Das politische Imaginäre eurasischer Fiktionsräume: Imperiale (Gegen-)Diskurse im postsowjetischen Russland [1 ed.] 9783666364297, 9783525364291


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German Pages [289] Year 2023

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Das politische Imaginäre eurasischer Fiktionsräume: Imperiale (Gegen-)Diskurse im postsowjetischen Russland [1 ed.]
 9783666364297, 9783525364291

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Marina Klyshko

Das politische Imaginäre eurasischer Fiktionsräume Imperiale (Gegen-)Diskurse im postsowjetischen Russland

Schnittstellen

Studien zum östlichen und südöstlichen Europa Herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Ulf Brunnbauer Band 25

Marina Klyshko

Das politische Imaginäre eurasischer Fiktionsräume Imperiale (Gegen-)Diskurse im postsowjetischen Russland

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien der Ludwig-Maximilians-Universität München. Diese Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung der Dissertation, die im Sommersemester 2021 von der Fakultät der Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-MaximiliansUniversität München angenommen wurde.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Denkmal der russisch-chinesischen Freundschaft in Chabarowsk, Russland. © Foto: Vadim Ososkov Umschlaggetaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Lektorat: Dr. Swen Wagner, Die Zeichen | Manufaktur Satz: textformart, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2566-6614 ISBN 978-3-666-36429-7

Inhalt

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1 Hintergrund und Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.2 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.3 Methodische Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit . . . . . . . . 20 2. Theoretische Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.1 Das politische Imaginäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.1.1 Grundlagen der Gemeinschaftsbildung . . . . . . . . . . . . 27 2.1.2 Der Begriff des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.1.3 Zur interdiskursiven Theorie des politischen Imaginären . . 34 2.2 Raumtheoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.2.1 Kultur- und Raumsemiotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.2.2 Geopoetik und Geokulturologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3. Figurative Verfahren des (Neo-)Eurasismus . . . . . . . . . . . . . . . 45 3.1 Die Entstehung des klassischen Eurasismus . . . . . . . . . . . . . 45 3.2 Visionen der eurasischen Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.2.1 »Russland als Eurasien«: Rhetorik der Grenzziehung . . . . . 47 3.2.2 Die Metaphorik des geografischen Raums . . . . . . . . . . . 52 3.2.3 »Entwicklungsraum«: die Einheit von Raum und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3.2.4 »Symphonische Persönlichkeit« als Metapher der Vergemeinschaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.2.5 Die Verkörperung des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.3 Die Theorie der Ethnogenese von Lev Gumilëv . . . . . . . . . . . 65 3.4 Der Neo-Eurasismus: zwischen Kontinuität und Wandel . . . . . . 69 3.4.1 Akteure und Strömungen des Neo-Eurasismus . . . . . . . . 69 3.4.2 Raum: Konstellation organischer Metaphorik . . . . . . . . . 76 3.4.3 Begründungsstrategien der Raumexpansion . . . . . . . . . . 80 3.4.4 Die Metapher der Brücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.4.5 Der Körper des Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.4.6 Rhetorik der kulturellen Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.4.7 Zar als ontologisches Zentrum der Macht . . . . . . . . . . . 90

6

Inhalt

4. Manifestationen imperialer Herrschaft in »Ukus angela« (1999) von Pavel Krusanov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4.1 Die Petersburger Fundamentalisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4.2 Handlung, Erzählungsrahmen und Rezeption des Romans »Ukus angela« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4.3 Der politische Körper des Imperators . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.3.1 Die Ambivalenzen des Asiatischen . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.3.2 »Blut zweier eurasischer Imperien« . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.3.3 Der Dualismus »heilig – diabolisch« . . . . . . . . . . . . . . . 115 4.4 Der Körper des Imperiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4.4.1 Metamorphosen des geografischen Raumes . . . . . . . . . . 124 4.4.2 Imperium als Lebewesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4.4.3 Lokalisierung von Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4.4.4 Imperiale Unifizierungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . 131 5. Einheit und Heterogenität des Imperiums in »Evrazijskaja simfonija« (2000–2005) von Chol’m van Zajčik . . . . . 135 5.1 Die Romanreihe: eine kultur- und literaturwissenschaftliche Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 5.2 Visionen des Imperiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.2.1 Herstellung interethnischer und interkonfessioneller Einheit 143 5.2.2 Figurationen politischer Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 149 5.2.3 Topografien des imperialen Raums . . . . . . . . . . . . . . . 153 5.3 Zwischen Einheit und verschleierter Teilung . . . . . . . . . . . . . 159 5.3.1 Überwindung der drohenden Teilung . . . . . . . . . . . . . 159 5.3.2 Scheitern der Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 6. Vladimir Sorokin und imperiale Phantasmagorien . . . . . . . . . . 175 6.1 Dekonstruktion der Machtdiskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 6.2 »Goluboe salo« (1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 6.2.1 Zur Rezeption des Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 6.2.2 Materialisierung der Machtvertikale . . . . . . . . . . . . . . 184 6.3 Der kollektive Körper der Opritschnina . . . . . . . . . . . . . . . 191 6.3.1 Imaginationen Asiens in »Den’ opričnika« . . . . . . . . . . 191 6.3.2 Das Sakrale und die Opritschnina . . . . . . . . . . . . . . . . 197 6.3.3 Gewalt und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 6.4 Die Macht der Simulakren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 6.4.1 Die Entkörperung des Herrschers . . . . . . . . . . . . . . . . 214 6.4.2 Der Zuckerkreml: Simulakrum des politischen Körpers . . . 219

Inhalt

7

6.5 Figurationen des geographischen Raumes . . . . . . . . . . . . . . 230 6.5.1 Raum als Transit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 6.5.2 Tiermetaphorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 6.6 »Tellurija« (2013): Transformation von Räumen und Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 6.6.1 Verwandlung von Zeit in Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 6.6.2 Repräsentationen gemeinschaftlicher Einheit . . . . . . . . . 250 7. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286

1. Einleitung

1.1

Hintergrund und Begrifflichkeit Российская Федерация, объединённая тысячелетней историей, сохраняя память предков, передавших нам идеалы и веру в Бога, а также преемственность в развитии Российского государства, признаёт исторически сложившееся государственное единство.1 (Die Russländische Föderation, die durch die tausendjährige Geschichte vereint ist und das Andenken der Vorfahren, die uns Ideale und den Glauben an Gott übermittelt haben, sowie die Kontinuität in der Entwicklung des Russländischen Staates bewahrt, erkennt die historisch entstandene staatliche Einheit an.2)

2020 fand in Russland eine Verfassungsreform statt. Der Text des neuen Artikels 67.1 ist neben dem Ausdruck »Glauben an Gott«, der heftige Debatten auslöste, insofern interessant, dass er die Begründung der staatlichen Einheit in einer performativen obsessiven Bestätigung zum Ausdruck bringt. Das vereinte Russland erkennt somit seine staatliche Einheit an. Die von Vladimir Putin vorgeschlagene Verfassungsänderung aktualisiert weitergehend eine bestimmte Vision der Geschichte mit erheblicher politischer Bedeutung. Die tausendjährige Geschichte Russlands impliziert im Kontext des Artikels eine durchgehende Verbindung zwischen unterschiedlichen Formen staatlicher Gebilde  – der Kiewer Rus, dem Großfürstentum Moskau, dem Zarentum Russland, dem Russischen Imperium, der UdSSR und dem zeitgenössischen Russland. Durch diese Imagination wird eines der imperialen Ideologeme – die Kontinuität der russischen Staatlichkeit – in der Verfassung Russlands fest­ geschrieben. Artikel 67 wird durch Absatz 2.1. ergänzt: »Die Russländische Föderation gewährleistet den Schutz ihrer Souveränität und territorialer Integri-

1 Stat’ja 67.1 punkt 2 Konstitucii Rossijskoj Federacii (Art. 67.1 Absatz 2 der Verfassung der Russländischen Föderation). 2 Falls anders nicht angegeben, stammen die Übersetzungen von der Verfasserin der vorliegenden Studie.

