prüfung Folgendes fest: Paganinis Spiel sei, Gerüchten zufolge, die den Behörden nach einem Konzert am 13. Mai 1828 zugetragen worden seien, körperlich gefährlich. Über ein Konzert habe man »bemerkt, es zirkuliere die Sage, daß mehrere Personen, dann von Ohnmachten und Übelkeiten befallen, aus dem Theater herausgebracht werden mussten«. 172 Vgl. zu Paganinis Auftritte in London MP, 4.6.1831; MP, 11.6.1831.
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Das Ergebnis ernüchterte aber die Beamten: Die Überprüfung habe tatsächlich keine besonderen Gefährdungen durch Paganini erkennen lassen, kleinere Vorfälle seien nicht von Belang gewesen. Sicher habe es Fälle von Ohnmacht gegeben, aber im überfüllten und überheizten Theater hätten eben Zustände geherrscht, wie sie bei leerem Hause nicht zu geschehen pflegen. In einem weiteren Bericht entkräftete ein anwesender Beamter im k.k. Hoftheater für den 21. und 22. Mai die Gerüchte über die angeblich gefährlichen Schwächeanfälle der Zuhörer. »Nur zwei Individuen … wurden von Üblichkeiten und in die Theater-Rückräume gebracht. … Diese Üblichkeiten waren aber unbedeutend, und von einer so leichten Art, daß die davon befallenen, sich nach sehr kurzem Rückzuge sich wieder erholten und auf ihre Plätze zurückkehrten.« Der Bericht vom 24. Mai erwähnt lediglich drei von Ohnmacht befallene Zuschauer.173 Tiefer aber als viele Hörer traf Gioacchino Rossini das Spiel Paganinis. Der Komponist war ein leidenschaftlicher Koch, Bonvivant und Schlemmer und berichtete, er habe nur bei drei Gelegenheiten in seinem Leben geweint. Zum ersten Mal, als sein Il barbiere di Siviglia bei der Premiere durchfiel. Zum zweiten Mal, als er selbst Niccolò Paganini Geige spielen hörte. Und zum dritten Mal, als während eines Picknicks zu Wasser auf dem Comer See ein ungeschickter Lakai den mit Trüffeln gefüllten Truthahn über Bord fallen ließ. Ein Dichter wie Heinrich Heine konnte die befürchtete Verbindung von Virtuosenkult und Volkskrankheiten mit guten Gründen ins Reich gesellschaftlicher Ironie verbannen. Die Krankheit der Künstler sei letzten E ndes Ausdruck einer Krankheit des Publikums. Den Kult um große Virtuosen begriff er als »eine wahre Verrücktheit, wie sie unerhört in den Annalen der Furore! Was ist aber der Grund dieser Erscheinung? Die Lösung der Frage gehört vielleicht eher in die Pathologie als in die Ästhetik«.174
Beherrscher des Publikums und Beherrscher der Gesellschaft? Die Verehrung der Virtuosen lief fast immer auf eine Legendenbildung hinaus. Im Zeitalter sich rapide verändernder sozialer, politischer und ökonomischer Bedingungen gaben Ausnahmekünstler ihren Musikfreunden nicht nur Halt und Sicherheit. Das Publikum verwandelte sie in Ikonen, viele erlebten Virtuosen als übernatürlich, ja, als sakrale Heilsbringer. Die Berliner »Haude- und Spenersche Zeitung« urteilte über Angelica Catalani, dass ihr 173 Wien, VA, P. H. 3557/1828. Vgl. Hanson, Muse, 126–129. 174 Heine, Werke, Bd. 3, Musikalische Saison von 1844, 587.
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Gesang »das wahre religiöse Entzücken« auslöse.175 Im ungekannten Enthusiasmus des drängenden Publikums bei Jenny Linds Londoner Auftritt erkannte ein Kritiker, dass die Kunst hier begann, die Natur zu kultivieren (»Art used to cultivate nature«).176 Wieder und immer wieder deutete die Presse das Spiel ihrer erwählten Künstler als jenseitige Dimension der Musik, welche einem Wunder gleichkomme.177 Rellstab verlieh seiner Begeisterung über Paganinis übermenschliches Spiel in Berlin in seiner Besprechung Ausdruck: »Mit einer Art von Sehnsucht, ich gestehe es gern, erwartete ich die ersten Töne dieses unsterblichen Spielers. … Diese Gesamtheit erstaunenswürdiger und schöner Leistungen hatte nothwendig einen Beifall erzeugt, wie ihn Ref. in einem Konzert noch nicht erlebt hat.«178 Nicht ohne Sarkasmus und fremdenfeindliche Ironie erklärten Journalisten mit Hilfe deutscher Sprachspiele Sigismund Thalberg in London zu einem gefeierten Got(t) des Publikums: »When he had finished his two or three hours oration, the listeners drew back, and lifting up hands and eyes, exclaimed ›Vwhy! – you are Got! – you are Got!‹ Indeed, some of Thalberg’s achievements approach the miraculous.«179 Die Fans der Virtuosen waren beileibe nicht nur Konzert- und Opernbesucher. Eine weit größere Gruppe erreichte der Starkult durch Zeitungen und Zeitschriften, durch Balladen und Bilder, durch Süßwaren und Kitsch. Täglich sprach man über Virtuosen und staunte über deren mediale Präsenz. Diejenigen Musikliebhaber, die keine Karten erhalten hatten oder, wie wohl in den meisten Fällen, die hohen Eintrittspreise nicht bezahlen konnten, nahmen so an der öffentlichen Geltung der Künstler Anteil. Carusos Beschwerde über die Berliner Feuerwehrleute, die ihm hinter der Bühne nicht einmal gestatteten, seine geliebte Zigarette anzuzünden, tauchte in zahlreichen Feuilletons auf.180 Franz Liszts Porträt zierte während seiner Auftritte viele Zeitungen und Unterhaltungsblätter.181 Besucher der Aufführungen von Jenny Lind 175 HS, 25.6.1816. 176 ILN, 8.5.1847, 301. Vgl. Biddlecombe, Construction, 45–61. 177 Vgl. MW, 11.6.40, 361–364 (Zit. 361) – Liszt’s Pianoforte Recital: »Viewed, then, as a display of pianoforte-playing, and putting music out of question, it was little short of a miracle.« 178 VZ, 17.3.1829. Vgl. zu Berlin insges., Mahling, Musikbetrieb, bes. 68–75; Schenk, Berlin, 89–113. 179 »Nachdem er seine zwei bis drei stündige Rede beendet hatte, reckten die Hörer Blick und Hände gen Himmel und riefen: ›Warum! – Du bist Gott! – Du bist Gott‹. Tatsächlich kommen einige Erfolge Thalberg’s einem Wunder nahe.«, MW, 19.5.1837, 157. Vgl. Gerhard, London und der Klassizismus. 180 Vgl. Otto, Lindenoper, 210. 181 WZ, 26.5.1838, 759.
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in Wien genossen in den Pausen eine nach der Sängerin benannte Eiskrem.182 Der Paganinikult in Wien sorgte dafür, dass Speisen, Kleider und sogar die Fünf-Gulden-Scheine – die Eintrittsgebühr für seine Konzerte – als »Paganinerln« auftauchten. Mode und Verkaufserfolge führten dann endgültig zu Devotionalien wie Paganini-Hüten, Paganini-Handschuhen und dazu, dass Konditoren Paganinis Portrait als Abbild eines zweifachen sinnlichen »Geschmackes« auf Backwaren setzten.183 Die Musikliebhaber verehrten ihre Künstler als Beherrscher des Publikums und damit als Regenten der Gesellschaft. Zeitungen stellten Instrumentalisten wie Liszt und Paganini auf die gleiche Stufe184 und verwandelten die Sängerinnen Catalani und Lind in Führungsfiguren. Die »Wiener Theaterzeitung« schrieb über die Geister der Musik: »Wie Sklaven beugen sie sich demütig seinem Herrscherwillen.«185 Jenny Lind beschrieb man als »Mittelpunct des Tagesgesprächs, die gewaltige Beherrscherin des Augenblicks.« Sie sei in Wien wie in Berlin »die Alleinherrscherin im Kunst-Geschmack des Tages«.186 Die Catalani feierten die Kritiker nach ihrem Konzert 1816 nicht wie eine, sondern als Königin. »Als Königin des Festes reich, doch einfach geschmückt, trat die vielgefeierte Sängerin, jubelnd begrüßt, mit der großen Bravour-Scene von Portsgallo: ›son Regina‹ (ich bin die Königin) zuerst auf. … Unendlicher Beifall folgte der Gesanges-Königin. … Am Schluß im ›God save William the King‹, in englischer Sprache überaus reizend und zur Volks-Begeisterung hinreißend gesungen: von dieser elektrisch berührt stimmte auch hier … die glänzende Versammlung in die Wiederhohlung der 2ten Abtheilung des ächten National-Liedes ein.«187 Noch elf Jahre nach diesem Auftritt wiederholte sich auch 1827 der Herrscherkult um die Catalani – wiederum in Gegenwart des Königs, der königlichen Familie und der abschließenden Hymne der Macht »Heil Dir im Siegerkranz«: »Diese Stimme ist in ihrer Lauterkeit und Macht überall herrschend und dieses kühne ja eigenwillige Schalten über alle Mittel … das Bewußtsein der Herrscherin nie verleugnende Liebreiz ist in dieser Vereinigung nur ihr eigen.«188
182 Meyerbeer, Jenny Lind. 183 Wanderer, 11.5.1828. Vgl. Hanson, Muse, 127; Deutsch, Folklore, 100–102. 184 Vgl. zu dieser häufigen Parallelität den Beitrag in der Allgemeine Preußische Staats zeitung, 29.11.1841. Ähnlich wie in Berlin hieß es aus London: MP, 9.5.1840: »Liszt is certainly the most capricious, eccentric, and marvellous of performers on his instrument – in brief, the Paganini of the piano.« 185 AWT, 10.5.1838, 415 f. Vgl. VZ, 29.12.1841. 186 AWT, 24.4.1846, 391. 187 HS, 27.6.1816 (Herv. im Orig.). 188 BAMZ, 4 1827, 120. Vgl. Haupt/Tacke, Kultur des Nationalen, 255–283.
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Als Franz Liszt Anfang März 1842 Berlin endlich verließ, wurde seine Abreise nicht nur zu einem Triumphzug durch die Stadt, sondern auch zu einem Fest für einen Monarchen der Kultur. Diesen Virtuosen verabschiedeten tausende Berliner und Berlinerinnen wie einen König, begleiteten ihn zu Fuß oder in Kutschen und Wagen. Bürger und Studenten, 120 Postpferde und ein Musikkorps führten seinen Zug an. Die große Menschenmenge drängte sich vor seinem Hotel, auf den Straßen, schließlich auf dem Schlossplatz und winkte ihm bei seiner Abfahrt aus den Fenstern der Häuser zu. Seine Anhänger ließen Liszt durch Sprechchöre und Gesang hochleben und versuchten ihn schließlich vor dem Stadtschloss mit Handschlag zu berühren. Manche Zeitgenossen konnten beobachten, wie die Ausnahmegestalt eines Virtuosen zu seiner Verehrung in der Gesellschaft führte. Denn auch der preußische Hof, der König und die Adeligen, konnten dabei nur als Zuschauer und Zuhörer teilhaben. Karl August Varnhagen von Ense, der die festliche Huldigung Franz Liszts durch die Berliner selbst erlebte, notierte überrascht: »Der König und die Königin waren nur in der Stadt spazieren gefahren, um den Jubel zu sehen. Man sagt, der Hof und Adel sei außer sich, daß ein Musikant wie ein König geehrt werde, ja für den Augenblick diesen verdunkle.«189 Heinrich Heine gelangte zu einem noch schärferen Urteil und erkannte in der Berliner Verehrung von Franz Liszt eine Abkehr des Bürgertums von den politischen Zuständen der preußischen Restauration. »So erklärte ich mir die Lisztomanie, und ich nahm sie für ein Merkmal des politisch unfreien Zustandes jenseits des Rheines.«190 Der Ruhm des Virtuosen begründete in der Wahrnehmung mancher Bürger nicht nur seine ästhetische, sondern auch seine gesellschaftliche Führungskraft. In Abgrenzung von den geltenden Attraktionspotenzialen im Musikbetrieb bezeichneten manche Journalisten die Anziehungskraft des Virtuosen als Kondensat der männlichen Tugenden – Handlungsfähigkeit, Mut, Kampfeslust – und Unabhängigkeit. Die entschiedensten Anhänger erfolgreicher Virtuosen verehrten ihre Künstler als Beherrscher des Publikums und als Herrscher der Gesellschaft. Ihre Physiognomie reduzierten die Darsteller auf wenige auffällige Merkmale, um die breitenwirksame Rezeption zu erleichtern. Die Verehrung der Virtuosen warf damit für die Zeitgenossen eine grundsätzliche Frage auf. Wie sollte sich der Glaube an die Ausnahmekraft des Virtuosen einfügen in die bestehende Ordnung der Gesellschaft, die auf 189 Varnhagen von Ense, Tagebücher, Bd. 2, 30. Vgl. VZ, 5.3.1842; HS, 4.3.1842. Noch 1873 bilanzierte Amy Fay, Musikstudien, 119: »Liszt ist wie ein Monarch. Keiner wagt zu ihm zu sprechen, bis er nicht von ihm angeredet worden ist.« 190 Heine, Werke, Bd. 3, Musikalische Saison von 1844, 587.
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etablierten Regeln und Institutionen beruhte? Diese Frage lässt sich kaum trennscharf beantworten, aber hilfreich ist es, auf eine Analogie zu verweisen. Der Glaube an und die Hoffnung auf ein Wunder durch den Virtuosen verbinden sich mit Max Webers Konzept der charismatischen Herrschaft. Nach Weber zeichnet einen Charismatiker aus, dass seine Anhänger ihn als göttlich gesandt verehren und in ihm einen einzigartigen Anführer erkennen. Dieses gleichermaßen metaphysische wie gesellschaftspolitische Konzept Webers ist auf das 20. Jahrhundert hin ausgerichtet, entspricht aber wenigstens in Ansätzen dem Idealtypus des Virtuosen. In vielen Presseberichten, Grafiken und Fanartikeln sind Elemente der charismatischen Herrschaft enthalten: Übermenschliche Aura, vorbildliches Handeln, ästhetische Wunder und vor allem die willige Bestätigung des Ranges durch alle Anwesenden. Das Publikum versagte sich oft willentlich jeder menschlichen Beurteilung und erfreute sich an seiner sakralen, unerreichbaren Heldenfigur. Denn wer den in einen Charismatiker verwandelten Virtuosen persönlich als Mensch kennenlernen wollte, drohte seinen Rang zu verkennen.191 Es war der Wille des Publikums, der im Virtuosenkult vieles ineinanderwebte: musikalische Unterhaltung und körperliche Erlebnisse, soziale Identifikation und sakrales Entrücken. Die Virtuosen avancierten im Weltbild des Publikums zu Schlüsselfiguren, die beinahe alle denkbaren Probleme bewältigten. Die scheinbar nur durch große Virtuosen mögliche Eröffnung großer musikalischer Interpretation versprach dem Individuum Heil, dem Kollektiv sogar sakrale Überhöhung. Diese Ausnahmekünstler verhießen den Kunstfreunden Sicherheit in einer sich modernisierenden Welt. Die öffentliche Bestätigung entsprang der Fantasie und den Wünsche der Zuschauer.192
Konkurrenz belebt die Karriere Der gesellschaftliche Kult um die Virtuosen spiegelte sich oft in Kontrasten und in Karikaturen. Den positiven Verklärungen setzten kritische Beobachter negative Berichte, öffentliche Polemik und dämonische Legenden entgegen. Konkurrenz belebte nicht nur das Geschäft, Virtuosen brauchten Herausforderungen und Herausforderer. Dass der Wettkampf gerade im Virtuosenkult niemals ruhte, zeigte Franz Liszt selbst, der in einem eigenen 191 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 654–687; und die schlüssige Interpretation der Deutungen des Lohengrin bei Frevert, Moderne Politik, 49–66. 192 Vgl. Sennett, Verfall, bes. 225–228; Gooley, Battle, 90–92.
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Pamphlet gegen das Spiel, die Kompositionen, das Auftreten und die Qualität von Thalberg zu Felde zog. Liszt suchte sich durch eigene Hand als überlegener Künstler gegen diesen vermeintlichen Konkurrenten zu profilieren, um seine eigene pianistische, öffentliche und letztlich kommerzielle Stellung auszubauen. Auch seine zahlreichen Verbündeten beschrieben Thalberg als Talent und Liszt als Genie.193 Schärfer als die publikumswirksame Abgrenzung der Virtuosen voneinander fielen die Kritiken mancher Zeitungen gegen die kommerziellen und letztlich öffentlich überschätzten Ambitionen der Gesangsstars aus. Die Wiener »Neue Zeitschrift für Musik« und die »Sonntagsblätter« schrieben von einer »ganz neuen Krankheit: das Lindfieber nämlich, … das gute drei Viertheile Wiens ergriffen hat. … Was nun diese Sängerin betrifft, so halte ich sie für eine recht geschickte, aber ungeheuer überschätzte Künstlerin«. Die Lind sei das Produkt der Impresari, der Konzertveranstalter und der Überschätzung ihres Renommees durch das Publikum. Musik sei das Wichtigste im Leben – aber Lorbeer höher als Leistung: »Dlle. Lind gefiel uns sehr, aber sie machte keinen Eindruck, welcher der Größe ihres Renommees entsprach, welcher die Aufregung gerechtfertigt hätte, die ihre Hierherkunft erzeugt hatte.«194 Intellektuell vielleicht weniger anspruchsvoll, sprachlich aber polemischer, unternahm die »Allgemeine musikalische Zeitung« einen Vorstoß gegen die naiven Bewunderer der Virtuosen und Virtuosinnen. Der Geschmack der voranstrebenden Zeit raube den unbeherrschten Besuchern ihre Bildung und mache auch menschlich Schlimmes aus ihnen – Schüler und Transvestiten. »Der Virtuosenspuk ist für Schüler, schülerhaft, schülerartig, dem schülerischen Standpunkte angemessen, der die persönliche Fertigkeit des Meisters anstaunt und nacheifert. … Könnt ihr die Männer in Weiberröcken und vice versa abschaffen, könnt ihr den Virtuosen ihr schlechtes Handwerk legen, so habt ihr etwas Grosses getan.«195 Derartige kritische Stimmen verblassten in ihrer Intensität vor dem dämonischen Mythos, der den Ruf Paganinis beschädigte. Dieser Star sicherte seine Bekanntheit nicht nur durch seine musikalische Qualität, sondern ebenso durch seinen negativen Nimbus. Der Pianist Liszt rangierte in sakralen Sphären, der Violinist Paganini in der Hölle. Paganini veröffentlichte regelmäßig Briefe in den Blättern, in denen er unterstrich, er habe entgegen
193 Vgl. AMZ, 39 (1837), 106 f.; Gooley, Liszt, 152–155; Gibbs, Words, 191–203; Müller, Bernhardt, 241–244. 194 NZfM, 24 (1846), 179 f.; Sonntagsblätter, 26.4.1846, 398 f. 195 AMZ, 50 (1848), 843 (Herv. i. Orig.).
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mancher Gerüchte stets wie ein »freier geachteter, die Gesetze getreulich befolgender Bürger« gelebt.196 Das nützte nur seiner Karriere, aber nie seinem Ruf. Der Stellenwert des auserwählten, aber gleichzeitig getriebenen Virtuosen passte perfekt in seine öffentliche Darstellung. Die Gerüchte über seine Krankheiten, sein hageres, fahles Aussehen und seine langhaarige Frisur, seine angeblich minderjährigen Mätressen und befürchtete politische Verfehlungen tauchten auf sämtlichen Konzertreisen auf. Ein satirisches Blatt wie der »Figaro in London« begriff Paganini als einen politisch wie kulturell fremden Verführer. Solche Virtuosen seien »foreign performers under the direction of a foreign manager«.197 Alle entstellenden Legenden über Paganini verblassten aber gegenüber den Schilderungen, die ihn als dämonische Entstellung, als Anbeter und Propheten des Teufels beschrieben. Verleger reproduzierten zahlreiche Stiche, die einen so bedrohlichen wie faszinierenden Teufelsgeiger darstellten: einen schlaksigen Mann, mit langen und wirren Haaren, der unter tanzendzuckenden Bewegungen sein Instrument traktierte. Die Dämonisierung zum »Paganini dem Hexenmeister« wertete die Person ab, aber seinen bedrohlichen Ruhm auf – von den rapide steigenden Verkaufszahlen der Pamphlete, Bilder und Konzertkarten ganz zu schweigen.198 In diesem Dompteur eigener Skandale erblickte man im günstigeren Falle die »Gränzlinie der Caricatur« und im ungünstigeren die Trickkünste eines schwarzen Zauberers: »He possesses a demon-like influence over his instrument, and makes it utter sounds almost superhuman.«199 Hector Berlioz erkannte in Paganini ein »Talent, das alle gängigen Vorstelllungen über den Haufen warf, alle bekannten Methoden verachtete, das Unmögliche versprach und es hielt«.200 Auch der die musikalische Ironie sicher beherrschende Heinrich Heine kleidete Paganini in schwarze Verfallsmetaphern, während er dessen Konzert beschrieb: »Auf der Bühne kam eine dunkle Gestalt zum Vorschein, die der Unterwelt entstiegen zu sein schien. Das war Paganini in seiner schwarzen Gala. Der schwarze Frack und die schwarze Weste von einem entsetzlichen Zuschnitt, wie er vielleicht am Hofe Proserpinens von der höllischen Etikette vorgeschrieben ist. Die schwarzen Hosen ängstlich schlotternd um die dürren Beine. … Ist es ein Toter, der aus
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ÖB, 19.4.1828, 458. Figaro, 28.7.1832, 139. Vgl. Storck, Musik, 328, die Abbildung »Paganini der Hexenmeister«. HS, 17.3.1829; AT, 4.6.1831, 364. Vgl. Johnson, Listening, 265–267; Schmitt-Thomas, Entwicklung, 577–582. 200 Berlioz, Schriften, 194.
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dem Grabe gestiegen, ein Vampir mit der Violine der uns, wo nicht das Blut aus dem Herzen, doch auf jeden Fall das Geld aus der Tasche saugt?«201 Deutlicher wurden hierin noch manche Wiener Blätter, die in allen Virtuosen lediglich trickreiche Schausteller sahen, die dem Publikum statt Kunst nur oberflächliche Zerstreuung böten. Derartige Künstler hätten »keinen echten musikalischen Gedanken …, aber hundert, im Schweiße des Angesichts ausgesonnene kleine Spielarabesken, die allen Gesetzen der Akustik hohnlachen mit verrenkten Fingern herschnörkeln. … Das moderne Virtuosenthum [ist] eine Anmaßung. … Die Herabwürdigung der Kunstmusik zur elendesten Buhlerei mit den rein sinnlichen Bedürfnissen einer überreizten, vor jeder Anregung des Geistes und des Gemüthes zurückscheuenden, in der Kunst nur eine leere Zerstreuung, einen süßen Taumel, eine wüste Betäubung suchenden Publikums«.202 Kritische Berichte über die Virtuosenmode und über die Naivität des Publikums mündeten schließlich in Forderungen, den Geschmack des Publikums zu verbessern. Manche Journalisten diffamierten offen den Showeffekt der Solisten und nannten deren Spiel eine trickreiche Täuschung des Publikums, welche durch diese Mode das Gute in der Musik einbüßte.203 Das Publikum allein entscheide letztlich über die Qualität des musikalischen Geschmacks. Es komme darauf an, »den Geschmack des Publikums von der Virtuosenbalgerei abzuziehen und zugleich den Fortschritt symphonistischer Gestaltungen darzulegen. Die technische Richtung muß in ihre Schranken gewiesen werden … denn eine Übersättigung trifft bei der Musik gar leicht ein. … Wenn jeder Virtuose sein will, ist es zuletzt keiner. … Zuletzt liegt der wichtigste Moment im Geschmacke des Publikums. Was ihm gefällt wird gepflegt, was ihm mißfällt geht unter«.204 Virtuosen veränderten ästhetische Grenzziehungen, verteidigten aber die soziale und politische Ordnung. Auf der einen Seite überschritten sie nicht nur geltende technische Regeln und kulturelle Praktiken, sie erfanden neue. Auf der anderen Seite aber waren Virtuosen weniger die Gesellschaft treibende Personen als von der Gesellschaft getriebene Künstler. Sie passten sich – ganz den Interessen und dem Geschmack der Elite folgend – im Laufe ihrer Karriere den Erwartungen des Publikums an. Musikalisch betrachtet war ihr Repertoire selten innovativ, bestimmten Wiederholungen beliebter Stücke das Programm. Franz Liszt kann als ein Mann beschrieben werden, welcher immer wieder sein Auftreten den Wünschen seiner Zuhörer an201 Heine, Werke, Bd. 2, Florentinische Nächte, 559–612, hier 577. 202 Sonntagsblätter, 16.11.1845, 1064–1066; NWMZ, 5.1.1854, 2. 203 Das Spiel Franz Liszts kritisierte man auch in London, vgl. MW, 11.6.1840, 364. 204 AWM, 17.9.1846, 544 f. Vgl. noch VZ (MA), 10.10.1906.
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passte, sein Spiel technisch verfeinerte, dabei aber stets versuchte, kulturelle Sicherheit zu vermitteln, indem er dem Publikum im behaglichen Raum des Auditoriums ein kontrolliertes Chaos vermittelte.205 Seine Anhänger sprachen fasziniert von den Widersprüchen und Reibungsflächen dieser musikalischen Praxis, suchten die »Vorstellung des Contrastes« zu begreifen.206 Genau diese Flut an gesicherten Reizen begründete die Wirkung der Künstler. Auf eine Formel gebracht, kann der Virtuosenkult weniger als die Leistung von Individuen denn als eine soziale Praktik der Elite interpretiert werden, die dadurch ihre Interessen und Werte befriedigte. Das machte den Stellenwert der Virtuosen aber für die Zeitgenossen wie für die Forschung oft schwer durchschaubar. Viele Konzertabende der Virtuosen lassen sich als Ausdruck des theatralischen Zeitalters im 19. Jahrhundert verstehen. Hilfreich ist es, die Spielstätten als Orte der Theatralität zu betrachten, genau genommen von einer zunehmenden Theatralisierung der gesellschaftlichen Ordnung zu sprechen.207 Liszt und Paganini trugen die Effekte und Geschichten von der Opernbühne durch ihr eigenes Spiel in den Konzertsaal. Für das Publikum bedeutete das: Die Idealvorstellung der Zuhörer richtete sich auf wirklichkeitsgetreue Illusionen. Mithin war es kein Wunder, wenn Menschen Virtuosen wie »SchauSpieler« auf der Bühne des Lebens ständig beachteten, sie als theatralische Schöpfungen des Publikums ersehnten.208 Im Unterhaltungscharakter der Virtuosenkonzerte erblickten einige Anhänger ein Kinderspiel. War es der Wunsch nach einem freudigen Spiel, der das Publikum in Erstaunen versetzte? Das jedenfalls meinte Benjamin Lumley, der langjährige Direktor des Londoner Her Majesty’s Theatre: »Das Volk ist in mehrerlei Hinsicht ein Kind, vor allem ein verwöhntes Kind – ein sehr verwöhntes Kind. Es schrie immer noch nach seinem Lieblingsspielzeug – Jenny Lind. Egal wie großartig das neue Spielzeug ist, an dem es sich hätte ergötzen und erfreuen können, es nimmt es nicht auf dieselbe Weise an, auf die es dies unter anderen Umständen vielleicht getan hätte.«209 Der Umgang des Publikums mit den Virtuosen lässt sich als ein Gesellschaftsspiel der Eliten begreifen.210 Die Hörer genossen den spielerischen 205 Grundlegend hierzu Gooley, Liszt, passim. 206 HS, 25.6.1816. 207 Vgl. Supicic, Music, 281–309; Parker, Opera Industry, 87–117; Daniel, Hoftheater, 34–38; Soeffner/Tänzler, Figurative Politik, 17–33; sowie die wichtigen Überlegungen von Paulmann, Pomp, 212–214. 208 Vgl. Botstein, Mirror, 526–531. 209 Lumley, Reminiscences, 240. 210 Vgl. hierzu den Klassiker von Huizinga, Homo Ludens, 9–51, 153–166; sowie den Ansatz von Gigerenzer, Bauchentscheidungen; zur Performanz Fischer-Lichte, Ästhetik.
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Charakter musikalischer Aufführungen auf und vor der Bühne, erfreuten sich an den Ritualen und Überraschungen des Abends. Spielerische Momente lagen in der Schönheit der auditiven Harmonie und der Kleidung eines attraktiven Künstlers, in Überraschungen der akustischen Disharmonie oder in den körperlichen Geräuschen des Sitznachbarn. Oft war das Publikumsverhalten von einem Gesellschaftsspiel kaum zu unterscheiden. Zu vermuten ist, dass die Ähnlichkeit musikalischer und spielähnlicher Rituale die Aufführungen strukturierte. Vielleicht stellten die Virtuosen die letzten Stars eines vormodernen musikalischen Zeitalters dar und waren erste Initiatoren der sich abzeichnenden Medienstars der Moderne. Der Hass auf die moralische Entstellung einzelner Virtuosen mündete in eine neuartigen Bewertung des Virtuosentums ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die normativen Ideale des Musikpublikums verwandelten sich nach 1850, und immer häufiger redete man kritisch über virtuose Karrieren. Nicht nur die bürgerliche Verklärung »guter« und »wahrer« Kunst grenzte die Musikliebhaber von den vermeintlich oberflächlichen Effekten des Virtuosenspiels ab. Ausschlaggebend für den Niedergang des Virtuosenkultes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, oder, genauer gesagt, für dessen Verwandlung, war wohl die Professionalisierung des Musiklebens. Die Einordnung der gut ausgebildeten, aber oft normierten Künstler in institutionell geregelte Verhältnisse und Spielstätten verursachte ebenso einen Rückzug vor der musikalischen Mode des Ancien Régime. Neue Leitbilder des Künstlers und neue Möglichkeiten der Darstellung begründeten um die Wende des 20. Jahrhunderts andere Karrieren. Die Verbreitung des Phonographen und der Schallplatte veränderte die musikalische Rezeption auf dem europäischen Markt. Der Tenor Enrico Caruso kann weniger als einer der letzten Virtuosen, sondern vielmehr als ein aufsteigender Medienstar gesehen werden. Es war das neue Medium der Schallplatte, welches der bis dato nur einigen Kennern bekannte Caruso im Jahre 1902 mit einer Auswahl italienischer Arien erstmals nutzte. Nur die so erzielten Verkaufszahlen machten den Unbekannten bekannt und begehrt. Die Schallplatte begründete seine Opernkarriere an der Metropolitan Opera in New York mit seinem ersten Engagement an diesem Haus 1903 – und von da an in der ganzen Welt.211 Die phonographische Karriere Carusos war keineswegs ein Einzelfall, wenn man etwa die erfolgreichen Plattenaufnahmen
211 Bereits 1902 hieß es in einer Werbung der amerikanischen RCA für die erste Schallplatte Enrico Carusos: »Wouldn’t you like to have these Metropolitan stars as your Christmas guests?«, zit. n. Mauser/Schmidt (Hg.), Geschichte, 211.
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der Adelina Patti in den Jahren 1905 und 1906 durch die Edison-Gesellschaft bedenkt. Die Professionalisierung des Musiklebens, die Entwicklung bestehender Spielbetriebe und Orchester, neue Werkgattungen und Wertmaßstäbe entzogen dem Virtuosentum zunehmend die Grundlage. Wichtige Kritiker wie Eduard Hanslick führten einen bildungsbürgerlichen Feldzug für die Verbreitung ihrer »absoluten Musik«, sinfonischer Werke und deutschsprachiger Opern. Im Zerrbild simpler sprachlicher Dichotomien kontrastierte man ein neues Musikleben gegen überholte Virtuosen, Substanz gegen Ober fläche, Glück gegen Egoismus, Norm gegen Abnorm.212 Bereits 1845 führte die »Neue Zeitschrift für Musik« über den modischen Geschmack um die Virtuosen aus: »Wozu dienen doch die Virtuosenkonzerte? … Man kann in diesen Concerten allerlei Gedanken nebenbei haben, über geschmackvolle Damentoiletten, schöne Taillen, leere Bänke, kritische Physiognomien, Freibillets etc.«213 In der Mitte des 19. Jahrhunderts verschwanden die Virtuosen und Virtuosinnen ohne besonderes Aufsehen in der Erinnerung des Publikums. »Daß auf die Herrschaft des Virtuosentums Übersättigung folgen mußte, ›wie die Trän’ auf die Zwiebel‹, liegt in der Natur der Sache«, urteilte Eduard Hanslick in der Rückschau. »Das Publikum war nicht nur an den erstaunlichen Leistungen äußerlicher Bravour, es war auch an seinem eigenen Enthusiasmus satt und müde geworden. Der Taumel, in dem man sich fast ein Jahrzehnt lang gewiegt hatte, die Liszt-Thalberg-Milanollo-Willmers-Ernst-ServaisSchwärmerei war nicht länger fortzusetzen; man hatte sich ausgegeben.«214 Die Virtuosen und Virtuosinnen regierten nur so lange als Spiegel- wie als Zerrbild von Tradition und Moderne, wie sie auf ihre Verklärung durch das Publikum hoffen konnten. Bald aber begriffen viele Hörer die Karriere dieser Ausnahmekünstler als eine vergehende Mode, als Ablenkung von der eigentlichen Kunstmusik. Auch das war eine gemeinsame Entwicklung in verschiedenen europäischen Städten und Gesellschaften. Denn ein neues diszipliniertes Hörverhalten im Konzertsaal nahm dem Publikum allmählich die Lust an den Effekten der Virtuosen. Heinrich Heine beobachtete scharf, wie die einstige Verklärung der Virtuosen beinahe spurlos verschwand. Der 212 Vgl. Gooley, Battle, 76 f. 213 NZfM, 22 (1845), 37. Und als ungewöhnliche frühe Polemik findet sich schon in der AMZ, 28.3.1818, 228, über das »gegenwärtige Concert-Unwesen«: »Möge uns der Himmel vor dieser Menge so genannter Virtuosen behüten, welche… das Land bedecken. … Die Musik in unseren Tagen wird ja nicht mehr als Kunst, sondern als – Handwerk betrachtet. … Künsteley, nicht Kunst, ist jetzt das Ziel, wonach man ringt.« 214 Hanslick, Leben, 80.
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Ruhm im Konzertsaal wich den Launen der kulturellen Wüste: »Laßt uns die Huldigungen, welche die berühmten Virtuosen einernten, nicht allzu genau untersuchen. Ist doch der Tag ihrer eitlen Berühmtheit sehr kurz. … Die Eintagsreputation der Virtuosen verdünstet und verhallt, öde, spurlos, wie der Wind eines Kameles in der Wüste.«215
3. Orte für Träume: Von inszenierten Welten und orientalischen Ländern Franz Grillparzer war zunächst skeptisch. Während seines Besuches 1836 in Paris hatte sich der österreichische Dramatiker nur widerwillig eine Aufführung von Jacques Fromental Halévys La Juive angesehen. Doch allein die optische Wirkung dieser Inszenierung fesselte ihn. »Das Ganze ohne Interesse. Aber welch äußere Ausstattung. Die Dekorazionen Wirklichkeiten, oder nein: Bilder. … Hier malt man das Licht, die Steigerung und Abschwächung, das Wesentliche und die Beiläufigkeit gleich von vorneher in die Dekorazion hinein. … So entstehen eigentliche Bilder, von deren Wirkung man bei uns keine Vorstellung hat. … Man muß das gesehen haben. Ich glaube Phantasie zu haben. Hier zum erstenmale in meinem Leben habe ich ein theatralisches Arrangement gesehen.«216 Auch in Berlin, in London und in Wien wurden viele Werke sehr teuer produziert. Die Perfektion und Illusionswirkung der Bühnenbilder war ein Bestandteil der aufgeführten Opern. Die seit den 1830er-Jahren verfeinerten Inszenierungstechniken scheinen eher das Ergebnis einer gegenseitigen Aufholjagd zu sein, um auch international konkurrenzfähig zu bleiben.217 Ein Blick auf die nicht-musikalischen Elemente der Oper verdeutlicht den Stellenwert der Inszenierungen und das damit verbundene Geschäftsgebaren der verantwortlichen Produzenten. Dabei entsteht der Eindruck, dass die illusionistischen Bühnenproduktionen, die szenischen Mittel und die technischen Effekte nicht nur Beiwerk zum Erfolg der Stücke waren, sondern einen starken Verkaufsfaktor darstellten.218 Die neuen Effekte und die Dramatik der Bühnenhandlung erschufen eine eigene Realität. Gerade im Bildungsbürgertum ist eine wachsende Lust an nachprüfbaren Illusionen zu beobachten. Jenseits ideeller Visionen genoss 215 216 217 218
Heine, Werke, Bd. 3, Musikalische Saison von 1844, 588 f. Grillparzer, Sämtliche Werke, II., Bd. 10, 30. Vgl. zu Paris, Wilberg, Mise en Scène; Walter, Feuerwehrmann, 23–38. So beginnt bezeichnenderweise der Cambridge Companion to Grand Opera mit einem Kapitel »The resourcing of grand opera«.
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man neuartige Darstellungstechniken (Panoramen, Fotos). Diese Träume schöner Welten konnten kontrolliert verwirklicht werden, weshalb die verstärkten visuellen Reize dem Bühnenzauber im 19. Jahrhundert neue Möglichkeiten eröffneten. Die »Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung« hielt darüber fest: »Auf der Bühne fällt der Unterschied – zwischen dem, was wir wissen und was wir sehen – fort. In dem Augenblicke, wo Iphigenia auf Tauris ihren Bruder opfern will, sind wir eben so fest von der Wirklichkeit der Handlung überzeugt, als wenn wir einen deutschen Kaiser auf den Brettern agieren sehen. … Das Theater wird zum Gemälde. Wir fragen nicht mehr: Ist’s wirklich geschehen? Wir sehen, daß es geschieht; für den Moment ist’s mit der schärfsten historischen Bestimmtheit da.«219 Von der illusionistischen Kraft musikalischer Darstellungen handelt dieser Abschnitt. Gefragt wird zunächst nach den Bildern, Bewegungen und Effekten etwa in der Grand opéra und in den Schlachtensinfonien im Konzerthaus. Wie wurden fremde Welten auf den Bühnen der europäischen Metropolen geschaffen? Diese ästhetische Ebene wird bereichert durch die Begegnungen mit dem »Orient«. Im Spielbetrieb reizten verschiedene orientalistische Sujets von fremden Ländern und Menschen die Fantasien des Publikums. Auf welche Weise stimulierte das Musikleben das europäische Konzept des Orientalismus? Von Interesse ist die Frage nach dem Verhältnis von musikalischen Inszenierungen in Europa und den musikalischen Illusionen über fremde Kulturen außerhalb Europas.
Chancen und Risiken der Inszenierungen Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Inszenierungen und die Bühnenbilder immer wichtiger. Gerade das Musiktheater verschmolz multimedial die verschiedenen Formen der Unterhaltung miteinander: Bild und Ausstattung, Bewegung und Darstellung, Stimme und Klang. Diese Bühnenwirklichkeit ermöglichte durch neue mechanische Mittel außeralltägliche Vorstellungen. Das Publikum wies der Oper daher als Prototyp des Theatralischen eine herausragende Bedeutung zu. Die überreiche Ausstattung der Oper Olimpia von Gaspare Spontini in Berlin kostete die sagenhafte Summe von 20.000 Talern. Gleichzeitig lobte die Kritik die dramatische Wirkung der Aktschlüsse mit zahllosen Statisten und Choristen, 38 zusätzlich engagierten Trompetern, neuen Dekorationen und Kostümen. Zu den besonderen und für die Berliner Zuschauer als wun219 BAMZ, 4 (1827), 213.
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derbar geltenden Darstellungsmitteln zählte der Auftritt einiger ausgewachsener Elefanten in diesen Massenszenen.220 Vor diesem Hintergrund erschien der Tierreichtum einer Londoner Produktion von Spontinis Fernand Cortez ou La Conquête de Mexique gleichsam harmlos, denn die Menge verfolgte hierin lediglich eine Art Ballett dressierter Pferde mit zirzensischen Drehungen und Bewegungen auf offener Bühne.221 Die Verbreitung ähnlicher Operngenres und ähnlicher Bühnenbilder war Teil eines Kulturtransfers. In den europäischen Hauptstädten passten sich die Bühnenausstattungen sowohl auf kommerzieller wie auf künstlerischer Ebene an und unterschieden sich bald nur noch in Nuancen. Denn die verschiedenen Versatzstücke erfolgreicher Produktionen wurden in den Städten wechselseitig kopiert.222 Fremde Länder beispielsweise wurden ähnlich dargestellt. Carl Maria von Webers Londoner Produktion seines Oberon in Covent Garden im Jahre 1826 setzte historisch kostümierte Feen, Franken, Araber und Tunesier ein. Gleichzeitig wechselten sich dabei Bühnenbilder ab, die Bagdad am Tigris, den Palast Karls des Großen oder Blicke auf das Zauberreich Oberons offenbarten. Aufwändige Kultur- und Natur-, Sturm- und Geisterszenen wurden durch exquisite technische Maschinerien und zahllose Statisten und Choristen ermöglicht.223 Imaginäre historische Räume und fantastische Bilder ließen sich bestaunen. Visionäre Darstellungen lieferten dem Publikum einen weiteren Anreiz. Ein damals hochaktuelles historisches Panorama – der griechische Freiheitskampf gegen das Osmanische Reich – war das Thema von Gioacchino Rossinis Le Siege de Corinthe. Die Berliner Presse lobte eine Aufführung der gezeigten Effekte auf der Bühne. Genau diese optischen Reize böten den Besuchern ein Reiseerlebnis: »Die Decoration des türkischen Lagers mit der Aussicht auf Korinth wie der Katakomben und die Explosion der Pulver-Minen am Schluß der Oper mit dem Einsturz der Brücke, brennendem Kreuz u.s.w. übertrifft hinsichtlich der Scenerie alles früher gewesene und wird schon allein die Oper als Schaustück auf dem Repertoire erhalten, da Unerhörtes und nie Gesehenes nun einmal unerläßliche Bedingung ist.«224 Unter der markanten Überschrift »Never Acted!« warb ein Londoner Plakat aus dem Jahre 1833 für Daniel François Esprit Aubers Oper über Ruhm 220 HS, 5.6.1821. Vgl. auch Döhring, Spontinis, 469–489; Walter, Oper, 259–266; Otto, Lindenoper, 140 f. 221 Morning Herald, 7.11.1823. 222 Vgl. Zur Nieden, Tendenzen, 55–72; Christoff, Nationale, 37–44. 223 Vgl. die Berichte in MP, 13.4.1826; TI, 13.4.1826; sowie White, History of English Opera, 251–259. 224 HS, 6.2.1830, 9 f.
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und Untergang des schwedischen Königs Gustav III. Dabei strich es im Detail die charakteristischen Palastanlagen, das Stadt- und Staatsleben und die Pracht aller erdenkbaren Kostüme heraus. Ausführlich beschrieb man den großen Salon am schwedischen Hof und den Triumphbogen der Königin Christina. Die Anzeige wurde ganz von der Aufzählung der über 250 Sänger, Choristen, Darsteller und Statisten der Ausstattung geprägt. Und die anschließenden Besprechungen der Aufführungen lobten gerade die letzte Szene des Maskenballs. Reizvoll erschien ein reichvergoldeter gotischer Saal, erhellt durch zahlreiche Leuchter. Die pompöse Ausstattung der Finalszene übertraf all das, was viele Betrachter je auf einer Bühne zu sehen glaubten. Nicht zu vergessen war hier natürlich die melodramatische Ankündigung des tödlichen Attentats auf den König am Ende der Oper. Wer nach dem Komponisten fragte, musste dagegen im Kleingedruckten suchen.225 Die mangelnde Qualität der Handlungen löste aber auch Kritik aus. Trotz der bombastisch wirkenden Ankündigung der Produktion habe diese Oper etwa im Gegensatz zu Giacomo Meyerbeers Robert le diable eigentlich nur eine effektvolle Szene, den allerorten gerühmten Maskenball. Selbstredend sei die Panoramaansicht auf Stockholm im Mondschein stimmungsvoll und die Kostüme meist gut entworfen, aber alles insgesamt nicht besonders innovativ und abwechslungsreich kreiert. Schlimmer noch: Nach dem Urteil des »Examiner« konnte Gustave III. als Drama kaum schwächer ausfallen, weil die aufwändigen Bemühungen um das reine Amüsement die Handlung beschädigten. Umgekehrt aber hätte die reine Macht der Bilder hohe Ansprüche des Publikums befriedigt. »Der Effekt war wie ein Zauber. … Die Katastrophe aber ist uninteressant, zum einen, weil sie von Anfang an abzusehen ist; und, zum anderen, weil das Amüsement des Maskenballs die Handlung stört.«226 Und der »Spectator« verkürzte den Abend schlicht auf eine »grand show.«227 Immer wieder ärgerten sich die Kritiker über die Diskrepanz zwischen aufwändigen Inszenierungen und mangelnder musikalischen Qualität. Die Effekte vieler Opern und die Massenaufläufe auf der Bühne seien es, welche die Konzentration des Publikums von der Kunst und der musikalischen Wirkung des Werkes abbringe. Die optische und akustische Reizüberflutung würde die Zuhörer nicht erbauen, sondern erschöpfen. Dieses Urteil brachte die »Allgemeine Musikalische Zeitung« im Zuge der Berliner Aufführung von Spontinis Agnes von Hohenstaufen auf den Punkt: »Im Ganzen 225 Vgl. London, BL, Carr-Glynn Collection of Playbills, Covent Garden, 13. November 1833, Playbill 357; MiC. C.13137/Playbill 355. 226 EX, 17.11.1833, 727. 227 SP, 16.11.1833, 1075.
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Abb. 16: Ein Werbeplakat für Aubers Oper »Gustav III.« in London 1833 mit einer minutiösen Auflistung der Künstler, Kulissen und Szenen. Orte für Träume | 181 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
fand man die Oper zu lang und mit starken Effecten überladen. … Bey einem grossen Aufwande von Personen interessiert sich der Zuschauer für niemand lebhaft, und die scenischen äusseren Mittel lenken die Aufmerksamkeit zu sehr von der Musik ab. … Der Gewitterschluss des zweyten Actes wie der lärmende Anfang des dritten Actes wirkte zu betäubend. … Der Total-Eindruck der Oper nach dem ersten Anhören ist im Allgemeinen völlige Abspannung und Erschöpfung der Geisteskräfte durch übermässigen Sinnenund Nerven-Reiz.«228 Dieser Prozess veränderte auch die Arbeitsweise der Komponisten. Carl Maria von Webers Freischütz verblasste nicht hinsichtlich seiner künstlerischen Qualität, sondern in seiner Dramatik und seinen Effekten vor Giacomo Meyerbeers Le Prophète. Seit den 1830er-Jahren bildete sich die Grand opéra heraus. Zum einen präsentierte diese neue Gattung im Unterschied zu einer Opéra comique oder einer Opera buffa das Werk nicht mehr allein durch isolierte musikalische Nummern, sondern war rezitativisch durchkomponiert. Der Schwerpunkt verlagerte sich von einzelnen Arien auf große Chor- und Ensembleszenen. Zum anderen waren Orchester und Chöre weit größer besetzt, wurden neue technische Mittel, z. B. die elektrische Beleuchtung, genutzt. Blickt man auf die Struktur dieser Werke, dann sticht die Vielzahl ihrer Formen ins Auge. Die Geschichten basierten auf Panoramen: Im Mittelpunkt der Handlung standen öffentliche Massenszenen reich dekorierte, großer Ensembles in politischen und religiösen Kontexten der Vergangenheit. Diese Panoramen bebilderten alte Städte, versunkene Kulturen oder große Kirchen und Paläste. Oft gelang die gekonnte Visualisierung von Licht, Schatten und Farbfiltern zur Darstellung verschiedener Tageszeiten. Durch die neuen technischen Effekte des Bühnenbildes sollte das Publikum die inszenierten Ereignisse nicht nur sehen, sondern erleben, hören und fühlen können.229 Der wohl wichtigste Komponist der Grand opéra war Giacomo Meyerbeer. Sein Prophète, der den Aufstieg des Wortführers der Wiedertäuferbewegung in Münster im 16. Jahrhundert zum Inhalt hat, oder Les Huguenots, die vom Glaubenskampf der Protestanten gegen die Katholiken in der Bartholomäusnacht erzählen, sind Musterbeispiele. Die Kontrastierung von Musik und Handlung war in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Standardphänomen der Grand opéra. Eindrucksvoll gelangen Meyerbeer langfristig angelegte musikalische und dramatische Steigerungen der Geschichten. Verschiedene 228 AMZ, 31 (1829), 509 f. Vgl. Miller, Hofoper, 47–92; Hirschfeld, Kritik, 197–235. 229 Vgl. Dahlhaus, Musik, 101–110; Döhring/Henze-Döring, Oper, 113–164; Becker, Bedeutung, 151–159.
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Bühnendekorationen und immer zahlreichere optische Reize wurden in der Grand opéra synchronisiert. Die ungeheure Nachfrage nach Eintrittskarten in den meisten europäischen Opernhäusern belegt, dass gleichermaßen der szenische Aufwand sowie die kontrastreiche und abwechslungsreiche Musiksprache das Publikum wie die Kritiker faszinierten. Gerade die unter Marschrhythmen und grandiosem Tutti angelegten großen Chorszenen der gebotenen Finale gefielen. Über die Wiener Aufführung des Prophète im Jahre 1850 hielt die Kritik begeistert fest: »Der imposante Krönungsmarsch für das Doppelorchester, das Gebet, die Scene, wo Fides dem Propheten flucht, der Chor der Kinder und die ganze erhabene, kirchliche Feier, dann die herrlich gezeichnete Scene der Beschwörung und die vereinigten Musikmassen am Schluß des Finales – Alles das erscheint wie ein Rubenssches Meisterwerk in Tönen gemalt. Große Contouren, riesige Dimensionen, herrliche Gruppierung, blendendes Colorit, erhaben in der Conception, bewältigend in der Durchführung, wahrhaft erschütternd im Effecte!«230 Die neue technische Bühnenmaschinerie erleichterte schnellere und effektreichere Szenenwechsel. Spezialeffekte der Filmindustrie des 20. Jahrhunderts kündigten sich im Ansatz bereits in der Grand opéra des 19. Jahrhunderts an. Während in den Schlüsselszenen das bengalische Feuer auf der Bühne abbrannte, mischten sich fortwährend Knallerei, Schreien und Chorlieder in einen Tumult der Bilder und Geräusche. Hier waren frappierende Schaueffekte zu erleben, wie ein durch die erstmalige Verwendung des elektrischen Lichtes auf der Bühne realisierter Sonnenaufgang in Meyerbeers Prophète. Die aufgehende Sonne im Finale des dritten Aktes erregte einen viel beachteten Glanz, der durch das Öffnen und Schließen von Läden und durch die von der Rückseite der Bühne her durchleuchteten Bilder entstand. In Berlin ironisierte die »Neue Preussische Zeitung«: »Die Sonne [geht] für baare 500 Thlr. auf. Wiedertäufer und Publikum jubilieren, eine nie geahnte Herrlichkeit durchströmt das Theater … und das Publikum stürzt in die Corridors, um Luft und Erholung zu schöpfen von dieser erdrückenden Last des Chors, der Ensembles und der Instrumentation!«231 Und in einer schlichten Begeisterungsformel hieß es aus Wien: »Der Sonnenaufgang im 3. Akte war von magischer Wirkung.«232
230 AWT, 2.3.1850. Vgl. Fulcher, Meyerbeer, 213–229; Walter, Feuerwehrmann, 23–38. 231 NPZ, 3.5.1850. 232 FB, 1.3.1850. Vgl. Becker, Meyerbeer, 95–105; Gerhard, Urbanization, 162–167; Daniel, Hoftheater, 153–156.
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Darstellungen körperlicher Ängste und kriegerischer Schlachten Der Zuschauer hatte sich neben der Fülle des technischen Bühnengeschehens auch den Inszenierungen des Schreckens und des Schocks zu stellen. Die Komponisten und die Bühnenbildner der neuen Opernproduktionen zielten auf eine Darstellung übernatürlicher und entsetzlicher Gestalten. Die Geisterszenen in Carl Maria von Webers Erfolgsoper Der Freischütz schockierten viele Besucher, ja, sie stimulierten ihre Lust an der Angst: »Die berühmte Beschwörung in der Wolfsschlucht ist besonders gut inszeniert, zumal man hier ganz auf Feuerwerk verzichtet hat – die Geister, Dämonen, Skelette, Hexen, Bestien, Vögel und Reptilien sind zahlreich und abscheulich genug, um den stärksten Wunsch nach übernatürlichem Schrecken zu befriedigen.«233 Apokalyptische Visionen, zumal die Repräsentation gewaltiger Feuerstürme, entstanden selbstredend auch im Untergangsszenario des Prophète: »Rauch und Qualm dringt aus dem Boden, eine Explosion erfolgt, die Säulen und Hallen stürzen zusammen, Flammen schlagen empor und ein Feuermeer überfluthet das Ganze, das non plus ultra aller bisherigen Leistungen unserer vortrefflichen Theatermaschinerie – und ein zweiter Knalleffekt macht die Scene zum flammenden Chaos in dem alles untergeht, während … das Rasen des Orchesters noch durch den donnernden Applaus des Publikums übertönt wird.«234 Die sich in Katastrophen über mehrere Akte hinweg steigernden Schreckensszenarien verdeutlichen, dass dem Publikum immer mehr und nie zuvor Gezeigtes geboten werden musste, um Wirkung zu erzielen. Vielleicht löste der Schrecken deshalb eine Freude an der Angst aus, weil er sich durch die Bühne technisch und darstellerisch kontrollieren ließ. Selbst dramatische Schlusssteigerungen ließen sich in Ausnahmefällen noch übertreffen. Das Finale von Daniel François Esprit Aubers La Muette de Portici wartete mit einem veritablen Vulkanausbruch auf. Die Dramaturgie dieser Oper kontrastierte die stumme weibliche Hauptrolle Fenella mit dem lautstarken Ausbruch des Vesuvs am Ende des Werkes. Die Empfindung der Angst stimulierte die Lust des Publikums. Das Berliner Fachblatt »Cäcilia« charakterisierte hier »das durchgängige Vorherrschen der Affecte. … Ihr Ausdruck ist, wo er gelingt, Schreck und Grausen … und wo diese Empfindung nicht ganz erreicht wird, da tritt Spannung und Aufregung ein, worin denn auch das Publikum von Anfang bis zum Ende erhalten wird. … Ja, die Fabel ist oft nur dazu benutzt, um den Augen ein unterhaltendes Schauspiel 233 FB, 18.3.1850. Vgl. Fuhrmann, Continental Opera, 115–139. 234 NPZ, 5.5.1850.
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zu geben. … Der brennende Vesuv zuletzt verschlingt hundert Wolfsschluchten und übertrifft – wenigstens in der Vorstellung – alles, was jemals der art aufs Theater gekommen ist«.235 Oftmals vollzogen sich »opernhafte« Darstellungen dramatischer Handlungen auch im Rahmen von Konzertaufführungen. In London brachte der französische Stardirigent Louis Jullien die Zerstörung des antiken Pompeji durch den Vesuv mit Hilfe seines Orchesters und eines Chores ins Auditorium. Alle Gaslichter waren ausgemacht worden, schreckliche Geräusche ertönten aus allen Bereichen des Theaters, und während Jullien die ganze Zeit wie ein Besessener aufstampfte und gestikulierte, schwoll der mächtige Lärm der Trommeln, Trompeten, Geigen und Blechbläser und der Gesang der Chormitglieder immer weiter an. »Zu beschreiben was passierte liegt jenseits dessen, was Sprache leisten kann. … Einige Leute schienen mit aller Macht die Türen zu- und auf die Trennwände hinter den Rängen ein- zu schlagen; die Bassstimmen begannen unisono aufzubrüllen. … Auf dem Dach wurde die Gewittermaschine eingeschaltet; es gab rote und blaue Lichtblitze im ganzen Theater. So werde hier vom Publikum auf einzigartige und bis dato unbekannte Weise klassische Musik gehört, »die es bisher noch nicht kannte«.236 Dass der durch zusätzliche akustische Mittel in Konzertsälen entstandene Effekt für die Besucher oftmals nicht mehr in Worte gefasst werden konnte, belegten nicht nur die Darstellungen von Massenszenen oder Naturkatastrophen. Im Zeitalter der Napoleonischen Kriege waren so genannte Schlachtenmusiken beim Publikum sehr beliebt: Der Krieg ließ sich auch im heimischen Konzerthaus genießen. Musikalische Schlachtdarstellungen riefen ungeachtet ihrer Popularität allerdings nur begrenzt die Anerkennung von Experten hervor. Diese Ambivalenz galt auch für die rhythmisch angelegten und selbst Kanonendonner und Gewehrsalven darstellenden Militärmusiken: Ludwig van Beethovens »Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria« und Carl Maria von Webers Kantate »Kampf und Sieg«.237 Die Dirigenten dieser Aufführungen verwandelten sich in Feldmarschälle des Takt-
235 Cäcilia, 12 (1830), 30 f. Vgl. Döhring/Henze-Döring, Oper, 122–126; Gerhard, Urbanization, 127–134. 236 MC, 10.2.1844. »The Destruction of Pompeii – the announcement of which ›flames amazement‹ from every dead wall – to pass it with out notice. … Gongs thunder, brass instruments bray, piccolo pipe, bells ring, unseen singers (said to be three hundred) shout, and fire-works flame in the central chandelier, shedding a lurid light upon the agonized and necromanic evolutions of M. Jullien – things to be seen, not described.« AT, 24.2.1844, 180. Vgl. auch die Beschreibung in ILN, 17.2.1844, 106. 237 Vgl. zur Aufführung von Wellingtons Sieg in Wien die Titelseite der WZ, 30.11.1814, und insgesamt die Bewertung in Küthen (Hg.), Beethoven Werke. Abteilung II, Bd. 1, 45–49.
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stockes, welche die zahlreichen Musiker als Oberkommandierende einer künstlerischen Armee befehligten. Im Jahre 1832 lud der Berliner Generalmusikdirektor Carl Möser zu einer »Grossen Musikalischen Academie« im Königlichen Schauspielhaus ein. Als Höhepunkt der Veranstaltung bewarb eine Anzeige Beethovens Schlachtensinfonie: »Die Schlacht bei Vittoria, nebst der dazu gehörigen, unmittelbar darauf folgenden Sieges-Simphonie, kriegerisches Tongemälde von L. Beethoven (die zur Nachahmung des Kanonendonners und des Gewehrfeuers anzuwendenden Maschinen, so wie die Feld-Signale der Trompeten und die übrige Feldmusik, sollen zur Erhöhung der Täuschung und Beförderung des Effekts, von dem Haupt-Orchester entfernt und in den verschiedenen Räumen des Saales aufgestellt werden).«238 Begeisterung, aber auch Skepsis riefen derartige Aufführungen gleichermaßen hervor. Bereits anlässlich der Berliner Aufführung der Schlachtensinfonie im Mai 1816 spottete Goethes Vertrauter Karl Friedrich Zelter über die »unmännliche« Oberflächlichkeit und Darstellungsarmut dieses Beethovenschen Werkes. Zudem produziere diese Schlachtensinfonie ihre Effekte eher für Frauen als für Männer. Hiervon könne man »so taub werden [wie] er selbst. Nun wissen die Weiber auf ein Haar, wie es in einer Schlacht hergeht, wenn auch schon lange niemand mehr begreift, was Musik ist«.239 Die gewünschten Effekte waren daher in der Oper wie im Konzert Attraktionen im Spielbetrieb. Der genannte Berliner Musikdirektor Möser warb in einer Anzeige dafür, Beethovens Musik – reichhaltig und lautstark besetzt – im Garten des Palais des Buchhändlers Reimer in der Wilhelmstraße zu geben. Die Hörer sollten doch bitte die »Pastorale« und »Wellingtons Sieg bei Vittoria« nicht nur martialisch, sondern als Werke aus der freien Natur in der freien Natur erleben. Wenn das »Werk bei einer Aufführung in dem beschränkten Raum eines Concertsaales durch die rauschende Nachahmung des Kanonendonners und Kleingewehr-Feuers, der Feldsignale der Trompeten und der übrigen Feldmusik u.s.w., – letztere sollen zur Erhöhung der Täuschung, in der Entfernung in den verschiedenen Gebüschen des Gartens vertheilt werden – zu betäubend und erschütternd auf das Ohr wirkt, und also in ihren eigentlichen Nüancirungen nicht gehörig beurtheilt werden kann: 238 Berlin, GSTA, I. HA, Rep 89, 20976, Bl. 7 f. Vgl. Schulin, Schlachtengemälde, bes. 228–255. 239 Klassik Stiftung Weimar (Hg.), Briefe an Goethe. Gesamtausgabe, Regestnummer: 7/245 vom 8.5.1816. Bereits am nächsten Tag aber lobte Zelter Beethovens Schlachtsinfonie, nachdem er sie erneut gehört hatte: »wo sie ohne alle betäubende Wirkung ist und auch dennoch ergriffen und erschüttert hat. … Vivat Genius und hol der Teufel alle ›Kritik‹.« Ebd. 7/246.
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so hoffe ich durch eine solche Aufführung im Freien, mit einem sehr stark besetzten Orchester …, den Wünschen vieler Musikfreuden nur entgegengekommen zu sein. … Ein solches Concert im Freien, mit so reichen Mitteln, wie sie mir hier zu Gebote stehen, [dürfte] in einem so angenehmen, schattigen Locale wie das gewählte, etwas Seltenes und Ungewöhnliches sein.«240
Auf der Suche nach den Bildern und Welten des Orients Das Eigene und das Fremde zu inszenieren, gelang durch Übertragungen. Um die Lebensweise unbekannter Kulturen zu übersetzen, mussten zuvor Grenzen bestimmt und eine Auswahl getroffen werden. Eine selektive Wahrnehmung und Missverständnisse waren bei diesen Aneignungen die Regel. Am wichtigsten war dabei vielleicht, dass innerhalb Europas über die Ungleichheit zwischen gesellschaftlichen Gruppen und kulturellen Praktiken im 19. Jahrhundert intensiv gestritten wurde. Bei aller Faszination durch fremde Welten und bei aller Freude an neuartigen Reizen überwog oft deren Abwertung. Zwar hatten die Bildungsbürger Interesse am Fremden, aber nicht am Austausch mit fremden Kulturen. Den Import fremder Kultur zu genießen, setzte voraus, die Differenzen zwischen der europäischen Gesellschaft und den außereuropäischen Völkern zu steuern.241 Die bürgerlichen und adeligen Eliten in den europäischen Metropolen machten sich auf die Suche nach dem exotischen Ort des Orients. Folgt man der inzwischen klassischen Interpretation Edward Saids, dann erscheint der »Orient« als ein Objekt und als eine Praxis westlichen Wissens. Unter dem Begriff »Orientalismus« wird die Absicht verstanden, die alternative Welt zwischen Arabien und Indien, zwischen Islam und Sultanspalast zu klassifizieren. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und den Nachwirkungen der Ägyptenexpansion Napoleons entwickelte sich der Orientalismus zu einem Ort westlicher Erfahrungen, Wahrnehmungen und Klassifizierungen. Dieses Muster entsprang in erster Linie der politischen Kultur Mitteleuropas, weshalb der Orientalismus wenig über die Völker des mittleren Ostens, vieles aber über die Ordnungsvorstellungen in Paris oder London offenbarte. Der Orientalismus war ein Mittel zur Durchsetzung der Machtverhältnisse im Zeitalter der Expansion Europas in einem als Orient erfassten Raum. Dieser Raum ließ sich weniger geografisch als vielmehr politisch beschrei240 HS, 13.7.1826, 6. Vgl. Zoltai, Beethoven-Rezeption, 361–364. 241 Vgl. die Aufsätze von Osterhammel, Transferanalyse, 439–466; Muhs/Paulmann/Steinmetz, Brücken, 7–20.
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ben. Hinter der Kulisse der Faszination sind strategische Bewertungen und asymmetrische Beziehungen zwischen Staaten, Kulturen und Religionen zu erkennen.242 Der Orient der Europäer galt als exotisch, weil er Unglaubliches aus der Vergangenheit in die Gegenwart transferierte und dabei die geliebte Faszination mit dem ungeliebten Fremden kombinierte. Statt die vermeintlich positive Seite des Exotischen, das heißt, den Luxus oder die Natürlichkeit, entspannt zu genießen, galt es, gerade die negative Seite, das heißt, das Irrationale oder den Despotismus, zu domestizieren. Nicht die Objekte selbst bestimmten den Kulturtransfer, sondern die den fremden Welten und exotischen Ländern zugeschriebenen Bedeutungen. Durch Abgrenzung erhöhten diese Inszenierungen die Bindekraft in der eigenen Gesellschaft.243 Die Differenzen zwischen den Kategorien des Orients und des Okzidents ließen sich gerade in der Kunst veranschaulichen. Die bei den Salonsoireen und Opernbesuchen kommunizierten Bilder und Töne »des Orients« bildeten eine Synopse der eigenen kulturellen Prägung. Die angebotenen audiovisuellen Eindrücke stimulierten manche Sehnsüchte des Publikums. In Europa wurden in unterschiedlichen politischen Systemen und zu unterschiedlichen Zeiten Lebensweisen aus Bagdad oder Bombay ähnlich bewertet. In der Kommunikation über eine – sei es als dekadent und exotisch oder aber als autoritär und modernisierungsfeindlich vorgestellte – Gesellschaft außerhalb Europas gelang die Aufwertung der westlichen Zivilisation, weil die Chiffre einer fremden Kultur die Selbstbeschreibung der eigenen Errungenschaften erleichterte.244 Wahrscheinlich interessierte in Europa keine andere Kultur mehr als die als orientalisch rezipierte Kultur. Der Bogen spannte sich von der wissenschaftlichen Neugier, dem religiösen Missionsdrang hin zu pittoresken Opernaufführungen. Allein zwischen 1780 und 1850 inszenierte man an deutschsprachigen Bühnen mehr als 250 orientalische Stoffe, das heißt, etwa jedes siebte der 1800 gegebenen Werke stammte aus diesem Genre. Dabei gab es erfolgreich rezipierte, aber auch weniger langlebige Werke: Von der »türkischen« Musik in Mozarts Entführung aus dem Serail und im Finale der IX . Sinfonie von Beethoven über Francois-Adrien Boieldieus Kalif von Bagdad, 242 Vgl. aus der Auswahl zur Orientalismusdebatte neben der grundlegenden Arbeit von Said, Orientalism, bes. 1–28, 49–73; auch ders., Culture and Imperialism; Jalal al-’Azm, Orientalism in Reverse, 217–238; Macfie, Orientalism; Cannadine, Ornamentalism. 243 Vgl. Beyme, Faszination, 7–18; Pao, Orient, 1–16; Kundrus, Kolonien, 7–18; Ciarlo, Rasse, bes. 136–147; sowie die Beiträge in Bayerdörfer/Hellmuth (Hg.), Exotica. 244 Vgl. Osterhammel, Verwandlung, bes. 608–667; Müller/Zalfen, Eastern Potentate, 279–302.
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Webers Abu Hassan, Rossinis Il turco in Italia hin zu Albert Lortzings Ali Pascha von Janina, Bizets Djamileh oder Karl Goldmarks Königin von Saba. China, Japan und Indien erreichten erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine stärkere Beachtung. Bildungswissen, Orientreisen im Zeitalter der europäischen Expansion und bekannte Kulturklischees wirkten ineinander.245 Auf welche Weise richtete sich das Musikleben auf den arabisch-asiatischen Raum aus, welche Reizwirkungen gingen von dort aus? Beachtlich war das Unterhaltungspotenzial so genannter »arabischer Nächte« innerhalb des europäischen Spielbetriebs. Die romantisierenden Charaktere und die gemalten Landschaften des Musiktheaters stellten die Sinnlichkeit von Konzertaufführungen bei Weitem in den Schatten. Der Markt verlangte orientalische Verzauberung. Etablierte Formen der Opernaufführungen verwandelten sich und bereicherten durch außergewöhnliche Reize die Monotonie des Repertoires. Die Bühnenkunst erwies sich durch eine Erweiterung von Sujets, Dekorationen und Kostümen als eine gut konsumierbare Ware. »Sehsüchtig« wurden viele Zuschauer durch das richtige Mischungsverhältnis in diesen Werken, das heißt, durch die Uneindeutigkeit der Handlungen und der Inkonsistenz des Fremden.246 Auch die Geschichten erotischer Schönheiten und die Laster im Harem erregten die Männerfantasien. Denn die Inszenierung fremdartiger Frauen eröffnete europäischen Opernbesuchern Möglichkeiten, die ihnen im viktorianischen Zeitalter oft verschlossen blieben.247 Die europäische Bewertung, ja, die Erfindung der »Musikanlage der Orientalen«248 drehte sich lange um die Frage, warum es den arabisch-türkischen Stücken an Harmonik mangele und es an Polyphonie nach europäischem Muster fehle. Die Musik der Türken bewege sich »wie die aller für eigentliche Kunst ungebildeten Nationen, in den beyden Extremen: sie ist entweder äusserst sanft und schmelzend, oder äusserst rauh und tumultuarisch. … Der Effekt ist stark, aber er würkt mehr, als rhytmisches Geräusch, denn als Musik«.249 Der Wille zum Unverständnis, zur gewollten und selbst245 Vgl. Schmitt, Exotismus, 13–52; Gradewitz, Musik, 267–318; Walter, Gattung, 11–30; Mahling, Problem, 47–75; Angermüller, Zigeuner, 131–159; sowie Stachel, vaterländische Oper, 197–218. 246 Vgl. von Beyme, Faszination, 104–125; Becker, Couleur, 23–45; Bayerdörfer/Englhart, Ausstattungstheater, 45–79; Simon, Fern-Sehen, 255–269; und insges. über die musikalische Wechselbeziehung zwischen Abend- und Morgenland die grundlegende Arbeit von Lock, Exoticism; sowie Schmitt, Exotismus, 251–267. 247 Vgl. Hyam, Empire, 1–24; Robinson, Aida, 133–140. 248 So der Artikel in der BAMZ, 5 (1828), 179 f. 249 AMZ, 2 (1801), 19–24 (Zit. 20, 22).
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zufriedenen Abgrenzung bestimmte auch den Artikel im Londoner »Harmonicon«: Was immer die Hindus in Indien auch im Raga versuchten, Kunst könnten sie nicht erlernen und statt Musik verursachten sie Lärm. »Bei allem Respekt für ihre heutige Musik, ist sie doch vor allem eine Art Lärm und ohne jeden Anspruch in puncto Schönheit oder Struktur: allerdings besitzen ein paar ihrer Melodien eine angenehme Simplizität und andere einen seltsamen aber angenehm wilden Charakter.«250 Die auch durch kulturelle Lerneffekte nicht zu überbrückende Differenz zwischen Europäern und Orientalen erklärten manche aus den überhitzten Landschaften in fernen Regionen. Der Musikkunst der arabischen Völker stünde »schon ihr Klima … entgegen. Es ist in einem solchen Grade erhitzt, dass die Anstrengung beim Gesang und Spiel das Vergnügen daran stört. Regsam kann den Orientalen nur ein erwachter Effekt machen«.251 Auch die dunklen Hautfarben afrikanischer und arabischer Völker galten als Indikatoren für deren musikalische Begrenzung. In der Berliner Oper irritierte den Kritiker der »Vossischen Zeitung« das Ballet Paul und Virginie: »Weiße, Creolen, Mulatten, Neger fliegen an unserm Auge vorüber. … Am vollendetsten aber erscheinen die charakteristischen Ensembles, welche uns … in die orientalische Heimat dieser Wilden versetzten.«252 Im Londoner Her Majesty’s Theatre ärgerte sich ein Journalist dagegen über eine »troupe of ›niggers‹, who sing, grin, dance and distort themselves on the stage of some of our best recent lyrical triumphs«. Viele Opernbesucher würden dadurch abgeschreckt: »They see the stage covered with blacks.«253 Verschiedene Varianten des Orients belebten die europäischen Opernhäuser (von Wolfgang Amadeus Mozart bis Richard Strauss), kaum aber die Konzertsäle. Eine markante Ausnahme setzte der junge französische Komponist Félicien David 1844 mit seiner sinfonischen Ode Le Désert. Einige Jahre zuvor hatte David auf seiner Reise über Konstantinopel, Jerusalem, Beirut und Alexandria selbst die arabische Wüste durchstreift. Ungewöhnlich war es, dass er sich nicht nur mittels europäischer Klangmittel, sondern auch durch eigene Studien arabischer Folklore dem Sujet stellte. Immerhin erklangen Fragmente von Volksliedern, Rhythmen und vermeintlich orientalischen Instrumenten (Triangel, Tamburin). Die formale Nähe zur europäischen
250 Harmonicon, Dez 1824, 221. Über die Musik in China befand das Blatt: »It is remarkable that a people so far behind us in respect to the arts, should naturally have discovered the true employment of dramatic music.« Harmonicon, 1828, 33 f.: Dramatic Music in China. 251 BAMZ, 5 (1828), 179 f. Vgl. Schmitt, Exotismus, 251–267. 252 VZ, 15.3.1848. 253 MT, 22 (1881), 17. Vgl. McCaskie, Encounters, 665–689.
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Grand opéra ist in Le Désert gerade wegen des islamisch-arabischen Kolorits dennoch offensichtlich: Sprecher, Gesangssolisten, Chor und Orchester schildern den Zug einer Handelskarawane durch die Wüste. David illustrierte diese musikalische Reise durch Naturelemente und islamische Riten. Dem Zug der Karawane folgte eine Hymne an die Nacht, arabische Tänze, ein Sonnenaufgang über Sanddünen und schließlich der Gesang des Muezzins. Der islamische Gebetsruf erklang durch einen Sänger im »Contraltino«, einem Vorläufer des Counter-Tenors.254 Nicht ohne habsburgische Ironie resümierte die »Allgemeine Musikalische Zeitung«: »Allah hou akbar! Gott ist groß, und ein Genie ist auch groß, denn es ist Gott verwandt! Das ist wahr! Aber eine erhitzte Fantasie regiert die Welt, das ist auch wahr.«255 Das Publikum bekam die Chance, Bilder und Klänge einer wunderhaften Orientreise zu erleben, das heißt, vor der Epoche des Tourismus einer imaginierten arabischen Kultur zu begegnen. Davids sinfonische Wüste wurde in beinahe allen europäischen Metropolen erfolgreich gespielt. In Wien beispielsweise warb der Veranstalter bereits vorab in großen zweisprachigen Anzeigen (auf Deutsch und Französisch) für den Klavierauszug.256 Die Presse unterstrich den großen Erfolg des Konzertes im Theater an der Wien in pathetischer Sprache und unter Zuhilfenahme semantischer Orientalismen (»morgenländische Nacht«). Der Text schildert nicht nur eine die Wüste im festen muslimischen Glauben durchziehende Karawane, sondern ebenso die Gefahren in dieser furchtbaren Wildnis. »Was uns den Componisten besonders lieb und Werth macht, ist die Totalität, welche wir durchgehend finden. Es ist ein Kaleidoskop bunter Ideen, schmeichelnder Melodien, frappanter Gegensätze.«257 In seltener Erregung bejubelte das Publikum Davids Wüste enthusiastisch und ließ mehrere Nummern wiederholen. Nichts erschüttert den Ruhm eines jungen Komponisten jedoch nachhaltiger als der schnelle Erfolg. Nicht nur die Fachpresse mokierte sich darüber, dass David eher mit Bildern statt mit Tönen arbeite, um sentimental zu wirken. »Die ›Wüste‹ wird halb vergessen sein, denn die Mode läßt eben so schnell fallen als sie emporhebt.«258 Jacques Offenbach legte bereits 1846 der amüsierten Pariser Gesellschaft eine Parodie vor.259 Tatsächlich verschwand 254 255 256 257 258 259
Vgl. Hagan, David, bes. 67–86; Locke, Cutthroat, 20–53; Wolff, Orient, 373–380. AWM, 5 (1845), 605 f. (Zit. 605, Herv. im Orig.) WZ, 9.12.1845. WZ, 11.12.1845. Vgl. AWT, 9.12.1845, 1182. Sonntagsblätter, 14.12.1845, 1157 f.: Felicien David (Zit. 1157). Vgl. Gradenwitz, Musik, 278–288; ders., David, 471–506. Vgl. zur ungemein erfolgreicheren musikalischen Satire auf die britische Chinamode Gilbert und Sullivans Savoy Opera Mikado.
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die sinfonische Oper Le Désert so rasch vom Spielplan, wie sie erschienen war.260 Nur David blieb seinen orientalischen Präferenzen treu und schrieb noch 1862 eine weitere Oper Lalla Roukh nach Motiven von Thomas Moore und des Hoffestes von Spontini.261 Giuseppe Verdis Aida kam damals wie heute ein besonderer Stellenwert zu. Zu beobachten war ein seltenes Wechselspiel zwischen Orientalisten und Orientalen. Die vielleicht berühmteste aller orientalischen Opern entstand nicht auf Initiative des Komponisten, sondern auf der des Khediven in Ägypten, Ismael Pascha, welcher ausgerechnet mit der Aufführung eines Bühnenwerkes im antiken Pharaonenreich das neue Opernhaus in Kairo bekannt machen wollte. In seinem Plan bestärkte den Khediven der namhafte französische Ägyptologe Auguste Mariette, der auf Staatskosten die Handlung zur Aida skizzierte, indem er behauptete, eine altägyptische Legende wieder zum Leben erweckt zu haben – die er tatsächlich selbst entworfen hatte.262 Der Khedive bestimmte, dass Aida im Anschluss an die Eröffnung des Suez kanals 1870 in Kairo aufzuführen sei. Bedauerlicherweise fand die prächtige Uraufführung nicht in Kairo statt. Preußische Truppen hatten bei der Besetzung von Paris auch das dort gefertigte Bühnenbild der Aida in Flammen aufgehen lassen. Das fertige Stück aber löste weder in Großbritannien und Frankreich noch in Italien eine nennenswerte Begeisterung aus. In London verteidigte die »Musical Times« die Position der Wagnerianer: »Wagner illustrates his music by a spectacle; Verdi illustrates a spectacle by his music.«263 Wiener Musik liebhaber aber gaben sich dem orientalischen Hauch hin: »Das Finale aber umweht uns mit echt orientalischen Düften; Chor und Tanz der Prinzessinnen bewegen sich in gar fremdartigen Intervallen. … Seit Meyerbeer und Wagner ist nichts Effektvolleres geschrieben worden.« Und die Ursache dafür liege im »unaufhörlichen Einschlürfen orientalischen Mohnsaftes«.264 Nicht nur die italienische Musik und die kolonialen Tempelbauten – auch das Frauenbild des Orients zog die männlichen Zuschauer an. Die Forschung hat eingehend die Frage diskutiert, inwieweit Aida eine orientalistische Oper 260 Obwohl das Stück auch heutzutage fast nicht mehr gespielt wird, ist 2009 eine Aufnahme dieser sinfonischen Ode auf CD bei »Capriccio« mit dem Radio-Symphonieorchester Berlin unter Guido Maria Guida erschienen. 261 Vgl. Wolff, Orient, 374–381. 262 Vgl. zur Rezeption der Aida und anderer Bühenwerke Verdis im Kaiserreich, Kreuzer, Verdi, bes. 111–132. 263 MT, 17 (1876), 525. Vgl. TI, 23.6.1876. Die MW, 24.6.1876, 441, verknüpfte das Interesse des Thronfolgers Edward an der Aida mit dessen eigenen ägyptischen Reiseerinnerungen. 264 NFP, 1.5.1874 (M).
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darstelle, und dabei die wenig überraschende Erkenntnis erreicht, dass die Musik italienischer und das Genre europäischer Bauart sei.265 Von großem Reiz aber war die Verschränkung von Kolonisation und Geschlechterrollen. Die äthiopische Prinzessin Aida eröffnete gerade dem männlichen Publikum einen Exotismus der Sinne. Ihre Gestalt personifizierte die Grundzüge eines weiblichen, lustvollen und zu unterwerfenden Orients. Diese kulturelle Vision passte sich beinahe nahtlos in die sexuellen Handlungsmöglichkeiten junger Männer in den Kolonialreichen ein, sie korrespondierte mit der in Europa so kaum möglichen Promiskuität und der Begegnung mit Prostituierten. Die Exotik stimulierte die Erotik.266
Ein erstes Fallbeispiel: Die Erkundung des Orients durch die höfische Gesellschaft in Berlin Zwei »exotische« Darstellungen, erweitert um ähnlich angelegte Aufführungen, verdeutlichen hier beispielhaft die Umsetzung orientalischer Fantasien. Auf den ersten Blick könnten beide Veranstaltungen kaum unterschiedlicher sein: ein adeliges Hoffest im Berliner Stadtschloss 1821 und die Premiere von Edward Elgars »Imperial Masque« The Crown of India vor einem breiten Publikum in London 1912. Nicht nur feine, zeitbedingte Unterschiede zwischen Adelsritual und Massenritual sind hier zu beobachten. Aussagekräftiger ist die Existenz überaus ähnlicher Formen politischer Repräsentation und kultureller Inszenierung in beiden Hauptstädten. Berlin, Stadtschloss, im Januar 1821: Der preußische König Friedrich Wilhelm III. hielt Hof und versammelte 3.000 Adelige und wenige bürgerliche Gäste zu einem Maskenball im Berliner Stadtschloss. Das Fest fand zu Ehren des russischen Thronfolgers Nicolaus statt. Seine Frau Alexandra, geborene Prinzessin Charlotte von Preußen, trat als »Lalla Rookh«, ihr Bruder Prinz Wilhelm von Preußen, der spätere König Friedrich Wilhelm IV., als »Dschehander Schah« auf. Die königlichen Zimmer und Säle waren hell erleuchtet, festlich dekoriert und auch durch kulinarische Erfrischungen bereichert. Karl Friedrich Schinkel wurde die Ehre zuteil, auf monarchischen Wunsch hin die »in orientalischem Geschmacke gemalte Drapperie« zu entwerfen, um die gestellten Bilder wie die Hintergründe so malerisch wie mög265 Vgl. Said, Culture, 133–159; Locke, Beyond, 105–139; Robinson, Aida, 133–140. 266 Vgl. Robinson, Sex, IX–XVIII; Kohl, Cherchez, 356–367; Locke, Reflections, 48–64; und zu den ersehnten und vollzogenen sexuellen Praktiken reisender Männer im Britischen Empire, Hyam, Empire, bes. 115–136; 200–217.