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Einleitung

tät.« (»Российская Федерация обеспечивает защиту своего суверенитета и территориальной целостности.«3) Die Begründung der staatlichen Einheit ist in diesem Zusammenhang auch mit der territorialen Einheit verbunden und führt im weitesten Sinne auf die Problematik des geografischen Raums Russlands und seiner Grenzen zurück. In den Geisteswissenschaften ist beinahe Konsens, dass räumliche Faktoren eine herausragende Stellung als Bestimmungsgröße kultureller Zusammenhänge in Russland einnehmen.4 Raum gilt als eine der grundlegenden und sinnbildenden Kategorien für die nationale Identität und als eines der Hauptkennzeichen der russischen Denktradition.5 Dabei ist die Erzeugung der russischen Raumentwürfe kulturbedingt und hat im Zuge ihrer langen Entstehung mehrere Konnotationen, zum Teil widersprüchliche und einander konkurrierende Bedeutungen erhalten. Diese Entwürfe scheinen, nachdem sie geschaffen wurden, mit einer Aura der Objektivität versehen6 und ein konstitutiver Bestandteil der imaginären Ordnung zu sein. Die Konzeptualisierung des russischen Raums wird mit vielfältigen Figurationen aufgeladen, die bei näherer Betrachtung einen Rückschluss auf die Rolle des Raums in der politischen und kulturellen Selbstbeschreibung zulassen. Die symbolische Dimension des russischen Raums ist ein Teil dieses imaginativen Prozesses, der der Einheit eines Gemeinwesens zugrunde liegt und der in der Literatur- und Kulturwissenschaft unter dem Begriff des politischen Imaginären diskutiert wird. Der Begriff fokussiert auf jene Modelle und Denkfiguren, die eine Unterscheidung zwischen Faktum und Fiktion im Feld des Politischen

3 Stat’ja 67 punkt 2.1. Konstitucii Rossijskoj Federacii (Art. 67 Absatz 2.1. der Verfassung der Russländischen Föderation). 4 Im Einleitungsartikel zum Sammelband »Mastering Russian Spaces. Raum und Raumbewältigung als Probleme der russischen Geschichte« weist Karl Schlögel darauf hin, dass die Konzeptualisierung des Raums untrennbar mit russischen Selbst- und Fremdbildern verbunden sei. So werden z. B. Weite und Unendlichkeit der Landschaft mit mentalen Eigenschaften des Volkes wie »Grenzlosigkeit, eine Neigung zu Ekstase, Exzess« assoziiert. (Vgl. Schlögel, Karl: Raum und Raumbewältigung als Probleme der russischen Geschichte, In: Schlögel, Karl (Hg.): Mastering Russian Spaces. Raum und Raumbewältigung als Probleme der russischen Geschichte, München 2011, 1–25, hier 2 f.). 5 Vgl. Klitsche-Sowitzki, Ulrike: Eurasismus und »Neoeurasismus« in Russland. Historischer Abriss und Funktionsanalyse des Raumkonzeptes Eurasien, In: Lehmann-Carli, Gabriela / Drosihn, Yvonne / K litsche-Sowitzki, Ulrike (Hg.): Russland zwischen Ost und West? Gratwanderungen nationaler Identität. Berlin 2011, 81–145, hier 87; vgl. Frank, Susi K.: Raum als Traum(a). Zur Geschichte der russischen Geokulturologie. In: Artem’eva, Tat’jana / Mikešin, Michail (Hg.): Istorija idej kak metodologija gumanitarnych issledovanij. Sankt-Peterburg 2001, 165‒187, hier 165. 6 Vgl. Bassin, Mark: Russia between Europe and Asia: The Ideological Construction of Geographical Space. In: Slavic Review 50/1 (1991), 1–17, hier 2.

Hintergrund und Begrifflichkeit 

11

infrage stellen und an institutionalisierten Strukturen einer Gesellschaft zu erkennen sein können.7 Im postsowjetischen Russland wird die Kategorie des Raums in den politischen und kulturellen Identitätsaushandlungsprozessen oftmals im Zusammenhang mit der Neubelebung eurasischer Ideen diskutiert.8 Die in den 1920er- und 1930er-Jahren im russischen Emigrationskreis entstandenen eurasischen Ideen werden im postsowjetischen Russland neu aktualisiert und transformiert. Dabei zeigt sich der Rückgriff auf eurasische Identitätskonzepte in mehreren Feldern: Unter dem Begriff des Neo-Eurasismus werden sowohl verschiedene Strömungen politisch-ideologischer Programme und deren Auswirkung auf Publizistik und Wissenschaft als auch die Auseinandersetzung mit Raum im Rahmen der russischen Geokulturologie9 sowie die künstlerische Reflexion der eurasischen Ideen verstanden.10 Unter dem (Neo-)Eurasismus wird vorliegend im weitesten Sinne eine philosophische, geopolitische, ideologische Bewegung subsumiert, die in Bezug auf die Dichotomie zwischen Westen und Osten bzw. Europa und Asien die östliche (asiatische) Komponente als integralen Bestandteil der russischen politischen und kulturellen Identität Russlands betrachtet. Es handelt sich allerdings in diesem Konstrukt um imaginierte Visionen von Asien bzw. Osten, die mit Selbstprojektionen und Wunschvorstellungen aufgeladen sind. Im Gegenteil – Europa im klassischen Eurasismus und insbesondere die USA im zeitgenössischen Neo-Eurasismus werden als Antipoden der besonderen Kultur des eurasischen Raums wahrgenommen. Ungeachtet einiger Unterschiede in den geopolitischen Positionen nähert sich der Neo-Eurasismus dem klassischen Eurasismus in Bezug auf die Rhetorik der Einheit, die mit den Kategorien von Raum, politischer Herrschaftsform, Volk und ihren Interdependenzen operiert. Im Folgenden werden unter dem (Neo-)Eurasismus sowohl der klassische Eurasismus als auch seine zeitgenössische Version verstanden. »Eurasien« wird in dieser Hinsicht als ein fiktionales Konstrukt eingestuft, dem bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden und das in Abgrenzung zu dem Begriff Eurasien als Kontinent und zu der wirtschaftlichen Integration in dieser Region11 zu betrachten ist. Auch grenzt sich die Verwendung dieses 7 Vgl. Koschorke, Albrecht / Lüdemann, Susanne / Frank, Thomas / Matala de Mazza, Ethel: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt am Main 2007, 56 f. 8 Vgl. Klitsche-Sowitzki: Eurasismus und »Neoeurasismus« in Russland. Historischer Abriss und Funktionsanalyse des Raumkonzeptes Eurasien, 82. 9 Zur Geokulturologie siehe Kapitel 2.2.2. 10 Vgl. Klitsche-Sowitzki: Eurasismus und »Neoeurasismus« in Russland. Historischer Abriss und Funktionsanalyse des Raumkonzeptes Eurasien, 83. 11 Zu der wirtschaftlichen Integration in Eurasien siehe Kleineberg, Michael / Kaiser, Markus: »Eurasien« – Phantom oder reales Entwicklungsmodell für Russland? In: Kaiser / Markus

12

Einleitung

Begriffs von der postimperialen und postkolonialen Konnotation ab, die nicht auf einen einzelnen Staat verweist, sondern politische und kulturelle Wechselbeziehungen zwischen Völkern hervorhebt und eher einen Gegensatz zu dem ideologischen Imperativ der imperialen Einheit darstellt.12 Die (neo-)eurasische Ideologie wird in der vorliegenden Arbeit als eine diskursive Bedeutungskonstruktion angesehen, die die kulturelle, politische und geographische Einheit des imaginierten Eurasiens als eine vorhandene Gegebenheit postuliert. Der (Neo-)Eurasismus bezieht sich für seine Konstruktion des idealen imperialen Staates weitgehend auf die historischen Realien des Russischen Imperiums und der Sowjetunion. Bei alledem ist die Vision des Imperiums13 bei den (Neo-)Eurasiern eine synthetisierte Konstruktion, die Elemente aus dem geschichtswissenschaftlichen Diskurs über das Thema Imperium sowie eigene Ideen vereint. In der geschichtswissenschaftlichen Diskussion wird insbesondere die räumliche Ausbreitung von Macht als typisches Merkmal von Imperien genannt.14 Zu der räumlichen Organisation von Imperium gehört die Einteilung seines Gebiets in ein Zentrum und eine Peripherie. In der Regel zeichnen sich die entstehenden Beziehungen durch einen ungleichmäßigen Charakter aus. Die Integrationslogik des Imperiums drückt sich, wie Martin Aust schreibt, in verschiedenen Ausprägungen von Machtverhältnissen zwischen dem imperialen Zentrum und den Regionen aus.15 Imperien tendieren zu einer autokratischen Regierungsform. Die Einbeziehung der Bürger ist in dieser Hinsicht asymmetrisch: von der Machtteilhabe von Eliten bis zur Rechtlosigkeit breiter Bevölkerungsgruppen.16 Die räumliche Logik von Imperien wird ebenfalls durch das Konzept einer nicht klar gekennzeichneten Grenze17 bestimmt. Susi Frank unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei Typen der Grenze: absolute Grenze  – eine Grenze zur Außenwelt, die das Ende der zivilisierten Welt markiert – und eine periphere Grenze oder einen Grenzraum, der durch expansive Logik und ihr

(Hg.): Auf der Suche nach Eurasien. Politik, Religion und Alltagskultur zwischen Russland und Europa. Bielefeld 2004, 173–196, hier 186. 12 Zu der Etablierung neuer Bedeutungen im Konzept »Eurasien« siehe Kukulin, Il’ja: »Eurasien« statt »Russische Welt«. Zum Wandel eines schillernden Begriffs. Osteuropa 67/11–12 (2017), 173–186. 13 Russland in der postsowjetischen Zeit wird nicht als Imperium im strikten Sinne des Worts bezeichnet, doch dem Land wird ein signifikantes imperiales Erbe zugeschrieben. (Vgl. Aust, Martin: Die Schatten des Imperiums. Russland seit 1991. München 2019, 29.) 14 Vgl. Münkler, Herfried: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft ‒ vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Bonn 2005, 23; Aust: Die Schatten des Imperiums. Russland seit 1991, 24. 15 Vgl. Aust: Die Schatten des Imperiums. Russland seit 1991, 26. 16 Vgl. ebd. 17 Vgl. ebd.