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lich zu füllen.267 Dieser optischen Pracht assistierte der königliche Hofkomponist Gaspare Spontini musikalisch, indem er einen prächtigen Festmarsch sowie Sing- und Tanzmusik neu komponierte. Durch diese illustrierte Schönheit schritten 186 ausgewählte Personen, welche zentrale Szenen des Romans »Lalla Rookh« von Thomas Moore nachstellten. Die hochadeligen Herrschaften versammelten sich kostümiert zunächst im Zimmer Friedrichs des Großen und setzten sich dann in einem großen Maskenzug durch die Palastfluchten in Bewegung. Diese Prozession gelangte gemeinsam mit der Titelheldin endlich am Palast des legendenhaften Herrschers Schalimar an. Tatsächlich handelte es sich um ein im weißen Saal errichtetes Theater, von dessen goldbesetzten Polstern aus die höchsten Herrschaften die bildliche Darstellung des Finales verfolgten. Hier empfing der Prinz Aliris seine verehrte Lalla Rookh in ihrer Barke und geleitete sie zum Throne hinauf. Das »Rosen-Feste von Kaschemir« beschloss diese kulturelle Wanderung »durch Lieblichkeit und Glanz«. Viele Beobachter priesen dabei »den ausgesuchten Geschmack und wahrhaft orientalische Pracht … [der] Kostüme des Aurengzeb und der Lalla Ruth (sic)«.268 Einer der Zuschauer dieses Hoffestes war E. T. A. Hoffmann, der sich vielleicht gerade durch seine zweifache Passion als Kritiker und Komponist für das musikalische Märchen begeisterte. »Die Wirkung glich einem mächtigen Zauber, der den ganzen Sinn befängt und sich … wie ein schöner Traum gestaltet, den wir, dem schimmernden Feenreich entrückt, noch lange fortträumen.«269 Es ist kein Zufall, dass Carl Maria von Weber sich bald darauf vergleichbarer orientalischer Tonmalereien in seiner Oper Oberon bediente. Der markanteste Effekt, welcher bei der Berliner Lalla Rookh als orientalischer Zauber aufgefasst wurde, ergab sich aber aus deutlichen Lautstärkeunterschieden und dem Einsatz des Schlagwerkes.270 Gaspare Spontini entschied sich dafür, die öffentliche Begeisterung für einen nur wenigen Auserwählten zugänglichen Festakt zu nutzen, und schrieb eine neue Märchenoper, die sich dem bürgerlichen Publikum öffnete. Sein Nurmahal oder das Rosenfest von Kaschmir knüpfte an die Verserzählungen aus Moores Lalla Rookh an.271 Das Stück wurde in Berlin als »achte Karneval-Oper« (sic) geboten. Die Presse erfreute sich an der zauberischen 267 Allgemeine Preußische Staatszeitung, 30.1.1821: Das Fest der Rosen. Vgl. Stamm-Kuhlmann, Hof, 275–319. 268 Ebd. 269 Hoffmann, Schriften, 351–354 (Zit. 352), Vgl. ebd. 534–536. 270 Vgl. Miller, Freiheitskrieg, 200–227; Schmitt, Exotismus, 350–367; Joppig, Orientalismen, 295–304. 271 Vgl. Wolff, Orient, 372 f.; Bohlmann, Discovery, 147–163.
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Landschaft, der magischen Mondbeleuchtung und den vergoldeten Hallen mit silberfunkelnden Wasserfällen. Erst die »berauschende Musik, der Taumel der Lust in unabgebrochenen Tänzen« ermöglichten »wahrhaft(e) orientalische Elemente« in dieser Oper.272 Wie gewünscht, geriet auch das Publikum durch die Musik, die Tänze und die prächtigen Dekorationen (auch hier unter der Mitwirkung von Schinkel) ganz aus dem Häuschen. Musikalisch beschränkte sich Spontini oft auf etablierte romantische Stilmittel, verfeinerte den Koloraturgesang und beglückte die Zuschauer durch malerische Klänge in den großformatigen Chor- und Orchesterpartien. Vielleicht noch stärker als der Klangzauber dürfte dem Publikum die pittoreske Szene einer religiösen Geschlechterfantasie gefallen haben: »Unter den mannigfachen anmuthigen Tänzen zeichnen wir … als etwas Vollendetes aus … Mlle. Lequine, als weiblichen Mullah.« Ergebene Bürger beschlossen den Abend mit dem Preisgedicht: »An Spontini. Als Nurmahal aufgeführt ward.«273 Das orientalische Bühnensujet erwies sich in Berlin auch in den folgenden Jahren als verkaufsattraktiv. Spontini ließ bald darauf seine neue Zauberoper Alcidor folgen, die nach Ansicht von Beobachtern gerade deshalb Erfolg hatte, weil sie »menschliche Kraft und Würde vor dem Andrang des orientalischen Prinzips hat erhalten« können.274 Noch zwanzig Jahre später begeisterte sich das Berliner Opernpublikum an Louis Spohrs Kreuzfahrern. Das so erfolgreiche wie rasch vergessene Stück handelte vom Kampf des Kreuz ritters Balduin um Fatime, die geraubte Tochter des türkischen Emirs. Im dritten Akt erhielten die protestantischen Besucher die Gelegenheit, sich gemeinsam mit dem singenden Nonnenchor (»weine büßende Tränen«)« gegen die zu »türkischer Musik« herbeieilenden Leute des Emirs zu wenden. Dank des Eingriffs des päpstlichen Legaten Adhemar ging am Ende aber alles gut für das Abendland aus.275
Ein zweites Fallbeispiel: Die musikalische Zivilisierung Indiens vor einem breiten Londoner Publikum Von Berlin nach London: Coliseum Theatre, im März 1912. Im Anschluss an die Krönungszeremonie (Durbar) Georges V. 1911 in Delhi erwiesen die indischen Herrscher dem britischen König ihre Ehrerbietung. Der Begeiste272 BAMZ, 1 (1824), 119–122 (Zit.120). 273 HS, 30.5.1822. Vgl. die spöttische Perspektive von Heinrich Heine, Werke, Bd. 2, Briefe aus Berlin, 7.6.1822, 46–49; sowie insges. Miller, Freiheitskrieg, 220–222. 274 BAMZ, 2 (1825), 196. 275 HS, 28.7.1845.
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rung in Großbritannien folgte der Impresario Oswald Stoll in London und brachte die »Imperial Masque« – The Crown of India auf die Bühne. Zu einem Text von Henry Hamilton – der besser als Bühnenhandlung denn als Libretto zu bezeichnen ist – komponierte Edward Elgar die passende Musik. Die Handlung bestand aus zwei Tableaus: Im ersten Bild mühen sich die zahlreichen indischen Städte um eine politische Einheit. Der englische Nationalheilige George sagt ihnen die Ankunft eines königlichen Kaisers (»KingEmperor«) vorher. Passenderweise entsprach der Name des Heiligen dem des britischen Monarchen. »St. George has to decide between the rival cities and he pronounces for Delhi. Then follows the durbar, the Emperor and the Empress being, of course, symbolical figures.«276 Im zweiten Tableau hießen die indischen Städte und die bräunlich geschminkten Prinzen den königlichen Kaiser willkommen, der durch die Unterstützung englischer Helden (u. a. Clive und Warren Hastings) die rivalisierenden Völker Indiens im Britischen Empire vereinte. Delhi wurde zur Hauptstadt und Kalkutta zur wichtigsten Stadt erhoben. Die Nationalhymne beschloss The Crown of India in einem Festakt britischer Loyalität. Elgars »Imperial Masque« begeisterte das Publikum als wunderbares und selbst in London so nie gesehenes pittoreskes Spektakel: »Die Inszenierung ist bemerkenswert wegen der Schönheit ihrer Kostüme und den bewegenden, symbolträchtigen Bildern, die sie von Indien und seinen Herrschern zeichnet.«277 Die prächtigen Bilder und die lautstarke Musik trösteten wohl über die rein allegorische Handlung hinweg. Gerade der Marsch gefiel, mit dem die Kaiser der Mogul-Dynastie in einer glänzenden Prozession die Bühne betraten. Elgar setzte einen reißerischen Effekt an das Ende des Marsches. Hier gab er das thematische Material vollständig preis und reihte in den letzten 30 Sekunden Schlussakkord an Schlussakkord im forte fortissimo – freundlich unterstützt von einem gewaltigen Gong.278 Ebenso eindringlich wirkte die festliche Musik der zweiten Szene, unter der sich die indischen Mächte um den »King-Emperor« versammelten und dieser die Rivalitäten der Städte und Provinzen unter britischer Flagge überwand. Der Schlusschor »Ave Imperator« nutzte die Klänge der britischen Nationalhymne, variierte aber den 276 DN, 12.3.1912. Vgl. zur Funktion Elgars im Edwardianischen England Richards, Imperialism, 44–87; Hughes, Renaissance, 161–184. 277 Ebd. Vgl. MacKenzie, Persistence, 21–36; Rebellato, Look Back, 73–90. 278 Dieser »March of the Mogul Emperors« trägt die vielsagenden Bezeichnungen »Moderato maestoso – Marziale – Pomposo«. Vgl. die Aufnahme von Leonard Bernstein mit dem BBC Symphony Orchestra 1982 (DG, 431 033–2). Die einzige Gesamtaufnahme der Bühnenmusik spielte Sir Andrew Davis 2009 mit der BBC Philharmonic ein (Chandos 10570–2).
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Text von »God save the King« hin zu »God save the Emperor! – Amen!« Elgars »Pomp and Circumstance«-Märsche aus dem Jahre 1902 lebten wieder auf, und das Publikum bekam auch hier die Chance, in die imperiale Krönungsode eines »Land of Hope and Glory« einzustimmen. Diese »indische« Komposition war ein britisches Produkt, das rein gar nichts über die indische Musikkultur offenbarte. Elgar setzte die Blechbläser massiv ein, arbeitete reichlich mit dem Tamburin, den Trommeln und einem gewaltigen Gong. Europäische Hörgewohnheiten beherrschten die Komposition. Das ohnehin schwache ethnologische Interesse an indischer Musik wurde nicht bedient, wohl aber die »oriental colour« auf der Bühne.279 Elgar dirigierte die Uraufführung am 11. März 1912 und leitete während der nächsten zwei Wochen täglich zwei Aufführungen. Bei der Premiere bejubelte das Publikum den Komponisten, als dieser von der Sängerin der »India« vor den Vorhang geführt wurde. »Am Ende war großer Enthusiasmus spürbar und es gab viele Blumensträuße; und Sir Edward Elgar und Mr. H amilton, dessen Verse wunderbar verfasst sind, wurden von ›India‹ vor den Vorhang geführt.«280 Der Nationalismus und der Orientalismus der Crown of India strukturierten das Bühnenwerk. Die rechtskonservative »Morning Post« zog eine entsprechende Bilanz: »Gut getroffen war der prächtige östliche und indische Glanz. … Das starke Band aus Loyalität und Patriotismus, das das ganze durchzieht, wird dafür sorgen, dass es allen als herausragendes Symbol des historischen Ereignis’ anzuempfehlen ist.«281 Die »Times« ging vielleicht noch einen Schritt weiter und beschrieb, warum Elgars Werk nicht nur durch seine Musik und Bühnenbilder, sondern vor allem durch seine Popularität ein breites britisches Publikum besteche – »popular in the best sense«.282 Die Crown of India war eine imperiale Werbemaßnahme. Da trat zum einen das jeden und alles überstrahlende Symbol des britischen Monarchen auf, der den missionarischen Titel des »Emperor of India« führte. Der neue »King-Emperor« George V. entschloss sich 1911, seine Inthronisation in Indien zu feiern. Seine Majestät herrschte als Verkörperung des Weltreiches gleichermaßen an der Schnittstelle der westlichen und der östlichen Welt, oder in der scharfzüngigen Persiflage in Gilbert und Sullivans Savoy Opera The Gondoliers: »We receive with ceremonial and state, an interesting Eastern potentate!«283 279 280 281 282 283
TI, 12.3.1912. Vgl. Schmitt, Exotismus, 265–267. DN, 12.3.1912. Vgl. MP, 12.3.1912. MP, 12.3.1912. TI, 12.3.1912. Bradley (Hg.), Gilbert and Sullivan, 923. Vgl. Cannadine, Ornamentalism, 41–57, 101–120.
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Zum anderen bestach die Crown of India als orientalisches Medienfest. Symbolisch-monarchisch war auch das Berliner Hoffest 1821, doch im frühen 20. Jahrhundert zielten diese Rituale auf die Interessen der breiten Bevölkerung. Der britische Imperialismus war medial betrachtet beinahe jedermann zugänglich: Die ganze Gesellschaft feierte seit 1902 den »Empire Day« am 24. Mai (dem Geburtstag Königin Victorias) und erlebte präsentierte Geschichte auf gut besuchten Ausstellungen. Der Kontakt zur indischen Kultur ließ sich gleichsam öffentlich üben. Die Bevölkerung genoss imperiale Politik in den Music Halls, im Varieté oder auf Schallplatte. Die Suite zur Crown of India wurde bis in die 1930er-Jahre hunderte Male im Radio gespielt und wirkte dadurch als Brücke zwischen Hochkultur und Populärkultur. Der musikalische Imperialismus im frühen 20. Jahrhundert gelang, weil er einer breiten Bevölkerung den Zugang zum Weltreich erleichterte und offenbar viele Briten durch den Spott über einer fremden Kultur befriedigte.284
Die Verwandlungen und das Verschwinden des musikalischen Orientalismus Sinfonische Spielereien mit dem Orient verschwanden am Ende des Jahrhunderts aus dem Konzertleben. Sieht man von bald vergessenen Capricen wie Benjamin Godards »Symphonie Orientale« op. 84 (1883) ab, widersprachen nur wenige gelungene Ausnahmen diesem geschmacklichen Wandel: Die wichtigste dürfte Gustav Mahlers »Lied von der Erde« aus dem Jahre 1909 darstellen. Sie beruhte auf den Übersetzungen chinesischer Gedichte durch Hans Bethge. In dieser Sinfonie für eine Tenor- und eine Altstimme verwandelte Mahler den musikalischen Kanon des 19. Jahrhunderts – melodisch, harmonisch und instrumentell. Die kulturelle Originalität dieser Komposition führte in den von Mahler strukturierten Grenzbereich: Nähe und Ferne, Banalität und Transzendenz. Die sporadische Verwendung chinesischer Tonfolgen verblasste hier vor der vorweggenommenen kulturellen Verwandlung der europäischen Kunstmusik im Stile einer deutschen Chinoiserie.285 Die Bilanz einer abklingenden Orientmode fiel in der Gattung des Musiktheaters ähnlich aus. Sie verschwand zusehends gegen Ende des 19. Jahrhunderts, seltener entstanden passende Bühnenwerke. Nur wenige orientalisierende Bühnenwerke wie Igor Strawinkys Le Rossignol oder Giacomo Puccinis 284 Vgl. Richards, Imperialism, 72–84, 177–210; MacKenzie, Empire, 270–293; ders., Propaganda, bes. 39–66; Plato, Geschichte 121–135; Auerbach, Exhibition, 159–189, und die Beiträge in Ward (Hg.), Culture. 285 Vgl. Ulm (Hg.), Mahlers Symphonien, 250–272.
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Turandot behaupteten sich nach 1900 im Repertoire. Doch manche biblische Opernsujets interessierten das Publikum immer noch. Werke wie Camille Saint-Saëns Samson et Dalila nutzten in ihren opulenten Kostümen und üppigen Chorszenen nach wie vor Darstellungselemente der Grand opéra.286 An der Hofoper in Berlin gefielen unter der Leitung von Richard Strauss zumal die Ballette, »wegen ihres wohlgetroffenen orientalischen Colorits und der reizenden charakteristischen Instrumentation. … Man sieht … den monumentalen Tempel – ein Sieg moderner Dekorationskunst. … Costüme und Scenerien mahnten an den orientalischen Zauber aus tausend und einer Nacht«.287 Europäische Komponisten arbeiteten in ihren »orientalisierenden« Werken meist mit klischeehaften Wendungen: dem Umspielen eines Zentraltons, reicher Chromatik, dem Schwanken zwischen Dur und Moll und dem Rückgriff auf die entsprechenden rhythmischen Instrumente. Fasziniert waren Komponisten und Publikum gleichermaßen von der als »orientalisch« wahrgenommenen Kultur, in der Praxis aber entschlossen sich alle, nur dem europäischen Tonsystem zu vertrauen. Im Ergebnis übernahmen die Tonschöpfer den Stil etablierter orientalischer Opern und wechselten je nach Sujet zwischen vermeintlich arabischem, indischem oder chinesischem Lokalkolorit. Der Kritiker Eduard Hanslick erkannte die kompositorische Austauschbarkeit der Musiknummern aus Le Désert, Aida oder der Königin von Saba, »denn unsere Palette für den musikalischen Orient erhält nur wenige Grundfarben und gestattet nicht sehr mannigfaltige Mischungen«.288 Genau diese Melange aber gefiel dem Publikum. Viele Besucher rühmten, dass die fremdartigen japanischen Melodien der Madama Butterfly einen interessanten Assimilationsprozess durch die feinen Hände Puccinis absolviert hätten.289 Die »Vossische Zeitung« spottete über den »geschickten Kosmopoliten« Puccini. Seine Musik entfalte »ein seltsames Gemisch von italienischen, französischen und japanischen Elementen …, entzückte durch ihre Süße, durch ihre Sinnfälligkeit einen großen Teil des Auditoriums, daß sich schließlich auch mit der Handlung und der heftigen Attaque auf die Tränendrüsen der Mütter, in der sie gipfelt, abfand. … Dieser Italiener, der Franzose sein möchte, übt sich in der ›Madame Butterfly‹ … in Japanismen, die durch ihre Aufdringlichkeit auf Dauer unerträglich werden«.290 286 Vgl. Locke, Cutthroats, 28–30; sowie zur Entwicklung seit dem späten 18. Jahrhundert Griffel, Turkish, 85–194, 430–435. 287 NZfM, 97 (1901), 193. 288 Hanslick, Opernleben, 75. Vgl. Mahling, Problem, 49–55; Locke, Reflections, 60–62. 289 NFP, 1.11.1907 (M). 290 VZ, (M) 28.9.1907.
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Beinahe ebenso deutlich urteilte die »Daily News« in London. Puccini befriedige die orientalischen Kulturvisionen junger Amerikanerinnen durch seine italienische Musiksprache – »sein Japanisch drückt sich kontinuierlich in musikalischen Idiomen des modernen Italiens aus. Die Konsequenz ist, dass alle nicht echt wirken, sondern wie operettenhafte Künstler die eine Maske aufsetzen«.291 Die musikalische Fachpresse mokierte sich häufig darüber, dass ein sehr großes Hindernis hinsichtlich der Aufführung von Meyerbeers L’Africaine darin bestand, dass durch die »schwarze Gesichtsfarbe der Hauptrolle … die erste Sängerin, welcher man dieselbe zugemuthet, nicht willens [wäre] sich durch eine Rolle, die sie vielleicht 50 Mal hintereinander singen muß, ihren Teint in Grund und Boden zu ruinieren«.292 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nutzten Werbekampagnen körperlich kodierte Darstellungsweisen pittoresker »Eingeborener« zum Verkauf aller möglichen Produkte des Musiklebens. Somit lässt sich im musikalischen Exotismus ein Ethnizismus, im traditionellen Orientalismus ein beginnender Rassismus erkennen. Musikalische Inszenierungen galten für manche Betrachter als temporäre Realität, weniger als Substitution der Umwelt. Die vom Publikum und den Journalisten betonte Schwierigkeit, musikalische Spektakel in fassbare Worte zu kleiden, reflektierte genau den kommunikativen Stellenwert dieser Kunstform. Musikalische Aufführungen zeigten sich den Teilnehmern auch als eine von ihnen selbst erzeugte Wirklichkeit.293 Gerade das sinnliche Erleben des Publikums kann kaum überschätzt werden. Das Musiktheater verzauberte die Welt, Konzerte beflügelten die Fantasie. Die vielfältigen Reizebenen unterhielten das Publikum genau dann, wenn die Aufführungen im Opernhaus und Konzertsaal gelangen, wenn neuartige Darstellungsmedien gewünschte Begeisterung und gewollten Schauder hervorriefen. Doch Gleiches galt auch umgekehrt: Das Erlebnis von Tod und Tumult auf der Bühne konnte dann im Desaster enden, wenn das Auditorium selbst zum Ort des Desasters wurde.
291 DN, 11.7.1905. 292 NZfM, 35 (1851), 215. Vgl. zum kulturellen Alltagsrassismus Ciarlo, Rasse, 135–179. 293 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik, bes. 318–332; die Beiträge in Früchtl/Zimmermann, Ästhetik; Hays, Public; Karpenstein-Eßbach, Kulturwissenschaft, 59–63 und passim; Simon, Fern-Sehen, 258 f.
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4. Orte für Alpträume: Feuer und Tod im Opernhaus Plötzlich ausbrechende Brände vernichteten manche Opernhäuser und töteten viele ihrer Besucher. Im Dezember 1881 überschlugen sich die Presseberichte aus Wien. Bedrohungen auf der Bühne und im Zuschauersaal hatte es stets gegeben, der Brand des Ringtheaters aber versetzte die Stadt in Aufregung. Das Feuer forderte nicht weniger als 384 Menschenleben. Die »Wiener Abendpost« hielt fest: »Die Erregung der Wiener Bevölkerung über die Katastrophe im Ringtheater ist noch immer eine außerordentliche. Es tritt eben immer klarer zutage, daß das Unglück weit größere Dimensionen angenommen hat. … Das Feuer griff mit solcher Schnelle um sich, daß leider nur eine kleine Zahl der auf den Galerien Befindlichen sich retten konnte, ja selbst von den etwa vierzig Besuchern, die im Parquet ihre Sitze schon eingenommen hatten, haben die meisten den Tod gefunden. … Seitdem werden fortwährend verkohlte und verstümmelte Leichen aus den Ruinen hervorgeholt, und viele sind noch in dem rauchenden Schutte begraben. … Die ganze Bevölkerung Wiens ist durch die Schauerkatastrophe in hochgradige Aufregung versetzt.«294 Die Anzahl und das Ausmaß der Theaterbrände im 19. Jahrhundert waren beachtlich. In London ging das Royal Italian Opera House Covent G arden gleich zweimal, 1808 und 1856, in Flammen auf, das königliche Berliner Opernhaus brannte 1843, die Krolloper 1851, das Karlsruher Hoftheater 1847, die Pariser Opéra Comique traf die Brandkatastrophe 1887, und das Feuer im Chicagoer Iroquois Theater 1903 verursachte mit 611 Toten die meisten Opfer. Untersuchungen haben ergeben, dass allein in Paris zwischen 1826 und 1849 neun große Theater und zwischen 1870 und 1890 in Europa wenigstens 180 Häuser ein Raub der Flammen wurden.295 Die zerstörten Idealbauten müssen, was die Feuersicherheit anbetraf, als rundum unzulänglich und gefährlich betrachtet werden. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Neben dem verwendeten Baumaterial, den auf den Bühnen dargebotenen Effekten und Feuerwerken, dem Durcheinander von Künstlern, Statisten und Dekorationen fielen besonders die Schwachstellen des Feuerschutzes ins Gewicht: Fluchtwege und Feuerlöscher fehlten, und die Beleuchtung war vor der Umstellung auf die Elektrizität unzureichend. Auch die sich erst entwickelnde Bühnentechnik in den neuen Opernbauten erhöhte die Wahrscheinlichkeit 294 Wiener Abendpost, 10.12.1881. 295 Vgl. Die Chronologie der Theaterbrände in Europa zwischen 1613 und 1996 in Buck, Thalia, 259–275; Gerhard, Urbanization, 302.
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von Brandkatastrophen. Die Opernhäuser selbst waren Risikobereiche, sie wurden durch ihre Darstellungsformen zu Orten der Gefahr. In diesem Abschnitt sollen einige Ursachen, Wirkungen und Nach wirkungen von Opernbränden in Europa skizziert werden. Die im Laufe der Jahre immer schrecklicher werdenden Zerstörungen vernichteten nicht nur Gebäude (Berlin, 1843) und Teile der Stadt (London, 1856), sondern auch viele Menschenleben (Wien, 1881). Dabei ist nach den Abläufen, den Beobachtungen und den Bewertungen zu fragen. Die Wahrnehmungsformen der katastrophalen Ereignisse im Opernhaus schlossen an die Darstellungsformen auf den Bühnen an. Jenseits einer medial verstärkten Faszination der Geschehnisse kommt es darauf an, bauliche und politische Lösungsvorschläge der Zeitgenossen vorzustellen. Worin lag der Reiz dieser Zerstörungen und des Sterbens? Ähnelte die Teilnahme der Beobachter anderen Verhaltensmustern dieser Zeit? Warum schadeten all die genannten Brandkatastrophen nicht der Attraktivität der Opernhäuser?
Berlin: Schaulustige staunen über ein brennendes Haus Am Abend des 18. August 1843 veranstaltete eine hannoverische Schauspieltruppe ein Gastspiel in der Berliner Lindenoper, die nach zwei Komödien das militärische Ballett »Der Schweizer-Soldat« gab. Die Vorstellung war in der theaterfreien Zeit nur halb gefüllt, das Interesse des Publikums offenbar nur mäßig und das Haus gegen 22.00 Uhr bereits geschlossen. Das änderte sich, als das Feuer ausbrach. Die Ursachen des Brandes wurden nie ganz aufgeklärt, doch offenbar entzündete ein glühender Gewehrpfropfen nach dem Ende der Aufführung einige liegen gebliebene Kostüme. Augenzeugen bemerkten schon kurz nach 22.00 Uhr, dass einige Flammen aus den Fenstern neben den Garderoben im Dachgeschoss des Knobelsdorffschen Opernhauses schlugen. Die wegen der Sommerhitze geöffneten Fenster beschleunigten den Luftzug und damit das Feuer. Kurz darauf beobachtete die Brandwache das Feuer und griff nach einer Handspritze. Inzwischen ertönten von allen Seiten Hilferufe. Der Architekt Karl Ferdinand Langhans war einer der Ersten, die herbeieilten. Als er von außen nur einen kaum erkennbaren Schimmer aus dem Inneren des Hauses ausmachte, trat er ein und sah vom Parkett aus die Flammen, die die Ränge entlangzüngelten. Nach weniger als einer Stunde, gegen 23.00 Uhr, stand das ganze Gebäude in Flammen. Das Feuer hatte schnell die Garderobe und dann die Bühne ergriffen und mit ihr die mit Öl und Firnis getränkte Leinwand und die Holzdekorationen. Dann brannten der Zu202 | Kulturtransfer in Europa © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Abb. 17: Die »Illustrirte Zeitung« wählte den spektakulären nächtlichen Brand des Opernhauses in Berlin 1843 als Titelbild.
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schauerraum und die Magazine, in denen für kurze Zeit Angestellte der Oper, herbeieilende Bürger und Soldaten meist vergeblich versuchten, Dekorationen, Möbel und wertvolle Bestände der Musikaliensammlung zu retten. Menschen kamen in dieser Nacht nicht zu Schaden. Von der Gefahr geängstigt, verließen die letzten Helfer eilig das Gebäude, während aus dem Dachstuhl Flammen schlugen, das Metall schmolz und schließlich die Wände zusammenfielen.296 Der Platz vor dem Opernhaus war in dieser Nacht taghell. Eine Feuersäule erleuchtete den Himmel, und ein Funkenregen überflutete das Gebäude. Irritierend und faszinierend muss das Flammenspiel auf die zahlreichen Menschen gewirkt haben. Nach Schätzungen der Zeitgenossen strömten an die 150.000 Berliner aus Neugier herbei. Manche Beobachter staunten darüber, dass die Menge nur bis zur Friedrichstraße vorankam. Der Opernbrand interessierte auch Bevölkerungsschichten, die das Theater selten oder niemals besuchten. Berliner Journalisten versuchten, den Schrecken und die Schönheit des nächtlichen Schauspiels einzufangen. Das Ereignis wirkte auch als emotionales Erlebnis – gleichzeitig furchtbar und grandios. Die »Illustrierte Zeitung« betonte sogar, ein »schönes Brillantfeuerwerk« erblickt zu haben, »und es war, als ob das Opernhaus … auch in seinem Untergange noch als eine magische, die Sinne völlig betäubende Erscheinung sich darstellen wollte«.297 Und doch waren es letztlich die scharfen optischen Kontraste und die bedrohliche Vorstellung, welche den Berichterstattern die Sprache verschlugen. Diese Form der nächtlichen Beleuchtung »ist durch keine Beschreibung darzustellen und machte besonders darum einen eigentümlichen Effect, weil dem überallhin mit gleicher Intensität wirkenden Lichte der nahen ausgedehnten Flamme der Schatten fehlte, den selbst die leuchtende Sonne zulässt«.298 Die Berliner Löschmannschaften bekämpften das Feuer mit ihren Spritzen – ohne Wirkung. Unterstützt von einer Menschenkette versuchten die Helfer, hunderte Eimer voller Wasser auf alle brennenden Teile des Gebäudes zu lenken. Das Opernhaus war nicht zu retten, aber es gelang, die benachbarten wichtigen Gebäude des Stadtzentrums, das Prinzenpalais, die königliche Bibliothek, die Universität und die Hedwigskirche, vor den Flammen zu schützen. Dabei griffen nicht nur zahlreiche Soldaten in die Rettungsver296 Vgl. zum Verlauf des Brandes Otto, Lindenoper, 170–174; Buck, Thalia in Flammen, 42– 47; Schrenk, Berlin 109 f.; und ferner Freydank, Theater in Berlin, 236–253. 297 IZ, 16.9.1843, 178. 298 Ebd. In der Allgemeinen Preußischen Zeitung, 20.8.1843, hieß es sogar, die große Menschenmenge habe sich wegen »des in seiner Art großartigen Schauspiels« versammelt, erleuchtet »von der glühendrothen Atmosphäre«.
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suche ein. In aller Ausführlichkeit strich die »Preußische Staatszeitung« das delegierende und ordnende Eingreifen der herbeieilenden Aristokraten des preußischen Hofes heraus. »Se. Königl. Hoheit der Prinz von Preußen, in Generals-Uniform, erschienen gleich zuerst mit auf dem Platze und gaben selbst die nöthigen Befehle.«299 Die über volle sechzehn Zeitungsspalten gehende Auflistung der meist uniformierten königlichen Hoheiten und führenden Adeligen las sich wie eine Eloge auf die politische und militärische Ordnung Preußens. Am Morgen des 19. August besichtigte der aus Potsdam angereiste preußische König Friedrich Wilhelm IV. in Begleitung seines Hofstaates die Brandstätte. Bereits drei Tage nach der Zerstörung erließ er eine Kabinettsorder zum Wiederaufbau. Die Kosten des historisch rekonstruierten Gebäudes, mit dem man Karl Ferdinand Langhans beauftragte, wurden ursprünglich auf 80.000 Taler beziffert – fünfzehn Monate später, bei der Wiedereröffnung des Hauses am 7. Dezember 1844, betrugen die Kosten 493.000 Taler.300 Öffentliche Baukosten liefen im 19. Jahrhundert genauso aus dem Ruder wie im 21. Jahrhundert.
Covent Garden: Ein flammendes Inferno bedroht die Londoner Innenstadt In London konnte keine staatliche Finanzierung den Wiederaufbau eines abgebrannten Opernhauses übernehmen. Sämtliche Theater wurden als private Unternehmen geführt, deren ökonomischer Erfolg und Misserfolg allein auf ihren Einnahmen durch das Publikum beruhte. Durch den Brand seines Hauses erlitt der Direktor und Manager Covent Gardens, Frederick Gye, ein Verlust von etwa 30.000 £. In den folgenden beiden Jahren brachte er 120.000 £ für den Neubau des Hauses auf, das nach den Plänen des Architekten Edward M. Barry wiedererrichtet wurde und am 15. Mai 1858 den Spielbetrieb aufnahm.301 In der Nacht vom 4. auf den 5. März 1856 veranstaltete das Theater einen Maskenball. Gegen 4.30 Uhr morgens hatte sich die Menge der Zuschauer auf 299 Vgl. Allgemeine Preußische Staatszeitung, 20.8.1843. Am 21. August 1843 veröffentlichte das Blatt die amtlichen Glückwünsche durch den Prinzen von Preußen und den Oberbürgermeister an die Berliner Bürger, während der Löscharbeiten engagiert geholfen zu haben. 300 Vgl. Lange, Vom Tribunal zum Tempel, 118–128. 301 Vgl. Dideriksen/Ringel, Gye, 3–30. Vgl. zum wirtschaftlichen Potenzial der Musik produktionen die Beiträge in Weber (Hg.), Entrepreneuer.
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rund 200 im Parkett reduziert, und das Orchester spielte zum Abschluss die Nationalhymne. Während der letzten Klänge flogen plötzlich einige Funken in den Saal, und Teile einer brennenden Dekoration stürzten auf die Bühne, nur wenige Meter von den entsetzten Musikern und ihrem Publikum entfernt. Auch hier sind die Ursachen für den Brand nicht abschließend geklärt worden. Vieles spricht dafür, dass sich in der im Dachgeschoss gelegenen Werkstatt Gegenstände entzündeten, möglicherweise hervorgerufen durch austretendes Gas. Dieser Brand breitete sich mit rasender Geschwindigkeit im ganzen Haus aus. Der anwesenden Feuerwache blieb für Löscharbeiten keine Zeit. Das eben noch tanzende Publikum geriet in völlige Panik und schrie auf, als brennende Trümmer auf die Menschen herabregneten. Einige verletzten sich leicht dabei, als die verängstigte Menge zu den Ausgängen rannte, um ihr Leben zu retten. Mehrere Frauen wurden dabei niedergetrampelt, bewusstlose Besucherinnen hinausgetragen. Innerhalb weniger Minuten stand das ganze Gebäude bis zum Dachstuhl in Flammen, während dichter schwarzer Rauch die Sicht beschränkte. Den Angestellten gelang nur die Rettung der Abendkasse. Ansonsten fielen außer der Bibliothek sämtliche Dekorationen, Kostüme und etwa 60 im Magazin eingelagerte Bühnenbilder den Flammen zum Opfer. Die eintreffende Feuerwehr hielt es für ratsam, den Brand des verlorengegebenen Opernhauses nicht zu bekämpfen, und versuchte dafür, die Zerstörung des ganzen Stadtviertels zu verhindern. In stundenlanger Arbeit gelang es mit 20 Löschzügen, die umliegenden Gebäude am Covent-Garden-Markt und in der Bowstreet mit Wasser zu kühlen, um eine wirkliche städtische Brandkatastrophe zu verhüten. Am nächsten Morgen bestand das berühmte Theatre Royal Covent Garden nur noch aus einigen rauchenden Wänden.302 Die Anzahl der Schaulustigen nahm im Laufe der Nacht immer weiter zu, und am Sonntagmorgen besichtigten Tausende das Trümmerfeld. Die Zerstörung dieses kulturellen Denkmals und die Nachricht von der abgewendeten Zerstörung des Stadtviertels zogen etwa 150.000 Menschen an. Und auch in London konzentrierte sich die Berichterstattung auf die Anteilnahme der führenden Aristokraten des Landes an der Brandkatastrophe. Viele Artikel handelten von herumlaufenden Adeligen, welche die meist nicht erkennbaren Reste der eigenen Loge besichtigten. Die öffentlich interessanteste Attraktion aber stellte die Ankunft Königin Victorias am Nachmittag 302 Vgl. zum Hergang des Geschehens Rosenthal, Two Centuries, 110–116; ders., Opera at Covent Garden, 40–42; Drogheda, Covent Garden Album, 73, 78–81; zu den Zeitungsberichten vgl. MC, 6.3.1856; MW, 8.3.1856, 152–154.
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Abb. 18: Königin Victoria stieg in Begleitung des Managers Frederick Gye selbst über die Trümmer des tags zuvor abgebrannten Opernhauses Covent Garden.
des 6. März dar. Victoria war eine regelmäßig hier erscheinende Opernfreundin, und offenbar bewegte sie der Anblick tief. Begleitet von zweien ihrer Töchter und ihrem Hofstaat hieß sie der Pächter Frederick Gye willkommen. Die »Illustrated London News« veröffentlichte Abbildungen der Königin in den nackten Wänden des Hauses.303 Victoria, gestützt auf Gyes Arm, stieg selbst über einige Trümmer hinweg, machte sich ein Bild von dem Zustand der Oper und suchte dabei den Ort ihrer Lobby und die Position der eigenen Loge auszumachen. Schließlich blickte sie schweigend auf die Ruinen herab, und die Presse beschwor eine antikisierende Verfallsstimmung: »Über die Trümmer des Treppenhauses emporsteigend, welches zum Bedford Eingang führte, erreichte Ihre Majestät den Rand des Abgrunds und blickte auf das Parkett herab. Es herrschte eine ernste Stille. Das ausgedehnte Areal, die hohen Wände, die ihre architektonische Erhabenheit behalten hatten, die an 303 ILN, 15.3.1856, 275 f.
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ein Amphitheater angelehnte Form und die gut erkennbaren Gänge, auf die sich einst das Parkett stützte, wirkten beinahe wie das Kolosseum.«304 Das Feuer im Royal Italian Opera House Covent Garden zog besondere Aufmerksamkeit auf sich. Das war ein Unterschied zum wenig beachteten Brand des ehemals führenden Londoner Opernhauses, des Her Majesty’s Theatre, im Jahre 1867. Dieses Opernhaus war zu diesem Zeitpunkt bereits in Konkurs gegangen und hatte seinen traditionellen Spielbetrieb eingestellt, als die Flammen das leer stehende Gebäude vernichteten. Auch hier sprachen die Zeitgenossen von einer »terrible grandeur« des Feuers, welches weite Teile der Stadt überstrahlte und einige zehntausend Schaulustige anlockte. Die Presse ereiferte sich darüber, dass die Brände angesichts des Baubooms neue und alte Theater gleichermaßen trafen. Die Veranstalter, so der Vorwurf, bemühten sich letztlich nur um Gewinn, achteten nur auf die Menge der Sitzplätze, nicht aber auf die notwendigen Brandschutzmaßnahmen. Die »Daily News« sprach anlässlich dieser Brandkatastrophe sogar von einem möglichen »holocaust«, den das Publikum im Her Majesty’s Theatre hätte erleiden können. »Beinahe wäre es zur Katastrophe gekommen. Glücklicherweise brennen die meisten Opernhäuser nicht während einer Vorstellung. … Das Gebäude mag feuerfest sein. Aber nur wenn die Zuschauer immun gegen Ängste sind übersehen sie das Restrisiko. Die eigene Panik wird dann zur größten Gefahr.«305
Ein Schreckensszenario ohne Grenzen: Der Brand des Wiener Ringtheaters So zerstörend die Brände in Berlin und London auch waren, das Feuer im Wiener Ringtheater stellte alles Vergangene in den Schatten, denn dieses Unglück ereignete sich während der Vorstellung. Die 1874 im repräsentativen Stil der Neorenaissance am Schottenring errichtete Komische Oper umfasste beinahe 1.700 Sitzplätze – die mangelnde Bewegungsfreiheit im Parkett, in den Rängen und den Treppenhäusern ärgerte aber viele Besucher. Ein Bankrott der für den Spielbetrieb verantwortlichen Aktiengesellschaft zeichnete sich mehrfach ab, bis die Aufführung von Jacques Offenbachs Les Contes d’Hoffmann zu einem großen Publikumserfolg wurde. Die zweite Vorstellung am 8. Dezember 1881 war restlos ausverkauft, der Theatersaal vor Beginn der Vorstellung gegen 19.00 Uhr bis auf wenige Logen und einige Sitzplätze bereits gut gefüllt. 304 MC, 7.3.1856. Vgl. Lynch, Box. 305 DN, 9.12.1867. Vgl. TI, 7.12.1867.
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Auf der Bühne bereiteten inzwischen Requisiteure die Beleuchtung für die erste Szene des Abends vor. Ein Arbeiter steckte mit einer längeren Stange, die elektrische Funken versprühte, die einzelnen Gasleuchten an. Dabei beging er eine Unachtsamkeit. Auf dem Weg zwischen den Beleuchtungselementen setzte sein Docht den herabhängenden Gazevorhang in Flammen, der sofort lichterloh brannte. Einige aufschreiende Arbeiter suchten den Schnürboden herabzulassen, um eine Ausbreitung der Flammen zu verhindern. Das gasbetriebene Rampenlicht aber löste die Brandkatastrophe aus. In der Aufregung misslang es, die Gaszufuhr abzudrehen. Das weiter ausströmende Gas entzündete sich in einer Stichflamme und setzte die zahlreich montierten Dekorationen in Brand. Die Bühnenarbeiter reagierten panisch und unkontrolliert: Aus dem Löschschlauch kam überhaupt kein Wasser, die Wasserleitung war seit Längerem defekt, den schützenden eisernen Vorhang vergaß man herabzulassen, und in ihrer Panik verließen Angestellte und Künstler das Theater durch die hinteren Bühnentüren, wodurch der einströmende Sauerstoff einen Feuersturm entfachte. Zu diesem Zeitpunkt hatten die anwesenden Zuschauer noch nichts bemerkt. Explosionsartig schlug durch die Zugluft plötzlich der brennende Vorhang auf, der die Bühne vom Parkett trennte, und flog bis in die Ränge hinauf. Eine fürchterliche Panik erfasste die Menschen, die sich einer Feuerwand gegenüberfanden. Feuer und Funken, Rauch und Qualm, brennende Dekorationen und entzündetes Mobiliar fielen auf das Publikum herab. Die Bedrohung wurde tatsächlich noch schlimmer, weil die überforderten technischen Bediensteten eine Gasexplosion im Gebäude zu verhindern suchten und die Zufuhr zum Gas sperrten. Dadurch ging die ganze Beleuchtung im Zuschauerraum aus, vorgeschriebene Lampen auf den Fluchtwegen hatte es ohnehin nie gegeben. Die plötzliche Dunkelheit in der Oper löste Chaos und eine heillose Flucht der Menschenmenge aus. Die Rettung wurde durch die komplizierte Architektur aus verschachtelten Gängen und Treppen und durch die die Sicht beschränkende Hitze- und Rauchentwicklung behindert. Am schwersten hatten es die Besucher auf den Rängen, ins Freie zu gelangen, doch auch die meist sich nach innen öffnenden Theatertüren machten ein Entkommen für viele unmöglich. Die Unübersichtlichkeit im Dunkeln und das Gedränge der Menge wurden zu einer Falle. Wen die Flammen nicht töteten, den erstickte der Rauch oder die gegenseitige Gewalt. In den Treppenhäusern, in den Gängen und auf der Galerie lagen überall Leichen. Etwa zwanzig Minuten nach Ausbruch des Feuers waren alle noch im Haus befindlichen Zuschauer tot – 384 Opfer nach offizieller Zählung.306 306 Vgl. Buck, Thalia, 170–183; Kretschmer, Theaterbrände, 7 f.; de la Grange, Wien, 258.
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Die Feuerwehr war spät verständigt worden und traf falsch informiert und unzureichend vorbereitet ein. Die enorme Rauchentwicklung verhinderte Rettungsarbeiten innerhalb des Gebäudes. Schlimmer noch: Da keine nennenswerte Menschenmenge aus dem Theater herausströmte, nahm man in der ersten Stunde der Löscharbeiten offenbar an, dass das schreckliche Ereignis kaum Opfer gefordert hatte. Immerhin konnten mit Hilfe von Leitern und Sprungtüchern diejenigen geborgen werden, die sich aus Fenstern und Balkonen stürzten. Tausende in der Nacht und wohl hunderttausende Schaulustige am nächsten Morgen strömten herbei, um die Katastrophe zu sehen. Die Polizei suchte das Gelände einigermaßen abzusperren, während Feuerwehrleute, Sanitäter und Ärzte die oft bis zur Unkenntlichkeit verkohlten Leichen aus den Trümmern bargen. Vor dem Theater, im Hof des nahen Polizeigebäudes und im Garnisonshospital drängten sich immer wieder diejenigen, die versuchten, das Schicksal ihrer Angehörigen zu klären oder die Toten zu identifizieren. Am 12. Dezember fand die Beisetzung der bis dahin identifizierten Leichen unter der Anteilnahme zahlreicher Wiener auf dem Zentralfriedhof statt.307 Die Wiener Öffentlichkeit stand unter Schock. Das Ausmaß und die Ursache der Katastrophe schienen kaum begreifbar. Aus den Städten des Habsburgerreiches und den wichtigsten Metropolen Europas trafen Beileidstelegramme, Solidaritätserklärungen und Spendenzahlungen ein. Das Opernhaus und das Burgtheater setzten Benefizvorstellungen an. Das Parlament hielt zum Andenken eine Sondersitzung ab, Bürgermeister Julius Ritter von Newald legte auf öffentlichen Druck hin sein Amt nieder. Die Wiener Bevölkerung leistete erhebliche Spenden zur Unterstützung der Hinterbliebenen. Selbstredend fehlte es gerade in der Hauptstadt der Donaumonarchie nicht an devoten Berichten über das aufopferungsvolle Engagement der Aristokratie. Adelige organisierten Aufräumungsarbeiten und präsentierten ihre herausgehobene Position in diesen Zeiten der Gefahr. Mehrere kaiserliche Prinzen und Herzöge fanden sich bereits bei den Löscharbeiten ein. Kaiser Franz Joseph I. erklärte seine tiefe Anteilnahme und gab den Angehörigen der Opfer 10.000 Gulden aus seiner Privatschatulle. Zahlreiche Tages- und Wochenzeitungen, Illustrierte und Pamphlete behandelten über Wochen und Monate hinweg den Brand des Ringtheaters. Die Journalisten nutzten die Darstellungen des Brandes, um die öffentliche Sensationsgier zu bedienen. Das »Neuigkeits-Weltblatt« brachte auf seinem Titel eine ganzseitige Abbildung davon, wie die Flammen des Brandes den 307 Vgl. zur zeitgenössischen Berichterstattung Wiener Abendpost, 9.–12.12.1881; FB, 9.– 12.12.1881; DZ, 9.–13.12.1881.
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Abb. 19: Eine gewaltige Stichflamme erfasste plötzlich den Saal des Wiener Ring-Theaters 1881 und löste eine panische Flucht des Publikums aus.
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Vorhang aufrissen und das Leben des panisch fliehenden Publikums bedrohten. Die satirische Zeitung »Kikeriki« zeigte unter der Überschrift »Traurige Abwechselung« die Abbildung eines bekränzten Grabsteines und untertitelte in einem mäßigen Versuch von Humor die Szene mit den Worten: »Es ist das Erste Mal, daß nun statt der Künstler die Theaterbesucher Kränze bekommen haben.«308 Die Presse verwendete alle bestehenden sprachlichen Möglichkeiten, nutzte aber kaum neue.309 Die Journalisten versuchten, mit der Repetition der Geschichte viele Leser zu gewinnen. Einerseits war es ihnen wichtig, das Entsetzen der Leser zu teilen, andererseits durch die kaum beschreibbaren Tatsachen zusätzliche Aufmerksamkeit zu erreichen. Die Presse folgte den geltenden öffentlichen Regeln und mahnte dazu, das Bestehende eingehender als bislang zu bewahren. Das »Fremden-Blatt« hielt in seinen Artikeln die Angst der Wiener fest. »Ein geradezu panischer Schrecken durchzog die Stadt, die Aufregung war eine namenlose und stieg von Stunde zu Stunde. … Noch stehen wir unter dem ersten Eindrucke des entsetzlichsten Ereignisses, welches die Wiener Lokalgeschichte im Laufe dieses Jahrhundertes aufzuweisen hat. … Jeder Nerz zittert unter den schreckensvollen Eindrücken, die sich geboten haben und eine vollkommene Schilderung dessen, was dieser erschütternde Abend gebracht, ist heute unmöglich, wir können uns nur darauf beschränken, das, was wir gesehen und gehört, zu erzählen. Die Sprache aber ist zu arm, um auch nur annäherungsweise das wiederzugeben, was sich zugetragen.«310 Zur Überwindung des Entsetzens griffen die Beobachter der Katastrophe auf Sprachbilder zurück. Regelmäßig beschrieben Journalisten das brennende Ringtheater und den Kampf der Menschen ums nackte Leben in metaphysischen Begriffen oder durch militärische Vergleiche. Ästhetische Metaphern verwandelten die Zerstörungen in eine Schönheit des Chaos. Die Rede war von einem »schrecklich-schönen Schauspiel«, oder davon, wie dieses »köstliche Material wie von Innen zu leuchten begann, als ob rosen rother Götterchor durch die Steinadern quölle!«311 Für die »Deutsche Zeitung« lag der Reiz des Ereignisses im Ineinanderfallen von Tod und Erlösung, von Vernichtung und Aufopferung. Die Beteiligten an der Katastrophe hätten sich durch ihre Taten erhoben. Bildungsbürgerliche, christliche und martialische Bilder verband man im Schreiben über »die Chronik des ruhm308 309 310 311
NWB, 16.12.1881; Kikeriki, 18.12.1881. Vgl. dazu Steinmetz, Das Sagbare, 13–47. FB, 9.11.1881. Hier und im Folgenden, DZ, 10.12.1881.
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vollsten Schlachtfeldes«, das, »wenn nicht doch das Göttliche im Menschen, den Muth, die Selbstaufopferung, die Nächstenliebe, die lichte Folie zu dem dunklen Nachtstücke« gebildet habe.312 Der Kaiser kündigte an, dass die Verantwortlichen des Ringtheaterbrandes zur Rechenschaft gezogen würden. Die öffentliche Aufmerksamkeit war groß. Der Prozess fand im April und Mai 1882 vor dem Landgericht Wien statt. Zu den von der Staatsanwaltschaft Angeklagten zählten der Pächter des Theaters, Franz Jauner, der zurückgetretene Bürgermeister Julius Ritter von Newald, Polizeirat Anton Landsteiner und mehrere technische Angestellte und Feuerwehrleute. Die Protokolle der Verhandlungen thematisieren eingehend die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen, vor allem aber die unglaubliche Unkenntnis und die Fahrlässigkeit des Personals, das außerstande war, Technik und Ausstattung zu bedienen oder den Brand auch nur im Ansatz erfolgreich zu bekämpfen. Für besonderes Aufsehen sorgte die Denkschrift einer Kommission vom März 1881. Diese hatte Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit im Opernhaus nach dem Brand des Theaters von Nizza erarbeitet. Demnach sollten sich sämtliche Türen nach außen öffnen, das Parkett durch einen Mittelgang vergrößert werden und der eiserne Vorhang leicht herunterzulassen sein. Leider wurden die Vorschläge durch Kompetenzstreitigkeiten im Magistrat und vermutlich auch durch von Newalds Ignoranz nie umgesetzt. Das Urteil legte fest, in Zukunft eine gründliche Änderung des Spielbetriebes vorzunehmen und bauliche und technische Veränderungen durchzuführen. Den Opfern des Ringtheaterbrandes half das freilich nicht, und die Verurteilung der Verantwortlichen fiel milde aus. Unter dem Tatbestand mangelhafter Sicherheitsvorkehrungen, fehlerhaften Verhaltens und unzureichende Rettungsversuche verurteilte das Gericht Franz Jauner zu einer viermonatigen Gefängnisstrafe, einige der übrigen Angeklagten zu ähnlichen Haftstrafen und forderte die Verurteilten dazu auf, Schmerzensgeld an die Hinterbliebenen zu zahlen. Alle angeklagten Beamten und Feuerwehrleute sprach man frei.313 Zu einem Schlagwort der Brandkatastrophe wurde die Fehlinformation, die der leitende Polizeirat Anton Landsteiner auf Nachfrage des Wiener Militärkommandeurs, Erzherzog Albrecht, am 8. Dezember 1881 gegen 19.30 Uhr über den Zustand des brennenden Hauses meldete: »Alles gerettet!« Der Wiener Kabarettist und Schauspieler Helmut Qualtinger schrieb
312 Vgl. zur religiösen Symbolik des Opfers die Beiträge in Eghigian/Berg (Hg.), Sacrifice. 313 Vgl. Zeitz, Der Prozeß über die Ringtheater-Katastrophe, passim; Buck, Thalia, 181–183.
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noch im Jahre 1963 unter diesem Titel ein karikierendes Fernsehspiel. Unter Verwendung der originalen Protokolle zeigte Qualtinger, inwieweit verantwortliche Wiener der Stadt und ihren Bürgern geschadet hatten.314
Deutungen und Ursachen der Brandkatastrophen Die Ursachen der Opernbrände in Europa waren, aus baulicher, technischer und organisatorischer Sicht betrachtet, zahlreich, aber meist recht einfach zu erklären. Im Zeitalter des rapiden Aufstiegs der europäischen Metropolen entstanden viele repräsentative und dem Zuschauerbetrieb angemessene Theaterbauten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Holz als bevorzugtes Baumaterial zunehmend durch Stein ersetzt. Gleichzeitig erweiterten die Architekten die bauliche Ausstattung der Gebäude, konzipierten großzügigere Gänge und Foyers, aufwändige Logen und Ränge, repräsentative Eingänge. Der Pracht des Auditoriums entsprachen neue Dekorationen und Kulissen auf der Bühne, welche die Inszenierungsmöglichkeiten steigerten. Damit aber entstand eine gefährliche Kombination aus leicht entzündbaren Materialien wie Holz und Leinwand, Stoff und Plüsch. Eine besondere Gefahrenquelle bildete die Gasbeleuchtung, die sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts weitgehend durchsetzte. Die Belastungen durch diese Modernisierung waren von Anfang an erheblich, schließlich sorgten diese Lampen oft für Hitze, Gestank und Sauerstoffmangel. Vor allem aber erhöhte die Gasflamme die Wahrscheinlichkeit, dass sich die vielen brennbaren Baumaterialien leichter entzündeten. Erst mit der allgemeinen Einführung des elektrischen Lichtes verringerte sich die Brandgefahr im Theater.315 Wo Theatermacher kläglich in der Bekämpfung von Bränden versagten, leistete auch die Feuerwehr oft nur wenig. Brandschutzeinrichtungen waren nur im Ansatz entwickelt und die möglichen Folgen eines Feuers kaum bedacht. Selbst die Brandkatastrophe des Wiener Ringtheaters wäre ohne organisatorische Fehler, unzureichendes Material und völlige Fehlinformationen kaum so verheerend ausgefallen. Folgt man den geschilderten zeitgenössischen Berichten und dem Urteil des Theaterwissenschaftlers Elmar Buck, blieben die Menschen die entscheidende Schwachstelle des Brandschutzes.316 314 Erbacher (Hg.), Alles gerettet, 171–217. 315 Vgl. zur Rolle der Beleuchtung und zum vergleichbaren Brand des Karlsruher Hoftheaters 1847 Daniel, Hoftheater, 323–328. Und zur baulichen Struktur der Theater in Paris, Zur Nieden, Grand Spectacle. 316 Buck, Thalia, 20. Vgl. Karpenstein-Eßbach, Kulturwissenschaft, 220–234; Gerhard, Urbanization, 298–303.
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Große Risiken bargen Leichtsinn und Unwissenheit, die Unkenntnis über die Wirkung bestimmter Materialien und schließlich die Fahrlässigkeit der Beteiligten. Das ganze Haus wurde so zu einer Gefahrenzone. Gerade die überdurchschnittlich hohe Anzahl getöteter Besucher auf den oberen Galerien und auf den preiswerten Plätzen zeigte insgesamt, dass auch die soziale Ungleichheit im Opernhaus die Opferzahl breiterer Bevölkerungsschichten erhöhte. Die Unterhaltungsmöglichkeiten im Opernhaus waren groß – die Sicherheit für sein Publikum nicht. Der öffentliche Umgang mit dem Sterben in Opernhäusern, der optische Reiz der Zerstörung und die intensiv diskutierten menschlichen Schicksale ähnelt einem erlernten Muster: Dem Erlebnis einer Hinrichtung. Der englische Historiker Richard Evans hat für den deutschen Fall gezeigt, dass öffentliche Hinrichtungen auf ein bereitwillig beobachtendes Publikum trafen.317 Die Motive für das Interesse der Beobachter waren vielfältig, doch eines der stärksten scheint einfache Neugier gewesen zu sein, verbunden mit dem Genuss, sich durch Hass auf den Verurteilten für einen Moment der eigenen Todesangst zu entziehen. Staatliche Verantwortliche fürchteten sich vor den Emotionen der staunenden Menge, vor vermeintlich triebhaften Lust- und Hassgefühlen. Manchen Magistraten war klar, dass die öffentliche Vollstreckung der Hinrichtung selbst stets Gefahr lief, die Erregung und die Wut der Betrachter gefährlich zu verstärken. Wo die Behörden oder die Polizei den Ärger der Menschenmenge vor Beginn einer Hinrichtung befürchteten, verteilten sie Zettel, klebten Plakate und mahnten zur Zurückhaltung. Öffentliche Hinrichtungen wie Opernbrände waren in ihrer sozialen Bedeutung und in ihrer kommunikativen Praxis vergleichbare Rituale. Beide spielten sich in einer Gesellschaft ab, in der soziales Verhalten und gesellschaftliche Repräsentation erheblich formalisiert und ritualisiert waren, in der Status und Rang auch im Tod durch eine Trauerkultur, durch die Zurschaustellung von Insignien und Grabdenkmäler signalisiert wurden. Beide wirkten als exemplarische, aber nicht außergewöhnliche Todesformen in einer Gesellschaft, in der der Tod allgegenwärtig schien. Die Großbrände in den Opernhäusern, zumal die Katastrophe in Wien, blieben nicht folgenlos für den Spielbetrieb in Europa. In Italien führten die Betreiber der großen Opernhäuser weitreichende Brandschutzmaßnahmen ein. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelang es, die Abstimmungsprobleme zwischen Präventivmaßnahmen im Theater, den Richtlinien der Behörden und den technischen Entwicklungen besser aufeinander abzustimmen. Die ursprünglich störanfälligen Einzelmaßnahmen verknüpften die Verantwort317 Evans, Rituale der Vergeltung, bes. 259–400.
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lichen zu einem Netzwerk, das seine intendierten Schutzfunktionen erfüllen konnte. Die Feuerkatastrophen zeigten dem Publikum die Grenzen ihres sozialen Repräsentationsanspruchs. Bilanziert man die Wirkungen und die Nachwirkungen der Brandkatastrophen, überrascht wahrscheinlich, dass die Gefahr die öffentliche Faszination und den Anreiz des Theaters im 19. Jahrhundert nicht schmälerte. Tatsächlich steigerten Großbrände die öffentliche Präsenz der Oper, erhöhten letztlich die Attraktivität. Reizvoll war es für viele zu erleben, wie sich die gesicherten Katastrophen der Vorstellung in lebensbedrohliche Tragödien verwandelten. Diese Art des Schauders war rundherum gewollt. Die gezeigte Zerstörungskraft der Bühne entfaltete ein besonderes Unterhaltungspotenzial. Die Auswirkungen eines Feuers verbreiteten sich durch Erzählungen, Zeitungsberichte und Bilder. Der Theaterbrand war daher ein kulturelles Mittel der Verständigung.
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IV. Die Ambivalenz der Musikerfahrung: Selbstdisziplinierung und Kontrollverlust 1. Die Erfindung des Schweigens: Die Herausbildung eines neuen Hörverhaltens seit 1820 Das elitäre Publikum genoss das Musikleben auf vielerlei Arten. Es freute sich über die soziale Bedeutung des abendlichen Besuches, den Reiz von Speisen und Getränken, die Begegnungen von Männern und Frauen, inszenierte künstlerische Effekte auf der Bühne und die eigene Begeisterung vor der Bühne. Die Hörer genossen die eigenen finanziellen Möglichkeiten, Gespräche mit Bekannten und Verwandten, Karten- und Ratespiele und die Bereicherung durch erlesene Weine und Gaumenfreuden. Auffällig blieb die Geräuschkulisse im Zuschauerraum. Die Besucher begegneten sich lautstark, sie lärmten unablässig. Untereinander redete man in einem fort, man begrüßte sich, prostete sich zu und lachte miteinander oder übereinander. Die größte Lautstärke dieser musikalischen Feiern bildeten aber oft nicht die Unterhaltungen im Publikum, sondern die akustischen Vorfälle während der Vorstellung. Man kam und ging, das heißt, man öffnete und schloss Türen, manchmal verspätete man sich oder ging etwas früher, einige warfen versehentlich Stühle um, andere absichtlich Geschirr, Zugaben wurden erklatscht oder der Auftritt missfallender Künstler lärmend abgebrochen. Über diese Rücksicht auf das eigene Wohlbefinden und die Rücksichtslosigkeit auf die Musik urteilte der erfahrene Musikkritiker Georg Kreisler: »Ob Symphonie oder Ouvertüre, Rock and Roll oder die Walküre, Zauberflöte, Verkaufte Braut – für mich ist das alles nur laut.«1 Das änderte sich, denn die Musikkultur durchlief einen Wandel. Zwischen 1820 und 1860 erfand das Publikum das Schweigen. Konzert- und Opernbesucher verwandelten sich in Musikhörer im wörtlichen Sinne – sie hörten in erster Linie der Musik zu. Die Menschen begannen, beinahe alle möglichen Geräusche zu meiden, sich im Laufe des Abend selbst zu kontrollieren: Sie kamen pünktlich, blieben während der Vorstellung auf ihren Plät-
1 Der Musikkritiker, in: Kreisler, Lieder, 75–79, hier 77.
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zen, applaudierten statt zwischen den Sätzen am Ende einer Sinfonie und beschränkten die Konversation auf die Pause. Das Publikum nannte ausgewählte Kompositionen »Werke« – und erschuf so die Kunstmusik. Diese, durch viele Hörer des 19. Jahrhunderts als innovativ beurteilte Verhaltenspraxis besteht bis heute fort. Die Diskontinuität und die Kontinuität im Hörverhalten sind wichtige historische Kategorien. Vor allem Perioden des historischen Übergangs bieten die Chance, die Konkurrenz etablierter und innovativer Praktiken, musikalische Kontrollverluste mit Kontrollversuchen zu vergleichen. Dadurch eröffnen zunächst ergebnisoffene Prozesse neue Einsichten. Die Bedeutung des neuen Hörverhaltens ist kaum zu überschätzen, war es doch Indiz für einen nachhaltigen Wandel von sozialer Praxis, kollektiven Mentalitäten und ästhetischem Geschmacksurteil. Umso erstaunlicher ist es deshalb, dass dieser Prozess des Hörenlernens oft genannt wird, er bislang jedoch nur in Ansätzen untersucht wurde. Zwar fehlt es nicht an allgemeinen Beschreibungen und einer Einordnung in den Kontext des kulturellen Wandels im 19. Jahrhundert, wie Peter Gay es getan hat.2 Vielversprechender sind einige Aufsätze und Beiträge von Musikwissenschaftlern und Historikern (voran Christina Bashford und William Weber), die anhand einzelner ausgewählter Konzerte oder durch den Blick auf bestimmte Häuser versuchen, eine Werkanalyse mit dem Publikumsverhalten in Beziehung zu setzen.3 Den wichtigsten Impuls aber setzte der amerikanische Historiker James Johnson mit seinem Buch über die sich verändernden Publikumsreaktionen in den Pariser Opern- und Konzerthäusern im frühen 19. Jahrhundert. Eingehend belegte er seine These, dass sich in Paris ein schweigendes Hörverhalten in Folge neuer Kompositionen und neuer Aufführungspraktiken durchsetzte.4 Die Frage drängt sich auf, warum das Publikum überhaupt begann, sich schweigend auf die Aufführungen zu konzentrieren. Wie hat sich das Verhalten allabendlich verändert, und warum vollzog sich diese Entwicklung in verschiedenen europäischen Ländern in dieselbe Richtung? Durch wen und auf welche Weise setzten sich schärfer ausgewählte und kontrolliert gehörte Musikwerke durch? Die Entscheidung, Affekte zu disziplinieren, kann als Ausdruck eines neuen bürgerlichen Lebensstils verstanden werden. Ver-
2 Gay, Macht, 19–48. Vgl. Sennett, Fall of Public Man. 3 Vgl. Bashford, Learning, 25–51; Weber, People, 678–691 und die Ansätze in den Mono graphien von Steinberg, Listening; Hall-Witt, Fashionable, 227–264. 4 Johnson, Listening; ders., Listening and Silence, 169–83. Vgl. auch Picker, Soundscapes; Huebner, Audiences, 206–225.
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ursachten allein neue Kompositionen und Aufführungen oder neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen und individuelle Entscheidungen diesen Wandel? Aufschlussreich ist es, auf die Signalwirkung von Emotionen zu schauen. Denn Gefühle zu zeigen, sie aber durch den Blick anderer strategisch zu verändern und neue Emotionen nun schöner zu finden, verstärkte einen Wandel, der aus immer mehr Menschen Zuhörer machte, die Teil einer distinguierten Gemeinschaft werden wollten. Zunächst wird die Alltäglichkeit des undisziplinierten Musikkonsums im frühen 19. Jahrhundert beschrieben. Dabei interessiert der Übergang von der relativen habituellen Unordnung im Musikleben vor 1820 zur relativen Ordnung um 1860, eine Entwicklung von der Vielfalt der Werte und Praktiken hin zur Angleichung. Schließlich ist die europäische Dimension zu diskutieren und zu fragen, in welche Richtung und mit welcher Intensität sich der Kulturtransfer vollzog. Da es hier nicht möglich ist, den Transfer von Verhaltensmustern in einem gesamteuropäischen Rahmen abzustecken, richtet sich der Blick auf die Tendenzen, die Angleichungen und die Unterschiede in Berlin, in London und in Wien. In welcher Stadt oder Region begann der Prozess, wie weit reichte er, und wie unterschieden sich dabei die Oper und das Konzert?
Musikalischer Alltag: Schreie, Essensreste und Liebeserklärungen Ein heutiger Opernbesucher würde sich in einer typischen Vorstellung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht besonders wohl gefühlt haben. Bis in die Mitte des Jahrhunderts hinein entsprach das Hörverhalten oft nicht schweigender bildungsbürgerlicher Distanz, sondern erinnerte an die lautstarke Anteilnahme auf einem Fußballplatz. Das galt für London und Paris, mit geringen Abstrichen aber auch für Berlin, Wien und die übrigen europäischen Metropolen. Während die Musik lief, plauderte man, mal leiser, mal lauter, aß und trank, besuchte sich gegenseitig in den Logen und promenierte durch den Saal. Geschäftsleute besprachen ihre kommerziellen Angelegenheiten, Frauen führten ihre neueste Kleidung vor, Kurtisanen machten potenzielle Liebhaber auf sich aufmerksam. Dabei waren die Opernbesucher nicht eigentlich unaufmerksam; sie konzentrierten sich nur höchst selektiv auf bestimmte zirzensische Glanzleistungen der Künstler und die »schönen« Stellen einer Partitur. Dann aber nahmen sie in der Regel überaus aktiv am Geschehen teil, wobei sie potenziell jedes Musikstück und jede Bravourarie bejubeln oder ausbuhen konnten. Oft zog sich die Aufführung erheblich in Die Erfindung des Schweigens | 219 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
die Länge, weil einzelne Arien oder Szenen auf Aufforderung der Zuhörer zum Teil mehrfach wiederholt werden mussten.5 Die Barriere zwischen Aufführenden und Rezipienten wurde durch die weit verbreitete Praxis relativiert, dass ausgewählte Besucher, die keine Plätze im Auditorium mehr gefunden hatten, am Rande der Bühne Sitze bekamen. Und diese zählten meist zu den begehrtesten. Denn diese Besucher sahen alles und alle sahen diese Besucher. War der Ansturm zu groß, vergab die Theaterleitung zusätzliche Plätze am Rand des Orchesters – ein wenig nachgefragter Aufenthaltsraum. Der Andrang zu einer Aufführung von Le Nozze di Figaro in London 1838 überstieg die vorhandenen Kapazitäten des Zuschauerraums bei weitem. Auch die auf der Bühne vergebenen Plätze verursachten Verwirrung, Gedränge und schließlich den Ärger des übrigen Publikums, weil eine Zeitlang zu viele Besucher auf dem Podium saßen, um diese Oper überhaupt spielen zu können: »Es waren so viele, … dass sie schließlich die ganze Bühne einnahmen, sich störrisch weigerten, diese zu verlassen und auch noch darauf bestanden, dass die Oper im Raum vor den Vorhängen aufgeführt werden sollte.«6 Der Unterschied zwischen Künstlern und Betrachtern bei der Gestaltung derartiger Aufführungen war somit in gewisser Hinsicht marginal. Beide prägten den Charakter eines Abends, so dass oft unklar schien, ob sich das für die Besucher interessantere Spektakel auf dem Podium oder im Zuschauerraum vollzog. Über diese erwünschte Unordnung ärgerte sich Fürst Hermann von Pückler-Muskau bei seinen Besuchen in den Londoner Opernhäusern. Weder gefiel ihm die Qualität des Dargebotenen noch das Ambiente der Auf führungsorte, am wenigsten aber das Verhalten des Publikums. Im November 1826 hielt er in einem Reisebrief aus England an seine Angebetete daheim fest: »Was den Fremden in den hiesigen Theatern gewiß am meisten auffallen muß, ist die unerhörte Rohheit und Ungezogenheit des Publikums. … Englische Freiheit also artet hier in die gemeinste Lizenz aus, und es ist nichts Seltenes … während der reizendsten Cadence der Sängerin, mit Stentorstimme eine Zote ausrufen zu hören, der, nach der Stimmung der Umstehenden, in der Galerie und obern Logen, entweder Gelächter und Beifallsgeschrei oder eine Prügelei und Herauswerfen des Beleidigers folgt. … Und solches fällt nicht einmal, nein zwanzigmal während einer Vorstellung vor und belustigt manche mehr als diese. Es ist auch nichts Seltenes, dass je5 Grundlegend zur Kultur des späten 18. und frühen 19. Jahrhundert in England ist Brewer, Pleasures. Vgl. Fuhrimann, Herzohren; Morgan, Manners und den Sammelband von Dahlhaus (Hg.), Musik des 18. Jahrhunderts. 6 MW, 15.7.1838, 168 (Herv. im Orig.). Vgl. auch einen ähnlichen Vorfall in TI, 30.7.1860; sowie Rendell, London, 1–23; Solie, Music.
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mand die Reste seines Goutées, welches nicht immer aus Orangenschalen besteht, ohne weiteres auf die Köpfe der Zuschauer ins Parterre wirft oder künstlich in eine Loge abschießt, während andere ihre Röcke und Westen über den dritten Ranglogen aushängen und in Hemdärmeln sitzen bleiben.«7 Das Publikum bekam die Chance, das zu tun oder zu lassen, was ihm selbst gefiel. Diese Freiheit des Benehmens zeigte sich schon durch die Ankunftszeit. Die Zuschauer kamen, wann es beliebte, je nachdem, wie lange die gesellschaftlichen Verpflichtungen, das Umkleiden oder das Souper gedauert hatten – und gingen, wenn sie sich langweilten, auch vor dem Ende der Aufführung. Die Londoner Premiere von Carl Maria von Webers Oberon 1826 etwa litt darunter, dass die Ouvertüre durch laut geschlagene Türen der verspätet Eintreffenden beeinträchtigt wurde.8 Nicht nur die adeligen und großbürgerlichen Kulturkonsumenten verspäteten sich. Auch die Mitglieder des britischen Königshauses entschieden eigenmächtig, wann sie zu kommen oder zu gehen wünschten. Königin Victoria liebte die italienische Oper besonders. In der Saison 1838 beispielsweise besuchte sie allein 36 Mal das Her Majesty’s Theatre (das passend für sie umbenannte Opernhaus King’s Theatre). Königin Victorias meist wöchentliche Opernbesuche, dann bezeichnet als »a private visit«, folgten eigenen Zeitplänen. Oft erschien Ihre Majestät während des ersten Aktes oder kam erst zum zweiten Akt.9 Gleiches galt für den Konzertbesuch. Einige Berichte über das Kommen und Gehen der Königin und des Prinzgemahls Albert zu den »Ancient Concerts« halten ohne jegliche Abwertung ihr Kommen und Gehen fest – bei laufender Aufführung versteht sich: 25. März 1840 – »Ihre Majestät hatte ihr Interesse zu erscheinen bekundet, konnte es dann aber doch nicht einrichten. … Gegen zehn Uhr abends betrat seine königliche Hoheit Prinz Albert den Saal«; 20. Mai 1840 – »Ihre Majestät und Prinz Albert trafen kurz nach neun Uhr abends ein, begleitet von der Gräfin Sandwich«; 24. März 1841 – »Der Herzog von Wellington war gestern Abend anwesend; genauso Prinz Albert (für kurze Zeit).«10 Doch selbst dann, wenn sich Victoria und Albert entschieden, bis zum Ende einer Aufführung anwesend zu bleiben, beeinflusste das nur selten das Verhalten des übrigen Publikums. Eine Aufführung von Mendelssohns Oratorium Elias klang 1849 aus, 7 Pückler-Muskau, Reisebriefe, Bd. 1, 75 f., 23.11.1826 (Herv. im Orig.). Daraus lässt sich auch folgern, dass zu diesem Zeitpunkt in Preußen die Sitten bereits verfeinerter waren als in London. 8 MP, 13.4.1826. 9 Vgl. TI, 10.6.1844; Rowell, Victoria, 21–27. 10 London, BL, 7900 d2: John Parry, Notices of the Concerts of Ancient Music. Written for the Morning Post 1834 to 1848, Bd. 1. 1849.
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während sich unter Lärm viele noch vor dem letzten Chor zu den Ausgangstüren aufmachten.11 Hatten die Menschen das Auditorium erst betreten, setzte sich die Unruhe selbstredend fort – wiederum vor, während und nach der Vorstellung. Der Weg zu den Plätzen durch oft zu enge Türen und Treppenhäuser und entlang der Gänge und Stuhlreihen verursachte oft körperliche Gewalt zu Lasten der Schwächeren.12 Das Theaterkuratorium der Berliner Hofoper stellte 1827 fest, dass im Parkett zuweilen ein Wortwechsel und eine Störung dann entstanden, wenn jemand einen Sitz bereits eingenommen hatte, auf den ein anderer Anspruch erhob. Zur Vermeidung von Unannehmlichkeiten und zur Bequemlichkeit des Publikums diskutierten die Verantwortlichen die Einführung von so genannten »Contermarken«, welche mit Sitzplatznummern und Datum der Vorstellung bedruckt vor dem Eintritt erhältlich sein sollten. Geplant wurde, durch Eintrittskarten die Sitzplatzvergabe zu regeln. Doch das scheiterte zu diesem Zeitpunkt selbst in Berlin. Trotz der erkannten Zweckmäßigkeit vermied man die Kontrollmarken im Parkett – wegen des Aufwandes und wegen der Ausgaben, die »mehr Kosten als Nutzen« einbrächten.13 Nach dem Beginn des musikalischen Programms ließen die Opern- und Konzertbesucher keineswegs von der wichtigsten sozialen Regel der Vorstellungen ab – sich gegenseitig zu beachten und zu unterhalten. Körperlich gezeigte Freuden kamen zumal bei guten Weinsorten, leckeren Appetithäppchen und köstlichen Desserts ins Spiel. Der Schriftsteller Stendhal beispielsweise schwärmte in Mailand darüber, dass die Diener Gefrorenes in die Loge brachten und die Anwesenden darum wetteten, welche der allabendlich angebotenen Sorbetsorten wohl am besten mundeten.14 Auch der Tabakkonsum fehlte im Musikleben nicht. Bis weit hinein in die zweite 11 TI, 27.3.1849: »Her Majesty remained until the end of the performance, an example which might … have been followed by the audience; this, we regret to say, was not the case.« Vgl. zur Mendelssohn-Rezeption Schmidt-Hensel/Bauer (Hg.), Mendelssohn Bartholdy. 12 Exemplarisch schildert ein Londoner Zeitungsbericht den körperlichen Kampf des Publikums um Einlaß: »›Oh! Ich darf doch sehr bitten, Sir! Nehmen sie sofort ihren Ellenbogen aus meinem Gesicht!‹ sagte eine kleine, schmächtige Dame am Logeneingang zu einem dick gepuderten Herrn, der seinen gut gekleideten Körper Zentimeter für Zentimeter vorwärts schob, in dem er seinen Ellenbogen gegen ihre Wange drückte. ›Das werde ich nicht tun, Madame!‹ sagte er und drehte ihr seine hoch rote Visage zu. ›Ich werde ganz sicher nicht meine Chance hineinzukommen ungenutzt lassen; wenn sie ein wenig Geschubse nicht vertragen, dann ist hier nicht der richtige Ort für sie!«› London, BL, Covent Garden, Cuttings from Newspapers, Vol. 2, 1789–1834, Th. Cts. 39, 3.12.1826 (EX, 3.12.1826). 13 Berlin, GSTA, BPH, Rep. 19, Theater M, Nr. 2, Bd. 2: Theater-Curatorium, Protocolle über die Conferenzen 1827–28, Schreiben vom 15.11.1827, 7.12.1827. 14 Stendhal, Rom, Neapel, Florenz, 24.
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Hälfte des 19. Jahrhunderts genossen viele Männer Zigarren und Pfeifen während der Aufführung.15 Zur Entspannung breiteten viele Besucher sich genüsslich in ihren Sitzen aus und behielten dabei ihre Hüte zu oft auf und ihre Schuhe zu selten an.16 Der nach London gereiste Franz Grillparzer klagte 1836 über das in seinen Augen völlig ungehörige Benehmen des Opernpublikums. »Wem’s einfällt, der behält den Hut auf dem Kopfe. Kommen nun gar die half-price Leute, so setzt sich jeder wo sein Platz ist. Die später kommenden stürmen nun in die Logen, steigen hinter dem Rücken der Sitzenden auf die Bänke, drängen sich ein. Die Logenthüren bleiben offen.« Besonders empörend sei »die Frechheit der Weiber in den Corridors.«17 Diese Freiheit bedeutete nicht unbedingt, jede Kontrolle aufzugeben, nur bestimmte die musikliebende Elite selbst, was für sie wünschenswert war und was nicht. Der eigene Rang und das eigene Verhalten setzten Markierungspunkte, welche in feinen Abstufungen die soziale Position kenntlich machten. So stellte das häufigste Freizeitvergnügen in der Oper der gegenseitige Besuch in den Logen mit anschließenden Gesprächen und Scherzen dar. Männer bewegten sich meist zwischen den Logen, ihre Frauen blieben dort, hatten aber das Recht, selbst zu entscheiden, wen sie einließen und wen nicht.18 In den Begegnungen der elitären Musikfreunde waren alle geschäftlichen und privaten Angelegenheiten von Interesse. Besondere Aufmerksamkeit zogen die jüngeren höheren Töchter der Gesellschaft auf sich. Was immer die Musik den Männern auch offerieren mochte, alles verblasste hinter der Aussicht auf weibliche Offerten: »Das allgemeine laute Plaudern hörte nicht einen Augenblick auf; es hatten auch sogar verschiedene Herren sich mit ihren Stühlen vor die Sitze der Damen so gesetzt, daß sie dem Orchester den Rücken zukehrten, um sich mit diesen desto bequemer laut unterhalten zu können.«19 Von großem Interesse war nicht nur die Betrachtung der anwesenden politischen und wirtschaftlichen Machthaber. In erster Linie genossen die Besucher persönliche und familiäre Bindungen, und beinahe alltäglich war die Versammlung ganzer Familien zu bestaunen. Großmütter, Ehemänner, Töchter und Neffen trafen sich, herzten einander und konsumierten kleinere Naschereien. Fehlte etwa noch die Mutter auf den Sitzplätzen der Familie, winkten und riefen ihre Töchter sie von einem Ende des Saales zum anderen 15 Vgl. Scholes, Mirror, 196 f. 16 Harmonicon, 1830, 134. 17 Zit. n. Hanslick, Skizzenbuch, 262. 18 Vgl. Hall-Witt, Fashionable, 59–73. 19 AMZ, 10 (1808), 380.
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zu sich her. »Ich hörte sie rufen – ›Ah! Da drüben ist Mutter! … Mutter! Hier sind wir! Komm hier herüber!‹. … Jeder ist sich hier selbst der Nächste und kümmert sich nicht darum, was die Anderen tun.«20 Die »Allgemeine Musikalische Zeitung« spottete darüber, dass es dem Publikum gelang, seine gesellschaftliche Stellung auf diese Weise zu behaupten. Zudem belegt dieses Zitat, dass sich in den deutschen Städten lange vor Großbritannien ein diszipliniertes Hörverhalten abzeichnete: »In den ersten [Klassen] sitzen auch hier die jämmerlichen, die nur aus Eitelkeit und Mode Musik hören, oder vielmehr der Musik beywohnen. Sie haben in der Oper und im Konzert Sitz und Stimme – Sitz, um sich und ihren Putz zu präsentieren, Stimme, um zu plaudern. … Ihnen ist Opernhaus und Konzertsaal nichts, als ein geräumiger Platz, wo sich hübsche Leute in bestmöglichstem Glanze einfinden. Die rührendste Stelle des Konzertspielers bewegt sie zu nichts, als heimlicher zu lispeln; das kraftvolleste Chor zu nichts, als ihren Gesprächskreis zu erweitern und den Ton etwas mehr zu erheben. Sie achten … auf nicht mehr, als auf ihren Kopfputz.«21 Das Publikum hörte viele der gespielten Kompositionen kaum, weil die Aufmerksamkeit dem eigenen Lärmen, dem Kartenspiel oder der gegenseitigen Unterhaltung galt. Die musikalischen Aufführungen auf der Bühne zu erleben, war zwar wichtig, wichtiger aber war das Interesse an den sozialen Aufführungen auf der Bühne des Zuschauerraums. Über das geltende Verhalten in der Oper in Berlin hieß es dazu: »Bey den nachkommenden Vorstellungen wird geschwätzt, gelärmt, in den Logen Besuch gegen Besuch gewechselt, Karten gespielt, suopirt, ja, man lässt wohl gar die Vorhänge an der Loge herab, um auch nicht zufällig von der Bühne her im Spiele oder im Gespräche gestört zu werden.« Bei berühmten Cavatinen und Duetten »werden Karten oder Essbesteck auf einige Minuten bey Seite gelegt … um sich gleich … wieder vom Theater ab, und zu seiner vorigen Unterhaltung zu wenden.«22 In seiner Oper Ciro di Babilonia schrieb Rossini für eine zweitklassige Sängerin eine wenig komplexe »Sorbet-Arie« (aria del sorbetto). Den Namen erhielt das Stück durch das Publikum, das sich dadurch zum ungestörten Konsum seiner Eiskrem während der Vorstellung stimuliert sah.23 Überraschenderweise stechen im Vergleich des Opern- mit dem Konzertpublikum im frühen 19. Jahrhundert zunächst die Parallelen ins Auge. Auch
20 Vgl. AT, 4.8.1832, 504 f.: Democracy and Manners. Vgl. die grundlegende Studie von Johnson, Listening, bes. 9–31; Frith, Music, 92–101. 21 AMZ, 1 (1799), 499. 22 AMZ, 16.2.1820, 110. 23 Gay, Macht, 25.