Hintergrund und Begrifflichkeit 

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räumliches Verschieben gekennzeichnet ist und die Aufnahme neuer Gebiete in der imperialen Ideologie legitimiert.18 Ein weiteres wichtiges Merkmal von Imperien ist die kulturelle und sprachliche Heterogenität von Gesellschaft.19 Der Begriff des Imperiums setzt eine differenzierte Zusammensetzung seiner Bevölkerung voraus, deren Teile sich nach verschiedenen Kriterien unterscheiden und auf verschiedene Art und Weise regiert werden.20 Differenzen werden zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen nicht aufgehoben, sondern strategisch genutzt, um mit Worten von Susi Frank »die verhältnismäßig lange Zeiträume friedlichen Zusammenlebens«21 zu erschaffen. Ferner haben Imperien eine universale Idee bzw. Mission.22 Unter dieser Schirmherrschaft werden räumliche Expansionen durchgeführt und angrenzende Völker sowie Territorien imperialem Einfluss ausgesetzt. Diese universelle, bindende Mission kann sich im Laufe der Zeit signifikant ändern, allerdings wird diese Idee zu einem bestimmten Zeitpunkt als die einzig richtige für die politische Entwicklung des Imperiums angesehen.23 Die Beziehung zu den anderen drückt sich in der Verwendung von »Welt«-Begriffen aus, »die stets von einem konkreten geographischen Raum ausgehen, aber durch eine implizierte universale Idee und die durch den Weltbegriff unterstrichene Transnationalität einen globalen Horizont (und Anspruch) haben.«24 Ein Beispiel ist dafür der im 19. Jahrhundert entstandene Begriff »Russkij mir« (»Russische Welt«), der sich in der Putin-Ära als außenpolitische Doktrin etabliert hat.25 Die Ideologie des (Neo-)Eurasismus operiert ebenfalls mit einer universalen Idee, die »Eurasien« als besondere Welt darstellt.26 So ist der Neo-Eurasismus einerseits eines der Zeichen, ein ideologisches Produkt des

18 Vgl. Frank, Susi K.: Thesen zum imperialen Raum am Beispiel Russlands. In: Grob, Thomas (Hg.): Erzählte Mobilität im östlichen Europa. (Post-)imperiale Räume zwischen Erfahrung und Imagination. Tübingen 2014, 197–220, hier 210 f. 19 Vgl. Aust: Die Schatten des Imperiums. Russland seit 1991, 24; vgl. Frank, Susi K.: Thesen zum imperialen Raum am Beispiel Russlands, 205. 20 Vgl. Burbank, Jane / Cooper, Frederick: Empires in world history. Power and the politics of difference. Princeton, Oxford 2010, 8. 21 Frank: Thesen zum imperialen Raum am Beispiel Russlands, 197 f. 22 Vgl. ebd., 201. 23 Susi Frank weist darauf hin, dass sich die imperiale Geschichte Russlands insgesamt durch drei Ideen bzw. Missionen auszeichnete: Das orthodoxe Christentum als Legitimation der räumlichen Expansion in den eurasischen Osten im 16. und 17. Jahrhundert, das europäische Zivilisationsprojekt in der petrinischen Zeit des 18. und 19. Jahrhunderts als eine Legitimierungsstrategie im gesamten nordöstlichen eurasischen Kontinent und die sowjetische Zivilisation als globales Expansionsprojekt. (Vgl. ebd.) 24 Ebd., 202. 25 Vgl. ebd. 26 Vgl. ebd.

14

Einleitung

postimperialen Staates, andererseits konstruiert die Bewegung ihre utopische ideelle Vision von Imperium. Die Rhetorik des (Neo-)Eurasismus als universeller einheitlicher Idee kongruiert in vielerlei Hinsicht mit dem voranstehend erwähnten Diskurs von Imperium. In der (neo-)eurasischen imperialen Konstruktion kommt der Begründung des Vielvölkerstaates eine Schlüsselrolle zu. Um die Einheit des multikulturellen Imperiums zu untermauern, entwickeln die Eurasier eine Reihe figurativer Strategien, gemäß denen Raum, Kultur und politische Form Eurasiens ein einheitliches Ganzes bilden sollen. Eine der Forschungsfragen, die in der vorliegenden Arbeit adressiert werden, bezieht sich auf die rhetorischen Strategien dieser Einheit im (Neo-) Eurasismus. Zudem wird betrachtet, wie die Literatur der postsowjetischen Zeit Bezug zu dem (neo-)eurasischen imperialen Diskurs nimmt. In der vorliegenden Arbeit geht es demnach um die Analyse des politischen Imaginären an der Schnittstelle zwischen der (neo-)eurasischen Ideologie und der russischen Literatur. Dabei gehe ich auf die Aspekte ein, die aus dem Wechselspiel zwischen dem Konzept des Imperiums im (neo-)eurasischen Diskurs sowie seiner Reflexion in literarischen Werken resultieren. Insbesondere soll untersucht werden, welche figurativen Verfahren im (Neo-)Eurasismus genutzt werden, um die politische und räumliche Einheit Eurasiens zu begründen. In Bezug auf die interdiskursive und subversive Funktion der fiktionalen Literatur wird analysiert, welche Ideen und Vorstellungen im Zusammenhang mit dem (neo-)eurasischen politischen Imaginären aktualisiert werden und wie die poetische und ästhetische Kraft der Literatur über die (neo-)eurasische Vision des Imperiums hinausgeht. Im Hinblick auf das Spannungsverhältnis zwischen dem politisch-ideologischen Diskurs des (Neo-)Eurasismus und der fiktionalen Literatur wird gefragt, welche Entwürfe und Gegenentwürfe des eurasischen Imperiums die russischen Schriftsteller der postsowjetischen Zeit hervorbringen. Obwohl der Literaturzentrismus der russischen Kultur allmählich an Bedeutung verliert, bleibt die fiktionale Literatur in Russland wichtiger Knotenpunkt gesellschaftlicher Debatten, der zugleich neue Sichtweisen auf existierende Sachverhalte über die eigenen Grenzen hinaus produziert. Literatur nimmt am allgemeinen Diskurs nicht nur teil, sie »verhält sich als Gegendiskurs, der eine Subversion des Wissens leitet.«27 Literatur eröffnet einen Raum, in dem sowohl destabilisierende als auch mitkonstituierende Strategien der postsowjetischen russischen Ideologien in Bezug auf die Rolle von Nation,

27 Geisenhanslüke, Achim: Gegendiskurse. Literatur und Diskursanalyse bei Michel Foucault. Heidelberg 2008, 129.

Forschungsstand 

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Imperium, Raum und Geschichte in der politischen Imagination verfolgt werden können.28 Die vorliegende Arbeit setzt sich mit den literarischen Entwürfen zu (neo-) eurasischen imperialen Visionen auseinander. Speziell betrachtet werden wird, wie die Einheit des fiktionalen Raums »Eurasien« in literarischen Werken realisiert wird. Auch die damit verbundenen Fragen nach der politischen Verkörperung des eurasischen Raums, Fragen der Integration und Desintegration sowohl von Raum als auch von Gesellschaft stehen im Mittelpunkt der Analyse. Der Fokus der Studie liegt auf den miteinander verflochtenen und sich einander beeinflussenden rhetorischen Strategien, die sich um folgende Kategorien entwickeln und den imperialen Selbstrepräsentationen zugrunde liegen: Raum, interne und externe Grenzziehungen, gesellschaftliche Bildungsprozesse sowie die politische Verkörperung von Gemeinwesen.