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wenn die Besucher der Konzerte später die Avantgarde eines neuen schweigenden Hörverhaltens bilden sollten, unterschied sich ihr Benehmen lange kaum von dem des Opernpublikums. Hier wie dort waren der spontane Genuss musikalischer Darbietungen und der eigenmächtige Konsum von Musik ausschlaggebend. Eduard Hanslicks Diktum, wonach sich eine Arie im Unterschied zu anderen Kunstformen wie ein Glas Champagner genießerisch »schlürfen« lasse,24 entspricht exakt dem Reisebericht Carl Maria von Webers, der über ein Konzert im Hause Lord Hartfords im März 1826 aus London an seine Frau schrieb: »Herrlicher Saal, 500 bis 600 Personen da. Alles im höchsten Glanze. Fast die gesamte italienische Opern-Gesellschaft. … Da wurden Finales gesungen etc., aber kein Mensch hört zu. Das Gewirr und Geplauder der Menschenmenge war entsetzlich. Wie ich meine Polacca in Es spielte, suchte man einige Ruhe zu stiften, und ungefähr 100 Personen sammelten sich theilnehmendst um mich; was sie aber gehört haben, weiß Gott, denn ich hörte selbst nicht viel davon. Ich dachte dabei fleißig an meine 30 Guineen und war so ganz geduldig. Gegen 2 Uhr ging man endlich zum Souper, wo ich mich aber empfahl und in mein Bett eilte.«25 In ein und derselben Aufführung gab es meistens sowohl Ordnung wie Unordnung. Die soziale Repräsentation der Elite ging einher mit Tumulten und Rangeleien. Beide Formen des Verhaltens konnten sogar im Rahmen ein und derselben Vorstellung nebeneinander bestehen. In London rügte die Presse 1836 das Gerangel im Opernhaus, sie lobte die Aufführung und huldigte der bei diesem Spektakel anwesenden Königin Adelaide – und das alles vereint auf wenigen Zeilen: »Nach dem öffnen der Türen schubsten und kämpften die Herren und die Damen kreischten. Wir erwarteten eine Katastrophe. … Zumindest gab es keine Knochenbrüche, und das schlimmste was passierte war, dass die mehreren Hundert, die zu Beginn so begierig hineinzugelangen versucht hatten, nun ebenso begierig wieder hinaus wollten. … Viele Störungen unterbrachen die Oper mehrfach während des ersten Aktes. Die Königin, die Gräfin von Kent, Prinzessin Viktoria und pro24 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, 73. 25 Weber, Reise-Briefe, 202, Brief vom 23.3.1826. Vgl. auch die Auswahl von Worbs (Hg.), Carl Maria von Weber, Briefe. Baron d’Haussez, Great Britain, 36, veröffentlichte einen entsprechenden Bericht zum fröhlichen Lärm in einem Hauskonzert der Londoner Aristokratie: »Insgesamt waren etwa 60 ungeordnet sitzende Damen anwesend. Ihre Unterhaltung, die sie mit lauter Stimme führten, ließ wenig Bereitschaft erkennen, der Musik Gehör schenken zu wollen. … Dieses Sammelsurium aus Gesprächen, Geschrei und Gesang, das sich zum Klang verstimmter Instrumente und dem Scheppern von Teetassen dazugesellte, sorgte für ein sehr gut organisiertes Chaos.«
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minente Hochadelige waren anwesend. Die Oper hieß Puritani, und wurde vortrefflich aufgeführt sowie entsprechend wohlwollend aufgenommen.«26 Was immer musikalische Aufführungen bewirkten, beruhte auf Wiederholungen: Wiederholungen der sozialen, finanziellen, politischen und eben auch kulturellen Ordnung. Die vielfältige Formen allabendlicher kollektiver und individueller Repetitionen erschwerten ein konzentriertes Hörverhalten. Da Opernbesucher ein und dieselben Produktionen und die gleichen Künstler über Wochen hinweg erlebten, neigten sie kaum dazu, diese Veranstaltung schweigend zu begleiten.27 Ausgelassene Freude ruhte stets auf gegenseitiger und vor allem regelmäßiger Beobachtung. Denn klatschten beispielsweise alle Zuschauer in der Wiener Oper lauten Beifall, hatte auch ein sächsischer Besucher sich allen anzupassen und zu applaudieren: »Ich klatschte wüthend mit, denn ich fürchtete hinaus geworfen zu werden, hätte ich’s nicht gethan.«28 Wie der Kult um die Virtuosen zeigte, nahm das Publikum überaus intensiv an den Darbietungen Anteil, wenn die Stücke gefielen, die Komponisten oder Interpreten von Rang waren – aber auch wenn der Beifall organisiert wurde. In vielen Opernvorstellungen gab es Claqueure. Über das Haus verteilt, versammelten sich in kleineren Gruppen bezahlte Jubelrufer. Diese Anwesenden warteten auf Signale ihrer Anführer, wann an bestimmten Stellen, in welcher Lautstärke und wie lange applaudiert werden solle. Oft verhandelten die Direktoren der Häuser mit der Claque, um den Erfolg der Produktionen und mithin ihre Einkünfte zu erhöhen. Tatsächlich fiel die Wirkung des organisierten Beifalls meist beträchtlich aus, denn das Publikum jubelte oftmals dann, wenn es den Einsatz bekam. Manche Zuschauer waren sich dabei aber nicht sicher, ob die Claque für die Oper von Nutzen oder von Nachteil war. Die Direktion der Wiener Hofoper leitete in Einzelfällen polizeiliche Maßnahmen gegen Claqueure ein, um deren als illegal begriffene Handlungsspielräume einzudämmen. Ein Hofsekretär unterrichtete den Leiter der Polizeibehörde darüber, wie rücksichtslos diese Agitatoren auch einzelne Sänger bedrängten, um den zusätzlichen Beifall in Vorkasse zu bezahlen. Bei einer Verweigerung dieser Zahlung bestand die Gefahr, dass der Auftritt der Künstler lautstark gestört wurde. Der Lärm im Opernhaus bei gleichzeitiger Erpressung galt als verwerflich.
26 MC, 17.6.1836. 27 Vgl. Leppert, Discipline, 464; Weber, People, 684. 28 Glaßbrenner, Bilder, 215.
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Kontrollsucht und Antisemitismus mischten sich in dieser boshaften Erklärung und riefen die Polizei auf den Plan: Die Sängerin Julia Scholz gab der Polizei ihr Erlebnis zu Protokoll: »Ein Mann (Fräul. Scholz glaubt ein Jude) stellte sich ihr buchstäblich als Chef der Claque vor, und lud sie ein, sich bei ihrem Wiederauftritt seiner Garde zu bedienen, er bestimmt den Preis auf 25 Fl. und ließ – ganz Jude – für 10 Fl. herabhandeln. Als Fr. Scholz diese Zumuthung zurück wies, entrüstete sich der Jude. … Am letzten Dienstag kam die Oper Don Giovanni zur Aufführung. Am selben Tag kam ein Mann, ebenfalls ein Jude dem Vernehmen nach ein gewisser Schloss zu dem Raume der Sängerin Stefanone, bot ebenfalls die Dienste der Claque an, verlangte Einlassbillette und da diese verweigert wurden, Geld. Fr. Stefanone schlug ebenfalls diese Offerte ab. An diesem Abend aber, Euer Excellenz waren selbst Zeuge, sollte sich deutlich das verwerfliche Treiben dieser Leute zeigen, denn als Fr. Stefanone als Donna Elvira nach der ersten großen Szene für ihre genußvolle künstlerische Leistung vom Publikum applaudirt wurde, bildete die Claque eine starke Oposizion.«29
Unterbrochene und abgebrochene Sinfonien Verbreiteter als jeder organisierte Jubel blieb der Wille des Publikums, seiner Begeisterung freien Ausdruck zu geben, indem es selbst Zugaben einforderte und erhielt. Die Wiederholungsleistungen der Opernsänger, die oft mehrfach eine Bravourarie da capo geben mussten, sind heute noch eher bekannt als die bei Bedarf mehrfach gespielten Sinfoniesätze im Konzert. Londoner Aufführungen der A-Dur Sinfonie Mendelssohns (der »Italienischen«) führten manchmal dazu, dass das Publikum sich auch in Anwesenheit des Hofes Wiederholungen des Andantes und des Finales durch anhaltenden Applaus sicherte.30 Interessierte sich das Publikum für große Sinfonien, unterbrach es diese immer wieder durch spontane Beifallsäußerungen. Während der erfolg reichen Uraufführung von Ludwig van Beethovens IX . Sinfonie im Mai 1824 in Wien bekam zumal das Scherzo den lautstarken Applaus der Anwesenden: »Das Scherzo trat durch die Genialität, mit welcher Beethovens Geist sich 29 Wien, HHStA, Karton 82, 1857–1859, Nr. 815: Brief des Hofsekretärs Raymond an den Chef der Polizeibehörde Graf von Kempen, 21.4.1858. Auch Berliner Journalisten forderten gegen diese »bezahlte Horde« einzuschreiten, deren »Umtriebe ein offenes Geheimnis sind, und dennoch scheut sie sich nicht, recht frei darein zu lärmen. Kann es aber einen ärgern Wahnsinn geben?« AMZ, 46 (1844), 427. Vgl. Perugini, Omnibus, 157–168. 30 TI, 11.4.1848.
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hier bewegt, über alle anderen Sätze hervor. … Die Exekution dieses Tonstücks wurde von den enthusiasthischen Ausrufungen des Publikums mehrfach unterbrochen. … Beethoven wurde bey jedem dieser Tonstücke [Sätze – SOM] von der enthusiastischen Menge seiner Verehrer mit dem größten Beyfalle beehrt, und zu ähnlichen neuen schönen Werken ermuntert.«31 In diesem Punkt unterschied sich die Aufführung in Wien nur wenig von der Beethovenrezeption in Berlin oder in London. Als Hector Berlioz Beethovens IX . Sinfonie in der Philharmonic Society dirigierte, bemerkten die Zeitungen, dass man aus Begeisterung das Scherzo und das Adagio jeweils wiederholen musste und nur die Länge des Finales eine Zugabe verhindert habe.32 Beachtenswert bei der Uraufführung der IX . Sinfonie war, dass das Publikum in erster Linie die Komposition und den gefühlten Effekt und nicht die Leistungen der Musiker bewertete. Erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts unterschied man schärfer zwischen unzulänglicher Wiedergabe und der faktischen Wirkung auf das Publikum. Tatsächlich würden sich viele der heutigen Beethovenfreunde nur ein rundum negatives Bild über die künstlerische Qualität der Uraufführung machen. Am 7. Mai 1824 spielte in der Wiener Akademie ein überwiegend mit Laien besetztes Orchester das Werk fast ohne Probe. Nicht weniger als drei Dirigenten zeichneten für die Reproduktion verantwortlich, Michael Umlauf für den Chor, Ignaz Schuppanzigh für das Orchester und der völlig ertaubte Beethoven für den ganzen Ablauf. Die Altistin Caroline Unger handelte barmherzig, packte den Komponisten nach der Sinfonie an den Schultern und drehte ihn herum – damit er den Beifall wenigstens sah. Und trotz der schwachen musikalischen Umsetzung freute sich nicht nur das Publikum, sondern auch die Presse über die Wirkung des Werkes: »Der wahre Freund der Tonkunst wird, trotz mancher nicht günstiger Nebendinge, welche den großartigen Effect dieser Akademie einiger Maßen hemmten, dennoch von dem tiefen Geiste durchdrungen seyn, welchen diese kraftvollen, großgedachten Compositionen in dem Gemüthe jedes gefühlvollen Kenners der Musik erregen müssen.«33 Doch selbst den nachmalig verklärten Beethoven rief das Publikum keinesfalls konkurrenzlos zum Meister der musikalischen Verehrung aus. Im Jahre 1822 beispielsweise warb eine Konzertanzeige in Berlin für einen Abonnementabend, an dem Beethovens dritte Sinfonie in Es-Dur (»Eroica«) 31 Sammler, 18.5.1824, 240. 32 MC, 10.6.1852: »The lovely scherzo was re-demanded with enthusiasm. … It was played the second time with even more airy delicacy. … So of the adagio. … The furore was complete, and, had the thing been reasonable, the entire movement would have been encored.« 33 Sammler, 15.5.1824, 226. Vgl. Kunze, Beethoven, 470–485, und die daran anschließende Quellenedition; sowie Danuser, Interdependenz, 165–177.
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vorgestellt wurde. Allerdings verteilte der Veranstalter die Komposition zur Zerstreuung des Publikums über das ganze Musikprogramm hinweg und ließ es durch Stücke anderer Komponisten unterbrechen. Auf die ersten beiden Sätze folgten neben einem Opernduett auch ein Klavier- und ein Violinkonzert. Nach der Pause wurden die Zuhörer dann mit dem dritten Satz der »Eroica« aufgerüttelt. Zur Entspannung schlossen sich eine Opernszene und ein Klavierrondo an. Zum Finale des Konzertes erlebte das Publikum dann den vierten Satz der dritten Sinfonie.34 Mehrfach dienten Beethovens Sinfonien oder ihre einzelnen Sätze als Pausenmusiken zwischen den Akten einer Oper. Die Ursache dafür unterschied sich von Fall zu Fall. Die eine Gruppe der Veranstalter bediente sich dieser Werke als Pausenfüller, um die Anwesenden akustisch zu verwöhnen. Die andere Gruppe versuchte, das Opernpublikum vorsichtig an Beethoven und an die Kunstmusik zu gewöhnen. Noch 1834 lobte man in Berlin die Leistung des Königsstädtischen Theater-Orchesters, »welches in neuster Zeit Beethovens’s Pastoral-Symphonie, wie die eroica mit grosser Präcision als Zwischenacte ausgeführt hat«. Diese relativ schwer verständlichen Werke immerhin im ranghöheren Opernhaus dem Publikum in der Pause gebracht zu haben, zeuge »von den Fortschritten geistiger Cultur«.35 Das Publikum langweilte sich regelmäßig. Doch auch das sich langweilende Publikum tat dies meist lautstark. Kritische Besucher verstanden die Langeweile bei musikalischen Kunstgenüssen als ein »unbehagliche(s) Gefühl, welches entsteht, wenn das Bedürfnis nach Entwicklung … hingehalten oder getäuscht wird. … Ist keine Entwicklung, die neue Teilnahme in Anspruch nimmt: so fühlen wir Langeweile«.36 Fehlte es mithin an Spannungsbögen oder Überraschungen, sank offenbar das Interesse des Publikums. Die Besucher unterhielten sich dann nicht nur noch intensiver oder gingen früher, oft sorgten sie für den Abbruch inmitten einer sie langweilenden Vorstellung. Die Aufführung einer neuen Sinfonie von Tobias Haslinger im Jahre 1846 bereitete anscheinend gar kein Publikumsvergnügen. Diese Sinfonie habe das »Schicksal erlebt, wegen gänzlichem Mangel an Theilnahme gar nicht ausgespielt zu werden. Denn da Guhr [der Dirigent – SOM] gewahr wurde, dass nach dem Scherzo das ganze Auditorium von der unwiderstehlichsten Gähnsucht ergriffen wurde, legte er den vierten Satz ad acta«.37 34 VZ, 17.22.1822. 35 AMZ, 36 (1834), 111 f. 36 AMZ, 20 (1818), 429–431: Über die Langeweile bei Kunstgenüssen. 37 AMZ, 48 (1846), 305.
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Die Professionalisierung des Spielbetriebs durch neue Organisationen und Institutionen Die Ursachen für den Übergang von der Fremd- zur Selbstkontrolle der Konzert- und Opernbesucher sind auch deshalb schwer zu finden, weil der Wandel so massiv ausfiel und die Entstehung eines neuen Habitus aufzeigte. Ab dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts veränderte sich das Hörverhalten auch als Reaktion auf eine sich wandelnde Klangwelt in den europäischen Metropolen. Es gab neue akustische Belastungen und Proteste gegen die Lautstärke. Viele Stadtbewohner ärgerten sich nicht allein über die exzessiven Baumaßnahmen und die lärmenden technischen Transportmittel, sondern bald auch über akustische Störungen von Straßenmusikern und Zirkustruppen. Die Menschen vermochten sich der belastenden Präsenz von öffentlichen Klängen immer schwerer zu entziehen. Dieser akustischen Unordnung begegnete das Bürgertum durch Ordnungsversuche, dem akustisch Fremden durch neue Grenzziehungen.38 Im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts schufen institutionelle, bauliche und ästhetische Entwicklungen neue Bedingungen im Musikbetrieb. Drei dieser Veränderungen werden hier behandelt: erstens, die Entstehung einer professionellen Orchesterstruktur, zweitens, die schärfere institutionelle Trennung der Opern- und Konzerthäuser, sowie, drittens, die Aufwertung der Gattung der Sinfonie. Diese Angleichungen und Abgrenzungen setzten neue Rahmenbedingungen im Musikleben und begannen das Hörverhalten zu verändern. Erstens, einige Beobachtungen zum Wandel der Orchesterstruktur in Europa: Die Aufwertung und die Spezialisierung des Sinfonieorchesters setzten neue Standards. Zu diesen zählten die Zusammensetzung der Musiker, ihre Leitung innerhalb und außerhalb des Konzertsaales sowie ein sich angleichendes Repertoire. Die Orchestermitglieder verteilten sich auf dem Podium 1860 anders als 1820. Statt die einzelnen Stimmen und Instrumente weitgehend beliebig zu verteilen, gab es fortan ein festes Schema. Die Violinen ordneten sich vorne, die Kontrabässe und die Celli an die Seite, Holzund Blechbläser hinten ein. Den Sitzplatz vieler Musikerkapellen konnte man lange eher als Stehplatz bezeichnen. Manche Künstler mit größeren Instrumenten durften während der Aufführung sitzen, andere mussten ihre Leistungen stehend vollbringen. Ausgehend von Wien, begannen seit den 1830er-
38 Das ist die treffende Beobachtung von Picker, Soundscapes, bes. 15–81.
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Jahren alle Orchestermitglieder in den Vorstellungen Platz zu nehmen.39 Diese professionellen, strukturierten Orchester verbreiteten sich in den großen Städten. Sie vereinten Ausbildung, Spezialisierung und Kontrolle, so dass sich im Ergebnis eine Standardisierung in der musikalischen Praxis in Europa abzeichnete.40 Eine wachsende Anzahl von Musikliebhabern unterschied die Ordnung im Konzertsaal im Umkehrschluss von der Unordnung im Opernhaus. Das ist der zweite Punkt. Die Unterschiede in der baulichen Struktur und der abweichenden Form ihres Spielbetriebes unterstützten manchen Zuhörer bei der Neubewertung beider Institutionen. Die lineare Anlage der Sitzreihen und das Fehlen der Logen im Konzertsaal bewirkten eine schlichtere Anordnung und dabei eine leichtere Kontrolle der Zuhörer untereinander. Viele Musikliebhaber verteidigten auch die Opernhäuser, setzten aber auf eine Reform. Einige warben etwa für die Aufführung musikalisch einheitlicher und textlich geschlossener Werke, das hieß, gegen die vorherrschende Unordnung verschiedenster Arien und Ensembleszenen, gegen die spektakulären technischen Effekte. Auch im Opernhaus verlagerte sich die Aufmerksamkeit des Publikums vom Bekanntenkreis auf die Produktion der Bühne.41 Vor allem das deutsche Bildungsbürgertum unterschied die Kunstformen Konzert und Oper als Kategorien von Ordnung und Unordnung, von Tiefe und Oberflächlichkeit. Die »Signale für die musikalische Welt« resümierten über die zu wünschende Ungleichheit beider Spielstätten: »Daher ist das Publikum der Musikaufführungen [der Konzerte]… ein ungleich wohlwollender und kritisch milder gestimmtes, als das der Theater.«42 Drittens schließlich: Die Hörer werteten die Gattung der Sinfonie auf. In der Sinfonie erblickten viele Bildungsbürger eine ideale kulturelle Leistung, denn sie vereine die unterschiedlichen Stimmen im Orchester zu einer ästhetischen Harmonie. Viele musikalisch Gebildete konnten sich hiermit identifizieren. Schon seit den 1820er-Jahren findet sich in der deutschsprachigen Presse das überschwängliche Lob der Sinfonien von Haydn, Mozart und Beethoven. Diese Namen nutzte man zur Abgrenzung vom italienischen Musiktheater. In seinem »Aufruf an deutsche Komponisten« 1823 verband Louis Spohr seinen Spott über Italien und dessen Theater mit dem sich abzeichnenden Siegeszug deutscher Sinfoniker: »Die längste erwartete Zeit scheint 39 Vgl. Koury, Orchestral, 176–199, 299–325; Scholes, Mirror, Bd. 1, 376 f. 40 Vgl. insges., Taruskin, History, Bd. 3, 637–694; Weber, Transformation, 30–81; und die Beiträge in Bödeker/Veit/Werner (Hg.), Concert. 41 Vgl. Forsyth, Bauwerke, passim; Hall-Witt, Fashionable, 248–264. 42 Signale, 19 (1861), 441–445 (Zit. 441): Das musikalische Publikum. Vgl. Mahling, Bürgerlichkeit, 13–18.
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nun gekommen zu seyn, wo unser deutsches Publikum, der süss-faden, neuitalienischen Musik müde, sich nach gehaltreicheren sehnt. … Der Zweck dieser Zeiten ist: Die deutschen Komponisten aufzufordern, sich durch grosse und zweckmässige Thätigkeit im Besitz des Opern-Repertoires zu setzen und alles Fremde (wenn es nämlich gehaltlos ist) nach und nach davon zu verdrängen.«43 Die Kanonisierung der Sinfonie und eine dominante deutsche Musik kultur veränderten den Spielbetrieb. Gerade die Aufwertung der Sinfonie setzte neue Standards im Musikleben und eröffnete dem Publikum andere Wege der Deutung, Aneignung und Reproduktion seiner Umwelt. Vereinzelte Habsburgische Aristokraten ausgenommen, war es namentlich das deutschsprachige Bildungsbürgertum, das seit den 1820er-Jahren eine Sin fonie zunehmend als wertvolles »Werk« und weniger als unterhaltendes »Beiwerk« begriff.44 Diese Form der so genannten »absoluten« Musik im Orchester sollte nicht einfach nur genossen, sondern verstanden werden, und auf lange Sicht hin zur Erbauung der Individuen und zur Vereinheitlichung des Kollektivs wirken. Diese Entwicklung ging über den deutschsprachigen Raum weit hinaus und erfasste weite Teile Europas.45 In vielen Städten war eine relative Abwertung des Gesangs im Konzertsaal zu Gunsten der vermeintlich authentischen Instrumentalmusik, namentlich der großen Sinfonie, zu beobachten. Die Sonatenhauptsatzform mit ihrem dialektischen Spannungsverlauf und ihrem kontrastreichen Verschmelzen der Einzelstimmen zu einer harmonischen Einheit bildete das wichtigste Stilelement des Konzertbetriebes. Weit stärker als die Oper wurde die Musik im Konzert nach Auffassung der bürgerlichen Elite nur noch dank der Internalisierung eines bestimmten Wissenskanons konsumierbar und damit allein einem gebildeten Publikum zugänglich.46 Blickt man auf die Sinfonie und auf die Entstehung eines neuen musikalischen Kanons, blickt man auch hier auf Beethoven. Der Besitz von Bildung, genauer der Wille zur Ausbildung, rückten Beethovens Sinfonien ins Zentrum der Ideale des Konzertpublikums. Wie vielleicht keine andere kul43 AMZ, 25 (1823), 457 f. Vgl. BAMZ, 7 (1829), 126; s. zum politischen Stellenwert der Sinfonie, Bonds, Music. 44 DeNora, Beethoven, 11–36; sowie Schmitt, Revolution, passim; Voss, Beethoven-Bild, 81–94. 45 James Johnsons pointierte Studie »Listening in Paris«, die einer international vergleichenden Überprüfung harrt, besagt, dass sich zuerst in Paris ein schweigendes Hörverhalten des Publikums infolge neuer Kompositionen und neuer Aufführungspraktiken durchsetzte. Vgl. dazu die Besprechung von Smart, Review, 291–297. 46 Vgl. Balet/Gerhard, Verbürgerlichung, 334–394, 468–481; Everist, Reception, 376–402; Daniel, Hoftheater, 126–157; Nipperdey, Bürgerlich, 143–148; Preußner, Musikkultur.
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turelle Praxis beruhte das sinfonische Konzert auf den Prämissen eines Lernprozesses, demnach die Werke der Konzentration und der Hingabe der Zuhörer bedurften. Der Kult um den Genius Beethovens kannte bereits um 1840 weder in der Presse noch in den Unterhaltungszeitschriften oder in der Wissenschaft irgendwelche Grenzen.47 Bereits im Kontext der gespannt besuchten zweiten Aufführung seiner IX . Sinfonie in Wien 1824 projizierten Journalisten wie Adolf Bernhard Marx in seiner »Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung« Beethovens Ruhm in die Zukunft: »Hr. van Beethoven mag die laute Bewunderung als Bürgschaft für die Unsterblichkeit nehmen, welcher sein Genie ihm entgegenführt.«48 Einen geradezu sakralen Bericht verfasste er in Berlin über Beethovens vierte Sinfonie – die wichtigsten Worte setzte der Artikel kursiv: Das »zahlreich versammelte Publikum [hat sich] gefreut, das wie vor dem Götterbilde zu Sais schweigend der Erleuchtung harrte.«49 Die Auseinandersetzung des Publikums mit den Sinfonien Beethovens eröffnete Gelegenheiten für ein neues Hörverhalten. Beethoven durch erworbenes Verständnis zu erlernen bedeutete, die tradierte Unterhaltung zu verlernen. Auch das neue Hörverhalten war eine Form der Unterhaltung, aber erweitert um den Charakter der Bildung. Erkannte das gebildete Publikum diese Bedeutung, wollte es immer mehr derartige Konzerte besuchen und seinen Umgang diesen Werken anpassen. Anders gewendet: Die Zuhörer hatten ihre Aufmerksamkeit durch die disziplinierenden Regeln des Konzertbetriebes erst zu erlernen. »Bei der Aufführung einer Symphonie«, hieß es aus Berlin bereits 1824, »wirkt nicht äußerliches. … Wer nicht der Komposition in ihrem Gange folgt, hat gar nichts, und so lehren Symphonien, Musik ohne Zerstreuung und um ihrer selbst willen zu hören.«50 Den Besuchern der Berliner Sinfoniekonzerte wünschte man für diesen Weg der Selbsterkenntnis nicht nur »Treue und Pietät«, sondern die immer zu wiederholende konzentrierte Teilnahme an sinfonischen Konzerten. »Die Beethovensche Symphonie ist zu groß, zu reich und zu tief, um in ihrer Ganzheit und vollen Herrlichkeit auf das erste Mal gefasst zu werden. … Vergessen wir aber nicht, dass es das tiefste und gereifteste Instrumentalwerk des genialsten, gereif-
47 Vgl. zum Beethovenkult Knittel, Construction, 118–56; Schmitt, Revolution, 21–41, 191– 220; Buch, 281–337; DeNora, Beethoven, 60–82, 186–190; Bowen, Value, 91–99. 48 Sammler, 29.5.1824, 260: Beethovens zweytes Concert. 49 BAMZ, 7 (1829), 32 (Herv. i. Orig). 50 BAMZ, 1 (1824), 444. Vgl. Pederson, Marx, 87–107; Applegate, Internationalism of Nationalism, 139–159.
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testen jetzt lebenden Tonkünstlers ist: so wird das Unverstandene selbst den Wunsch nach Wiederholung der Kunstfeier erwecken.«51 Dieser Duktus, durch kanonisierte Stile und Werke die Geltung der musikalischen Praxis zu erweitern, blieb nicht auf den deutschsprachigen Raum beschränkt. Etwa ab 1840 finden sich auch in der Londoner Presse Vorbehalte gegen Konzertveranstalter, die Beethovens Sinfonien falsch oder verkürzt gespielt hätten. Eine Konzertankündigung der IX . Sinfonie durch die »New Philharmonic Society« hielt schlichtweg fest, dass allenfalls das eigene Unverständnis der Zuhörer diese für Beethovens Geist nicht empfänglich mache: »Should any withhold his approval of the work, let him be assured the fault is not Beethoven’s but his own.«52 Eine Londoner Aufführung der »Pastorale« im Hanover Square Room zog neben den Abonnenten dieses Konzertes 130 zusätzlich zahlende Hörer an, und viele begannen der Sinfonie schweigend zu lauschen – gelegentlich jedenfalls: »The audience … with mute attention, interrupted only now and then by an involuntary murmur of delight.«53 Selbst Aufführungen für breitere bürgerliche Publikumsschichten, wie Louis Julliens Promenadenkonzerte, bestanden oft nur aus Werken Beethovens. In der Presse schwärmte man darüber, wie sehr Beethovens Musik durch ihr häufiges Wiederhören die Bürger erhebe, weil sie diese verändere. »Ihre Stille und die atemlose Aufmerksamkeit während der Ouvertüre [3. Leonorenouvertüre – SOM] erinnerten an eine Aufführung in einem herkömmlichen Konzertsaal. Die halb unterdrückte Freude bei manchen melodischen Passagen oder bei instrumentalen Effekten, sowie die Ausbrüche ehrlichen und vereinten Enthusiasmus’ hätten jedem Auditorium zur Ehre gereicht. »54
Die musikalische Wende: Verhandlungen über richtiges Benehmen und gute Gefühle Die Veränderung des Hörverhaltens kann als ein Prozess der sozialen Disziplinierung verstanden werden. Aufmerksam war das Publikum im Jahre 1790 und im Jahre 1890 gleichermaßen, nur unterschieden sich die Formen ihrer Aufmerksamkeit erheblich voneinander. Vielfalt und Unterhaltung wi51 BAMZ, 3 (1826), 384 f. 52 London, BL, RB 23 B 3725, Prospectus of the New Philharmonic Society and Programme of the First Concert, London 1852, 10 f. Vgl. AT, 1.6.1844, 506. 53 SP, 17.6.1837, 566. 54 MP, 16.1.1846. Ein entsprechender Bericht findet sich in MW, 24.1.1846, 36.
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Abb. 20: Fernand Khnopff, »En écoutant du Schumann« (1883), zeigt eine in sich versunkene, hoch konzentriert lauschende Hörerin einer Aufführung im heimischen Salon.
chen Selbst- und Fremdzwängen. Erst im Konzertsaal und etwas später im Opernhaus breitete sich eine vor 1830 ungewohnte Stille aus. Hörer verwandelten sich in Zuhörer. Im Bild »En écoutant du Schumann« des belgischen Symbolisten Fernand Khnopff sitzt eine in schwarz gekleidete Hörerin in sich versunken in der Mitte eines bürgerlichen Salons. Das Gesicht verbirgt sie in ihrer rechten Hand, der Daumen berührt die Schläfe. Die Kunst des Pianisten kann man nur im Hintergrund erahnen, denn der Maler lenkt den Blick des Betrachters auf die Kunst des Zuhörens. Am leichtesten war die Disziplinierung der Musikfreunde in der Kontrolle ihrer Körper auszumachen. Nicht nur die eigene Bewegung während einer Aufführung, auch die Stimme und den expressiven Gesichtsausdruck verbargen die Zuhörer, um ihre habituelle Fähigkeit unter Beweis zu stellen. Sie verblieben auf ihren Sitzen, verzichteten auf beliebte Imbisse und erlernten das Schweigen. Die Teilnehmer musikalischer AuffühDie Erfindung des Schweigens | 235 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
rungen folgten allmählich konzentriert dem Verlauf der Musik, beschränkten Beifall und Missfallen maßvoll und stellten die Kommunikation mit den Künstlern wie mit den Sitznachbarn während der Vorstellung ganz ein. Jeder Hörer und jede Hörerin bemühte sich immer intensiver darum, Disziplin zu üben und die eigene spontane Begeisterung nicht öffentlich zu zeigen: Aus Konsumenten musikalischer Unterhaltung sollten Kenner musikalischer Kunst werden.55 Mögliche Unregelmäßigkeiten galt es, durch Kontrolle zu bewältigen. Die Hörer passten sich einander an – auch um den Preis, für die gewonnene kollektive Sicherheit mit dem Verlust der eigenen eindrucksvollen Vorstellung zu bezahlen. Sie kalkulierten nicht nur ein, dass ihr eigenes Verhalten für jedermann im Konzertsaal sichtbar war, sondern orientierten sich auch an den neuen mehrheitsfähigen Informationen, welche das Publikum sich auf Dauer erschloss. Die Debatten der Zeitgenossen bestimmten Reflexionen über die Umsetzung neuer und Konflikte um den Verlust alter Praktiken. Die Musikliebhaber stellten die seit langem etablierten Ordnungsvorstellungen im Konzertsaal in Frage und begannen die Suche nach Alternativen. Die traditionellen Besucher im Konzertsaal hatten zunächst kaum erklärte Feinde, zu ihren gefährlichsten Gegnern aber wurden im Laufe der Zeit ihre disziplinierten Freunde.56 Der Umgang mit Musik gelingt auf verschiedenen Ebenen: Sie gründet sich nicht nur auf etablierten kulturellen Traditionen, sie erleichtert auch emotionale Reaktionen der Menschen. Musik und Gefühl wirken ineinander. Diese Beobachtung ist zunächst ein Allgemeinplatz. Inzwischen haben verschiedene Disziplinen mit ihren jeweiligen Konzepten begonnen, diesen Wirkungszusammenhang zu erforschen. Im Anschluss an die Konjunktur der Neurowissenschaften ist diese den meisten bekannte und doch wissen schaftlich schwer benennbare Beziehung zwischen Musik und Emotionen auf öffentliches Interesse gestoßen. Als gesichert gilt: bestimmte Stücke werden von einer Mehrzahl von Menschen als sehr emotional beschrieben, das heißt als Auslöser mehr oder minder starker vegetativer Reaktionen.57 55 Vgl. die soziologische und musikwissenschaftliche Perspektive in Bernius (Hg.), Aufstand; Grazer, Motive, 9–31; Goebel, Der Zu-Hörer, 15–28; sowie Bechdolf, Ganz Ohr, 74–84. 56 Vgl. Johnson, Listening, 92 f.; Bashford, Learning, 25–28; Weber, People, 678 f., und insges. Goffman, Theater, 193–207. 57 Einen guten Überblick zur Diskussion über das Verhältnis von Musik und Emotion bieten Juslin/Sloboda (Hg.), Music and Emotion; Bradley, Language of Emotion; Budd, Music and the Emotions; Leonard B. Meyer, Emotion and Meaning in Music, Chicago 1956; Gienow-Hecht, Sound Diplomacy; sowie die Beiträge in Müller/Zalfen, Besatzungsmacht Musik.
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Dennoch unterstreicht die Forschung, dass kein kausaler Nexus zwischen einem bestimmten Musikstück und einer spezifischen emotionalen Wirkung besteht. Nicht nur von Konzert zu Konzert, sondern häufig schon zwischen einzelnen Hörern bestehen große Unterschiede darin, welche Regung eine bestimmte Komposition hervorruft. Mehr noch: es existiert nicht nur keine intersubjektive emotionale Reaktion auf Musik, sie ist auch zeitlich variabel. Bereits die Wirkung von Musik auf den Körper, von der Vielfalt an Deutungen, der Hörgewohnheiten und Geschmäcker ganz zu schweigen, unterliegt einer stetigen Veränderung. Emotionen sind nicht nur neurale Impulse im Gehirn, die den Körper stimulieren. Sie sind soziale Phänomene durch und über Musik, indem sie Wahrnehmungsmuster strukturieren, aus denen sich die Bedeutung von Musik für das jeweilige Publikum ergibt. Emotionen beeinflussen daher soziale Lernprozesse und erleichtern die Herausbildung von Gemeinschaften.58 Aufschlussreich ist es, darauf zu achten, dass gezeigte Emotionen im Konzert- und Opernhaus weniger ästhetische Reize oder körperliche Reaktionen als kulturelle Produkte sein können. Die affektiven Empfindungen der Zuhörer sind projektierte Handlungen, Emotionen gewollte Stimmungen. Vormals unruhig lauschende Hörer werden durch die gespielte Musik nicht einfach nur zum Schweigen gebracht, sondern nutzen diese, um in gewünschten Situationen Stimmungen zu kreieren, um so kulturelle Identitäten zu schaffen oder gesellschaftliche Positionen zu besetzen. In diesem Prozess der »emotion construction« (Tia DeNora) verwendeten soziale Gruppen musikalische Geschmackskategorien dazu, Zugehörigkeit und Fremdheit in einer Gesellschaft zu markieren.59 Die Wirkungsmacht konkurrierender Emotionen und die sich wandelnde Bewertung dessen was schön ist und was nicht, verdeutlicht eine Beschreibung von Mark Twain. Der in den 1870er-Jahren durch Europa reisende amerikanische Schriftsteller besuchte in Mannheim eine Vorstellung von Wagners Lohengrin. Diese Aufführung dauerte geschlagene vier Stunden. Gleichsam körperlich litt Twain unter dieser »mitleidlosen Quälerei«, die ihn an die Zeit erinnerte »da ich mir meine Zähne in Ordnung bringe ließ. … Der Schmerz verschärfte sich noch dadurch, dass er schweigend und stillsitzend ertragen werden musste. … Wenn das Heulen und Wehklagen und Kreischen der Sänger und Sängerinnen und das Wüten und Toben des gewaltigen Orchesters höher anschwollen und wilder und wilder und grim58 Frevert, Emotions in History; Behne, Wirkungslosigkeit; Stearns/Stearns, Emotionology, 813–36; Gerhards, Soziologie der Emotionen. 59 DeNora, Agency, 161–180. Vgl. Rösing, Interpretation, 175–185.
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miger und grimmiger wurden, hätte ich aufschreien können, wäre ich allein gewesen.«60 Doch die Mehrheit des deutschen Publikums hegte zu diesem Zeitpunkt bereits andere, rundum positive Gefühle. Messerscharf beobachtete Twain, dass diese Form emotionaler Bewertung der Oper als ein Lernprogramm deutscher Bildungsbürger funktionierte: »Nur die Wenigen sind so gebildet, dass Musik hoher Qualität ihnen Vergnügen bereitet«, vielmehr erlernten die Hörer »eine Fähigkeit, die durch Unterweisung gefördert und entwickelt werden muss«. Denn ob die Deutschen »diesen Lärm von Natur aus schätzten oder ob sie durch Gewöhnung gelernt hatten, ihn gern zu haben, wusste ich zu der Zeit nicht; aber sie hatten ihn gern – das war mehr als deutlich. Solange er andauerte, saßen sie da und sahen so hingerissen und dankbar aus wie Katzen, wenn man ihnen den Rücken streichelt«.61 Mark Twain erkannte eine emotionale Disziplinierung des elitären Publi kums, die bereits in den 1820er-Jahren zaghaft angesetzt hatte. Die Ko präsenz unterschiedlicher Gefühle, bei gleichzeitiger Übersteigerung eines Gefühls, führte zu Konflikten bei den Konzertbesuchern. Denn wer lautes Reden und Lachen bislang als Genuss empfunden hatte, konnte durch Kritiker Zweifel an seinen eigenen Gefühlen bekommen. Diese didaktische Initiative mancher Gelehrter, Journalisten und Künstler, die darauf zielte, alte emotionale Praktiken zu regulieren, wird etwa im Benimmbuch von Karl August Heinrich Hoffmann deutlich. Er unterrichtete »angehnde Elegants« über die Bedeutung der richtigen Gefühle im Konzert, d. h. über kontrollierte Gefühle. »Die Ruhe, die man beobachten muß, ist sowohl körperlich als geistig zu verstehen. Im äußern, indem man sich nicht durch übertriebene Beweglichkeit, durch Fechten mit beiden Armen, durch eifriges, wiederholtes Aufwerfen des Kopfes, durch einen auffallend schnellen Gang etc. zum Narren mache – in geistiger Hinsicht, daß man nie irgend eine Leidenschaft auf eine bemerkbare Weise durch heftige Worte zu versinnlichen suche. In der feinen Welt gilt der Enthusiast … gar nichts, und wo möglich noch weniger der, der glühende Empfindungen heuchelt – man hüte sich also dafür, und befleißige sich einer ruhigen Haltung des Körpers, und eines ruhigen, doch aber nicht monotonen, Ausdrucks.«62 Wer in der Mitte des 19. Jahrhunderts Emotionen zeigte oder kritisierte, der beteiligte sich an der Herausbildung eines neuen sozialen Habitus. Aufschlussreich ist es, darauf zu achten, wie die »feeling rules« der Hörer ihre 60 Twain, Bummel, 65. 61 Ebd., 203, 65 f. 62 Hoffmann, Galanterie-Büchlein, 36 f. Vgl. Höhne, Das Theaterpublikum, 29–52.
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Kommunikation veränderten.63 Deutlich wird das an den zahlreichen Gesten, Bewegungsformen und geschmackssicheren Urteilen bei den Hörern, die darauf zielten, von anderen als vorbildlich bewertet zu werden. Dabei kontrastierten gebildete Hörer »richtige« Emotionen wie Stolz oder Ehre mit »falschen« Gefühlen wie Leid, Zorn oder Angst. Emotionen im Musikbetrieb erleichterten in der Kombination mit sozialen Einflüssen und Interessen die Entstehung eines spezifischen Habitus des Bildungsbürgertums. Die emo tionale Aneignung musikalischer Darbietungen ist sicher nicht präzise zu kalkulieren. Doch manche Verhaltensmuster der Musikkonsumenten sind ohne emotionale Bedingungen nur unzulänglich zu verstehen. Das Erlernen bestimmter Emotionen und Praktiken machte gebildete Musikkenner als Wertegemeinschaft sichtbar. Das ist gerade an den Selbst- und den Fremdzwängen vieler Bildungsbürger zu erkennen.64 In den 1820er- und 1830er-Jahren erlernten erst wenige Hörer das Schweigen. Recht zaghaft formierte sich ein über etwa 40 Jahre andauernder Prozess der Geschmacksumwertung. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts aber waren die musikalischen Fachzeitschriften und Feuilletons intensiv mit dem Problem beschäftigt, wann man während der Vorstellungen applaudieren dürfe und wann man zu schweigen habe. Es bedurfte mehrerer Dekaden, bis sich das Publikum an die neue Stille und die eigene Selbstdisziplinierung während der Aufführungen gewöhnt hatte. Relativ leicht fielen Beschwerden über die endlosen Zugaben im Konzertsaal. Im Urteil des »Spectator« hieß das: Da oft ganze Sinfonien durch einzelne Sätze unterbrochen würden, die ganze Aufführung mithin zerstörten, gelte es, Sinn zu stiften und diesen »sound of alarm« zu kontrollieren.65 In erster Linie aber zogen Kritiker und Journalisten gegen den Mangel an ernsthaften Verhaltensmaßstäben im zeitgenössischen Musikleben zu Felde. Der Katalog zur disziplinierenden Erziehung des Publikums begann meist mit dessen Unterhaltungswut. Noch 1861 urteilten die »Signale für die musikalische Welt« hart über die »schlimmsten Bestandtheile aller Berliner Concerte: … die Plaudereien. … Der Mensch … fängt an halblaut zu plaudern, und setzt dieses Geschäft mit einer Ausdauer, die er nur in dieser einen Richtung entwickelt, den ganzen Concertabend über fort. … Allein 63 Vgl. Hochschild, Emotion Work, 551–575; Plamper, Geschichte, 138–147. 64 Vgl. den Überblick von Plamper, Geschichte; die methodischen Überlegungen im von Ute Frevert herausgegeben Themenheft Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), Geschichte der Gefühle; dies. Vergängliche Gefühle; sowie Flam, Soziologie der Emotionen. Vgl. zur Herausbildung einer bürgerlichen Wertegemeinschaft Linke, Sprachkultur, 22–31; Bausinger, Bürgerlichkeit, 121–142; Johnson, Listening, 228–238. 65 SP, 23.3.1850, 276. Vgl. Müller, Hörverhalten, 198–212.
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›Plaudern mit Musikbegleitung‹ ist eine Barbarei, der eben nur das blasierte Frauenzimmer einer vergnügungssüchtigen Residenz fähig ist«.66 Beobachter in Berlin machten derartige Bewertungen früher als diejenigen in Wien oder in London. Nach 1850 jedoch unterschieden sich die großen europäischen Städte in dieser Frage immer weniger voneinander. Die Londoner »Musical World« beispielsweise erteilte Ratschläge über die im Konzert erwünschte Etikette. Auch nur zu flüstern oder gar sich im Saale zu bewegen, ginge bei Beethoven gar nicht, da der Meister dadurch zum Opfer seiner eigenen Verehrer würde. Selbstredend solle man nicht den Takt mitschlagen, Stücke vor sich hin summen oder sich aus Bewunderung zu lachhaften Gesten hinreißen lassen.67 Ein beachtenswertes Beispiel für den Verstoß gegen die neuen Verhaltensregeln und deren prompte öffentliche Bloßstellung bildet ein Vorfall in der Londoner Philharmonic Society. Das Opfer – und je nach Ansicht auch der Täter – an diesem Nachmittag im April 1832 war Arthur Gladstone, ein Bruder des späteren Premierministers William Gladstone. Dieser wohnte auf Einladung des Chefdirigenten Sir George Smart einer Probe des Orchesters bei. Die Elite traf sich untereinander, und manche unterhielten sich leise. Was sich dann aber abspielte, brachte Arthur Gladstone ganz und gar in Rage und an den Schreibtisch, um einen Brief an die Direktoren der Gesellschaft zu verfassen. Er war in der Konzertprobe offenbar nicht sehr aufmerksam gewesen. Die Musiker spielten, und ihr Besucher las dabei seine Zeitung. Dann rief ihm jemand aus dem Orchester zu, was es denn Neues zu erfahren gäbe (»what’s the news?«). Der Zeitungsleser nahm nicht einmal wahr, dass dieser, wie er dachte, schlechte Witz tatsächlich ihm galt. Während die Probe an ihm vorbeirauschte, blieb er mit seiner Lektüre beschäftigt. Darauf erschien ein Diener der Philharmonic Society und fragte ihn im Auftrag des Sekretärs, ob er zur Verschönerung der Probe eine Tasse Kaffee zu genießen wünsche (»if I should like a cup of coffee«). Gladstone glaubte nicht, was er da erlebte. Doch der Diener verlangte nachdrücklich eine Antwort, die der Zeitungsleser verweigerte, da er schon die Frage als Frechheit erkannte, und verließ so ratlos wie wütend den Saal. In seinem Beschwerdebrief führte er aus, wie statthaft selbstredend sein Benehmen gewesen sei, und man ihn allenfalls höflich hätte ansprechen sollen, statt ihn unstatthaft vor allen Musikern bloß gestellt zu haben.68
66 Signale, 19 (1861), 444 f. 67 MW, 3.4.1852, 217; MW, 21.9.1867, 647: A Word to Concert-Goers. 68 London, BL, RPS/MS/345 (=48.13.13) Letters Vol.13, Bl. 11 f. – 9.4.1832.
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Offenbar bedurfte nicht nur dieser Zuhörer der Erziehung zur höflichen Aufmerksamkeit, auch die Orchestermusiker ließen es willentlich am ge botenen Respekt mangeln. Diese Geschichte ist fraglos unterhaltsam, sie zeigt aber gleichzeitig, inwieweit öffentliche Beobachtung die Abweichungen der nicht mehrheitswilligen Zuhörer ahndeten. Oft veränderte man nur in Nuancen die Spielregeln im Konzertsaal – aber wirkungsvoll waren diese habituellen Feinheiten in den meisten Fällen.
Dirigenten und Veranstalter erziehen das Publikum Die Disziplinierung des Publikums war in der Regel keine Entscheidung Einzelner, keine spontane Reaktion, sondern eine Art öffentliche Verhandlung im kulturellen Raum. Deutlich wird das anhand der Debatten darüber, ob im Konzertsaal während einer Aufführung überhaupt noch Unmutsäußerungen zu gestatten seien. Nicht nur die Presse, auch namhafte Dirigenten wandten sich gegen diejenigen, denen sie ein störendes Verhalten im Konzert unterstellten. Der öffentliche Macht- und Erziehungsanspruch der Orchesterleiter war beachtlich. Carl Möser kritisierte explizit diejenigen Berliner in einem Zeitungsartikel, welche in seinem Konzert nach der vierten Sinfonie in F-Dur (»Weihe der Töne«) von Spohr gezischt hätten. »Der wahrhaft Gebildete [hätte] sich niemals auf solche Weise [das] erlaubt. … Es bleibt also nichts anzunehmen, als dass ein Oppositionsgeist zum Grunde liegt, der aus einem gebildeten Zirkel jedenfalls verbannt sein sollte.«69 Der Dirigent Hans von Bülow bemühte sich aktiv um eine Disziplinierung des Publikums. Im Jahre 1859 leitete Bülow in der Berliner Singakademie ein Konzert, in dem auch Franz Liszts sinfonische Dichtung »Das Ideale« gegeben wurde. Das Stück gefiel dem Publikum gar nicht. Wenige Anhänger, vielleicht zur sich formierenden neudeutschen Schule zählend, applaudierten vorsichtig, die Mehrheit verharrte unbeteiligt und etwas gelangweilt. Das änderte sich, als ein Teil der Zuhörer ungewöhnlich laute Äußerungen des Missfallens und starke Zischlaute von sich gab, und manche meinten, Liszts »Das Ideale« liege unter dem des in diesem Konzert erwünschten Niveau. Dieses Verhalten war auch Mitte des 19. Jahrhunderts keineswegs unüblich, nur Bülow stritt für die neuen Maßstäbe. Als Dirigent des Orchesters rief er dem Publikum zu: »Ich bitte die Herren Zischer den Saal zu verlassen, Zischen ist hier nicht üblich!«70 Die Menge reagierte staunend, offenbar zu69 AMZ, 39 (1837), 58 f. 70 NZfM, 50 (1859), 61; HS, 18.1.1859.
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stimmend – und schweigend. Wenige murmelten leise miteinander über diesen Vorfall, und nur ein paar der von Bülow bloßgestellten Personen ver ließen wirklich den Saal. In den folgenden Tagen erwies sich Bülows Auftritt als Gegenstand vieler Gespräche und Presseberichte. Der Tenor der Tageszeitungen und Musikzeitschriften war einhellig – der Dirigent habe das Publikum mit Recht angeleitet. In einem sinfonischen Konzert dürfe Missfallen nur »maaßvoll« artikuliert werden.71 Jenes Zischen stelle einen Übergriff von Seiten der Zuhörer dar, und daher müsse man solche Leute hinauswerfen. Manche brachten die Möglichkeit polizeilicher Verwarnungen gegen musikalische Unruhestifter ins Spiel, Bülow jedenfalls habe, um diese Intrige der Protesthörer zu verhindern, klug »wie ein Arzt« gehandelt.72 Das Publikum habe in der Gegenwart und in der Zukunft durch sein Benehmen zu zeigen, dass es auch in sozialer Beziehung tonangebend sei. Nur schweigende Selbstkontrolle manifestiere die gehobene Stellung der Elite im Musikleben. »Man verwechsele nicht die Freiheit der Meinungsäußerung mit Frechheit. … Im Concertsaale verstoßen die Zischer bei berechtigten Leistungen gegen jede edle Kunstsitte, und müssen folglich hinaus gewiesen werden. … Unserer Meinung nach ist bei Kunstleistungen, die einen berühmten und geachteten Namen tragen, das Enthalten der Beifallsbezeugung der einzige für ein anständiges Auditorium zulässige Ausdruck des Mißfallens.«73 Wirkungsvoller als die Anordnungen Einzelner und die Kommentare der Presse wurden die Kontrollmaßnahmen im Konzerthaus. Neue Ordnungsmuster fanden sich nicht nur in den Zeitungen, im Tagesgespräch oder in den Konversationen im Salon, sondern ebenso in den Regeln privater und staatlicher Institutionen. Die Musiker und ihr Publikum trennte man im Laufe der Zeit räumlich, im Konzertsaal setzte sich ein erhöhtes Podium durch. Akustische und visuelle Verbesserungen wurden so erreicht, die Hörer auf die Mitte des Saales hin ausgerichtet, das heißt, auch für das Spiel der Künstler sensibilisiert. Die Einführung von festen Sitzreihen seit der Jahrhundertmitte beschränkte das Umhergehen und erschwerte die gewohnte Plauderei. Neu eingerichtete Konzertpausen trennten Aufmerksamkeit und Zerstreuung voneinander.74 Dass Benehmen nicht nur durch Einzelne zu erlernen war, sondern öffentlich verfügt wurde, belegen viele Zulassungsbeschränkungen im Konzert71 HS, 16.1.1859. 72 NZfM, 50 (1859), 57. 73 NZfM, 50 (1859), 62 f.; NZfM 50 (1859), 56 f. (Herv. im Orig.) 74 Vgl. zur Frühphase dieser Entwicklung, Schleuning, Bürger, bes. 141–179; Horn Melton, School, 251–279.
242 | Die Ambivalenz der Musikerfahrung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
haus. Die Veranstalter legten fest, dass Konzerte pünktlich zur angekündigten Zeit zu beginnen hätten. Nach 1850 setzte man fest, dass der Zutritt nur vor dem Konzert und in der Pause zu erfolgen hatte. Das Publikum sollte nicht innerhalb der Aufführung, sondern nur zwischen den gespielten Werken den Saal verlassen. Die »Royal Philharmonic Society« veranlasste 1888 sogar, die Eingangsportale während der Sätze einer Sinfonie geschlossen zu halten.75 Dieser Lernprozess mit seinen sozialen Normierungen vollzog sich über Jahrzehnte hinweg, in ihm mischten sich handwerkliche Peinlichkeiten und bildungsbürgerliche Werturteile. »Hunde werden nicht geduldet« – diese Vorschrift der Frankfurter Konzertgesellschaft lässt sich heute als Posse, im frühen 19. Jahrhundert aber als erwünschte Kontrollmaßnahme begreifen.76 Die Generalintendanz der Wiener Hofoper setzte 1853 eine Hausordnung zur Regelung des Publikumsverkehrs in Kraft. Dieser Erlass der Theater leitung beschränkte sich indes nicht allein auf die Veröffentlichung entsprechender Plakate und die Erwartung einer freiwilligen Berücksichtigung ihrer Maßnahmen. Dem Chef der obersten Polizeibehörde ging ein Schreiben zu, welches die Staatsdiener auf den Plan rief und unter angedrohtem Zwang feststellte: »Die Sicherheitsorgane sind angewiesen, auf die genaue Beobachtung dieser Bestimmungen Strenge zu halten.«77 Die gedruckten Verhaltensrichtlinien bezeichnete die Intendanz als eine »Kundmachung: Um jede Unzukömmlichkeit und Störung zu beseitigen, wird hiermit zur allgemeinen Wissenschaft und Darnachachtung bekannt gemacht.«78 Das Regelwerk legte fest, dass jedermann beim Eintritt in die Oper seine Kopfbedeckung abzunehmen und fortan nur mit unbedecktem Haupt zu verweilen habe. Besonders werde hiermit »jede wie immer geartete unanständige und tobende Bezeigung des Beifalls oder des Mißfallens untersagt«.79 Ferner dürfe die Wiederholung einzelner Nummern einer Opernvorstellung, mit Ausnahme des letzten Abends einer Saison, weder verlangt noch gegeben werden. Die Künstler einer Spielzeit, das heißt Komponisten, Ballettmeister, Maler und natürlich die Sängerinnen und Sänger, sollte das Publikum fortab nur noch in den Pausen und nach Ende der Vorstellung auf die Bühne rufen. 75 London, BL, RPS/MS/288 (=48.2.10) Directors’ Meetings 1887–93, Bl. 54 – 7.4.1888. Vgl. ebd., Bl. 55 – 23.4.1888; RPS/MS/322 (=48.5.2) Phil. Society 1867–72: Konzertprogramme. 76 Zit.n. Schwab, Musikgeschichte, 68. 77 Wien, HHStA, Generalintendanz, Hofoper, Karton 77, 1853, Nr. 2131; sowie Nr. 2227, Neue Hausordnung vom 27.11.1853; Beilage: 27.11.1853, Weisung des Hofsekretärs Raymond an den Chef der Polizeibehörde Graf von Kempen. 78 Ebd. Nr. 2227. 79 Ebd. Nr. 2227.
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In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte sich damit ein kulturelles Regelwerk ein. Im Musikleben folgte nunmehr eine wachsende Mehrheit bürgerlicher und adeliger Zuhörer den neuen Umgangsregeln im Hörverhalten. Im Ergebnis zeichnete sich mehr ab als eine schweigende Selbstkontrolle. Die Mehrheit im Publikum verzichtete auf öffentliche Sinnlichkeit, entschied sich, um seinen gesellschaftlichen Stellenwert zu erhalten, neuen Bildungsidealen zu folgen und im Konzert Passivität und Sammlung zur Schau zu stellen. Diese Entwicklung erkannte die »Allgemeine Wiener Musikalische Zeitung« bereits 1842 und bilanzierte: »Der Vergleich des heutigen Konzertwesens mit dem vergangenen bedeute zunächst, dass jene minder passiver Art waren als die unseren. Die Leute wollen, um unterhalten zu seyn, selbst müßig gehen. … Die Concerte sind Mode geworden, also in die Luxus artikel aufgenommen. Sie zu besuchen, erfordert der Anstand, die Rücksicht auf Bildungsansprüche. … Wer Gutes haben kann, braucht das Mittelmäßige nicht. … Das Publikum ist gesammelter.«80 Der musikalische Lernprozess war, verglichen mit vielen anderen kulturellen Praktiken, ein kompliziertes Verfahren. Bereits der Aufbau der Komposition und der Rang des Komponisten bedurfte eines Vorwissens; Themen und Motive, die Orchesterbesetzung und die Leistung der Künstler mussten kenntnisreich beurteilt und ausgetauscht werden. Die Aneignung komplizierter Kompositionen stieg mit der Originalität des Werkes, sank dann aber, wenn die Komplexität die Aufnahmefähigkeit und damit das Interesse beeinträchtigte. Im Ergebnis lehnten die Zuhörer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu unterhaltende und zu komplexe Musik gleichermaßen ab.81 Die Verhaltensweise, zu der musikalische Aufführungen die Eliten zwangen, wenn sie eine Bildungs- und Sinnstiftungsfunktion erfüllen sollten, war das schweigende Zuhören. Daraus folgt: Ausgerechnet die gewünschte Passivität gegenüber musikalischen Reizen muss unter bestimmten Konditionen als Aktivität verstanden werden. Mit den Mitteln des Bildungswissens konzentriert sich der Kenner im musikalischen Raum. Das heißt, diese Form des aktiven Schweigens ist eine überaus wortreiche Tat. Denn öffentlich schweigen kann nur der gebildete Musikkenner, der nonverbal vieles zu sagen hat.82 »Wie fang ich nach der Regel an?«, fragt der adelige Junker Walther von Stolzig den Schuster Hans Sachs im dritten Akt der Meisersinger von Nürnberg, und der entgegnet: »Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann.« Was 80 AWM, 2 (1842), 241–243. 81 Vgl. Gebesmaier, Grundzüge, 48–53; Leppert, Music, 81 f., 96 f. 82 Zu diesem Befund gelangt auch Gay, Macht, bes. 19–48.
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im Konzerthaus begann, vollzog sich auch im Opernhaus. Seit den 1840erJahren lobten Opernfreunde diejenigen – wenigen – Besucher, welche seltener plauderten, sich seltener in den Logen besuchten und weniger Punsch oder Kaffee tranken. Immer häufiger konzentrierte sich das Publikum auf die gebotenen Produktionen, auf zu Meisterwerken erhobene Opern. Selbst im Musiktheater verblasste der Stellenwert namhafter Virtuosen vor dem wachsenden Interesse an den Kompositionen. Die Höflichkeit im Theater hatte nicht nur rücksichtvoll und bescheiden zu sein. Unterhaltungsblätter, Tageszeitungen und Fachzeitschriften ver öffentlichten lange Listen der Rügen im Theater, »welche das Kunstinstitut zum Vergnügungs-Etablissement degradirt«. Dazu zählten die inzwischen mehrheitsfähig gewordenen Verhaltensmuster, gleichzeitig aber auch die dem Musikleben offenbar abträglichen modischen Spielereien der angeblich besser gestellten weiblichen Besucher: »Unstatthaft ists, mit dem Fächer so zu spielen, dass der Nebenmann vom Winde, den man verursacht, getroffen wird. Verletzend ist es ein penetrant riechendes Parfum in den Kleidern resp. im Taschentuch mitzubringen, da man nicht weiß, ob der Nebenmann diesen zweifelhaften Geruch verträgt.«83 Das Publikum passte sein Verhalten der Fremdkontrolle der Veranstalter und der Selbstkontrolle innerhalb des Bekanntenkreises an. Gleichzeitig stritten sich in den Opern- und Konzerthäusern in Europa Musikliebhaber über angemessene Verhaltensnormen. Statt schlicht von einem teleologischen Prozess auszugehen, welcher zur glatten Durchsetzung eines »modernen« – mithin eines uns heute noch bekannten – Publikumsverhaltens führte, scheint es aufschlussreicher, den wechselseitigen Verhandlungsprozess verschiedener Hörertypen und den Streit um unterschiedliche Geschmackspräferenzen zu verfolgen. Denn die wiederholten Beschwerden über unangemessenes Verhalten demonstrierten nicht nur den allmählichen Wandel kultureller Praktiken und Manieren, sondern ebenso eindringlich den Fortbestand traditioneller Geschmacksmuster. Als sich Ludwig Rellstab beispielsweise in Berlin im Jahre 1844 über den unkontrollierten Applaus des Publikums anlässlich einer Vorstellung der legendären Jenny Lind als Norma beschwerte, blieb sein abwertendes Urteil über das Publikumsverhalten nicht unwidersprochen. Obwohl Rellstab Linds Interpretation der Bravourarie »Casta Diva« über die Maßen lobte, monierte er doch in der »Vossischen Zeitung«, dass diese Arie mitten im Akt da capo verlangt wurde. Als ein Anhänger des neuen Hörverhaltens erkannte er darin eine »Barbarei des Beifalls, der allen dramatischen Zusammen83 Signale, 51 (1893), 130. Vgl. Hall-Witt, Fashionable, 228–238.
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hang des Kunstwerks zerstört«.84 Doch diese Betonung disziplinierter Selbstbeschränkung stellte zu diesem Zeitpunkt noch keinesfalls einen allgemein geteilten Konsens dar. Wenige Tage später empörte sich ein ärgerlicher Leser des Artikels in der gleichen Zeitung und unterstrich die Bedeutung spontaner und freier Beifallsbekundungen: »Der Referent dieser Blätter nennt den Hervorruf während des Aktes, Barbarei des Beifalls, anstatt ihn als den reinsten Erguß der Begeisterung und des wohlverdienten Dankes zu betrachten, zumal die Handlung der Oper dadurch gar nicht gestört ward.«85 Manche Beobachter sahen genau in der Maßregelung, in den kulturellen Regieanweisungen didaktische Zwänge, welche ein freies Urteil erschwerten. Verliefen Fremd- und Selbstkontrolle so weiter wie bisher, verschwände auch der Applaus aus dem Musikleben: »Es wird aber noch so weit kommen, dass sich der noble Theil des Publikums von jeder Beifallsbezeigung zurückzieht.«86 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts fehlte es daher nicht an kritischen Stimmen gegen die Verbreitung des Bildungsideals im Spielbetrieb. Gebildete Musikliebhaber würden im Ritual der abendlichen Aufführung zum Opfer der eigenen Selbstinszenierung werden. Denn gerade weil diese Bildungsfetischisten zu wissen glaubten, was denn den Musikkenner auszeichne, machten sie ihr zur Schau gestelltes Hörverhalten lächerlich. Beim Hören großer Meisterwerke glaubten diese verbildeten Kenner »bemerkbar machen zu müssen, dass sie zu den Eingeweihten gehören, und dass sie so ganz und ausschließlich im Stande sind, die Schönheiten des Stückes zu empfinden und zu genießen. Sie … verdrehen die Augen, fechten subtil mit den Händen und zwinkern einander so unerträglich geheimnißvoll und einverständlich, oft aus beträchtlicher Weite, zu, lächeln sich so selig und albern an, dass man aus der Haut fahren und sich lieber in das tollste Getobe wünschen möchte, um nur diesem gemachten, einstudierten, vorsetzlichen und arroganten Entzücken zu entfliehen«.87 Auch vielen Adeligen misslang zunächst die Imitation neuer bildungs bürgerlicher Geschmäcker. Denn Geschmack ist eine relativ leicht umzudeutende, aber schwer zu erlernende Kategorie. Vielleicht belegt ein Beispiel dieses aristokratische Dilemma, dass auch in der Unfähigkeit des Adels bestand, sich dem Lebensstil der Bildung gekonnt zu nähern. König Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise inszenierten in ihrem Schlösschen auf der Pfaueninsel bei Berlin ein landwirtschaftliches Mustergut. Wenn Seine Majestät im Festsaal der neogotischen Meierei eine Gesellschaft gab, stellte er zu Be84 VZ, 17.12.1844. 85 VZ, 20.12.1844. 86 AMZ, 46 (1844), 427. 87 AWM, 4 (1844), 37. Vgl. Linke, Sprachkultur, 72–77; dies., Unbeschreibliche, 247–268.
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ginn ein Rindvieh bereit, damit die naturverbundenen Herrschaften sich als Melker betätigen konnten. Mit Rücksicht auf die empfindlichen Nasen seiner aristokratischen Gäste ließ der Hausherr die Kuh allerdings parfümieren.88 War das eine nur aus heutiger Sicht peinliche Posse, oder machte die Imitation bürgerlichen Geschmacks – hier eben die Parfümierung der Natur – die anwesenden Adeligen gebildeter? »Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht«, schrieb Johann Wolfgang von Goethe 1819 an den Geheimen Rat Friedrich von Müller.89 Und Erich Maria Remarque ergänzte 1929, »das käme von der Bildung, sie mache dämlich«.90
Die Schweigsamkeit wird zum attraktiven Lebensstil im Musikleben Europas Die Verbreitung der schweigenden Verhaltensnorm war Bestandteil eines Kulturtransfers in Europa. Ein musikalisches Netzwerk überspannte in Eintracht wie in Zwietracht die europäischen Städte, Regionen und Staaten. Wahrscheinlich markiert der norddeutsche Raum den Ausgangspunkt dieses Kulturtransfers. Hier war es das städtische Bildungsbürgertum, welches die kulturellen Grundlagen des schweigenden Zuhörens schuf. Akzeptiert man ein vereinfachtes Raster, dann setzte sich diese Praxis um jeweils ein Jahrzehnt versetzt in den verschiedenen europäischen Metropolen durch. Während das Publikum in Berlin und in Norddeutschland seit den 1820er-Jahren, das in Paris um 1830 und das in Wien um 1840 begann, der Kunstmusik schweigend zuzuhören und unnötige Geräusche und Gespräche zu vermeiden versuchte, bot London wenigstens bis in die 1850er-Jahre hinein ein anderes Bild.91 Die »Allgemeine Wiener Musikzeitung« führte diese Angleichung des Geschmackes zwischen den Städten Europas auf die Klugheit der Deutschen zurück. Trotz vorhandener Differenzen orientierten sich alle europäischen Städte an Berlin und seinem musikalischen Bildungsvorsprung: »Gewohnheit ist eine der furchtbarsten Mächte, sie besiegt endlich die besten Anlagen, wenn sie diesen entgegen arbeitet. In Leipzig, Berlin, Breslau hört man eine Symphonie mit Ruhe und Aufmerksamkeit an, in Wien fällt dies dem großen 88 Vgl. Schönpflug, Luise von Preußen, 109–126, 164–174. 89 Brief an den Geheimen Rat Friedrich v. Müller vom 24.4.1819, aus: Gedenkausgabe, Bd. 23, 52. 90 Remarque, Im Westen nichts Neues, 14. 91 Vgl. außer Johnson, Listening; Hall-Witt, Representing, 121–144; Huebner, 206–225; Weber, people, 678–689.
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Publikum schwer; es ist nicht dafür herangebildet.« Diese deutsche »Vermehrung des Wissens« gäbe »eine feste Basis des allgemeinen Geschmacks. … Bei dieser Gelegenheit ist es wohl vergönnt, die Maßregeln, welche z. B. in Berlin zur Förderung eines allgemeinen Kunstgeschmacks getroffen werden, mit den hier ausgesprochenen Ansichten zu vergleichen. Berlin ist der Sammelplatz des norddeutschen Wissens«.92 Das neue Hörverhalten verbreitete sich in den europäischen Städten mit Hilfe einer erfolgreichen Werbung für diesen Lebensstil. Kenner und Kritiker warben für relevante Kompositionen, Interpreten und Veranstalter. Diese öffentliche wie private Werbung beschleunigte den Transfer in Europa. Dass die Attraktivität kultureller Normen durch ihre erfolgreiche internationale Übertragung wuchs, soll hier ein Vergleich zwischen Berlin und London zwischen 1850 und 1870 belegen. Es geht um die Verknüpfung von Werk, Werbung und Wirkung. Um den musikalischen Transfer in Europa zu zeigen, kommt man an Richard Wagners Wirkung nicht vorbei. Obwohl das Argument auf der Hand zu liegen und beinahe trivial erscheinen mag, muss auch im Zusammenhang mit dem neuen Hörverhalten im Musiktheater auf die besondere Rolle Richard Wagners in den europäischen Metropolen verwiesen werden. Die Musikdramen Richard Wagners entfalteten eine vergleichbare Wirkung in den Opernhäusern wie Ludwig van Beethovens Sinfonien in den Konzertsälen. Wagner selbst hatte die im Rahmen sinfonischer Konzerte entwickelten Verhaltensmuster auch für die Welt der Oper eingefordert und deren Verbreitung nach Kräften unterstützt.93 Gleichwohl scheint die Struktur der Wagnerschen Musik selbst das Publikum zum Zuhören und zum Schweigen motiviert zu haben. Von der Berliner Lohengrin-Premiere im Jahre 1859 schrieb der Rezensent der »Signale für die musikalische Welt«, er sei »von der angestrengten Aufmerksamkeit zu folgen ermattet«. Die Publikumsreaktion sei insgesamt überaus gemischt ausgefallen, viele Opernbesucher seien unzufrieden gewesen: »Man vermisst entschieden die Arie, die Cabaletta, den prallen und glänzenden Schluss der Musikstücke. Diese schmerzliche Entbehrung wird etwa so ausgedrückt: ›Ist Ihnen so etwas vorgekommen? Im Tannhäuser konnte man doch eine Sängerin applaudiren und herausrufen; kaum hat man aber hier angefangen zu klatschen, so trompeten auf der Stelle zwanzig Mann und die Geschichte geht gleich weiter – eine solche Oper kann bei uns kein Glück machen, die Künst92 AWM, 2 (1842), 244 f. 93 Vgl. zur Wagnerrezeption im europäischen Kontext die Beiträge in Large/Weber (Hg.), Wagnerism; Jung, Rezeption; zu Frankreich Hirsbrunner, Wagnerisme, 88–93.
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ler wollen doch vom Publikum ermuntert werden‹.« Offenbar befremdete und faszinierte Wagners Werk in gleichem Maße und stimulierte langfristig eine erweiterte Bewertung musikalischer Aufführungen.94 Der vergleichende Blick über den Ärmelkanal ergibt einen ähnlichen Befund. Das sich im deutschsprachigen Raum und im kontinentalen Europa etablierende Hörverhalten setzte allmählich auch in England neue Maßstäbe – wenn auch um eine ganze Generation verzögert. Von Deutschland zu lernen, bedeutete für viele gebildete Briten, einen verbesserten Geschmack zu lernen. Bis zum Ende des 19. Jahrhundert klagten englische Kritiker und Musikliebhaber bitter über das eigene vergnügungssüchtige und unbeherrschte Publikum. Aus ihrer Perspektive heraus betrachtet, hatte das englische Publikum dringend ein verfeinertes musikalisches Verhalten zu erlernen – zumal das aus Deutschland.95 Von der Rezeption der Musikdramen Wagners in London gingen offenbar ähnliche Wirkungen wie im deutschsprachigen Raum aus. Ein durchaus irritierter Leser des britischen Fachblattes »Musical World« empörte sich im Jahre 1877 über die in seinen Augen immer noch ganz unangebrachten Beifallsbekundungen während einer Wagneraufführung in Covent Garden. Gleichzeitig verdeutlicht sein Bericht aber auch die offenkundig nicht immer ganz freiwillige Disziplinierung des Londoner Publikums. Denn ein bekennender Anhänger der Werke Wagners gab dem an unpassenden Stellen applaudierenden Publikum lautstarke Anweisungen, wann es zu schweigen und wann es zu klatschen habe: »Gestern Abend, beim Finale des ersten Akts des Tannhäusers, begann das Publikum wie gewohnt mit dem Applaus, bevor der Gesang vollends verstummt war. Dabei erregte ein Herr Aufsehen als er das, seiner Meinung nach geschmacklose, Publikum ermahnte und lautstark schrie: ›Ruhe!!!‹ Kurz darauf rief er (nachdem das Orchester aufgehört hatte zu spielen): ›Jetzt!!!« Darauf ging er mit gutem Beispiel voran und applaudierte heftig. Kann denn Mr. Gye [der Manager – SOM] nicht einen Signalmast installieren, der den Leuten zeigt, wann sie leise zu sein haben und wann sie ihrem Enthusiasmus freien Ausdruck verleihen dürfen?«96 94 Signale, 17 (1859), 57, 59. Vgl. die politische und emotionale Perspektive bei Müller, Wagner. 95 Die MT, Juli 1897, 448 f., klagte: »Irgendeine harte Strafe – sagen wir, vierzehn Tage Gefängnis – sollten über diejenigen Herren verhängt werden, die darauf bestehen, in Mitten eines Liedes oder eines Instrumentalstücks lauthals ›Bra! Bra!‹ schreien zu müssen. Dieses Geräusch klingt wie das Brüllen eines zornigen Gorillas.« 96 MW, 23.6.1877, 431 (Herv. i. Orig.). Das war kein seltener Vorfall. 1860 empörte sich ein Wiener Musikkritiker darüber, dass das Publikum nach der Ouvertüre von Luigi Cherubinis Anacreon sich dermaßen begeistert habe, dass man den Schlussteil nicht hören konnte, weil er ganz »mit Lärm und Applaus überdeckt war«. Zit. n. Gay, Macht, 27.
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Kein anderer als Richard Wagner selbst erklärte in seiner Schrift »Oper und Drama« den Hörer zum »organisch mitwirkendem Zeugen«, ja zum »nothwendigen Mitschöpfer des Kunstwerks«.97 Nachdem die englischen Kritiker wie das breitere Publikum lange mit Wagners Musik wenig anzufangen vermochten, setzte nach 1870 ein regelrechter Wagnerboom ein. Bei den Aufführungen seiner Werke war auch hier eine erstaunliche Wirkung auf das Publikumsverhalten zu beobachten. Bereits 1875 verwies die »Times« anlässlich der (italienischsprachigen!) Londoner Lohengrin-Premiere in Covent Garden auf eine wichtige Besonderheit der Musik, die eben gerade durch ihren dauernden Fluss den Besuchern keine Unterbrechungen ermöglichte: »Die Mehrheit des vielleicht größten Publikums, dass jemals in Covent Garden zusammengekommen ist, war tief beeindruckt. In einem Werk wie dem Lohengrin gibt es praktisch keine Pausen für gesonderten Applaus und jeder Akt schließt natlos an den vorherigen an.«98 Als London im Jahre 1882 die erste Aufführung des Ring des Nibelungen im Her Majesty’s Theatre erlebte, zeigte sich das Publikum nicht nur beeindruckt, sondern von Wagners Musik ganz offenbar in den Bann geschlagen – schweigend. Nicht ohne Erstaunen hielt die »Morning Post« fest: »Während der Aufführung wurde der Applaus kontrolliert und konnte sich nur am Ende einer Szene voll entfalten. Alles wirkte neu und faszinierend. Als sich nach dem Vorspiel der Vorhang öffnete und den Blick auf die wunderschöne Szenerie am Grund des Flusses preisgab, auf die Nixen oder Rheintöchter, die auf der Flut daherglitten, ging ein anerkennendes Raunen durch das Publikum – aber nicht mehr, weil alle vom Verlauf der Geschichte wie gebannt waren.«99 Zehn Jahre später beobachtete die »Illustrated London News« während einer Vorstellung von Siegfried in Covent Garden die gleiche konzentrierte und stille Aufmerksamkeit des englischen Opernpublikums, die durch ein abgedunkeltes Auditorium noch zusätzlich verstärkt worden war.100 Für Richard Wagners Wirkung auf das Hörverhalten des Opernpublikums in Europa gab es zahlreiche Ursachen. Auch Wagners Karriere war ein Produkt des 19. Jahrhunderts – seine Leistungen ragten aber über die geltenden gesellschaftlichen Spielregeln weit hinaus. Neben dem Geniekult um den Bayreuther »Meister«, der ungekannten dramatischen Qualität seiner Opern 97 Wagner, Oper und Drama, in: ders., Schriften, Bd.4. 192, 186. Vgl. Müller, Wagner; 90– 100; Danuser, Interdependenz, 165–177; Grossmann-Vendrey, Wagner, 255–268; Müller, Wagner; Münkler, Richard Wagner, 549–566. 98 TI, 10.5.1875. 99 MP, 6.5.1882. 100 ILN, 18.6.1892, 747.
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und ihrer faszinierenden Geschichten muss in erster Linie der fortwährende Fluss seiner Musik genannt werden, der keinen Raum mehr für unangebrachten und lautstarken Enthusiasmus ließ, wie ihn die viel kürzeren Arien und Ensembleszenen in früheren Opern noch herausgefordert hatten. Dem Publikum war es nicht mehr möglich, sich von der Musik abzukehren, denn Wagners Musik kam nie an ein Ende. Die Abdunkelung des Auditoriums verstärkte die Konzentration des Publikums zusätzlich. Bereits 1876 verärgerten den Chef des preußischen Militärkabinetts Emil von Albedyll die Bedingungen der Uraufführung des Ring des Nibelungen in Bayreuth. In einem Brief an seine Frau schrieb er, dass die Kombination von baulicher Reduktion und musikalischer Konzentration das Opernpublikum im Festspielhaus diszipliniert habe. »Die Vorstellung gestern war in jeder Beziehung sehr merkwürdig. … Es macht … einen sehr eigentümlichen Eindruck, daß man gar nichts von der Musik sieht und daß der ganze Zuschauerraum dunkel ist. Auch ist komisch, daß alles Publikum mit dem Gesicht nach der Bühne und niemand nach den Seiten zu sitzt. … Die Musik ist mir unverständlich und den Text finde ich entsetzlich.«101 George Bernard Shaw gelangte in seinem Urteil über die habituelle Disziplinierung des Publikums zu einem ähnlichen Urteil. Selbstredend bewunderte er Wagners Musikdramen und das neue konzentrierte Publikumsverhalten, beklagte aber, dass die Selbstdisziplinierung die Zuhörer nicht nur intellektuell herausfordere, sondern auch körperlich belaste. »Die An strengung des gründlichen Hörens ist so groß, dass, wenn die Konzentration ihren Höhepunkt erreicht – so wie in Bayreuth, wo außer der Bühne nichts zu sehen ist, was eine sehr hohe Beobachtungsintensität erzeugt – man aus einer zwei Stunden Schicht, wie dem letzten Akt der Meistersinger, in einem un beschreiblichen Zustand der Erschöpfung herauskommt.«102 Die Werke Wagners in London aufzuführen, war keine strategische Entscheidung deutscher Bildungsbürger. Wagner selbst kam auf die Idee, in dieser Stadt seine hohen Schulden zu begleichen. Aber die Konzerte und die folgenden Opernaufführungen halfen, das Publikum nach den Maßstäben aus Deutschland zu beeinflussen und die Hörer nach den neuen musikalischen Idealen zu erziehen. Im Rückblick aus dem Jahre 1902 ließ die »Musical Times« keinen Zweifel an der disziplinierenden Wirkung Wagnerscher Musikdramen. Denn erst die Einflüsse aus Berlin und Bayreuth hätten aus dem unkonzentrierten englischen Publikum – egal ob im Opernhaus oder im Konzertsaal – gute Zuhörer gemacht: »Oft schon wurde darüber diskutiert 101 Albedyll-Alten, Hannover und Preußen, 291; Vgl. Müller, Wagner, 25–48. 102 Shaw, Music in London, 9.6.1894, 210 f.
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das Publikums zu erziehen, gute Zuhörer zu erschaffen. … Es geht darum, den Leuten beizubringen, dass das Hauptziel eines Konzertbesuchs das Hören von Musik ist. … Wenn die Leute, die ins Konzert gehen, dies doch nur täten, um Musik zu hören, ich hätte wenig Zweifel daran, dass die Bayreuther Methoden sehr bald allgemeiner Konsens wären und in unseren Konzertsälen nachgearmt würden. Vollkommene Stille während ein Stück gespielt wird, und ein Zuschauerraum, der hinreichend abgedunkelt ist, damit weder Erscheinung noch Bewegung der Sitznachbarn ablenkend wirken. Dies wurde in Bayreuth erreicht, und in vielen anderen Häusern, die Bayreuth imitieren.«103 Nun lässt sich, streng methodisch betrachtet, kein kausaler Nexus zwischen dem schweigenden Hörverhalten in England und der Wirkung bestimmter Musikstücke deutschsprachiger Provenienz ausmachen. Das ist wahrscheinlich aber gar nicht die entscheidende Frage. Vielmehr glaubten viele die Musik liebende Briten spätestens an der Wende zum 20. Jahrhundert, dass ihr Hörverhalten nachhaltig von deutschen Werten und deutscher Musik geprägt worden war. Und auch wenn die Musik italienischer Komponisten erklang, hatte man dieser adäquat, mithin schweigend zu folgen und sprach von dem herrschenden »custom borrowed from Germany of observing silence until the end of the act«.104
Zwang und Selbstzwang disziplinieren das Publikum Der Erfolg des kontrollierten Musikkonsums ist auch dadurch zu erklären, dass ein neuer Geschmack die Herausbildung eines neuen Habitus erleichterte. Gerade das bildungsbürgerliche Publikum verteidigte seine soziale Praktik der Selbstkontrolle als einen distinktiven Lebensstil. Der Geschmack des Schweigens korrespondierte mit der erforderlichen Selbsterziehung der Hörer, mithin mit dem sozialen Habitus vieler Bildungsbürger. Musikalische Aufführungen stellten Möglichkeiten zur Verfügung, mit Hilfe derer man sich als geschmacklich versierter und damit sozial vorbildlicher Kenner ausweisen konnte. Die Kategorie des Geschmacks beschreibt nicht nur Präferenzen des Publikums, sie ist selbst eine Ressource der Deutung, ein Distinktionsmittel, um gesellschaftliche Positionen zu erreichen. Der Geschmack verwandelt nach Pierre Bourdieu Beobachtungen in »distinkte und distink103 MT, August 1902, 523. Vgl. Müller, Hörverhalten, 198–212. 104 MP, 21.5.1913. Vgl. zur Auswirkung der Werke Richard Wagners in Paris die Beobachtungen von Hector Berlioz, Schriften, 68–77.
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tive Zeichen, der kontinuierlichen Verteilung in diskontinuierliche Gegensätze«.105 Die Entstehung geschmacklich begründeter Distinktion ist dabei nicht nur durch die Institutionen und die Lernbedingungen bestimmt, sondern wenigstens anteilig auch eine persönliche Auswahl. Die Bestimmung der vermeintlich »richtigen« Musik und des »richtigen« Hörverhaltens existieren dadurch, dass diese Phänomene den Menschen gefallen. Ob Beethovens oder Mahlers, ob Rossinis oder Wagners Werke durch das Publikum »verstanden« werden können, ist hier nicht die entscheidende Frage. Entscheidend ist, ob Musik und deren Interpreten öffentlich gefielen. Den Geschmack als ein Gebildeter zu praktizieren, ist ein Versuch der Kommunikation – mit all den dadurch initiierten Möglichkeiten und Zwängen. Individuelle Strategien sind in die kollektive Struktur der Aufführungen eingebunden. In praktisch endlosen öffentlichen Variationen nutzte das Publikum seine Darstellung zur Bekräftigung seiner Distanz gegenüber Ungebildeten. Das Wissen um eine geschmackvolle Dekodierung der Werke war eben eine Rezeptionsform, welche die Herausbildung eines sozialen Habitus der Elite erleichterte. Die verfeinerten kulturellen Regeln ermöglichten die Aufnahme der Zuhörer mit Geschmack und den Ausschluss derjenigen ohne. Das Distinktionskriterium des Geschmacks stellte eine potenzielle soziale Gemeinschaft innerhalb der Musikkenner her und verweigerte diese denjenigen, die den Regeln nicht folgten. Geschmack zu zeigen, bedeutete, eine despotische Prozedur der Auszeichnung zu durchlaufen, um sich in der Öffentlichkeit als musikalischer Kenner auszuweisen. Das Publikum formierte sich neu, indem es entzückt den Lärm zur Unanständigkeit und das Schweigen zur Anständigkeit erklärte. Die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Konvention endete nicht allein darin, die kulturellen Fehler der Ausgegrenzten zu übersehen, sondern führte ab einem bestimmten Zeitpunkt auch dazu, die Ausgegrenzten selbst nicht mehr zu bemerken.106 Seit den 1820er-Jahren unterstrichen Tageszeitungen und Fachzeitschrif ten verstärkt die gesellschaftliche Bedeutung des Geschmacks. Zu geschmackvollen Werken avancierten die Sinfonien von Haydn, Mozart und Beethoven, zum geschmackvollen Umgang das aufmerksame und schweigende Publikumsverhalten. Im folgenden Urteil aus dem Jahre 1831 wird bereits ihr konkurrenzloser Rang deutlich: »Dergleichen ist sehr schätzbar, denn es verbreitet den guten musikalischen Geschmack immer weiter. Mit 105 Vgl. zur Definition des Geschmacks Bourdieu, Unterschiede, 277–399 (Zit. 284); Hennion, Music Lovers, 1–22; Gebesmair, Grundzüge, 16 f., 47–75; Dentith, Society, 8–25, und bereits Veblen, Theorie, bes. 119–163. 106 Vgl. Stendhal, Rom, Neapel, Florenz, 270–273; Ellis, Structures, bes. 356–368; Bourdieu, Soziologie, 196–201.