1.2 Forschungsstand Die Wiederbelebung der eurasischen Konzepte mit ihrer Inkorporation des Konzeptes »Asien« in die Identitätsaushandlungen hat ebenfalls Auswirkungen auf die literarische und künstlerische Szene in Russland, was auf die Brisanz des Themas hindeutet. Die diskursive Auseinandersetzung mit den (neo-)eurasischen Ideologemen und Mythologemen hat dabei eine ganze, fast unüberschaubare Reihe von Studien und zahlreiche Artikel hervorgebracht. Einen bedeutenden Beitrag dazu leisten die Monografien und Artikel von Marlène Laruelle: »Ideologija russkogo evrazijstva, ili, Mysli o veličii imperii«29, »Russian Eurasianism. An Ideology of Empire«30, »Pereosmyslenie imperii v postsovetskom prostranstve: novaja evrazijskaja ideologija«31, »The Two Faces of Contemporary Eurasianism: An Imperial Version of Russian Nationalism«32. Die Studie von Stefan Wiederkehr »Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit

28 Vgl. Kåre Mjør, Johan / Turoma, Sanna: Afterword: Back to the Future, Forward to the Past? Explorations in Russian Science Fiction and Fantasy. In: Suslov, Mikhail / Bodin, Per-Arne (Hg.): The Post-Soviet Politics of Utopia. Language, Fiction and Fantasy in Modern Russia. London, New York 2019, 315–330, hier 316. 29 Laruelle, Marlène: Ideologija russkogo evrazijstva ili Mysli o veličii imperii. Moskva 2004. 30 Laruelle, Marlène: Russian Eurasianism. An Ideology of Empire. Washington, DC 2008. 31 Laruelle, Marlène: Pereosmyslenie imperii v postsovetskom prostranstve: novaja evrazijskaja ideologija. In: Vestnik Evrazii 1/8 (2000), 5–17. 32 Laruelle, Marlène: The Two Faces of Contemporary Eurasianism: An Imperial Version of Russian Nationalism. In: Nationalities Papers 32/1 (2004), 115–136.

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Einleitung

und im postsowjetischen Russland«33 liefert die kulturhistorische Entwicklung des Eurasismus seit seiner Entstehung bis zu seinen neuen Erscheinungsformen. Wichtige Arbeiten zu der Entstehung des klassischen Eurasismus als der politischen und kulturellen Ideologie entstammen der Feder Sergej Glebovs: »Evrazijstvo meždu imperiej i modernom«34, »From empire to Eurasia. Politics, scholarship and ideology in Russian Eurasianism, 1920s–1930s«35. Maßgebliche Beiträge zum Phänomen des Eurasismus und seiner identitätsstiftenden Funktion im Kontext der Raumdebatten stammen ebenfalls von Mark Bassin: »Myslit’ prostranstvom: Eurasia and Ethno-Territoriality in Post-Soviet Maps«36, »Nationhood, Natural Regions, Mestorazvitie  – Environmentalist Discourses in Classical Eurasianism«37. Zu nennen ist auch der Sammelband »Between Europe and Asia. The origins, theories, and legacies of Russian Eurasianism« unter Herausgeberschaft von Mark Bassin, Sergej Glebov und Marlène Laruelle. Umfassend setzt sich Aleksandr Höllwerth mit den Publikationen von Aleksandr Dugin – einem der wichtigsten zeitgenössischen Vertreter des (Neo-)Eurasismus – in »Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin. Eine Diskursanalyse zum postsowjetischen russischen Rechtsextremismus«38 auseinander. Der Reflexion des Eurasismus in der fiktionalen Literatur ist eine Reihe von Publikationen gewidmet. In ihrer Dissertation »From Scythia to a Eurasian Empire«39 untersucht Tatiana Filimonova eurasische Ideen in literarischen Texten in der Zeitspanne vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur postsowjetischen Zeit. Sie zeigt, dass eine Anhäufung eurasisch-imperialer Motive in der fiktionalen Literatur aus dem Zusammenfluss mehrerer Diskurse resultiert: slawophile Interpretation Russlands als besonderer Kultur, symbolistische 33 Wiederkehr, Stefan: Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland. Weimar 2007. 34 Glebov, Sergej: Evrazijstvo meždu imperiej i modernom. Istorija v dokumentach. Moskva 2010. 35 Glebov, Sergey: From empire to Eurasia. Politics, scholarship and ideology in Russian Eurasianism, 1920s-1930s. DeKalb / Illinois 2017. 36 Bassin, Mark: Myslit’ prostranstvom: Eurasia and Ethno-Territoriality in Post-Soviet Maps. In: Frank, Susi K. / Smirnov, Igor’ (Hg.): Zeit-Räume. Neue Tendenzen in der historischen Kulturforschung aus der Perspektive der Slavistik. Bd. 49: Wiener slawistischer Almanach. Wien 2002, 15–35. 37 Bassin, Mark: Nationhood, Natural Regions, Mestorazvitie – Environmentalist Discourses in Classical Eurasianism. In: Bassin, Mark / Ely, Christopher David / Stockdale, Melissa Kirschke (Hg.): Space, place, and power in modern Russia. Essays in the new spatial history. DeKalb 2010, 49–78. 38 Höllwerth, Alexander: Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin. Eine Diskursanalyse zum postsowjetischen russischen Rechtsextremismus. Stuttgart 2007. 39 Filimonova, Tatiana: From Scythia to a Eurasian Empire: The Eastern Trajectory in Russian Literature 1890–2008. URL : https://search.proquest.com/docview/1400005908 (am 18.11.2020).

Forschungsstand 

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Wahrnehmung von Russlands Rolle in der Weltkultur sowie der Diskurs des klassischen Eurasismus der postrevolutionären Zeit und seine Renaissance in der Form der neo-eurasischen Ideologie. In dem Artikel »Chinese Russia: Imperial Consciousness in Vladimir Sorokin’s Writing«40 setzt sie sich mit den Imaginationen Chinas in ausgewählten Werken von Vladimir Sorokin als einer Projektionsfläche des russischen imperialen Selbstbewusstseins auseinander. In »Vladimir Sorokin’s Telluria«41 betrachtet sie die post-imperiale Welt in Sorokins Werk im Zusammenhang mit dem Konzept des neuen Mittelalters, das von Berdjaev geprägt wurde und in neo-eurasischen Schriften Dugins reflektiert wird. Einen Überblick über die Ausprägungen des eurasischen Kulturbilds in Literatur, Kunst und Film gibt Ulrike Klitsche-Sowitzki in ihrer Publikation »Eurasismusund »Neoeurasismus« in Russland«42. Der literaturwissenschaftliche Blick fokussiert vor allem auf die Schriftsteller sowjetischer Zeit (Andrej Belyj, Velimir Chlebnikov und Olžas Sulejmanov) und geht auf die Beziehung zwischen dem Eurasismus und der Literatur ein. Sie weist darauf hin, dass die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Konzept Eurasien einerseits den Traditionen der russischen Raumdiskussionen folgt, andererseits politische Motive in einigen Werken zutage treten lässt. Geografische Metanarrative in den russischen Identitätsdebatten untersucht Edith Clowes am Beispiel der literarischen Texte relevanter russischer Schriftsteller und Denker der postsowjetischen Zeit.43 Anhand der symbolischen Achsen »Zentrum  – Peripherie«, »Zentrum  – Grenze«, »Norden  – Süden«, »Westen – Osten« analysiert sie die Herausbildung der räumlich-basierten Identitätskonstruktionen in Russland. Die Autorin legt dar, dass die Dynamik der Zentrum-Peripherie-Beziehungen immer mehr die Identitätsaushandlungen in Russland prägen. Dabei sind sowohl symbolische als auch reale Peripherien und Grenzen ein Ort der kreativen Erneuerung in Russland, die zur Entwicklung der Kultur beitragen, während sich Moskau von dieser Dynamik isoliert. Ein Kapitel widmet sie dem Roman von Viktor Pelevin »Čapaev i pustota« (1996) und betrachtet ihn als Satire des Neo-Eurasismus. Pelevins Roman stellt die postsowjetische geopolitische Verknüpfung von 40 Filimonova, Tatiana: Chinese Russia: Imperial Consciousness in Vladimir Sorokin’s Writing. In: Region: Regional Studies of Russia, Eastern Europe, and Central Asia 3/2 (2014), 219–244. 41 Filimonova, Tatiana: Vladimir Sorokin’s Telluria. Post-imperial Eurasia, Fragmented Europe: In: Byford, Andy / Doak, Connor / Hutchings, Stephen C. (Hg.): Transnational Russian studies. Liverpool 2020, 94–110. 42 Klitsche-Sowitzki: Eurasismus und »Neoeurasismus« in Russland. Historischer Abriss und Funktionsanalyse des Raumkonzeptes Eurasien. 43 Clowes, Edith W.: Russia on the edge. Imagined geographies and post-Soviet identity, Ithaca / New York 2011.

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Einleitung

Identität und geografischem Raum infrage, indem dem Raum letztlich dessen identitätsstiftende Funktion aberkannt wird und aufgeklärtes Bewusstsein außerhalb des Raums existieren kann.44 In »Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur«45 widmet Ulrich Schmid ein Kapitel dem (Neo-)Eurasismus sowie dessen literarischen Umsetzungen. Er verfasst einen Überblick über die Werke von Michail Tarkovskij, Chol’m van Zajčik, Aleksej Ivanov sowie über ein literarisches Internetprojekt »Etnogenez« von Konstantin R ­ ykov. Letzteres ist eine literarische Serie von mehreren Autoren, die einerseits von Lev Gumilëvs Theorie der Ethnogenese inspiriert ist und andererseits die Protagonisten der Romane als Gumilëvs Nachfahren in der fiktionalen Welt darstellt. Einen Beitrag zur Erforschung der Wechselwirkung zwischen dem Eura­ sismus und dem Selbstverständnis Russlands leistet der interdisziplinäre Sammelband »Beyond the Empire: Images of Russia in the Eurasian Cultural Context«46. Die Aufsätze des Bandes befassen sich aus einer breit angelegten interdisziplinären und geografischen Perspektive mit den Vorstellungen über das Eigene und das Andere in Russland, der Problematik des Kolonialismus, des Post-Kolonialismus und des Imperialismus sowie mit den Bildern Russlands in der Literatur. Anzumerken ist in dieser Hinsicht der Beitrag von Go Koshino »The Image of Empire in Contemporary Russia’s »Alternative Histories««47, der auf steigende Tendenzen der imperialen Darstellung in der russischen Literatur der postsowjetischen Zeit eingeht. 2018 ist der Sammelband »Russland und / a ls Eurasien«48 erschienen, der sich geopolitischen und ideologischen eurasischen Konstrukten, sprachlichen und kulturellen Modellen sowie spiritualistischen und identitätsstiftenden Konzepten im (neo-)eurasischen Diskurs widmet. Zu nennen sind die Beiträge, die sich explizit mit der Reflexion eurasischer Motive in literarischen Projekten bzw. der literarischen Dimension des Eurasismus auseinandersetzen: »Eurasien im Retrofutur: Vladimir Sorokins Tellurija« von Dirk Uffelmann (S. ­45–66) und »Hat Literatur einen Ort? Literaturwissenschaftliche

44 Vgl. ebd., 94. 45 Schmid, Ulrich: Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur. Berlin 2015. 46 Mochizuki, Tetsuo (Hg.): Beyond the empire. Images of Russia in the Eurasian cultural context. Sapporo 2008. 47 Koshino, Go: The Image of Empire in Contemporary Russia’s »Alternative Histories«. In: Mochizuki, Tetsuo (Hg.): Beyond the empire. Images of Russia in the Eurasian cultural context. Sapporo 2008, 391–408. 48 Engel, Christine / Menzel, Birgit (Hg.): Russland und / a ls Eurasien. Kulturelle Konfigurationen. Berlin 2018.

Forschungsstand 

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Aspekte von Pëtr Savickijs geographischem Strukturalismus« von Tomáš Glanc (S. 111–123). Die Beiträge des 2019 veröffentlichten Sammelbandes »Resignification of Borders: Eurasianism und the Russian World«49 fokussieren sich neben dem ideologischen Diskurs des (Neo-)Eurasismus auf das Konzept der »Russischen Welt«, das seit dem Anfang der 2000er-Jahre sowohl den innen- als auch den außenpolitischen russischen Diskurs prägt. Der Beitrag »Beyond the Imperial Matrix. Literary Eurasianism in Contemporary Russian Literature« von Clemens Günther und Svetlana Sirotinina adressiert verschiedene Konzeptualisierungen und Formen des (Neo-)Eurasismus sowie ihre Ausprägungen in fiktionaler Literatur. Die Autoren unterscheiden fünf Typen des Eurasismus: 1) der imperiale Eurasismus, der speziell von Aleksandr Dugin vertreten wird; 2) ironischer Eurasismus, der die Elemente des vorgenannten imperialen Diskurses einerseits parodiert und andererseits eine ambivalente Position zur utopischen Vision »Eurasien« nimmt; 3) der postkoloniale Eurasismus setzt sich mit den peripheren Räumen auseinander und dekonstruiert aus dieser Perspektive den hegemonialen imperialen Diskurs; 4) in die vielfältigen Formen des Eurasismus schließen die Autoren darüber hinaus den regionalen und biografischen Eurasismus ein,50 zu den Vertretern des regionalen Eurasismus zählen sie Aleksej Ivanov, der in seinen Werken anhand der Region Ural das Zentrum-Peripherie-Verhältnis im russischen Selbstverständnis aushandelt;51 5) die Werke des biografischen Eurasismus platzieren interkulturelle Begegnungen der Protagonisten mit dem Kaukasus oder Zentralasien in einen größeren Kontext der imperialen Expansion wie im Fall der UdSSR oder Desintegration in der postsowjetischen Zeit.52 Die Definition des Eurasismus ist in dem Beitrag breit gefasst und umfasst mehrere Kategorien aus anderen imperialen und geokulturologischen Diskursen. Der Einteilung in unterschiedliche Typen des Eurasismus liegen darüber hinaus verschiedene Kategorien zugrunde, was die analytische Anwendung dieses Konzepts problematisch werden lässt. In der bisherigen Forschung liegt der Schwerpunkt auf den Ausprägungen des (neo-)eurasischen Kulturverständnisses in der fiktionalen Literatur. Ungeachtet umfangreicher Forschung zum (Neo-)Eurasismus liegt keine Studie vor, die sich systematisch mit der Rhetorik der imperialen Einheit im Kontext der (neo-)eurasischen Imaginationen beschäftigt. Aus interdisziplinärer Per49 Frieß, Nina / Kaminskij, Konstantin (Hg.): Resignification of Borders: Eurasianism und the Russian World. Berlin 2019. 50 Vgl. Günther, Clemens / Sirotinina, Svetlana: Beyond the Imperial Matrix. Literary Eura­ sianism in Contemporary Russian Literature. In: Frieß, Nina / Kaminskij, Konstantin (Hg.): Resignification of Borders: Eurasianism und the Russian World, Berlin 2019, 67–95, hier 72 f. 51 Vgl. ebd., 78 f. 52 Vgl. ebd., 90.

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Einleitung

spektive soll ein Beitrag geleistet werden, diese Lücke zu schließen, indem die miteinander verflochtenen und sich einander beeinflussenden literarischen und politisch-ideologischen Diskurse auf das politische Imaginäre des imaginierten eurasischen Imperiums untersucht werden.

1.3

Methodische Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit

Die Studie konzentriert sich primär auf die literarischen Texte, die in der Zeit von 1991 bis 2013 entstanden sind, als das Konzept »Eurasien« in publizistischen und literarischen Texten vorrangig mit der Idee der imperialen Einheit verbunden war. Da die Literatur Ideologeme sowohl des klassischen Eurasismus als auch der zeitgenössischen Version aktualisiert, wird das politische Imaginäre beider Strömungen in die Arbeit einbezogen. Zum größten Teil reflektieren und thematisieren die postsowjetischen russischen Autoren die imperialen (neo-)eurasischen Motive, die allgemein den Alternativgeschichten zugeordnet werden können oder die Zukunftsentwürfe darstellen. Der Begriff der Alternativgeschichte bezeichnet in Bezug auf literarische Werke im weiten Sinne »jede Art von Geschichtsspekulationen, die von gesicherten historischen Fakten abweichen«53. Die Alternativgeschichte zeigt sich in einer Diskrepanz von der tatsächlichen Vergangenheit auf der Grundlage einer kontrafaktischen Annahme, die ab einem bestimmten Zeitpunkt zu einer anderen Entwicklung der Ereignisse wie in der Romanreihe »Evrazijskaja simfonija« von Chol’m van Zajčik führt. Es geht auch darum, dass Anspielungen auf bestimmte historische Ereignisse und Gegebenheiten verwendet werden, um eine fiktive Geschichte und eine alternative Realität wie in »Ukus angela« von Pavel Krusanov zu konstruieren. In den Werken von Vladimir Sorokin geht es meistenteils um die Zukunftsvisionen des russischen Staates. Im Roman »Goluboe salo« wird ein Zukunftsentwurf mit einer Alternativgeschichte durch komplexe narrative Formen verknüpft. Literarische Alternativgeschichten und Zukunftsszenarien weisen mehr Parallelen untereinander auf, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Die kognitive Operation in der Berechnung alternativer Möglichkeiten, die der kontrafaktischen Geschichtsmodellierung zugrunde liegt54, setzt ebenfalls die Konstruktion literarischer Zukunftsentwürfe voraus. Beide Genres  – 53 Nicolosi, Riccardo: Vasilij Aksënovs Roman Ostrov Krim (Die Insel Krim) und die kulturgeschichtliche Dimension kontrafaktischen Erzählens in der Sowjetunion. In: Nicolosi, Riccardo /  Obermayr, Brigitte / Weller, Nina (Hg.): Interventionen in die Zeit. Kontra­ faktisches Erzählen und Erinnerungskultur, Paderborn 2019, 135–166, hier 138. 54 Vgl. Singles, Kathleen: Alternate history. Playing with contingency and necessity. Berlin 2013, 2.