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wahrem Vergnügen haben wir es erlebt, dass die Theilnahme welche bei anderen Musikstücken ganz zertheilt und gleichgültig war, bei der Ausführung der Symphonie in C-moll von Beethoven förmlich gespannt wurde.«107 Der Ruhm Beethovens wurde europaweit besungen, der Wert seiner Sin fonien und auch seiner Oper Fidelio, so glaubten ironischerweise auch Londoner Journalisten, habe England zuerst erkannt und gefördert. Es sei genau die Eintracht der Leistungen des Komponisten mit den Leistungen des Publikums, welche zum musikalischen Fortschritt führe – »likely to increase with the progress of musical taste«.108 Das öffentliche Interesse an der Musikkultur schuf eine Konkurrenz situation. Denn der Glaube an den hohen Wert der Musik lag den vielfältigen Regeln musikalischer Aufführungen zugrunde und erzeugte ständig einen neuen Wettbewerb.109 Aus Wien hieß es zu den geschmacklich begründeten Konflikten in Zeiten des neuen Publikumsverhaltens: »Leicht begreiflich ist es, wie innig Cultur, Kunstsinn und Geschmack verflochten sind. … Bei der Production eines (wirklich oder angeblich) classischen Tonwerkes ent spinnen sich nun förmliche Kämpfe zwischen den musikalischen Secten; da haben Gewohnheit, Vorurtheil, Widerspruchsgeist, Individualität und Nationalität freien Spielraum.«110 Bereits 1848 veröffentlichte die »Allgemeine Musikalische Zeitung« eine Liste der aufgewerteten und der abgewerteten sinfonischen Werke. Diese Skala rühmte nicht nur die Leistungen bereits verstorbener Meister gegenüber den Produkten Lebender. Sie kennzeichnete auch mit einem Fragezeichen »moderne« Komponisten und ließ die Liste diffamierend mit Werken von Meyerbeer und Rossini auslaufen. Nicht frei von Ironie veröffentlichte man diese Skala als ein Thermometer, an dem die Temperaturgerade die Gunst des Publikums zeigte. Diese Klassifizierung belegt, dass hier die Qualität eines Werkes mit der Intensität körperlicher Erregung in eins gesetzt wurde. Erst die Leidenschaft und die Leidensfähigkeit des Menschen sicherten mithin den Rang der Kunstmusik. Charakteristisch für diesen emotionalen Bauplan war seine Deutungsoffenheit. Über die unterschiedlichen Emotionen, welche die Werke auslösten, ließ sich gleichzeitig klug verhandeln oder spontan streiten. Deshalb unterschieden sich emotionale Bewertungen oft wenig von intellektuellen Urteilen. Das verstärkte die soziale Geltungsmacht emotionaler Beschreibungen. 107 Iris, 2 (1831), 136. Vgl. Kropfinger, Klassik-Rezeption, 301–379 und zum Konzept der »Klassik« Schulz/Doering, Klassik. 108 MC, 6.8.1832. Vgl. MT, August 1876, 551. 109 Vgl. Meyer, Taste, 35 f.; Bourdieu, Unterschiede, 387–391. 110 AWM, 2 (1842), 278.
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»Thermometer der Symphonie-Soiréen Siedepunkt. 80 Gr. Weber (Freischütz, Oberon) 75 Gr. " (Euryanthe) 60 Gr. Finale’s von Haydn 60 Gr. Scherzo’s von Mendelssohn 50 Gr. Trauermarsch der Eroica 50 Gr. Finale der C-moll-Symphonie Blutwärme. 32 Gr. Haydn 23 Gr. Beethoven 20 Gr. Mozart 18 Gr. Mendelssohn Temperirt. 15 Gr. Cherubini (?) – Spohr (?) – Onslow (?) ½ Gr. Gade (C moll-Symphonie) Gefrierpunkt. 0 Gr. Neueste deutsche Komponist. 5. Gr. Struensee-Ouvertüre d. Queckslb. Gefriert 32 Gr. Belagerung von Korinth«.111
Der Lernprozess der Musikliebhaber, ja, die eigentliche Entstehung von Hörern, erfolgt durch eine kollektive Belohnung und ist gepaart mit gleichzeitiger Kontrolle und Strafe. Verhaltensweisen entstehen aus Wechselbeziehungen, weil Hörer in Gruppen, Gruppen in Institutionen eingebettet sind. Teilweise offen bleibt die Frage, was im Verhalten der Menschen der Alltag, was der Zweck und was das Ziel ist. Sicher scheint, dass der Lernstoff des Hörenlernens, der Erwerb neuer sozialer Praktiken in kleinen, sich wiederholenden und oft alltäglichen Untereinheiten gegliedert ist. Belohnung und Kontrolle schaffen durch häufige und viele kleine Schritte das, was Menschen als Fortschritt erkennen mögen.112 Dass es auch Überwachung und Strafe waren, die die Hörer disziplinierten, belegt ein Londoner Pressebericht über ein Konzert des Geiger Charles Philipe Lafont: »One-half of the hall acted as police, so to speak, and demanded silence.«113 Die Entstehung des distinguierten Hörverhaltens in Europa beruhte auf Fremd- und Selbstzwängen. Stärker als zuvor oder danach mühten sich Hörer um die Beherrschung einer vermeintlich unbeherrschbaren Ordnung: um die Kontrolle ihrer Affekte, die Steuerung ihrer Praxis, die soziale Strategie des Opern- und Konzertbesuches. Die ritualisierte Positionierung im Musik111 Ebd., 146 f. (Herv. i. Orig.). Vgl. auch Schroeder, Haydn and the Enlightenment. 112 Ein Erklärungsmuster zum Verhandlungsprozess musikalischer Aufführungen, zur Koppelung von Vorhersage und Kontrolle könnte in Burrhus F. Skinners Modell zum Behaviourismus liegen. Im Publikum sind demnach Reizreaktionen und ihre nachfolgende Aneignung zu erkennen. Skinner, Wissenschaft und menschliches Verhalten. 113 Zit.n. Johnson, Silence, 179
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leben verlangte das Erlernen und die öffentliche Darstellung komplizierter und aufs Feinste abgestimmter Verhaltensmuster: Von der Auswahl der Aufführung bis zur Wahl der eigenen Abendgarderobe, von der Bewegung im Auditorium bis zur Kontrolle des Körpers. Die Disziplinierungsmacht nonverbaler Umgangsformen überlagerte oft den sprachlichen Anstandskanon. Aufführungen von Musik waren Elemente einer neuen Kommunikation in pluralen Gesellschaften, durch die sich im Laufe der Zeit festere Gruppen herausbildeten.114 Erklären die Werturteile des gebildeten Kenners die Erfindung des Schweigens? Auf diese Frage ist eine eindeutige Antwort bislang noch nicht gefunden worden. Vieles spricht dafür, dass die gegenseitige Kontrolle der Eliten ein neues Publikum hervorbrachte. Ein wichtiger Erklärungsansatz zur Veränderung des Publikumsverhaltens liegt aber in den Kategorien von Norbert Elias, der einen »Prozess der Zivilisation« beschrieb.115 Mit Blick auf das frühneuzeitliche Europa hat Elias den wachsenden Einfluss der individuellen Selbstkontrolle und den Rückgang spontaner Affektausbrüche in der Öffentlichkeit als eine Form von wechselseitigem Selbstzwang bezeichnet. Diese Entwicklung war keinesfalls das Verdienst einer einzelnen Klasse oder Gruppe, sondern resultierte aus der gegenseitigen Reaktion vorher vielleicht getrennter Berufe, Geschlechter und Konfessionen in öffentlichen Räumen aufeinander. Die Konzert- und Opernhäuser des 19. Jahrhunderts erfüllten genau diese Funktion als Orte, in denen Musikhörer zunehmend vom Urteil der Anderen abhängig und so für das eigene Verhalten sensibilisiert wurden. Die beinahe gleichen Besucher kamen häufiger zu denselben Orten, hörten die gleichen Werke derselben Interpreten. Diese Angleichung und die engere Bindung aneinander resultierten in erster Linie aus den wechselseitigen Beobachtungen der Menschen. Die relative Autonomie einzelner Konzertbesucher sank durch die regelmäßige Ausrichtung an anderen und die gegenseitige Abhängigkeit von anderen Zuhörern. Das Publikum des 19. Jahrhunderts bildete sich in erster Linie als ein Produkt vieler voneinander abhängiger Individuen. Eben weil durch diesen sozialen Zwang der Selbstkontrolle sich das individuelle Benehmen zunehmend anglich, wuchs die Aufmerksamkeit für eine gemeinsame Vertrautheit innerhalb der eigenen Welt – für verfeinerten Geschmack, für differenzierende Gesten und eben auch für »schwei114 Vgl. Finnegan, Music, 181–192; Weber, people, 683. 115 Elias, Prozeß. Vgl. Sennet, Fall; ders., Conscience. Zur kulturwissenschaftlichen Einordnung vgl. Daniel, Kompendium, 254–269; und zur musikwissenschaftlichen Perspektive insges. Goffman, Theater, bes. 189–215; Small, Musicking; Leppert, Music, 71–106; Welsch, Weg, 29–47.
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gende« Verhaltensmuster. Die sich angleichende neue Anonymität im Publikum erschwerte es selbstredend, andere Zuhörer persönlich kennenzulernen und behinderte das private Gespräch und das störende Herumlaufen während der Vorstellung.116 Die gegenseitige Wahrnehmung im Auditorium verstärkte Gefühle von Scham und beförderte ein neues kontrolliertes Hören von Musik. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte das Publikum eine solche Aversion davor, in seinen Musiktempeln in Verlegenheit zu geraten, dass es sich zunehmend von der Last möglicher negativer öffentlicher Beurteilung, vom Ausleben eigener Lust und lautstarken Handlungen befreite – und sich in das Schweigen zurückzog. So sehr gebildete Musikliebhaber auch von der verklärenden »Verinnerlichung« ihrer abendlichen Teilhabe schwärmten, relevant war die Entscheidung, die eigenen Grenzen des Körpers, der Gestik und der Sprache in der Öffentlichkeit zu kontrollieren. Dieser Selbstzwang Gefühlsäußerungen oder Spontaneität zu disziplinieren, kann als eine Stufe des wachsenden Selbstbewusstseins verstanden werden. Die gezeigten Strukturen und Erfahrungen nutzte das Publikum als soziale Chancen in der Gesellschaft – mit offenem Ausgang. Die Verlaufsformen des Redens und des Schweigens zeigten immerhin, inwieweit auch Schweigen ein Gespräch darstellt. Durch bewusste Demonstration kann auch Schweigen beredt sein. Denn die Kommunikation in den Konzert- und Opernhäusern war mit guten Gründen auch deshalb so intensiv, weil sich die einander Wahrnehmenden nicht auf hörbare Gespräche einließen. Die Funktion von Musik wandelte sich daher, und zwar nicht nur, weil die notierten Werke sich änderten, sondern – konzeptionell erklärt – weil sich das Hörverhalten in Gesellschaften veränderte. Nicht einmal neu entstehende Musik und die musikalische Rezeption allein erklären diesen Wandel. Wahrscheinlich ist es das Zusammenspiel mehrerer aufeinander verweisender Faktoren: Werk und Aufführung, Praxis und Distinktion, Emotion und Kommunikation.117 Hätte der Fürst Hermann von Pückler-Muskau sich am Ende seines Lebens im Jahre 1871 noch einmal auf eine Europareise begeben können, wären ihm signifikante Unterschiede im Benehmen des Publikums innerhalb Westeuropas kaum aufgefallen. Bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts 116 Bereits der Harmonicon, 2 (1824), 145, wunderte sich darüber, dass günstigere Eintrittspreise für ein neues Konzert das Publikum anonymisiere, man neue Leute sehe, »whom one did not recognise«. 117 Vgl. Johnson, Listening, 228–238, 281–285; Gebesmair, Grundzüge, 15–18; Gratzer, Motive, 9–31; Ellis, Structures, 343–370; Weber, Redefining, 507–532; Balet/Gerhard, Verbürgerlichung, 334–394, 468–481; Daniel, Hoftheater, 126–157; Owzar, Reden, 20–32.
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hatte sich das Hörverhalten in den Konzert- und Opernhäusern weitgehend angeglichen. Der zunehmende Kulturtransfer verstärkte die Konvergenz der musikalischen Praktiken. Auch wenn auf der Ebene der musikalischen Genres und der Geschmacksmuster nach der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Pluralisierung nachweisbar ist, deuten die sozialen Praktiken und das Konsumverhalten der Hörer in eine andere Richtung.118 An der Wende zum 20. Jahrhundert vereinte der Kauf einer Schallplatte die Hörer nicht nur kommerziell, er trennte auch »Gebildete« und »Ungebildete«, etwa Bildungsbürger und Handwerker, voneinander. Die neue Klangtechnik und die Rezep tionsform isolierten Sender und Empfänger gleichermaßen und verstärkten die Passivität der Hörer.119 Die Veränderung zwischen 1820 und 1860 kann man als eine kulturelle Modernisierung begreifen. Die bürgerlichen Eliten glaubten jedenfalls, das Musikleben zum Nutzen der Gesellschaft in Ordnung zu bringen, es nach einem »modernen« Modell umbauen zu können. Doch das erklärt allein nicht den Fortbestand einer einhundertfünfzig Jahre alten musikalischen Praxis bis hinein in die Gegenwart. Beförderte die Disziplinierung des Hörverhaltens im 19. Jahrhundert die Krise der Kunstmusik und der Musikrezeption im 20. Jahrhundert? Die Verfestigung der immer gleichen Werke verstorbener Komponisten im Repertoire, die sich angleichenden Aufführungen, Institutionen und Publika sprächen dafür. Die gesellschaftliche Reichweite dieser Normierung gilt bis heute. Die Erinnerungsspur an das wiederholt und kollektiv Gehörte wirkt, gerade weil vermeintlich gebildete Musikhörer durch die öffentliche Bewertung der Kunst ihren sozialen Status unterstreichen. Eindrucksvoll wird dieser Zusammenhang von Geschmack und Distinktion in einem WDR-Experiment aus dem Jahre 1977 dokumentiert. Dreimal wurden die letzten beiden Minuten des Finales aus der vierten Sinfonie Es-Dur von Anton Bruckner in einer Schallplatteneinspielung geboten. Die Hörer hatten die Qualität und die Unterschiede der Dirigate von Karl Böhm, Leonard Bernstein und Herbert von Karajan zu vergleichen. Vor allem die Kenner aus dem Bildungsbürgertum folgten dem geltenden Dirigentenkult und begründeten in aller Ausführlichkeit die verschiedenen Interpretationen mit Hilfe ihres erworbenen Musikgeschmackes. Angestellte und Arbeiter verfügten über dieses soziale Privileg des Geschmackes anscheinend kaum. Sie zählten zu den 18,3 Prozent der 563 Versuchsteilnehmer, die angaben, keine Unterschiede zwischen den drei 118 Vgl. Burke, Kultureller Austausch, 9–40; François, Lieux de Mémoire, 290–303. 119 Das ist ein tragendes Argument von Picker, Soundscapes, bes. 142–145. Vgl. Torralba, Kunst des Zuhörens.
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Einspielungen gehört zu haben. Damit hatten nur sie Recht. Ihr höherer Status täuschte die Gebildeten über die Tatsache hinweg, dass sie wie alle Versuchspersonen ein und dieselbe Aufnahme gehört hatten.120 In der musikalischen Hochkultur besteht die schweigende Kommunikation auch im 20. Jahrhundert. Der amerikanische Avantgardekomponist John Cage erfand noch 1952 das Schweigen aufs Neue. Er schuf eine neue Lautwelt außerhalb seiner Komposition. Ein Musiker setzt sich an einen Flügel und nimmt die Spielhaltung eines Pianisten ein. Das anwesende Publikum erwartet Töne aus dem Instrument, doch es hört nichts. Genauer: In Cage dreisätziger Komposition »4’33« (Tacet) hört das Publikum nur die selbst erzeugten Töne, denn die Komposition besteht lediglich aus der zeitlich exakt bemessenen Zäsur, nach deren Ablauf der Pianist schweigend den Saal verlässt.121 »Heute war das Publikum wieder ziemlich untalentiert«, erkannte der französische Schriftsteller und Regisseur Jean Cocteau. Denn die Frage ist, ob das Publikum seit dem 19. Jahrhundert durch seine am Ende erfolgreiche Selbstkontrolle mehr kulturelle Probleme schuf, als es löste. Der Preis, den die Musikliebhaber für diese Umwertung ihres Objektes der Begierde bis heute zahlen, ist hoch: Durch den beschriebenen Wandel gewann das europäische Publikum vielleicht neue musikalische Einsichten, büßte dafür aber viel vom spontanen Genuss musikalischer Erlebnisse ein. Es gewann an Geschmack, was es an Unterhaltung verlor.
2. Saalschlachten: Prügelnde Bürger und streitende Adelige Die Erfindung des Schweigens war eine markante und bis in die Gegenwart nachwirkende Veränderung. Das Publikum entschied sich Mitte des 19. Jahrhunderts für ein neues Verhalten und lernte um – miteinander gegen ein vermeintliches Durcheinander. Die Geschichte des Disziplinmangels und der 120 Vgl. zu diesem Musikexperiment Rösing/Petersen, Orientierung, 19 f., 83 f. Hilfreich ist auch die literarische Perspektive von Eugen Roth, Ein Mensch, 48, in seinem Gedicht »Der Kenner«: »Ein Mensch sitzt stolz, programmbewehrt, in einem besseren Konzert, fühlt sich als Kenner überlegen – die anderen sind nichts dagegen. Musik in den Gehörgang rinnt, der Mensch lauscht kühn verklärt und sinnt. Kaum daß den ersten Satz sie enden, rauscht er schon rasend mit den Händen und spricht vernehmliche und kluge Gedanken über eine Fuge und seufzt dann, vor Begeisterung schwach: ›Nein, wirklich himmlisch, dieser Bach!‹ Sein Nachbar aber grinst abscheulich: ›Sie haben das Programm von neulich!‹ Und sieh, woran er gar nicht dachte: Man spielt heut abend Bruckners Achte. Und jäh, wie Simson seine Kraft, verliert der Mensch die Kennerschaft.« 121 Vgl. Sonnenschein, Schweigen, 30–37.
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Lautstärke im Zuschauerraum schien damit abgeschlossen zu sein. Doch auch die kulturelle Regel der emotionalen Selbstkontrolle hat wie jede Regel ihre Ausnahme: Saalschlachten. Über Jahrzehnte hinweg plagten das europäische Musikleben lautstarke verbale Skandale und handfeste nonverbale Saalschlachten während der Aufführungen. Es gab vielfältige Ursachen für die gelegentlich gewaltsamen Publikumsreaktionen: Man verlangte etwa die Absetzung oder das Engagement bestimmter Künstler, ärgerte sich über das Repertoire wie über die Kartenpreise oder feierte exzessiv die eigene Gemeinschaft. Wenigstens bis in die 1850er-Jahre hinein nutzten die Besucher vor allem die Opernhäuser und seltener die Konzertsäle, um öffentlich sowohl ihren Beifall als auch ihr Missfallen zu demonstrieren. Diese Ausschreitungen wurden akzeptiert, ja oft gewünscht, und sind deshalb erklärungsbedürftig. Schließlich waren musikalische Aufführungen von der Zusammensetzung ihres Publikums, von ihrer äußeren Ordnung und ihrem inneren Ablauf auf die Erzeugung von Distinktion und Konsens angelegt. Saalschlachten verletzten die Regeln des neuen Hörverhaltens, weil Adel, Bürgertum und Kleinbürgertum sich gleichermaßen körperlich ereiferten. Diese Paradoxie steht aber vor allem aus heutiger Sicht im Widerspruch zur gleichzeitigen distinguierten Selbstinszenierung von Benehmen und Geschmack. Zum einen betrachteten die meisten Musikliebhaber eine lebhafte Anteilnahme am Geschehen auch noch um 1850 als angemessenes Verhalten. Zum anderen galt der Musikkonsum weithin als akzeptiertes Ventil für die Domestizierung und für Gefühlsausbrüche in einer Gesellschaft, deren soziale Etikette und politische Reglementierung den Eliten andersartige Übertretungen immer seltener erlaubten. Im Publikum bestanden Selbstkontrolle und Saalschlachten noch lange Zeit nebeneinander fort. Tumulte und Rangeleien im Musikleben waren beinahe an der Tagesordnung, ernsthaftere körperliche Gewalt geschah dagegen relativ selten. Beide Verlaufsformen zeigten die anfängliche Parallelität von musikalischer Popular- und Hochkultur, eine Ausdifferenzierung und das allmähliche Verschwinden körperlicher Auseinandersetzungen. Typologisch betrachtet sind daher Saalschlachten von den Musikskandalen zu unterscheiden. Das heißt, Gewalt und Ausnahmehandlungen müssen streng genommen vom Spott getrennt werden. Verbreitet waren Saalschlachten und Skandale im Publikum, das auf diese Weise seine sozialen Chancen und Grenzen kenntlich machen konnte, seine Normen zu verfestigen oder zu verändern suchte. Ebenso war der Moment der Aktualität, der Ärger über eine musikalische Aufführung gleichermaßen Auslöser für Saalschlachten und für Skandale.122 Dieser 122 Vgl. zur Definition Eybl, Befreiung, 15–18.
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Abschnitt handelt vom Streit über Genuss und Unterhaltung, von politischen und sozialen Demonstrationen sowie vom Kampf um kulturellen Konserva tismus. Diese Verlaufsformen vollzogen sich zeitversetzt. Im frühen 19. Jahrhundert wünschte sich das Publikum geradezu Unruhen, ab 1850 lehnte es Tumulte ab oder begann sie zu bekämpfen. An der Wende zum 20. Jahrhundert schließlich gab es kaum noch gewaltsamen Querelen im Konzertbetrieb. Die Analyse desjenigen Publikumsverhaltens, welches von der Norm der kontrollierten Selbstinszenierung abweicht, ist deshalb besonders aufschlussreich, weil durch den Blick auf Ausnahmen im Umkehrschluss die geltenden sozialen Regeln umso deutlicher werden. Saalschlachten sind gute Fallbeispiele für die gruppenbildende Wirkung emotionaler Praktiken. Nicht nur die geteilten Präferenzen in Fragen des Geschmacks, auch die physische und psychische Teilnahme an Saalschlachten verbanden Bekannte und Fremde zu Gruppen. Mochten die Opern- und Konzertbesucher sich auch streiten und schlagen – genau diese gemeinsamen Handlungen und Gefühle konnten sie voneinander erwarten. Unruhen machten aus Musikfreunden nicht nur Gegner, sondern auch Partner. Denn an Handgreiflichkeiten Anteil zu nehmen, hieß nicht unbedingt, soziale oder politische Konflikte zu evozieren.123 Dienten die Ausschreitungen primär der persönlichen Unterhaltung oder zielten sie auf die Bestätigung oder die Gefährdung der politischen und sozialen Ordnung? Skandale und Saalschlachten interessieren als Ausdruck kultureller Überzeugungen und politischer Ordnungsvorstellungen. Die Antwort auf die Frage, was die Musik in den Zuhörern auslöste und warum die Selbstkontrolle der Akteure – oft willentlich – misslang, soll im Kontext der Aufführungen selbst gesucht werden. Das Augenmerk richtet sich auf emotionale Praktiken während einer Vorstellung, welche die Körper der Anwesenden mobilisierten und deren Intentionen zum Ausdruck brachten. Schwächer ausgeprägte Gefühle oder unbestimmte Erregungen veränderten sich und wurden erst durch die Aufführung der Musik für viele Menschen im Saal erfassbar. Dabei wird in diesem Kapitel die Überlegung vertreten, dass die gespielte Musik zwar keine neuen Emotionen erschuf, bestehende Gefühle aber durch den Verlauf der Saalschlachten sichtbarer wurden als zuvor und daher deutliche, oft gewaltbereite Handlungen auslösten. Vielen Anwesenden gelang es ihre intensiv erlebten Gefühle in der Musik wieder zu finden.124 123 Vgl. Small, Musicking, 39–49; Hemmings, Theatre Industry, 77–90; Müller, Saalschlachten, 160–176. 124 Vgl. Meyer, Emotion, 1–32; Budds, Music, 38–47 und die methodischen Überlegungen von Scheer, Emotions, 193–220; sowie Plamper, Geschichte, 313–327.
Saalschlachten | 261 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Saalschlachten brachen vor allem dann aus, wenn die Erwartungen und die Wünsche des Publikums im Kontext dramatischer musikalischer Aufführungen nicht befriedigt werden konnten oder sich nur verzögert erfüllten. Begreift man musikalisch motivierte Emotionen als gleichzeitig spontan und strategisch kodiert, schärft das den Blick für die vielfältigen kontext- und zeitabhängigen Ursachen von demonstrativen Ausschreitungen im Auditorium. Wann, warum und durch welche Gruppen misslang die Selbstkontrolle? Bewertete das Publikum die Ausschreitungen einvernehmlich? Welche musikalischen Genres begünstigten verstärkt Saalschlachten? Die Reizfülle einer Grand opéra stimulierte anscheinend das Publikum körperlich intensiver als Quartettsoireen und Alban Berg ärgerte augenscheinlich weit mehr Konzertbesucher als Johannes Brahms. Zu klären ist, welche Emotionen in bestimmten Aufführungen entstanden, genauer, inwieweit das Publikum überhaupt in der Lage war, mit Hilfe seiner Emotionen zu kommunizieren.125
Schlechte Produktionen und miserable Sänger Lange Zeit bestanden keine nennenswerten Unterschiede zwischen unter haltendem Genuss und handfesten Unruhen. Bereits augenscheinlich harmlose Streitigkeiten über gelingenden oder misslingenden Genuss verursachten Auseinandersetzungen. Die Debatten der unterhaltungswilligen Musikliebhaber untereinander und ihre Pöbeleien gegen die Künstler auf der Bühne gehörten zum Alltag. Doch es ereigneten sich meist nur kleinere Grenzüberschreitungen ohne körperliche Gewalt, welche heute als Ausnahmen erscheinen und im frühen 19. Jahrhundert als Normalfälle galten. Der feindliche Dialog zwischen Zuschauern und Veranstaltern im Londoner King’s Theatre im Jahre 1825 ist ein gutes Beispiel für einen typischen Opernbesuch dieser Zeit. Als das Management unmittelbar vor Vorstellungsbeginn ankündigte Rossinis Semiramide durch seinen Othello zu ersetzen, da es angeblich nicht genug Zeit für Proben gegeben habe, fiel die Reaktion des Publikums alles andere als günstig aus. Es begann eine etwa zweistündige Diskussion zwischen dem selbstbewussten Publikum und dem eher hilflos wirkenden Management. Während der Veranstalter sich um eine Erklärung der Lage bemühte, unterbrachen ihn die Opernfreunde regelmäßig mit Zischen und 125 Vgl. Juslin/Sloboda, Music, 3–20; Baer, Theatre, 9–17; Finnegan, Music, 190 f. Hilfreich sind die Beiträge in Assmann/Harth (Hg.), Kultur, sowie der Vergleich berühmter Auschreitungen von Ormay, Skandal.
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Zwischenfragen. Die Sänger und die Orchestermusiker verharrten dabei neugierig auf der Bühne. Unter lautstarkem Lärm versuchte das Orchester die Ouvertüre zu beginnen, es folgte der Auftritt des »Othello«. Aber seine Stimme war praktisch nicht zu hören, denn die Zuschauer schmetterten ihm ein »Off! Off!« um die Ohren. Die Sänger versuchten darauf mit dem erbosten und schreienden Publikum in einen Dialog treten. Doch ein Auftritt zu diesem Zeitpunkt wünschte die Menge nicht von den Künstlern, sondern vom Manager. Die Besucher wollten selbst entscheiden, welche Werke durch welche Sänger aufzuführen seien. Einige lautstarke Minuten später betrat einer der Veranstalter der Produktion schüchtern diesen Hexenkessel und suchte das Publikum gnädiger zu stimmen. Seine Entschuldigungsversuche trafen aber auf zahlreiche aggressive Zwischenfragen und Erklärungsforderungen. Am Ende der Debatte entschied eine Abstimmung im Publikum, den Abend doch musikalisch beginnen zu lassen. Eine Minderheit brüllte für den Abbruch, die siegreiche Mehrheit für die Wiederaufnahme: »(›Warum wurde die Oper ausgetauscht?‹). Umstände, über die ich keinerlei Kontrolle habe, zwangen uns dazu die Oper zu ändern. (›Welche Umstände? Raus damit!‹)… Meine Herren, ich habe doch bereits gesagt, dass der Grund für die Verzögerung die nicht ausreichende Anzahl an Proben ist. (›Wie viele Proben habt ihr gehabt?‹) … Meine Damen und Herren, Madame Pasta … ist nun bestrebt auf die Bühne zu kommen; würden sie uns die Oper bitte fortsetzen lassen? (Applaus und Unmutsbekundungen vermischen sich. Der Applaus und die ›Fangt an!‹ Rufe sind deutlich in der Mehrheit.) Fünfzehn Minuten nach Neun Uhr begann die Oper.«126 Die Akteure nutzten ihr Aufbegehren, um die eigenen Wünsche und ihre herausgehobene soziale Stellung zu erhalten. Ausschlaggebend war die Entscheidung, durch Lärm und Drohungen eigene Interessen zu verwirklichen. Tatsächlich destruktive Szenarien und Brutalitäten spielten sich hier kaum ab. Auch in diesem Stadium ereignete sich selten körperliche, wohl aber verbale und habituelle Gewalt. Wenn überhaupt, dann wurden Gegenstände zerstört, Gegner aber nur selten körperlich verletzt. Es herrschte Unruhe in heiterer und leichter Stimmung. Die Proteste gegen Künstler und Intendanten, gegen Werke und Aufführungen bildeten Formen spielerischer Unterhaltung. In erster Linie wollte das Publikum sein kulturelles Spiel gewinnen und seinen Rang demonstrieren. 126 London, BL, Haymarket Theatre (HM) Cuttings from Newspapers, Vol. 3 1807–29, Bl. Th.Cts. 43, 17.5.1825. Vgl. zu den zahlreichen in ähnlichen Dialogen bestrittenen Vorfällen auch MW, 17.5.1838, 56; MW, 24.5.1838, 70 f.
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Diese ausgelassene Interaktion zwischen Publikum und Künstlern lässt sich exemplarisch am Verhalten Berliner Opernbesucher im Jahre 1818 verdeutlichen: In der Hofoper unterhielt man das Publikum mit dem Intermezzo Il Geloso Schernito von Giovanni Battista Pergolesi: Der Bassist Josef Fischer schickte sich an, diesen Schuster zu spielen. Doch das Publikum bestimmte die Regeln des Spiels, denn – der ohnehin aufbrausende – Fischer hatte sich öffentlich über den mangelnden Applaus der Zuhörer bei früheren Aufführungen beschwert. Dieser Fehler hatte seinen Preis, und viele entschlossen sich, ihm einen Denkzettel zu verpassen.127 Fischers Strafe vollzog das Publikum vor allem dadurch, dass es selbst eine emotionsgeladene Opernvorstellung gab. Die »Haude- und Spenersche Zeitung« sprach von einer »Tragimelokomödie«.128 Kaum war der Vorhang in die Höhe gezogen, erhob sich ein furchtbares Brüllen, Klopfen, Klatschen und Pfeifen gegen den auf seinem Schuster schemel sitzenden Fischer. »Ein Klatschen wie von hundertarmigen Riesen und ein Zischen wie von tausend Klapperschlangen empört sich gegen den Himmel. … Der Sturm wird wüthender und droht das Gebäude zu stürzen.« Der größere Teil des Publikums protestierte, wirklichen Beifall zollten dem verstummten Bass vielleicht die Besucher von zwei oder drei Logen im Ersten Rang. Obwohl sie mehrere tapfere Versuche unternahmen, hatten weder der Sänger noch das Orchester die Chance, hörbar eigene Geräusche zu produzieren. Fischer bat öffentlich um Gnade und verbeugte sich verbindlich: »Allein höher schwillt die Fluth – Vorhang nieder. ›Abbitten!‹ ›Niederknien!‹ ›Herunter vom Theater!‹ So tönt’s wiederhallend von allen Seiten und die Klatschenden, Bravo-Rufenden und Ruhe Gebietenden unterliegen, wobei die sichtbare Angst auf den Gesichtern der armen Damen und das satyrische Lächeln der Partheilosen einen seltsamen Kontrast giebt.« In der folgenden Szene setzte das Publikum die Vorstellung unter sich fort, amüsierte sich mit Kraftäußerungen aller Art, und viele schrieen vor Freude »da capo«. Darauf betrat ein Schauspieler die Bühne, ein Herr Maurer, und
127 Ein angeblich »unpartheyischer« Leser hielt in seinem Brief über diesen Plan einer Gruppe in der Oper gegen Fischer fest: »Zur ersten Szene ist es zu wissen nöthig, daß ein großer Theil des Publikums vorher beschlossen, Hrn. Fischer, da er sich beklagte, in Zaira nicht hinlänglich applaudirt worden zu seyn, so viel und so lange zu applaudiren, daß er nicht zu Worte kommen und abgehen müsse. Hätte das ganze Publikum diesen Plan gewußt, hätte niemand gepocht, und das Applaudiren wäre nicht als Beifallsbezeugung genommen worden. … Wer der Geprellte ist? Das Publikum um eine angenehme halbe Stunde, Hr. Fischer um 4000 Thlr. Gehalt.« HS, 24.3.1818. 128 Zit. hier und im Folgenden aus HS, 21.3.1818. Vgl. zur Person Josef Fischers Schilling (Hg.), Europa, 95.
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erklärte, Fischer würde gerne singen, wenn das Publikum es nun wünsche, still zu bleiben. Nur wenige wollten aber die eigene glänzende Vorstellung durch ein musikalisches Intermezzo ersetzt sehen. Die amüsierte Menge reagierte eindeutig und stimmte in diesem musikalischen Parlament demokratisch ab: »Hundert Stimmen – ›Nein! Nein! Nein!‹ Wenige Stimmen – ›Ja! Ja! Ja!‹.« Darauf gab Ludwig Devrient, der Leiter der Königlichen Oper, mit Achselzucken und einem kleinen Lächeln bekannt, dass die Aufführung daher jetzt leider beendet wäre. Das Publikum klatschte, rief »Bravo« und ging nach Hause.129
Leider fehlt der Startenor: Adelige und Bürger bekriegen sich im Londoner Her Majesty’s Theatre In London sind die sozialen und politischen Ungleichheiten im Publikum noch deutlicher als in Berlin zu erkennen. Die ästhetisch begründete Abgrenzung der aristokratischen Eliten vom Bürgertum war die Ursache eines Skandals im Opernhaus im Frühjahr 1840. Auffällig hierbei war, dass die adeligen Spitzen der Gesellschaft die Ausschreitungen verantworteten. Dabei ging es nicht um Fragen der Kunst, sondern um die politische und soziale Deutungsmacht einer sich in der Defensive fühlenden adeligen Elite. Im Auditorium kochten die Emotionen hoch, obwohl der Anlass der Ausein andersetzung banal erschien: Der Pächter des Her Majesty’s Theatre, Pierre Laporte, hatte für die Saison 1840 den beliebten Bass Antonio Tamburini durch Filippo Coletti ersetzt. Bereits bei seinem Debüt erhoben sich einzelne Protestrufe im Auditorium, und der Ruf nach dem Manager wurde laut. Am 30. April 1840 schlugen die adeligen Opernbesucher nach einer Aufführung von Vincenzo Bellinis I Puritani zu. Als nach dem Ende der recht schwach besuchten Vorstellung gegen 23.00 Uhr das übliche Ballett den Abend beschließen sollte, erhob sich vor allem in den Logen und im Parkett ein derartiger Lärm, dass der Dirigent Michael Costa die Aufführung nach wenigen Minuten abbrechen musste. »Laporte! Tamburini!«, brüllten zahlreiche empörte Zuschauer. Doch auch der Auftritt des sichtlich um Verständigung bemühten Managers befriedete die wütenden Proteststimmen nicht. Laporte versuchte immerhin, die Lage zu begründen, doch einige brüllten ihm entgegen: »We do not ask you. … Have you engaged Tamburini?« – und setzten ihre Beschimpfungen und Buhrufe fort. Der mutige Manager un-
129 HS, 21.3.1818. Vgl. auch den Bericht der AMZ, 20 (1818), 298.
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ternahm aber noch einen zweiten Versuch und wandte sich taktisch klug gleich direkt an die adeligen Rädelsführer in ihren kostspieligen Logen. Das anschließende Streitgespräch mit den Herren Lord Adolphus Fritz Clarence, Captain Macdonald und anderen Aristokraten erbrachte aber keine Übereinstimmung, und Laporte verließ geschlagen die Bühne.130 Kurzum, auch in London geschah eine sehenswerte Theatralisierung des protestierenden Publikums, die offen ließ, ob sich die wichtigeren Vorstellungen eher auf der Bühne oder im Zuschauerraum abspielten. Die Presseberichte stimmen darin überein, dass die Initiatoren des Tumultes auf den besten Plätzen des Hauses saßen. Die wegen ihrer Größe als »omnibus boxes« bezeichneten Logen auf dem Proszenium der Bühne zeichneten sich durch eine besondere Exklusivität und prächtige Ausstattung aus. Außer ihrer einzigartigen Lage, die sowohl eine vorzügliche Sicht auf die Bühne wie auf das übrige Publikum ermöglichte, verfügten sie mit einer separaten Tür zudem über eine eigene Zugangsmöglichkeit zum Bereich hinter der Bühne und damit zu den Künstlern. In diesen Logen waren die tonangebenden Adeligen der Gesellschaft, die Marquis und Earls, die Lords und Dandys unter sich.131 Im Her Majesty’s Theatre versuchte Pierre Laporte am Abend des 30. April 1840 über zwei Stunden lang auf offener Bühne mit den aristokratischen Anführern des Aufruhres zu verhandeln. Immer wieder stellte der Manager sich einem Hagel aus Fragen, Beschwerden und Drohungen, die vor allem von den Seitenlogen auf ihn niedergingen. Zuweilen hielten die lärmenden Aristokraten inne, doch sobald das Orchester auch nur wieder eine Note spielte, setzten sie ihren lautstarken Protest fort. Dieses Verhalten ging dem übrigen Publikum offenbar auf die Nerven. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Opernbesucher auf den preisgünstigeren Plätzen etwa oben in der »gallery« oder auf den unnummerierten Holzbänken im Parkett, der sogenannten »pit«, sahen sich um ihre musikalische Abendunterhaltung gebracht und waren nicht willens, das Feld kampflos der adeligen Elite zu überlassen. Die Zeitungen sprachen von einer »counter demonstration« und einem »war of words« gegen die Aristokratie sowie von einer lautstarken Unterstützung des Managements durch weite Teile des übrigen Publikums:132 »Die Manager befanden sich hauptsächlich im Parkett, wo man sie mit Worten anschrie wie
130 MC, 1.5.1840. Vgl. Zum Tamburiniskandal, Hall-Witt, Fashionable, 212–221; und zu den Reformdebatten insgesamt Newey, Reform, 238–253. 131 Vgl. Hall-Witt, Representing, 121–144, dies. Re-Fashioning. 132 MP, 1.5.1840.
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›Schande!‹, ›Kein Tamburini!‹, ›Keine Einschüchterung!‹, während ein Herr aus einer Loge rief ›Schmeißt den Omnibus raus!‹«133 Zwei soziale Gruppen rangen hier zwischen Beschimpfung und Tätlichkeit um die Vorherrschaft im Opernhaus. Entsprechend hielt der damalige Assistent des Pächters, Benjamin Lumley, über die feindlich streitenden Gruppen im Auditorium mit Blick auf die Demonstration der Bürger gegen die Adeligen fest: »Manche aus dem einfachen Volk stimmten in die Rufe ›Schande!‹, ›Keine Einschüchterung!‹ und ›Wir lassen uns nicht drangsalieren!‹ ein und zeigten Gespür für den wirklichen Grund der Störung, in dem sie ›Schmeißt den Ominbus raus!‹ riefen. Darauf brüllten die Logenbesitzer höhnisch zurück: ›Kommt und versucht’s doch!‹«134 Zur vorgerückten Stunde gegen 1.00 Uhr nachts wurden die widerstreitenden Parteien allmählich müde, viele Zuschauer gingen nach Hause. Manche Adelige aber blieben noch einen Moment länger in ihren Logen. Sie verhielten sich nicht nur als elitäre Dandys ihrer Zeit, sondern offenbar auch als mutige Männer mit Geschmack. Die jüngeren Aristokraten versuchten, in diesem sozialen Streit einen Beweis ihrer Männlichkeit zu erbringen und ihre traditionelle Führungsrolle körperlich zu erneuern. Einer der Herren aus den Proszeniumslogen sprang plötzlich auf die Bühne, gefolgt von mehreren Insassen der gegenüberliegenden »omnibusboxes«. Ihre Hüte schwenkend und »Victory!« rufend, drängten die adeligen Männer auf das Podium, ließen den Vorhang herab und entschieden mit dieser symbolischen Besetzung den Opernstreit vorerst zu ihren Gunsten.135 Während der folgenden Vorstellung, am 2. Mai, zeichnete sich ein vollständiger Triumph der adeligen Londoner Opernliebhaber ab. Königin Victoria hatte mit ihrem Hofstaat, gewarnt von der Möglichkeit neuer Unruhen im Auditorium, ihre geplante Ankunft im Her Majesty’s Theatre auf den Beginn des zweiten Aktes von La Sonnambula verschoben. Tatsächlich setzte sich der Streit – der, verkürzt formuliert, adeligen und bürgerlichen Lager – auch an diesem Abend zunächst in voller Härte fort. Kaum hatte die Ouvertüre begonnen, tönte es aus den Logen »No, No!« und »Laporte!«, von den übrigen Plätzen »Go on, go on!« Doch innerhalb weniger Minuten entschärfte der Manager den Streit und gab nach. Kaum hatte er, wiederum auf offener Bühne stehend, um Abbitte ersuchend angekündigt, dass er sich mit Tam
133 TI, 1.5.1840. »The occupants of the pit took no part in the tray; indeed, latterly there was some disposition shown by a few of the ›pittites‹ to take the part of M. Laporte«, MC, 1.5.1840. 134 Lumley, Reminiscences, 15. 135 TI, 1.5.1840; Lumley, Reminiscences, 16.
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burini über ein Engagement weitgehend verständigt habe, beruhigten sich die lärmenden Aristokraten. Die Vorstellung konnte nun endlich beginnen, und auch Königin Victoria nahm ihren Logenplatz ein – die Londoner Adeligen hatten offenbar auf ganzer Linie gesiegt.136 Die Presse spekulierte in den folgenden Tagen darüber, welche Gründe es waren, die die adeligen Logenbesitzer bewogen hatten, so leidenschaftlich für ihre Interessen zu demonstrieren. Klar war jedermann, dass die Protestierenden nicht einfach spontan ihren Emotionen nachgegeben hatten. Ebenso zweifelte niemand daran, dass es bei diesem Streit um eine Machtprobe, nicht um das Engagement eines Sängers gegangen war: »The struggle was for a principle, not for a singer!«137 Die Logenbesitzer hatten auf ihren Status als »Herren im Haus« gepocht und dem Management und den übrigen Opernbesuchern ohne Rang und Namen schlicht das Recht abgesprochen, Einfluss auf die Ausgestaltung ihres bevorzugten Vergnügens zu nehmen. Die Londoner Aristokratie betrachtete den öffentlichen Raum der Oper gleichsam als ihre Privatsphäre und beanspruchte hier ein exklusives Mitbestimmungsrecht. In einem anonym erschienenen Leserbrief von einem der Inhaber einer »omnibusbox« hieß es in blasierter und offener Arroganz: Die Aristokraten seien zu Unrecht von den beklagenswerten Unterschichten in der Oper beleidigt worden, denn sie allein hätten die Macht zu entscheiden, sie seien die sozialen, finanziellen und kulturellen Herren des Musiklebens. Nur die sozial und kulturell verarmten Dummköpfe hielten diese letztlich privaten Opernveranstaltungen für öffentliche Treffpunkte: »Es ist daher unangemessen, dass die Abonnenten von einem planlosen Management überwältigt werden sollten, unterstützt von ein paar Parkett-Besuchern, EmporenPartisanen und Vorbestellungen, gegen die eigentlichen Besucher des Theaters. Es ist ein Fehler zu glauben, diese Oper sei wie Covent Garden oder Drury Lane ein öffentliches Theater. Sie ist weit davon entfernt. Sie ist, im Gegenteil, ein privates und Abonnement-basiertes Opernhaus. … Dieses Theater untersteht, und unterstand schon immer, vor allem der Kontrolle der Abonnenten. … Die Abonnenten … haben das Recht, den Geschmack des Theatermanagements zu kontrollieren. … Nur um des guten Geschmacks willen, und um unsere Privilegien zu schützen, haben wir uns an dieser Auseinandersetzung beteiligt.«138 Gegen dieses instrumentalisierte Diktat des Geschmacks und der Hierarchie wehrte sich das Londoner Bürgertum erfolgreich. Vehement bestritten 136 MC, 4.5.1840. 137 AT, 9.5.1840, 378. 138 MC, 4.5.1840.
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die liberale Presse und die musikalischen Fachzeitschriften den adeligen Anspruch auf einen überlegenen Geschmack und auf soziale Privilegien. Die Logenbesitzer fanden sich als unfähig und geschmacklos beschrieben, da sie offenbar weder willens noch fähig gewesen waren, sich während der musikalischen Aufführung »richtig« zu benehmen. Die neue musikalische Ästhetik des konzentrierten, schweigenden Hörgenusses hatte auch politische Implikationen. Von den mit Hilfe ihres disziplinierten Musikgeschmacks eingesetzten strategischen Ambitionen des Bürgertums gegen den Adel wird im fünften Kapitel noch die Rede sein. Die bürgerliche Kritik an den lärmenden Aristokraten beruhte nicht allein auf rein ästhetischen Kriterien: In den musikalischen Fachzeitschriften und in der liberalen Presse nutzten einige Kritiker den Tamburiniskandal aus politischem Interesse. Durch den ästhetischen Streit ließen sich manche Ansprüche der liberalen Whigs leichter verdeutlichen. In scharfem Ton kontrastierte etwa die »Musical World« das geordnete Hörverhalten der Besucher auf den billigeren Plätzen mit der, die Musik störenden, »fashionable foolery« der Aristokratie und beschimpfte diese schlicht als »animals«: »Die Empore des Her Majesty’s Theatre unterscheidet sich vom Rest des Hauses dadurch, dass sie den ruhigen, ordentlichen, weniger modischen Leuten Raum bietet, die sich hier eher für Musik als für Punsch, Eiskrem oder Kaffee interessieren und die die Vorstellung auf der Bühne dem gecken Geschnatter in den Logen vorziehen. … Als Publikum legen sie [die Adeligen – SOM] das schlimmstmögliche Benehmen an den Tag. Unsere Bemerkungen … beziehen sich ausschließlich auf die Inhaber der Logen und auf diejenigen Tiere, die die verschließbaren Ställe direkt neben dem Orchester besetzen.«139 In Zeiten der großen innenpolitischen Reformdebatten der 1830er- und 1840er-Jahre ließ sich der kulturelle Hegemonialanspruch der adeligen Elite weder im Opernhaus noch im Staatswesen unwidersprochen erhalten. Um den Kampf um die Erhaltung bestimmter Distinktionsprivilegien unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zu bestehen, war ein größeres Maß an Taktgefühl und Anpassung notwendig, als es die adeligen Logenbesitzer 1840 an den Tag gelegt hatten.140 Sei es aus Eingeständnis der eigenen Grenzen oder nur aus Desinteresse – als Tamburini kurze Zeit später erstmals wieder im Her Majesty’s Theatre auftrat, blieben die »omnibusboxes« bis zum Beginn des Balletts leer.141 Im Ergebnis zeigten diese Formen der Un
139 MW, 7.5.1840, 281–284. Vgl. Budde, Stellvertreterkriege, 95–117. 140 Vgl. Braun, Bemerkungen, 96–111; ders./Gugerli, Macht, bes. 166 ff. 141 Lumley, Reminiscences, 17.
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ruhen sowohl die Strategie der aristokratischen Eliten als auch ihre begrenzte öffentliche Akzeptanz.142
Ein gescheiterter Dirigent: Die Karriere von Gaspare Spontini in Berlin In welchem Ausmaß Skandale bereits vor der abendlichen Vorstellung zu Gegenständen öffentlicher Debatten wurden, demonstrierte der Sturz Gaspare Spontinis in Berlin 1841. Nicht die Interessen des Generalmusikdirektors, sondern die des Publikums und der preußischen Beamten verursachten diesen Skandal. Spontini sollte am 2. April 1841 nachmittags gegen 15.30 Uhr in der Berliner Hofoper den Don Giovanni leiten. Doch das Publikum leitete ihn. Eine aufgeregte Menschenmenge besuchte das Königliche Opernhaus, wohl auch deshalb, weil sich die Nachricht verbreitet hatte, dass Spontini an diesem Abend selbst dirigieren werde. Um mögliche Demonstrationen zu vermeiden, riet der Polizeichef dem Generalintendanten Friedrich Wilhelm von Redern, Spontini an diesem Tag durch einen anderen Kapellmeister zu ersetzen. Spontini war mutig genug, ungeachtet aller drohenden Vorankündigungen selbst zu dirigieren – und setzte in einem eiligen Gespräch mit von Redern auf seinen eigenen Heldenmut gegen die Stimmung des Publikums: »Siegen oder sterben!«, rief er mit dem Pathos eines tragischen Helden aus. »Aber wie können Sie gegen zweitausend Menschen kämpfen die ihre Plätze bezahlt haben?«, entgegnete ihm Graf von Redern.143 Spontini betrat schließlich diese Arena und erklomm das Podium im Frack, mit weißer Binde und dekoriert mit seinen Orden. Praktisch alle Zuschauer empfingen ihn mit einem Sturm des Missfallens. Ob im Parkett, auf der Galerie oder auf den Rängen – viele begrüßten ihn mit dem Ruf »Hinaus!« Der Generalmusikdirektor begann selbstverständlich mit der Ouvertüre zum Don Giovanni, diese erreichte aber niemanden. Denn im Haus erhob sich ein »solcher Lärm von Pochen, Klatschen, Pfeifen und Hinausrufen …, dass von der trefflichen Musik nicht ein Ton zu vernehmen war«.144 Spontini dirigierte scheinbar unberührt fort. Am Ende der Ouvertüre gab er das Zeichen, um den Vorhang zur ersten Szene zu öffnen – aber dieser blieb unten. Angeblich entsandte der Polizeichef den Oberregierungsrat Köhler, um Spontini zum Verlassen des Orchestergrabens aufzufordern. 142 Vgl. Dentith, Society, 66 f. 143 Redern, Königen, 223. Vgl. Bradley, Language Of Emotion. 144 Ebd.
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»Und da nun der Tumult in persönliche Thätlichkeiten auszuarten drohte, so verließ … der vergeblich gewarnte Künstler seinen Platz, plötzlich unter das Theater verschwindend.« Der offenbar »zufällig« anwesende Dirigent Carl Möser übernahm unter Beifall des Publikums darauf die Abendleitung. Freudig verfolgte man den Rest der Vorführung auf der Bühne. Der Konflikt spielte sich zwischen Spontini und den Musikfreunden ab, nicht zwischen Teilen des Publikums. Der lärmende Pöbel am 2. April trug Glacéhandschuhe und saß in den Logen des Ersten Ranges.145 Die anwesende Polizei unternahm nicht den geringsten Versuch, dem Toben Einhalt zu gebieten. Augenzeugen berichteten Karl August Varnhagen von Ense, es hätten beim »Opernlärm einige Polizeibeamte mit Leuten aus dem Publikum darauf gewettet, Spontini werde hinaus müssen, dass sie dann mit gepocht, und den Preis der gewonnenen Wette – Flaschen Champagners – gleich in der Theaterkonditorei mit ausgelassener Fröhlichkeit verzehrt haben. Ein Polizeikommissarius im Parterre rief voll Grimm: ›Ja, er muß hinaus, der Hund; er hat den König beleidigt‹. Alle Polizeibeamten hatten Befehl, nicht eher einzuschreiten, als bis die den Polizeipräsidenten sich erheben sähen; dieser aber blieb ruhig sitzen und lachte nur.« Die Behörde habe es verboten, den Vorhang aufzuziehen. »Offenbar hat eine schändliche Kabale geherrscht«.146 Selbst nach dieser Kabale dauerte der öffentliche Streit über den Fall Spontini noch so lange an, bis er Berlin in Ungnade verließ. Die Stadt blieb seinetwegen in zwei Lager geteilt, die Mehrzahl der Musikhörer polemisierte gegen ihn. Dieser Vorfall war in jeder Hinsicht eine Ausnahme und in Rellstabs pointierter Bosheit »in der Geschichte der Bühnen-Ereignisse wohl der Erste seiner Art«.147 Spontini verfügte als »die erste musikalische Nobilität Berlins« nach zwanzig Jahren in Preußen über eine gefestigte Machtposition.148 Diese verflüchtigte sich indes, weil viele Berliner Kenner Spontinis Leistung zunehmend in Frage stellten. Infolge eines sich neu entwickelnden Geschmacks urteils schien die Qualität seiner Opernaufführungen über die Jahre hinweg nachgelassen zu haben. Das beobachtete auch Heinrich Heine: »Der größte Teil sieht in seiner Musik nur Pauken- und Trompetenspektakel, schallenden Bombast und gespreizte Unnatur.«149 Ärgerlich war es zumal, dass der Italiener verstärkt eigene Kompositionen zu Lasten deutschsprachiger Opern 145 AMZ, 43 (1841), 403 (Zit.) (Herv. im Orig.); HS, 5.4.1841. Vgl. Rehm, Musikrezeption, 116–132. 146 Varnhagen von Ense, Tagebücher, Bd. 1, 288–290. 147 VZ, 5.4.1841. 148 NZfM, 15 (1841), 91. 149 Heine, Werke, Bd. 2, Briefe aus Berlin, 16.3.1822, 27.
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in den Spielplan aufgenommen hatte. Die Anhänger der Nationalbewegung rügten die kulturelle Gestaltungsmacht des Ausländers. Spontinis mangelnde deutsche Sprachkenntnisse, seine sonderbare Toilette und sein Enga gement für die italienische Oper hätten in Berlin »eine Menge Lächerlichkeit« hervorgebracht.150 Der Ritter Gaspare Spontini war mächtig innerhalb der höfischen Gesellschaft der Hauptstadt, ansonsten aber ohnmächtig. Die vermeintlichen Fehler des königlichen Intendanten zählten fast nichts, solange dieser in der Gunst des 1840 verstorbenen Königs Friedrich Wilhelm III. stand. Sein Nachfolger Friedrich Wilhelm IV. aber betrachtete Spontinis Position und Auftritt als anmaßend, obwohl er sich in einer Kabinettsorder über die ersichtliche Eigenmächtigkeit der Polizei bei dem geschilderten Tumult echauffierte.151 Am Ende verteidigte niemand Spontini. Selbst seine beruflichen Freunde hielten ihn für verzichtbar. Varnhagen schimpfte gegen »das elende Publikum«.152 Doch erst im geplanten Zusammenwirken von Besuchern, Behörden und Monarchen stürzte der fremde Gast. Die musikalischen Unruhen in der Mitte des 19. Jahrhunderts ähnelten oft denen vergangener Zeiten. Neu aber waren die Ziele der Proteste und die Stimmungen im Publikum. Vermeintlich unterhaltende Vorfälle nutzten die Anwesenden nicht nur, um ihr Freizeitvergnügen zu genießen, sondern um mehrheitsfähige politische Ziele zu erreichen. Obwohl verschiedene Gruppen ihre Interessen lautstark und handgreiflich im Auditorium sichtbar machten, ist ein politischer Pluralismus hierbei selten zu erkennen. Zwischen 1840 und 1860 verbreiteten sich geplante Unruhen im Konzertleben ausgerechnet in denjenigen Aufführungen, die eine konservative Ordnung feierten. Dort genoss eine vielfältig zusammengesetzte Menge die eigene lautstarke Beteiligung als politisierte Form der Unterhaltung.
150 NZfM, 15 (1841), 92. 151 »Die polizeilichen Behörden haben sich passiv verhalten, denn es hat keine Verhaftung von Unruhstiftern stattgefunden, welches nothwendig war, um den Gesetzen des Hauses und des Anstandes Genüge zu leisten. Ueberdies finde ich es gar nicht zu entschuldigen, daß, obgleich die Polizei von allem, was vorfallen würde, genau unterrichtet war, Mir keine Anzeige zugegangen ist.« Redern, Königen, 224. Vgl. Barclay, Hof, 321–360. 152 Varnhagen von Ense, Tagebücher, Bd. 1, 286. Vgl. DeNora, Agency, 175 f.
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A star is born: Louis Jullien und die Attraktion der Promenade Concerts in London Die neuen musikalischen Spielstätten hießen in Wien »Volksconcerte«, in London »Promenade concerts« und in Paris »Concert Monstre«. In den europäischen Metropolen bekamen größere Gruppen jenseits des Adels und des Großbürgertums die Chance, im Konzert die Musik und sich selbst feiernd zu genießen.153 Eine explosive Mischung aus geschmacklichen Ähnlichkeiten, sozialen Unterschieden und politischen Erlebnissen prägten die Promenadenkonzerte. Die Veranstalter changierten geschickt zwischen Music Hall und Philharmonie, indem sie Genres, Stile und Verhaltensmuster vereinten. Unterhaltung und Klassik zu kombinieren, war dabei weniger ein Rückgriff auf die Vergangenheit als eine zukunftsweisende Popularisierung. Die Dirigenten der Promenadenkonzerte versuchten das Publikum zu erregen. Louis Antoine Jullien war in den 1840er- und 1850er-Jahren der unerreichte Stardirigent des Londoner Musiklebens. Lange bevor Orchesterleiter im musikalischen Betrieb zu Ruhm und Reichtum gelangten, vermochten Philippe Musard in Paris, Johann Strauß d. Ä. in Wien und Louis Jullien in London das Publikum zu bewegen. Die Londoner Gesellschaft erwartete offenbar von diesen musikalischen Aufführungen, dass sie Stars hervorbrachten, die sie bewundern konnte – und Jullien bediente die sozialen und politischen Ideale seiner Bewunderer.154 Seine Promenadenkonzerte in den von ihm angemieteten und reich dekorierten Londoner Opernhäusern zogen jeweils mehrere tausend staunende Musikliebhaber aller Schichten in ihren Bann. Der Sohn eines französischen Militärmusikers spielte virtuos mit den Erwartungen und Emotionen seiner zahllosen weiblichen und männlichen Bewunderer in England. Stets nach der neuesten Mode gekleidet, mit aufwändig frisiertem Haar und Schnurrbart, trug er zu allem Überfluss noch eine Krawatte, auf der Diamanten funkelten. Vor jedem Konzert reichte ihm ein Diener auf einem silbernen Tablett seinen verzierten Taktstock und seine cremefarbenen Handschuhe.155
153 Vgl. Baer, Theatre, 184–187; Notley, Volksconcerte, 439–443; Hopkins, 211–223; Klenke, Mann. 154 Vgl. Weber, Transformation, 208–231; ders., Public, 39–44. 155 Nur zwei mehr oder minder wissenschaftliche Monographien über einen der ersten modernen musikalischen Entertainer gibt es heute: Faul, Louis Jullien; Carse, Life of Jullien. Vgl. Kracauer, Offenbach, 48–53; Scholes, Mirror, 192–196; insges. McVeigh, Audience for High-Class Music, 162–182.
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Bildete bereits sein Äußeres eine imposante Erscheinung, so war das Erlebnis, diesen Meister der Selbstinszenierung dirigieren zu sehen, wohl eine Erfahrung für sich. Jullien versammelte zusätzlich zu einem vollen Sinfonieorchester mit Chor und Solisten oft bis zu vier Militärkapellen auf der Bühne, die er alle gleichzeitig von seinem vergoldeten Podium herab leitete. Seine Schlagtechnik war wie sein Auftreten Teil der Unterhaltung. Einmal tanzte er gleichsam auf dem Podium, dann wieder schien er den Musikern mit strengem Blick zu drohen, wenn sie ihm nicht adäquat folgten. Die Programme seiner Konzerte zeichneten sich durch eine bunte Mischung aus: meist einzeln gespielte Sätze der Sinfonien von Beethoven bis Mendelssohn, Chor- und Opernszenen und virtuose Solonummern für verschiedene Solisten. Am beliebtesten aber waren seine selbst komponierten Quadrillen für Orchester. Hier brannte Jullien ein Feuerwerk aus musikalischen und akustischen Effekten ab, bereichert durch Marschrhythmen, Artilleriesalven und unerhört lautstarke Trommeln, das sein Publikum oft zur Raserei trieb. Das Repertoire der Londoner Promenadenkonzerte demonstrierte, dass die emotionalen Praktiken dem Publikum auch als ein Moment der Verständigung dienten. Die gemeinsame Begeisterung für eine bestimmte Musik vermochte soziale, politische oder kulturelle Differenzen zu überbrücken, wenn der Kontext stimmte – in diesem Fall die Promenadenkonzerte. Dabei ließ sich auch die herkömmliche Trennung von E- und U-Musik relativieren, das heißt, die strikte Unterscheidung von Erbauung einerseits und Amüsement anderseits entspricht sozialen Codierungen, die sich in der gefühlten Gemeinschaft eines Musikpublikums gegebenenfalls auflösen. Machte das Ausleben von Emotionen die Grenzen zwischen populärem und distinktivem Musikgeschmack durchlässiger, weil sie körperliche Erregung und erlerntes Bildungswissen gleichermaßen positiv bewerteten? Schwächten gemeinsame Gefühle soziale und politische Schranken? Ein erster Befund besagt, dass diese Konzerte die bestehehenden Verhältnisse nicht in Frage stellten, sondern vielmehr die öffentlich anerkannten Strukturen verfestigten. In Julliens Promenadenkonzerten kam es traditionell zu Ausschreitungen, die von allen Anwesenden erwartet und erwünscht wurden. In Covent Garden oder im Drury Lane Theatre drängten sich oft bis zu 4.000 Personen zusammen. Die Sitzreihen im Parkett waren entfernt worden, um die Bewegungen des Publikums zu erleichtern und um die Distanz zum Orchester zu verringern. Während die Eliten aus ihren Logen herab komfortabel auf die so geschaffene »Promenade« blicken konnten, herrschte dort ein heilloses Gedränge und Geschiebe. Bereits die hohe Anzahl der Besucher und die Tatsache, dass die Menge in steter Bewegung blieb, sorgten für ein erhebliches Maß an Unruhe. Lauschte das Publikum den dargebo274 | Die Ambivalenz der Musikerfahrung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Abb. 21: Der französische Show-Dirigent Julien leitete 1846 ein um vier Militärkapellen verstärktes Orchester in einem seiner Promenadenkonzerte in Londons Covent Garden.
tenen Sinfoniesätzen meist einigermaßen konzentriert, so wurden die Märsche, Quadrillen und Hymnen im zweiten Teil der Konzerte von einmütigem Winken von Taschentüchern und Hüten, mit Jubel- und Bravorufen begleitet. Immer wieder kam es zu Raufereien und Prügeleien unter den jungen männlichen Besuchern der Konzerte, die dann oft die Polizei auf den Plan riefen. Konsterniert über die nicht enden wollende Raserei der jungen Männer und die unausweichlichen Massenverhaftungen durch die Ordnungshüter, hielt die »Daily News« fest: »Selbst nachdem M. Jullien und die Künstler den Orchestergraben verlassen hatten und alle Zuschauer aus den Logen aufgebrochen waren, blieben einige Leute noch länger auf der Promenade, wo sie aus lauter Übermut grölten und schrien ohne genau zu wissen wofür.«156
156 DN, 6.11.1855. Vgl. McVeigh, Benefit Concert, 242–266.
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Abb. 22: Oft ließ sich die große Anzahl der Besucher der Londoner Promenadenkonzerte, ihre Bewegungen im Saal und auch ihr mögliches Verhalten kaum voraussagen.
Ein Gefühlsregime ist im körperlichen Engagement des Publikums zu entdecken. Die Mehrheit der lärmenden Konzertbesucher scheint recht genau gewusst zu haben, was sie an diesen emotionalen Inszenierungen so schätzte. Julliens Promenadenkonzerte feierten die bestehende politische Ordnung in Großbritannien und orientierten sich an den kulturellen Vorlieben der Londoner Gesellschaft. Die Präferenzen der Mehrheit zählten. Selbstredend genoss die Menge das akustische und optische Spektakel, den ungeheuren Unterhaltungswert dieser Aufführungen, das »Sehen und gesehen Werden« und nicht zuletzt den Kontakt zum anderen Geschlecht. Auch der Musik der Publikumsfavoriten Beethoven, Mendelssohn und Weber wurde freudig applaudiert. Was die Besucher aber regelmäßig in Ekstase versetzte, das waren Julliens musikalische Inszenierungen der politischen Interessen der Mehrheit im Saal. Denn Julliens Konzerte idealisierten die britische Nation. Seine eigenen Kompositionen, allen voran die beliebten Quadrillen »British Army« und »British Navy«, seine Arrangements der nationalen Klassiker von »God Save the Queen« bis »Rule Britannia«, aufgeführt von jeweils hunderten von Musikern, verfehlten ihre Wirkung nicht. Offenbar war es dabei ge276 | Die Ambivalenz der Musikerfahrung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
rade der militärische Charakter vieler Stücke, der die nationalistische Erwartungshaltung des Publikums bediente.157 Die Menge war zur kollektiven Selbstbegeisterung über ihre politische Ordnung erschienen, und Jullien lieferte die Musik: »Der Leser … kann sich kaum ein Bild davon machen, was Jullien’s Arrangement von ›God save the Queen‹ auslöste. Nach der Vorstellung war eine Zugabe unausweichlich und große Teile des Publikums schienen sich in einen Zustand der Ekstase hineingesteigert zu haben, die jeder Beschreibung spottete.«158 Diese Begeisterung des Publikums erreichte aber oft ein selbst für Louis Jullien nicht mehr kontrollierbares Ausmaß; vor allen Dingen dann, wenn die musikalischen Wünsche der Zuhörer nicht augenblicklich erfüllt wurden. Über die Auswirkungen einer Wiederholung der Nationalhymne hielt die Presse fest, dass bereits der Andrang der Besucher vor der Bühne für erste Panikreaktionen sorgte. Gerade weil dann endlich die Nationalhymne die Menge zusätzlich begeisterte, verlangte sie eine vom Orchester auch sofort erfüllte Zugabe. Doch erst damit begann die Unruhe: Alle Wiederholungen der Hymne riefen körperlichen Einsatz des Publikums hervor. Schwer zu entscheiden war, ob die Nationalfeier erst Freude oder erst Gewalt hervorbrachte. Das Ergebnis waren handfeste Prügeleien singender junger Männer untereinander und Fluchtversuche vieler Frauen. »Das Publikum bestand auf sein Recht die Hymne wiederholen zu lassen, aber die Musiker traten ab. … Weil ihre Rufe unerhöhrt blieben und man sie ohne Unterhaltung zurücklies, begannen Teile des Publikums im Parkett damit sich selbst zu unterhalten. Fest entschlossen nicht übertönt zu werden, sangen sie die Nationalhymne. Im Publikum bildeten sich Gruppen, in einer davon sah man einen Mann der seinen Gehstock als Schlagstock benutzte, … in einer anderen konnte man einen Kampf mit Stöcken sehen. … Diejenigen, die eher friedlich veranlagt waren, sorgten sich um die eigene Sicherheit, und im allgemeinen Getümmel waren die Frauen gezwungen, auf die Bühne hochzuklettern um der Menge zu entfliehen.«159 Die Ausgelassenheit in den Promenadenkonzerten sicherte die Geltung der politischen Ordnung. Gerade die Häufigkeit derartiger Saalschlachten belegt, wie fließend der Übergang von einer populären musikalischen Zerstreuung hin zu einer kollektiven Demonstration für die britische Nation sein konnte. Die Partizipation des Publikums in diesen Konzerten bot die 157 »The British Army Quadrille (is) an astounding musical mimicry of war«, ILN, 10.11.1855, 555. Vgl. Colley, Britons; Colls, Englishness, 29–61. 158 MW, 4.11.1848, 718. Vgl. die Beiträge in François/Siegrist/Vogel (Hg.), Nation und Emotion. 159 MC, 4.11.1845.
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Chance die bestehende politische Herrschaft als theatralisches Freudenfest auszuleben. Emotionale Praktiken erleichterten es gewaltsame Handlungen als Bekenntnisse zur Liebe zu legitimieren. Die spielerische und oft handgreifliche Teilnahme vieler Besucher an den Aufführungen gefährdete daher den Status quo nicht, sondern bestätigte ihn. Das wird unter anderem dadurch deutlich, dass die nationalistische Selbstbegeisterung des Promenadenpublikums kein abweichendes Verhalten duldete. Diejenigen, welche sich der wiederholten Loyalitätsdemonstration entzogen und beim erneuten Abspielen der Nationalhymne etwa ihre Hüte aufbehielten (und sei es nur deshalb, weil das Gedränge keinerlei Bewegung erlaubte), sahen sich oft den wütenden Beschimpfungen und Tätlichkeiten durch die übrigen Konzertbesucher ausgesetzt. Die Menge verlangte Konformität in der Loyalität. Wer Britannien nicht wie alle anderen feierte und sich nicht anpasste, musste erzogen werden. Und diejenigen, welche ihre Hüte nicht immer wieder abnah men, bekamen Prügel von den Umstehenden. Regelmäßig nutzten Rädelsführer die Stühle im Saal als Keulen und Wurfgeschosse: »Chairs and stools were dragged from the orchestra, to be used as weapons of offence and defence.«160 Offen blieb in diesen Saalschlachten, inwieweit die Kompositionen das Verhalten des Publikums beeinflussten. Eine Analyse des Repertoires belegt, dass die verschiedenen Stücke durch ähnlich schnelle Tempi, eine große Lautstärke und die Verwendung sehr tiefer oder sehr hoher Töne gekennzeichnet waren. Diese in Klang verwandelten musikalischen Extreme stellten sicher nur eines der die Menge anziehenden Elemente dar.161 In den Promenadenkonzerten erfreute sich das Publikum am massenhaften Einsatz von Orchestern und Chören, staunte über Effekte und Ausstattung, die sich als Sinnbilder der gesamten Bevölkerung deuten ließen. Und letztlich unterhielt es sich durch die eigene Zurschaustellung. Die Menge kam, hörte und feierte sich selbst als die Verwirklichung der Nation. Zu beobachten ist hier ein europaweit geltendes Phänomen. Eduard Hanslick beschrieb 1869 eine Entwicklung des Wiener Konzertlebens »von patriarchalisch-aristokratischer Unfreiheit der Kunst bis zu deren vollständiger Demokratisirung«.162 Sicher war jedenfalls, dass der kollektive Akt der Selbstbegeisterung breiterer Hörerschichten auch die Überschreitung sozialer Regeln umfasste. Selbst die tätlichen Ausschreitungen durch Teile des Publikums wurden jahrelang als beinahe selbstverständliche Begleit erscheinungen in Kauf genommen. So eindrucksvoll die musikalischen Auf160 TI, 4.11.1848; Punch, 15 (1848), 220. Vgl. Pearsell, Victorian Popular Music. 161 Vgl. Gabrielsson/Lindström, Role of Structure, 367–400. 162 Hanslick, Geschichte, xiii. Vgl. McColl, Criticism.
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führungen auch waren, das ästhetisch faszinierendere und politisch relevantere Spektakel spielte sich unter den Zuschauern ab, wie der »Punch« anerkennend festhielt: »The performance of the five bands is insignificant, after all, compared with the performance of the audience.«163 Aufschlussreich ist der Blick auf ein Wechselverhältnis, das heißt darauf, dass die soziale Ordnung an musikalisch motivierte Emotionen gebunden war und dass umgekehrt musikalisch verstärkte Erregungen soziale Phänomene darstellten. In vielen Saalschlachten wird deutlich, dass emotionale Praktiken einzelne Menschen zu Gruppen vereinten. Durch die Wiederholung gemeinsamer Gefühlszeichen und körperlicher Bewegungen erfuhren, ja erlernten Musikfreunde oft soziale Bindungen. Emotionen werden durch die körperliche Dimension des Musikhörens sichtbar. Spezifisch für musikalische Reize ist es, dass sie im Unterschied zu anderen Kunstgattungen direkt auf den Körper einwirken. Die Musik stimu liert die Menschen immer auch spontan, trotz aller kognitiven Brechungen. Neurologische Messungen haben ergeben, dass Musik Reaktionen im vegetativen Nervensystem hervorruft, welche nicht nur die Muskeln, sondern ebenso auch die Herztätigkeit, die Atemfrequenz und den Blutdruck be einflussen.164 Die Wirkung akustischer Impulse auf den Zuhörer, welche unbewusste motorische Aktionen zur Folge haben, bildet einen wichtigen Zugang zum Verständnis ihrer Reaktionen. Wahrscheinlich ist es deshalb so verbreitet, von Musik in Adjektiven zu reden, weil nur durch die sprachlich vermittelte Erklärung deren körperliche Wirkung darstellbar wird. Wie sehr das bildungsbürgerliche Publikum des 19. Jahrhunderts auch von der »trans zendenten« und »geistigen« Wirkung der Musik schwärmte, wahrscheinlich ist sie zuerst einmal die körperlichste Kunstform.165 Emotional motivierte Handlungen führen zu körperlichen und oft spontanen Aktionen, ohne dass den Handelnden die Ursachen immer völlig bewusst sind. Sichtbare Erfolge erzielen lärmende und sich prügelnde Musikliebhaber in bestimmten Situationen gerade dann, wenn sie intuitiv wissen, welche Handlung vermutlich funktioniert. Eingeübte motorische Fähigkeiten erleichtern aggressives Verhalten, während bewusstes Nachdenken man163 Punch, 15 (1848), 220. Vgl. Parakitas, Representation, 181–202; Notley, Volksconcerte, 421–453; Applegate, Bach, 255–257. 164 Behne, Hörertypologien; Blaukopf, Wandel, bes. 206–221, insges. die Perspektive von Radkau, Zeitalter der Nervosität. 165 Wie ausgeprägt sich etwa in der soziologischen Forschung die bildungsbürgerliche Vorstellung des 19. Jahrhunderts von der Musik als der körperlichsten aller Kunstformen nach wie vor hält, zeigen etwa die Arbeiten von Hutcheon, Bodily Charm; Frith, Performing Rites, bes. 126–138; Bourdieu, Soziologische Fragen, 147–153.
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che Entscheidungen behindert. Eine emotionale Reduktion der Komplexität ist zu erkennen. Gewaltbereite Hörer freuen sich anscheinend darüber, dass sie jenseits der eigenen Handlung keine gewinnbringende Alternative erkennen oder ersehnen.166 Auch wenn die körperliche Dimension des Musikhörens nicht verkannt werden darf, können die Reaktionen des Publikums nicht als ein direkter Ausdruck musikalischer Emotionen begriffen werden. Unterschiedlich zusammengesetzte Publika an verschiedenen Aufführungsorten reagieren auf ein und dieselbe Komposition durchaus verschieden. An verschiedenen Orten und in verschiedenen Kontexten produziert das Publikum verschiedene Emotionen: Beethovens fünfte Sinfonie in c-moll konnte innerhalb eines Promenadenkonzertes zur berieselnden Gebrauchsmusik, im Konzertsaal dagegen zur bewunderten Kunstmusik avancieren. Körperlich ausgelebte Gefühle im Musikleben beruhen auf Erfahrungen und Gewohnheiten. Sie können mithin nicht allein als körperliche Ausbrüche, sondern ebenso als erlernte Entscheidungen, als gewollte Handlungen begriffen werden.167 In welchen Formen Emotionen gezielt eingesetzt werden konnten, veranschaulicht ein Streik im Londoner Her Majesty’s Theatre 1886 während der Aufführung der Oper Faust von Charles Gounod. Die Arbeiter des Hauses brachen eine laufende Vorstellung ab und wandten sich gegen ihre sozial deprimierende Lage. Der Abend begann unterhaltsam. Das Publikum erschien zahlreich und in guter Laune. Diese Oper wies außerordentliche, bisweilen überragende musikalische und szenische Schönheiten auf. Auf einsamer technischer Höhe bestachen die Koloraturen der Sopranistin in Marguerites Juwelenarie.168 Die Stimmung des Londoner Publikums verbesserte sich nicht, als die Aufführung des Faust nach dem dritten Akt abgebrochen wurde. Zwischen dem zweiten und dritten Akt trat eine überlange Pause von etwa 45 Minuten Dauer ein. Das Publikum reagierte zunächst gelangweilt, dann irritiert und schließlich wütend. Zurufe, eigene Gesänge und Schreie sorgten für eine lebhafte Atmosphäre im Auditorium. Auch nach dem Wiederbeginn war das Vorspiel des Orchesters und die erste Arie kaum zu vernehmen und die Künstler mussten für einen Moment die Vorstellung unterbrechen. Manche 166 Vgl. Gigerenzer, Bauchentscheidungen, bes. 11–48. 167 Vgl. zur Beziehung von Musik und Emotionen die Beiträge in Juslin/Sloboda (Hg.), Music and Emotion; hier v. a. Cook, Musicological, bes. 37 f., 62–68; DeNora, Agency, bes. 164–169; Sloboda, Music, bes. 454–462; sowie Bradley, Language of Emotion; Budd, Music, bes. 16–51; Finnegan, Music Experience, 181–192. 168 Vgl. zum Rang und zur Nachwirkung von Gounods Oper Faust (in Deutschland aus Ehrfurcht vor Goethes Genie oft angekündigt als Margarethe): Kreutzer, Faust, 126–132.
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Sänger schrien in den Saal, man solle gefälligst schweigen, um die Vorstellung zu ermöglichen. Unterdessen verbreiteten sich im Publikum Gerüchte, nach denen die schwache Besetzung des Orchesters (ohne Klarinetten und mit nur einer Flöte) und die dürftige Dekoration der Szene auf finanzielle Defizite des Veranstalters hindeuteten. Viele Musiker hatten offenbar kaum oder gar keinen Lohn erhalten. Auch nach dem mühsam bewerkstelligten dritten Akt blieb der Vorhang sehr lange geschlossen – das war das vorzeitige, für die Streikenden gewünschte, aber für das Publikum rundum unerwünschte Ende der musikalischen Darbietung. Das Publikum intervenierte wie gehabt lautstark. Mit erstaunten Ausrufen rief die Menge immer lauter den Manager auf die Bühne, der dieses Desaster zu rechtfertigen habe. Dieser erklärte, dass die Bühnenarbeiter und Kulissenschieber ihre Arbeit verweigerten. Daher müsse man die Vorstellung abbrechen und »God save the Queen« spielen. Nicht einmal dazu kam es, und viele Zuschauer verließen ärgerlich das Opernhaus. Statt eines vierten Aktes erlebten die Verbliebenen ein anderes Finale an diesem Abend. Als der Vorhang sich endlich hob, standen auf der Bühne keine Sänger, sondern über einhundert Bühnenarbeiter und Artisten: Kulissenschieber, Tischler, Handwerker, Choristen, Ballerinen, Männer und Frauen. Manche hatten sich in Kostüme geworfen. Es war ein Streik auf offener Bühne durch die enttäuschten Bühnenarbeiter. Diese riefen den Anwesenden zu, dass sie alle dringend ihren bisher nicht erhaltenen Lohn bräuchten. Einige im Publikum erachteten es als witzig und geistreich, den Streikenden Münzen vor ihre Füße zu werfen. Einige Arbeiter sammelten das Geld auf, andere aber gingen wütend auf die sie beleidigende Menge los. Dabei entstand ein etwa halbstündiges Chaos im Opernhaus: Rangeleien, Drohungen, Rufe mischten sich mit denen von der Galerie und den Stehplätzen aus gesungenen Schlachtgesängen des Publikums: »We won’t go home till morning.« Für einige Momente schienen sich die Wünsche der ärmeren Opernbesucher mit denen der Arbeitslosen zu überschneiden. Abgesehen von der gescheiterten musikalischen Aufführung und den verbalen Beleidigungen kamen nur Gegenstände zu Schaden. Manche rollten Teppiche auf oder warfen sie in den Saal, andere zerschlugen Lampen. Glücklicherweise wurden Streikende und Opernbesucher eher durch die Verteidigung ihrer jeweiligen sozialen Stellung als durch den Willen zur Gewalt motiviert.169 Dieser Streik war ein öffentliches Ereignis. Die Presse in England wie auch viele Zeitungen in ganz Europa bewerteten den Streik und das Verhalten 169 DN, 8.3.1886; MW, 13.5.1886, 169 (»A Musical Riot«); ILN, 13.5.1886, 260.
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aller Anwesenden eher als Posse.170 Sicher habe der Staat sich Arbeitsloser und Bedürftiger anzunehmen. Hier aber gehe es um die verletzten Ansprüche der musikalischen Gesellschaft und dem Anspruch der Streikenden; entsprechend müsse das Publikum wohl seine Eintrittskarten zweifach bezahlen.171 Die »Times« spottete generell über das Her Majesty’s Theatre: Covent Garden sei heutzutage ein gesellschaftlicher Circus, die Konkurrenzoper am Haymarket solle dagegen besser in ein Postamt verwandelt werden.172 Tatsächlich empörten sich manche Beobachter darüber, dass diese Unruhe im Theater ein öffentlich wirksamer Kampf der finanziell Unterlegenen gegen die inkompetenten Eliten war. Die Streikenden formierten sich nach eigenen Regeln gegen den geltenden Spielbetrieb und wohl auch in Abgrenzung zum gehobenen Bürgertum. Es ging um den Kampf um Lohn für das Volk und durch das Volk. Die emotionale Protestform der streikenden Bühnenarbeiter war eine erfolgreiche Strategie gegen den distinktiven Musikkonsum der Elite.173
Wachsender Ärger über musikalische Experimente Unordnung und Ordnung während der Aufführungen befanden sich in einem symbiotischen Verhältnis. Lautstarke Unruhen und elitäres Benehmen konnten sich in ein und derselben Vorstellung ereignen. Bewertete das Publikum die Darbietung und die Qualität einer Komposition, orientierte es sich wenigstens an zwei Leitbildern: Freiheit und Konservatismus. Namentlich im Rahmen von Premieren konkurrierten ästhetische Vorstellungen von Erneuerung und Bewahrung gegeneinander. Selbstredend stritten die Musikliebhaber intensiv darüber, welcher Stilrichtung sie den Vorzug geben wollten und welche Werke sie abzuwerten hatten. Vor 1860 zielten Skandale nur in relativ wenigen Ausnahmefällen gegen die gebotene »neue« Musik der Zeit. Viele bewerteten danach aber die als irritierende Innovation rezipierten Stücke als schlecht und störend, als fremd und die Kultur gefährdend. Wo die musikalische »Moderne« anfing und wo sie endete, was sie leistete oder entstellte, das entschieden die Hörer.
170 Irritiert kommentierte die Berliner »Vossische Zeitung« (9.3.1886) die Tatsache, dass es in einem der großen Londoner Opernhäuser überhaupt zu einem Streik kommen konnte und die Briten mit Arbeitskämpfen den Musiktempel entweihten. 171 Vgl. SP, 13.3.86, 338. 172 TI, 8.3.1886. 173 Vgl. Joyce, Visions, 305–328; insges. Hemmings, Theatre Industry, 9–27.
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Der französische Komponist Hector Berlioz sah sich 1853 dem Spannungsverhältnis zwischen musikalischer Freiheit und Konservatismus ausgesetzt. In Covent Garden leitete er die Londoner Aufführung seiner Oper Benvenuto Cellini. Die Ankündigung dieses nachgefragten Künstlers und seines neuen Werkes sorgte für eine Sensation, und die gesellschaftliche Elite versammelte sich beinahe vollzählig zu diesem Ereignis. Selbstredend kamen auch Königin Viktoria und Prinz Albert. Sie besuchten, begleitet vom König und der Königin von Hannover, die Vorstellung im Laufe des ersten Aktes – und blieben fast bis zum Ende des dritten Aktes. Der Abend verlief unharmonisch. Viele im Publikum kolportierten das Gerücht, dass Berlioz-Kritiker an diesem Abend eine Störung der Vorstellung planten. Die fremdsprachige Oper eines Franzosen verachteten in London manche Zuhörer. Bereits die Pariser Uraufführung des Benvenuto Cellini erwies sich als Misserfolg. Teile des englischen Publikums wollten daran anknüpfen, obwohl Berlioz’ Gastspiele bis dahin in London meist erfolgreich waren. Das Unverständnis gegenüber seiner Musik zeigte sich in den Besprechungen mancher Zeitungen. Einem Publikum, welches sich in seinem konservativen Geschmack dem Stil der italienischen Komponisten und Meyerbeers Bühneneffekten anpasse, könne eine als »modern« erachtete Oper von Berlioz kaum gefallen: »Wir sprechen von der breiten Öffentlichkeit, deren Ohren sich an die faden Plattitüden der modernen italienischen Schule und die rasenden Effekte von Meyerbeer gewöhnt haben. … Solch einer Öffentlichkeit, die mit Konventionen und den Hörnerv kitzelnden Kuriositäten liiert ist, können die Neuheiten in Berlioz’ Werk nicht gefallen.«174 Auch die Handlung der Oper und die gesamte Bühnenausstattung bezeichneten viele Beobachter als enttäuschend. Schon im Laufe des ersten Aktes murrte das Publikum. Im zweiten Akt äußerten die Zuschauer häufige, lautstarke und handfeste Drohungen gegen diese Produktion. Nach dem Finale des dritten Aktes vermochte der zurückhaltende freundliche Applaus nicht mit dem Sturm der Entrüstung einerseits und dem Lärm der Abgestoßenen und Herauseilenden andererseits zu konkurrieren. Eine applaudierende Minderheit suchte, den Komponisten auf die Bühne zu rufen. Berlioz hielt es aber offenbar für klüger, sich dieser Kabale nicht zu stellen. Auch schwächere Opern als diese waren in London durchgefallen. Doch hier hatte sich eine Gruppe im Auditorium offenbar verabredet, gemeinsam an den wichtigsten Stellen der Produktion so lautstark zu stören, bis ihnen fast der ganze Saal folgte. Beachtenswert war am Ende dann noch eine Tatache: Die zahlreichen Zischer und Buhrufer nahmen während der Vorstellung auf 174 MP, 27.6.1853.
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die Anwesenheit der königlichen Familie und des Hofes überhaupt keine Rücksicht. Vor 1860 genoss das Publikum seine geplanten Provokationen in ganz Europa – auch vor anwesenden Monarchen.175 Es mangelte nicht an Karikaturen, die über die Fehlbesetzung der Orchester und über die Lautstärke der Aufführung spotteten. Ein innovativer Komponist und Dirigent wie Hector Berlioz wurde zur idealen Zielscheibe der Satire. Zur Verteidigung erklärte er rückblickend, dass er sich oft gefragt habe, ob es die Musik selbst sei, die die Hörer errege, ja aggressiv und verrückt mache. Letztlich glaube er zwar leidenschaftliche Reaktionen beobachtet zu haben, doch entscheide das Publikum selbst über den eigenen Kontrollverlust und den Kontrollgewinn. »Beschäftigen sich manche Leute mit Musik, weil sie verrückt sind, oder hat sie die Musik verrückt werden lassen? … Die Musik ist eine heftige Leidenschaft wie die Liebe; sie kann also zweifellos manchmal dazu führen, dass von ihr besessene Individuen scheinbar den Verstand verlieren. Aber diese Verwirrung des Geistes ist nur vorübergehend, der Verstand kehrt bei diesen Menschen bald zurück…; bleibt noch zu untersuchen, ob diese angebliche Verwirrung nicht … eine außerordentliche Erweiterung des Verstandes und der Empfindung ist.«176 Bis zur Jahrhundertwende ereigneten sich größere Unruhen und Handgreiflichkeiten nur noch in seltenen Fällen. Skandale überstanden die Zeiten, doch Saalschlachten endeten für Jahrzehnte. Die Opern- und Konzertbesucher debattierten gleichwohl weiterhin darüber, welcher Stilrichtung sie den Vorzug geben sollten und welche Kompositionen sie gar nicht mochten. Das änderte sich im frühen 20. Jahrhundert. Neue Ausschreitungen zielten auf die zeitgenössische Musik.177 Wien markierte den Ausgangspunkt. Eine Handvoll Komponisten und eine Gruppe von Intellektuellen stellten die zur Alltäglichkeit geronnene musikalische Spätromantik in Frage und entwickelten als Abgrenzung den Stil der Zwölftonmusik.178 Neue Klangtechniken und ein stilistischer Pluralismus befremdeten das Publikum. Viele Besucher fragten sich, ob die Kompositionen von Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton von Webern überhaupt spielbar und hörbar waren. Was in der Kritik an Schönberg (Wien 1907/08 und 1913; Berlin 1912, London 1914) kulminierte,179 zeichnete 175 Vgl. TI, 27.6.1853; MW, 2.7.1853, 411 f. 176 Berlioz, Schriften, 217. 177 Vgl. die Beiträge in Frevert (Hg.), Jahrhundert; dies./Haupt (Hg.), Mensch des 20. Jahrhunderts. 178 Vgl. Frisch, German Modernism; Steinberg, Listening, 202–225. 179 Vgl. die Dokumente über Schönbergs Skandalkonzerte in den Jahren 1907 und 1908 in: Eybl, Befreiung; sowie die Beiträge in Frisch (Hg.), Schoenberg and his World.
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Abb. 23: Diese Karikatur ironisierte die Wirkung der »modernen« Musik von Hector Berlioz auf das Publikum im Jahre 1846, indem es die Hörer als körperliche Wracks zeigte.
sich bereits vorher in der Wut des Publikums gegen Richard Strauss’ Salome ( 1905–1908) ab.180 Die Uraufführung von Igor Strawinskys Le Sacre du printemps in Paris verursachte vielleicht das größte Aufsehen vor dem Ersten Weltkrieg. Am 29. Mai 1913 gab das Ballet Russe von Sergei Diaghilew im Théâtre des Champs-Élysées Strawinskys Bühnenwerk. Der russische Komponist erschuf eine bewegende Musik des Körpers. Die Themen und Motive wurden im 180 Vgl. Buch, Le cas Schönberg, bes. 235–258; Fulcher, Cultural Politics and Music; Banks, Fin-de-siècle, 362–388; Ziemer, Moderne, bes. 117–145.
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Unterschied zur Spätromantik konziser und deutlicher, der Orchesterklang nahm die rhythmische Härte des Tanzes auf. Waslaw Nijinskis Choreographie formte die Bilder und die stampfenden und schüttelnden Bewegungen der Tänzer. Das mondäne und modisch ausstaffierte Publikum ertrug den ersten der beiden Teile noch mit verhaltenen Zwischenrufen und Pfiffen. Der zweite Abschnitt aber sprengte jedwede Erwartung, bedrohte den geltenden Geschmack. Der in einem Todesritual endende Frühlingstanz junger Mädchen entsetzte nicht nur inhaltlich, sondern ebenso melodisch, harmonisch und rhythmisch. Das ältere und reichere Publikum brüllte aus den Logen lautstärker als die jüngeren Bürger auf den Rängen und den Stehplätzen. Das Geschrei darüber, das Maul zu halten oder die Huren von der Bühne zu prügeln, stimulierte auch höhnisches Gelächter. Der musikalische Spaß verflog, als sich einige Zuschauer prügelten, sich mit Spazierstöcken verletzten und die Polizei auf den Plan gerufen werden musste.181
Pöbeleien im Saal und vor Gericht: Der Hass auf die Musik der Wiener Moderne Das europäische Musikleben dieser Zeit, wurde durch den Unwillen und die Unfähigkeit des Publikums beherrscht, sich zu verständigen. Die Ästhetik zeitgenössischer Kompositionen ließ sich weder trennscharf bestimmen noch einvernehmlich aushandeln. Weit markanter als in der Mitte des 19. Jahrhunderts, weil gesellschaftlich auffälliger und körperlich aggressiver, war der Widerstand gegen die musikalische Avantgarde im frühen 20. Jahrhundert. Aber auch um 1900 polemisierte die musikalische Mehrheit gegen die musikalische Minderheit. Im Unterschied zu 1850 aber ereigneten sich Unruhen nun im Konzertsaal öfter als im Opernhaus, denn vor allem hier erklangen die problematischen zeitgenössischen Kompositionen. Der Skandal und die Saalschlacht um ein von Arnold Schönberg am 31. März 1913 in Wien geleitetes Orchesterkonzert, kann dabei als einer der auffälligsten und wichtigsten Vorfälle begriffen werden.182 »Gestern abend ist der große Musikvereinssaal zum Schauplatz von Szenen geworden, wie sie sich in diesen Räumen noch niemals abgespielt haben«, resümierte die Presse den Vorfall.183 Schönberg gab als Gast des Akademischen Verbandes an der Spitze des Konzertvereins ein Programm bestehend 181 Vgl. Kelly, First Nights, 256–334; sowie Ross, Rest, 93–113; Charle, Paris. 182 Vgl. Berner/Brix/Mantl, Wien um 1900; Blaukopf, Konzerthaus, 210–222. 183 Wiener Extrablatt, 1.4.1913 (hieraus auch die folgenden Zit.).
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aus seiner Kammersinfonie, sechs Orchesterstücken von Anton von Webern, den zwei musikalischen Ansichtskarten von Alban Berg, sowie Orchester liedern von Alexander Zemlinsky und Gustav Mahler. Gleich nach Weberns Orchesterstücken lieferten sich Beifallsspender und Zischer einen minutenlangen Kampf um ihren musikalischen Geschmack. Zemlinskys Lieder beschwichtigten durch ihre glänzenden Orchesterfarben, und auch Schönbergs Kammersinfonie stieß auf kein hörbares Missfallen. »Erst als die übereifrigen Anhänger des Komponisten ihre Parteinahme allzu hartnäckig und allzu stürmisch laut ausdrückten, begann auch die Opposition gereizter und heftiger einzusetzen.«184 Bergs »Ansichtskarten« wurden bereits unter merklicher Unruhe im Publikum begonnen und führten zu schrillen Unterbrechungen. Das »Wiener Extrablatt« stellte in seinem Bericht über die Avantgarde bezeichnenderweise sogar die Kategorie der Musik in Frage: »Gesang – ich muss vorläufig dieses Wort gebrauchen bis ein neues und zutreffenderes Wort für diese Art Musik erfunden worden ist.« Die Reaktion des einen Publikumsteils war einheitlich und meist laut: höhnisches Gelächter bei jedem hohen Ton, Zischen und Zwischenrufe. Doch das waren allein Vorspiele zu den »wüssten Tumulten«, die sich nach dem zweiten dieser Lieder abspielten. Schönberg klopfte ab und rief wütend Sätze ins Auditorium, die durchaus an Hans von Bülows Ermahnung aus dem Jahre 1859 erinnern: »Ich ersuche die Störer, den Saal zu verlassen. Wenn ich noch einmal gestört werde, lasse ich durch die öffentliche Gewalt Ordnung schaffen.«185 Im Unterschied zur Berliner Szene des Jahres 1859 aber reagierte das Wiener Publikum 1913 widerwillig und begrub die Aufführung unter Pfiffen und Lachsalven. Infolge Schönbergs Drohung (der musikalischen und der verbalen) wurden die Zuschauer gewalttätig, und manche übersprangen etliche Stuhlreihen, um ihre musikalischen Gegner zu ohr feigen. Die Zuschauer ignorierten bald jede erworbene Ordnungsregel und bewegten sich drängend durch den Saal. Auch die Orchestermitglieder erhoben sich von ihren Plätzen und diskutierten an der Rampe mit den verärgerten und pöbelnden Konzertbesuchern. Der Architekt Richard Neutra erlebte diese Szene als ein komisches Chaos. Zunächst ärgerte es ihn, dass die Feinde der zeitgenössichen Musik bereits vorher geplant hatten, das Konzert zu sprengen. »Gleich zu Anfang begannen die Leute, heißt ein paar Leute, gröhlend zu lachen und zu schreien. Gesprochen und gerufen und herumgetrampelt wurde fast ohne Pause. Die Canaillen hatten eben das Gefühl, daß es da jemand auf billige Weise 184 Ebd. 185 Ebd.
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zu schlachten gab, jemand Vogelfreien. … Leute, die mit Kunst soviel zu tun haben, wie ich mit Kartenspiel, machten fortwährend Witze, die von den dazugehörigen Nachbarinnen für glänzend gehalten wurden.« Letztlich befremdete Neutra nicht die neue Musik, sondern der Wille der Publikumsmehrheit, einer Minderheit ihre musikalischen Rechte zu verweigern. Das Wiener Publikum sei zu einem eigenen Urteil jenseits der Konventionen unfähig und kompensiere seine Anpassung körperlich: »Ich zittere am ganzen Leib vor Wut. … Das Publikum ist eine feige, kunstfremde und kunstfeindliche Bestie, die sich für das ihr auferlegte Kuschen vor dem Anerkannten durch dieses Niederbrüllen, durch die Hetze des Vogelfreien entschädigt.«186 Auf der Galerie wie auf den Stehplätzen kam es zu Handgreiflichkeiten. Ein Polizist verhaftete vier Gewalttätige: einen Philosophiestudenten, einen Arzt, einen Ingenieur und einen Juristen. Vom Publikumsverhalten überfordert, ließ er die Veranstalter wissen, er könne hier keine Ordnung schaffen, wenn er nicht einen Wachmann neben jedem zweiten Konzertbesucher platzieren würde. »Hinaus mit der Bagage!«, brüllte Anton von Webern aus seiner Loge heraus. Und ein anderer rief »Haltet das Maul!« Inzwischen hatte die Wut der Menge den Klang der Musik ersetzt, und ein Kampf zwischen tobenden Applaudierenden und wütenden Protestrufern separierte das Pu blikum in zwei miteinander streitende Lager. Mahlers Kindertotenlieder kamen gar nicht erst zur Aufführung. Der Präsident des Akademischen Verbandes, der Student Erhard Buschbeck, betrat das Podium, um wenigstens für Mahlers Werk Stille zu erwirken und rief: »Ich bitte die Kindertotenlieder von Mahler in Ruhe anzuhören!« Das Publikum nahm seine Belehrung zornig entgegen: »Unerhört!« oder »Frechheit!« schleuderten ihm die aufge brachten Hörer entgegen – verziert mit vielen anderen Schimpfkanonaden.187 Buschbeck konnte seinen Ärger ebenso wenig kontrollieren wie das Publikum den seinen. Er packte sich einen der Protestrufer, den Arzt Viktor Albert und ging auf ihn los mit den Worten: »›Gilt das mir?‹ und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Dr. Albert wirft sich auf ihn, um ihm gleichfalls einen Schlag zu versetzen«.188 Umherstehende trennten die beiden sich prügelnden Musikkenner und drängten sie auf die Straße hinaus. Im Saal setzten sich die Protestrufe fort, und viele Konzertbesucher riefen zu einem Abbruch der Vorstellung auf. Das Orchester tat dazu den entscheidenden Schritt und verließ die Szene. Der Lärm unter den noch verbliebenen Besuchern ging etwa eine Viertelstunde lang weiter, bis nach dem Ausschalten der Beleuch186 Zit. nach Szmolyan, Skandalkonzert, 293–304 (Zit. 300). 187 Ebd. 188 Ebd.
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Abb. 24: Glaubt man dieser satirischen Darstellung aus Wien (1913), dann spornte Arnold Schönbergs Dirigat das Konzertpublikum zu immer heftigeren Prügeleien im Saal an.
tung auch die Letzten diskutierend den Saal verließen. Aber die Erregung pflanzte sich fort in die Garderobe, in die umliegenden Gasthäuser und in den nächsten Tagen in die Presse, in der die Vorgänge ausführlich besprochen wurden.189 »Die Zeit« veröffentlichte am 6. April 1913 eine minutiös gezeichnete Karikatur über diesen Musikskandal unter dem Titel »Das nächste Wiener Schönbergkonzert«. In einer brillanten Verschmelzung der öffentlichen 189 Vgl. NWT, 1.4.1913; Neues Wiener Journal, 1.4.1913; 2.4.1913; Die Zeit, 1.4.1913 (M); 2.4.1913 (M) (A); 3.4.1913 (M).
Saalschlachten | 289 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Stimmungsberichte einerseits und einer Satire auf das chaotische Publikumsverhalten andererseits setzte man Arnold Schönberg als Dirigenten in die Mitte eines Zuschauerraumes, in dem sich seinetwegen Musiker und Publikum prügelten. Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren und Karikaturen behandelten ausführlich diese Ausschreitungen. Viele Journalisten irritierten die grund sätzlichen weltanschaulichen Differenzen innerhalb der Kunstmusik, denn »die Gegensätze der feindlichen Parteien [konnten] nicht brutaleren Ausdruck finden als im gestrigen Konzert«.190 Die Aussagen waren variantenreich, inhaltlich aber eindeutig. Presse und Publikum riefen gleichermaßen zur Verteidigung des erreichten musikalischen Standards gegen die grundlegenden Veränderungen zeitgenössischer Kompositionen auf. Dazu diente die strategisch genutzte Gewalt gegen die »falschen« Komponisten und die »falschen« Gefühle der Avantgarde. Nicht nur die kulturelle, auch die gesellschaftliche Ordnung schien durch die neue Musik bedroht zu werden, weil sie dem Zuhörer fremd war. Nach Ansicht des »Wiener Extrablattes« war es »begreiflich …, wenn diese Versuche als ein Attentat auf alles empfunden werden, was man bisher als Musik geliebt hat«. Trotz der sicher gesellschaftlich unerwünschten Gewalt im Konzertsaal bleibe es eben verständlich, »wenn sich auch in den Friedlichsten (obendrein durch den Terrorismus faszinierter Genossen provoziert) alles gegen solche Vergewaltigung wehrt«. Beklagenswert sei nämlich, dass junge Künstler wie »Borg [sic] und von Webern sich im Suchen nach neuen Ausdrucksmitteln derart in die tönende Anarchie verirrt haben. … Hier kam auch der Wohlmeinende nicht mit. Zwischen dem Drang nach dem Neuen und der Sucht nach dem Absonderlichen läuft eine scharfe Scheidelinie und ein Kalb mit fünf Füßen ist nicht originell, sondern eine Mißgeburt«.191 Diese letzte Formulierung verwies auf den klinischen Diskurs der Jahrhundertwende, auf die Interpretation des raschen kulturellen Wandels als eine Erkrankung der Nerven. Die Nähe zur entstehenden Eugenik ist offensichtlich. Emotional erlebter Hass war kaum zu trennen von rationalen, wissenschaftlich begründeten Erkenntnissen. Um eine Heilung des Publikums wie der Gesellschaft von dieser gefährlichen Missbildung zu erlangen, verbreiteten selbsternannte Experten in biologistischen Metaphern Legenden über Rezepte und Heilungsmaßnahmen. Vielleicht könnten Nervenärzte die kranken Komponisten kurieren. Und mochte Schönberg auch für alle ersichtlich wahnsinnig sein, die Fachärzte würden ihn schon heilen, solange 190 FB, 1.4.1913 (M). 191 Wiener Extrablatt, 1.4.1913.
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sie seinen »Darbietungen eines Tollhauses«, dem »Anreiz zum Umsichgreifen solchen Wahnsinns« widerstanden. »Gegen Verbrechen oder Krankheit und Seuche auf geistigem Gebiete anzukämpfen, ist Pflicht der intellektuellen Gesellschaft.«192 Übrig bliebe hier noch die Meinung Arnold Schönbergs. Was dachte er über diese Saalschlacht, oder genauer: über diesen Kampf in der Öffentlichkeit? Erhalten ist glücklicherweise ein Zeitungsinterview, in dem er dafür plädierte, dass alle Musikliebhaber über ihr Recht verfügten, zuzuhören statt nur zu lärmen. Der Konzertveranstalter (er selbst) sei, moralisch und materiell betrachtet, Inhaber eines Rechtsgutes – der Musik. »In Wien fasst man leider moderne Konzerte nicht als künstlerische Angelegenheiten, sondern als politische auf. Wie eine Sache aufgenommen werden soll, das ist schon vorher bestimmt. … Die Provokation ist unbedingt von den Zischern ausgegangen, die gleich nach dem zweiten Webernschen Stück ihrer geistigen und sonstigen Überlegenheit Ausdruck gaben. Ich bin ja auch nicht für das Applaudieren. Aber wenn das Zischen gestattet ist, muß auch das Applau dieren erlaubt sein.«193 Gewalttätige musikalische Unruhen im Konzertsaal lassen sich vor Gericht fortsetzen. So geschah es im April und Mai 1913 in den Verhandlungen vor dem Wiener Strafbezirksgericht. Der praktische Arzt Viktor A lbert reichte eine Ehrenbeleidigungsklage gegen den ihn ohrfeigenden Erhard Buschbeck ein. Der Beschuldigte sei direkt nach seiner kurzen Stellungnahme auf Adler zugekommen und habe ihn gefragt, ob er ihn einen Lausbub genannt habe. Darauf habe er ihm, ohne eine Antwort abzuwarten, eine kräftige Ohrfeige versetzt. Der Angeklagte erklärte sich dem Vorsitzenden Bezirksrichter Dr. Decker gegenüber in dieser Hinsicht für schuldig. Doch er habe niemanden reizen, sondern das Publikum nur durch seinen Aufruf beruhigen wollen. Zudem stehe es fest, dass es Albert war, der ihm tatsächlich die Beleidigung »Lausbub« um die Ohren geschleudert habe. Die Verteidigung führte aus, dass dem Publikum die Werke durch Gerüchte bekannt gewesen seien und viele in voller Störungswut, ausgerüstet mit Ratschen und Pfeifen, den Saal betreten hätten. Der Komponist Oscar Strauss bestätigte den Ablauf der Tätlichkeit – ganz im Sinne Viktor Alberts. Schließlich führte Albert ergänzend aus, er könne unterstreichen, »die aufgeführten Kom positionen wirkten, wie ich als Arzt beurteilen kann, auf einen großen Teil des Publikums entnervend und derartig schädigend für das Nervensystem,
192 OR, 1.4.1913. Vgl. die Beiträge in Mann (Hg.), Biologismus. 193 Schönbergs Interview in der Zeit, 3.4.1913 (M).
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dass viele Besucher äußerlich schon Zeichen einer schweren Gemütsdepression zeigten«.194 Am Ende blieb dem ehrverletzenden Studenten Buschbeck jedoch ein Duell mit Pistolen erspart. Gegen ihn erging das Urteil, 100 Kronen Geldstrafe zu zahlen, oder bei Verweigerung der Zahlung fünf Tage Arrest zu verbüßen. Warum gab es Saalschlachten im Musikleben der Elite regelmäßig bis 1860, nur selten bis 1910, dann in Einzelfällen bis 1930 und danach fast nie mehr? Das weitgehende Verschwinden tätlicher Ausschreitungen vollzog sich in verschiedenen europäischen Ländern in unterschiedlichem Tempo und damit zeitlich versetzt.195 Musikalisch motivierte Unruhen standen am Scheideweg zwischen Populär- und Hochkultur. Bevor sich die Musik in unterhaltende und elitäre Kategorien ausdifferenzierte, blieb die Trennlinie lange in Bewegung und oft nur schwer erkennbar. In den vielen Opernaufführungen und Promenadenkonzerten kamen etwa bis 1860 Adelige, Bürger und Kleinbürger zusammen, bevor der Musikbetrieb sich nach verschiedenen Genres, Aufführungsorten und Klassen aufspaltete. Musikalische Aufführungen blieben der Gesellschaft wichtig, nur verteilten sich die Publika und deren Interessen und Geschmäcker auf vielfältige Spielstätten. Die Besucher der Berliner Hofoper und die eines Varietés unterschieden sich in Herkunft und Beruf, in Geschmack und Verhalten schließlich immer mehr voneinander. Nach 1860 hielt das Publikum Handgreiflichkeiten innerhalb einer Auf führung für unangemessen. Ehemals allgemein akzeptierte, ja von der Mehrheit gewünschte Verhaltensmuster machten anderen sozialen und ästhe tischen Idealen Platz. Auch hier ist eine Selbstdisziplinierung des schweigsamen Publikums zu beobachten. Professionalisierung und Ausdifferenzierung verursachten eine Zähmung des Publikums. Hoch- und Populärkultur griffen ineinander und sorgten für eine kontinuierliche Abnahme theatralischer und körperlicher Publikumsreaktionen. Handgreifliche Protestformen wichen diskreteren Strategien, die Wut über den Spielbetrieb an einem Ort ließ sich nun leichter durch den Besuch eines anderen Hauses abwenden. Gewohnheit und Konservatismus standen am Anfang und am Ende der Saalschlachten. Denn die musikalischen Ausschreitungen gefährdeten die geltenden sozialen und politischen Regeln nur optisch und akustisch. Das Publikum wehrte sich gegen eine ihm fremde Komposition, gegen den 194 NFP, 22.4.1913 (M) (zit.); Neues Wiener Journal, 22.4.1913; 3.5.1913; Die Zeit, 22.4.1913 (M) und 3.5.1913 (M). 195 Vgl. aber zu den Chancen und den Grenzen politischer Demonstrationen auf deutschen und französischen Bühnen in den 1960er-Jahren Kraus, Theater-Proteste, bes. 35–103.
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falschen Geschmack oder gegen das Repertoire. Aber es tat das unterhaltend und theatralisch im Affekt – nur selten politisch revolutionär. Das hier untersuchte lärmende Publikum stritt meist für den Bestand der bestehenden politischen Ordnung. In dieser Hinsicht sind die Struktur und die Wirkung von Saalschlachten grundlegend von denen der Skandale zu unterscheiden.196 Denn die Gefühls- und Gewaltausbrüche des Opernund Konzertpublikums waren keine Überschreitung der geltenden Normen in der Gesellschaft. Das Gegenteil war der Fall. Die Unruhe im Auditorium richtete sich nur in Ausnahmefällen wie der 1848er Revolution gegen die Dummheiten bestimmter Fürsten oder die Fehler von Politikern. Das Publikum überschritt nur körperliche Benimmregeln. Meistens stritt es durch emotionale Praktiken für mehrheitsfähige Normen und Ziele. Die vermeintlich konfliktreichen musikalischen Unruhen lassen sich wohl als eine Suche nach Sicherheit begreifen. Das demonstrative Engagement für die Aufrechterhaltung der bereits erfolgreichen Parameter aus den Bereichen Politik, Status und Kultur bildete eine Investition in die Zukunft. Unordnung ermöglichte Ordnung.
196 Vgl. Bösch, Geheimnisse; sowie die Beiträge in Bulkow/Petersen (Hg.), Skandale.
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V. Politischer Konsens und Dissens
1. Politische Selbstbegeisterung: Staats- und Galaaufführungen Erfolgreiche Politik benötigt erfolgreiche Übertreibung. Will man den politischen Raum im Musikleben gewinnen, kann man nicht genug übertreiben. Die Akteure sind vor allem bestrebt, die Situationen durch ihre eigene Darstellung zu bestimmen. Gerade im Opernhaus profitierten die Erscheinungsformen von Macht und Herrschaft von einer sinnlichen Dramaturgie – das heißt von der Hörbarkeit und Sichtbarkeit. Unabhängig davon, ob es galt, einen Kaisergeburtstag, die Inauguration einer Republik, einen Nationalfeiertag oder eine Revolution zu feiern – tendenziell feierten sich alle Herrschaftsformen in der Oper. Der Besuch des Opernhauses war nicht nur eine soziale Praxis, sondern auch eine politische Praxis, die auf öffentlicher Inszenierung beruhte.1 Die Oper unterscheidet sich in ihren Darstellungsformen von anderen musikalischen Gattungen – selbst von Konzertaufführungen. Klaviersonaten, Streichquartette und Sinfonien mögen in Einzelfällen zwar die politischen Interessen ihres Schöpfers spiegeln, sie stellen aber relativ intime, weniger expressive musikalische Gattungen dar und sind somit für politische Zuschreibungen weit weniger geeignet. »Man kann aus dem offiziellen Opernleben mehr über die Gesellschaft lernen als über eine Kunstgattung«, urteilte Theodor W. Adorno.2 Opernaufführungen ermöglichten und erzwangen politische Repräsentation. Die gesellschaftlichen Funktionen des Musiklebens eröffneten einer vermeintlich unpolitischen Unterhaltungsform politische Dimensionen. Folgt man der amerikanischen Kulturwissenschaftlerin Ruth Bereson, dann können Opern erstens als Institutionen, zweitens als Aufführungen und drittens als Teil einer impliziten oder expliziten Herrschaftsstrategie regierender Eliten
1 Vgl. zu der politischen Reichweite und den gesellschaftlichen Grenzen in den Metropolen des 20. Jahrhunderts den Vergleich der »Opernkrisen« in Berlin, London und Paris von Sarah Zalfen, Staats-Opern, 108–125; sowie Bereson, Operatic Statte, 1–15. 2 Adorno, Einleitung, 105.
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begriffen werden.3 Im Opernhaus kam es den Herrschern darauf an, ihre Macht und ihren Status durch ihre Darstellung zu legitimieren. Regelmäßig wiederholte kulturelle Rituale erzeugten die ideale politische Organisation des Staates. Auch die kulturellen Rituale im Auditorium und die sozialen Trennlinien zwischen unterschiedlichen Klassen und Schichten konnten dazu beitragen, politische Entwürfe zu verfestigen. Die Teilnahme an einer Opernaufführung diente in den unterschiedlichen Gesellschaften, in unterschiedlichen politischen Systemen und zu unterschiedlichen Zeiten der Bestätigung der Herrschaftsverhältnisse. Das erkannte selbst Kaiser Wilhelm II., eine Persönlichkeit, die auch in Fragen der Kulturpolitik nicht verdächtig sein muss zu treffenden Urteilen zu gelangen. »Künstlerische Bauten … gehören zu den Pflichten der Repräsentation, die jeder Staat hat, gleichgültig ob er absolutistisch, konstitutionell oder demokratisch geleitet wird. Sie sind ein Maßstab für die Kultur des Landes.«4 Beachtenswert bleibt, dass die formalisierten Inszenierungen im Opernhaus nicht nur höfische Politikformen abbildeten, sondern ebenso demo kratische Gesellschaften sie als nützlich empfanden. Die politischen Zeremonien in Berlin, London und Wien waren sich nicht nur ähnlich, sondern beinahe austauschbar. Die Oper veränderte als Institution im Laufe der Zeit nur wenig ihren politischen Rang, blieb aber im Fokus unterschiedlicher Staats- und Regierungsformen. Die Hofgesellschaften und Regierungen, die Monarchen und Minister des 19. Jahrhunderts besuchten die Opernhäuser, um die Dynastie, die Regierung oder die Nation zu repräsentieren. Obwohl sich das Zeremoniell einer Operngala im 19. Jahrhundert wenig veränderte, vereinten sich dabei traditionelle und neue Politikformen. Gerade in den Umbruchszeiten des 19. Jahrhunderts war der Bedarf nach politischer Inszenierung der Machthaber hoch. Man kann hier sogar von einem Zeitalter der Theatralität sprechen, genau genommen von einer zunehmenden »Theatralisierung des Politischen«.5 Die politischen Gastgeber und die Staatsgäste nutzten die Opernhäuser als mediale Bühne. Die Orte und Räume der Macht des Gastgeberlandes waren es, die anlässlich solcher Staatsbesuche aufgesucht wurden. Im Opernhaus ließ sich die sinnliche Nähe weit entfernter Herrscher, Länder und Menschen erleben. Die prachtvollen Opernhäuser gaben dazu nicht nur einen geeigneten Rahmen ab. Oft waren sie die einzigen relevanten repräsentativen öffentlichen Gebäude. Der Zwang zur kulturellen 3 Bereson, Operatic State, 178–185, und passim. Vgl. Daniel, Hoftheater, 115–125; Fulcher, Nation’s Image, 11–46; Fulcher, Symbolic domination, 312–329. 4 Wilhelm II., Ereignisse, 168. 5 Vgl. Soeffner/Tänzler, Figurative Politik, 17–33; und dagegen den klassischen Ansatz von Edelman, Politik als Ritual, bes. 72–91.
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Öffentlichkeit ist insofern ein wesentliches Kennzeichen neuer politischer Kommunikation.6 Die Berichte über die Staatsbesuche in der Presse offenbarten die Mechanismen des politischen Raumes.7 Gerade die Verbreitung ungekannter Stückzahlen von Zeitungen und Bildern veränderte den politischen Massenmarkt. Für die Staatszeremonien im Opernhaus hieß das: Ihre politische Reichweite beruhte auf den Wahrnehmungsmöglichkeiten in einem dramatisierungsfähigen Kontext. Die Zeremonien waren zwar eine strikt geregelte Veranstaltung der Mächtigen, verlangten aber öffentliche Beobachtung und Teilnahme – zunächst der anwesenden Besucher und dann einer immer größeren Öffentlichkeit in der Zeitungslandschaft. Die politische Zeremonie setzte daher eine Form der Partizipation voraus, die keinesfalls auf gleichberechtigter Teilhabe, wohl aber auf der Bereitschaft der Öffentlichkeit beruhte, diese Geschehnisse als bedeutende Ereignisse wahrzunehmen. Durch die mediale Präsenz wurde potenziell jeder Beobachter zugleich ein Teil des Staatsbesuches – weder im Deutschen Kaiserreich, im Habsburgerreich noch im Britischen Weltreich kamen die staatlichen Repräsentationen ohne öffentliche Aufmerksamkeit aus.8 Die zeremoniellen Rituale im Opernhaus strukturierte die politische Kommunikation. Die Aspekte waren zahlreich, die Vielfalt der miteinander verflochtenen Symbole und Reize kaum überschaubar. Der Zweck dieser Interaktion dagegen war überschaubar: Der musikalische Raum diente der Sicherung wie der Ausweitung des politischen Raums. Diejenigen, die in einer öffentlichen Situation darüber erfolgreich befinden konnten, welche Deutungen relevant waren und welche politischen Handlungsoptionen sich eröffneten, verfügten über die »Benennungsmacht«.9 Die politischen Gemeinsamkeiten und Grenzen zwischen Gruppen und Individuen formten sich auch durch ästhetische Erwartungen und symbolische Praktiken – das heißt durch mehrheitsfähige Kommunikation. Weil der kulturelle Austausch die politischen Verhältnisse ordnete, bedeuteten die Codes und die Zeichen weit mehr als eine sinnliche Verschönerung der Macht. Begreift man mit Pierre Bourdieu diese kommunikative Dimension des Politischen als ent6 Vgl. dazu etwa Paulmann, Pomp; Vernon, Politics; Kohlrausch, Monarch; Reinermann, Kaiser; Röhl, Wilhelm II., 3 Bde.; Plunkett, Queen Victoria; Budds, Music; Rowell, Queen Victoria; sowie den methodischen Ansatz von Frevert, Neue Politikgeschichte, 7–26. 7 Vgl. Haupt, Politikforschung, 304–313. 8 Hierfür sind die Vorbereitungen, Interventionen und Kosten für die Staatsaufführungen in London von Interesse: London, PRO, LC2/81, LC2/87, LC2/92, LC2/119, LC2/122, LC5/258. 9 Bourdieu, Sozialer Raum, 23–30. Vgl. Daniel, Kompendium, 179–194; Reichardt, Bourdieu, 71–93.
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scheidend, dann gilt: »Politik ist der Ort schlechthin symbolischen Wirkens: jenes Handelns, das mittels Zeichen sich vollzieht, die soziale Dinge und Gruppen zu erzeugen vermögen.«10 Im Fokus steht hier die politische Unterhaltung der adeligen und bürgerlichen Eliten: Die Inszenierungen von Herrschaft und die staatstragenden Zeremonien vor und im Opernhaus während des Staatsbesuches. Auf diese Weise lassen sich sichtbare und unsichtbare Herrschaftsverhältnisse beleuchten. Inländische Feiern für eigene Monarchen und ausländische Staatsbesuche werden hier meist nicht getrennt untersucht, weil in erster Linie die Formen und die Regeln politischer Inszenierungen interessieren. Ausgeblendet werden die tatsächlichen Entscheidungen zwischen Gastgebern und Gast oder der politische Gehalt der aufgeführten Kompositionen (etwa der Nationalopern). Der Zweck ist es Opernvorstellungen als öffentliche politische Botschaften zu untersuchen, als nationalistische Werbestrategien für das eigene Publikum. Berücksichtigt werden dabei sowohl die unterschiedlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als auch die ähnlichen Muster, mit denen die politische Ordnung generiert wurde. Die hier genannten politischen Ereignisse des europäischen Musiklebens haben drei Merkmale gemeinsam, die diesen Vergleich ermöglichen: den Staatsbesuch, die Zeremonien im Opernhaus und den öffentlichen Stellenwert der Monarchen.11 Der Staatsbesuch im Opernhaus war eine Form des »Staates auf Besuch« und umgekehrt ein »Besuch des Staates«. Erst das Zusammenspiel aus Betrachteten und Betrachtern legitimierte die Staatsordnung. Die Gemeinschaft der Anwesenden beruhte auf Deutungskontrolle und Sichtbarkeit und zielte auf die Erzeugung eines politischen Konsenses. Die Loyalität wurde gleichermaßen von den Herrschern wie vom Publikum geboten und deshalb erwartet. Die Sichtbarkeit und die Anteilnahme des Publikums verliehen der Zeremonie politisches Gewicht. Wichtiger als politische Inhalte waren demonstrierte politische Beziehungen – der Herrscher untereinander und des Publikums zu den Herrschern. Das ausgewählte Publikum im Opernhaus investierte Beziehungen und Stellung, Geld und Zeit, um den Besuch der staatlichen Repräsentanten zu erleben. Es hatte eingehendes Interesse an deren musikalischen und modischen Präferenzen – und damit an sich selbst.12 10 Ebd., 39. Vgl. Dörner, Politischer Mythos, 13–62; Mergel, Überlegungen, 574–606; Rohe, Politik, bes. 82–102. 11 Vgl. die methodischen Überlegungen über die Staatsbesuche des Schahs von Persien in Berlin bei Müller/Zalfen, Eastern Potentate, 279–302. 12 Grundlegend dazu ist Paulmann, Pomp, bes. 12–29, 195–249. Vgl. Budds, Music, 273– 304; Arnold/Fuhrmeister/Schiller, Hüllen und Masken, 7–24. Zwischen 1837 und 1858 be-
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Die politische Funktion des »opernhaften« Staatsbesuches lag vor allem darin, sich in den Rollen als Gast und Gastgeber stellvertretend für das eigene Land zu präsentieren. Monarchen und Minister vollzogen die Zeremonien, um die Dynastie, den Staat oder die Nation öffentlich durch Inszenierung zu legitimieren, ihre Verbindungen zu Verbündeten zu stärken. Staatsbesuche im Opernhaus funktionierten durch detailliert geplante Rituale. Dabei war es das Ziel der Entscheidungsträger, exakt vorherzubestimmen, wen und was die Gäste zu Gesicht bekamen, welche Rituale zu vollziehen waren. Als politisch wirksam zeigten sich dabei die Wiederholungen symbolischer Vorführungen vor einer ausgewählten Öffentlichkeit. Nonverbale, habituelle Gesten gaben darüber Auskunft, ob das im Opernhaus Gezeigte den Absichten der Akteure entsprach. Dabei ging es wie bei jeder Form politischer Inszenierung darum, die Unsichtbarkeit des eigentlich politischen Geschehens durch Visualisierung zu kompensieren.13 Die Inszenierung von Sichtbarkeit ist ein Kennzeichen von Herrschaft und der Zwang zur Öffentlichkeit ein wesentliches Kennzeichen politischer Kommunikation. Außenpolitische bzw. zwischenstaatliche Beziehungen bedurften der Illustration durch Zeremonien und Bilder, des Gebrauchs des Politikvokabulars und der Hymnen. Viele der musikalischen Hofberichte beschrieben die Uniformen der Monarchen, die Toilette der Damen oder die Leistungen der Sänger – streiften aber oft nur beiläufig die politische Funktion des Abends. Genau diese unterhaltende Perspektive der Macht jedoch, die Anpassung an die kulturellen Möglichkeiten verschiedener Schichten der Gesellschaft, erleichterte den Zugang der Öffentlichkeit zur Kulturpolitik der Operngala. Die Umschreibungen und die Benennungen des Politischen machten die bestehenden Strukturen der jeweiligen Gesellschaft erfahrbar und konnten sie genau dadurch erzeugen.14 Das galt in erster Linie für den Status des eigenen Herrschaftsbereichs, der sich durch die politische Performanz generierte. Zu verdeutlichen ist hier, dass die Huldigung nicht nur dem Gast, sondern auch den Gastgebern galt. Politik wird hier nicht als eine wie auch immer zu definierende essenzielle Kategorie begriffen. Gerade die Geschichte des Musiklebens macht deutlich, dass Politik selten trennscharf zu bestimmen ist, sondern von wechselseitigen suchte Königin Victoria wenigstens 13 Staatszeremonien im Drury Lane Theatre, im Her Majesty’s Theatre und im Royal Italian Opera House Covent Garden. 13 Vgl. Münkler, Theatralisierung, 144–163; Arnold/Fuhrmeister/Schiller, Hüllen und Masken, 7–24; Müller/Toelle, Oper, 7–19; Richards, Imperialism, 88–151; die Beiträge in Müller/Toelle (Hg.), Bühnen der Politik; sowie die Dissertation von Hall-Witt, Re-Fashioning. 14 Vgl. zu dieser semantischen Setzung Steinmetz, Neue Wege, 9–40; sowie zur politischen Inklusion Bora, Partizipation, 15–34.
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Zuschreibungen abhängt. Was politisch ist und was nicht, ist keine determinierte, sondern eine variable und relationale Kategorie. Zugespitzt gewendet: Zu Politik wird, was individuelle und kollektive Akteure dazu machen. Der hohe politische Stellenwert der Oper ist ein Produkt der Zuschreibung im öffentlichen Raum. Die Machthaber und die Theatermacher, die Journalisten und die Zuschauer von Opernaufführungen wählten oft selbst, ob und wie sie bestimmten Zeremonien eine politische Dimension beimaßen. Abhängig von den Akteuren und den Modalitäten der Kommunikation konnten so auch vermeintlich unpolitische musikalische Werke und Praktiken zu einem Politikum avancieren. Damit entstanden aus tradierten Kulturformen neue Politikformen, das heißt, ein neues Verhältnis zwischen Ästhetik und Politik, da die musikalische Gestaltung des Politischen zur Bedingung seiner Erfahrbarkeit wurde. Die wissenschaftlichen Debatten der letzten Jahre haben die methodische Relevanz einer Untersuchung des Politischen in einer kulturgeschichtlichen Perspektive bestätigt.15 Hier wird ein Ansatz der neueren historischen Politikforschung weiter verfolgt, der Politik als das Resultat eines kommunikativen und kompetetiven Prozesses begreift.16 Staatsbesuche im Opernhaus sind Instrumente der politischen Kommunikation, in denen sich Informationen über die politischen Ziele, Programme und Selbstverständnisse ihrer Träger verdichten. Diese Politisierung der Oper ist hier das Thema. Zwar waren Opernaufführungen seit ihrer Entstehung eine politisierbare Praxis, doch das 19. Jahrhundert setzte neue Maßstäbe. Um die prozesshafte und die akteurszentrierte Dimension des Phänomens zu betonen, wird hier nicht von der »Politik der Oper« sondern von ihrer »Politisierung« gesprochen und das Augenmerk auf die politischen Zuschreibungen des öffentlichen Ereignisses gerichtet. Die Definition un15 Vgl. Luhmann, Politik der Gesellschaft, bes. 274–318; die Beiträge in Soeffner/Tänzler (Hg.), Figurative Politik; Schorn-Schütte, Politikforschung, 9–24; Daniel, Clio unter Kulturschock, 195–218, 259–278; Lipp, Politische Kultur, 78–110; sowie die Beiträge in Mergel/ Welskopp (Hg.), Geschichte. 16 Relevant zu diesem Verhältnis sind die Veröffentlichungen des Bielefelder Sonderforschungsbereiches »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte«. Vgl. u. a. Bd. 1, Frevert/Haupt (Hg.), Neue Politikgeschichte; Bd. 2, Gusy/Haupt (Hg.), Inklusion und Partizipation; Bd. 5, Steinmetz (Hg.), »Politik«. Weder ein monarchischer noch ein demokratischer Staat kann auf die Darstellung politischer Rituale verzichten. Als komplexe und abstrakte politische Idee bedarf er eines Mittels, mit dessen Hilfe er sich durch Inszenierung sichtbar machen und erklären kann. Symbolische Politik wird als ein Zeichensystem verstanden, das durch Kommunikation politische Wirklichkeiten konstruiert. Wichtig ist es Darstellung und Herstellung parallel zu erfassen. Auf eine Formel gebracht: »Politik muss symbolisch sein, will sie überhaupt verstanden werden.« Vgl. Soeffner/Tänzler, Figurative Politik, 22–25; Frevert, Politische Kommunikation, 7–19; die Beiträge in Norris (Hg.), Music and Politics; Mergel, Kulturgeschichte, 574–606 (Zit. 595).
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terscheidet sich grundlegend von der Annahme einer »natürlichen« Trennung der Sphären von Kunst und Politik. Das Konzept der »Politisierung der Oper« erlaubt es, Staatsaufführungen im öffentlichen Raum als politische und potenziell verbindliche Zuschreibungen zu untersuchen. Der Blick auf den öffentlichen Raum des Opernhauses hilft, die dort bereits vorhandenen und zur politischen Aneignung zur Verfügung stehenden zeremoniellen Praktiken zu begreifen. Veränderte sich hier die politische Kommunikation? Welche Zeremonien und Rituale, welche Bilder und Klänge verfestigten tradierte oder eröffneten neue öffentliche Politikformen? Inwieweit waren die kulturellen Zeremonien im Staatsakt als politische Ziele erkennbar? Es ist erklärungsbedürftig, warum auch im 19. Jahrhundert die Hofgesellschaft in Staatsbesuchen den Zuschauern einer Operngala ihre Herrschaft zeigte. Der vergleichbare öffentliche Rang Königin Victorias, Kaiser Wilhelms II. und Kaiser Franz Josephs I. interessiert hier – die musikalische Reichweite der aristokratischen Demokratie wie der autoritären Monarchie. Denn beide Herrschaftsformen demonstrierten erfolgreich ihre Sichtbarkeit.17 Wodurch entstand dabei ein weit reichender politischer Konsens – warum wirkten die Zeremonien in verschiedenen europäischen Gesellschaften herrschaftslegitimierend? Um seine Rolle in der Gala zu spielen, bemühte sich das bürgerliche wie das adelige Publikum gleichermaßen um Einlass. Offenbar festigte die Teilnahme an einer politischen Gala nicht nur den Status des Herrschers, sondern ermöglichte auch den Status des elitären Publikums. Im Opernhaus bildete sich eine symmetrische Beziehung zwischen Publikum und Bühne. Zu klären ist, wie das Publikum bis an die Wende zum 20. Jahrhundert das Auditorium als eine Erweiterung der Opernbühne begriff und die Besucher sich selbst als politische Gesellschaftskünstler verstanden. Es kommt darauf an, die Symmetrien und die Asymmetrien zwischen Betrachtern und Betrachteten zu diskutieren. Zuerst werden hier die Staatsbesuche europäischer Monarchen gezeigt, dann die Empfänge der als »orientalisch« bewerteten Herrscher.
17 Zum politischen Stellenwert der Monarchie und der Hofgesellschaft vgl. Elias, Gesellschaft; Paulmann, Pomp; Braun/Gugerli, Macht; Daniel, Hoftheater; Kroen, Politics; Arblaster, Viva la Liberta; Bokina, Opera and Politics und die Beiträge in Biefang/Epkenhans/Tenfelde (Hg.), Zeremoniell.
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Galaaufführungen für die Monarchen und ihre Familien in der Berliner Hofoper Zunächst zur musikalischen Politik in Berlin: Die Hofoper verschwand 1843 in den Flammen und entstand 1844 neu. Die Wiedereröffnung des Hauses belegt, in welchem Ausmaß die höfischen Zeremonien der eigenen Eliten den höfischen Zeremonien der angereisten Staatsbesucher ähnelten. Am Abend des 5. Dezember 1844 nahmen in der Lindenoper die hohen Staatsbeamten sowie die Vertreter des diplomatischen Corps die Vorzugsplätze ein. Die Logen des Proszeniums wurden links durch die jungen Prinzen und Prinzessinnen, rechts durch die Vertreter der Gesandtschaften besetzt. Im ersten Rang erhielten die Minister ihre Plätze. Nur wenige der nicht geladenen Berliner Bürger waren in der Lage gewesen, sich für diese Gala eine Eintrittskarte zu sichern. Beim Eintritt des Herrscherpaares brach sich der allgemeine Jubel Bahn durch den Ruf: »Es lebe der König!« Friedrich Wilhelm IV., seine Königin und der Hofstaat erschienen in der Mittelloge, umtost vom stehenden Publikum mit den Rufen »Hoch!« und »Hurra!« Vom ganzen Orchester und durch den Gesang aller Anwesenden begleitet, wurde »auch die VolksHymne laut begehrt und stehend von dem gesamten Publikum gesungen«.18 Ludwig Rellstab – selbst in der glücklichen Position, der bürgerliche Kritikerpapst Berlins und der adelsfreundliche Librettist der hier uraufgeführten nationalistischen Oper von Giacomo Meyerbeers zu sein – verklärte in seinem Artikel den Rang der preußischen Kultur. »Durch Aller Urtheil, die die Kunsttempel in ganz Europa kennen, steht es fest, daß keiner sich jetzt an Reichthum und wirklicher Schönheit mit dem unsrigen vergleichen kann.«19 Nach einer kurzen Pause folgte ein militärisches Fest dem politischen Fest. Meyerbeers Musik und Rellstabs Libretto boten Ein Feldlager in Schlesien und feierten den um dramatische Größe und gewollte Anekdoten bereicherten Siegeszug des preußischen Königs Friedrich II. Meyerbeers Festoper bestach das Publikum durch überreiche musikalische Kombinationen – heitere Soldatenlieder gingen in einen großen kriegerischen Chor über. Allerdings interessierten sich Friedrich Wilhelm III. und sein Nachfolger Friedrich Wilhelm IV. vornehmlich für zeremoniell gebotene Marschmusik. Diese Feier großer Politik dauerte volle fünf Stunden. Und auch die am Ende müden Zu18 HS 9.12.1844. Vgl. IZ, 8.3.1845, 154; und zur Entwicklung der Lindenoper, ihrer künstlerischen und architektonischen Dimensionen Döhring, Hofoper, 93–115; Becker, Meyerbeer, 429–450; Rehm, Musikrezeption, 110–141; Forsyth, Bauwerke, 71–125. 19 VZ, 9.12.1844, (Herv. im Orig.). Vgl. Schwengelbeck, Herrschaftsrepräsentation, 123–162.
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schauer erblickten hierin »ein Meisterwerk dieser echten National-Oper«.20 Im Schlussbild verwandelte sich das neue Opernhaus, Apoll und die Musen erschienen schwebend in den Wolken, während der Chor hinter der Szene die verheißungsvolle Schlussrede der Borussia begleitete. Die »Allgemeine musikalische Zeitung« bilanzierte patriotisch: »Die wahrhaft preussische Nationaloper ist … mit Enthusiasmus aufgenommen worden.«21 In Galaaufführungen im Opernhaus demonstrierten Herrscher und Untertanen die politische Ordnung. Die große Anzahl der Quellen dieser Ereignisse in Tageszeitungen und Zeitschriften, in Briefen und Gesprächen, in Bildern und Devotionalien ist kaum zu überblicken. Die Präsenz des hohen Adels und der ausgewählten bürgerlichen und militärischen Eliten im Musikleben lässt sich hier dennoch durch den Blick auf eine Reihe von Einzelbeispielen dokumentieren. Die meist höfischen Zeremonien stellten sich den politischen und medialen Herausforderungen des 19. Jahrhunderts. Der Monarch und die Aristokratie hatten auf verschiedenen öffentlichen Ebenen zu gefallen. Die bei verschiedenen Aufführungen herrschenden Zeremonien und Rituale lassen sich nur schwer voneinander unterscheiden. Politisch uneindeutig waren die sehr ähnlichen Musiken, Texte, Dekorationen und Bewegungen der Staatsaufführungen.22 Um die politische Funktion dieser Inszenierung zu begreifen, werden hier zunächst die Abläufe der Veranstaltungen untersucht. Die Veranstalter der Galaaufführungen reagierten auf die politischen Herausforderungen des 19. Jahrhunderts durch tradierte Zeremonien. Zusätzlich aber erweiterten sie die öffentliche Sichtbarkeit und Sinnlichkeit der bestehenden Herrschaftsformen. Die Teilnehmer staunten vor dem Opernhaus und im Foyer, im Saal, auf der Bühne und beim Lesen der Zeitungen. Die politischen Darsteller der Musikwelt nutzten viele Möglichkeiten öffentlicher Inszenierung. Ihr politisches »business as usual« ließ sich durch die gezeigten Aufführungen als »ceremonies as usual« erkennen. Beim Staatsbesuch und bei der Operngala kam es darauf an, die Machtdarstellung in ähnlicher Gestalt regelmäßig zu wiederholen, sie durch ihre Darbietung zu erhöhen. Das geschmückte Auditorium, zumal die reich dekorierten Logen, Treppenhäuser und Foyers versinnbildlichen den Übergang von der Außenwelt in die 20 HS, 9.12.1844. Vgl. Schirmer, Friedrich der Große, 229–249; Stamm-Kuhlmann, Hof, 307– 311; und insges. Schneider, Festkultur. 21 AMZ, 46 (1844), 863. Vgl. VZ, 9.12.1844; Zimmermann, Meyerbeer, 227–252; Meyerbeer, Weltbürger, 132–140; insges. die Beiträge in Motte-Haber (Hg.), Nationaler Stil. 22 Vgl. zu diesem Befund Biefang/Epkenhans/Tenfelde, Zeremoniell, 11–28; sowie Hettling/ Nolte, Feste, 7–36; Leppert, Music and Image, 1–9; Canaris, Dienerin, 21–46; sowie die Beiträge in dies. (Hg.), Musik-Politik.
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glänzende Welt der Mächtigen. Zur Feier des Geburtstages von George IV. 1829 in London beispielsweise begeisterte sich das Publikum am Erlebnis des Raumes. Viele Zuschauer, die keine der regulären Plätze mehr bekamen, versammelten sich auf der Bühne. Mehr noch: Mehrere »ladies of distinction« bewegten sich aus ihren Logen auf die Bühne herab, um den pittoresken Anblick des Auditoriums besser genießen zu können.23 Ein Paradebeispiel dieser sinnlichen Präsentationen stellten die im Opernhaus gefeierten Hochzeiten der regierenden Aristokraten dar. Ein Blick darauf lohnt sich, weil sich in der vorgeführten Heirat eines adeligen Brautpaares politische und familiäre Normen verbanden. In Berlin verschönerte eine eigens komponierte Festoper die Vermählung des preußischen Prinzen Wilhelm (des nachmaligen Kaisers Wilhelm I.) mit der Prinzessin Auguste von Weimar im Jahre 1829. Man erlebte die Historienoper Agnes von Hohenstaufen von Gaspare Spontini, in der religiöse und höfische Symbole miteinander verschmolzen.24 Es scheint eine zentrale Intention des Komponisten wie der Aristokraten gewesen zu sein, für das königliche Fest der Gegenwart ein Abbild königlichen Glanzes der Vergangenheit zu schaffen. Beobachter bemerkten, dass dieses historisierende Bühnenspektakel den Betrachter reich belohnte. Nichts sei »ein so vertrauter, getreuer Spiegel für Herrscher- und Hofesglanz, als der Hofstaat der Hohenzollern«.25 Die Anwesenheit der Monarchen und Aristokraten hinderte aber weder am Anfang noch am Ende des 19. Jahrhunderts die übrigen Gäste am Genuss kulinarischer Sinnesfreuden. Heinrich Heine hielt über eine Hochzeitsfeierlichkeit der Königstochter Alexandrine und des Großherzogs von Mecklenburg-Schwerin im Jahre 1822 sarkastisch fest, dass weder die Herrschaften noch das Publikum wegen eines üppigen Freibüffets ihre kulinarische Gier kontrollieren konnten. Heine sah, »wie sie das Büffet sechs Mann hoch umdrängten, sich Glas nach Glas in den Schlund gegossen, sich den Magen mit Kuchen anstopften, und das alles mit einer ungraziösen Gefräßigkeit und heroischer Beharrlichkeit, daß es einem ordentlichen Menschenkinde fast unmöglich war, jene Büffetphalanx zu durchbrechen«.26 Nur in manchen ästhetischen Details der Ausstattung sind Unterschiede zwischen dem frühen und dem späten 19. Jahrhundert auszumachen. In den Regeln und den Ritualen unterschieden sich die adeligen Hochzeitsopern in London kaum von denen in Berlin oder in Wien. Als »Brilliant Spectacle« erkannte die Londoner Presse 1893 die Operngala zu Ehren des Duke of 23 Vgl. etwa TI, 1.5.1829. Vgl. Gallé, Politik und Musik. 24 Vgl. zu Spohrs historisch-mythischer Oper Faust Kreutzer, Faust, 28–45. 25 BAMZ, 6 (1829), 215. Vgl. HS, 30.3.1827; insges. Kroen, Politics, 39–58. 26 Heine, Werke, Bd. 2, Briefe aus Berlin 1822, 7–62, hier 49 (7.6.1822).
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York – dem nachmaligen König George V. – und der Prinzessin Mary. Diese Veranstaltung war den Beobachtern ein politisches Heimspiel, »essentially a national and almost domestic gathering – a compliment paid by London Society to the English Prince and Princess«. Und nicht nur politisch, auch sozial richtete sich die Aufmerksamkeit auf die gegenseitige Beobachtung, weniger auf die Musik. »Obwohl es Anzeichen dafür gab, dass einige der Vorstellung folgten, kann man sicher behaupten, dass sich das Hauptaugenmerk des Publikums auf den Zuschauerraum richtete. … Die Aufführung selbst nahm man nur der Form nach zur Kenntnis.« Diejenigen, welche die Musik hören und sehen wollten, konnten Charles Gounods Roméo et Juliette erleben. Niemand stritt darüber, ob man ein für den Anlass passendes oder unpassendes Werk erlebe.27 Der Glanz der Etikette und der Verhaltensmuster einer Operngala ließ sich schwer überbieten. Vielleicht wirkten die Reize auf die Besucher einer Aufführung gerade deshalb so intensiv, weil viele diese Darstellungsformen schon kannten und die neuen technischen und medialen Möglichkeiten ihre Beobachtung lediglich erleichterten. Das Erlebnis festlicher Reize war nicht nur bezeichnend, sondern auch berechenbar, denn dem kulturellen Reichtum der gesellschaftlichen Darstellung entsprach der politische Reichtum der Herrscher. So komplex die Regierungsformen in Berlin, London und Wien auch sein mochten, die sinnlichen Rituale der Gala handelten nur von der Schönheit dieser Macht. Denn die Macht im geordneten und wunderbaren Ritual zu zeigen, legitimierte die Mächtigen – erfolgreich oder weniger erfolgreich. In Berlin beherrschten die hohen Offiziere des Kaiserreiches und der verbündeten Monarchien in vielen Festvorstellungen wenigstens optisch das Auditorium. »Epaulettes, Ordenssterne, kriegerische Ehrenzeichen und der ernste Schmuck der Waffen blitzten überall in den tausend Lichtern des festlich erhellten Saales. … Der feine Tact, mit dem die glanzvolle Versammlung sich jeder Beifallsäußerung enthielt, verstärkte den edlen Eindruck dieses seltenen Theaterabends.«28 Die Sichtbarkeit der Monarchen in der Operngala – nicht die Qualität der gespielten Musik – befriedigte das Publikum. Der Festzug des Hofstaates, die Kutschen und Garden, die begleitenden Militärparaden und Fackelzüge kosteten den Staat in Berlin und Wien ein Vermögen. In London hatten auch die Pächter des Opernhauses sich an der Ausstattung zu beteiligen. Im Jahre 1821 beispielsweise mußte Covent Garden für den Staatsbesuch König Georges IV. 27 DN, 5.7.1893. 28 NPZ, 10.9.1872, im Bericht über die zweite Vorstellung des Dreikaiserbesuches 1872 in Berlin.
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Abb. 25: Die neue Staatsloge von Königin Victoria im Royal Italian Opera House Covent Garden bestach durch ihre opulente Ausstattung und wurde bei festlichen Anlässen auch durch vier »Beefeater« geschmückt.
300 £ bezahlen. Selbstredend übertraf die Opernfreundin Königin Victoria an Pracht und Glanz alles bis dahin Erreichte. Nicht nur das Auditorium verschönerte man, auch die Loge veränderte sich in Größe und Form. Stiche aus der »Illustrated London News« zeigten das prachtvolle Innere Covent Gardens, vor allem aber die seit 1848 neue königliche Loge aus der Innenund Außenperspektive. Die königliche Loge nahm den Raum von drei gewöhnlichen Logen im ersten Rang ein. Platziert wurde sie im vorderen linken Teil des Auditoriums und ragte etwa einen Meter weit in den Saal hinein. Dadurch wurde Königin Victoria leichter für das Publikum sichtbar. Auch die repräsentative Ausstattung der Loge setzte die Königin in das architek306 | Politischer Konsens und Dissens © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
tonische Zentrum: Vier Beefeater als Wachen unter der Loge stehend grenzten ihre Majestät zum Publikum hin ab; der kronenähnliche Aufbau erhob Victorias Glanz über die Sphäre der Oper hinaus.29
Monarchenbegegnungen: Musikalische Familienfeiern der gekrönten Häupter in Europa Übertreffen ließ sich der optische Glanz einer Monarchin allenfalls durch die Pracht dreier Monarchen. Im Jahre 1872 erlebte Berlin die so genannte »DreiKaiser-Zusammenkunft«, das heißt das machtpolitische Treffen des Deutschen Kaisers Wilhelm I., des russischen Zaren Alexander II. und des österreichischen Kaisers Franz Joseph I. Dieser Staatsbesuch folgte nicht primär verwandtschaftlichen Rücksichten, sondern diente dem außenpolitischen Interesse der europäischen Kontinentalmächte. Vor allem visualisierte die Anwesenheit des russischen Zaren und des österreichischen Kaisers die neue politische Einheit des Deutschen Kaiserreiches.30 Kaiser Franz Joseph I. konnte durch einen Todesfall in seiner Familie die Operngala nicht besuchen – selbstverständlich verzichteten Wilhelm I. und Alexander II. nicht auf ihre Plätze. Nicht nur das: Die adelige Gesellschaft in der Mitte Europas versammelte sich in der Hofoper fast vollzählig und fast pünktlich. Die Herzöge und Kronprinzen der verbündeten Monarchien erschienen nach und nach ab dem zweiten, dritten und vierten Akt. »Wer könnte sie alle nennen, die gekrönten Häupter, die bis an die Hinterwand der Loge saßen oder standen? Es war ein Anblick, welchen je wieder zu sehen nur wenigen Menschen vergönnt sein dürfte.«31 Da dieser Staatsbesuch über eine Woche andauerte, erlebten die Herrscher mehrere Vorstellungen. Die Monarchen genossen ihr Glück, das Publikum seines – Charles Gounods Oper Faust ging dabei leer aus. Entscheidend war wohl »die Hoffnung, vielleicht die höchsten Herrschaften in dem Kunstpalaste zu sehen, … denn die Blicke der Zuschauer schienen oft mehr auf die Hoflogen, als auf die Opernbühne gerichtet. Auch zeichnete unseres Kaisers Majestät die Vorstellung vom fünften Acte an durch seine Gegenwart aus«.32 Gelegentlich verursachte der »opernhafte« Glanz der Staatsbesuche weniger repräsentative Rituale als öffentliche Entgleisungen. Dann distanzierte 29 ILN, 22.7.1843, 56; bes. ILN, 29.7.1848, 56: »Her Majesty’s Visit to the Italian Opera«. 30 Vgl. IZ, 28.9.1872, 229. 31 Ebd. 32 NPZ, 8.9.1872.
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und amüsierte sich das Publikum über solche Staatsgäste, deren Verhalten ihm als unpassend erschien. Auch einem namhaften Staatsgast aus Europa unterliefen Fehler. Als König Edward VII. im Februar 1909 in Berlin eintraf, plagten ihn ein zu dichter Zeitplan und seine persönliche Aversion gegen den Neffen Wilhelm II. »The most brilliant failure in history« soll »Onkel Bertie« ihn genannt haben.33 Die politisch notwendige, aber von Eduard VII. wenig geliebte Galaaufführung in der Hofoper verbesserte sein Verhältnis zu Wilhelm II. nicht. Beide Monarchen kamen spät. Am 11. Februar 1909 traf die Gesellschaft erst um 20.45 Uhr in der Hofoper ein. Der Deutsche Kaiser trug den purpurroten Waffenrock der britischen Feldmarschalluniform und führte die englische Königin Alexandra in goldglitzernder Robe in die Loge. Ihr Gemahl König Edward VII. folgte in deutscher Admiralsuniform in Begleitung der Kaiserin Auguste Victoria. Die Monarchen verneigten sich gegen die Versammlung, die sich von ihren Sitzen erhob. Die beiden hohen Frauen nahmen zwischen dem Kaiser und dem König in der Mitte der Loge Platz. Zu hören gab es die vom Kaiser gewünschte »viel besprochene, romantisch-geschichtliche Pantomime ›Sardanapal‹. … Dies pompöse Schlußbild war das Finale der Galaoper. Die gesamte Hofgesellschaft strömte im weißen Saal zusammen, wo das Kaiser- und Königspaar noch lange Cercle hielt«. Diese Schilderung nannte nur das offizielle Ende des Abends. Zuvor aber war Edward VII., erschöpft von einem anstrengenden Tag, schlichtweg eingenickt, bis er durch die Effekte des »pompösen Schlußbildes« (dem Scheiterhaufen für Sardanapal) plötzlich erwachte und nach dem Stand der notwendigen Löscharbeiten auf der Bühne fragte. Glücklicherweise konnte ihn Kaiserin Auguste Victoria beruhigen.34 Der erkennbare Musikgeschmack bei Staats- und Galaaufführungen unterschied sich erheblich von den ästhetischen Präferenzen des Publikums im Sinfoniekonzert. Wie nachhaltig sich die distinktive Selbstkontrolle auch um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa verbreitete – in der Operngala galten andere Regeln. Beim Anblick des Monarchen und des Hofstaates andächtig zu schweigen, galt nicht nur als unpassend, es galt als unwürdig. Der Rang der musikalischen Werke war selbstredend den zeremoniellen Regeln nachgeordnet. Um den Glanz der politischen Zeremonien zu gewährleisten, stellte man oft nur einzelne Akte einer Oper vor, reihte bestimmte Szenen und Bal-
33 Zit. n. Reinermann, Kaiser, 18. Vgl. zum feindschaftlichen wie familiären Verhältnis zwischen dem englischen König und dem Deutschen Kaiser, Röhl, Worst of Enemies, 41–66. 34 VZ, (M), 12.2.1909. Vgl. Reinermann, Kaiser, 354–358; Massie, Dreadnought, 652 f.
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letteinlagen aneinander. Die Tatsache, dass die Aufmerksamkeit des Publikums gegenüber dem musikalischen Teil einer Gala gegen Null tendierte, führte nur selten zur Kritik. Deutsche Bildungsbürger wichen von dieser Regel manchmal ab – vielleicht motiviert durch ihren Glauben an die eigene musikalische und nationale Überlegenheit. Manche musikalischen Beobachter aus dem fernen Deutschland düpierte die ästhetische Beschädigung des Fidelio im Rahmen des Staatsbesuches Napoleons III. 1855 in London. »Die Beethoven’sche Musik ist wohl nie selbst in England mit größerer Gleichgültigkeit angehört worden als an jenem Abend. Im ersten Act erwartete das Publikum die Herrschaften, im zweiten betrachtete es sie – Daß man hierzu Beethoven’s Genius Musik machen ließ, ist ächt englisch!«35 Denn tatsächlich erschienen der französische Kaiser und die britische Königin Victoria beide erst nach dem ersten Akt des Fidelio. So war es fest eingeplant. Die Entscheidung erst nach dem ersten Akt zu kommen richtete sich nicht gegen den Inhalt dieser Revolutionsoper, sondern zielte darauf die öffentliche Aufmerksamkeit weiter zu erhöhen. Der Öffentlichkeit entging allerdings eine kleine Störung dieser politischen Inszenierung. Beim zuvor genossenen Bankett kleckerte Napoleon III. beim Dessert mit dem Kaffee. Königin Victoria hielt amüsiert fest: »Just as we were ready to go, the Emperor upset his coffee over his cocked hat, which caused great amusement.«36 Es drängt sich der Verdacht auf, dass sich die Spitzen der aristokratischen Welt des 19. Jahrhunderts durch ihre Zeremonien von den politischen Herausforderungen ihrer Zeit abkoppelten. Dieser Befund trügt, denn in den Staatsbesuchen ist eine flexible Anpassung des Adels an die politische Kultur des 19. Jahrhunderts zu beobachten. Die höfischen Gesellschaften reagierten auf die neuen politischen Herausforderungen der Zeit durch die Neu inszenierung ihres erreichten Glanzes im Rahmen einer Festvorstellung. Vor dem Hintergrund wachsender Legitimationsprobleme führte die verstärkte Präsenz von Monarchen dazu, dass jede ihrer privaten Vergnügungen eine Frage der Öffentlichkeit wurde. Das private Musikleben des Herrschers zählte relativ wenig, seine öffentlichen Funktionen dagegen viel. In ihrer politischen Darstellung folgten die Monarchen mithin den Formen der Aufgabe, nicht den eigenen Präferenzen. Der perfekte Auftritt stimulierte und kreierte eine perfekte politische Ordnung. Inwieweit dabei Kaiser und Könige gleichzeitig Darsteller und Zuschauer der Opernaufführung wurden –
35 NZfM, 42 (1855), 211. Vgl. Rowell, Queen Victoria, 28–35. 36 Zit. n. Rowell, Queen Victoria, 69.
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zum eigenen Publikum also –, ist weiter unten zu diskutieren. Sicher ist: Jede Operngala konnte politisierbar werden, weil sie öffentlich war.37 Führende Aristokraten kultivierten als »Meister der Sichtbarkeit« (Heinz Reif) adelige Traditionen, die jahrhundertealte Kontinuität verbürgen sollten, diese aber auf viele Veränderungen des 19. Jahrhunderts ausrichteten.38 Zunächst stritt der Adel um den Erhalt der groben Unterscheidungen, die ihn in seinen Lebensformen vom Bürgertum abhoben, um Privilegien und Hoffähigkeit, um Wappenrecht und Ehrencodizes. Die höfische Gesellschaft war das wichtigste altständische Distinktionsprivileg, um dessen Erhalt der Adel erfolgreich kämpfte. Die Sichtbarkeit der königlichen Höfe erhöhte sich in Berlin, in London und in Wien durch die zahlreichen Rangstufen, welche für die adeligen Funktionsträger reserviert waren. Ihre finanziellen Ausgaben und sozialen Verhaltensmuster, Hierarchien des Wohnens und der Kleidung, der Esskultur und der Musikkultur griffen ineinander. Zwar wurden die groben Unterscheidungen zwischen Adel und Bürgertum allmählich zu feineren Unterscheidungen. Doch die höfische Gesellschaft achtete darauf, sich auch durch ihre musikalische Verfeinerung von den mobileren bürgerlichen Normen und Etiketten abzusetzen.39 Im Ergebnis entstand durch das Zeremoniell ein Abhängigkeitsgeflecht, das Herrscher und Beherrschte auch deshalb miteinander verband, weil markante Veränderungen in diesen Ritualen die gewünschte soziale Ordnung in der Gesellschaft bedroht hätten. Folgt man den Ansätzen von Johannes Paulmann und Ute Daniel, dann existierte eine »strukturelle Affinität zwischen Hof und Theater«, weil beide in einem engen Kommunikationszusammenhang standen.40 Diese theatralische Dimension der Herrschaft musste genau reglementiert werden, um Geltung zu beanspruchen. Schon lange im Voraus berechenbar erschienen die Ausstattungen der Vorstellungen, die unerhört kostspielige Kostümierung der anwesenden adeligen Eliten und die Feinheit der sozialen Manieren. Um die politische Stellung des aristokratischen Ensembles zu festigen, war es entscheidend, dass jedes Ensemblemitglied Disziplin übte und 37 Vgl. Goffman, Theater, 73–97; Daniel, Hoftheater, 120–125; Kohlrausch, Hofzeremoniell, 31–51; die Beiträge in Conze/Wienfort (Hg.), Adel und Moderne; Wehler (Hg.), Europäischer Adel. 38 Vgl. Reif (Hg.), Adel und Bürgertum, 7–27; Wehler, Gesellschaftsgeschichte II, 145–161; Braun, Obenbleiben, 87–95; Philippi, Hof, 386–392. 39 Vgl. Elias, Höfische Gesellschaft, passim; Bourdieu, Sozialer Sinn, bes. 259–467; Paulmann, Pomp, 195–294; Braun/Gugerli, Macht, bes. 11–56, 96–134; Möckl, Adel, 96–111; die Beiträge in ders. (Hg.), Hof und Hofgesellschaft. 40 Paulmann, Pomp, 212–214 (zit. 212); Daniel, Hoftheater, 34–38.
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seine Rolle den dramaturgischen Bedingungen im Opernhaus anpasste. Die höfische Ordnung bot eine Alternative gegen die politischen und sozialen Unordnungen der Zeit. Spontaneität und leidenschaftliche Begeisterung waren dabei fehl am Platze. Denn es ging dem Adel nicht darum, das schweigende Hörverhalten des Bürgertums zu kopieren, sondern seine eigene Ordnungsmacht zu demonstrieren. Nicht die musikalischen Darbietungen interessierten die Verantwortlichen, vielmehr die Darbietungen der Monarchen und des Hofstaates. Die theatralisierenden Regeln im Opernhaus verdeutlichten die Versuche einer politischen Kontrolle der staatlichen Beziehungen innerhalb Europas – und in der zweiten Jahrhunderthälfte den Umgang mit den Herrschaftsformen außerhalb des Kontinents.
Der Okzident begegnet dem Orient im Opernhaus Diese Kontrollversuche lassen sich durch den Umgang mit Staatsgästen aus islamisch geprägten Ländern erkennen. Im Zeitalter des Imperialismus, d. h. beim Kampf um Kolonien in Afrika und Asien, der Ausweitung neuer Märkte und des sich abzeichnenden Wettrüstens in Europa, luden die Regierungen verstärkt »Orientalen« als Staatsgäste in ihre Hauptstädte ein. Die koloniale Expansion Europas zwischen 1870 und 1914 unterstützte man gleichsam durch Gegenbesuche von Herrschern aus arabischen Ländern und islamisch geprägten Kulturen. Auf die Kunstmusik ließ sich gerade hierbei nicht verzichten, und viele »Kaiser« standen vor den Opernhäusern Schlange. Nie zuvor und nie danach führten so viele Monarchen diesen Titel – eben nicht nur in Frankreich und Großbritannien, sondern auch in Persien und China. Dieser gehobene Tourismus passte sich vorzüglich in den musikalischen Orientalismus ein, weil der Besuch derartiger Staatsgäste sich sinnlich und an Ritualen reich inszenieren ließ. Der Orientalismus war ein Medienphänomen, das Reiseberichte, Märchenwelten und pittoreske Rituale belebte und das viele Menschen interessierte. Die öffentlichen Berichte reflektierten ein gleichermaßen großes Interesse an Hintergründen wie an Legenden.41 Die als »Orientalen« begriffenen Monarchen waren nicht nur Herrscher und Repräsentanten eines anderen, sondern auch eines reichlich fremden Landes. So eröffneten sich viele Interpretationsmöglichkeiten. Zeitungs berichte und Karikaturen thematisieren immer wieder die gegenseitigen Betrachtungsrituale. Die preiswert produzierten und in ungekannten Stück-
41 Vgl. von Beyme, 101–125; Hobsbawm, Zeitalter, 73–111; Van Laak, 22–47.
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zahlen verkauften Druckerzeugnisse verbreiteten Geschichten von sinnlichen Vergnügungen im ganzen Land. Die Leser wurden durch sensationelle Berichte über fremde Welten und über oft erfundene private Details unterhalten. Die Satirezeitschrift »Kikeriki« beispielsweise ironisierte 1869 in Wien den exotischen Vizekönig von Ägypten als eine Erscheinung in der Oper, auf die sich alle Operngläser, auch die der Künstler, richteten. Der Untertitel der kulturellen Karikatur half zusätzlich: »Annehmlichkeiten für durchreisende Potentaten. So beiläufig wurde der Vizekönig von Egypten von den neugierigen Wienern betrachtet, als er so unvorsichtig war, die Vorstellung der ›Großherzogin von Gerolstein‹ beizuwohnen.«42 Johann Strauss d. J. schrieb eigens zum Besuch des Schahs in Wien 1873 einen mit Schlagwerk und Blechbläsern eingefärbten »Persischen Marsch«, um den Gast nach europäischem Standard so korrekt wie exotisch empfangen zu können.43 In London assistierte ein Mr. Barnby den Erwartungen des britischen Publikums und schrieb im staatlichen Auftrag die Begrüßungshymne »Behold, from Persia’s ancient land«, die ein Chor jubelnd beschloss mit »All hail to the Shah!«44 Die Repräsentanten der europäischen Staaten werteten den eigenen Stellenwert auf, indem sie sich von ihren fremden Gästen öffentlich distanzierten. Im Unterschied zu den Staatsbesuchen der als gleichberechtigt geltenden europäischen Monarchen unterlagen die Sultane und die Schahs dem Stigma des optisch starken, aber politisch schwachen Potentaten. Die vermeintlichen zivilisatorischen Defizite orientalischer Monarchen machten es den Eliten in London oder in Paris leichter ihre koloniale Herrschaft zu rechtfertigen. Anders gewendet: Das Protokoll der Staatszeremonien stellte jeden europäischen Adeligen über die Kalifen. Im britischen Adelskalender »Burke’s Peerage« war unter dem Stichwort »Aga Khan« zu lesen, dass diese Hoheit beanspruche, von irgendwelchen Göttern abzustammen, und dass bei Staatsempfängen einem englischen Herzog der Vortritt zukomme. Das war die Sprache der politischen Differenz, die es ablehnte, sich mit dem Status und der Kultur zu unterwerfender Völker abzugeben.45 Einen Sultan ein- oder auszuladen, ihn mit hohen oder mit mittleren zeremoniellen Ehren in der Hauptstadt zu empfangen, half, die außenpolitische Position des Gastlandes zu markieren. Die tragische, melodramatische und romantische Konstruktion des Orients in der ersten Hälfte des 19. Jahr42 Kikeriki, 10.6.1869. Vgl. zum massenmedialen Kontext Ciarlo, Rasse, 135–179. 43 Eine weitere seiner vielen exotischen Kompositionen ist der »Egyptische Marsch«, op. 335. 44 ILN, 28.6.1873, 615, 618: Royal Italian Opera. 45 Burke’s Peerage 1910. Vgl. Hirsch, Aneignung, 103–114.
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Abb. 26: Die übertriebene Aufmerksamkeit für orientalische Herrscher durch Publikum und Künstler gleichermaßen sorgte immer wieder für Spott.
hunderts glich sich zunehmend der imperialen Expansion der europäischen Kolonialmächte an.46 Großbritannien überragte bereits durch seine wirtschaftlichen Beziehungen mit der nicht-industriellen Welt seine Konkurrenten. Weder Frankreich noch das Deutsche Reich besaßen in ökonomischer, politischer und sozialer Hinsicht eine vergleichbar glückliche Hand – der Donaumonarchie blieb als europäischer Vielvölkerstaat der Griff nach der imperialen Weltmacht ganz verwehrt. Im 19. Jahrhundert verwandelte sich das Britische Empire in einen Verband, der seine weltumspannenden Ansprüche nicht nur einforderte, sondern auch durchsetzte. Umgekehrt sticht der permanente Zwang zur Selbstbehauptung im Osmanischen Reich und in
46 Vgl. Pao, Orient, 180–184; insges. den Ausstellungskatalog »Sehsucht«.
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der arabischen Welt ins Auge, die intensiven wie vergeblichen Versuche, eine militärische, ökonomische und administrative Neuordnung zu beginnen.47 Abdülaziz war der erste Sultan des Osmanischen Reiches, der das europäische Ausland aufsuchte. Er bemühte sich jahrelang um Reformpolitik, bis die Krise des Staates, die Aufstände in einigen Provinzen und der Staatsbankrott in seiner Absetzung und Ermordung gipfelten. Im Sommer 1867 wurde Sultan Abdülaziz in London willkommen geheißen: Außenpolitisch als Garant der britischen Allianz gegen Russland, kulturpolitisch als orientalisches Gegenbild westlicher Zivilisation. Die konservative »Times« unterstrich die Bedeutung des britischen Engagements im Krimkrieg und Großbritanniens Vorbildfunktion als »most active of European nations«. Genau diese Errungenschaften habe der Sultan von Britannien zu erlernen, nur so könne er die ungeheure Diskrepanz zwischen Christentum und Islam, Freiheit und Despotie überwinden: »Es ist diese Gegenüberstellung von West und Ost, von Christentum und Islam, vom Genius europäischer Freiheit und asiatischer Despotie, die dem Besuch des Sultans nie dagewesene Bedeutung verleiht. … Bei einem deratigen Treffen könnte die sogenannten ›Asiatische Frage‹ gelöst werden.«48 Die rechtskonservative »Morning Post« bewahrte die gebotene außenpolitische Form noch weniger als die »Times«. Das Blatt ignorierte den repräsentativen Rahmen eines Staatsbesuches und sprach im Leitartikel dem Sultan jeden bislang in seinem Reich erzielten Fortschritt ab. Würde ein Orientale jemals politische Stärke gewinnen können? »Der Sultan kommt als Repräsentant all dessen zu uns, was rückständig ist. … Wir müssen uns bemühen ihnen zu zeigen, was die wahre Festigkeit und Stärke eines Königreiches ausmacht, und ihnen, wenn möglich, das Wissen, was dem Orientalen so schwierig verständlich zu machen ist, einprägen, dass die Stärke eines Landes nicht auf den unbegrenzten und extravaganten Ausgaben des Königshauses beruht.«49 Fast alle Blätter nutzten die Chiffren eines kulturellen Nationalismus. Musikalische Asymmetrie legitimierte imperiale Abgrenzung in einer breiten Öffentlichkeit, weil der Blick auf Opernaufführungen jedermann zum Ex47 Vgl. Osterhammel, Verwandlung, bes. 606–647; Conrad, Globalisierung, 32–73; dies. (Hg.), Kaiserreich Transnational; McCaskie, Encounters, 644–689; sowie zum Modernisierungsdefizit der arabisch-islamischen Welt: Schölch, Arabische Osten, 365–431. 48 TI, 13.7.1867. Vgl. zu den Folgen des Krimkrieges und zur »Eastern Question« in der britischen Außenpolitik Woodward, Age, 242–284. In imperialer Aufklärung erkannte die »Times« noch am 21.6.1873, dass die europäische Religionsfreiheit die »chief barbarity of Eastern manners« in den Schatten stelle. Vgl. zum kulturellen Protestantismus in London, Auerbach, Exhibition, 165–179. 49 MP, 12.7.1867.