Methodische Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit 

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Alternativgeschichten und Zukunftsliteratur – basieren in ihrer Modellierung alternativer Wirklichkeit (vergangener oder zukünftiger) auf bekannten Fakten. Für beide führt ein Gedankenexperiment unter der Annahme »was wäre, wenn« zur Auswahl bzw. Erfindung von möglichen Entwicklungsoptionen und zur Spekulation ihrer plausiblen Konsequenzen. Während Alternativgeschichten mit dem tatsächlichen Geschichtsverlauf spielen, beschäftigt sich Zukunftsliteratur mit einer »Konstruktion von möglichen alternativen Welten, zukünftigen Gesellschaften und fremden Wesen, die sich von der empirischen Umgebung des Autors grundsätzlich unterscheiden, aber implizit auf sie zurückweisen.«55 Für beide Genres besteht ein Bezug zu einer historischen oder gegenwärtigen Situation. In der russischsprachigen Forschung werden literarische Alternativgeschichten und Zukunftsversionen in einem zusammenhängenden Kontext vor dem Hintergrund ihres sozialen und politischen Bezugs zu der postsowjetischen Gegenwart betrachtet.56 Die Werke entwerfen alternative Zukunfts­ versionen und -visionen, die Parallelen zu bestimmten Epochen der Vergangenheit aufweisen. Die Autoren wenden sich an alternative Geschichtsmodelle und Zukunftsszenarien, um die heutigen problematischen Entwicklungstendenzen in Russland zu verdeutlichen. Häufig reflektieren die Autoren anhand Alternativgeschichten und Zukunftsvisionen die Verstärkung des imperialen Bewusstseins in Russland. Für die Analyse sind insbesondere Werke relevant, in denen sich die Entfaltung und die Weiterentwicklung (neo-)eurasischer Motive mit der imperialen Rhetorik überlagern. Sie sind von anderen literarischen Werken abzugrenzen, in denen sich imperiale Motive mit anderen ideologischen Konzepten überschneiden.57 Sie unterscheiden sich ebenfalls von den Werken, in denen das 55 Esselborn, Hans: Die Erfindung der Zukunft in der Literatur. Vom technisch-utopischen Zukunftsroman zur deutschen Science Fiction. Würzburg 2019, 27. 56 Vgl. hierzu die Beiträge von Dimitrij Novochatskij, Alla Latynina und Aleksandr Kabakov: Novochatskij, Dmitrij: Tri vzgljada na alternativnuju Rossiju. Maskavskaja Mekka A. Volosa, Den’ opričnika V. Sorokina, Ukus angela P. Krusanova. In: Studi Slavistici XII (2015), 139–157; Latynina, Alla: Skazki o Rossii. In: Novyj mir 2 (2007), 176–183; Kabakov, Aleksandr: Predskazanie nastojaščego. (Andrej Volos. Maskavskaja Mekka). In: Oktjabr’ 1 (2004), 188–189. 57 Dazu gehören Werke, die das Thema des Imperiums im Kontext des russischen Nationalismus oder der Wiederherstellung der Sowjetunion aufgreifen: »Tret’ja imperija. Rossija, kotoraja dolžna byt’« (2006) von Michail Jur’ev; »Teplochod »Iosif Brodskij«« (2006) von Aleksandr Prochanov; »Vybrakovka« (1999) von Oleg Divov; »Žavoronok« (2004) von Andrej Stoljarov. In »Variant I« (1997) von Vladimir Michajlov geht es um die Wiederbelebung der monarchistischen Regierungsform in Russland und die Behauptung seines Status einer Großmacht dank der Islamisierung des Landes. Imperiale Motive werden auch zum Thema vieler phantastischer Romane, in denen sich die Handlung auf anderen Planeten abspielt: »Velikij Satang« (1996) und »Sel’va ne ljubit čužich« (1999) von Lev Veršinin; »Imperatory illjuzij« (1996) von Sergej Luk’janenko.

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Einleitung

Spiel eurasischer Motive im Sinne einer Bezugnahme auf die asiatische Komponente der russischen Kultur nachgezeichnet wird.58 Nicht zuletzt erfolgt die Auswahl der Texte auf der Grundlage des Bekanntheitsgrads der Autoren in Russland und der Rezeptionswirkung der Werke in Russland. Eine methodische Grundlage der Studie ist der interdiskursanalytische Zugang mit der Anknüpfung narratologischer Ansätze. Der von Michel Foucault ins Spiel gebrachte Begriff konzipiert einen Diskurs als eine sprachliche Repräsentation von Wirklichkeit, die in einer Gesellschaft als tatsächliche Realität wahrgenommen wird und einen Rahmen für Orientierung und Sinngebung vorgibt.59 Anders formuliert, stellt die Gesamtheit sprachlicher Aussagen ein bestimmtes Informationsmodell der Wirklichkeit in einem Abschnitt der gesellschaftlichen Entwicklung dar: »Jede Gesellschaft hat ihr Wahrheitsregime, ihre ›allgemeine Politik‹ der Wahrheit, d. h. jene Diskursformen, die sie als wahr anerkennt und funktionieren läßt«60. In Anlehnung an Foucaults Diskursbegriff entwickelt Jürgen Link eine methodische Grundlage für die Interdiskursanalyse. Eine Schlüsselrolle schreibt er Kollektivsymbolen zu, unter denen die Gesamtheit der Sinnbilder zu verstehen ist, die im kollektiven Bewusstsein verankert sind, semantische Konnotationen aus einzelnen Spezialdiskursen gewinnen und eine integrierende Funktion von diskursiven Ebenen erfüllen.61 Literatur ist in dieser Hinsicht ein Austauschmedium mit anderen Diskursen, indem sie Kollektivsymbole aufnimmt und verarbeitet.62 Die Erzähltheorie bildet eine weitere Anknüpfungsebene für die Studie. Die Erzählung gilt als anthropologische Universalie, die eine symbolische Orientierung und Sinnstiftung für Gesellschaften verleiht.63 Als eine Repräsentation von Ereignissen ist sie ein grundlegendes und strukturorganisierendes Mittel in der Organisation des menschlichen Bewusstseins und in der Vermittlung von Information. 58 Dazu zählt der Roman »Čapaev i Pustota« (1996) von Viktor Pelevin. Elemente der chinesischen Kultur und Philosophie spiegeln sich in verschiedenen Werken Pelevins wider: »SSSR Tajžou Čžuan’« (1991), »Nižnjaja tundra« (1999), »Čisla« (2003), »Zapis’ o poiske vetra« (2003), »Svjaščennaja kniga oborotnja« (2004). 59 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1988, hier 375 f.; vgl. Foucault, Michel: Subjektivität und Wahrheit. Vorlesung am Collège de France 1980–1981. Berlin 2016, 27.  60 Foucault, Michel / Engelmann, Jan (Hg.): Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader Diskurs und Medien. Stuttgart 1999, hier 27. 61 Vgl. Link, Jürgen: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Fohrmann, Jürgen / Müller, Harro (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt am Main 1988, 284–307, hier 286. 62 Vgl. ebd. 63 Vgl. Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt am Main 2013, 10–12.