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perten erhob. Intensiv spottete man in London darüber, dass der Sultan die Aufführung des Don Giovanni gelangweilt und zu früh verließ. Bereits barbarische klingende türkische Musik behindere die Zivilisation des Osmanischen Reiches und verlange die Erziehung durch die britische Politik.50
Ein interessanter orientalischer Potentat: Der Schah von Persien bereist europäische Hauptstädte Der Schah von Persien Naser ad-Din erlebte ein weit stärkeres Entgegenkommen bei seinem Staatsbesuch in den europäischen Hauptstädten 1873. Persien war zwar im Gegensatz zum Osmanischen Reich ein relativ kleines und schwaches Land, versuchte aber taktisch klug, sich aus den Einflusssphären und Konfliktzonen der beiden imperialen Machtblöcke Großbritanniens und Russlands in Asien herauszuhalten. Um den Schah von Persien musste daher geworben werden. Naser ad-Din versuchte, durch seine lange, absolutistische Regentschaft Persien aus seiner wirtschaftlichen und militärischen Rückständigkeit herauszuführen, um sein Land zu einem modernen Industriestaat europäischen Musters zu entwickeln. Auch deshalb reiste Naser adDin dreimal nach Europa und besuchte die politischen Machtzentren des Kontinents. Aus seinen erhaltenen Tagebüchern geht hervor, dass er als Absolutist jedoch die europäischen Staatsformen des späten 19. Jahrhunderts nicht besonders schätzte.51 Dennoch verzichtete keine herrschende Dynastie und erst recht kein Nationalstaat auf die politische Macht der Repräsentation. Die Reise des Schahs und seines Hofstaates führte auf einer mehrmonatigen Europareise durch die Machtzentren in Russland, Großbritannien, Frankreich, Italien, Deutschland und Österreich-Ungarn. Die Zeremonien ähnelten sich in allen Metropolen bis in die Details hinein, und so empfingen die Gastgeber Naser ad-Din auch in Berlin, London und Wien in den Schlössern, auf Militärparaden – und in Galaaufführungen in den Opernhäusern. Unabhängig davon, ob die Repräsentationsrituale dem Gast gefielen oder nicht, die musika50 Vgl. etwa MW, 20.7.1867, 486 f.: Shaber Silver on the Sultan: »There is something, in short, that by convention passes in Europe for Turkish music, though I much fear that in Turkey itself music is sadly neglected«, sowie Langford, Englishness, bes. 137–173; MacKenzie, Propaganda und die Beiträge in ders. (Hg.), Victorian Vision. 51 Nasreddin Schah, Harem in Bismarcks Reich, bes. 240–252. Zu den Staatsaufführungen für den Schah in Berlin vgl. Müller/Zalfen, Eastern Potentate, 279–302, und zum Kulturtransfer die Beiträge im Themenheft des Journal of Modern European History 5 (2007), Demarcation and Exchange, hg. v. Müller/Raphael; Müller u. a. (Hg.), Oper im Wandel.
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lischen Aufführungen ließen sich in gleicher Gestalt für den nächsten Gast wiederholen.52 Die Reichsleitung und das Militär in Berlin interessierten sich für das politische Potenzial des Schahs. Das gerade entstehende Deutsche Reich versuchte innerhalb und außerhalb Europas ein diplomatisches Netzwerk zu knüpfen.53 Deutlich wurde in der Presse eine wachsende Neugier, denn Naser ad-Din interessierte die Menschen als ein aus der Fremde kommendes Objekt der Begierde und des Gespräches: »Vergessen wir nicht zu erwähnen, daß in Berlin von nichts anderem als dem Schah gesprochen wird, daß jeder eine andere und noch wunderbarere Mär von ihm zu berichten hat und die Gegend des Hotel de Rome, sowie des Schlosses von Reporterschaaren vollständig belagert wird.«54 Auch die Wiener Presse beschäftigte sich intensiv mit der »Bewirthung des orientalischen Monarchen« und dem aufmerksamen Publikum, das »seiner Schaulust Rechnung [trug], die vielbesprochenen Diamanten des Schah zu bewundern«.55 Selbstredend besuchte der Schah gemeinsam mit den deutschen aristokratischen Eliten und der Kaiserfamilie die Oper in Berlin. Anwesend war die Kaiserin, aber nicht der unpässliche Kaiser. Dafür ließen sich aber Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck und Feldmarschall Graf Helmuth von Moltke bestaunen. Das königliche Opernhaus bot in seinem prächtigen Rahmen »ein eben so glanzvolles wie fremdartiges Bild: der Schah von Persien mit den Gruppen seiner Prinzen von Geblüt. … Der Eindruck der fremdartigen Erscheinung des Orientes« blieb bestehen, obwohl der Schah die Galavorstellung in der Oper nach dem »Gepräge der brandenburg-preußischen Hofsitte« besuchte. Der Perser verdiene die deutsche Gastfreundschaft. »Un52 Britische Beobachter beklagten den mangelnden musikalischen Geschmack des persischen Monarchen in einem Konzertprogramm in der Royal Albert Hall. Aber was diesem Schah nicht gefalle, ließe sich in Zukunft eben für andere exotische Potentaten nutzen: »Ein persischer Marsch, die musikalischen Themen, die bereits als türkische oder ägyptische gedient hatten … werden als chinesische oder japanische erneut genutzt, sobald die Staatsoberhäupter dieser Länder England besuchen.« AT, 28.6.1873, 831. Vgl. die identische musikalische Festform bei seinem zweiten Londoner Besuch 1889: Beim Eintritt des Schahs in das Opernhaus von Covent Garden erklang »ein Auszug aus der Nationalhymne und ein weiteres Stück aus dem sogenannten ›persischen Marsch‹ (der selbstverständlich nichts mit persischer Musik gemeinsam hat, und von Signor Vianesi komponiert worden ist – damals noch Dirigent der Oper beim Besuch des vorherigen Schahs)«, DN, 3.7.1889. 53 Vgl. Conrad, Globalisierung, 32–73; insges. Hildebrand, Reich, 34–94; Smith, Colonialism, 430–453. 54 HS, 5.6.1873 (M). »Da eine riesige Ansammlung des Publicums zu erwarten steht, wurden von der Polizeidirection die umfassenden Vorkehrungen zur Hintanhaltung des Publicums getroffen.« Wanderer, 2.8.1873. 55 FB, 30.7.1873 (A).
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ter allen orientalischen Völkern sind sie bekanntlich am wenigsten fanatisch gegen die Christen und die europäische Tracht.«56 Diese abendländische Toleranz ließ sich zugleich ironisch wenden und zeigte in den Augen der Betrachter die hilflose Peinlichkeit des Orientalen, europäische Genussformen zu imitieren. »Der Schah hat sich insoweit von den Vorschriften des Koran emanzipiert, als er Madeira, Marsala und Champagner, der ja bekanntlich im Orient nicht als Wein, sondern als künstliches Präparat … gilt, mit Verständnis trinkt.«57 Statt um das bühnenwirksame Spektakel ging es vielen Anwesenden in erster Linie um Monarchie und Imperialismus, um Orientalismus und Nationalismus. Sicher gefiel aber den Gastgebern die Tatsache, dass eigene Ideale, eigene Weltbilder und Ordnungsvorstellungen auf die Bühne gebracht wurden. Das für den Schahbesuch in Wien inszenierte Ballett Fantasca handelte vom »Kampf des europäischen Rittertums gegen asiatische Despoten; … [es] endete mit dem Triumphe Europas über den Orient«.58 Die Kulissen eines orientalisierten Stückes bildeten auf den europäischen Bühnen eine Modeform, deren Geltung in den 1870er-Jahren aber nachgelassen hatte. Hier aber war das Sujet überaus relevant. In der Märchenwelt des Balletts war ein Sieg des Westens über den Orient zu erleben – im Angesicht eines deutschen und eines persischen Kaisers – bildete das Stück eine Leinwand für eigene politische Projektionen. Die Reporter in Wien rühmten ebenso genüsslich die Lichteffekte und die goldene Pracht der Hofoper, den Blumenschmuck des Saales sowie den Glanz der Uniformträger des Hofes. Kaiser Franz Joseph I. begleitete den Schah. »Um 8 Uhr wurde es lebendig in der großen Hofloge, alle Operngläser richteten sich hin, der demantenblitzende [sic] Schah, geführt von unserem Kaiser, der die Oberst-Uhlanenuniform, und auf derselben das Bildnis des Schah in Brillanten gefasst, trug, wurde sichtbar. … Die ›Pracht des Reiches‹, der Großvezier, der Memalek und das übrige Gefolge occupierte vier Logen neben der großen Hofloge. … Nassr-ed-din, der ›Mittelpunkt der Welt‹ war gestern ein reiner Leuchtthurm des Orients.«59 In einem »wahrhaft sinnverwirrenden Spectakel« machte der »harmonische Lärm … auf die Ohren des Perserfürsten einen angenehmen Eindruck«.60
56 NPZ, 6.6.1873. 57 HS, (MA), 5.6.1873: Der Shah in Berlin. 58 Presse, 6.8.1873. 59 Wanderer, 6.8.1873. Vgl. Hamann, Hof, 61–78. 60 IZ, 30.8.1873, 155 f.: Der Schah von Persien in Wien. Vgl. die Karikaturen des »Kikeriki«, 10.8.1873.
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Auch beim Empfang eines orientalischen Herrschers in Berlin wählte die Reichsleitung das passende Publikum aus. Ob aus dem Adel oder dem Großbürgertum, ob hohe Offiziere oder führende Geschäftsleute, die Eliten der Metropolen bemühten sich um ihre Teilnahme an der Galavorstellung. Wichtig war nicht nur die Anwesenheit, sondern auch die gute Sicht auf die Königsloge. »Die Blicke der Zuschauer schienen oft mehr auf die Hoflogen, als auf die Opernbühne gerichtet«61, hob ein Kommentator ausdrücklich hervor. Zunächst aber wartete das Publikum in Berlin eine ganze Weile auf den berühmten Gast aus Persien. War es ohnehin schon üblich, dass die Monarchen in der Regel erheblich zu spät zur Vorstellung kamen, so genoss Schah Naser ad-Din den Ruf besonderer Unpünktlichkeit.62 Bei seinem Erscheinen erhoben sich das Publikum und auch die Musiker von ihren Plätzen und jubelten minutenlang dem Gast und den Gastgebern zu. Voller Stolz hielt die »Vossische Zeitung« darüber fest: »Der Schah … verneigte sich mehrere Male gegen die Versammlung, die mit einem unausgesprochenen Ah zu ihm hinaufblickte.« Und das Publikum hatte »die Genugthuung …, ein orientalisches Boll-Auge gerichtet zu sehen«.63 Der Blick des Schahs ruhte während des Ballettes mit Hilfe des Opernglases so intensiv auf dem Publikum, wie umgekehrt das Publikum ihn mit neugierigen Blicken betrachtete. Die Berliner Presse beschrieb im Wesentlichen die intensive Konversation der aristokratischen Eliten während der Vorstellung. In Wien plauderte der Schah mit Herzögen des Kaiserhauses, betrachtete die jungen Damen im Zweiten Range, er genoss exquisite Getränke nebst einem Schokoladen-Eis. »Nach dem ersten Acte servirte man Gefrorenes in der Hofloge. … er nahm das Löffelchen gerade so wie andere Wiener Kinder und schob mit demselben das Gefrorene ebenso, wie sie es zu thun gewohnt, in den Mund.«64 Ungeachtet des regierungsamtlichen und gesellschaftlichen Aufwandes, konnte der Spott über eine fremde Kultur oft die innenpolitische Bedeutung des Staatsbesuches entwerten. Im Unterschied zum Deutschen Kaiser oder zum französischen Präsidenten begriffen führende britische Minister Naser ad-Din als einen nicht ebenbürtigen Staatsgast und die Presse ihn als eine 61 NPZ, 8.9.1872. Vgl. zur Rang- und Sitzordnung in der Berliner Hofoper auch Laforgue, Berlin, 53–62. 62 »Nassr-eddin scheint sich ans Worthalten zu gewöhnen und vielleicht gelangt er, wenn er noch lange in Europa bleibt, in den Ruf eines pünktlichen Mannes. Heute jedenfalls erschien der Schah, wie versprochen, bei der Festvorstellung im Hofoperntheater, und was noch mehr ist, er kam auch nur eine halbe Stunde zu spät.« DZ, 6.8.1873 (M). 63 VZ, 6.6.1873. 64 FB, 6.8.1873, (M). Vgl. die Monographien von Gradenwitz, Musik; Schmitt, Exotismus; Plato, Präsentierte Geschichte, bes. 120–135; sowie die Beiträge in »Sehsucht«.
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wenig ernst zu nehmende Quelle der Unterhaltung. Besonders die Londoner waren brutal und reduzierten den persischen König manchmal auf das Niveau eines reisenden orientalischen Entertainers in Europa. »Der Schah hat nun seit einer Woche die Leute in London amüsiert. Da er sich in Russland königlich vergnügte, musste ihm hier gleiches geboten werden, weshalb er mit großen Ehren und sehr prunkvoll in Empfang genommen wurde, was nicht jedem königlichen Gast hier zu Teil wird. … Die Menge amüsierte sich nicht allzu sehr, aber war doch höflich interessiert und die Presse lobte den Herrscher bis zu einem gewissen Grad. … Schließlich blätterte der Lack ab und die Journalisten fanden mit lachhafter Einstimmigkeit heraus, dass der König der Könige eigentlich ein ›kaffeehäutiger Barbar‹ ist.«65 Manche Londoner Musikfreunde begriffen das Gastspiel von Naser ad-Din als »a series of Arabian Nights Entertainment«.66 Faszination und Fremdheit markierten die Hauptanziehungspunkte des Schahs. Am meisten interessierte man sich für das Unvermögen des Schahs geltende europäische Ideale zu erfüllen. Auch in Wien strich man immer wieder heraus, dass Schah Naser ad-Din trotz allen Wohlstandes und trotz eigener Pracht, sich »noch immer nicht unseren Sitten und Gebräuchen fügen und nur seinem Willen als den einzig maßgebenden betrachtet wissen will«.67 Nach dem Urteil vieler Berichterstatter war der Schah ein hochwillkommener, wenn auch »infolge der gesellschaftlichen Verhältnisse des Orients« ein merkwürdiger Gast. »Es ist … nicht zu leugnen, dass die asiatische Majestät, indem dieselbe hier und da die eigenen statt der hier herrschenden Sitten zur Geltung brachte, einige Verwunderung hervorrief.«68 Den Schah als exotisch zu beschreiben, ging mit einer Verklärung der Errungenschaften europäischer Kultur einher. Gerade der Blick auf die vermeintlich von der gesellschaftlichen Norm abweichenden Eigenschaften des Besuchers festigte Europas Glanz. Ob in Berlin, in Wien oder in London, überall galt es, die westliche Moderne mit der asiatischen Vormoderne zu kontrastieren. Gegenüberstellen könne man den »erstaunlichsten Wechsel der Cultur, den wir im Oriente sehen« mit der »Kraft zur Einführung abendländischer Cultur«.69 Mit anderen Worten: Von europäischer Politik, Gesellschaft und Kultur zu lernen, bedeute für Persien, Erfolg zu lernen. Der Schah möge »die Früchte europäischer Zivilisation, moderner Kultur nach allen Richtungen kennen lernen, … dieselben nach seiner Heimath verpflan65 Ebd. 66 ILN, 28.6.1873, 598 f. 67 Wanderer, 2.8.1873 (M). 68 IZ, 21.6.1873, 474. 69 NFP, 30.7.1873 (M). Vgl. die Beiträge in Kundrus (Hg.), Phantasiereiche.
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zen, auf das die Prinzipien der gesellschaftlichen Ordnung und Aufklärung auch in Persien eine bleibende Stätte finden«.70 Gerade in Großbritannien betonte man die außenpolitische Mission, den Gast durch die europäische – das heißt durch die britische – Zivilisation zu erziehen. »Sein Besuch ist in jeder Hinsicht signifikant … er setzt einen Meilenstein in der Geschichte des Fortschritts der Welt. Der Schah hat die Fesseln, die ihm von orientalischer Exklusivität und Weltanschauung angelegt wurden, durchbrochen. Ein östlicher Magnat nach dem Anderen begreift die Absurdität und die Grenzen seiner alten Welt erst durch die Begegnung mit der westlichen Zivilisation. Der Schah tritt in die Fußstapfen des Sultans und des Khediven.«71 Der Schahbesuch in Europa war ein legendenhaftes Abenteuer mit begrenzter Halbwertzeit. Das orientalische Modephänomen eines reisenden Fremden verschwand in den Zeitungen so schnell, wie es gekommen war. Genau genommen wandelte sich der politische Rang des Schahs in der europäischen Presselandschaft. Vielleicht war es besonders aussagekräftig, dass sein Besuch 1889 am intensivsten in »The Ladies Column« [sic] der »Illustrated London News« abgehandelt wurde. Der Artikel reduzierte den Staatsbesuch Naser ad-Dins auf die ansehnliche Kleidung, genau genommen auf die aktuelle Sommermode der anwesenden Damen der Gesellschaft im Opernhaus.72 Auch in Berlin und in Wien füllten sich die Seiten über die altpersische Mütze des Monarchen, die »Brillant-Agraffe« und seinen schwarzen Rock. Ein Kommentar zur Abreise des Schahs brachte die Parallelität von Ironie, Exotismus und Eurozentrismus auf den Punkt: »Damit ist der Schahinschah, der als seltenes Phänomen am europäischen Horizont auftauchte, und kometenartig einige Monate hindurch an ihm leuchtete, die öffentliche Meinung durch das fremdartige seiner Erscheinung blendend und fesselnd, wieder aus unserm Sehkreis entschwunden, voraussichtlich wohl für lange Zeit.«73 Eine Pointe zum Schluss: Was dachte Naser ad-Din über die europäische Wahrnehmungen? Der Schah wählte eine ungewöhnliche schriftstellerische Darstellung. Er fertigte nach seiner Europareise selbst einen Bericht an, der sogar ins Deutsche übertragen und publiziert wurde. Die Deutschen befremdeten ihn offensichtlich, den Opernbesuch dagegen schätzte er – obwohl er bei diesem, seiner Meinung nach, den Blicken zu vieler Untertanen ausgesetzt war. Über den Besuch der Berliner Hofoper und die kulturellen 70 FB, 30.7.1873 (A). 71 MP, 18.6.1873. Vgl. auch den Leitartikel der ILN, 14.6.1873, 550 f.; zudem McCaskie, Encounters, 665–689. 72 ILN, 13.7.1889, 64. Vgl. MacKenzie, Empire, 270–293. 73 HS, 5.6.1873 (M).
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Errungenschaften des Abendlandes hielt der Schah fest: »Eine Beobachtung ist mir einfach unerklärlich: Da bauen die Herrscher solche Paläste und machen sich ein Vergnügen daraus, in den Gebäuden mit tausend anderen Menschen, bis zu den einfachsten Arbeitern hinunter Tanz- und Singspiele anzuschauen. Sehr seltsam! Wenn ich mir ein solches Haus bauen ließe, dann möchte ich es schon ganz allein für mich und meine Tänzerinnen haben. Was hätten da andere, etwa meine Untertanen, darin zu suchen? … Dem Untertan sollte … nicht ermöglicht werden, in den gleichen Genuß wie sein Herrscher zu kommen. Hier scheint man von diesen Selbstverständlichkeiten nicht viel zu halten.«74 »Oh, East is East, and West is West, and never the twain shall meet, Till Earth and Sky stand presently at God’s great Judgment Seat; But there is neither East nor West, Border, nor Breed, nor Birth, When two strong men stand face to face, tho’ they come from the ends of the earth!«75
Hatte Rudyard Kipling in seiner Ballade doch recht? Vereinte der Staatsbesuch zweier starker Herrscher die Staaten und Kulturen jenseits aller Differenzen? Gerade Kiplings Verse zeigen aber, inwieweit der Orientalismus mehr war als eine negative Verzerrung einer als exotisch und vormodern gedachten Zivilisation. Er war ebenso eine westliche Reflexion über die eigenen Errungenschaften durch den Vergleich mit einer fremden Kultur. Sich vom »Orient« interessiert abzugrenzen, erleichterte das außenpolitische Programm der europäischen Nationalstaaten. Zwischen den Polen öffentlicher Repräsentation und medialer Satire organisierten die politischen Verantwortlichen und Journalisten die Staatsbesuche »orientalischer« Monarchen. Denn wer beispielsweise wegen seiner außereuropäischen Herkunft die europäischen Muster der Repräsentation verfehlte, fremde Kleidung trug und falsche Sitten zeigte, verfügte über geringere Chancen, politisch ernst genommen zu werden. Der Wille zur kulturellen Ignoranz »orientalischer« Herrscher verdeutlicht eine Tatsache: Opernaufführungen demonstrierten die feinen Unterschiede in der internationalen Politik.76 Daher sollte die musikalische Repräsentation im Opernhaus nicht als oberflächliche oder sogar unwirkliche Verschleierung politischer Tatsachen begriffen werden. Subjekt 74 Nasreddin Schah, Harem in Bismarcks Reich, 246, 250 f. 75 »The Ballad of East and West« (1889), in: Rudyard Kipling’s Verse, 231–235. 76 Die TI, 9.6.1824, gelangte zu dem Urteil, dass die universale Sprache der Musik selbst wilde Staatsgäste zivilisiere. »Music is a species of universal language and its power is felt more or less by every heart, whether civilized or savage. … Their remark must certainly be curious and entertaining.« Vgl. zur »Cultural Anxiety« in Großbritannien, Auerbach, Exhibition, 179–189.
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und Objekt verlieren im Performativen einiges an Trennschärfe. Um ein berühmtes Zitat des amerikanischen Politologen Walker Connor zu variieren, ließe sich argumentieren, dass politisch nicht das zählt, was ist, sondern das, was die Menschen als politische Realität inszenieren.77 Die architektonische Zurschaustellung der Spielstätten und die politische Funktionalisierung der musikalischen Gattung mag erklären, warum sich im 19. Jahrhundert – wie auch noch im 20. Jahrhundert – Staatsbesuche im Opernhaus so viel öfter als im Konzertsaal abspielten. Die kulturellen Kontexte und die politischen Situationen machten das Publikum und die Monarchen zu Künstlern auf der Opernbühne. Solche Kontexte und Situationen waren auch deshalb wichtig, weil weder die Musik noch die Libretti, weder die Zeremonien noch die Rituale eindeutige politische Botschaften vermittelten und ähnliche Ereignisse aus verschiedenen Gründen unterschiedlich beachtet und gedeutet werden konnten. Kurzum: Die musikalische Kommunikation folgte weniger einer direkten und argumentativen als einer indirekten und assoziativen Logik.78
Königin Victoria begegnet Kaiser Napoleon III. und Großbritannien seinem militärischen Verbündeten Frankreich Der Staatsbesuch des französischen Kaisers Napoleon III. 1855 in London stellt ein ideales Fallbeispiel dieser politischen Performanz dar. Frankreich und England machten sich in einer machtpolitischen Vorstellung der nationalen und der internationalen Öffentlichkeit als Alliierte kenntlich. Was England seinem Verbündeten Frankreich zeigte und Frankreich seinem Verbündeten England, erinnerte in seiner abgestimmten Darstellung verdächtig an ein Konsensritual. Die gebotene Inszenierung machte gleich von Beginn an klar, dass die endlose Rivalität zwischen Frankreich und Großbritannien nunmehr das Zeitliche gesegnet hatte. Die wichtigste Ursache dafür war der Krimkrieg – das zentrale außenpolitische Objekt der beiden Großmächte. Im gemeinsamen militärischen Einsatz gegen Russland hatten sich die Armeen der beiden Nationalstaaten verbündet. Die französisch-britische Allianz festigte sich zumal durch die Belagerung von Sewastopol. Gemeinsame Schlachten bei Balaklava und Inker 77 »What ultimately matters is not what is but what people believe is«, Connor, Ethnonationalism, 93. Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik, bes. 31–57; Früchtl/Zimmermann, Ästhetik, 9–47; Lietzmann, Musik, 21–46; John, Vexierbild, 13–21; und insges. die Beiträge in Canaris (Hg.), Musik-Politik. 78 Vgl. Zalfen; Hauptstadt, 115–135; dies., Crisis of Culture, 273–286.
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mann verbanden die Untertanen Napoleons III. und der Königin Victoria.79 Manche nannten den kaiserlichen Staatsbesuch ein »remarkable and romantic event«,80 andere erkannten sogar ein »wondrous tale«.81 Nicht ohne politische Ironie befand die »Morning Post«, dass die Briten inzwischen ihren Hass auf Napoleon I. bewundernd durch die Anerkennung Napoleons III. ersetzt hätten. Dem regierenden Kaiser gelang nunmehr das, was seinem Vorgänger verwehrt bleiben musste: England einzunehmen. Denn die Briten seien nun »his brave Allies. … The Emperor Napoleon has at length invaded England«.82 Selbstredend gingen Napoleon III. und Königin Victoria in London in die Oper. Wie in einem Drehbuch waren die Arrangements, die Empfangsrituale und die Sitzordnung detailliert geplant – monarchische Zeremonien, die lange vor 1851 entstanden und sich noch weit ins 20. Jahrhundert hinein vollzogen.83 Bereits die Ordnung des Wagenzuges auf dem Weg zwischen dem Buckinghampalast und Covent Garden bediente in seiner Pracht die Erwartungen der Zuschauer. Die monarchische Prozession der Briten bestand aus neun Kutschen. Königin Victoria höchstselbst zeigte sich überrascht über den Jubel und die Anteilnahme der Menge entlang der Straßen: »Niemals zuvor sah ich eine so große Menschenmenge bei Nacht – alle in bester Stimmung. Wir fuhren durch einen wortwörtlichen See aus Menschen, die jubelten und gegen die Kutsche drückten. Die Straßen waren wunderschön beleuchtet, und viele Buchstaben wie ›N. E.‹ und ›V. A.‹ waren zu sehen.«84 Eine minutiöse Ordnungsvorschrift legte fest, wie die Majestäten vor und in der Oper zu begrüßen und zu eskortieren waren. Der Lord Chamberlain nahm am Eingang von Covent Garden die aus der Kutsche steigenden Monarchen in Empfang. Festliche Kerzen tragend, geleitete er die Herrschaften daraufhin in die Königsloge. Dort hatte er im hinteren Teil der Loge zu verbleiben, um den Wünschen Ihrer Majestäten zur Verfügung zu stehen. Die Sitzplatzordnung im Opernhaus selbst gliederte eine von der Königin und dem Kaiser aus absteigende Liste des Hochadels, des Adels, der hohen Offiziere und des Hofstaates. Das unmittelbare Gefolge der Gastgeberin ver79 Vgl. Willms, Napoleon III., 159–183. 80 Vgl. TI, 18.4.1855. 81 AT, 28.4.1855, 495. 82 MP, 17.4.1855. Vgl. auch den Leitartikel der DN, 20.4.1855. 83 Vgl. auch die flüchtig überlieferten Planungsskizzen über den Besuch Königin Victorias 1838 im Kings Theatre: London, PRO, LC 1/19, 30.4.1838. Auffällig war die Kontinuität politischer Formen. Selbst anlässlich des Staatsbesuches Wilhelm II. in London 1891 waren kaum Unterschiede in der Opernzeremonie auszumachen. Vgl. London, PRO, LC2/122 (3.7.1891). 84 Zit. n. Rowell, Queen Victoria, 69 (Herv. im Orig).
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zeichnete 27 und das des Gastes 19 Personen. Diesen wurden handverlesene Logenplätze zugewiesen.85 Das geschmückte Auditorium mit seinen zahlreichen Spiegeln und einer magischen Beleuchtung durch viele Lüster erinnerte an einen morgenländischen Palast. Das Publikum versammelte sich gespannt und aufgeregt auf dieser Bühne des Festes. »The Queen« und »The Emperor« flüsterten sich die Menschen vorher zu.86 Doch die Monarchen ließen das angespannte Publikum am 19. April 1855 erst einmal warten. Sie kamen erst eine Stunde nach Beginn ihrer Galavorstellung – das Diner ersetzte den ersten Akt des Fidelio. Endlich betraten um 21.30 Uhr der Kaiser und die Königin den Zuschauerraum. Victoria führte Napoleon an der Hand durch die Loge und beide verbeugten sich sanft vor der jubelnden Menge. Prinz Albert tat Gleiches und begleitete die Kaiserin Eugénie. Die Gastgeber achteten darauf, dass ihre Gäste vor ihnen die Logen erreichten, um deren politischen Rang zu zeigen. Beethoven hin oder her – vor dem Beginn des zweiten Aktes wurden erst die französische (»Partant pour la Syrie«), dann die englische Nationalhymne (»God save the Queen«) gespielt. Das Publikum und auch die Musiker erhoben sich von ihren Plätzen und jubelten minutenlang den Herrschern zu (das Orchester und zwei Militärkapellen hatten dabei stehend die Hymnen zu spielen). Victoria und Napoleon ihrerseits verbeugten sich immer wieder. Am Ende dieses Bühnenwerkes spielte man erneut beide Hymnen, dieses Mal aber, verglichen mit dem Beginn des zweiten Aktes, in umgekehrter Reihenfolge: erst die englische, dann die französische Hymne. Zwei Kapellen der Leibwache verstärkten die Darbietung der Hymnen und das Zusammenspiel aus Instrumenten und Gesang beschallte das Publikum in einer beachtlichen Lautstärke. Beethovens Fidelio hatte an diesem Abend keine Chance. »Und dann fuhr man mit der Oper fort; aber das Publikum hatte nur Augen für die attraktive Herrscherin, sie schenkten ihrem Lächeln Beachtung und stellten sich vor, jede Konversation zwischen dem Kaiser und der Königin hören zu können.«87 Über Wochen hinweg machten die führenden Londoner Blätter in ihren Anzeigen deutlich, dass die bürgerliche Elite ihren politischen Status auch dem eigenen materiellen Wohlstand verdankte. Höchste Preise waren für eine Sicht nicht auf die Bühne, aber auf die Königsloge gezahlt worden. Die Monarchen selbst zu erleben, versprach den zahlungskräftigen Besuchern einen beachtlichen Prestigegewinn. Die ungeheure Nachfrage des Publi85 London, PRO, LC5/258. Vgl. Bevan, Performance, 23 f. 86 TI, 20.4.1855. 87 MP, 20.4.1855.
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Abb. 27: Anlässlich des Staatsbesuchs Kaiser Napoleons III. in London 1855, erhob sich das Publikum geschlossen von seinen Plätzen, als das französische Kaiserpaar gemeinsam mit Königin Victoria und Prinz Albert Covent Garden betrat.
kums bestimmte den finanziellen Preis. Der Lord Mayor bot seine Loge für 80 guineas zum Kauf an, einzelne Parkettplätze sollen bis zu 50 guineas gekostet haben, und etwa 100 Besucher zahlten 5 £ dafür, um gemeinsam mit dem Chor auf offener Bühne die Nationalhymen singen zu dürfen.88 Am Tag der Galavorstellung wimmelte es in der »Morning Post« von Anzeigen für Operngläser.89 Am aussagekräftigsten aber sind diejenigen Angebote, welche die wenigen verbliebenen Tickets für ein wahres Vermögen zum Verkauf offerierten. Auf der Titelseite dieser Zeitung ist beispielsweise zu lesen, dass eine Logenkarte dem Jahresgehalt eines Butlers entsprach: »Staatsbesuch, heute Abend (Donnerstag), in der Royal Italian Opera. Eine private Loge mit erstklassigem Ausblick auf die königliche Loge, für nur 40 Guineas. Melden sie sich dafür in Fentum’s Music Warehouse, 78, The Strand. Parketttickets 88 ILN, 28.4.1855, 398. 89 MP, 19.4.1855. »Her Majesty’s State Visit: The largest assortment of Opera Glasses, of the first quality, is at Callaghan’s, Optician, 45, Great Russel Street, Bloomsbury, who is the sole agent to Voigtländer of Vienna.« Vgl. auch zur begehrten Sichtbarkeit auf Königin Victoria den Ansatz von Bereson, State, 76 f.
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können immer noch in Stride’s Ticket Office, 28, Bow Street, Covent Garden erworben werden. N. B. Keine Abendkasse.«90 Die »Musical World« erkannte ironisch, dass eine englische Königin mit einem sächsischen Prinzgemahl eine »Prussian opera« – so die Bezeichnung für den Fidelio – in einem italienischen Opernhaus für einen französischen Kaiser und eine spanische Kaiserin, im Wesentlichen von österreichischen Sängern begleitet geben konnte. Die Initialen »N«, »V«, »E«, »A« reihten sich auf der Stirnseite der Logen und in den Augen der Journalisten aneinander. »Aber die Mehrheit der Besucher kam weder, um sich vor dem Altar von Beethovens Genialität zu verneigen, noch, um sich an der Musik oder den Sängern zu erfreuen, sondern, um die Königin und ihre Gäste zu ehren.«91 Legitime Herrschaft beruht auf der emotionalen Anerkennung ihrer öffentlichen Darstellung, musikalische Ästhetik war ein Moment politischen Handelns. Zugespitzt formuliert: »Politik wird erst politisch, wenn sie sinnlich ist.«92 Der politische Maßstab dieses Staatsbesuches war die Erfüllung der Erwartungen eines mehrheitsfähigen Weltbildes der Gesellschaft: die Sichtbarkeit und der Konsens von Herrschaft, nicht die Unsichtbarkeit und der Dissens. Die sinnlich-wahrnehmbare Manifestation im Opernhaus erfüllte das Bedürfnis der Herrscher, betrachtet zu werden, und das der Beherrschten, zu betrachten. Es ist mithin die Inklusion der Bevölkerung durch Organisationen oder Verfahren, welche die politische Partizipation ermöglicht. Die Inklusion stellt dabei eine limitierte Kategorie dar, denn von der politischen Partizipation ließen sich gerade durch den Staatsbesuch nicht mehrheitsfähige Kulturen, Parteien und Gruppen ausgrenzen. Erklärungsbedürftig bleibt dabei, dass sich im »opernhaften« Staatsbesuch Repräsentation und Partizipation oftmals entsprachen, weil beide Kategorien Exklusion und Inklusion legitimierten. Dabei bestimmte primär das ideale Konzept einer politischen Synthese den Diskurs. Es ließen sich hier mithin plurale Darstellungsmodi, ja, Verhandlungsprozesse einer wörtlich zu begreifenden politischen Kultur beobachten, die Gleichzeitigkeit demokratisierender und elitärer Elemente von Öffentlichkeit.93
90 MP, 19.4.1855. Vgl. DN, 20.4.1855. 91 MW, 21.4.1855, 249 f. Vgl. Budds, Music, 299 f. 92 Andres/Geisthövel/Schwengelbeck, Einleitung, 11. 93 Vgl. Weber, Wirtschaft, 475–488; sowie die Beiträge in Soeffner/Tänzler (Hg.), Politik; Bora, Partizipation, 15–34; Kroen, Politics and Theater, 285–305.
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Politische Konsensrituale: Aufführungen von Nationalopern und Nationalhymnen in Europa Die Erschaffung eines politischen Konsenses in Form theatralischer Zeremonien lässt sich gerade an der Reichweite des musikalischen Nationalismus in London, in Berlin und in Wien veranschaulichen. Die Darstellung der Nation machte in ganz Europa deutlich, inwieweit Politik keine fest bestimmbare Kategorie war, sondern eine Projektionsfläche kollektiver Zuschreibungen sein konnte. Durch ihre gegenseitige Verständigung entschieden die Akteure, was politisch zu sein hatte und was durch sie selbst politisch wurde. Abhängig vom Publikum und seiner Kommunikation, verwandelten sich auch augenscheinlich nicht politische Aufführungen – wie eben zeremonielle Opernbesuche – in politische Felder. Die öffentliche Präsenz des musikalischen Nationalismus spiegelte mithin den Glauben an die eigene kulturelle und politische Macht wider – und eröffnete so Grenzziehungen gegenüber den Freunden und Feinden der eigenen Musik in Europa. Mit Hilfe einer als eminent wichtig betrachteten »nationalen Musik« ließen sich zwei oft nur schwer aufzuhebende Grenzen markieren – die zwischen den europäischen Kulturen und die innerhalb der eigenen Kultur. Der Blick auf die Partizipation des Publikums im Rahmen einer Gala aufführung offenbart, dass die »Nation« nicht notwendig vorab bestand, sondern sich vielmehr als imaginierte und praktizierende Gemeinschaft herausbildete. Genau deshalb huldigten die Besucher nicht einem abstrakt erfahrbaren Staat, sondern genossen in diesen Momenten die eigenständige Teilhabe an ihrer »Nation«. Nur wenige Staatsbesuche oder Galavorstellungen spielten sich ohne nationalistische Rituale ab. Die Verehrung des anwesenden Monarchen bedeutete die eigene Nation zu feiern. Die prächtigen Inszenierungen des musikalischen Nationalismus im Opernhaus, das Singen von Hymnen und die Rezitation weihevoller Prologe bewegten die Besucher emotional. Staatshymnen von der »Marseillaise« über »Rule Britannia« bis hin zur »Wacht am Rhein« verliehen der politischen Ordnung des Nationalstaates sinnliche Geltung. Aus der Hofoper in Berlin hieß es 1892 beispielsweise: »Vor dem Schlußvers bereits hatte die Harfe im Orchester in leisen Accorden die Nationalhymne zu säuseln begonnen. … Mächtig tönte die Melodie des ›Heil Dir im Siegerkranz‹ durch das Haus und das gesamte Publikum erhob sich und wendete sich zur Kaiserloge hin. Der Kaiser war aufgestanden und blieb, ernst, stehen bis der letzte Ton verhallt war.«94 94 NZfM, 88 (1892), 559. Vgl. Blanning, Triumph, 231–285.
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Als George IV. im Jahre 1821 das King’s Theatre in London betrat, feierte die Menge ihn als ein nationales Symbol, als das Zentrum politischer Visionen. Selbst den Zeitgenossen war klar, dass erst die kollektive Feier im Auditorium nationale Loyalität erzeugte. Der Monarch hatte sich »standesgemäß« in eine Galauniform als Feldmarschall gehüllt, und die Menschen empfingen König George »standesgemäß« als die Verkörperung der britischen Gemeinschaft. Am Ende den Abends fiel ein Vorhang, auf dem in einem gemalten Regenbogen die Aufschrift »God Save the King« zu lesen stand. »Am Ende des Stücks wurde – zum dritten Mal – ›God save the King‹ gespielt und gesungen, gefolgt von ›Rule Britannia‹. Seine Majestät stand auf und verbeugte sich vor dem Publikum; danach zog sich der zutiefst gerührte Monarch von lauten und enthusiastischen Ausrufen begleitet, zurück.«95 Ein gleichsam identischer musikalischer Nationalismus spielte sich beim Opernauftritt der jungen Königin Victoria 1837 ab. Victoria versinnbildlichte die Hoffnung und die Begeisterung der anwesenden Nationalisten. Gleich bei ihrem Eintritt setzte die Nationalhymne ein, die allerdings durch den Jubel der Besucher kaum zu hören war. Am Ende der Oper The Maid of Artois von Michael Balfe versammelten sich die Sänger, der Chor und bezeichnenderweise auch ein großer Teil des Publikums auf der Bühne, und alle stimmten »Rule Britannia« an. »Das Publikum erhob sich erneut und die Königin schritt zum vorderen Rand ihrer Loge, während sich Applaus und Gesang vermischten und ›Long live the Queen‹ – Rufe laut wurden. … Victoria ist nun die Hoffnung des Volkes – von ihr hängt das Glück einer Nation ab.«96 Auch in ihren nationalistischen Ritualen lassen sich Berlin, London und Wien nur graduell voneinander unterscheiden. In den 1820er- und 1830er-Jahren beispielsweise feierte die Berliner Hofgesellschaft immer Anfang August den Geburtstag des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. in der Hofoper. In Preußen galt als Nationalhymne die von Joseph Friedrich Dunker gedichtete und 1820 als »chant national prussien« von Gaspare Spontini komponierte Ode »Borussia«. 1840 löste dann das »Preußenlied« diese Ode ab, ein Geburtstagsgeschenk vom königlichen Musikdirektor August Neithardt für Friedrich Wilhelm III. Die Berliner Operngala des Jahres 1820 leitete der italienische Hofkomponist Spontini. Den Festakt verstärkten 350 Orchestermusiker und zwei Militärkapellen. »Am dritten August, dem Tage, der jeden Preußen mit freudig-ernsten Gefühlen erfüllt, begann die szenische Feier mit dem bekannten 95 MP, 21.3.1821. 96 MP, 6.11.1837. Vgl. Biddlecombe, Opera.
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Volks-Gesange. … Alle Zuhörer [waren] von ihrem eignen Gefühl, wie von dieser Art es feurig auszusprechen, gewaltig ergriffen. … In donnerndem Lebehoch des Königs, gaben Tausende diesen Ausdruck zurück. … Ein von Spontini neu komponirter Festmarsch schloss sich an … in die Melodie des Heil Dir übergehend, in dessen Chor das Haus feierlich einstimmte, und auch dem genialen feurigen Meister lauten Beifall zollte.«97 Die »Volkshymne« in Österreich bediente ähnliche ästhetische Erwartungen und entstammte einem ähnlichen politischen Kontext. Vor dem Hintergrund der gegen das revolutionäre Frankreich geführten Koalitionskriege sah sich das österreichische Herrscherhaus veranlasst, die Bande zum Volk durch die zu singende »Volkshymne« zu kräftigen. In gewisser Hinsicht war diese Ode ein Gegenentwurf zur Marseillaise. Joseph Haydns berühmte Melodie bereicherten die authentischen Verse von Lorenz Leopold Haschka. Seine Worte nahmen unverkennbar Anleihen bei der britischen Nationalhymne. Regelmäßig wurde die »Volkshymne« aus Anlass der Geburtstage der Monarchen in allen Wiener Theatern gesungen, im Burgtheater in Gegenwart der Kaiser Franz II. und Franz Joseph I. selbst. Kaiser und Volk waren zufrieden mit Haydns Komposition.98 Die Eröffnung des neuen Wiener Opernhauses 1869 zeichnete sich durch die Anwesenheit nationaler und internationaler Gäste, durch die Paralle lität nationaler und internationaler Zeremonien aus. Selbstredend versammelte der Gastgeber Kaiser Franz Joseph I. die adelige Elite, die Spitzen der Finanzwelt, Künstler und Literaten, ebenso aber die Gesandten fremder Mächte. Sämtliche Völker und nationalen Errungenschaften des Habsburgerreiches galt es zur Schau zu stellen. Ein über die Opernbühne schreitender Festzug der vielfältigen kulturellen Völkerschaften fand durch die Führungsfigur der »Vindobona« zur musikalischen Harmonie – und dadurch schließlich zur politischen Einheit. Zunächst betrat ein Fräulein Wolter im Kostüm der »Vindobona« die Bühne und sprach einen vom Direktor des Hofoperntheaters, Franz von Dingelstedt, verfassten Prolog. Darin wurden Wiens geschichtlicher Aufstieg und die österreichischen musikalischen Errungenschaften gelobt. Denn Musik sei schließlich »die erste der Künste in Oesterreich und Oesterreich die erste Macht der Musik«. Der Prolog schloss mit den Takten der »österreichischen Volkshymne«, worauf sich eine festliche Prozession über die Bühne in Gang setzte: kostümierte Repräsentanten sämtlicher Nationalitäten des Habsburgerreiches, dargestellt von den männlichen und weiblichen Mitgliedern des Opernhauses. Diese Völkerschaften 97 HS, 5.8.1820. Vgl. Ther, Mitte, 360–394. 98 Vgl. Rumpler, Chance, 82 f.
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trugen ihre Fahnen und Wappen voran, und die »Vindobona« forderte als Reichseinigerin dazu auf, diesen Kreis der Völker zu schließen. Das Orchester schloss die nationale Zeremonie mit der Nationalhymne.99
Wachsende öffentliche Präsenz der Monarchen im ausgehenden 19. Jahrhundert Politik muss sich nicht nur als Medium, sondern auch gegen die Medien im öffentlichen Wahrnehmungsprozess behaupten. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bedurfte die politische Macht der Monarchen verstärkt der Zeitungsberichte. Die Herrscher wollten sich immer variantenreicher, immer reizvoller und immer öfter darstellen und mussten sich dabei in politische Signalpersonen verwandeln. Die Zeitungen und Zeitschriften erfüllten zwei wesentliche Funktionen, die der Stärkung des dynastischen Denkens und der Aktualisierung der Monarchen und der höfischen Gesellschaft dienten. Zum einen erzeugte die Aufmerksamkeit für den Monarchen eine Gemeinschaft, welche die politischen Lager jenseits aller Parteigrenzen überspannte. Zum anderen bot der Herrscher einen dauerhaften Referenzpunkt in potenziell allen gesellschaftlichen Fragen. Selbstbewusst stellten sich die Monarchen in Europa der intensiven Berichterstattung. Sie besuchten Schulen und Museen, erschienen als Baumeister und Musikkenner. Es waren die Galavorstellungen im Opernhaus, die den Herrschern wie den Beherrschten den Vorteil boten, sich als mächtige Akteure der Zeit, als Adelige und als Bürger, nicht als abstrakte Zuschreibungen, sondern als konkrete Handlungseinheiten an einem Ort wahrnehmen zu können. Das geschah an einem Ort, den nur Ausgewählte betraten, der potenziell aber jedermann durch Zeitungen, Plakate und Bilder offen stand. Kurzum: Der Hof orientierte sich an den Interessen in der Gesellschaft – und umgekehrt.100 Die Öffentlichkeit stellte durch die intensive mediale Kommunikation Führungsfiguren wie Königin Victoria, Kaiser Wilhelm II. und Kaiser Franz Joseph I. ins Zentrum ihrer vorstellbaren Gemeinschaften. Wilhelm II. warb intensiv für Musik aus Deutschland. Er entwarf in einer eigenen Zeichnung das Denkmal für Richard Wagner in Berlin (1903) und beauftragte ein Standbild für Haydn, Mozart und Beethoven (1904) im Tiergarten. Der Deutsche 99 FB, 26.5.1869 (M). Vgl. Kořalka, Aufstieg, 164–175; Mikoletzky, Wien, 409–443; Deutsch, Folklore, 87–91. 100 Vgl. Kohlrausch, Repräsentation, 97–107; Werner, Fürst und Hof, 1–52; Hettling/Nolte, Feste, 7–36.
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Kaiser achtete penibel darauf, Vorstellungen des Fliegenden Holländers nur in Admiralsuniform zu besuchen.101 Auch Königin Victoria wird in der Forschung mit guten Gründen als »First Media Monarch« vorgestellt.102 Zeitungsartikel, Hofberichte, Grafiken und Fotos erschufen eine gleichsam sinnliche wie persönliche Teilhabe der Untertanen an ihren Monarchen. Politisch spektakulär waren mithin weniger die Persönlichkeiten der Regierenden, sondern die erweiterte politische Präsenz, welche die Monarchie legitimierte. Öffentliche politische Kritik hatte vor dem Hintergrund personalisierter, familiärer und emotionaler Berichterstattung lange Zeit nur geringe Durchsetzungschancen. Umgekehrt galt, dass auch regierende Herrscher wie Kaiser Wilhelm II. und Königin Victoria erkennen mussten, dass ihre große öffentliche Funktion die eigenen kulturellen Deutungsmöglichkeiten und die politischen Handlungsspielräume einengte. Die Position der Staatsoberhäupter und die Erfolge ihrer öffentlichen Rituale ruhten auf der erkennbaren Zustimmung des Publikums – die Monarchen ersehnten den Beifall und fürchteten den Konflikt. Königin Victoria beispielsweise achtete bereits bei der Planung kommender Staatszeremonien im Opernhaus penibel auf die Vermeidung politischer Risiken. Im Jahre 1855 irritierte die Königin ein Programmpunkt anlässlich ihres bevorstehenden Gegenbesuchs bei Kaiser Napoleon III. in Paris. Der Gastgeber plante als Willkommensgeste eine neue Oper des Herzogs von Coburg, ihres Schwagers, zu geben. Daraufhin bat Victoria ihren Außenminister nachdrücklich darum, diese Aufführung zu verhindern. Ihrer Ansicht nach sollte sich die königliche Familie nicht mit der eventuellen Kritik des Publikums über eine unbekannte Oper auseinandersetzen. »L[ord] Clarendon will at once see that this w[oul]d be very awkward & embarrassing, – supposing that the public (whom no one can control) sh[oul]d not like the Composition.«103 Der britischen Öffentlichkeit war diese Zwangslage monarchischer Repräsentation ganz bewusst, und der »Examiner« nannte die formal notwendige Präsenz der Monarchin »the penalty of greatness«.104 Derartige selten überlieferte Einschätzungen der Monarchen belegen die Chancen und die Risiken des publizistischen Spektakels um die Herr101 Vgl. Müller, Wagner, bes. 48–65; die Beiträge in Wilderotter/Pohl (Hg.), Kaiser, bes. 9–18, 55–78, die subtile Polemik von Maximilian Harden, Kaiserpanorama, und die blasse Selbstbeschreibung des Kaisers, Wilhelm II., Ereignisse, 161–171. 102 Plunkett, Queen Victoria. First Media Monarch, bes. 13–67. Vgl. Newman, Victorian World; Wienfort, Monarchie. 103 Vgl. Paulmann, Pomp, 301–308 (Zit. 305). 104 EX, 12.7.1851, 438.
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Abb. 28: Der »Figaro in London« zeigte 1837 die junge Königin Victoria als Debütantin, die mit ihrem Hofstaat die politische Bühne betritt.
scher. Denn oftmals erinnerte ihr Galaauftritt an die Rolle der Filmstars im 20. Jahrhunderts – beides Produkte einer medialen Traumindustrie. Die öffentliche Selbstdarstellung stiftete weder in der Oper noch im Kino automatisch eine politische Einheit. Sie barg stets auch das Potenzial von Kritik. In London vermieden die Journalisten in bester britischer Tradition jedoch, die Ironie in Polemik abgleiten zu lassen – jedenfalls in den meisten Fällen. Gerade weil die musikbegeisterte Königin Victoria oft wöchentlich die Londoner Opernhäuser besuchte, lieferte sie Kritikern Anlass zum Spott. Das Satireblatt »Figaro in London« betitelte den Auftritt der Königin mit der Unterschrift: »The Royal Actress’s Debut«. Eine Karikatur zeigte Victoria auf der Bühne stehend als singende Schauspielerin, die ihr Kabinett dem wenig begeisterten Opernpublikum präsentiert. »Wenn es wahr sein sollte, dass die Welt eine Bühne ist, so glauben wir, dass Könige und Königinnen zu ihren Spitzenkünstlern gehören; Stars, die für viel Geld engagiert werden, die Hauptrollen dieser irdischen Hemisphäre zu spielen. Victoria ist ganz neu herausgekommen und zwar nicht nur als Hauptdarstellerin, sondern auch als Managerin in eigener Sache.«105
105 Figaro, 25.11.1837. Vgl. ebd., 2.12.1837; Tolley, Comic Readings, 159 f.; Plunkett, Queen Victoria, 110–143.
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Im Unterschied zu vielen anderen europäischen Staaten formte sich in Großbritannien die politische Ironie weit deutlicher aus. Hier bestanden weit mehr Möglichkeiten die Herrschaftsinszenierung der Monarchen kritisch zu bewerten, als im Deutschen Kaiserreich oder im Habsburgerreich. Ein Paradebeispiel dafür ist die Anrufung der verehrten Königin Victoria in Gilbert und Sullivans Savoy Opera der Pirates of Penzance. Dieses Stück persifliert die viktorianische Gesellschaft, welche diejenigen politischen Weltbilder kultiviert, durch die sie sich selbst als absurd erweist. Die Parodie bei den Pirates of Penzance besteht darin, dass eine Gruppe junger Adeliger »irrtümlich« das Piratenhandwerk erlernt und – obwohl meist nur bescheiden plündernd – dafür von der Polizei verfolgt wird. Als die Piraten im Finale vermeintlich die Ordnungshüter besiegen, spielt der unterlegene Polizeisergeant seinen entscheidenden monarchistischen Trumpf gegen den Anführer der Bande, den »Pirate-King« aus und verlangt, dass die Piraten ihre Beute im Namen Queen Victorias übergeben. Die Piraten – als loyale und die Königin liebende Untertanen – gehorchen. Die Polizei will die Piraten nun abführen, aber man einigt sich auf die Formel, die Piraten seien »all noblemen who have gone wrong«. CHORUS OF PIRATES AND POLICE SERG . On your allegiance we’ve a stronger claim
KING . (erstaunt) POLICE .
We charge you yield, we charge you yield, In Queen Victoria’s name! You do? We do! We charge you yield, In Queen Victoria’s name!
Daraufhin knien die Piraten nieder, die Polizisten stehen aufrecht und triumphieren. KING .
POLICE . GIRLS .
We yield at once, with humbled mien, Because, with all our faults, we love our Queen. Yes, yes, with all their faults, they love their Queen. Yes, yes, with all their faults, they love their Queen.
Auch alle Polizisten greifen zu ihren Taschentüchern und weinen ergriffen.106
106 Bradley (Hg.), Gilbert and Sullivan, 261. Vgl. Scott, National Identity, 137–152; Dahlhaus, Musik, 194–197; insges. Jacobs, Sullivan; Richards, Imperialism, 19–43; und zur Interpretation der viktorianischen Kultur, Houghton, Frame.
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Trotz aller hierbei zu erlebenden ironischen Loyalität: Königin Victoria stand in ihrer Funktion nicht alleine dar in Europa. Selbst die exaltierte Herrschaftsrepräsentation Kaiser Wilhelms II. bildete allenfalls qualitativ, nicht aber quantitativ eine Ausnahme im jungen europäischen Medienzeitalter. Gerade in seinem öffentlichen Auftritt war auch das deutsche Staatsoberhaupt erstaunlich »modern«. Ein verspäteter Abschied des Deutschen Kaiserreiches von der alteuropäischen Gesellschaft ist darin nicht zu beobachten. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Die monarchische Welt des 19. Jahrhunderts nutzte die veränderten öffentlichen Möglichkeiten, um sich auch theatralisch präsentieren zu können. Deutschland, England und Österreich waren demnach eher keine Operettenstaaten, wohl aber »opernhafte« Staaten.107 Zu beobachten ist eine kommunikative Ausweitung der Politik: Herrscher und Beherrschte interagierten in und vor den Opernhäusern in einem engen öffentlichen Wechselverhältnis, in einer Melange aus Tönen und Bildern, Ritualen und Zeremonien. Deren politischer Erfolg entstammte nicht nur der machtstaatlichen Kompetenz der Monarchen, sondern ebenso der sinnlichen Präsenz der vermittelten Botschaften. Doch auch wenn der geleistete politische Erfolg im Regelfall wieder politischen Erfolg zeitigte, verursachte diese Form der Herrschaftsstiftung auch eine Zwangssituation. Die Schönheit der politischen Inszenierung machte den Monarchen und sein Publikum zu Gefangenen ihres musikalischen Festes. Beide standen in einem Abhängigkeits- und Beobachtungsgeflecht, innerhalb dessen sie dann angreifbar wurden, wenn sie selbst unschön agierten, die erwarteten Regeln repräsentativer Kommunikation übertraten. Die Frage liegt mithin auf der Hand, warum, wie und wann die gezeigten Darstellungen gelingender Herrschaftsverhältnisse zu umkämpften politischen Akten gerieten. Denn die musikalischpolitischen Darstellungen vermochten die Herrschaftsverhältnisse ebenso zu erschüttern wie zu stabilisieren.108
107 Vgl. zur semantischen Reichweite und zum politischen Nutzen der Theatermetapher für die deutsche Geschichte den Aufsatz von Blackbourn, Politics as Theatre, 246–264; und insges. Kohlrausch, Monarch im Skandal, passim; Röhl, Wilhelm II., Bd. 2: Aufbau, bes. 985–1028; Werner, Fürst, 48–52; die Beiträge in ders. (Hg.), Hof. 108 Vgl. Arnold/Fuhrmeister/Schiller, Hüllen und Masken, 7–24; Münkler, Theatralisierung, 144–163; Bereson, State, 86–97.
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2. Musik als Waffe: Politische Demonstrationen im Vormärz und in der 1848er-Revolution Der revolutionäre Anarchist Mikhail Bakunin optierte vehement dafür, wenigstens eine der von der verblendeten Aristokratie und der Bourgeoisie genossenen Kompositionen zu bewahren: Beethovens IX . Sinfonie. Bakunin schien ein politischer Umsturz notwendig; sein Besuch einer Aufführung 1849 in Dresden unter Richard Wagners Leitung brachte ihn jedoch auf die Idee, diese Sinfonie »zu retten« – wenigstens als ein ästhetisches Fanal der Revolution. Richard Wagner hielt in seinen Erinnerungen diesen merkwürdigen Vorfall fest: »Der Generalprobe hatte heimlich, und vor der Polizei verborgen, Michael Bakunin beigewohnt; er trat ohne Scheu nach der Beendigung derselben zu mir an das Orchester, um mir laut zuzurufen, dass, wenn alle Musik bei dem erwarteten grossen Weltenbrande verloren gehen sollte, wir für die Erhaltung dieser Symphonie mit Gefahr unseres Lebens einzustehen uns verbinden wollten.«109 Diese Geschichte illustriert die Ambitionen eines einzelnen berühmten Anarchisten in der politischen Krise der Jahre 1848/49, nicht aber die Protestbereitschaft des breiten Publikums. Erst spät entschlossen sich die Musikfreunde in Europa zur Beteiligung an einer Revolution. In den verschiedenen politischen Regierungsformen der Staaten und Städte lassen sich im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts vergleichbare Konflikte und Lösungsstrategien von unterschiedlicher Dauer und mit unterschiedlichem Ausgang beobachten. Die Bandbreite der politischen Herausforderungen ist kaum zu erfassen, denn die Menschen stritten über parlamentarische, soziale und urbane Grundsatzfragen: sei es um die politische Restauration, die Ansprüche nationaler Bewegungen oder die Wahlrechtsreform, seien es die Belastungen der Industriearbeit oder die Beschleunigung des Transportwesens. Und so unterschiedlich die Möglichkeiten und die Grenzen der politischen Modernisierung innerhalb Europas auch ausfielen – beinahe jede der Hauptstädte und Regierungssitze hatte sich ihnen in den 1830er- und 1840er-Jahren zu stellen. Die Sinnlichkeit musikalischer Aufführungen legitimierte Herrschaft – oder auch den Widerstand gegen sie. Im permanenten Reibungs- und Aushandlungsprozess, im Vormärz und im Kontext der 1848er-Revolution, wurden musikalische Spielstätten zu Kampfplätzen. Musikalische Aufführungen waren nicht nur Spielbälle im prekären Kräftefeld, sondern sie ge109 Wagner, Mein Leben, zit. Bd. 1, 455.
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stalteten gerade in der Umbruchsperiode nach 1830 dessen Formierung und Umstrukturierung maßgeblich mit. In vielen Fällen wurden in den prächtigen Auditorien die politischen Verhältnisse durch verschiedene Parteien, durch nationale wie soziale Gruppen in Frage gestellt. Der Einsatz bzw. die Einschränkung von bestimmten Stücken benannte und bevorzugte gewünschte Deutungen – etwa von demokratischer Überlegenheit, der Reichweite einer monarchischen Kultur oder der Nationalisierung bestimmter Komponisten. Dabei konnten Annäherungen ebenso wie Abgrenzungen zu Stande kommen, politische Konflikte überspielt oder zugespitzt werden. Das Musikleben schuf Räume, um die asymmetrische Beziehung zwischen Herrschern und Beherrschten zu verhandeln. Die durch die regierenden Eliten gespielte Musik nutzte etablierte kulturelle Codes um in Abgrenzung zur demokratischen Bewegung die aristokratische Ordnung zu legitimieren. Dies konnte etwa dadurch erfolgen, einer Musik unfreiwillig ausgesetzt zu sein, den Kontext bekannter Musik radikal zu verändern oder aber unerwünschten Demokraten den Zugang zu gewohnter und geliebter Musik zu verweigern. Wurde Musik in diesem Sinne ein konservatives Instrument der Politik, so vermochte ihr Einsatz erlernte Assoziationen zu bekräftigen, Vertrautes zu stärken und die Handlungen revolutionärer Gruppen lächerlich zu machen. Die Anwendung tatsächlicher Gewalt gegen Personen und Sachen in den musikalischen Spielstätten selbst blieben dabei meist die Ausnahme. Die Konzert- und Opernbesucher zogen es in der Regel vor das persönliche Risiko für Leib und Garderobe dadurch zu minimieren, dass sie eine gewisse Distanz gegen unerwünschte Gruppen oder ihnen fremd erscheinende kulturelle Praktiken demonstrierten. Hier geht es darum zu zeigen, wie Konzert- und Opernaufführungen eine politisch konfliktreiche Arena wurden, und wie die jeweiligen Machthaber auf diese mehr oder minder gefährlichen Herausforderung reagierten. Es ist danach zu fragen, wie gefährlich die politischen Demonstrationen im Musikbetrieb für den Fortbestand der geltenden Ordnung in Berlin, London und Wien tatsächlich waren. Es ist wenig erklärungsbedürftig, dass schwere politische Konflikte und Revolutionen im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts auch das Musikleben erfassten, wohl aber das in den darauf folgenden Dekaden bürgerliche und adelige Eliten in den Opern- und Konzerthäusern auf offene politische Machtkämpfe meist verzichteten. Der erste Abschnitt beleuchtet politische Spannungen im Londoner, Berliner und Wiener Konzertbetrieb in den 1830er-Jahren und 1840er-Jahren. Auf den ersten Blick schien es nur um alltägliche soziale und ästhetische Differenzen im Publikum zu gehen und von einer revolutionären Situation war 336 | Politischer Konsens und Dissens © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
man noch weit entfernt. Doch Teile des liberalen Bürgertums begründeten ihre politischen Partizipationsansprüche auch durch ihren musikalischen Geschmack. Ihnen war es wichtig, sich gegenüber dem für inkompetent erklärten Adel als überlegen zu erweisen, einen ausgewählten musikalischen Kanon und ein verfeinertes Hörverhalten als Früchte eines kompetenten Bildungswissens herauszustellen. Den Aristokraten erklärten bürgerlich Gebildete hingegen, dass diese weder den neuen Musikstil verstünden noch sich habituell diszipliniert im Konzertsaal benähmen. Verdeutlicht wird dabei wie politisch vermeintlich harmlose Hör- und Verhaltenskodizes im Musikleben zu Bestandteilen gesellschaftlicher Reformdebatten werden konnten. Zu zeigen ist wo und wie der musikalische Geschmack sich als politische Waffe zur Legitimation von Herrschaftsansprüchen eignete. Der zweite Abschnitt vergleicht das Musikleben der 1848er-Revolution in Wien, in Berlin und in London. Zudem richtet sich der Blick auf Unruhen in Brüssel und Mailand, auf den gewaltlosen Kampf des belgischen bzw. italienischen Publikums gegen ihre jeweiligen Besatzer. Es geht um die Frage, ob und warum die bürgerlichen Eliten musikalische Aufführungen überhaupt zu politischen Demonstrationen nutzten, oder ob diese Veranstaltungen weiterhin ihre stabilisierende politische Rolle zur Sicherung der Monarchie erfüllten. Und wenn ja, worin lagen die Unterschiede in den politischen Herrschaftsstrategien der bürgerlichen und adeligen Eliten im Musikleben? Die Bedingungen, die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede im Verlauf der Unruhen in den drei Hauptstädten sollen das verdeutlichen. Die gescheiterten politischen Revolutionen in Wien und in Berlin sowie die fehlende politische Revolution in London werden in Beziehung gesetzt zu den Demonstrationen der Publika in den Opern- und Konzerthäusern.
Konzerte verwandeln sich in Kampfplätze Die Konflikte zwischen divergierenden Lebensstilen und Wertesystemen bildeten eine der zentralen politischen Bruchlinien der europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Ihre politische Brisanz erhielt die bürgerliche Kritik am Adel im Musikleben dadurch, dass sie Elemente innerhalb eines weitreichenden diskursiven Kontextes waren. So wichtig die Forderungen nach einem kontrollierten Hörverhalten in den Fachzeitschriften, Tageszeitungen und Karikaturen auch waren, von ungleich höherer Bedeutung zeigten sich zumal in den 1830er- und 1840er-Jahren die Reformdebatten über die Pressefreiheit, das Wahlrecht oder die Verfassung. Was aber die Musikkritik gleichwohl leistete, war beachtlich, denn erst die Bewertung einer vermeintMusik als Waffe | 337 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
lichen Unterhaltungsform ermöglichte es, selbst kleine habituelle Abweichungen zu beurteilen – pointiert und polemisch. Die Musikkritik reihte sich glänzend in die kritischen Vorstöße der liberalen Presse ein und war genau deshalb so erfolgreich und verbreitet, weil sie politisch harmlos schien. Am deutlichsten ist das in Großbritannien zu erkennen. Wirkungsmächtig wurden die habituellen Streitigkeiten im Londoner Musikleben gerade deshalb, weil sie sich an den Parteilinien der Tories und Whigs orientierten. Seit den 1830er- und 1840er-Jahren werteten wachsende Teile des Bürgertums das Konzert auf. Sie verwiesen auf den Rang des Konzerthauses und des sinfonischen Repertoires und grenzten sich vom Opernbetrieb ab. Bereits die exklusive soziale Zusammensetzung des Opernpublikums veranschaulichte hier die lang anhaltende aristokratische Vorherrschaft. Auch in der Mitte des 19. Jahrhunderts blieb die Zahl der Adeligen in den Logen und auf den teuren Plätzen ungebrochen hoch. Im Jahre 1847 beispielsweise besuchten 35 % aller englischen Peers das Londoner Her Majesty’s Theatre und das Royal Italian Opera House Covent Garden.110 Das liberale Bürgertum verlachte den aristokratischen Lebensstil, die Kleidung, die Pferde – und die musikalischen Neigungen des Adels. Denn warum ging Graf von Sayn-Wittgenstein Hohenstein immer in die Oper, aber nie ins Konzert, und wieso liebte die Countess of Wessex gerade die Sopranistin Maria Malibran? Manche Gebildeten ärgerten sich darüber, dass Adelige aus Frivolität Opernszenen in Konzertprogramme aufnahmen oder durch ihre Ignoranz professionelle Musiker und deren Kunst beschädigten, weil sie diese nicht ernst nähmen. Spielerisch und eitel genossene Musik drohte wie jedes modische Accessoire ihr gesellschaftliches Prestige einzubüßen, weil ihre Konsumenten sich durch die Presse leicht beobachten und persiflieren ließen. Der englische Karikaturist George Cruikshank beispielsweise persiflierte 1817 eine adelige Dame als peinlich und geschmacklos, die, gekleidet mit weißen Handschuhen und mit Juwelen überhängt, aus ihrer Opernloge heraus nach einem attraktiven Mann Ausschau hielt.111 Nur unter schweren, vielleicht sogar gefährlichen Bedingungen war diese kulturelle Adelskritik außerhalb Englands öffentlich sagbar. Über die schwerwiegenden politischen Unterschiede wird noch zu reden sein. Dennoch: Nicht in ihren politischen Möglichkeiten, aber in ihren kulturellen Wahrnehmungen ähnelten sich die bürgerlichen Eliten in den drei Staaten. 110 Vgl. die Berechnungen von Hall-Witt, Representing, 137, Anm. 70; dies., Reforming, 225–232. 111 London, British Museum, Satire 12950. Vgl. zu Cruikshanks spottender Bilderserie gegen die so unreife wie frivole junge Londoner Aristokratie, Hall-Witt, Fashionable, 133 f.; sowie dies., Reforming, 220–225; Fehrenbach, Einführung, Xf.; Press, Adel, 1–19.
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Abb. 29: Das bürgerliche Londoner Publikum spottete oft gnadenlos über das übertriebene Verhalten und das exaltierte Erscheinen vieler Adeliger, wie hier in einer Karikatur von George Cruikshank (1817)
Eine kulturelle Medialisierung ist seit dem frühen 19. Jahrhundert in Berlin, in London und in Wien zu beobachten. Die bürgerliche Leserschaft nutzte Bücher, Broschüren, Gedichte und Karikaturen, um die kulturellen Gewohnheiten des Hofadels und des Landadels zu sezieren. Diese Kette bürgerlicher Stereotypen spannte einen weiten Bogen und umfasste Scherze über gestelzte Tänze, gierige Essgewohnheiten im Opernhaus oder das Interesse der Adeligen an französischen und italienischen Sängerinnen und Sängern. Die kulturellen Werte des Bürgertums formierten sich auch durch die Witzeleien über den vorgeblich peinlichen, verweichlichten und letztlich falschen Musikkonsum der Aristokratie. Und viele Adelige unterschätzten die Musik als Waffe | 339 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
mediale Beschleunigung kultureller Deutungsmöglichkeiten, welche sich allenfalls auf den ersten Blick als politisch harmlose Spielereien zu erkennen gaben.112
Gnadenloser Spott über vergnügungssüchtige Adelige in London Erst andeutend und dann immer offener kontrastierten Londoner Tageszeitungen und Unterhaltungsblätter in den 1830er- und 1840er-Jahren adäquates Hörverhalten im Sinfoniekonzert (mithin das eigene bürgerlich konzentrierte und schweigende) mit dem geschwätzigen und genusssüchtigen Benehmen der Adeligen im Opernhaus. Die bürgerlichen Eliten suchten durch eine Aufwertung des musikalischen Geschmacks die von ihrem Ideal abweichenden Wertekanons gezielt in Frage zu stellen. Kritische Journalisten klagten darüber, dass die Londoner Adeligen stets französische und deutsche Opern, aber keine Werke englischer Meister hörten. »Scarcely one of these noble animals is to be found offering encouragement to that which has so many claims on their patronage.«113 Diese Zeilen stammen aus einer linksliberalen Spottzeitschrift, die unter dem werbewirksamen Titel »Figaro in London« erschien. So schwer es auch ist, die öffentliche Anerkennung dieses Angriffes zu bewerten, so erstaunt doch bereits die Gleichsetzung von mangelndem Benehmen mit tierischem Benehmen. Unzivilisierte adelige Musikfreunde subsumierte dieses Blatt nicht nur unter dem Schlagwort »the idiot aristocracy«, sondern auch unter der naturverbundenen Kategorie »the aristocratic animals«.114 Hier sind sprachliche Diffamierungen und aggressive Wortspiele zu entdecken, die sich wohl in keiner anderen Hauptstadt in Europa hätten veröffentlichen lassen. Gelobt wurden dagegen diejenigen Adeligen, welche sich nicht lachend und störend benähmen und sich während der schönsten Stellen der Oper nicht unterhielten. Kulturell betrachtet sei der Landadel (gentry) besser als der Hochadel (nobility), am besten aber wäre es, wenn die Aristokratie gleich daheim bliebe und den Musikbetrieb dem geschmacklich souveränen Bürgertum (middle class) überließe. »Welch seltsamer Moment der Harmonie – alle lauschten aufmerksam. Unruhen gab es nicht, da viele Adelige ferngeblieben waren. Das Publikum bestand aus dem Bürgertum, aber 112 Vgl. Gramit, Cultivating, 129–151; Hall-Witt, Fashionable, 131–145; Applegate, Internationalism, 139–159. 113 Figaro, 23.6.1832, 116. 114 Figaro, 16.6.1832, 110; Figaro, 9.3.1833, 38–40. Vgl. Figaro, 24.4.1833, 64.
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auch aus dem Landadel. Das macht einen großen Unterschied im Vergleich mit dem Hochadel aus.«115 Die Regeln der neuen Musikkultur stärkten den politischen Zusammenhalt bildungsbürgerlicher Protestgruppen. Durch das Wissen über den gewünschten musikalischen Kanon und die habituellen Regeln des Musikkonsums wählten die Gebildeten aus, wer politisch zu ihnen gehörte – und wer nicht. »Geschmacklose« Musikkonsumenten ließen sich dadurch aus der Gemeinschaft ausschließen.116 Vergleicht man den praktizierten Musikgeschmack zwischen London auf der einen und Berlin und Wien auf der anderen Seite, dann liegen die Unterschiede auf der Hand. Bereits die Art und Weise der Berichterstattung in der Presse belegt, dass die bürgerlich-liberale Gesellschaft in Großbritannien auch im Bereich der Musikkultur über einen beachtlichen Handlungsspielraum verfügte. Vor dem Revolutionsjahr 1848 wurden in Berlin nur im Ausnahmefall die musikalischen Präferenzen und körperlichen Bewegungsmuster der Aristokratie in Frage gestellt. Musikalische Kritik hatte es im Gegensatz zur politischen Kritik zwar leichter, die Zensur zu passieren, doch im Vergleich zu London erachteten offenbar viele Bürger die adeligen Auftritte als weniger störend.117
Parteigrenzen verstärken Geschmacksgrenzen Die bürgerlichen Vorbehalte gegen den »falschen« Geschmack und das »falsche« Benehmen des Adels im Musikleben verharrten nicht allein in sprachlicher oder bildhafter Polemik. Verdeutlichen lässt sich das in der Aufwertung sinfonischer Musik im konfliktreichen Musikleben in London. Ein Bildungsbürgertum im deutschsprachigen Sinne gab es hier zwar nicht, wohl aber lassen sich verbindende kulturelle Interessen der »middle class« in der liberalen Öffentlichkeit erkennen.118 Eine ideale Zielscheibe für bürgerliche 115 Figaro, 10.8.1833, 128 (Herv. im Orig). Vgl. Figaro, 27.6.1835, 109 f. Eine Karikatur im »Punch« witzelte darüber, dass der Rang eines Adeligen – auch gemessen an seiner Körperform – allein aus seinem Erbe, nicht aber aus seinem Erwerb stamme. Punch, 65 (1873), 4: »Phrenological View of Social Rank«. 116 Vgl. Kramer, Music; Kaschuba, Bürgerlichkeit, 92–127; Lepsius, Bildungsbürgertum, 9–18. 117 Signale, 2 (1844), 75 f.; Signale, 5 (1847), 43 f. 118 Deutlich wird das u. a. in den Ausführungen des Harmonicon, Juli 1829, 190 f., über den sich verbessernden Geschmack der »enlighted people« im Musikleben. Beschworen wird ein »system of education, of religious belief, of manners, sentiments, and habits. … It is also necessary to elaborate these in moments of calm thought, in order to give them correctness and consistency«.
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Kritik und maßlosen Spott boten die exklusiv aristokratischen »Ancient Concerts«.119 Von der beachtlich asymmetrischen Organisationstruktur dieser Konzertreihe war bereits die Rede. Sie nahm fast ausschließlich hohe Adelige und führende Kleriker Großbritanniens auf. Der unzeitgemäßen sozialen Zusammensetzung dieser Gesellschaft entsprach das Repertoire. Man gab bis in die 1830er-Jahre hinein nur Werke von in der Regel bereits verstorbenen Komponisten, das heißt, Chormusik aus dem Barock und der Renaissance, eine Auswahl von Konzertstücken und Soloarien.120 Die Vorwürfe der liberalen Presse oder der Parteigänger der Whigs waren letztlich die gleichen, nur pointierter formuliert: Der musikalische Geschmack diente als wirksame Waffe im kulturellen Machtkampf. Musikliebende Adelige ließen es schlicht am »richtigen« Geschmack (»taste«) fehlen. Bereits die Programmauswahl beweise, dass die adelige Elite keinen Geschmack habe. Der vormoderne Geschmack des Adels schade der Kunstmusik, was gerade ein Vergleich mit den bürgerlichen Konzertserien der »Philharmonic Society« offenbare. »Es kann schwerlich einen größeren Unterschied zwischen den ernsten, aristokratischen, (nach dem heutigen Tage wagen wir zu sagen: langweiligen) Veranstaltungen und dem Konzert am Montagabend geben. … Wir lieben die Klassik in jeder Kunstform, aber wir lehnen jeden obsoleten antiquarischen Geist zutiefst ab.«121 Geschickt kontrastierten liberal ausgerichtete Zeitungen und die musikalischen Fachzeitschriften die betonte eigene bürgerliche Wertschätzung der Musik mit dem behaupteten adeligen Desinteresse. Musik sei für die Aristokratie kein Wert an sich, sondern nur modisches Beiwerk. »Das Schicksal der Ancient Concerts wird allein durch die Laune der Mode bestimmt. … Dennoch erfüllen diese Konzerte ihren Zweck; sie sind die letzte Verbindung, die einen Teil des Adels mit der Musik in England verknüpft. Ihre Fehler lassen sich auf ihren Status zurückführen und ihr Versagen ist die notwendige Konsequenz ihrer Selbstverwaltung.«122 Mehr noch: Die Konzertprogramme der Adeligen seien ebenso reformunfähig wie diese selbst und vom fortschrittlichen Zeitgeist abgeschnitten. Vor dem Hintergrund der Reformdebatten im Parlament konnten auch Forderungen nach musikalischen Reformen politischen Interessen dienen. »Die Direktoren der Ancient Concerts haben sich als sehr resolut gegenüber Verbesserungsversuchen erwiesen: sie glaubten ihre Arbeit durch Einfluss und Macht weiterführen zu können; ihr 119 120 121 122
Vgl. Weber, Rise, 198–222; ders., Music, 71–74. Harmonicon, April 1826, 82. AT, 12.3.1838, 196. Vgl. AT, 20.4.1836. SP, 8.5.1841, 445.
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eigener aristokratischen Stolz sorgt dafür, dass sie Reformen nicht einmal wahrnehmen können.«123 Die Schärfe dieser kulturellen Polemik ist dadurch zu erklären, dass sich die Befürworter wie die Gegner des neuen musikalischen Geschmacks an den bestehenden politischen Parteigrenzen orientierten. In den 1830er- und 1840er-Jahren stritten in Großbritannien die Tories der Conservative Party mit den liberalen Whigs. Im britischen Zweiparteiensystem verteidigten die Tories den Rang des Hochadels und des Königs, die Whigs traten im Interesse der »upper middle class« für politische und juristische Reformen ein (Wahlrechtsreform 1832, Katholikenemanzipation 1829). Die Bedeutung und die Schärfe dieses Kampfes um die politische Neubestimmung Großbritanniens sind bereits durch die häufigen Regierungswechsel zu erkennen. Zwischen 1827 und 1846 leiteten 11 verschiedene Regierungen das Land (8 Tory-, 4 Whig-Premierminister).124 Um den Widerstand der Aristokratie gegen die kulturellen und politischen Weltbilder des Bürgertums zu begreifen, ist ein Blick auf die Presse der Tories aussagekräftiger, als es Briefwechsel oder Tagebuchnotizen einzelner Adeliger wären. Zunächst ließe sich argumentieren, dass die bürgerlichliberale Kritik an den »Ancient Concerts« letztlich auf rein ästhetischen Kriterien beruhte, die allein von der Kunst handelten. Schließlich konservierte die adelige Musikkultur im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts zwar ein altmodisches, aber ursprünglich mehrheitsfähiges Repertoire. Doch ein solcher Befund ginge ins Leere. Tatsächlich gab es über dieselben Konzerte – je nach weltanschaulichem Standpunkt – vernichtende Kritiken (»Spectator«, »Athenaeum«, »Harmonicon«), aber auch begeisterte adelige Hofberichterstattung (»Morning Post«, »Times«). Die Tory-treue »Morning Post« führte die Verteidigungslinie aristokratischer Musikkultur in London an. Immer wieder rühmte sie die Veranstaltungen als nationale Errungenschaften und druckte spaltenweise – vom Herzog absteigend – die Liste der aristokratischen Besucher: »Wie wir bereits gesagt haben tragen diese Konzerte zum Ansehen des Landes bei und deshalb gebührt ihnen die Unterstützung der Nobility und der Gentry. Einige der besten Stücke, die je kom-
123 SP, 2.2.1833, 106. In den erhaltenen Briefen und Tagebüchern Londoner Adeliger ist ihre anhaltende Freude an den eigenen tradierten musikalischen Ansichten und Vorlieben festgehalten und damit die Wirkungsgrenze bürgerlicher Erziehungsmaßnahmen bezeugt. Vgl. dazu Budde, Stellvertreterkriege, 106–108; Arnstein, Survival, 203–257. 124 Vgl. Wahrman, Imagining, 298–376; Cunningham, Challenge, 28–54; und die Übersicht von Woodward, Age, 50–153.
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poniert worden sind, wären für uns in Gänze verloren gegangen, hätte es diese Aufführungen nicht gegeben.«125 Konzertserien funktionierten als Organisationsstrukturen der gesellschaftlichen Vergangenheit und der Zukunft. Das illustrierten der fast gleichzeitige Abstieg der »Ancient Concerts« und der Erfolg der durch wohlhabende Bürger betriebenen »Philharmonic Society«. Im Jahre 1848 scheiterten in London die »Ancient Concerts«. Bereits in der Saison 1833 war die Zahl der subskribierten Aristokraten von den einst üblichen 600 auf lediglich 323 gesunken. Im Jahre 1848 blieben davon noch 158 übrig und die Direktoren stellten diese Konzertserie ein. Diese Besucherzahlen genügten weder finanziell noch symbolisch zur Fortführung des Spielbetriebs. Das konservative Repertoire, die ausgrenzende Zusammensetzung des Publikums und die undisziplinierten Verhaltensstandards sorgten dafür, dass nicht nur die bürgerliche Gesellschaft, sondern auch die Spitzen der Aristokratie hierin keine Befriedigung der Bedürfnisse ihres Lebensstils mehr erkannten.126
Handlungsspielräume bürgerlicher Musikfreunde in Berlin und in Wien 1848 Zu einem Angriff auf den Habitus der Aristokratie formierte sich das bürgerliche Publikum weder in Wien noch in Berlin – Ausnahmefälle nicht eingerechnet.127 Die 1848er-Revolution bildete auch in Wien und in Berlin diesen Ausnahmefall. Vielleicht erreichten die demonstrierenden Musikfreunde nur in diesem Jahr auf dem Kontinent das, was die britischen und französischen Konzertbesucher seit den 1830er-Jahren verwirklicht hatten. Die musikalische Hochkultur reihte sich erfolgreich in die politischen Demonstrationen ein. Denn die demokratische Gesellschaft sollte das exklusive und elitäre Musikleben der Vergangenheit für ein breiteres Publikum öffnen. Teile des liberalen Bildungsbürgertums unternahmen einen kulturellen Angriff auf das Repertoire und das Hörverhalten des Adels. Die Rezensenten wichtiger 125 MP, 7.6.1833. Vgl. die erhaltenen Besucherlisten und Presseberichte in der British Library, London, BL, 1607–1212: Alphabetic List of the Subscribers to the Antient Music for the Present Season 1810, by W. Lee, London 1810; BL, 11778.aa26; The Performances of Antient Music, for the Season 1820, by G. Wilding, London 1820; John Parry, Notices of the Concerts of Ancient Music. 1834 to 1848, 2 Bde. 126 Vgl. zu den Zahlenangaben Bashford/Cowgill/Mc Veigh, Concert Life, 1–12; Weber, Music, 72–74; McVeigh, Musician, 71–92. 127 Das ist das Argument von DeNora, Beethoven, 11–39, und passim. Vgl. zur Rezeption seiner dritten Sinfonie, der »Eroica«, Geck/Schleuning, Bonaparte; und die chronologisch geordneten Konzertberichte in Kunze (Hg.), Beethoven.
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Zeitungen und Zeitschriften ordneten das Musikleben in Zugehörige (Bürger) und Fremde (Adelige) und verknüpften damit implizit Herrschaftsansprüche. Wer sich im Konzert nicht benehmen konnte, wer seine Geschmacklosigkeit öffentlich zur Schau stellte, schien auch für die Ausübung der staatlichen Herrschaftsgewalt denkbar ungeeignet zu sein.128 Gegen dieses instrumentalisierte Diktat des Geschmacks konnte sich die Aristokratie lange erfolgreich wehren, nur kaum in der revolutionären Öffentlichkeit des Jahres 1848. Zu diesem Zeitpunkt riskierten manche Bürger etwa im deutschsprachigen Raum so nie zuvor Dagewesenes: Sie bewerteten musikalische Aufführungen politisch. Einen »Zusammenhang zwischen Musik und Politik« erkannte die »Allgemeine Musikalische Zeitung« darin, dass die gegenwärtigen humanistischen Ideale die vergangenen Manierismen der Aristokratie ersetzten. Die Musik werde das Volk erziehen und das Publikum bilden – in seinem Geschmack und in seiner Politik. Jetzt hofften viele in Deutschland, dass »die Adelsaristokratie … gefallen ist, … dadurch aber auch auf das wahre Bedürfnis und die Veredelung des Volkes durch die Kunst Rücksicht genommen werden wird. … [Es] herrscht bei Hofe ein schlechter Geschmack. … Der Adel wagt nicht, einen anderen Gout zu haben, als die allerhöchsten Herrschaften, und das Publikum richtet sich nach dem Adel, hält italienische Musik für unübertrefflich, man mag dagegen predigen, man mag ihn vordemonstrieren, dass sein eigentlicher Geschmack das gar nicht sein könne, so viel man will. … Das Publikum ist ein Kind, welches erzogen werden kann und muss«. Die Kunst solle solchen Männern anvertraut werden, »welche fühlen, wie das deutsche Volk seiner inneren Natur nach fühlen muss, welche wissen, was dem Volke zur Bildung und Veredelung dient. Solche Männer werden unter unseren Aristokraten aber schwer zu finden sein, denn diese sind nicht deutsch, sondern adelig, aristokratisch, sie bilden eine Kaste für sich und weiter nichts. Sie müssen und sie werden deshalb über kurz oder lang von dem Ruder entfernt werden«.129 Die »Neue Zeitschrift für Musik« hielt fest: »Die künftige Gestaltung der Kunst wird sicher einen politischen Charakter annehmen. Denn die Kunst, die das innerste Leben äußerlich darstellt, nimmt schon durch die öffentliche Darstellung der persönlichen Ideen und Gefühle die gemeinsame Sym-
128 Vgl. Kaschuba, Deutsche Bürgerlichkeit, 92–127; ders., Kunst, 9–20; Kocka/Frey, Ein leitung, 7–17. 129 AMZ 50 (1848), 538–542, geschrieben im August 1848 unter dem Titel: »Ueber den Zusammenhang zwischen Musik und Politik«. Vgl. zur Reichweite dieses Blattes SchmittThomas, Entwicklung.
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pathie in Anspruch, und wird dadurch politisch.«130 Eine ähnlich pointierte Begründung stellte die »Neue Berliner Musikzeitung« im Dezember 1848 auf. Heutzutage sei Musik keine weltentrückte Mode mehr, sondern zur unmittelbaren politischen Angelegenheit aller Menschen geworden. Die Musik stamme aus dem Volk und stehe für das Volk: »Wir haben die Politik nur so weit in den Kreis unserer Besprechung gezogen, als sie die Kunst unmittelbar berührte. … Es ist indess heut zu Tage nicht mehr möglich – und wir erkennen darin einen Fortschritt – ein musikalisches Stillleben zu führen. Die Musik ist sociale Kunst, sie gehört mehr denn irgendeine andere allen Ständen, dem ganzen Volke an.«131 Im Zentrum stand die Forderung, die musikalische Adelskultur der bürgerlichen Bevölkerung zu öffnen – sie zu demokratisieren. Für einige Monate im Jahre 1848 glaubten sich Berliner und Wiener Musikkenner dem Ziel einer musikalischen Demokratisierung nahe. Denn weder die Aristokratie noch ihre konservativen bürgerlichen Helfer genügten noch den kulturellen – und das hieß in diesem Deutungskampf gleichzeitig auch demokratischen – Ansprüchen der Gegenwart. Dagegen erhebe der korrekte Umgang mit und die richtige Aufführung von Musik die Menschen. Selbstredend waren alle Musikliebhaber gleich, doch die gebildeten Musikliebhaber waren etwas gleicher als andere. Gebildete Anhänger der politischen Reformen setzten sich in ihren Schriften für die soziale Öffnung musikalischer Aufführungen ein.
Revolutionsopern in Europa und die Inszenierungen von demokratischer Freiheit An Revolutionsopern herrschte am Anfang des 19. Jahrhunderts augenscheinlich kein Mangel. Im Gedächtnis der Nachwelt verblieben dagegen eher Werke von künstlerischem Rang, deren Sujet den politischen Freiheitswillen, den Aufstand der Unterdrückten und die nationale Selbstbestimmung verkörperte: Cherubinis Les deux journées (1800), Beethovens Fidelio (1805/1814), Rossinis Guglielmo Tell (1829), Wagners Rienzi (1842) und allen voran Verdis Nabucco (1842). In öffentlichkeitswirksamen Einzelfällen, wie etwa bei der IX . Sinfonie Beethovens, erfuhren auch Konzertwerke eine liberale und bildungspolitische Aufwertung. Viele Musikwissenschaftler deuten diese Stücke als ästhetisch revolutionär, das Publikum betrachtete sie als
130 NZfM, 28 (1848), 45–47 (Zit. 47). 131 NBMZ, 2 (1848), 376.
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politisch revolutionär. Auf der Ebene der gesellschaftlichen Rezeption ließen sich derartige Bühnenwerke als Revolutionsmetaphern erleben. Das Publikum entschloss sich, weniger die Sinfonien, als vielmehr die Rettungs-, Befreiungs-, und Historienopern der Zeit zu politisieren.132 In den Zeiten der sich in den 1830er- und 1840er-Jahren abzeichnenden Revolutionen in Europa, nutzte man in Paris, in Wien oder in Mailand Opernaufführungen als politische Waffe. Neue Bühnenwerke entstanden, bestehende wurden den Anlässen entsprechend ergänzt, versehen mit patriotischen Hymnen und pathetischen Prologen. Musikalische Aufführungen ermöglichten eine besonders intensive Form der politischen Kommunikation. Politische Schriften ließen sich nur von Gebildeten lesen, Drucke oder gar markante Bilder nur von Begüterten konsumieren. Revolutionäre »Opern für alle« aber interessierten auch ein breiteres Publikum, zumal die gewöhnlich hohen Eintrittspreise oft wegfielen. In musikalischen Aufführungen des 19. Jahrhunderts sind nicht nur politisch stabilisierende Repräsentationsformen der herrschenden Eliten, sondern auch politisch destabilisierende Vorstellungen durch aufständische Musikliebhaber zu beobachten.133 Das berüchtigtste Beispiel einer Revolution im Musikleben ist sicher die Erhebung der Brüsseler Bürger gegen die niederländische Herrschaft am 25. August 1830. Am 59. Geburtstag König Wilhelms I., dem Monarchen eines vereinigten niederländisch-belgischen Staates, gab es eine Galavorstellung mit Daniel François Esprit Aubers La Muette de Portici in Brüssel – die Belgier feierten mit. Die nationale Befreiungslegende besagte lange Zeit, dass die Geschichte der gezeigten Handlung (die Rebellion gegen die Steuerlast im spanisch besetzten Neapel des 17. Jahrhundert) und das aufreizende Duett im zweiten Akt »Amour sacré de la patrie« das revolutionär gestimmte Publikum zum Aufstand gegen die niederländische Herrschaft reizte. Sicher, die Brüsseler besetzten das Stadtschloss und Belgien erklärte sich zum souveränen Staat. Allerdings ist diese politische Umwälzung nicht als spontane emotionale Reaktion auf diese Oper zu deuten. Bereits die Struktur der Komposition und das Libretto gaben wenig Anlass zur politischen Handlung. Tatsächlich muss der Ausbruch der Revolution als geplante Aktion bürgerlicher Revolutionäre verstanden werden, denn das Opernhaus war ein zentraler öf-
132 Eine Übersicht geben Döhring/Döhring-Henze, Oper, 11–179; Bermbach, Macht; Knepler, Musikgeschichte, Bd. 2, 705–747. 133 Vgl. Zalfen, Opern, 108–125, und zum politisch anarchischen Moment des Geniekultes um Beethoven Eichhorn, Neunte Symphonie, 298–312; Geck/Schleuning, Bonaparte, 193–253; Bauer, Beethoven, 164–221.
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fentlicher Ort in der Stadt. Der politische Mythos überstrahlte bei weitem die politische Handlung der Oper.134 Ebenso wunderbar schrieb sich der Mythos einer revolutionären Erhebung in den italienischen Opernhäusern gegen die österreichische Herrschaft ins kollektive Gedächtnis. In Idealfällen ist sogar eine cineastische Verklärung zu beobachten. Werfen wir einen Blick auf die berühmte Eingangsszene von Luchino Viscontis Film »Senso« (1954). Visconti war ein leidenschaftlicher Opernliebhaber mit hoher ästhetischer Kompetenz und cineastischer Sensibilität. Zu sehen ist in diesem Film zunächst die Opernbühne in Venedig im Jahre 1866: gespielt wird Verdis Il Trovatore, dritter Akt. Im Saal sitzen italienische Musikfreunde aber auf den besten Plätzen im Parkett auch österreichische Soldaten. Im dem Moment als der Chor auf der Bühne »all’armi! all’armi! (Zu den Waffen)« singt, geht ein Ruck durch das Publikum. Auf den Rängen reichen die Venezianer Papierbündel und Blumensträuße in den drei italienischen Nationalfarben weiter. Einige Frauen holen diese Symbole unter ihren Röcken hervor. Die Demonstration erreicht ihren Höhepunkt als eine junge Frau lauthals schreit »Fuori lo straniero da Venezia! (Fremde raus aus Venetien)«. Dann wirft sie ihren Strauß ins Parkett, der passenderweise auf der Uniform eines österreichischen Offiziers landet. Darauf unterbrechen die Musiker die Aufführung, denn keiner der Künstler ist mehr zu hören, als die Menge »Viva l’Italia!« ruft und rot-weiß-grüne Papierschnipsel von den Logen herab wirft. Die österreichischen Soldaten wissen nicht was zu tun ist und hektische Bewegungen mit Rangeleien zeigen den politischen Erfolg dieser Demonstration der italienischen Nationalisten.135 Viscontis Film umreißt die aufrüttelnde Wechselbeziehung zwischen Theater, Politik und Leben. Diese Szene verdeutlicht die gesellschaftliche Interaktion. Bedauerlicherweise ist nicht nur die cineastische Inszenierung einer Revolution im Opernhaus, sondern auch die politische Inszenierung des italienischen Freiheitskampfes fiktiv.136 Die Opernbesucher in den wichtigen italienischen Städten hatten aber noch eine andere Möglichkeit, ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen: Viele blieben dem Theater fern. Gerade in Mailand spitzte sich 1848 die Krise dramatisch zu: Der Theaterdirektor musste wegen des anhaltend starken Rückgangs der Besucherzahlen um zusätzliche Staatszuschüsse bitten. Diesmal war es für jedermann offensichtlich, dass die Krise nicht künstlerischer Natur war. Was sich geändert hatte, 134 Vgl. zur Dekonstruktion des revolutionären Mythos Slatin, Opera and Revolution, 45–62; Longyear, Political, 245–254; Gerhard, Urbanization, 127–134; Walter, Oper, 312–315. 135 Scharfsinnig ist die Analyse von Spaepen, Scala als Herrschaftsinstrument?, 177–186. 136 Zu diesem Urteil kommt neben Spaepen auch Baumeister, Nation, 143–155.
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war offenbar die Beurteilung der Scala in der Mailänder Gesellschaft: Sie war zu einem Symbol der österreichischen Unterdrückung geworden. In den 1840er- und 1850er-Jahren blieb die Mailänder Elite demonstrativ der Scala fern, um der verhassten Herrschaft der Habsburger kein repräsentatives Forum zu bieten.137 Selbst in den italienischen Städten ist daher keine rauschende nationa listische Erhebung in den Opernhäusern zu beobachten – vielmehr eine kalkulierte politische Entscheidung. Auch die abendliche Wirkung von Giuseppe Verdis Gefangenenchor während der Premiere von Nabucco 1842 ist letztlich ein politischer Mythos: »Va, pensiero, sull’ali dorate« – »Zieht, Gedanken, auf goldenen Flügeln« – verlief zunächst ohne jegliche Störung der öffentlichen Ordnung. Relevant aber war es, diese Kunstgattung und den Komponisten Verdi als nationales und als politisches Symbol des Risorgimento zu rezipieren. In den letzten Jahren der österreichischen Herrschaft in Italien unterbrach das Publikum mehrere Opernvorstellungen mit dem Akronym »Viva Verdi« – aufgeschlüsselt hieß das: »Viva Vittorio Emanuele Re d’Italia.«138 Der Vorstellungshorizont einer Revolution bedeutete – ästhetisch gewendet – auch eine Absage an etablierte Konventionen, an die gesättigte Langeweile der Eliten im Theater. Legenden und Rezeptionen der Revolution beim Publikum gründeten sich nicht auf dem gesellschaftlichen Nichts, ruhten nicht allein auf der medialen Aufwertung. Wie aktiv und wie inaktiv das Publikum tatsächlich wurde, belegt ein Blick auf die 1848erRevolution im europäischen Musikleben.
Die Verwandlung der vormodernen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Jeder musikalischen Revolution ging eine gesellschaftliche Revolution voran. Damit sind nicht nur die politischen Erhebungen in Europa im Jahre 1848 gemeint: Man blickt von der Industriellen- zur Ernährungsrevolution, von der Medien- zur Bildungsrevolution. Eine Erfolgsgeschichte der Modernisierung ist darin nur in Ansätzen zu erkennen. Fürchterlich waren die Kosten, welche die Menschen und die Staaten durch diese tiefgreifenden Veränderungen erfahren mussten. In der Revolution von 1848 überlagerten sich vier unterschiedliche, aber aufeinander verweisende Krisen, welche die traditionelle 137 Vgl. Toelle, Repräsentation, 205–222; grundlegend ist dies., Bühne der Stadt, bes. 30–61; ferner Körner, Dramma in musica, 61–89. 138 Budden, Operas of Verdi, Bd. 1, 89–112.
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Gesellschaft veränderten: die agrarische Protestbewegung in ländlichen Regionen, die bürgerliche Verfassungsbewegung, die Demonstrationen städtischer Unterschichten gegen die soziale Ungleichheit und die nationalistischen Erhebungen gegen politisch und kulturell als »fremd« betrachtete Herrscher. Langfristig wirkten in Europa am stärksten die Bevölkerungsexplosion und die Durchsetzung des industriellen Systems. Entscheidend war der wachsende Zorn bürgerlicher und niedrig gestellter Schichten auf die verfestigten Privilegien des Adels und auf die Weigerung vieler regierender Monarchen, den gesellschaftlichen Herausforderungen durch Reformen zu begegnen. Mit der Ausnahme vielleicht von Großbritannien blieb die kaum beschränkte Monarchie das Zentrum der Herrschaftsordnung. Im Regelfall fehlte den Verantwortlichen im Staat oft jedes angemessene Problem bewusstsein, geschweige denn die Fähigkeit, vernünftige Lösungsvorschläge zu entwickeln. Durch die Revolution traten empörte Angehörige der Mittelschichten aggressiv in Erscheinung, formierte sich eine große Bewegung aus demokratischen Vereinen und selbstbewussten Parlamentariern. Was immer die alten regierenden Eliten 1848 auch erfolgreich verteidigen konnten, neu waren die politischen Möglichkeiten in der Öffentlichkeit, der Wille zur ungebrochenen politischen Teilhabe der breiten Bevölkerung.139 Im Frühjahr 1848 ereigneten sich revolutionäre Demonstrationen in vielen europäischen Hauptstädten. Dennoch ist es bezeichnend, dass die Unruhen ausgerechnet in Wien einsetzten, in der Metropole der politisch wie sozial in der Defensive verharrenden Habsburger Monarchie. Es waren die bürgerlichen Bildungsvereine, die Gewerbevereine und die Arbeiterschaft, die auf unverzügliche Reformen drängten. Am 13. März 1848 schlug die latente politische Krise in eine offene Krise um, etwa 30.000 Bürger standen unter Waffen. Noch am gleichen Tag kapitulierten die Regierung und die Wiener Garnison vor der unübersehbaren Menschenmenge innerhalb ihrer Stadt. Metternich trat zurück und floh nach England, Kaiser Ferdinand I. setzte sich mit dem Hofstaat nach Innsbruck ab, die Nationalgarde und die Akademische Legion übernahmen faktisch die Herrschaft über Wien. Binnen weniger Tage schienen wesentliche politische Ziele des liberalen Bürgertums, der Handwerker und der Arbeiter erreicht zu sein.140
139 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte II, 589–702; Nipperdey, Deutsche Geschichte I, 595–673; Sperber, Revolutions, 1–4, 148–194; Mommsen, 1848, 10–103; Geisthövel, Restauration, bes. 12–79, 148–210. 140 Vgl. den Überblick bei Rumpler, Chance, 261–323; Evans, Habsburg Monarchy, 181–206; Bürgersinn und Aufbegehren, 620–643.
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Die »bürgerliche Revolution« in Osterreich, das heißt, die geforderte rechtsstaatliche Partizipation der Bevölkerung, verwirklichte sich in den folgenden Monaten aber nur in Ansätzen: Die Verfassung blieb ein Torso, die Durchführung der Wahlen zum Reichstag in der Schwebe und die Regelung der Pressefreiheit unbestimmt. Die Erhaltung der kaiserlich-königlichen Monarchie lag nicht nur der Aristokratie und dem Klerus am Herzen, sondern ebenso den Wiener Wirtschaftsbürgern, den Beamten und den Bildungsbürgern. Daher befand sich die innen- wie die außenpolitische Position der Habsburger Monarchie nur für kurze Zeit in der Schwebe. Am Ende des Jahres kam die Revolution schließlich an ihr Ende.
Wiener Opernaufführungen: Das Bürgertum wirbt für die demokratische Nation Wie vollzog sich die Revolution im Musikleben? Auch hier galt: Die Vorfälle waren augenscheinlich markant, brachten aber im Ergebnis wenig. Eines der ersten Opfer auf diesem Nebenschauplatz der Revolution war die italienische Oper. Aus finanziellem Interesse, aber mit politischer Instinktlosigkeit hatte der Impresario der Hofoper (Kärntnertortheater), Carlo Balochino, die Eröffnung der ab dem 1. April geplanten italienische Spielzeit angekündigt. Eine italienische Opernspielzeit, noch dazu für die höfische Gesellschaft war durch die Revolution unmöglich geworden. Balochino reichte am 13. April seinen Rücktritt ein, am 16. April wurde verkündet, dass das Opernhaus aufgehört habe, ein ku.k. Hoftheater zu sein, die jährliche Dotation von 75.000 Gulden zog der Staat ein und das Haus hatte fortan ohne Subventionen zu bestehen. Da sich hier so bald kein neuer Unternehmer finden lassen wollte, bemühte die Verwaltung, eigene Vorstellungen auf Rechnung zu geben, um den verbleibenden Künstlern und Arbeitern am Haus einen Unterhalt zu ermöglichen. Ein Komitee aus Sängern, Tänzern, Choristen, Regisseuren und Kulissenschiebern übernahm die provisorische Leitung für etwa zehn Tage. Die »Allgemeine Theaterzeitung« hielt mit dem Stolz der Demokraten fest: »Das sogenannte Hofoperntheater hat sich als Republik erklärt, leibhafte Republik mit provisorischer Regierung und verantwortlichen Portefeuilles, unter welchen das der Finanzen die Hauptrolle spielt.«141 141 AWT, 17.4.1848, 372. Vgl. AWM, 11.5.1848, 225 f.; sowie den Bericht des Oberkämmerers Graf v. Dietrich an den Geheimen Rath im Ministerium des Inneren v. Pillersdorf über die »sistierten Vorstellungen« der italienischen Stagione, verbunden mit der Frage, wie nun weiter zu verfahren sei, in: Wien, VA, P. H. 148/1848, 6.4.1848. Ebenso aufschlussreich ist das Verfahren zur Überleitung des Pachtvertrages von Balochino an ein städti-
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Der Zorn auf die italienische Oper demonstrierte allenfalls in zweiter Linie eine bürgerliche Abgrenzung gegen die adeligen Theaterbesucher. In erster Linie ging es um die Durchsetzung österreichischer Nationalideale gegen ausländische Musikformen. Selbst alle ehemals der Ästhetik verschriebenen Blätter wie die »Allgemeine Wiener Musik-Zeitung« bezogen politische Stellung. Sie diffamierten die fremde Oper einer fremden Kultur, konsumiert durch eine fremde adelige Elite, und fragten offen: »Brauchen wir eine italienische Oper? … Das deutsche Wien protestirte gegen die italienische Oper. … Lange genug hat auch die Musik das fremde Joch getragen; hoffen wir, das die Zeit um ist; was die einzelnen Stimmen der Kritik nicht vermochten, das wird der Donnerruf einer Nation wohl vermögen.«142 Musikkultur und politische Kultur verknüpften auch die »Sonntagsblätter«, denn politische Gleichheit eröffne soziale und kulturelle Gleichheit. Heute wolle man die Oper in Wien nicht mehr durch eine »Operngattung usurpiert sehen, welche nicht das vaterländische ganz verdrängt, sondern überhaupt auf den Geschmack Deutschlands aufs Verderbendste eingewirkt hat. Die italienischen Opernaufführungen, in ihren Preiserhöhungen bloß für die reiche Aristokratie bestimmt, dürfte in der Folge … nicht mehr eine dreimonatliche Alleinbeherrschung unseres Hofoperntheaters ausüben. Jetzt muß man für das Volk und nicht bloß für die reiche Kaste Unternehmungen machen, und namentlich die Kunst gehört dem Volke«.143 Die für politisch erklärte Musik fristete, quantitativ betrachtet, ein Schattendasein, es entstanden nur wenige eigens für – oder gegen – den Zweck der Sache komponierte Stücke, wie Johann Strauß’ Vaters »Radetzkymarsch« (eine Belohnung des siegreichen Feldmarschalls der Konterrevolution) und Johann Strauß’ Sohns »Freiheitslieder« und »Revolutionsmarsch«. Häufiger waren die Forderungen aus dem liberalen Bürgertum, in Anlehnung an die Marseillaise und an Rule Britannia ein »Österreichisches Freiheitslied« zu erschaffen.144 Eine weit stärkere politische Bedeutung hatten die für jedersches Komitee und die provisorische Regelung des Spielbetriebes bis März 1849. Ein Bettelbrief vom 17. April 1848 betont dabei, dass 400 Personen im ehemaligen Hoftheater drohen, erwerbslos zu werden, wenn nicht der Betrieb schleunigst wieder aufgenommen würde. Ebd., P. H. 428/1848. 142 AWM, 8 (1848), 164. 143 Sonntagsblätter, 9.4.1848, 234. Voller nationalistischer Töne war auch die Verteidigung der deutschen Sprache gegen das Italienische im Musikleben. »Der auf Stelzen einhergehende Sprach-Aristokratismus hat so viele kernige deutsche Wörter herrschwillig und eigenmächtig mit dem Banne der Verächtlichkeit belegt. … Wir brauchen nicht mehr zu fürchten, daß eine perfide Politik die Schöne Kunst der Töne als Mittel betrachtet, die Völker einzulullen.«, Sonntagsblätter, 7.5.1848, 35 f. 144 Vgl. Sonntagsblätter, 7.5.1848, 35; Bürgersinn und Aufbegehren, 82; Waissenberger, Biedermeier, 302–314.
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mann geöffneten Wohltätigkeitskonzerte zur Versorgung der Angehörigen der im März gefallenen Revolutionsopfer. In diesen demonstrativen Aufführungen erklangen Festgesänge, Haydns Kaiserhymne und Beethovens Sinfonien, sie verknüpften nationale und demokratische Ideale.145 Eine wichtige Rolle spielte im Frühjahr 1848 die neue politische Bewertung des Publikums. Während den Erfolg versprechenden Monaten der Revolution errangen selbst Virtuosen vom Schlage eines Sigismund Thalberg keinen gesellschaftlichen Ruhm, weil man sie mit dem Stil der überwundenen Adelskultur gleichsetzte. »In seiner Vortragsweise liegt eine aristokratische Kühle und Gleichgültigkeit, welche jeden wärmeren Herzschlag schon von weitem zurückweist«, urteilte die »Wiener Zeitung« über sein Konzert am 5. Mai 1848.146 Am Ende des Abends suchte Thalberg das unleidige Publikum mit dem Spiel der »Volkshymne« zu besänftigen. Aber schon während der ersten Töne hörte man verdächtige Geräusche von der Straße her, als die Menge gegen die »K. K. Polizei-Ober-Direktion« demonstrierte. Thalberg ahnte, dass das politische Unheil sein persönliches Heil bedrohte, beendete das Thema ohne Variationen und machte sich aus dem Staub. Das Theater an der Wien hieß für die Dauer der Revolution »NationalTheater«. Das kaiserliche Kärntnertortheater war nicht bespielbar, und manche bürgerlichen Musikkenner genossen die Entscheidung nun auch eine Nationalbühne zu besitzen. Die Forderung aus Paris galt es in diesen Zeiten zu übernehmen: freie Vorstellungen für jedermann. Immerhin verwandte das neue Nationaltheater die Hälfte seiner Einnahmen für die Unterstützung mittelloser Studenten. Die Musik erreiche so vieles, urteilte die Presse, denn sie mache gebildet, politisch und frei: »Das Volk bedarf am ehesten der Bildung und der Reife für die werdende Freiheit.«147 Während der Eröffnung des Hauses war ein Festvortrag zu hören und das Orchester spielte auf Verlangen erneut die »Volkshymne«, dann eine musikalische Fassung von Ernst Moritz Arndts »Was ist des Deutschen Vaterland«. Ganz am Schluss erklang der Chor mit »Des Österreichers Vaterland«. Der nationalistische Enthusiasmus der Anwesenden kannte an diesem Abend keine Grenzen. Ähnliches zeigte sich bei der Wiedereröffnung der Hofoper am 29. April 1848. Am Beginn traten alle Sänger dem Anlass entsprechend gekleidet vor die Bühne: die Herren in Schwarz, die Damen in Weiß. Die Künstler mischten sich unter das jubelnde Publikum und stimmten gemeinsam die österreichische »Volkshymne« an. Die politisch zunächst geschlagene Aristokratie versuchte in diesen Wochen 145 Vgl. ebd., 2.4.1848, 37 f.; AWT, 24.3.1848, 291. 146 WZ, 6.5.1848. 147 Sonntagsblätter, 15.4.1848, 258. Vgl. Wanderer (1848 kurzfristig unter dem markanten Titel: »Der Demokrat« auf dem Markt), 15.4.1848.
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meist der musikalischen Revolution fernzubleiben und ihre Logen zeigten eine »schauerliche Leere«.148 Noch im Jahre 1850, also nach der zerschlagenen Revolution, schwärmten manche Blätter über die »kluge Rücksichtnahme auf die im Opernhause geltende Ausübung des allgemeinen Stimmrechtes«.149
Berliner Opernaufführungen: Demokratisches Desinteresse und monarchische Mobilisierung Gewalt und Tod überschatteten die Revolution in Berlin stärker als in Wien. In den 1840er-Jahren machten Tausende von ihrem Recht Gebrauch, Petitio nen in politischen und sozialen Fragen an den neuen König Friedrich Wilhelm IV. zu richten. Das Ziel war es, durch diesen Akt der Bezeugung des Volkswillens die Asymmetrie der Restauration zu brechen. Die überschwänglichen Erwartungen an den König, den Hofstaat und die Regierung blieben unerfüllt, der gesamtpreußische Reichstag ein Desiderat. Es scheiterte letztlich der Versuch der Liberalen wie der radikalen Demokraten, durch Reformen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse wiederherzustellen. Ab dem 14. März 1848 gingen preußische Truppen gegen demonstrierende Bürger und die Unterschichten vor. Am 18. März konzedierte der König die rasche Einberufung des Vereinigten Landtages und eine gewisse Pressefreiheit. Aber beim Versuch, den Berliner Schlossplatz gewaltsam zu räumen, lösten sich Schüsse und mit ihnen der Hass der Demonstranten auf ihre Unterdrücker. Zugespitzt formuliert, koordinierten sich die gesellschaftlichen Gruppen durch äußere Gewalt. Bürger und Arbeiter, Akademiker und Kaufleute kämpften gegen die Armee. Die Anzahl der Barrikadenkämpfer wird auf 3.000 bis 4.000 geschätzt, deren Helfer waren Zehntausende. Der König selbst wählte eine Geste der Versöhnung und nahm am Umzug zu Ehren der 303 »Märzgefallenen« in Berlin teil. In den folgenden Tagen bekannte sich Friedrich Wilhelm IV. in seinen Proklamationen zur »Wiedergeburt und Gründung eines neuen Deutschlandes«, in das Preußen aufgehen solle.150 Doch wie auch in Wien war dieser Sieg der Revolutionäre nur ein vorläufiger. Das Bürgertum in Deutschland war allenfalls »stark genug … eine Re148 AWM, 8 (1848), 2.5.1848. Vgl. Jahn, Hofoper von 1848 bis 1870; 83–96; Flotzinger/Gruber, Musikgeschichte Österreichs, Bd. 3, 17–32; insges. Bled, Wien, 293–361. 149 WZ, Abendblatt, 2.3.1850. 150 Vgl. zum langwierigen Spannungsverhältnis zwischen Reform und Revolution, Koselleck, Preußen, bes. 560–637; und zu den Ereignissen des Jahres 1848 in Berlin Ribbe, Geschichte Berlins, Bd. 2, 605–635; Mommsen, 1848, 104–126; Geisthövel, Restauration, 44–57, 131–147.
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volution zu beginnen, nicht sie zu gewinnen«.151 Das Bildungs- und das Wirtschaftsbürgertum entstammte einer privilegierten Elite, die glaubte, durch politische Reformen und eine neue Verfassung mehr zu verlieren als zu erlangen. In den etablierten Bahnen öffentlicher Kommunikation gelang es den monarchistischen Konservativen in Berlin nach Kräften, Reformvorschläge der Frankfurter Paulskirche zu behindern. Die Reaktion gewann ohne auffällige Kundgebungen allmählich wieder die öffentliche Deutungshoheit zurück. Unter den Bedingungen des Belagerungszustandes entließ König Friedrich Wilhelm IV. am 5. Dezember 1848 das preußische Parlament und verkündete die ihm genehme eigene Verfassung. Die Unruhen im Berliner Musikleben während der 1848er-Revolution entsprachen nicht den politischen Demonstrationen in den Wiener Auditorien. Statt tatsächlicher Handlungen beschworen die Musikfreunde ein um das andere Mal die soziale Öffnung der Spielstätten. Die Politik dieses dynamischen Zeitalters, so befand bezeichnenderweise die »Neue Berliner Musikzeitung«, interessiere die Zuhörer letztlich nur unter künstlerischen Gesichtspunkten. »Wir haben die Politik nur so weit in den Kreis unserer Besprechung gezogen, als sie die Kunst unmittelbar berührt. … Es ist indes heut zu Tage nicht mehr möglich – und wir erkennen darin einen Fortschritt – ein musikalisches Stillleben zu führen. Die Musik ist sociale Kunst, sie gehört mehr denn irgendeine andere allen Ständen, dem ganzen Volke an.«152 Die tatsächliche politische Begeisterung der Berliner Musikhörer reichte nicht einmal entfernt an die flammenden Aufrufe der demokratischen Bewegung heran. Eine »Sinfonie-Soirée« in der Singakademie wurde am 18. März nur schwach besucht. Sicher, die bewegte und gewalttätige Entwicklung an diesem Tag dürfte dafür verantwortlich gewesen sein. Die Jubel-Ouvertüre Carl Maria von Webers erregte durch das musikalische Zitat von »›Heil Dir im Siegerkranz« immerhin einen leichten Beifall. Doch dieser Abend erbrachte im Konzertsaal gar kein Ergebnis – die Straße interessierte die Musikliebhaber weit eher, da das Auditorium ihnen eben kein politisches Forum eröffnete. Über Beethovens fünfte Sinfonie in c-moll lautete die Kritik: »Die Stimmung des Publikums, den Saal zu verlassen, um zu sehen was sich draußen begeben haben mochte, wurde bemerkbar. Man spielte daher den letzten Satz ohne Wiederholungen.«153 151 Koselleck, Bürger und Revolution, 514. 152 NBMZ, 2 (1848), 376. 153 VZ, 20.3.1848. Vgl. zum kulturellen Weltbild der Bürger die Beiträge in Schloesser/Pelger (Hg.), Bürgerbuch; sowie zum Stellenwert »demokratischer Opern« im Musikleben Arblaster, Libertà, 263–312.
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Die kulturellen Verfechter der Konterrevolution erzielten auch im Musikleben das, was den Revolutionären nicht gelang: eine politische Instrumentalisierung der Opernaufführungen und die Mobilisierung des Publikums. Vermeintlich politisch neutrale und dem eigenen Bekunden nach nur der Kunst huldigende Fachblätter wie die »Signale« nutzten ihren Zorn gegen zeitgenössische Kompositionen, um zeitgenössische Reformen zu verurteilen und die Monarchie zu legitimieren. Die Etablierung des musikalischen Kanons, das heißt, die Wiederholung der immer gleichen Werke, diente zur Verurteilung jedweder kulturellen Veränderung. Diejenigen Komponisten, die ästhetisch betrachtet einen Aufbruch gewagt hatten, mussten durch Disziplinierung in die konservative Mitte der musikalischen Gesellschaft reintegriert werden. »Daß die Opernmusik und die Liedkompositionen längst der Politik huldigen, ja sogar die Dienerinnen derselben geworden sind, bedarf weiter keines Beweises. So sind die ›Stumme von Portici‹ und die ›Hugenotten‹ von revolutionärer Tendenz, der ›Prophet‹, Meyerbeer’s neuestes Werk, ist in den ersten Arien sogar communistisch. … Die rothe Republik hat auf diesem Gebiet große Eroberungen gemacht … Indem wir eine Partei vor den Machinationen der anderen warnen, begehen wir keinen Verrath. Wir stehen in der Mitte und geben Ihnen das Signal sich gegenseitig zu rüsten. Man wehrt den Feind mit Glück ab, wenn man seinen Angriffsplan im Voraus kennt.«154 Der mächtige Generalintendant der Hofoper, Karl Theodor von Küstner, suchte nach Kräften mit der kulturellen Struktur seines Hauses die politische Struktur Preußens zu behaupten. Er ärgerte sich in seinen Erinnerungen bitterlich darüber, dass die von ihm als »Anarchisten« bezeichneten Revolutionäre sein Büro und seine Wohnung auf den Kopf gestellt hätten. Das Hoftheater diente, bis die Truppen General Friedrich von Wrangels Berlin im November besetzten, als Versammlungsplatz verschiedener Parteien und politischer Strömungen. Die gebotenen musikalischen Aufführungen nutzten die Revolutionäre, um ihren Beifall oder ihr Missfallen zu äußern, »das Kulturinstitut wurde zu einem politischen Club. … Ich schließe die Schilderungen dieser Scenen der Anarchie mit der Bemerkung, daß ich während der neunmonatigen Dauer derselben … meinen Posten nicht verließ, und es mir … gelungen ist … den gerade in dieser Zeit in polizeilicher Hinsicht wichtigen Gang der Vorstellungen, wenn auch nicht ohne Störungen mancher Art, aufrecht zu erhalten und die königliche Anstalt durch die mit Brand und Plünderung drohenden Unruhen unversehrt zu führen«.155 154 Signale, 7 (1849), 241: »Politische Umtriebe in den neuesten Compositionen«, (Herv. im Orig.). 155 von Küstner, Theaterleitung, 192, 196. Vgl. Redern, Unter drei Königen, 279–296.
356 | Politischer Konsens und Dissens © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Ein künstlerisch unbedeutend gebliebener, aber politisch wichtiger Vorfall war die Aufführung von Giacomo Meyerbeers Oper Das Feldlager in Schlesien 1849 in Berlin. Meyerbeers Bühnenwerk verherrlichte den Feldzug Friedrichs II., seinen um Haaresbreite abgewendeten militärischen Fehlschlag gegen Österreich und Russland und die endliche Verklärung des Königs zum monarchischen Genius der preußischen Geschichte. Die Menge der Akteure konnte sich sehen lassen. Beinahe 400 Personen standen im zweiten Akt auf der Bühne, 53 Ballettmitglieder, 63 Extramusiker, 122 Choristen, 144 Statisten und 22 Pferde. Die künstlerische Bilanz fiel weniger eindrucksvoll aus. Der Abend dauerte ermüdende fünf Stunden und die Oper sollte sich nie im Repertoire etablieren. Die Oper war ein Auftragswerk des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. mit dem Ziel einen politischen Zweck zu erfüllen. Der Berliner Kritiker Ludwig Rellstab gab seine ursprüngliche Aversion gegen den Italiener Meyerbeer auf, nachdem dieser als Generalmusikdirektor in Berlin angestellt worden war. Rellstab entschloss sich, Meyerbeers Stellung im eigenen Interesse zu nutzten, und mühte sich als Übersetzer des von Eugène Scribe verfassten Librettos. Die »Vossische Zeitung« pries die Premiere des Feldlagers in Schlesien als Manifestation der Gegenrevolution. Rellstab verfasste die Beweihräucherung »seiner« Oper selbst. »Auf vaterländischen Ruhm fußend, wirkt es jetzt durch den Stoff ungleich tiefer und ergreifender, wo man diese Güter, weil sie den unwürdigsten Angriffen Preis gegeben werden, umso höher schätzen gelernt hat. … ›Für unsern König unser Blut!‹. Die Worte von dem vollen Männerchor, ganz im Proscenium vorgetreten und so gesungen, daß den Hörern keine Sylbe verloren ging, wirkten wie ein elektrischer Schlag.«156 Der Dichter Rellstab feierte hierbei – ganz der sich der versammelten Elite darbietende Preuße – nicht nur sein eigenes Libretto, sondern unterstrich in seinem eigenen Zeitungsartikel die loyalistische Demonstration der Berliner in der Hofoper. Der Kritiker mutierte zum Panegyriker der Gegenrevolution.
156 VZ, 10.5.1849. Vgl. zur ursprünglichen Polemik und zur schließlichen Anbiederung Rellstabs gegenüber Meyerbeer Rehm, Musikrezeption, 132–141; und zum Stellenwert des Friedrich-Mythos im Theater, Schirmer, Friedrich der Große, 229–249.
Musik als Waffe | 357 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Opernaufführungen in London: Demonstrationen der Monarchisten für die bestehende Form der Demokratie Am Anfang der politischen Reformen in Großbritannien stand keine Revolution. Die Vorfälle in der britischen Hauptstadt des Jahres 1848 unterschieden sich massiv von den gewaltsamen Massendemonstrationen und revolutionären Umstürzen in Wien und Berlin. Fraglos fielen die Belastungen im Mutterland der Industrialisierung besonders schwer aus, und Proteste der Arbeiterschaft waren zunehmend an der Tagesordnung. Arbeiter und Handwerker forderten letztendlich ihr Recht der »moral economy« ein, das heißt, eine Beschäftigung im Rahmen angemessener Arbeitsbedingungen, passabler Löhne und sozialer Möglichkeiten innerhalb der britischen Gesellschaft.157 In vielerlei Hinsicht ähnelten die Protestformen in Großbritannien denen auf dem Kontinent. Petitionen der Gewerkschaften erreichten, unterstützt von Teilen des liberalen Bürgertums, das Parlament. Parallel zur Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit formierten sich die Anhänger einer Wahlrechtsreform, deren immerhin partieller Erfolg 1832 die parlamenta rische Monarchie stabilisierte. Übrig blieben die Chartisten, deren Bewegung – abgeleitet von jener »peoples’ charta«, die sie in der Dekade vor 1848 regelmäßig, aber vergeblich dem Unterhaus vorlegten – weite Teile der Unterschichten in Großbritannien mobilisierte. Im Frühjahr 1848 unternahmen die Chartisten einen letzten Versuch, ihre Forderungen notfalls mit Gewalt dem politischen System in London aufzunötigen. Eine Versammlung aus einigen Zehntausenden suchte die Petition am 10. April dem Unterhaus zu übergeben. Die Regierung handelte im Gegensatz zu den Machthabern im übrigen Europa umsichtig, mobilisierte, massiv unterstützt von der Presse und der Polizei, Abwehrmaßnahmen. Tausende Polizisten besetzten die Straßen und Brücken und hielten die Chartisten von der Machtzentrale fern – beinahe ohne physische Gewalt. Die politischen Demonstranten tappten in die geschickt gestellte Falle der politischen Mehrheit. Die Regierung fürchtete einen Revolutionsversuch, doch die Chartisten verzichteten letztlich auf einen gewaltsamen politischen Umsturz. Auch die Mehrheit der britischen Bevölkerung wollte die bestehende Ordnung sichern. Das politische System geriet durch die wirtschaftlichen Herausforderungen unter Beschuss, aber es brach nicht zusammen. Im Gegenteil: Die Whigs im Unterhaus, die Wirtschaftseliten, die Bürger auf den 157 Grundlegend sind und bleiben die beiden Bände von Edward Thompson, Entstehung der englischen Arbeiterklasse. Vgl. Hobsbawm, Industrie und Empire 1, 55–110.
358 | Politischer Konsens und Dissens © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Londoner Straßen und selbst der Adel suchten die eigenen gesellschaftlichen Positionen zwar nicht aufzugeben, diese aber flexibler an die neuen Herausforderungen anzupassen. Schrittweise, unzureichende und oft ungerechte Reformen ersetzten auf der Insel die 1848er-Revolution auf dem Kontinent.158 Musikalische Aufführungen in den großen Häusern versinnbildlichten die Weltbilder der Eliten. Selbstredend war im Londoner Musikleben an eine revolutionäre Neuordnung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse nicht einmal zu denken. Viele Bürger und Adeligen in den Opernhäusern und Konzertsälen unterstützten die Regierung und die Monarchie vielmehr durch regierungstreue und nationalistische Aufführungen. Die musikalischen Demonstrationen waren loyale Demonstrationen. Nur eine Handvoll jüngerer Komponisten orientierte sich an der Rhetorik der Chartisten und ärgerte sich darüber, dass die neue, die progressive Musik der Zeit in den Opernhäusern- und Konzertsälen der Elite keine Rolle spiele. Allenfalls ein Blick auf populäre Aufführungen in Tanzsälen oder Kneipen böte ein anderes Bild.159 Den öffentlichen Erfolg in den großen Opernhäusern und Konzertsälen aber errang im Frühling 1848 die politische Musik der politischen Elite. In den Apriltagen nutzte das Publikum beinahe jede Vorstellung zum loyalen Bekenntnis. Im »Her Majesty’s Theatre« kamen am 11. April, mithin am Tag nach der Chartisten-Demonstration, mehreren Prinzen, sechs Herzöge, zahlreiche Marquise, Counts, Earls, Lords und Ladies zu einer Gegendemonstration zusammen. Nach Verdis I Due Foscari hatte das Management die Nationalhymne vorgesehen – das Publikum reagierte schneller und sang die Hymne bereits beim Eintritt in das Opernhaus. Auch die Leistungen der Sänger blieben kaum zu hören, da die Anwesenden die Künstler übertönten, selbst die Musik vorgaben, und ununterbrochen das eigene Weltbild bejubelten. Die Damen in den Logen winkten mit ihren Taschentüchern genauso begeistert wie die Gentlemen im Parkett mit ihren Hüten.160 Königin Victoria wurde 1848 zum Leitstern des britischen Nationalismus. Was immer die Nation zu bedrohen schien, die Politik der bestehenden Ordnung musste auch musikalisch verteidigt werden, und entsprechende Verse aus der Hymne mobilisierten das Publikum zum Aufschrei. »Beim Singen der Verse ›confound their politics‹ ging ein Ruck durch die Menge. Überall wurden Hüte und Taschentücher geschwenkt und die Hurra-Rufe waren so laut, das sie mit der klanglichen Wucht eines Symphonieorchesters konkur158 Vgl. Mitchell, Britain’s Reaction, 83–98; Goodway, London Chartism, bes. 68–96, 129– 149; Stevenson, Disturbances, 245–274; Mommsen, 1848, 60–67. 159 Vgl. Weber, Music, XX–XXII. 160 MP, 12.4.1848. Vgl. TI, 11.4.1848. Vgl. Hook, Reforming, 254–270; Knif, Gentlemen.
Musik als Waffe | 359 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
rieren konnten.«161 Diese musikalische Demonstration der Politik knüpfte nahtlos an das frühere Benehmen des Publikums bei den Attentaten auf die Königin an. 1840 hatte ein wahnsinniger Attentäter vergeblich einen Anschlag versucht. Selbstredend ging Victoria unmittelbar nach dem Vorfall in ihre geliebte Oper und selbstredend verehrten alle Anwesenden im Haus mit Verve die Monarchin durch das Singen der Nationalhymne. Der konservative Nationalismus überstrahlte, ausgerichtet auf die Monarchin, den linken Nationalismus.162 Und noch im Juli 1848 beklagten sich viele Besucher in der »pit« und der »gallery« des Royal Opera House Covent Garden darüber, dass die Anordnung der Königsloge von ihren Plätzen aus keine Sicht auf die Monarchin ermögliche.163 Die politischen Loyalitätsdemonstrationen unterschieden sich im Opernhaus und im Konzertsaal nicht voneinander, ja, gelegentlich drängt sich der Eindruck auf, dass der gesellschaftliche Code der Vergangenheit durch die Krise des Jahres 1848 die politischen Interessen des Publikums reaktivierte. Auch nach der Aufführung von Rossinis Semiramide in Covent Garden am 8. April folgte auf den regulären Applaus zu Ehren der Sänger die Anweisung des Dirigenten Michael Costa an das Orchester, sofort die Nationalhymne zu spielen. Darauf erhoben sich praktisch alle Besucher, applaudierten und jubelten. Auch das ließ sich noch steigern. Der Vorhang öffnete sich und das ganze Personal des Hauses erschien aufgereiht auf der Bühne – von den Choristen zum Kulissenschieber, von den Türstehern zu vielen hindrängenden Musikfreunden aus dem Publikum. Die Opernstars Marietta Alboni, Giulia Grisi und Antonio Tamburini standen gleich in der ersten Reihe dieser Versammlung, »like generals to marshal their troops in order«. Jede Strophe der Hymne ging in einen brüllenden Beifallssturm über, der das Haus zum Einsturz zu bringen schien.164 Die Loyalität der Royalisten übertraf – wenigstens ästhetisch betrachtet – die politischen Aktionen der Chartisten. »Als Alboni die letzten Zeilen mit ihrer vollen und ausdruckstarken Stimme begann (›Confound their politics‹, ›Frustrate their knavish tricks‹), war der Jubel des 161 EX, 15.4.1848, 245. 162 Vgl. TI, 12.6.1840; Rowell, Queen Victoria, 30 f.; insges. Plunkett, Queen Victoria, 199–238; und zur Rezeption vieler Opernwerke an der Schnittstelle zwischen Nationalismus und Kulturtransfer Gerhard, Urbanization, 388–395. 163 MC, 21.7.1848. Vgl. auch die anhaltende Wertschätzung Königin Victorias im Rahmen ihres zeremoniellen Besuches der Stadt London und den obligatorischen »state performances« in den beiden wichtigen Opernhäusern, ILN, 12.7.1851, 42. Hier preist der Bericht »the gratitude which Englishmen feel« und resümiert das »at such a time of trouble and perplexity throughout Europe, such a scene could have been possible here, and in no other capital«. 164 TI, 10.4.1848.
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Publikums grenzenlos. Am Ende der Hymne schlossen sich alle Musiker und Choristen der Demonstration des Publikums an. Niemals haben wir in diesem Theater so ein Ausmaß an Begeisterung erlebt. Der Aufschrei dieses Publikums dürfte auch die Chartisten, die sich am Fitzroy Square versammelt hatten, zutiefst geängstigt haben.«165
Zwei Gewinner: Politischer Konsens und soziale Annäherung zwischen Bürgertum und Adel im Musikleben nach 1850 Blickt man auf die Organisation des Musikbetriebs und das Verhalten der Besucher im Jahre 1848, dann bestanden nur wenige Unterschiede zwischen den politischen Zentren – vielleicht mit der Ausnahme von London. Revolutionäre, Reformer und Loyalisten nutzten Opern- und Konzertaufführungen gleichermaßen, um ihre abweichenden Positionen zu demonstrieren. Bei diesem ernüchternden Befund blieb es: Das Musikleben reflektierte die politischen Verwerfungen, es verursachte sie aber nicht. Die Aufführungen spiegelten die Interessenkonflikte und die Machtkämpfe in den Gesellschaften, beeinflusste aber kaum die politische Neuordnung der Verhältnisse.166 Während der Revolution war viel von der Demokratisierung der Musik die Rede, tatsächlich aber erleichterten in den 1850er- und 1860er-Jahren nur wenige Institutionen und Gruppen neuen Hörerschichten den Zugang zur Kunstmusik. Auch die Anhänger der »Volksbildung« in Berlin achteten penibel darauf, die Musik der Kleinbürger und Arbeiter kulturell zu marginalisieren. Die Mehrheit der Bürger und Adeligen sicherten in der zweiten Jahrhunderthälfte auch durch die Aufführung von Kunstmusik die bestehenden politischen Verhältnisse und dadurch den eigenen elitären Sozialstatus. Die konservative politische Ausrichtung des Opern- und Konzertbetriebs beruhte auf etablierten sozialen Traditionen. Manches spricht dafür, dass das musikliebende Bürgertum seine politischen und sozialen Handlungsspielräume im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts aggressiver nutzte als danach. Die Hörer der »middle class« und das Bildungsbürgertum kritisierten zwischen 1830 und 1850 vehement den gesellschaftlichen Rang des Adels. Danach aber zeichnete sich immer deutlicher ab, dass sich der politische Antagonismus in Kooperation wandelte und zwei Sieger zu erkennen waren: das Bürgertum und der Adel. Das Bürgertum pro165 MW, 15.4.1848, 242. Vgl. die Beiträge in Jones/Wahrman (Hg.), Age, bes. deren Einleitung, 1–16. 166 Mit dieser Einschätzung irrt sich u. a. Weber, Transformation, 235–272; vgl. ders., Music, XVIII–XXIII.
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fitierte davon, dass neue kulturelle Normen und die verstärkte ökonomische Professionalisierung des Spielbetriebs ihre Position auch im Musikleben sicherte. Es würde sicher zu weit reichen, darin eine bleibende bürgerliche Umwertung der bestehenden sozialen Rangordnung zu erblicken. Nur wenige Bürger hatten am Ende ein Interesse daran die Herrschaft des Adels politisch zu brechen. Die bildungsbürgerliche Adelskritik trug zur Selbstbehauptung des Adels auch deshalb bei, weil dieser sich in seinem Geschmack und in seiner Lebensführung dem Bürgertum allmählich anglich und damit willentlich seine Angriffsflächen verhinderte.167 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist zunächst in London, dann in Berlin und in Wien ein Nebeneinander, ja, eine Kooperation von Adel und Bürgertum zu sehen. Dabei war die Verflechtung von Teilen des Adels und den Spitzen des Wirtschafts- und Großbürgertums in London am stärksten, in Wien am schwächsten. Noch weniger überrascht der politische Stellenwert einer neuen adelig-großbürgerlichen Elite in Großbritannien, mithin die Tatsache, dass das Bürgertum in London die politische Macht in größerem Maße mit dem Adel teilen konnte als in Berlin oder in Wien. Ähnliches galt für die ökonomische Kooperation oder für das Heiratsverhalten. Hier überließ die Aristokratie bereitwillig Positionen in der Gesellschaft der »middle class« und verteidigte dadurch bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein erfolgreich ihre Herrschaftsansprüche.168 Letztlich war das für beide Gruppen von Vorteil. Auch in London musste sich der Adel nach 1850 eher den wirtschaftlichen und den sozialen als den politischen Herausforderungen des Bürgertums stellen. Noch schlechter stand es in Deutschland und in Österreich-Ungarn um die politischen Handlungsspielräume des Bürgertums. Friedrich Engels schrieb an Karl Marx, Großbritannien sei die »bürgerlichste aller Nationen, die es schließlich dahin zu bringen scheint, eine bürgerliche Aristokratie und ein bürgerliches Proletariat neben der Bourgeoisie zu besitzen«.169 Das ist eine überraschende Perspektive, aber immerhin eine Erklärung für den musikalischen englischen Sonderweg in Europa. In ihrer Häufigkeit, demokratische und kulturelle Reformen einzufordern, unterschieden sich die Journalisten und Konzertbesucher in allen drei Hauptstädten relativ wenig voneinander. Schärfer und chancenreicher aber fielen die Vorstöße und Provokationen in Großbritannien aus. Es gibt viele 167 Vgl. Langewiesche, Bürgerliche Adelskritik, 11–28; Schröder, Adel, bes. 37–59; insges. Braun/Gugerli, Macht, 202–256. 168 Zum angleichenden Verhältnis zwischen Adel und Bürgertum siehe Cannadine, Decline, bes. 8–31, 343–355; Kocka, Muster, 46–49. 169 Marx/Engels, Werke (MEW), Bd. 29, 358.
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Gründe dafür, warum in London die Demokratisierung des Musiklebens innerhalb der Institutionen leichter gelang als in Berlin und in Wien, doch der wichtigste Befund liegt auf der Hand: Wenn es eine demokratische und bürgerliche Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhundert in Europa gab, dann war sie in London am stärksten. Freies Reden und Handeln in der Öffentlichkeit war weit weniger staatlich geregelt, die Forderungen daher variantenreicher und heftiger. Vielleicht zeigte sich der sprachliche Stil härter und der öffentliche Konflikt im Musikleben größer, weil die politischen bereits vor den musikalischen Reformen angelaufen waren. Die Forderungen nach demokratischem Musikkonsum und demokratischer Pressefreiheit waren sich in Europa sehr ähnlich, die politischen Folgen aber unterschieden sich nachhaltig voneinander in London, in Berlin und in Wien.
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VI. Rückblicke und Ausblicke: Die Entwicklung des Publikums vom 19. ins 21. Jahrhundert 1. Bilanz: Unterschiede in den Gemeinsamkeiten Am Vorabend des Ersten Weltkrieges im Jahre 1912 urteilte das Meinungsblatt der Sozialdemokratie, der »Vorwärts«, abfällig über das elitäre Berliner Musikleben. Nach seiner Auffassung erfüllte die vermeintlich wichtigste öffentliche Unterhaltungsinstitution, die Hofoper, vor allem die Interessen der Adeligen und der Großbürger und zementierte die soziale und politische Ungleichheit im Kaiserreich. Musikalische Hochkultur in Deutschland demonstriere die fehlende Freiheit mancher Kleinbürger und Proletarier: »Die kostspielige königliche Oper ist ein Vergnügungsinstitut für den Hof und die Geburts- und Finanzaristokratie: das Volk hat keinen Anteil an ihr.«1 Damit lenkt der »Vorwärts« den Blick auf eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Studie. Die Zugangsmöglichkeiten und das Verhalten des Publikums in den Häusern zu betrachten, bedeutet, die Produktion, vor allem aber die Reproduktion sozialer Wirklichkeit und sozialer Ungleichheit zu verfolgen. Konzerte und Opernabende verstärkten den sozialintegrativen Zusammenhalt der Elite in der Gesellschaft, weil die Teilnahme an diesen Aufführungen ein öffentlich erstrebenswertes Privileg bildete. Die Besuche im Opern- und Konzerthaus sicherten den Status von Bildungs- und Wirtschaftsbürgern, von Adeligen und Veranstaltern. Besitz und Bildung ermöglichten die Gleichheit der Vermögenden und Gebildeten nach innen zu zeigen, und ihre Abgrenzung nach außen. Der Elite diente ihr musikalisches Kapital dazu, kulturell Ungebildete auch sozial abzuwerten, Kleinbürgern und Bediensteten den Zugang zum Opernhaus und in den Konzertsaal zu erschweren. Kehrt man zu den Ausgangsfragen dieser Arbeit zurück und gewichtet den Stellenwert der verschiedenen Interessen des Publikums, dann fällt die Bilanz überraschend eindeutig aus. Als nicht haltbar erwies sich die naheliegende Annahme, dass es der Elite in erster Linie um die Schönheiten der 1 VO, 20.11.1912.
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Musik ging. So wichtig die ästhetischen Ziele der Konzertgänger und Opernbesucher auch waren, sie traten hinter die eigenen sozialen Interessen zurück, die zum Bestandteil ihres Lebensstils wurden. Zwar diskutierte das Publikum engagiert über die Leistungen der Sänger und Virtuosen, stritt über neue Kompositionen und Inszenierungen. Doch all das verblasste gegenüber ihrem Bestreben, sich öffentlich als privilegierte Elite zu zeigen, die über verfeinerten Geschmack, distinguierte Umgangsformen und teure Sitzplätze verfügte. Selbst die vorsichtigen politischen Spitzen mancher Bildungsbürger gegen das undisziplinierte Verhalten der Adeligen im Konzert waren für die Mehrheit im Publikum weniger wichtig als die Herausbildung sozialer Netzwerke. Zu beobachten sind Absprachen zwischen Bürgern, Unternehmern und Adeligen über Zugangsbedingungen in Logen, Pläne für Investitionen in Konsumgüter und Vorbereitungen von Hochzeiten zwischen den wichtigen Familien. Wie die Studie zeigt, standen diese Praktiken und Ordnungswünsche in der sich im 19. Jahrhundert rapide wandelnden Gesellschaft nicht von vornherein fest, sondern wurden vom Publikum ausgehandelt. Die hier umrissene Geschichte des Publikums hat deutlich werden lassen, dass zwar selten neue soziale Gemeinschaften im Musikleben entstanden, wohl aber bestehende Gruppen intensiver als zuvor miteinander kommunizierten. Das ist gerade anhand der Beziehungen zwischen Bürgern und Adeligen im 19. Jahrhundert zu erkennen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts erfolgte im Spielbetrieb eine wachsende politische und soziale Angleichung beider Gruppen. Statt von einem bürgerlichen Siegeszug im Musikleben auszugehen, ist es aufschlussreicher, auch die Übernahmen und Variationen adeliger Werte, Praktiken und Symbole im Bürgertum zu verfolgen. Manche Historiker gehen von einer »silent revolution« des deutschen Bürgertums aus, weil sich diese Gruppe nicht in rein bürgerlichen kulturellen Organisationen abschottete, sondern sich gemeinsam mit den Aristokraten auf formal gleichberechtigter Ebene in den Spielstätten traf.2 Die musikalische Kommunikation und die soziale Interaktion begünstigte die Herausbildung einer sich einander anpassenden Elite. Werner Mosse spricht von einer »zusammengesetzten Elite«, welche sich durch ihr Konsumverhalten und ihre Distinktionsmittel zunehmend vom Kleinbürgertum, von Bediensteten und Arbeitern abgrenzte.3 Die Eliten überbrückten zwar nach 1850 viele soziale, politische und kulturelle Differenzen, doch auch die Bindekräfte musikalischer Aufführungen waren oft nicht in der Lage, Klassenschranken aufzu 2 Vgl. Blackbourn/Eley, Pecularities, 203 f. 3 Mosse, Adel und Bürgertum in Europa, 9–47. Vgl. Bourdieu, Unterschiede, und zur Verwendung dieses Konzept für die Publikumsforschung Kernbauer, Platz des Publikums.
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lösen. Damit spiegeln die sozialen Praktiken im Musikleben die Erkenntnisse des bestehenden Forschungsstands zur Bürgertums- und Adelsgeschichte.4 Ein Ertrag der Arbeit ist es, herausgefunden zu haben, wie und warum soziale Praktiken das Publikumsverhalten veränderten. Die Entstehung gemeinsamer Praktiken beförderte den sozialen Zusammenhalt im Publikum. Soziale Praktiken waren der gemeinsame Gebrauch der angebotenen Objekte und Möglichkeiten im Musikleben. Die Situationen im Konzertsaal oder im Opernhaus verwandelten Hörer in Akteure.5 Erwarb ein Hörer eine Praktik, dann erlernte er seine körperliche Bewegung, seinen Geschmack und seinen Konsum unter öffentlicher Beobachtung und konnte dadurch seine Handlungsfähigkeiten erweitern. Im Musikleben des 19. Jahrhunderts wurden nicht einzelne soziale Praktiken isoliert genutzt, sondern »lose gekoppelte Komplexe von Praktiken«6 wirkten gleichzeitig. Diese stimmte das Publikum, oftmals widerspruchsvoll und konkurrierend, aufeinander ab. Die Konzert- und Opernbesuche, die Lektüre der Zeitungen und die Forderungen des Publikums waren soziale Praktiken, mit deren Hilfe die Zuhörer eigene Interessen und Vorlieben artikulierten. Das Publikum muss mithin als ein soziales Phänomen von Gruppen erforscht werden und nicht durch den Blick auf einzelne Musikfreunde. Der amerikanische Komponist Aaron Copland betonte in seinem Buch »Vom richtigen Anhören der Musik« den Stellenwert der Zuhörer. »In der Praxis umfasst jede musikalische Situation drei bestimmte Faktoren: einen Komponisten, einen ausübenden Künstler und einen Hörer. Diese bilden ein Triumvirat, von dem kein Teil ohne den anderen vollständig wäre. Musik beginnt beim Komponisten, durchläuft die Vermittlung durch einen ausübenden Künstler und endet beim Hörer. Letztlich kann man sagen, dass alles in der Musik auf ihn, den Hörer, ausgerichtet ist.«7 Copland erkannte daher scharfsinnig dieses reziproke Verhältnis der Kommunikationsbeziehungen. Aus der Betonung der Rezeption folgt keinesfalls, dass die Komposition selbst nicht zählt. Vielmehr bestand auch im 19. Jahrhundert ein Wechselverhältnis zwischen dem Werk und dem Publikum, weil beide einander bedurften. Erst die Rezeption der Musik erschuf auch die Musik, da Komponisten 4 Vgl. aus der Fülle der Literatur und Debatten nur Schleuning, Bürger; Braun/Gugerli, Macht; Budde, Weg ins Bürgerleben; Zerback, Verbürgerlichung, 215–233; sowie die Beiträge in Kocka (Hg.), Bürgerlichkeit; Wehler, Europäischer Adel. 5 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik, bes. 31–57; Früchtl/Zimmermann, Ästhetik, 9–47. 6 Reckwitz, Theorie sozialer Praktiken, 282–301 (Zit. 295); ders., Toward a Theory, 245–265; Bourdieu, Die Logik der Praxis, in: ders., Sozialer Sinn, 147–179; sowie aus der Emotionsforschung den grundlegenden Aufsatz von Scheer, Kind of Practice, 193–220. 7 Copland, Anhören, 211.
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ihre Werke oft auf den Geschmack ihrer Hörer hin ausrichteten und dadurch eine Verbindung zwischen musikalischer Produktion und historischer Gesellschaft entstand. Die einzelnen Kapitel dieser Studie zeigten diesen krea tiven Spielraum musikalischer Aufführungen.8 Eine Besonderheit der sozialen Wirkung von Musik bestand darin, dass diese im Unterschied zu anderen Künsten vom Publikum erst durch den Rückgriff auf komplexe Wissensbestände verstanden werden konnte. Deutlich wurde der Stellenwert der Bildung in den entstehenden neuen Konzertserien. Hier bedurften die Musikfreunde einander und eigneten sich diese Kunstform als Mitglieder einer lernbegierigen Gemeinschaft an. Für manche Vereinsmitglieder der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien oder der Londoner Royal Philharmonic Society war der Konzertbesuch deshalb so wichtig, weil sie die Auffassung vertraten, dass nur ein erlerntes und trainiertes kulturelles Wissen den musikalischen Genuss ermöglichte.9 Unabhängig davon, ob es sich bei der Kategorie »Bildung« um ein typisch deutsches Phänomen handelt, oder der Begriff englische Übersetzungsmöglichkeiten wie »education« oder »culture« erlaubt, ist die Tatsache wichtig, dass auch englische Musikexperten und Konzertbesucher überhaupt keinen Zweifel am Klassencharakter einer guten »education« ließen. Die unterschiedlichen Bewertungen der Künstler durch das Publikum haben die ursprüngliche Annahme bestätigt, dass in erster Linie die Hörer selbst darüber entschieden, welcher Musiker im gesamten Spielbetrieb zum Genie erhoben oder als Gnom verspottetet wurde. Das erkannte bereits Friedrich Nietzsche, der sich vom Freund zum Feind Richard Wagners gewandelt hatte: »Die Deutschen haben sich einen Wagner zurechtgemacht, den sie verehren können: sie waren noch nie Psychologen, sie sind damit dankbar, dass sie missverstehn.« Und noch pointierter urteilte er über den Wagner-Kult, es sei »der Wagnerianer Herr über Wagner geworden«.10 Ist jeder Komponist daher eine reine Projektionsfläche, gar eine Erfindung des Publikums? Führte die Auseinandersetzung um ein Werk oder eine Gattung zu einem »anything goes«, zu einer Beliebigkeit der Rezeption? Vielversprechender als diese extreme Sicht dürfte die Frage sein, welche Aneignungen wahrscheinlicher waren als andere Interpretationen, wieso einige Deutungen größere Wirkungsmacht entfalteten als andere. Die Frage nach der »richtigen« oder »falschen« Rezeption einer Komposition führt 8 Auf diese Interaktion zwischen den Akteuren verweisen Ruppert, Moderne Künstler, 11–58; Sawyer, Music and conversation, 45–84, bes. 50 f. 9 Vgl. Spree, Streben nach Wissen; Bollenbeck, Bildung und Kultur. Grundlegend sind die Überlegungen von Koselleck, Einleitung, in: ders. (Hg.), Bildungsbürgertum, 11–46. 10 Nietzsche, Werke Bd. 2, 912; ders., Menschliches, Allzumenschliches, 323.
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nicht weit. Es gibt kein abschließend zu bewertendes Kunstwerk, keine Deutung, der nicht widersprochen werden kann. Der Blick richtete sich in den einzelnen Kapiteln deshalb auf das Verhältnis zwischen sozialer Distinktion, Disziplinierung, Geschmacksurteilen und kultureller Kanonisierung. Dabei bewertete das Publikum bestimmte Kompositionen und Genres dann positiv, wenn diese Stücke ihre Interessen in der Gesellschaft erfüllten. Nichts liebten die Eliten mehr, als den Erhalt und den Erwerb ihrer sozialen Beziehungen. Auch wenn viele Musikkenner begründeten, warum sie etwa eine bestimmte Sinfonie von Ludwig van Beethoven besonders liebten oder hassten: Künstler, Veranstalter und Hörer, in verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Spielstätten verfügen über jeweils andere Emotionen. Die Untersuchung des disziplinierten Hörverhaltens und der gewaltsamen Saalschlachten hat nicht nur die Wirkung konkurrierender Gefühle gezeigt, sondern auch die Tatsache belegt, dass langfristig bestimmte Emotionen durch andere ersetzen werden konnten. Zwar erschuf die gespielte Musik selten neue Emotionen, doch oft wurden bestehende Gefühle nicht einfach spontan, sondern strategisch eingesetzt, um eigene Interessen durch Provokationen durchzusetzen. Ein gutes Beispiel dafür sind die Kritiken mancher Bildungsbürger an den »falschen«, weil lautstark praktizierten Gefühlen der Adeligen beim Hören einer Komposition. Wahrscheinlich war es vielen in den Opernhäusern und Konzertsälen vollauf bewusst, dass es bei einem emotional geführten Streit beispielsweise nicht nur um das Engagement eines Sängers, sondern um eine soziale oder politische Machtprobe ging. Der intensive kulturelle Transfer zwischen den drei Metropolen und Gesellschaften in Europa lässt bemerkenswerte Gemeinsamkeiten erkennen. Dieser Befund gilt jedenfalls für Mittel- und Westeuropa. Trotz der fortbestehenden politischen und sozialen Unterschiede ist im Europa des 19. Jahrhunderts ein kultureller Angleichungsprozess zu beobachten. Diejenigen Musikliebhaber, welche um 1900 eine Konzert- oder Opernaufführung in Berlin, London und Wien besuchten, dürften nur noch wenige Unterschiede im Repertoire, im Verhalten und im Geschmack des Publikums erlebt haben. Im Laufe des Jahrhunderts bildete sich zwischen Mailand und Moskau ein europäisches Standardrepertoire heraus, das die Opern von Donizetti bis Wagner und die Sinfonien von Beethoven bis Dvořák umfasste. Die kulturelle Konvergenz im Musikleben in Europa insgesamt bestand auf vielen Ebenen. Diese Konvergenz überwölbte die Spezifika in den einzelnen Regionen West-, Mittel- und Osteruropas. Sie galt etwa für die Finanzierung des Spielbetriebs und die Ausgestaltung der Häuser ebenso, wie für das Repertoire, die Inszenierungen und die Auswahl der Künstler. Der Erwerb Bilanz | 369 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
teurer Eintrittskarten, die Gründung professioneller Sinfonieorchester und der Selbstzwang des Publikums waren Varianten einer ähnlichen sozialen Praxis in den Vergleichsstädten. Charakteristisch für den Musikbetrieb des 19. Jahrhunderts wurde zweierlei: Auf der einen Seite bildete sich ein verbindlicher musikalischer Kanon heraus, zu dem die großen Sinfoniker von Haydn bis Brahms und die Opernkomponisten von Mozart bis Verdi zählten; auf der anderen Seite entwickelten sich parallel dazu alternative, oder gar rivalisierende Genres und Stilformen. Der Musikbetrieb in einer Stadt setzte im Regelfall keine Standards für andere Orte. Zwar sind immer wieder zeitliche Verzögerungen und Lernprozesse zu erkennen. Londoner Musikfreunde beispielsweise orientierten sich zwischen 1850 und 1880 an dem in Berlin zuvor entwickelten Maßstab des schweigenden Hörverhaltens. In den meisten Fällen aber vollzogen sich trotz aller Wechselwirkungen die Diskurse, Vorlieben und Verhaltensmuster in den drei Metropolen parallel zueinander. Kennzeichnend dafür waren Konvergenzen und Variationen, seltener aber exakte Kopien anderenorts erfolgreicher sozialer Interessen und kultureller Utopien. Diese Geschichte des Musiklebens in Europa hat berücksichtigt, dass die Beziehungen zwischen Gesellschaften und Kulturen nicht anhand der vermeintlich getrennten Achsen von Transfer und Kommunikation einerseits und sozialer Machtkämpfe und politischer Antagonismen andererseits erfasst werden können.11 Konvergenz und Divergenz sollten nur selten als Antipoden in der europäischen Kulturgeschichte verstanden werden. Vielmehr ermöglichten auch Konflikte die musikalische Kommunikation. Gezeigt wurde in dieser Studie, dass das Konzept nationaler Abgrenzung und die Praxis europäischer Angleichung sich gegenseitig bedingten. Vieles spricht dafür, dass Aneignung durch Abgrenzung und Abgrenzung wiederum durch Aneignung erfolgte. Soziale Gemeinschaften im Musikleben auch als Produkte wechselseitiger kultureller Kommunikation zu begreifen, ist normativen Ansätzen, welche oft von einem einseitigen Transfer zwischen »fortgeschrittenen« und »rückständigen« Geschmäckern und Repertoires ausgehen, konzeptionell überlegen. Tatsächlich wird die Kultur einer Gesellschaft wesentlich durch Anverwandlungen neuer Praktiken, Präferenzen und Fähigkeiten geprägt.12 Folgt man Peter Burkes Konzept des kulturellen Austausches, dann rücken die Veränderungen des Tauschgutes, hier der Kompositionen und der Praktiken, eben durch den Prozess des Transfers 11 Vgl. zu diesen augenscheinlich getrennten Modellen Davis, What is Universal about History? 15–20, und den dagegen überlegenen Ansatz von Koselleck, Semantik, 402–461. 12 Vgl. Werner/Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung, 607–636; Espagne, Sur les limites, 112–121; Paulmann, Historische Literatur, 649–685; Ther, Beyond the Nation, 45–74.
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selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Mit der neuen Kontextualisierung geht immer auch Dekontextualisierung einher, mithin eine Veränderung kultureller Objekte als Folge ihrer jeweiligen Rezeption.13 Deutlich wurde in dieser Studie, dass es zwar markante Unterschiede im Publikumsverhalten im Europa des 19. Jahrhunderts gab, wichtiger aber die Unterschiede in den Gemeinsamkeiten waren. Eine auffällige Divergenz zwischen den Städten lag anscheinend in der Professionalisierung des Spielbetriebs. In Wien erhöhte sich seit den 1820er-Jahren der Ausbildungsstandard der Musiker schneller als in London. Auch in Berlin ersetzten die Konzerte professionell geschulter Musiker viele kleinere Aufführungen musikalischer Amateure. In den deutschen Städten, aber nicht in Großbritannien, entstand das neue schweigende Hörverhalten des bürgerlichen Publikums. Allerdings durften im Londoner King’s Theatre Adel und Bürgertum je nach persönlicher Präferenz nebeneinander sitzen, während sich die Wiener Hofoper noch im frühen 19. Jahrhundert durch eine verordnete räumliche Trennung der Schichten auszeichnete. Im Unterschied zur liberalen und politisch dynamischen Struktur des Londoner Musiklebens, sind gerade in Wien eine rigide Intervention des Staates und die relative politische Ohnmacht des Publikums zu beobachten. Trotz einer erheblichen Zunahme des musikalischen Angebots in Berlin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreichte die deutsche Hauptstadt lange Zeit nicht das wirtschaftliche Niveau und die Konsummöglichkeiten des Londoner Musikmarktes. Weit stärker als in Berlin und in Wien orientierten sich in London der Hof und das Großbürgertum an den Konsumbedingungen des freien Marktes, mithin an einem ohne Zuschüsse laufenden Spielbetrieb. Zwar stiegen die Kartenpreise in allen drei Städten, doch gerade in London wurde das Ausmaß der Klassenhierarchie zwischen den Musikkonsumenten sichtbar. Die Entwicklungen des Konzertlebens und der Opernaufführungen verliefen nach 1850 in Berlin, London und Wien in ähnliche Richtungen – die politischen und sozialen Gestaltungsmöglichkeiten des jeweiligen Publikums aber nicht. Der Aufstieg neuer bürgerlicher Eliten im Musikleben ist in London am leichtesten, in Berlin nur in Ansätzen und in Wien am schwersten zu beobachten. In London bestanden innerhalb der musikalischen Institutionen und im Publikumsverhalten größere politische Handlungsspielräume. Auch die Durchsetzung einer habituellen Freiheit und eines eigenen Geschmacksurteils gelang in London leichter als in Berlin und in Wien. Journalisten und Konzertbesucher unterschieden sich in den drei Metropolen 13 Burke, Kultureller Austausch, 9–40. Vgl. die Beiträge in Müller u. a. (Hg.), Oper im Wandel.
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in der Förderung der Kunstmusik nur relativ wenig voneinander, und die kulturellen Einflussmöglichkeiten des Bildungsbürgertums sind in Berlin hoch zu veranschlagen. Chancenreicher aber fielen die kulturellen Vorstöße, vor allem aber die gezielt genutzten politischen Provokationen der middle class im weniger staatlich-aristokratisch geregelten Großbritannien aus, weil die gesellschaftlichen bereits vor den musikalischen Reformen angelaufen waren. Über Musik zu schreiben sei so, wie über Architektur zu tanzen, meinte der amerikanische Jazzpianist Thelonius Monk. Historiker tanzen nicht und vermeiden es sicherheitshalber auch, über die Wirkung der Musik zu arbeiten. Ein Problem der Geschichtswissenschaft liegt darin, dass Historiker oft das schreiben, was Historiker schon lange geschrieben haben, bereits zu wissen glauben und oft nur variierend festhalten. Viele wählen vor allem die jenigen Themen und Probleme aus, die sie beantworten wollen, weil sie es können. Aus dem methodischen Konservatismus folgt umgekehrt aber nicht, dass sich neue Fragestellungen prägnanter als alte Fragestellungen beantworten lassen. Die vorliegende Geschichte der sozialen Praktiken und Verhaltensmuster des Publikums erbringt neue thematische und methodische Ergebnisse. Auf der einen Seite belegt die Studie den Stellenwert der sozialen Vergemeinschaftung der Elite in den musikalischen Aufführungen in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert. Zu bedenken ist, dass die skizzierten Strukturen und Veränderungen nicht immer die gesamte Gesellschaft prägten, sondern eher die Musikrezeption der Eliten erfassten. Auch wenn manchmal die Quellen es nicht ermöglichen, größere Differenzen im Konsum zu überprüfen, die genaue soziale Zusammensetzung des Publikums im Konzertsaal oder die Anzahl des hohen oder des niedrigen Adels exakt zu bestimmen, gelingt es, langfristige Entwicklungen zu verfolgen und die Wirkungsmacht des elitären Publikums in den Metropolen zu erforschen. Auf der anderen Seite öffnet sich jenseits der empirischen Erträge dieser Fallbeispiele mit der Publikumsforschung ein neues Themenfeld für die Geschichtswissenschaften. In den Vermittlungsmechanismen zwischen Aufführung und Rezeption liegt das für die Forschung interessante Potenzial. In einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive zählen primär nicht die Komposition und die Interpretation einer Partitur, sondern der interessengeleitete Umgang mit Musik im Kontext von Aufführung und Diskursen. Diese Arbeit kann die Vielzahl der skizzierten Parameter nicht in ihrer Gesamtheit erfassen, aber doch Perspektiven aufzeigen, wie durch die Beschäftigung mit der Musik neue Einsichten in die Geschichte sozialer Gruppen und kultureller Lernprozesse gewonnen werden können. Der Vergleich mit 372 | Rückblicke und Ausblicke © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
anderen Kunstformen könnte belegen, dass vor allem in der Musikrezeption persönliches Empfinden und gesellschaftliche Deutungen in einem besonders engen Verhältnis stehen. Vielleicht liegt auch darin der Erfolg der deutbaren Musik begründet. Die Kraft musikalischer Wirkung ist am Ende nicht so groß, dass sie die Gesellschaft »macht« – aber sie formt sie.14 Die Untersuchung der Praktiken veranschaulicht die Struktur einer Gesellschaft ebenso eindringlich wie eine Analyse der Produktionsverhältnisse oder der Wahlkämpfe. Musikalische Aufführungen sollten nicht allein als beiläufige Unterhaltung, sondern auch als potenziell relevante Phänomene betrachtet werden. Die Untersuchung des Publikumsverhaltens zeigt der Geschichtswissenschaft zumindest eines: Music Matters.
2. Ausblick: Das Publikum im 20. Jahrhundert – ein historisches Phänomen Musikalische Aufführungen blieben auch im 20. Jahrhundert Indikatoren für die Ordnung der Gesellschaft. Doch die Grenzen zwischen Konzert und Publikum, zwischen Künstlern und Konsumenten lösten sich noch schneller auf als zuvor. Die allabendliche Kommunikation in den Spielstätten litt unter einem Bedeutungsverlust, denn die Publika veränderten sich und mit ihnen nahm die Häufigkeit ab, mit der die Opernhäuser aufgesucht wurden. Viele Bürger und Adelige hatten unter den neuen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen von 1930 viel weniger Zeit, Musik zu genießen, als 1830. Die wachsenden kulturellen Angebote der Genres und der Spielstätten erschwerten den sozialen Zusammenhalt des elitären Publikums zusätzlich. Neue ästhetische Erlebnisse steigerten das Vergnügen vieler Hörer und ängstigten die respektierte Elite. Der neuen Musik begegneten die gebildeten Hörer mit ihrer Furcht vor dem Niedergang der etablierten musikalischen Ordnung. Nicht nur Arnold Schönbergs Zwölftonmusik erregte und erschütterte die Abonnenten sinfonischer Konzerte. Die Aufmerksamkeit der Experten der Kunstmusik richtete sich immer weniger auf die Chancen der neuen Ästhetik, unbekannter Genres und preiswerter zu konsumierender Medien. Immer eindringlicher versuchten die Verfechter der etablierten Kunstmusik, ihre tatsächlich oder vermeintlich bedrohten Werke und Werte durch einen Mittelweg zu erhalten, das Musikleben jenseits der Herausforderungen innerhalb 14 Bermbach, Opernsplitter, 239, verweist auf das methodische Potential einer noch zu schreibenden »musikalischen Gesellschaftsgeschichte«.
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der etablierten Bahnen zu bewahren.15 Schönberg selbst ärgerte sich über anpassungswillige Komponisten und defensive Freunde der Kunstmusik: »Der Mittelweg ist der einzige, der nicht nach Rom führt. Ihn aber benützen solche, die an den Dissonanzen naschen, also für modern gelten wollen, aber zu vorsichtig sind, die Konsequenzen daraus zu ziehen.«16 Die Periodisierung der Musik war und ist ein Produkt des Künstlers, der Veranstalter, des Publikums – und der Wissenschaftler. Das Problem liegt auf der Hand, und manches spricht dafür, dass sich Wandel und Kontinuität parallel vollzogen und sich gegenseitig bedingten. Demonstriert der Umgang des Publikums mit der Kunstmusik im 20. Jahrhundert neue Praktiken und Präferenzen? Inwieweit reichte die Reproduktion einhundert oder zweihundert Jahre alter Genres und Verhaltensmuster ins 20. Jahrhundert hinein? Hier wird die Überlegung vertreten, dass die Kunstmusik des 19. Jahr hunderts (die Institutionen, Genres, Kanons und Praktiken) durch die sozialen und medialen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts am Leben erhalten wurde. Auf die Pluralisierung traf die gegenläufige Entwicklung der Generalisierung. Der Überblick des Publikums nahm im 20. Jahrhundert zu, sein Einblick jedoch ab. Weil die Musikkultur sich immer stärker ausdifferenzierte, wurden diejenigen Stimmen lauter, die sich gegen die kulturelle Diversifikation wandten. Die Musikkultur nach 1900 bediente den soziologischen Allgemeinplatz, nach dem alles mit allem zusammenhängt.17 Die verschiedenen Genres der Musikkultur existierten nicht nur in voller Blüte nebeneinander, sie zeichneten sich auch dadurch aus, dass die Kulturtransfers zwischen Europa und den USA und zwischen West- und Osteuropa zu einer weiteren Angleichung der sozialen Praktiken führten. Um die Veränderungen des Musiklebens vom 19. ins 20. Jahrhundert zu erkennen, kommt es weniger darauf an, die Ablösung etablierter, als vielmehr die Ausformung neuer Praktiken und Rezeptionsformen zu beschreiben.18 So entstand zum einen ein neues Zusammenspiel zwischen den Künsten, den Produzenten und den Konsumenten mit dem Ergebnis einer Gewichtsverschiebung hin zur größeren medialen Präsenz der Musik (Schallplatten, Radio, Filme). Auf der anderen Seite aber verfestigte sich die 15 Vgl. Maase, Vergnügen, bes. 38–154; Geisthövel, Tonspur, 157–168; Baumeister, Nation, 150–155; die Beiträge in Schutte (Hg.), Vom Leben singen; und im Rückblick Russell, Popular Music; Klotz, Lachtheater; Möller, Kunst, 19–33. 16 Schönberg, Drei Satiren, Vorwort. 17 Vgl. Sterne, Audible Past, 1–29, 335–351; Riethmüller, Geschichte, 105–164; van der Loo/van Reijen, Modernisierung, bes. 11–43, Wehler, Modernisierungstheorie; und insges. die Beiträge in de la Motte-Haber/Neuhoff (Hg.), Musiksoziologie. 18 Vgl. den Längsschnitt bei Müller, Analysing Musical Culture, 833–857.
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Tradition. Die gebildeten Abonnenten der Sinfoniekonzerte und die leidenschaftlichen Aficionados der Opernhäuser verteidigten ihre ästhetischen und sozialen Besitzstände. Die wachsenden Möglichkeiten technischer Reproduktion setzten der ehemals notwendigen Gleichzeitigkeit zwischen der Produktion einer Operette oder einem Konzert und ihrem Konsum ein Ende. Opern- und Konzerthäuser büßten die Monopolstellung als vorrangige Orte des öffentlichen Musikkonsums ein. Die neuen technischen Medien versorgten nun vor allem den privaten Bereich mit Gesang, Konzert und Tanzmusik. Musik prägte den kollektiven Konsum und die individuelle Rezeption in Form eines Erlebnisses, das vorher fast ausschließlich öffentlichen Orten vorbehalten war. Die wachsende Vielfalt neuer Tonträger und Musikstile erforderte immer weniger spezielle kulturelle Kenntnisse und erleichterte einem immer zahlreicheren Publikum der Unterhaltungsmusik dadurch den sozialen Zugang. Im Unterschied zum bildungsbürgerlichen Klassikkonsum konnte nun auch ein sozial heterogen zusammengesetztes, ärmeres Publikum zunehmend die Aufführung und die Auswahl, ja, auch den Umgang mit ihrem präferierten Musikgeschmack selbst bestimmen. Bill Haley sprach weit mehr Hörer an als Joseph Haydn.19 In der Mitte des 20. Jahrhunderts gab es viele ironische und gescheiterte Adaptionen der Oper wie des Konzertes im Film, auf dem Schall plattenmarkt, in Karikaturen – und im bürgerlichen Vereinsleben. Ein bislang ungekanntes ästhetisches Niveau erreichte der musikalische Kitsch in der Bearbeitung von Siegfrieds Trauermarsch (Götterdämmerung) für Akkordeonorchester beim Niederdeutschen Gau-Akkordeon-Treffen 1954 in Westfalen. Vielversprechender waren die musikalischen Pläne Walt Disneys. Nach seinem Besuch in Bayreuth 1962 überlegte er, den Ring des Nibelungen in einen auf vier Abende verteilten Trickfilm zu verwandeln. Glaubt man Herbert Rosendorfer, dann war Mickey Mouse für den Siegfried, Donald Duck für den Wotan und Daisy für die Brünnhilde im Gespräch. Dieses cineastische Bühnenweihfestspiel scheiterte durch Disneys Tod. Doch Bugs Bunny gelang das, was Mickey Mouse nicht gelingen sollte. 1957 brachte der amerikanische Regisseur Chuck Jones eine sechsminütige Kurzfassung des Rings als Zeichentrickfilm (»What’s Opera Doc?«) heraus. Vielleicht wirkte die Brünnhilde durch die opernhafte Leistung des Hasen Bugs Bunny ergreifender als in Wagners Musikdramen.20 19 Vgl. Riethmüller, Geschichte, bes. 47–68; Taruskin, History Bd. 4, 549–560, 599–616; insges. die Beiträge in Geisthövel/Knoch (Hg.), Orte der Moderne. 20 Vgl. Rosendorfer, Bayreuth, 47 f.; Lerner, Bugs Bunny Nips, 210–224.