Methodische Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit 

23

Im Bereich des Politischen manifestiert sich die Bedeutung von Narrativen in Herstellung imaginärer Gemeinschaften. Mithilfe von Erzählungen vollzieht sich die Festlegung von Mitgliedschaftsbindungen von Individuen, die sich zu politischen Personen (Schichten, Klassen oder Generationen) oder zu Kollektivsubjekten (Volk oder Nation) formieren.64 Die Funktion des Erzählens besteht im Bereich des Politischen ebenfalls in der Legitimitätserzeugung und der Verkörperung von Machtansprüchen.65 Im weitesten Sinne geht es bei Narrativen um die Erscheinungsformen, Inszenierungen und ästhetische Repräsentation politischer Macht. Mit Narrativen als elementaren sinnbildenden Einheiten für die Informationsorganisation und -übermittlung wird eine symbolische Ordnung mitkonstituiert. Dieses Verständnis der Narrative nähert sich dem Begriff des Diskurses an. Die Analyse von Narrativen, Ideologien, Symbolsystemen und Diskursen führt oftmals zu Überschneidungen, »teils, weil solche Begriffe selten trennscharf definiert sind, teils, weil zwischen ihnen Funktions­ äquivalenzen bestehen.«66 Aus analytischer Sicht unterscheide ich das Konzept des Diskurses – eine Konstruktion der symbolischen Ordnung durch Festlegung und Stabilisierung bestimmter Bedeutungen – und des Narrativen, das im Zusammenhang mit dem Diskurs in folgenden Dimensionen zu betrachten ist. Die Erzähltheorie richtet »das Augenmerk auf die dynamische Seite der kulturellen Semiosis.«67 Zwei Momente sind hier von Bedeutung. Einerseits ist es die narratologische bzw. die innere temporale Dimension eines Begriffs und andererseits seine Wandlung im Laufe der Geschichte.68 Narrative könnten als Mittel zur Strukturierung und Vermittlung von Aussagen, Begriffen und figurativen Elementen betrachtet werden. In gewisser Weise entfalten sich diskursive Positionen in Narrativen in synchroner und diachroner Perspektive. Neben dem allgemeinen Erzählbegriff knüpft diese Arbeit an die literaturwissenschaftliche Erzähltheorie in dem Sinne an, dass literarische Texte auf ihre spezifische Art und Weise das Spannungsverhältnis zwischen diskursiven Elementen und dem Modus der Erzählung herstellen. Diese Besonderheit wird anhand klassischer narratologischer Analysemethoden fokussiert.

64 Vgl. Llanque, Marcus: Metaphern, Metanarrative und Verbindlichkeitsnarrationen: Narrative in der Politischen Theorie. In: Hofmann, Wilhelm / Renner, Judith / Teich, Katja (Hg.): Narrative Formen der Politik. Wiesbaden 2014, 7–29, hier 19. 65 Vgl. Gadinger, Frank / Jarzebski, Sebastian / Yildiz, Taylan: Politische Narrative. Konturen einer politikwissenschaftlichen Erzähltheorie. In: Gadinger, Frank / Jarzebski, Sebastian  / ​ Yildiz, Taylan (Hg.): Politische Narrative. Konzepte – Analysen – Forschungspraxis. Wiesbaden 2014, 3–38, hier 11 f. 66 Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, 101. 67 Ebd., 102. 68 Vgl. ebd., 268.

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Einleitung

Durch die Verknüpfung interdiskursanalytischer sowie narratologischer Ansätze soll ein Wechselspiel zwischen den konstitutiven, für die imperiale Einheit diskursiven Elementen und ihrer historischen Dynamik gezeigt werden. Des Weiteren wird die Wechselbeziehung mit den literarischen Texten betrachtet, die Bestandteile des Diskurses selektierend aufnehmen und durch den Einbezug fiktionaler Elemente eine differenzierte Vision der symbolischen Ordnung schaffen bzw. sie umwandeln. Nach diesem Überblick über die methodische Herangehensweise wird im nächsten Kapitel die Theorie des politischen Imaginären thematisiert. Zur Erläuterung des Konzepts werden der begriffshistorische sowie interdisziplinäre Hintergrund verdeutlicht. Die dieser Arbeit zugrunde liegende Annahme, dass das politische Imaginäre im Kontext der (neo-)eurasischen Renaissance untrennbar mit geografisch-räumlichen Kategorien verknüpft ist, erweitert das theoretische Instrumentarium der Arbeit um die Konzepte der Semiosphäre von Jurij Lotman sowie der Geopoetik und Geokulturologie. Danach folgen die Behandlungen der figurativen Strategien politischer, kultureller und geografischer Einheit im klassischen Eurasismus und im (Neo-)Eurasismus (Kapitel 3). Ungeachtet der bestehenden Unterschiede zwischen diesen Erscheinungsformen – während der klassische Eurasismus eine erkenntnistheoretische und normative Grundlage des Imperiums anstrebt, konzentriert sich der Neo-Eurasismus primär auf die ideologische Seite und verbindet die Bewegung mit neoradikalen Ansichten  – gibt es bestimmte Schnittpunkte zwischen ihnen. Sie drücken sich in der rhetorischen Grundlage der Einheit aus, die auf die organische Metaphorik zurückzuführen ist. In diesem Kapitel wird betrachtet, welche Figurationen gesellschaftlicher und politischer Einheit die (neo-)eurasische Ideologie hervorbringt. In Kapitel 4 wird der Roman »Ukus angela« (1999 »Der Biss des Engels«) von Pavel Krusanov analysiert. Aufgrund der These, dass ein Gemeinwesen von einer Person repräsentiert und verkörpert werden kann69, geht die Analyse von dem Wechselspiel zwischen der Figur des Imperators Ivan Nekitaev und der Beschaffenheit des politischen Körpers des im Roman entworfenen Imperiums aus. Konzepte von Ost und West, räumliche Expansion, Transformation der politischen Form des Imperiums sowie Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie werden als konstitutive Bestandteile der imperialen Ästhetik des Romans eingestuft. Eurasische Motive sind ein Bestandteil der Romanreihe »Evrazijskaja simfonija« (2000–2005 »Die Eurasische Symphonie«) von Chol’m van Zajčik. Der Zusammenhang zwischen der (neo-)eurasischen Rhetorik und ihrer literarischen Realisierung wird in Kapitel 5 analysiert. Es wird zum einen darauf 69 Vgl. Koschorke / Lüdemann / Frank / Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, 67.

Methodische Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit 

25

eingegangen, welche Ideen und Konzepte der politischen Ordnung des Imperiums diesem Werk zugrunde liegen, und zum anderen auf Spannungen und Diskrepanzen zwischen den in den Romanen postulierten Idealen und dem narrativen Verlauf des letzten Romans der Reihe. Vladimir Sorokin, der mittlerweile als zeitgenössischer Klassiker der russischen Literatur gilt, spielt mit (neo-)eurasischen Ideologemen in seinen zahlreichen Texten. Einen Ausgangspunkt für diese Entwicklung bildet der Roman »Goluboe salo« (1999 »Der himmelblaue Speck«), in dem eine proto-eurasische Gemeinschaft im Sinne der metaphorischen Einheit zwischen Volk und Boden dargestellt wird. In der Reihe von Romanen (»Den’ opričnika« 2006/»Der Tag des Opritschniks«, »Sacharnyj kreml’« 2008/»Der Zuckerkreml«, »Metel’« 2010/»Der Schneesturm«), in denen ein alternatives Zukunftsszenario des russischen Staates entworfen wird, entfaltet sich die (neo-)eurasische Idee der russisch-asiatischen Annäherung in den engen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen China und Russland. In »Tellurija« (2013 »Telluria«) geht es um die postimperiale, postapokalyptische Zukunft des eurasischen Kontinents, die nach den Ereignissen in den zuvor erwähnten Romanen gekommen ist. In Kapitel 6 soll gezeigt werden, welche Formen bzw. rhetorische Mittel der Beschreibung von politischen und sozialen Strukturen zugrunde liegen bzw. welche Imaginationen von Raum in diesen Werken entstehen. Abschließend werden die Elemente des ideologischen Diskurses und der fiktionalen Literatur rund um das imaginierte »Eurasien« in ihrer Wechselbeziehung thematisiert. Im letzten Kapitel wird auf literarische Transformation von imperialen Ideologemen und Figurationen gegenüber der eurasischen Ideologie eingegangen.

2. Theoretische Prämissen

2.1

Das politische Imaginäre

2.1.1 Grundlagen der Gemeinschaftsbildung

Anstelle des in eine Krise geratenen Begriffs der Identität wird der Fokus der kulturwissenschaftlichen Analyse auf den imaginären Prozess der Gemeinschaftsbildung gerichtet. Mit der Identitätskrise wird in Anlehnung an Juliane Spitta der fragile und immer fortdauernde Identifizierungsprozess verstanden, der im Gegensatz zu den Bemühungen nach einer festen und abgeschlossenen Identität eines Gemeinwesens steht.1 Diese Feststellung geht auf die wissenschaftliche Diskussion zurück, die ihre Entfaltung besonders in den poststrukturalistischen und -fundamentalistischen Theorien französischer Philosophen wie Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Giorgio Agamben, Claude Lefort und anderer in den 1960er-Jahren gefunden hat.2 Diese Ansätze setzen eine Blickweise auf einen Ursprung der Gesellschaft voraus, die den Gemeinschaftsbildungsprozess jenseits der Kategorien wie Natürlichkeit oder transzendenter Ursprung verortet.3 Laut Oliver Marchart ist diese Betrachtungsweise durch eine Wende im fundamentalistischen Denken gekennzeichnet. Der Fundamentalismus geht von den revisionsresistenten Prinzipien aus, die eine Grundlage für soziales oder politisches Dasein sind.4 In der Politik spiegelt sich dieses Denken in einer externen Begründung der politischen Funktionsweise wider, die Marchart den transzendenten Grund nennt.5 Im Gegensatz dazu geht die postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft nicht von der Abwesenheit eines Grundes aus, sondern stellt die Notwendigkeit eines ultimativen Grundes in seinem ontologischen Status infrage.6 Metaphy-

1 Vgl. Spitta, Juliane: Gemeinschaft jenseits von Identität? Über die paradoxe Renaissance einer politischen Idee, Bielefeld 2014, 13. 2 Vgl. Marchart, Oliver: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin 2010, 14. 3 Vgl. Lüdemann, Susanne: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären. München 2004, 49. 4 Vgl. Marchart: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, 15. 5 Vgl. ebd., 59. 6 Vgl. ebd., 62.