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Um die musikalische Vervielfältigung im 20. Jahrhundert nicht allein auf die neuen Medien zu beschränken, lohnt ein Blick auf die wachsende Kommerzialisierung und Popularisierung der Kunstmusik. Es ist erstaunlich, wie intensiv die musikalische Nachwelt das Genie »Mozart« nicht nur verklärte, sondern auch konsumierte. Flughäfen (Salzburg) und Bahnhöfe (Odessa) führen seinen Namen, anspruchsvolle Luxusartikel wie das »Eau de Parfume Mozart« und ein Montblanc Füllfederhalter reizen die Kauflust, flankiert von der gleichnamigen Bettwäsche.21 Natürlich kommt auch Beethoven nicht zu kurz, es gibt sogar einen gleichnamigen Einschlagkrater auf dem Planeten Merkur und einen penetranten Familienfilm unter dem Titel »Ein Hund Namens Beethoven« (1991). Der Übergang von der Vervielfältigung zur Tradition offenbart kein optimistisch stimmendes Ergebnis. Welche Musik auch immer das 20. Jahrhundert bestimmte – es waren weniger die Raritäten oder die Überraschungen, welche das Publikum bewegten. Ob in Berlin oder in London, ob in Paris oder in Wien, die Konservierung von Praktiken und Wissensbeständen ersetzte die Neugier und den Wissenseifer. Der Mehrheit im Opern- und Konzertpublikum kam es darauf an, ihre liebgewonnenen Institutionen und Distinktionen, ihre Künstler und ihre Kanons gegen die Herausforderungen der zeitgenössischen Musik zu schützen, den erworbenen Bestand gegen die kulturelle Avantgarde, das sogenannte Regietheater oder die soziale Opposition zu verteidigen. Warum veränderte sich der Umgang mit klassischer Musik immer langsamer in der an kulturellen Umbrüchen so reichen Zeit? Die nicht nur begrenzte, sondern in ihrer Bilanz rückläufige gesellschaftliche Reichweite der Kunstmusik resultierte aus einer zunehmend problematisch gewordenen Überschneidung kultureller Addition und Tradition. Die Aneignung klassischer Kunstmusik stand in einem Wechselverhältnis von affirmativen Wiederholungen und kontroversen Neuschöpfungen. Vielleicht lag genau in diesem Spannungsverhältnis der begrenzte Erfolg: Die klassische Musik ließ sich leicht weitererzählen und passte sich den Veränderungen der Gesellschaft an. Das bürgerliche Musikleben nach dem Ersten Weltkrieg wurde durch einen fehlenden Neuanfang gekennzeichnet. Die vielleicht wichtigste kulturelle Tendenz war der Rückzug auf traditionelle Kulturkonzepte und Praktiken. Die Spielpläne im Opernhaus und im Konzertsaal konservierten die Werke die zwischen dem späten 18. und dem ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden waren. Das Publikum kultivierte die immer gleichen Sinfonien und Streichquartette und quälte seinen Nachwuchs in den Musikschulen 21 Vgl. Böning/Claus (Hg.), Einsteins, 56.
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mit der Kunst der Fuge und dem Liedgesang. Im Rahmen ihrer kulturellen Orientierungsmaßstäbe schlossen sich diese Musikliebhaber beinahe direkt den Kulturvorstellungen ihrer Vorfahren an. Genau deshalb fokussierte das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum sich auf ein in jeder Hinsicht eng definiertes Musikrepertoire. Von einer Reise durch das deutsche Konzertleben berichtete der Tanzexperte Horst Koegler noch im Jahre 1957, dass das Repertoire der zeitgenössischen Musik – die in manchen Städten schon bei Anton Bruckner beginne – auf den größten Widerstand beim durchschnittlichen Konzertpublikum träfe.22 Das Repertoire unterschied sich von früheren Programmen oft nur dadurch, dass die Werke von wenigen handverlesenen Komponisten aufgeführt wurden. Als akzeptabel bewertete das Publikum ab den 1950er-Jahren die Kompositionen von Gustav Mahler, Benjamin Britten und Dimitri Schostakowitsch – György Ligeti und Karlheinz Stockhausen bekamen kaum eine Chance. In den 1920er- und 1930er-Jahren erregten diejenigen zeitgenössischen Komponisten positive Aufmerksamkeit, denen es gelang, die neue technische Umwelt musikalisch zu reproduzieren. Innovativ waren die Sujets, selten aber die musikalischen Mittel: Arthur Honegger vertonte die Fahrt einer Dampflokomotive (Pacific 231), Kurt Weill verwirklichte in einer Kantate Charles Lindberghs Atlantikflug, und Dimitri Schostakowitsch orchestrierte den Tanzschlager »Tea for Two« (Tahiti Trot).23 Die »Klassik« im 20. Jahrhundert zu kultivieren, bedeutete nicht nur die Wiederholung der immer gleichen Kompositionen. Auch die Musikkonsumenten rekrutierten sich aus lange bestehenden, sich selbst reproduzierenden Hörergruppen. Theodor W. Adorno hat in seiner Musiksoziologie acht verschiedene Hörertypen bestimmt. Er lenkte dabei seinen Blick auf die unterschiedlichen Qualitäten der sinnlichen Wahrnehmung und darauf, dass sich diese Qualitäten durch den gesellschaftlichen Austausch und die kulturelle Allgegenwart zunehmend neutralisierten. Die in absteigender Hierarchie geordnete Hörertypologie reicht vom beruflich geschulten Experten und dem guten Hörer hinab zum Unterhaltungshörer und dem Unmusi kalischen. Dazwischen platziert Adorno den hier besonders interessanten 22 Koegler/Enkelmann, Ballett, 2. Folge. Nikolaus Harnoncourt, Klangrede, 14, bemerkte über die Historisierung des Repertoires: »Würde man heute die historische Musik aus dem Konzertsaal verbannen und nur moderne Musik aufführen, wären die Säle bald verödet – genau das gleiche wäre aber zu Mozarts Zeit passiert, wenn man dem Publikum die zeitgenössische Musik vorenthalten und nur alte Musik vorgesetzt hätte.« 23 Vgl. die Beiträge in Heister (Hg.), Geschichte, 53–133; Ziemer, Moderne, 365–371, u. passim; Müller, Neuanfang, 255–268; Türcke, Gesellschaft, 88–120; sowie insges. Wehler, Bürgertum nach 1945, 617–634.
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dritten Hörertypus, den »Bildungskonsumenten«. Dieser respektiere Musik als Kulturgut, welches man allein schon um der sozialen Geltung willen zu kennen habe. »Das spontane und unmittelbare Verhältnis zur Musik … wird substituiert dadurch, dass man so viel wie nur möglich an Kenntnissen über Musik, zumal über Biographisches und über die Meriten von Interpreten anhortet, über die man stundenlang nichtig sich unterhält. … Er konsumiert nach den Maßstäben der öffentlichen Geltung des Konsumierten. … Sein Milieu ist das obere und gehobene Bürgertum, mit Übergang zum kleinen; seine Ideologie meist wohl reaktionär kulturkonservativ.«24 Gnadenlos grenze sich der »Bildungskonsument« von der größten Gruppe der Musikfreunde ab, den Unterhaltungshörern. Der Intellektuelle Adorno sparte nicht mit seiner Verachtung für diese Kenntnislosen und bezeichnete derartige Hörer als Produkte der Kulturindustrie, als schwache Menschen, welche Musik ohne Sinnzusammenhang allein als Reizquelle genössen. Diese Musik bestätige die Gesellschaft, die sie unterhält. Deshalb gebe es hier so viel heitere Musik, deshalb fehle es bei diesen Hörern an sozialer Opposition. Polemisch verweist Adorno auf die in dieser ungebildeten Hörergruppe gerne konsumierten, gefälligen und verkürzten Auszüge aus der IX . Sinfonie oder aus Carmen. Weder ästhetisch noch stilistisch sei das Ende dieses musikalischen Abgesanges zu erkennen: »Nach unten setzte sich das fort in schlechter Unendlichkeit, über die gamsbart-geschmückte synthetische Volksmusik fürs platte Land, bis hinab zur Hölle des Humors.«25 Die Schärfe dieses soziologischen Urteils ist vielleicht stilistisch zu bemängeln, und es wurde von der laufenden Forschung durch weit feinere Analysen auch empirisch relativiert. Dennoch verweist Adorno mit Recht auf das »musikalische Problem« sozialer Ungleichheit im 20. Jahrhundert und die sich anbietenden staatlichen Reformmaßnahmen. Staatliche Kulturpolitik in Europa zielte nach 1945 fast durchweg auf eine Öffnung des Opernhauses und des Konzertsaales für möglichst breite Publikumsschichten, um mit dem Erbe einer sozialen Elite zu brechen und den demokratischen Kulturauftrag zu erfüllen. Eine »populäre Oper« versprach dem Staat politische Handlungsmacht und ärmeren Musikliebhabern elitäre Lebenschancen.26 In der sozialen Dimension der kulturellen Krisen spiegeln sich aber nicht nur die anhal
24 Adorno, Einleitung, 14–34 (Zit. 20 f.). Zu einem durchaus ähnlichen Urteil kam bereits 1893 George Bernard Shaw, Music in London III, 33–38. 25 Ebd., 72–89 (Zit. 77). 26 Grundlegend für die politische Analyse der Opernkrisen in Berlin, London und Paris am Ende des 20. Jahrhunderts ist die Arbeit von Zalfen, Staats-Opern. Vgl. dies., Crisis of Culture, 273–286; dies., Demokratisch, 108–125.
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tenden Schwierigkeiten, breitere Hörerschichten musikalisch zu beglücken. Vielleicht scheiterte die Neuausrichtung der klassischen Musikkultur im 20. Jahrhundert auch durch ihre Suche nach bildungsbürgerlichen Mehrheiten in der Bevölkerung. Das Opernpublikum stellt auch im späten 20. Jahrhundert lediglich eine Minderheit in der Bevölkerung dar. Ein Blick auf die soziale Schichtung des Opernpublikums in Deutschland ergibt gleichsam den Idealtypus eines musikliebenden Bildungs- und Wirtschaftsbürgers – sei es im Abonnementkonzert oder bei den Bayreuther Festspielen: Demnach ist der typische Opernbesucher über 40 Jahre alt, verfügt über einen hohen Bildungsgrad und zählt zu den gehobenen bürgerlichen Berufsgruppen mit einem relativ hohen Einkommen und Besitz. In dieser Gruppe dominieren die pädagogischen (Lehrer, Hochschullehrer) und die freien Berufe (Ärzte, Juristen, Ingenieure). Eine Umfrage unter den Besuchern der Leipziger Gewandhauskonzerte im Jahre 2001 erbrachte ähnliche Resultate.27 Die klassische Musik unterlag im 20. Jahrhundert einer Historisierung. Die Selbstbetrachtungen und die Handlungen des gebildeten Publikums sind Geschichten der Rekonstruktion. Rekonstruiert wurden die musikalische Vergangenheit, die Institutionen, das Repertoire und die Verhaltensregeln. Denn die musikalische Vergangenheit schien diesem Weltbild folgend der Gegenwart in beinahe jeder Hinsicht überlegen zu sein, weshalb sie regelmäßig und wiederholend studiert werden müsse. Amerikanische Kritiker klagen über Philip Glass, den überraschend erfolgreichen Komponisten der zyklisch angelegten »minimal music«, dass seine gesellschaftliche Reputation aus seiner musikalischen Repetition resultiere. Dieses Urteil verfehlt vermutlich Glass’ Leistung, trifft aber die willentlich herbeigeführte Historisierung der Kunstmusik und ihrer Aufführungen im 20. Jahrhundert. Die Berufung auf eine aus der jeweiligen Gegenwart heraus konstruierte Idealität im Vergangenen ist eine »Invention of Tradition« par excellence. Denn die in der Werktreue imaginierte Tradition ist nicht die Vergangenheit der Musik selbst, sondern der Versuch, die Gegenwart durch die Vergangenheit zu legitimieren. Im Konflikt zwischen der Interpretation 27 Das Leipziger Konzertpublikum war im Vergleich zum Publikumsdurchschnitt älter (durchschnittlich 56 Jahre), gebildeter (67 % verfügten über einen Hoch- und Fachhochschulabschluss) und einkommensstärker (4.553 DM Netto, monatliches Haushaltseinkommen). Vgl. dazu die Beiträge in Glogner/Föhl (Hg.), Kulturpublikum. Wichtig ist auch das Resultat einer Untersuchung des Publikums der Bayreuther Festspiele aus dem Jahr 1996, Gebhardt/Zingerle, Pilgerfahrt, 77–87, 123–128. Die Antworten der Befragten zeigen, wie dominant nach wie vor Elemente eines traditionell-bürgerlichen Bildungskanons im Publikum sind.
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alter Musik mit den Mitteln der Gegenwart findet eine Verortung von Musik in einer bestimmten Geschichtsauffassung statt.28 Erkennbar ist eine Historisierungsfalle, die das Repertoire und den Geschmack der Vergangenheit auf die Musikkultur der Gegenwart projiziert. »Wir beherrschen das 19. Jahrhundert noch nicht; es beherrscht zum großen Teil uns«, erkannte der Musikwissenschaftler Kurt Westphal schon 1928 in einem Artikel.29 Bereits die Ausrichtung, ja, die Erfindung der Kunstmusik anhand bestehender gesellschaftlicher Kategorien ist ein Erbe des vorvergangenen Jahrhunderts. Die Traditionszwänge der Vergangenheit bestehen auf vielen Ebenen. Das Publikum der Konzert- und Opernhäuser konserviert in Form eines musikalischen Museums den Umgang mit der Musik des 19. Jahrhunderts. Ob in Berlin oder Wien, ob in London oder Paris, gespielt wurde mit wenigen Ausnahmen im Jahre 1970 dasselbe Repertoire wie 1870. Zwar werden heutzutage so viele zeitgenössische Kompositionen wie nie zuvor gespielt, doch verschwinden sie beinahe alle nach ihrer Uraufführung aus dem Spielplan. Die tradierten musikalischen Institutionen funktionieren nach wie vor, sie werden frequentiert von ähnlich elitären Besuchergruppen und kultivieren etablierte Verhaltensregeln. Der Zusammenhalt dieser Musikfreunde ist ein Ertrag der wiederholten Einübung des kulturell Normativen. Körperliche Passivität im Konzertsaal und ästhetischer Konservatismus im Pausengespräch entsprechen einander. Helmut Qualtinger wunderte sich darüber, dass man in Wien erst sterben müsse, bevor die Nachkommen einen hochleben ließen, genau dadurch aber lange lebe. Dieses Wiener Bonmot charakterisiert treffend die musikalische Erinnerungskultur im Europa des 20. Jahrhunderts. Wieland Wagner diskutierte 1962 in seinem Aufsatz »Denkmalschutz für Wagner?« die Möglichkeiten, wie sich das musikalische Erbe Bayreuths bewahren lasse.30 Und selbst ein Verfechter zeitgenössischer Musik, der Dirigent Michael Gielen, bis 1987 der Leiter der Museumskonzerte in Frankfurt am Main, sah den Zweck des Sinfoniekonzertes an diesem Ort darin, »ein Stück Geschichte durch seine Musik lebendig zu machen«.31 Die Vermittlung von Kunstmusik wird im 20. Jahrhundert immer intensiver, aber es gibt weniger zu vermitteln. Statt von einem Kulturtransfer im klassischen Musikbetrieb des 20. Jahrhunderts auszugehen, ist es besser, von kulturellen Konventionen zwischen den Städten und Ländern in Europa zu 28 Das ist das Argument von Sarah Zalfen, in: Brunner/Zalfen, Werktreue. 29 Westphal, Das neue Hören, 352–354 (Zit. 354). 30 Wagner, Denkmalschutz für Wagner?, 175–181. 31 Zit. n. Ziemer, Moderne, 368 f.
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sprechen, von einer Fortsetzung des Musikkonsums des 19. Jahrhunderts. Was sollten etwa die Besucher eines Konzertes von Alfred Brendel in der Londoner Royal Festival Hall im Mai 1995 vom ästhetischen Rang der drei letzten Klaviersonaten Beethovens halten, wenn sie wussten, dass Maurizio Pollini am gleichen Ort die gleichen Stücke nur vier Wochen später interpretieren würde? Noch im Sommer gab Pollini Beethovens viertes Klavierkonzert G-Dur in verschiedenen europäischen Konzerthallen, mithin das gleiche Werk und von ihm auf die gleiche Weise gespielt, nur von anderen Orchestern begleitet.32 Auch die neuen Tonträger des 20. Jahrhunderts festigten die Grenzen dieses musikalischen Museums aus dem 19. Jahrhundert eher, als sie zu überwinden. Die preiswert zu nutzenden Medien stellten in Aussicht, dass die Hörer überhaupt keine persönliche Beziehung zu den Musikern haben müssten, dass das Zufällige einer Aufführung glücklicherweise verschwände. Denn gerade durch die Sammlung von Schallplatten und CDs verstärke sich die Übereinstimmung zwischen dem Kanon einer tatsächlichen Aufführung und dem wiederholenden Hören dieser akustisch gesicherten Bibliothek.33 Es sind nicht nur konventionelle Bildungsbürger, die heute Unmengen von Klassik-CDs horten. Auch Großunternehmer sehen sich in der Lage, große private Sammlungen von Tonträgern anzuhäufen. Alfred Krupp trug ab 1954 über 5.000 Schallplatten, 2.000 Tonbänder und 800 große Studiorollen zusammen. Diese vielschichtige Akustiksammlung reichte von der Gregorianik bis hin zu Stockhausen und umfasste nahezu das gesamte Schallplatten-Repertoire der Klassik. Allein von Beethovens IX . existierten darin 34 verschiedene Aufnahmen, von der fünften Sinfonie sogar 39 Schallplatten. Krupp investierte mehr Zeit darin, diese Musikkonserven zu pflegen, als sie zu hören. Auf 9.000 fachmännisch angelegten und von ihm selbst beschriebenen Karteikarten archivierte er das für ihn Besondere einer jeden Einspielung. Glücklicherweise vererbte man dieses private Klangarchiv nach seinem Tod 1967 dem öffentlichen Klangarchiv der Folkwang-Hochschule in Essen.34 Wenn die Vergangenheit der Musik in die Gegenwart zurückgeholt wird, stellt sich die Frage, was von der Struktur der Kompositionen übrig bleibt. Inwieweit haben die gesellschaftlichen Traditionszwänge das Repertoire einerseits und die musikalische Rezeptionsmöglichkeit andererseits beschädigt? Auf diese gefährdete Identifizierung der Kunstmusik verweist der vielleicht 32 Darüber wunderte sich in seinen Rezensionen auch Edward Said, Musik, 52–60. 33 Vgl. Botstein, Music, 49–55; Ziemer, Moderne, 365–371; und die Beiträge zum bürgerlichen Konzertleben in der Bundesrepublik in Tröndle (Hg.), Konzert. 34 Vgl. den Bericht in der »Zeit« vom 24.5.1974.
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wichtigste Protagonist einer an den Klängen und Instrumenten des 18. Jahrhunderts geschulten Aufführungspraxis: Nikolaus Harnoncourt. Seit 1959 wirkt Harnoncourt als Dirigent, Organisator und Wissenschaftler, um vor allem alte Musik als lebendige Sprache zu verbreiten. Nach seiner Auffassung reduziere die musikalische Gegenwart sich beschämend phantasielos auf die Sprache des bereits Gesagten. Musik habe eine große Bedeutung, »aber nicht, indem wir sie historisierend wiedergeben und quasi einen Museumsbesuch machen. … Das ist wirklich nicht interessant«.35 Optimistisch für die Gegenwart stimme, dass die Musik Menschen verändere, die Hörer wie die Musiker. Das heiße für die Geltung der Musik, sie verändere den, der sich damit befasst. Und das helfe nicht nur dem Publikum, es nütze der Musik. Die Frage bleibt, ob das Publikum sich für eine Form des Spielbetriebs entschieden hat, welche der Musik immer weniger Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Wie weit behindert die historische Kehrtwende im 20. Jahrhundert und der Ausschluss eines größeren Publikums die Chancen der Kunstmusik in der Zukunft? Statt einer Bilanz beschließt eine Beobachtung über den reaktionären Modernismus im »klassischen« Musikleben diese Überlegungen. Weder Herbert von Karajans Konzerte noch Patrice Chéreaus Inszenierung des Bayreuther Rings markieren für die Kunstmusik im 20. Jahrhundert einen Aufbruch zu neuen Horizonten. Nach wie vor stiegen – und steigen – Dirigenten auf ästhetische Gipfel, begegnen Konzertveranstalter verborgenen Schätzen und suchen Opernregisseure nach interpretatorischen Visionen. Überraschend ist der oft nicht einmal wahrgenommene Bruch zwischen saturierter Vorwärts- und zugleich praktizierter Rückwärtsorientierung. Das Gesamtkunstwerk lebt nur in der Vision eines Absoluten, das sich dem Zugriff entzieht.36 »Kinder! Macht Neues! Neues! Und abermals Neues! – Hängt Ihr Euch an’s Alte, so hat Euch der Teufel der Inproductivität und ihr seid die traurigsten Künstler!« schrieb Richard Wagner am 8. September 1852 an Franz Liszt.37 Seine Beobachtung traf akkurat das Problem des musikalischen Konservatismus. Doch leider erfüllte sich gleichermaßen auch seine Prognose der modernisierungsfeindlichen »Inproductivität«. Der Erfolg des künstlichen Musiklebens im 20. Jahrhundert verursachte sein Scheitern. Zu op-
35 Harnoncourt im Interview mit Wolfgang Stähr, Reise, 7 f. Vgl. Harnoncourt, Klangrede 9–31; ders., Dialog; insges. Konrad, Musik, 91–100; Paddison, Music as Ideal, 318–342; Hinrichsen, Kunstwerk, 67–87. 36 Vgl. Bermbach, Wahn des Gesamtkunstwerks; Mayer/Preimesberger (Hg.), Boulez. 37 Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. 4, 460.
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timistischen Zukunftsperspektiven besteht wenig Anlass. Vielleicht begegnet die klassische Musik zukünftigen Besuchern ihres Museums nur noch als Mumie. Richard Wagner brachte weitsichtig dieses musikalische HappyEnd ohne ein wichtiges Gegenmotiv, ohne eine Zukunft auf den Punkt. Eine Warnung aus der Schlussszene des Rheingoldes prophezeit die Grenzen der klassischen Musikkultur und ihres historischen Publikums: »Alles, was ist, endet.«
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Bildnachweis 1.
»Das neue Opernhaus in Berlin: Aussicht auf die Bühne«, in: IZ 8.3.1845, 152.
2.
Joseph Maximilian Kolb, Stich der Hofoper in Berlin 1850, Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin.
3.
The Royal Italian Opera House Covent Garden, 1861, Druck, in: Covent Garden Album, 83.
4.
»Interior of the Proposed Royal Albert Hall«, in: ILN, 24.5.1867, 516.
5.
»A Descriptive Plan of the New Opera House, with Names of the Subscribers to Each Box Taken from the Theatre Itself by a Lady of Fashion (London 1782–83?), London, BL 639 e 27/5.
6.
»Interior of the Italian opera-house«, in: ILN, 22.7.1843, 56.
7.
»Ancient Concerts – A Rehearsal, Duke of Wellington Conducting«. Lithographie von HB (=John Doyle). 10.5.1838, London, RCM.
8.
»Enthüllung des Beethoven-Monuments zu Bonn am 12. August 1845.«, in: IZ, 20.9.1845, 181.
9.
Olaf Gulbransson, »Zum 100. Geburtstag Richard Wagners oder Höher geht’s nimmer« (zum 22.5.1913), Karikatur, in: Simplicissimus 18, 9.6.1913.
10.
»In unserer Oper – werden die Freya und der Wotan bald so aussehen?«, in: Kikeriki, 17.1.1901.
11.
Paganini spielt in Berlin 1829. Ungenannter Karikaturist, Bildarchiv preußischer Kulturbesitz, Berlin, in: Ribbe, Berlin II, 539.
12.
Theodor Hosemann, Franz Liszt bei einem Konzert in Berlin 1841/42 (Titelkupfer Adolf Brennglas), in: Berlin wie es ist und – trinkt, Leipzig 1842, Heft 14. Berlin, Märkisches Museum, 4239/14659.
13.
Jenny Lind in Hamburg, Lithographie 1845, Ungenannter Karikaturist, Hamburg, Museum für Hamburgische Geschichte, Kupferstichkabinett.
14.
»Italian opera fashions«, in: Punch 12 (1847), 194.
15.
Fritz Scheinpflug, »Caruso-Fieber«, Die Muskete, Wien 1907, in: Worbs, Dampf konzert, 271.
16.
Ankündigung Theatre Royal, Covent Garden, 13.11.1833, Gustav III. London, BL: CarrGlynn Collection of Playbills, Covent Garden, Playbill 357.
384 | Bildnachweis © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
17.
»Der Brand des Opernhauses in Berlin«, in: IZ, 16.9.1843, 177 (Titelseite).
18.
»Queen Victoria visits the ruins in March 1856 in the company of Frederick Gye«, in: ILN, 15.3.1856, 276.
19.
»Der Ausbruch des Brandes im Ring-Theater«, in: NWB, 11.12.1881 (Titelseite).
20.
Fernand Khnopff, En écoutant du Schumann (1883), Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel.
21.
»Jullien’s Concert Orchestra and four military bands, at Covent Garden Theatre«, in: ILN, 7.11.1846, 297.
22.
Jullien im English Opera House, Abb. aus der ILN 1843, in: Schwab, Konzert, 108.
23.
»Satyrisches Bild, Ein Concert im Jahre 1846«, Österreichische Nationalbibliothek Wien, Wiener Kopie einer Zeichnung von Grandville, in: Berliner Philharmoniker, Magazin, Nov.-Dez. 2003 (Titelblatt).
24.
»Das nächste Schönberg-Konzert«, Ungenannter Karikaturist, in: Die Zeit, 6.4.1913.
25.
»Her Majesty’s state-box at the Royal Italian Opera, Covent Garden«, in: ILN, 29.7.1848, 56.
26.
»Annehmlichkeiten für durchreisende Potentaten«, in: Kikeriki, 10.6.1869.
27.
Staatsbesuch Kaiser Napoleons III. in London 1855. Covent Garden Royal Italian Opera House, Lithographie, London, Museum of London, HIP.1279.
28.
»The Royal Actress’s Debut«, in: Figaro in London, 25.11.1837.
29.
George Cruikshank, »Vide the Opera boxes« (1817), London, British Museum, Satire 12950.
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Dank »Wer dem Publikum hinterherläuft, sieht doch nur dessen Hinterteil«, befand Johann Wolfgang von Goethe. Leider verkennt diese Ansicht, dass die Beschäftigung mit dem Publikum der Forschung neue Chancen eröffnet. Deshalb ist es aufschlussreich zu versuchen, auch dem Publikum der Vergangenheit ins Gesicht zu schauen, in seinen Bewegungen, Interessen und Verhaltensmustern Ungekanntes zu entdecken. Eine Geschichte der Musikrezeption kann nur dann erfolgreich sein, wenn man vermeintlich Harmloses permanent in Frage stellt. Erste Ideen zu diesem Buch entstanden wahrscheinlich beim Besuch vieler Konzert- und Opernaufführungen. Ich staunte über das Verhalten des Publikums, über sein emotionales Engagement, vor allem aber über seine Fähigkeit und Unfähigkeit, die Aufführungen und die Künstler zu bewerten. Die herrschenden Publikumsinteressen, dessen Gefühle und Praktiken machten mich neugierig darauf, diese aus einer geschichtswissenschaftlichen Sicht heraus zu untersuchen. Ulrike Jureit war die Erste, die sich bei einem langen Spaziergang meine zunächst völlig skizzenhaften Ideen anhörte und ihre Gedanken beisteuerte. Die Forschung an meinem Projekt unterstützten viele Kolleginnen und Kollegen am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Ute Frevert machte mir eindrucksvoll deutlich, dass die Emotionsforschung der Geschichtswissenschaft neue Perspektiven eröffnet. Bereichert haben mich die Diskussionen in den Kolloquien und auf den Konferenzen meiner Forschungsgruppe »Gefühlte Gemeinschaften. Emotionen im Musikleben Europas«. Kluge Ratschläge gaben mir Pascal Eitler, Margrit Pernau, M onique Scheer, Jan Plamper und Juliane Brauer. Sehr gute Arbeitsbedingungen fand ich am European University I nstitute in Florenz und an der Universität Bielefeld. In zwei Verbundprojekten (»Oper im Wandel der Gesellschaft« und »Europe and Beyond«) über die europäische Musikkultur im 19. und 20. Jahrhundert konnte ich besondere Erfahrungen sammeln. Hier bekam ich die Chance, interdisziplinär über europäische Kulturgeschichte zu arbeiten und damit einzelne Ergebnisse in größere Zusammenhänge einzubetten. Für die Finanzierung bin ich der VolkswagenStiftung und dem EUI dankbar. Das Centre for Advanced Studies an der Ludwig-Maximilians-Universi tät München und Annette Meyer ermöglichten mir, die Niederschrift des 386 | Dank © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Manuskripts zu beginnen. Die Alexander-von-Humboldt-Stiftung war so großzügig, meine Forschungsarbeit an der Columbia University in New York durch ein Stipendium zu fördern. Das Deutsche Historische Institut London förderte meine Archivreise nach England. Hier bin ich vor allem Benedikt Stuchtey für viele bereichernde Gespräche dankbar. Die Österreichische Akademie der Wissenschaften und P eter Stachel waren so großzügig, mich zu einem Forschungsaufenthalt nach Wien einzuladen. Den Gutachtern und der Gutachterin dieser 2013 an der Universität Biele feld eingereichten und in diesem Buch leicht überarbeiteten Habilitationsschrift bin ich herzlich verbunden. Ohne Heinz-Gerhard Haupt (Florenz/ Bielefeld) wäre dieses Buch nicht entstanden. Er hat mich von Anfang an engagiert begleitet, mich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, wenn ich mich auf unsicheren Wegen befand, und mir die Freiheit gegeben große Gestaltungsspielräume zu nutzen. Ute Frevert (Berlin) danke ich für ihre hilfreichen Hinweise zur Überarbeitung des Manuskripts. Willibald Steinmetz (Bielefeld) danke ich für seine Diskussionsbereitschaft und seine profunden Anregungen bis in sprachliche Details hinein. Hans-Ulrich Wehler (Bielefeld) schließlich zeigte mir, dass auch die Geschichte der Musikrezeption als ein Element der Gesellschaftsgeschichte begriffen werden kann. Eine Herausforderung und ein Vergnügen gleichermaßen war es für mich, mit Kollegen wie Celia Applegate (Vanderbilt University), Jürgen Oster hammel (Konstanz), William Weber (Long Beach, CA) und Philip Ther (Wien) zusammenzuarbeiten. Dabei wurde mir deutlich, welche Möglichkeiten eine Analyse des Publikumsverhaltens der historischen Forschung er öffnet. Hans-Joachim Hinrichsen (Zürich), Volker Berghahn (New York), Jim Retallack (Toronto), Michael Werner (Paris), Wolfgang E. J. Weber (Augsburg), Ulrich Tadday (Bremen), Wolfram Pyta (Stuttgart), Patrice Veit (Berlin) und Petra Wilberg (Bielefeld) waren so freundlich, mich zu einem Vortrag einzuladen. Von Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftlern wie Jutta Toelle (Frankfurt/M.), Simon McVeigh (London), Vjera Katalinic (Zagreb), Melanie Wald-Fuhrmann (Frankfurt/M.), Wolfgang Fuhrmann (Wien), Michael Walter (Graz) und Stanislav Tuksar (Zagreb) habe ich lernen dürfen, die musikalische Form einer Komposition besser zu verstehen und ihre ästhetische Reichweite zu begreifen. Meine Eltern Christel und Walter Müller haben meine Musikbegeisterung seit meiner Kindheit bewunderungswürdig ertragen. Dem Zuspruch vieler Freundinnen und Freunde verdanken Autor und Text mehr, als diese Zeilen ahnen lassen. Wichtige Hinweise und manch freundliche Aufmunterung gaben mir Margaret Eleanor Menninger, Volker Berghahn, Cornelius Torp, Kathrin Orth, Jens Metzdorf, Michael Stegemann und Caroline Sigloch. Dank | 387 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Federführend bei der sprachlichen Beratung der Arbeit war Beate Sander. Das Manuskript profitierte erheblich von ihren brillanten gebetenen und ungebetenen Kommentaren. Sarah Zalfen hatte das zweifelhafte Vergnügen, mein Forschungsprojekt von Anfang an zu begleiten. Ihre kompetenten thematischen und methodischen Hinweise verbesserten meine Arbeit ungemein. Zutiefst dankbar bin ich ihr dafür, dass es ihr gelang, Neuanfänge zu erleichtern. Der Mühe des Korrekturlesens haben sich bereitwillig, kompetent und geduldig meine Freundinnen und Freunde Nicole Engels, Alexa Geisthövel, Marian Richling, Vera Simon, Frank Werner und allen voran Antje Flüchter unterzogen. Von ihrer Kritik, ihren Warnungen und klugen Anregungen hat das Buch erheblich profitiert. Mein herzlicher Dank gilt Iris Törmer, die sich jahrelang mit meinem Thema herumgeplagt hat. Sie gehörte ebenfalls zu den Korrektorinnen und hat darüber hinaus das Buch durch ein umfassendes Register ergänzt. Wichtig war zudem die Arbeit eines Teams von Hilfskräften, die die Texte, Quellen und Bilder bearbeiteten: Matthias Göggerle, Sarah Jäkel, Benjamin Mascheck, Nina Ortlepp und Barbara Schledorn. Schließlich ein besonderer Dank an Martina Kayser vom Verlag Vandenhoek & Ruprecht, die das Buch und den Autor engagiert mit Nachsicht und Geduld betreute. Daniel Sander hat die Produktion des Buches im Verlag kompetent begleitet. Der Abschluss dieses Buches, das mich lange begleitet hat, erfüllt mich mit Erleichterung, vor allem aber mit einem Gefühl der Dankbarkeit. Gerade der Austausch mit Lehrern, Kollegen und Freunden hat mich viele Jahre lang angespornt und mir geholfen, diese Geschichte des Musiklebens zu Ende zu schreiben. Aus klugen Kritiken zu lernen hat mich oft motiviert. Dieses Glück ist nicht selbstverständlich. Ich durfte über ein Thema forschen, das nicht nur meine Arbeit, sondern auch mein Leben auf eine mir neue Weise bereichert hat. Daher ist es nicht ganz leicht, sich von diesem Projekt jetzt trennen zu müssen und es für abgeschlossen zu halten. Katrin Maria Dähn gab mir Halt. Sie hat die Entstehung meines Projekts mit einer beneidenswert ausdauernden Geduld und unfassbaren Toleranz begleitet. Ihre Neugier und ihre Freude an meiner Arbeit bereicherten mich und haben dieses Buch ermöglicht. Deshalb widme ich es ihr.
388 | Dank © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Abkürzungen AMZ Allgemeine Musikalische Zeitung AT The Athenaeum AWM Allgemeine Wiener Musikzeitung AWT Allgemeine Wiener Theaterzeitung BAMZ Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung BL The British Library, London DN The Daily News DZ Deutsche Zeitung EX The Examiner FB Fremden-Blatt Figaro Figaro in London GMF Gesellschaft der Musikfreunde, Archiv, Wien GSTA Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin HHStA Haus-, Hof-, und Staatsarchiv, Wien HS Haude- und Spenersche Zeitung ILN The Illustrated London News IZ Illustrirte Zeitung LC Lord Chamberlains Office, London MC The Morning Chronicle MP The Morning Post MT The Musical Times MW The Musical World NBMZ Neue Berliner Musikzeitung NFP Neue Freie Presse NPZ Neue Preußische Zeitung NWB Neuigkeits-Welt-Blatt NWMZ Neue Wiener Musikzeitung NWT Neues Wiener Tageblatt NZ National Zeitung NZfM Neue Zeitschrift für Musik ÖB Österreichische Beobachter OR Ostdeutsche Rundschau OZ Oesterreichische Zuschauer PRO Public Record Office, London RCM Royal College of Music, London RPS Royal Philharmonic Society, London Signale Signale für die Musikalische Welt SP The Spectator TI The Times VA Allgemeines Verwaltungsarchiv (Polizeihofstelle), Wien VO Vorwärts VZ Vossische Zeitung WZ Österreichische kaiserliche privilegierte Wiener Zeitung
Abkürzungen | 389 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Ungedruckte Quellen Berlin Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz I. HA, Rep. 36, 2417, 28.11.1798, 13.1.1800 I. HA, Rep. 36, 2419, 14.5.1804 I. HA, Rep. 89, 20976 I. HA, Rep. 89, 20981 I. HA, Rep. 89, 21047 I. HA, Rep. 89, 21050 I. HA, Rep. 100, 1118, 28.10.1819, 3.11.1819, 1.12.1819 I. HA, Rep. 100, 1120 I. HA, Rep. 100, 1040, 13.2.1815, 20.7.1815 I. HA, Rep. 100, 1041, 10.3.1816 I. HA, Rep. 100, 1060 I. HA, Rep. 126, Z Nr. 5 BPH, Rep. 19, Theater M, Nr. 2, Bd. 1, Bd. 2, Theater-Curatorium, Protocolle über die Conferenzen 1824–30 BPH, Rep. 19, Theater M, Bd.1, Nr. 6 BPH, Rep. 19, Theater M, Nr. 12 BPH, Rep. 19, Theater M, Nr. 53/18 BPH, Rep. 119, 558
London The British Library Covent Garden, Cuttings from Newspapers, Bd. 2, 1789–1834, BL, Th. Cts. 39 Haymarket Theatre, Cuttings from Newspapers, Bd. 3, 1807–29, BL, Th.Cts. 43 Carr-Glynn Collection of Playbills, Covent Garden, MiC. C.13137/Playbill 355, 356 Drury Lane Theater, Oratorio Bills, 1812–1821, BL, 61.i.l Alphabetical List of the Subscribers to the Antient Music, for the Present Season 1810 (hg. v. William Lee), London 1810, BL, 1607–1212 The Performances of Antient Music, for the Season 1820, Published by Permission of the Royal and Noble Directors, are most Humbly Presented to the Subscribers by G. Wilding, London, 1820, 1821, 1834, BL, 11778.aa26, BL, Rb.23.a22153, BL, 785. B 61 John Parry, Notices of the Concerts of Ancient Music. Written for the Morning Post 1834 to 1848, 2. Bde. 1849 (Geschenk an den Dirigenten Bishop), BL, 7900 d2. A Descritive Plan of the New Opera House, with Names of the Subscribers to Each Box Taken from the Theater Itself by a Lady of Fashion (London 1791?) William Ayrton Papers, Bd. 2, Add. 52335
390 | Quellen- und Literaturverzeichnis © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
William Ayrton Papers, Bd. 3, Add. 52336 Sir George Smart Papers Bd. 9, BL, MS Add 41779
Royal Philharmonic Society RPS/MS/279 (= 48.2.1), Directors’ Meetings 1816–22 RPS/MS/280 (= 48.2.2), Directors’ Meetings 1822–37 RPS/MS/281 (=48.2.3.), Directors’ Meetings 1837–47 RPS/MS/282 (=48.2.4.), Directors’ Meetings 1847–57 RPS/MS/288 (=48.2.10), Directors’ Meetings 1887–93 RPS/MS/289 (=48.2.11), Directors’ Meetings 1893–98 RPS/MS/315 (=48.7.1), Recommendation for membership 1815–47 RPS/MS/318 (=48.8), List of Subsribers Philharmonic Society 1813–68 (incomplete) RPS/MS/322 (=48.5.2), Phil. Society 1867–72 – Com. Perf., Seating Plans, etc. RPS/MS/333 (=48.13.1), Letters Bd. 1 RPS/MS/335 (=48.13.3), Letters Bd. 3 RPS/MS/338 (=48.13.6), Letters Bd. 6 RPS/MS/343 (=48.13.10), Letters Bd. 10 RPS/MS/345 (=48.13.13), Letters Bd. 13 RPS/MS/353 (=48.13.21), Letters Bd. 21 RPS/MS/379 (=48.13.37), Letters Bd. 37 (Royal Letters)
London Metropolitan Archives MJ/SP/1829/09/008 – Middlesex, Clerkenwell
Public Record Office Lord Chamberlains Office LC 1/19 LC 1/27 LC 1/58 LC 2/81 LC 2/87 LC 2/92 LC 2/119 LC 2/122 LC 5/258 LC 7/4/2, Theatrical Papers LC 7/7 C 108/215
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Ungedruckte Quellen | 391 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
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Wien Allgemeines Verwaltungsarchiv (Polizeihofstelle) P. H. 94/1813 P. H. 232/1816 P. H. 208/1821 P. H. 5604/1821 P. H. 3557/1828 P. H. 4249/1828 P. H. 148/1848 P. H. 428/1848
Haus-, Hof-, und Staatsarchiv Generalintendanz, Hofoper Karton 4, 1806–1810 Nr. 8, 17, 21, 24, 28, 31, 34, 37, 39, 53 Karton 6, 1814–1815 Nr. 144 1–3, 154 1–3, 158 Karton 11, 1821 Nr. 384, 400 Karton 69, 1823–25 Nr. 1–3, 9, 19, 22 Karton 74, 1842–50 Nr. 32, 434, 468, 2097 Karton 77, 1853 Nr. 1575, 2131, 2227 Karton 78, 1854 Nr. 1733, 2249 Karton 81, 1857 Nr. 493, 1080 Karton 82, 1857–1859 Nr. 815, 1129 Karton 85, 1862 Nr. 267, 336, 514 Karton 86, 1863–1864 Nr. 822 Karton 88, 1867 Nr. 313 SR Oper, Karton 41 Logen und Abonnements 1850–60 Oper 1912 – Karton 272 Sammelakten Nr. 12
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Gesellschaft der Musikfreunde, Archiv Jahresbericht und Mitgliederverzeichniß der Gesellschaft der Musikfreunde des oester reichischen Kaiserstaates, Wien 1846 und Wien 1847, 8399/125 Verzeichnis sämtlicher Mitglieder der Gesellschaft der Musikfreunde des oesterreichischen Kaiserstaates 1817, 1828, Jahresbericht 1852 Statuten der Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates, Wien 1814, 7361/82 Die Concertprogramme der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien 1815 bis 1877, 2712/47 Programme der Musikfeste der Gesellschaft der Musikfreunde, Opernkonzerte, besondere Konzerte, 2715/47 Kurze Nachricht über Zweck und Verfassung der Anstalt der wöchentlichen Abendunterhaltungen, Wien 1818, 3697/32 Concerts spirituels 1821–22, 1778/30 Verschiedene Druckorten, Circulare, Festkarten der Gesellschaft der Musikfreunde 1813– 1874, 8401/125 Ernst Conrath, Die Stellung der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien zur Aristokratie, 14771/152 Exhibitenprotokolle der Gesellschaft der Musikfreunde des östereichischen Kaiserstaates, 1812 bis 1829, 1834 Gesellschaftsakten 1817
2. Zeitungen und Zeitschriften Berlin Zeitungen, Zeitschriften Allgemeine Preußische Staatszeitung, (1819–1843) Haude- und Spenersche Zeitung, (1811–1873) Illustrirte Zeitung, (1843–1909) Kladderadatsch, (1850–1909) National Zeitung, (1870–1909) Neue Preußische Zeitung, (1850–1909) Vorwärts, (1912) Vossische Zeitung, (1816–1909)
Musik-, Kulturzeitschriften Allgemeine Musikalische Zeitung, (1799–1848) Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung, (1824–1829) Cäcilia, (1825–1844) Iris im Reiche der Tonkunst, (1831–1841) Neue Berliner Musikzeitung, (1847–1892) Neue Zeitschrift für Musik, (1836–1907) Signale für die Musikalische Welt, (1844–1908)
Zeitungen und Zeitschriften | 393 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
London Zeitungen, Zeitschriften The Athenaeum, (1828–1912) The Daily News, (1846–1913) The Illustrated London Life, (1843) The Morning Herald, (1823) The Examiner, (1815–77) The Morning Chronicle, (1811–1862) The Morning Post, (1821–1914) The Spectator, (1831–1913) The Illustrated London News, (1843–1914) The Punch, (1841–1913) The Times, (1816–1914)
Musik-, Kulturzeitschriften Figaro in London, (1831–38) The Harmonicon, (1823–33) Theatrical Inquisitor, (1813) The Quarterly Musical Magazine, (1818) The Musical Times, (1852–1914) The Musical World, (1836–1891)
Wien Zeitungen, Zeitschriften Alldeutsches Tageblatt, (1908) Österreichische Beobachter, (1811–1858) Deutsche Zeitung, (1873–1907) Fremden-Blatt, (1850–1913) Illustrirtes Wiener Extrablatt, (1907–1913) Kikeriki, (1869–1908) Neue Freie Presse, (1869–1913) Neuigkeits-Welt-Blatt, (1881–1908) Neues Wiener Journal, (1913) Neues Wiener Tageblatt, (1876–1913) Die Presse, (1869–1877) Ostdeutsche Rundschau, (1897–1913) Sonntagsblätter [=Wiener Abendzeitung], (1845–1848) Österreichische kaiserliche privilegierte Wiener Zeitung, (1814–1907) Die Zeit, (1913) Der Oesterreichische (Wiener) Zuschauer. Zeitschrift für Gebildete, (1838–1848)
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Musik-, Kulturzeitschriften Allgemeine musikalische Zeitung mit besonderer Berücksichtigung auf den österreichischen Kaiserstaat, (1813–1824) Allgemeine Wiener Musikzeitung, (1841–1848) Allgemeine Wiener Theaterzeitung, (1806–1858) Neue Wiener Musikzeitung, (1863–1860) Der Sammler, (1822–1846) Der Wanderer, (1813–1873)
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436 | Quellen- und Literaturverzeichnis © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Register 1. Personen Abdulaziz 314
Adorno, Theodor W. 22, 24, 70, 137, 144, 295, 377 f. Albedyll, Emil von 251 Albert, Viktor 288, 291 Alboni, Marietta 360 Alexander II. 307 Anschütz, Heinrich 114 Applegate, Celia 23 Appony, Anton von 99 Auber, Daniel François Esprit 179, 181, 184, 347 Ayrton, William 73
Bach, Johann Sebastian 48, 55, 123
Bakunin, Mikhail 335 Balfe, Michael 328 Balochino, Carlo 351 Bantock, Granville 125 Barry, Edward M. 205 Bashford, Christina 218 Bauer-Lechner, Natalie 138 Beethoven, Ludwig van 13, 16, 24, 31, 34, 44, 48, 50, 53, 61, 83, 92, 100, 1 06–118, 121, 123, 127, 129–133, 137, 144 f., 155, 161, 185–188, 227–234, 240, 248, 253–255, 274, 276, 280, 309, 324, 326, 330, 335, 344, 353, 355, 369, 376, 381 Bellini, Vincenzo 105, 160, 164, 265 Benjamin, Walter 26 Bereson, Ruth 295 Berg, Alban 141, 262, 284, 287 Berlioz, Hector 73, 172, 228, 283–285 Bernstein, Leonard 137, 258 Bethge, Hans 198 Bismarck, Otto von 49, 316 Bizet, Georges 109, 144, 189
Blanning, Tim 22 Böhm, Karl 258 Boieldieu, François-Adrien 188 Bourdieu, Pierre 11, 101, 252, 297 Brahms, Johannes 32, 50, 106, 110, 115, 120, 139, 262, 370 Brendel, Alfred 381 Britten, Benjamin 377 Bruckner, Anton 50, 108, 113 f., 121, 129, 133 f., 258, 377 Buck, Elmar 214 Bülow, Hans von 115, 241 f., 287, Burke, Peter 370 Buschbeck, Erhard 288, 291 f.
Cage, John 259
Caruso, Enrico 13, 146, 150, 154, 156, 164 f., 167, 175 Catalani, Angelica 146, 148 f., 151, 154–156, 166, 168 Charle, Christophe 23 Chéreau, Patrice 382 Cherubini, Luigi 125, 127, 255, 346 Chorley, Henry 32 Chownitz, Julian 81 f. Cocteau, Jean 259 Coletti, Filippo 265 Connor, Walker 322 Conte, Paolo 156 Copland, Aaron 367 Costa, Michael 265, 360 Cruikshank, George 338 f. Czerny, Carl 101
D’Agoult, Marie 158
Daniel, Ute 23, 310 David, Félicien 13, 190–192 Personen | 437
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Davison, Henry 32 DeNora, Tia 100, 237 Devrient, Ludwig 265 Diaghilew, Sergei 285 Dingelstedt, Franz von 329 Dom Pedro II. (Brasilien) 120 Donizetti, Gaetano 51, 105, 131, 369 Doyle, John 92 Dvořák, Antonin 106, 113, 369
Gounod, Charles 144, 280, 305, 307 Grillparzer, Franz 114, 177, 223 Grisi, Giulia 360 Guhr, Carl Wilhelm Ferdinand 229 Gye, Frederick 205, 207, 249
Halévy, Jacques Fromental 177
Ferdinand I. 51, 350 Fischer, Josef 264 f. Fjodorowna, Alexandra (Charlotte von Preußen) 193 Franz II. 51, 329 Franz Joseph I. 80, 210, 307, 317, 329 f. Friedrich II. 56, 302 Friedrich Wilhelm III. 54, 193, 246, 272, 302, 328 Friedrich Wilhelm IV. 54, 111 f., 193, 205, 272, 302, 354 f., 357
Haley, Bill 375 Hall-Witt, Jennifer 23 Hamilton, Henry 196 f. Händel, Georg Friedrich 92,125 Hansen, Teophil 53 Hanslick, Eduard 32, 63, 73, 83, 120, 124, 176, 199, 225, 278 Harnoncourt, Nikolaus 126, 382 Haschka, Lorenz Leopold 329 Haslinger, Tobias 229 Haussmann, Georges 39 Haydn, Franz Joseph 50 f., 67 f., 92, 107, 115, 127, 129, 132, 231, 253, 255, 329 f., 353, 370 Heine, Heinrich 146, 148, 166, 169, 172, 176, 271, 304 Hofmannsthal, Hugo von 136 Hoffmann, E. T. A. 107, 157, 194 Hoffmann, Karl August Heinrich 238 Honegger, Arthur 377 Hosemann, Theodor 158,
Gade, Niels Wilhelm 255
Jauner, Franz 213
Edward VII. 125, 308
Eisler, Hanns 145 Elgar, Edward 62, 124 f., 193, 196 f. Engels, Friedrich 158, 362 Eugénie, Kaiserin 323 Evans, Richard 215
Fay, Amy 116, 147, 157 f.
Gay, Peter 218 George III. 90 George IV. 60, 304, 328 Gerhard, Anselm 23, Gielen, Michael 380 Gilbert, William S. 124, 197, 333 Gladstone, Arthur 240 Gladstone, William 240 Glass, Philip 379 Godard, Benjamin 198 Goethe, Johann Wolfgang von 247 Goldmark, Karl 189 Gooley, Dana 157
Johnson, James 23, 218 Jones, Chuck 375 Jullien, Louis Antoine 185, 234, 273–277
Karajan, Herbert von 258, 382 Khnopff, Fernand 235 Kipling, Rudyard 321 Knappertsbusch, Hans 127 Knobelsdorff, Georg Wenzeslaus von 56, 202 Koegler, Horst 377 Krupp, Alfred 381 Küstner, Karl Theodor von 356
438 | Register © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Lafont, Charles Philippe 255
Landowska, Wanda 126 Landsteiner, Anton 213 Langhans, Karl Ferdinand 46, 56, 202, 205 Laporte, Pierre 149, 265–267 Laprunarède, Adèle 158 Lemercie de Longpré, Charles 71 Levi, Hermann 115 Lewald, Fanny 42 Ligeti, György 377 Lind, Jenny 7, 146, 149–154, 160–164, 167 f., 171, 174, 245 Liszt, Franz 111 f., 144–153, 156–159, 167–176, 241, 382 Longuet, Jenny; geb. Marx 117 Lortzing, Albert 189 Ludwig II. 120 Lumley, Benjamin 174, 267
Mahler, Alma 139
Mahler, Gustav 50, 108, 113 f., 125, 129, 134–145, 198, 253, 287 f., 377 Malibran, Maria 148, 161, 338 Marx, Adolf Bernhard 233 Marx, Karl 117, 158, 362 Mendelssohn Bartholdy, Felix 48, 55 f., 109 f., 115, 127, 131, 221, 227, 255, 274, 276 Meyerbeer, Giacomo 7, 56, 105, 144, 151 f., 180, 182 f., 192, 200, 254, 283, 362, 356 f. Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 50, 350 Moeser, Carl 155, 186, 241, 271 Moltke, Helmut von 316 Mommsen, Wolfgang 19 Monk, Thelonius 372 Mosse, Werner 366 Mozart, Wolfgang Amadeus 26, 31, 50, 92, 105, 107, 115 f., 125, 127, 144, 188, 190, 231, 253, 255, 330, 370, 376 Müller, Friedrich von 247 Musard, Philippe 273
Napoleon I. 323
Napoleon III. 309, 322–324, 331 Naser ad-Din 315–320 Nash, John 62 Neithardt, August 328 Neumann, Angelo 105 Neutra, Richard 287 f. Nietzsche, Friedrich 123, 368 Nipperdey, Thomas 19 Nüll, Eduard van der 53
Offenbach, Jacques 191, 208 Osterhammel, Jürgen 12
Paganini, Niccolò 13, 53, 146–158,
164–168, 171 f., 174 Patti, Adelina148, 176 Paulmann, Johannes 310 Pergolesi, Giovanni Battista 264 Plater, Pauline 158 Pollini, Maurizio 35, 381 Pückler-Muskau, Hermann von 220, 257 Puccini, Giacomo 198–200,
Qualtinger, Helmut 213 f., 380 Redern, Friedrich Wilhelm von 42, 270 Reif, Heinz 310 Rellstab, Ludwig 47, 130, 132, 155, 160, 167, 245, 271, 362, 357 Remarque, Erich Maria 247 Richter, Hans 119 Ritter von Newald, Julius 210, 213
Sachsen Coburg und Gotha, Albert von 60, 90 f., 111, 160, 221, 283, 324 f. Saint-Saëns, Camille 31, 106, 122 f., 199 Saphir, Moritz Gottlieb 43 Schinkel, Karl Friedrich 57, 193, 195 Schönberg, Arnold 13, 26, 31, 34, 108, 114, 129, 135, 137, 141–145, 284, 286–291, 373 f. Schostakowitsch, Dimitri 377
Personen | 439 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Schubert, Franz 13, 108, 129, 131 f., 153, 160 Schumann, Robert 115, 126, 131 f., 235 Schuppanzigh, Ignaz 228 Schwechten, Franz Heinrich 58 Scribe, Eugène 357 Sedlnitzky, Josef von 85, 99 Shaw, George Bernard 83 f., 251 Siccard Siccardsburg, August 53 Smart, George 129, 240 Sontag, Henriette 42 Spitzer, David 121 Spohr, Louis 7, 13, 48, 50, 109, 111 113, 116, 125, 130, 195, 231, 241, 255 Spontini, Gaspare 56, 155, 178–180, 192, 194 f., 270–272, 304, 328 f. Stearns, Peter 70 Stendhal 222 Sterndale Bennett, William 124 Stockfelt, Ola 22 Stockhausen, Karlheinz 377, 381 Stoll, Oswald 196 Strauss, Johannes d. Ä. 273 Strauss, Johannes d. J. 312 Strauss, Oscar 291 Strauss, Richard 108, 134–137, 143, 190, 199, 285 Strawinski, Igor Fjodorowitsch 285 Sullivan, Arthur 62, 124 f., 197, 333
Tamburini, Antonio 265, 267, 269,
360 Taruskin, Richard 22 Thalberg, Sigismund 13, 146, 167, 171, 176, 353 Ther, Philipp 23 Tschaikowski, Peter 144 Tuczek, Leopoldine 131
Twain, Mark 118, 237 f. Umlauf, Michael 228 Unger, Caroline 228
Varnhagen von Ense, Karl August 52,
145, 169, 271 f. Verdi, Guiseppe 13, 16, 105, 125, 192, 346, 348 f., 359, 370 Victoria, Königin 34, 60, 111–113, 160, 198, 206 f., 221, 267 f., 301, 306–309, 322–325, 328, 330–334, 359 f. Visconti, Luchino 348
Wagner, Cosima 119, 158
Wagner, Richard 16, 20, 31 f., 54 f., 105 f., 108–111, 114–125, 128, 132–134, 140 f., 144, 192, 237, 248–253, 330, 335, 346, 368 f., 382 f. Wagner, Wieland 380 Weber, Carl Maria von 48, 109, 127, 144, 179, 182, 184 f., 189, 194, 221, 225, 255, 276, 355 Weber, Max 170 Weber, William 23, 218 Webern, Anton von 141, 284, 287–291 Wehler, Hans-Ulrich 20 Weill, Kurt 377 Weingartner, Felix 49, 141 Wellesley, Arthur; Duke of Wellington 34, 91–93, 221 Wilhelm I. 54, 120, 304, 307 Wilhelm II. 54, 57, 124, 296, 308, 330 f. William IV. 60 Wolf, Hugo 50
Zelter, Karl Friedrich 55, 186 Zemlinsky, Alexander 287 Zweig, Stefan 41
440 | Register © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
2. Sachen, Orte Abonnenten 29, 45, 52, 77, 90, 95, 228,
234, 268, 373, 375, 379 Ancient Concerts, London 27, 60, 62, 90–96, 221, 342–344 Aristokratie, Adel 7, 10 f., 14, 18, 25, 27, 30, 33–37, 43, 50–55, 58, 103, 169, 193 f., 205, 210, 246 f., 259–269, 301, 316, 318, 323, 336, 346, 350–353, 359–363, 365, 372 Adelskritik 269 f., 332 f., 337 f., 341–344, 361 f., 369 Arbeiter 10, 18, 76, 95, 209, 280–282, 321, 335, 350 f., 354, 358, 361, 366 Atonalität, Zwölftonmusik 141–144, 284, 286–292
Ballett 19, 199, 202, 265, 269, 317 f.
Bayreuth, Bayreuther Festspiele 177 f., 120 f., 251 f., 375, 379 f., 382 Bedienstete, Diener 10, 18, 33, 77, 79, 222, 240, 273, 365 f. Berliner Singakademie 27, 55, 57, 121, 145, 156, 241, 355 Bildung, Lernprozesse 217–259, 337–344 Brände, Katastrophen 201–216 Brüssel 25, 337, 347 Bürgertum, Bürgerlichkeit, 27, 34, 49–52, 54, 60, 75 f., 78 f., 94, 100 f., 109, 131, 230, 260, 265, 268, 282, 310, 338, 340, 351 f., 354, 361 f., 366, 371, 377 f.
Charisma, Charismatiker 110, 145–147,
170 Covent Garden Opera, London 27, 59–61, 69, 78, 80, 84, 125, 154, 179, 201, 205–208, 249 f., 268, 274 f., 282 f., 305 f., 323, 325 f., 338, 360
Defizite, Kosten 70–72, 281
Demokratisierung 12, 25, 35, 50, 96, 265, 278, 296, 301, 326, 336, 344, 346, 350 f., 353–355, 358, 361–363, 378
Demonstrationen, Proteste 10, 24, 35, 122, 128, 139, 142, 230, 242, 257, 261–268, 288, 292, 337, 341, 344, 348–351, 353–361 Denkmäler 111–113, 206, 215, 330, 380 Distinktion 9, 11, 14, 33, 37, 55, 64 f., 76, 81, 252 f., 257–260, 269, 274, 282, 308, 310, 366, 369, 376 Dresden 335 Drury Lane Theatre, London 27, 61, 69, 84, 268, 274
Eintrittspreise, Eintrittskarten 10, 33,
40, 46, 59, 61, 64, 66 f., 69–76, 85–87, 90, 94–98, 122, 149, 164, 167 f., 183, 222, 282, 302, 347, 370 Exotismus, Orientalismus, Kolonialismus 34, 136, 187–200, 312, 315–322 Emotionen, emotionale Praktiken und Strategien 16, 34, 70, 122, 145, 160 f., 204, 215, 219, 236–239, 254, 257, 260–262, 264 f., 268, 273 f., 276, 278–282, 290, 293, 326 f., 331, 347, 369 English Opera House, London 61, 124 Europäisierung 28 f., 45, 105–109, 363–375
Fans, Motive von, Fankultur 124, 146, 157 f., 162, 165, 167, 170 Feindschaft, Hass 11, 128, 132, 134, 139–141, 143, 175, 215, 236, 286–292, 323, 327, 354, 356, 368 Frankfurt/Main 243, 355, 380
Galas 8, 30, 41, 84, 172, 295, 301–305,
308 f., 315 f., 318, 324 f., 327 f., 330, 332, 347 Geniekult 107 f., 110–112, 115, 117, 120 f., 125 f., 130, 145, 150, 153, 171, 191, 233, 250, 368, 376 Geschlechterverhältnisse, Erotik 12, 94, 157 f., 161 f., 164, 189, 193, 195, 256, 276 Sachen, Orte | 441
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Geschmack 13 f., 16–18, 21, 23, 25, 28, 30–35, 40 f., 45, 48, 52, 64, 66–68, 81, 85, 89, 92, 94, 97, 100–102, 105 f., 127, 130, 145, 147, 150, 168, 171, 173, 176, 193 f., 198, 218, 237, 239, 245–249, 252–262, 267–269, 271, 273 f., 283, 286 f., 292 f., 308, 337 f., 340–345, 352, 362, 366–371, 375, 380 Gesellschaft der Musikfreunde, Wien 27, 48, 51–53, 71, 88, 97–101, 110, 126, 131 Gewalt, Ausschreitungen 30, 46, 128, 143, 209, 222, 260–263, 265, 274, 277 f., 280 f., 284, 287–293, 336, 354 f., 358, 369 Grand opéra 105, 178, 182 f., 191, 199, 262
304 f., 310 f., 315–318, 323, 328, 330, 339, 343, 345, 350, 354, 365, 371 Hofoper, Lindenoper, Berlin 42, 56 f., 72, 128, 144, 149,199, 222, 264, 270, 292, 302, 307 f., 320, 327 f., 356 f., 365 Hofoper, Staatsoper, Wien 27, 41, 5 1–53, 71 f., 86–88, 131, 137,140 f., 166, 226, 243, 317, 329, 351–353, 371 Hohenzollern 304 Hörverhalten, Lärm und Schweigen 7, 9, 12 f., 16, 23, 31, 34, 38, 87, 123, 127 f., 162, 176, 182, 185, 190, 217–219, 222, 224–226, 230, 233 f., 237–239, 242, 244–260, 263, 265 f., 268–271, 276, 279, 281, 283, 288, 291, 293, 308, 311, 317, 337, 340, 344, 369–371
Habitus, Gemeinschaftsbildung 8–16,
Spielorten 23, 34, 61, 68, 120, 147, 157, 177–189, 193–196, 200, 214, 217, 276, 296, 317, 327, 366, 369, 382 Iroquois Theater, Chicago 201
43, 49, 51, 64, 66 f., 70, 80 f., 90, 101, 136, 143, 146, 154, 219, 230, 235, 237, 239, 241, 251–253, 260, 263, 274, 298 f., 327 f., 330, 337 f., 341, 344, 366, 368, 370–372 Habsburger 35, 38, 45, 51, 53, 58, 72, 98, 139, 210, 232, 349–351 Hamburg 45, 124, 161 Hanover Square Rooms, London 27, 62, 91, 234 Her Majesty’s Theatre, London 7, 27, 59–62, 69, 77, 97, 154, 162, 174, 190, 208, 221, 250, 265–269, 280, 282, 338, 359 Herrschaft, Legitimation 10, 14, 49, 108, 126 f., 170, 176, 267, 278, 295–305, 309–312, 326, 331, 333–338, 345, 347–350, 356, 362 Herzöge, Herzoginnen, Besuch von 7, 11, 91–93, 210, 221, 307, 312, 318, 331, 343, 359 Hof, Hofkultur 7, 10, 25, 27, 37, 44, 50–54, 58, 60, 69, 80 f., 85, 89 f., 97 f., 106, 112, 125, 160, 169, 180, 192–194, 205, 207, 227, 267, 284, 296, 299, 301 f.,
Inszenierungen, Ausstattungen von
Journalisten 10, 16, 32, 63, 69, 81 f., 95,
97 f., 100, 111, 132, 152 f., 161, 167, 169, 173, 190, 200, 204, 210, 212, 233, 238 f., 254, 290, 300, 319, 321, 326, 332, 340, 362, 371 Juden, Judentum, Antisemitismus 37, 55, 60, 103, 139–141, 227
Kaiser, Besuch von 51, 80, 120, 124, 301,
304, 307–311, 316–318, 322–327, 329, 331 Kanon, Kanonisierung 13, 32, 50, 107 f., 125–130, 134, 144 f., 198, 232, 234, 256, 337, 340 f., 356, 369 f., 374, 376, 381 Karlsruher Hoftheater 201 Kärtnertortheater, Wien 27, 53, 351, 353 Kenner, Kennerschaft 32, 81, 100, 110, 131, 139, 141, 158, 163, 175, 228, 236, 239, 244, 246, 248, 252 f., 256, 258, 271, 288, 330, 346, 353, 369 King’s Theatre, London 27, 59–61, 73, 77, 86, 149, 221, 262, 328, 371
442 | Register © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Klassen, Schichten 10, 18, 65, 70, 73, 76, 85, 95, 101 f., 103, 256, 273, 292, 296, 299, 350, 366, 368, 371, 379 Konsum, Kommerzialisierung 7, 10–18, 21, 25, 27 f., 32 f., 41, 43, 46, 48, 52 f., 55, 61, 64–70, 73, 81, 85, 89 f., 93, 97, 100–102, 107, 135, 147 f., 179, 189, 219, 221–225, 232, 236, 239, 252, 258, 260, 282, 338 f., 341, 347, 352, 363, 366 f., 371–378, 381 Kommunikation 12 f., 15–18, 28, 30, 33, 35, 37, 39–41, 64, 66 f., 82, 100 f., 106 f., 142, 157, 188, 200, 215, 236, 239, 253, 256–259, 297, 299–301, 310, 322, 327, 330, 334, 347, 355, 366 f., 370, 373 Konservatismus, politisch Konservative 31, 35, 53, 55, 58, 92 f., 126, 136, 141, 144, 197, 272, 283, 314, 336, 344, 346, 355 f., 360 f., 378 Könige, Königinnen, Besuch von 54 f., 60, 80 f., 111 f., 120, 156, 193, 205, 283, 302–311, 322, 328 Körper, Körperlichkeit 9, 16 f., 118, 121, 128, 131, 142 f., 152, 155, 157 f., 162, 165, 170, 175, 184, 197, 200, 222, 235, 237 f., 251, 254, 256 f., 260–263, 267, 274, 276 f., 279 f., 285 f., 288, 292 f., 328, 341, 367, 380 Krolloper, Berlin 201
Leipzig 45, 48, 131, 247, 379
Liberale, politischer Liberalismus 31, 58, 94, 142, 269, 337 f., 340–346, 350, 352, 354, 358, 371 Libretto, Rezitativ 106, 182, 196, 302, 322, 327, 347, 357 Logen 46–48, 51 f., 65, 68, 70–81, 85, 87, 101, 149, 160, 162, 206–208, 214, 219–224, 231, 245, 264–271, 274 f., 286, 288, 302–308, 323–328, 338, 348, 354, 359, 366
Mailand 25, 222, 337, 347–349, 369 Manchester 62, 164
Mannheim 118, 237 Mode, Fashion, Kleidung 11, 46, 65, 67 f., 76 f., 82–84, 101 f., 120, 144, 150, 158, 162, 168, 175, 219, 273, 310, 320 f., 338 Moderne, Modernisierung 12 f., 34, 37, 93, 108, 118, 134–139, 141, 143, 170, 175f, 214, 245, 254, 258, 282 f., 285f, 319, 334 f., 349, 382 Monarchie, Monarchisten 10, 27, 35, 51, 53f, 56, 58, 69 f., 72, 85, 87, 90, 94, 98, 111 f., 169, 193, 196–198, 210, 272, 284, 296, 298–313, 316–324, 327–337, 347, 350 f., 354–360 Musikdrama 105, 116–123, 128, 137, 248–252, 375 Musikkritiker, professionelle 13, 17, 25, 31 f., 43, 73, 83, 99, 106 f., 112, 120 f., 129, 131, 133, 138, 142 f., 155, 167 f., 171, 176, 178, 180, 183, 190, 194, 199, 217, 239, 248–250, 269, 302, 332, 337 f., 343, 355, 357 München 120 f.
Nationalhymne 196, 206, 277 f., 324,
327–330, 359 f. Nationaloper 290, 303, 327 Nationalismus 24, 50, 108, 122–125, 147, 197, 277 f., 298, 302, 314, 317, 327 f., 336, 348–350, 353, 359 f. Neapel 347
Öffentlichkeit, Medialisierung 10, 12,
27, 39, 41f, 60, 86, 91, 95, 111, 117, 122, 124, 142 f., 210, 253, 256 f., 283, 291, 297, 299, 309, 314, 322, 326, 330 f., 339, 341, 345 f., 350, 363 Opéra buffa 182 Opéra Comique, Paris 201 Operette 73, 124, 191, 197, 333, 375
Paris 23, 25f, 38f, 53, 58, 62, 65, 73, 75,
106, 122, 146, 177, 187, 191 f., 201, 218 f., 247, 273, 283, 285, 312, 331, 347, 353, 376, 380 Sachen, Orte | 443
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Parkett 46, 75, 77–79, 84, 87, 149, 158, 202, 206–209, 213, 222, 265 f., 268, 270, 274, 277, 325, 348, 359 Patronage 61, 94, 340 Philharmonie, Berlin 27, 58 Politik, politische Ordnungsvorstellungen, politische Konflikte 10, 12, 14, 17 f., 20–22, 25 f., 28, 35, 37, 39, 42 f., 50, 52–54, 56, 58, 64, 66–68, 79 f., 85, 89, 96, 101 f., 105, 108, 111, 117, 119, 121–123, 126, 135, 166, 169 f., 173, 182, 187 f., 193, 196, 198, 202, 205, 223, 226, 260 f., 265, 269, 272–279, 291–363, 365 f., 369–372, 378 Polizei 29, 52, 85 f., 148, 150, 165, 210, 213, 215, 226 f., 242 f., 270–272, 275, 286, 316, 333, 335, 353, 356, 358 Populärkultur, Unterhaltungsmusik 18, 156, 174–176, 185 f., 197 f., 260, 273- 293, 374–376 Prag 148 Praktiken, soziale 8, 10 f., 24, 66, 90, 100, 102, 255, 258, 367, 372, 374 Presse, Zeitungen, Zeitschriften 10, 14, 17 f., 30–32, 39–45, 47–49, 60, 65 f., 68 f., 80, 84, 88, 91 f., 94, 96, 98 f., 102 f., 107, 109, 112, 118 f., 122, 124 f., 127, 131, 133–136, 138–141, 148 f., 153, 156 f., 159 f., 164, 166–171, 178–180, 183, 190 f., 194, 199, 201, 203–208, 212, 216, 222, 224 f., 228, 231, 233 f., 240–246, 254 f., 264, 266, 268 f., 277, 281–283, 286, 289–291, 297, 303 f., 311, 316, 318–320, 325, 330 f., 337 f., 341–345, 351–354, 357 f., 363, 367 Professionalisierung 13, 37, 44, 48, 88, 175 f., 230–234, 292, 362, 371 Promenadenkonzerte 125, 234, 273–293
Revolutionen, 1830, 1848, Vormärz 35, 293, 295, 335–363 Revolutionsoper 309, 346–361 Ringtheater, Wien 201, 208–214 Rom 148, 374 Royal Albert Hall, London 62 f., 119 f., 316 Royal Philharmonic Society, London 60–62, 84, 89, 94, 96, 98, 243, 368
Rassismus 135, 200
Transfer, der Genres und Praktiken zwischen den Städten und Ländern 29, 40, 105–145, 219, 247–252, 369 f. Transport, Verkehr 40, 145–151, 187–192, 225, 315, 377, 382
Religiosität, Religiöse Kultur 40, 167, 182, 188, 195, 304 Repertoire, Streit um 8, 14, 21, 105–145, 148, 189, 230, 258, 260, 293, 342–344, 357, 369.f, 377, 379 f.
Saalschlachten, Unruhen 9, 30, 34, 142, 259–293, 340, 355 f., 369 Salon, Salonkonzerte 39, 44, 46, 51, 101, 154, 180, 188, 235, 242 Satire, Spott, Humor 62, 65, 82, 84, 94, 97, 130, 133, 138, 141 f., 144, 158, 162, 164 f., 186, 212, 224, 260, 282, 284, 290, 312 f., 315, 318, 321, 332, 339–342, 368, 378 Savoy Opera 124, 197, 333 Schauspielhaus, Berlin 57, 73, 149, 154, 186 Schriftsteller, Schriftstellerinnen, Dichter 42, 132, 136, 166, 222, 237, 259, 320, 357 Shahs, Sultane 311–322 St. Petersburg 25, 105 Staatsbesuche 35, 80, 296–330 Stehplätze, Pit 46, 72, 75, 78 f., 84, 230, 266, 281, 286, 288, 360 Sinfonie, Aufstieg des sinfonischen Repertoires 44, 49, 51, 53, 58, 61, 83, 89, 92, 94, 109–116, 121, 125, 127–139, 188, 198, 217 f., 227–234, 241, 243, 247, 254 f., 258, 280, 335, 346, 355, 369, 378, 381
Theater an der Wien 50, 52, 191, 353
444 | Register © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
Unternehmer, Impresari, Management 10, 17, 22, 54, 58 f., 61, 69–79, 100, 105, 111, 148–151, 299, 349–351 Urbanisierung, Stadtkultur 12, 37–64
Verhaltensregeln, Selbstkontrolle 158, 217, 223, 231, 235 f., 255–59 Venedig 25, 152, 348 Verlage, Verleger 95, 172 Virtuosen, Virtuosenkonzerte 8, 19, 105–108, 145–177, 226, 245, 353, 366
Werbung, Marketing 67 f., 116–123, 148–151, 170–184, 248 Wagnerismus, Wagnerianer 116–128, 134, 192, 247–252 Weimar 148, 304 Wiener Philharmoniker 27, 137
Zensur 52, 56, 85, 95, 98 f., 148, 164, 341
3. Kompositionen Arne, Thomas Augustine:
–– »Rule Britannia«: 276, 327 f., 352 Auber, Daniel-François-Esprit: –– »Gustave III. ou Le bal masqué«: 180 –– »La Muette de Portici«: 184, 347
Bach, Johann Sebastian:
Matthäuspassion, BWV 244: 55
Balfe, Michael William: –– »The Maid of Artois«: 328 Bantock, Granville: –– Helena-Variations: 125 Beethoven, Ludwig van: –– »Fidelio«, op. 72: 54, 111, 161, 254, 309, 324, 326, 346 –– Klavierkonzert Nr. 3, c-moll, op. 37: 111 –– Klavierkonzert Nr. 4, G-Dur, op. 58: 111, 381 –– Klavierkonzert Nr. 5, Es-Dur, op. 73: 111 –– Missa Solemnis, D-Dur, op. 123: 111 –– Ouvertüre, Leonore I., op. 138: 234 –– Sinfonie Nr. 3, Es-Dur, ›Eroica‹, op. 55: 49, 228 f., 255
–– Sinfonie Nr. 4, B-Dur, op. 60: 233 –– Sinfonie Nr. 5, c-Moll, op. 67: 121, 280 –– Sinfonie Nr. 6, F-Dur, Pastorale‹, op. 68: 44, 127, 130, 186, 229, 234 –– Sinfonie Nr. 7, A-Dur, op. 92: 109, 112 –– Sinfonie Nr. 9, d-moll, op. 125: 53, 61, 109, 111 f., 129–131, 188, 227 f., 233 f., 335, 346, 378 –– Sinfonisches Schlachtengemälde, op. 91, Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria«: 185 f. –– Streichquartette, op. 18: 111 –– Violinkonzert, D-Dur, op. 61: 111 Bellini, Vincenzo Salvatore Carmelo Francesco: –– »I Puritani«: 226, 265 –– »La Sonnambula«: 160, 164, 267 Berlioz, Hector: –– »Benvenuto Cellini«: 283 Bizet, Georges: –– »Carmen«: 378 –– »Djamileh«: 189 Boieldieu, François-Adrien: –– »Le Calife de Bagdad«: 188 Kompositionen | 445
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Brahms, Johannes: –– Sinfonie Nr. 1, c-moll, op.68: 115 Bruckner, Anton: –– Sinfonie Nr. 2, c-moll, WAB 102: 133 –– Sinfonie Nr. 4, Es-Dur, WAB 104: 258 –– Sinfonie Nr. 8, c-moll, WAB 108: 129 –– Sinfonie Nr. 9, d-moll, WAB 109: 113
Cage, John:
–– »4’33« (Tacet): 259
Haydn, Franz Joseph: –– Hymne, Hob. 26a, »Gott erhalte Franz den Kaiser«: 51, 329, 353 –– Sinfonie, Nr. 94, G-Dur, Hob. I/94, »Mit dem Paukenschlag«: 129, 132 –– Sinfonie, Nr. 103, Es-Dur, Hob. I/103, »Mit dem Paukenwirbel«: 129 Honegger, Arthur: –– »Pacific 231«: 377
Liszt, Franz:
–– »Le Désert«: 190–192, 199 –– »Lalla Roukh«: 192–194
–– Grand galop chromatique, S.219: 153 –– »Kantate zur Inauguration des Beethoven-Monumentes«, S. 584: 111 –– Transkription des »Erlkönigs«, S. 558/4: 153, 160
Donizetti, Domenico Gaetano Maria: –– »Lucia di Lammermoor«: 131
Lortzing, Gustav Albert: –– »Ali Pascha von Janina«: 189
Elgar, Edward William:
Mahler, Gustav:
Cherubini, Luigi: –– »Les deux journées«: 346
David, Félicien-César:
–– »The Crown of India«, op. 66: 193, 196–198 –– Pomp and Circumstance Marches, op. 39: 197
Gade, Niels Wilhelm:
–– Sinfonie Nr. 1, c-Moll, op. 5: 255 Godard, Jean-Luc: –– Sinfonie, op. 84, »Symphonie Orientale«: 198 Goldmark, Karl: –– »Die Königin von Saba«: 189 f. Gounod, Charles-François: –– »Faust«: 280, 307 –– »Roméo et Juliette«: 305
Halévy, Jacques-François-Fromental-Élie: –– »La Juive«: 177
–– –– –– –– –– –– ––
»Das Lied von der Erde«: 198 Sinfonie Nr. 2, c-moll: 138 Sinfonie Nr. 3, d-moll: 129, 137 f. Sinfonie Nr. 4, G-Dur: 125 Sinfonie Nr. 5, cis-moll: 139 Sinfonie Nr. 6, a-moll: 139 Sinfonie Nr. 8, Es-Dur: 137
Mendelssohn Bartholdy, Jakob Ludwig Felix: –– »Elias«, op.70: 221 –– Sinfonie Nr. 4, A-Dur, op. 90, »Ita lienische«: 227 Meyerbeer, Giacomo: –– »L’Africaine«: 200 –– »Ein Feldlager in Schlesien«: 302, 357 –– »Les Huguenots«: 182 –– »Le Prophète«: 182–184 –– »Robert le diable«: 7, 180
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Mozart, Wolfgang Amadeus: –– »Die Entführung aus dem Serail«, KV 384: 188 –– »Don Giovanni«, KV 527: 51, 227, 270, 315 Pergolesi, Giovanni Battista: –– »Il Geloso Schernito«: 264 Puccini, Giacomo: –– »Madama Butterfly«: 199 –– »Turandot«: 199
Rossini, Gioachino Antonio:
–– –– –– –– –– –– ––
»Il barbiere di Siviglia«: 166 »Guglielmo Tell«: 346 »Othello«: 262 f. »Semiramide«: 101, 262, 360 »Le Siege de Corinthe«: 179 »Il turco in Italia«: 189 »Zorà: 80
Saint-Saëns, Charles-Camille:
–– »Samson et Dalila«: 199 –– Klavierkonzert Nr. 4, c-moll, op. 44: 123 Schönberg, Arnold: –– »Fünf Orchesterstücke«, op. 16: 142 Schostakowitsch, Dmitri Dmitriyevich: –– »Tahiti Trot«: 377 Schubert, Franz Peter: –– »Erlkönig«, D 328: 153, 160 –– Sinfonie Nr. 7, h-moll, D 759, »Unvollendete«: 131 –– Sinfonie Nr. 8, C-Dur, D 944: 44, 131 f. Schumann, Robert: –– Oratorium, op. 50, »Das Paradies und die Peri«: 132
Spohr, Ludwig: –– »Die Kreuzfahrer«: 195 –– Sinfonie Nr. 5, c-moll, op. 102: 116 Spontini, Gaspare Luigi Pacifico: –– »Agnes von Hohenstaufen«: 180, 304 –– »Alcidor«: 195 –– »Fernand Cortez ou La Conquête de Mexique«: 179 –– »Nurmahal oder das Rosenfest von Kaschmir«: 194 f. –– Ode »Borussia«: 328 –– »Olimpia«: 178 Strauss, Richard Georg: –– »Elektra«, op. 58: 135 f. –– »Salome«, op. 54: 136, 285 Strawinski, Igor Fyodorovich: –– »Le Rossignol«: 198 –– »Le Sacre de Printemps«: 285 Sullivan, Arthur: –– » The Gondoliers«: 197 –– »Ivanhoe«: 124 –– »The Mikado«: 124, 191 –– »The Pirates of Penzance«: 333
Unbekannter Komponist »God Save the Queen«: 112, 277, 281, 324
Verdi, Giuseppe Fortunino Francesco: –– –– –– ––
»Aida«: 192 f., 199 »I Due Foscari«: 359 »Nabucco«: 346, 349 »Il Trovatore«: 154, 348
Wagner, Richard:
»(Der) Fliegende Holländer«: 109, 331 »(Die) Götterdämmerung«: 121, 375 »Lohengrin«: 118, 122, 237, 248, 250 »Meistersinger von Nürnberg«: 32, 120, 128, 251 –– »Parsifal«: 121 –– –– –– ––
Kompositionen | 447 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300640 — ISBN E-Book: 9783647300641
–– »(Das) Rheingold«: 119, 121, 383 –– »Rienzi«: 346 –– »(Der) Ring des Nibelungen«: 141, 250 f., 375 –– »Siegfried«: 250 –– »Tannhäuser«: 119, 248 f. –– »Tristan und Isolde«: 120 –– »(Die) Walküre«: 118, 121, 217
Weber, Carl Maria von:
»Abu Hassan« J.106: 189 »Euryanthe«, J.291: 255 »Freischütz«, J.277: 54, 182, 184, 255 Kantate, J.190, »Von Kampf und Sieg«: 185 –– »Oberon«, J.306: 179, 194, 221, 255 –– –– –– ––
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