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Theoretische Prämissen

sische Figuren wie Totalität, Substanz oder auch kulturelle Identität, Staat oder Nation werden im Postfundamentalismus als Letztbegründungen bestritten.7 In diesem Zusammenhang können die Gesellschafts- und Kollektivbildungsprozesse nicht mehr mit einem identifizierbaren Grund assoziiert werden. Die Gesellschaft muss in ihrer Gründung stets Selbstrepräsentationsformen entwickeln: Die Gesellschaft existiert ›grundlos‹; sie ist in keinem Realen verankert […]. Eben deswegen bedarf sie eines »Gründungstheaters« und einer »Gründungsrede«, der imaginären und symbolischen Bearbeitung ihres fehlenden Grundes.8

Eines der Schlüsselkonzepte ist in dieser Hinsicht der Begriff des politischen Imaginären, unter dem die für den Zusammenhalt relevanten Selbstbeschreibungsmechanismen einer Gesellschaft und die Instituierungsprozesse ihrer Einheit verstanden werden. Die theoretische Ausgestaltung des politischen Imaginären geht auf eine Reihe von Vorstellungen und Implikationen zurück. Dabei ist der Begriff des Imaginären maßgeblich, der von Cornelius Castoriadis geprägt wurde.9 Die leitende These seiner Argumentation besteht darin, dass die Ordnung des Imaginären der Instituierung einer Gesellschaft zugrunde liegt. Dabei grenzt sich Castoriadis von dem traditionellen philosophischen Denken ab, das die Entwicklung einer Gemeinschaft in Abhängigkeit von den externen Katego­ rien setzt. In dem Versuch, die symbolischen instituierenden Grundlagen einer Gemeinschaft zu determinieren, konnte die traditionelle Philosophie nie ein Objekt der Untersuchung abgrenzen und es nach ihren Maßstäben analysieren. Im Mittelpunkt der Erforschung standen in der Regel die eine bestimmte Epoche prägenden Zwecke und Regeln der gesellschaftlichen Entwicklung und nicht konstitutive Ursprünge eines politischen Gemeinwesens. Die Normen der traditionellen Ontologie lagen in der Betrachtung einer Gemeinschaft, deren Instituierung auf etwas anderes  – Vernunft, Realität, Wahrnehmung – bezogen wurde.10 Gesellschaft und Geschichte können indes nicht auf biologische oder rationale Erklärungsmodelle zurückgeführt werden. Mit Worten von Susanne Lüdemann zielt Castoriadis auf »die Entdeckung der

7 Vgl. ebd., 16. 8 Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, 61. 9 Eine Genealogie des Imaginären, die ihren Anfang im 18. Jahrhundert in der Philosophie von Rousseau nimmt, ist bei Martin Doll nachzulesen. (Vgl. Doll, Martin: Außer-sichSein: Die imaginäre Dimension der Politik. Einleitung. In: Doll, Martin / Kohns, Oliver (Hg.): Die imaginäre Dimension der Politik. Paderborn 2014, 7–18.) 10 Vgl. Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. Frankfurt am Main 1984, 286.

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Arbitrarität und Konventionalität, kurz: der Kontingenz gesellschaftlicher und politischer Ordnung«11. In seiner Konzeptualisierung des Imaginären erwähnt Castoriadis die psychoanalytischen Strömungen, die sich mit dem Imaginären beschäftigen. Er stellt seine Auffassung des Imaginären dem Lacan’schen »Spiegelhaften« gegenüber: »Das Imaginäre geht nicht vom Bild im Spiegel oder im Blick des anderen aus.«12 Das Imaginäre ist keine bloße Widerspiegelung von Wirklichkeit, es ist vielmehr ein Prozess der Vergemeinschaftung durch Einbildungskraft. Es erweist sich als kreative Fähigkeit von Individuen und Gruppen, neue Sinnbilder und Symbole zu erzeugen: Es ist unaufhörliche und (gesellschaftlich-geschichtlich und psychisch) wesentlich indeterminierte Schöpfung von Gestalten / Formen / Bildern, die jeder Rede von ›etwas‹ zugrundeliegen. Was wir ›Realität‹ und ›Rationalität‹ nennen, verdankt sich überhaupt erst ihnen.13

Wichtig ist bei Castoriadis die Unterscheidung zwischen dem radikalen und dem aktualen Imaginären. Das radikale Imaginäre bildet eine Grundlage für die Schöpfung weiterer Bedeutungen. Es ist eine elementare Operation, einen bildlichen Eindruck von etwas zu erzeugen. Er nennt es auch ein Grund­ phantasma, das dem Subjekt ermöglicht, die Vorstellungen der Wirklichkeit zu systematisieren und ein »gegliedertes Beziehungssystem« zu entwickeln, »in dem ›Inneres‹ und ›Äußeres‹ gesetzt, getrennt und vereinigt werden, es umreißt die Möglichkeiten des Handelns und Wahrnehmens, verteilt archetypische Rollen, bestimmt diejenige, die das Subjekt letzten Endes zu spielen hat, entscheidet über Wert und Unwert«14. Dabei existiert das radikale Imaginäre auf der Ebene eines Kollektivs (als »Gesellschaftlich-Geschichtliches«) und auf der Ebene eines Individuums (als »Psyche-Soma«).15 Die Schöpfungs-, Änderungs- oder Umbruchsmomente im Gesellschaftlich-Geschichtlichen nennt Castoriadis das gesellschaftliche Imaginäre oder die instituierende Gesellschaft, die »in der und durch die Setzung / Schöpfung gesellschaftlicher imaginärer Bedeutungen und der Institution«16 bestehe. Demgemäß schreibt Castoriadis dem radikalen Imaginären eine primäre Funktion in der Sinnkonstituierung der gesellschaftlichen Welt zu. Das radikale Imaginäre bildet eine Basis für die Entstehung des aktualen Imaginären. Bei diesem Prozess erlangen bereits existierende Bilder, Formen 11 Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären. 48. 12 Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, 12. Hervorh. i. Orig. 13 Ebd. 14 Ebd., 245. 15 Vgl. ebd., 603. 16 Ebd.

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und Symbole neue bzw. verschobene Bedeutungen, die eine Grundlage für »Aufbau und Gliederung der gesellschaftlichen Welt«17 festlegen. »Sind diese Bedeutungen erst einmal konstituiert, existieren sie in einer Weise, die wir als aktuales Imaginäres (oder Imaginiertes) bezeichnet haben.«18 Das Imaginäre hat einen Anteil an der Entfaltung dessen, was Castoriadis das Symbolische nennt. Genau genommen besteht eine Wechselwirkung zwischen diesen Kategorien: Das Imaginäre greift auf das Symbolische zurück, um sich zu manifestieren, »um etwas werden, das nicht mehr bloß virtuell ist.«19 Das Symbolische fällt gleichwohl mit dem aktualen Imaginären nicht zusammen, weil es auch einen Bestandteil enthält, »der das Reale darstellt und für den theoretischen oder praktischen Umgang mit diesem unentbehrlich ist.«20 Darüber hinaus bietet Castoriadis eine Betrachtungsweise auf die Instituierung einer Gesellschaft an, die jenseits des Funktionalen liegt. Institutionen können nicht als ausschließlich funktionale Systeme laut ihm betrachtet werden. Eine wesentliche Rolle schreibt Castoriadis dem Symbolischen zu: »Alles, was uns in der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt begegnet, ist untrennbar mit dem Symbolischen verwoben.«21 Institutionen können aber auch nicht auf den Symbolismus reduziert werden. Sie sind zwar in einem symbolischen Netz verortet, gehen jedoch über die symbolische Bedeutung hinaus. Um zu verstehen, was das Wesen von Institutionen ausmacht, führt Castoriadis den Begriff der gesellschaftlichen imaginären Bedeutungen ein, die aber nicht mit individuellen imaginären Bedeutungen gleichzusetzen sind: Danach wären die gesellschaftlichen imaginären Bedeutungen als ›kohärente Deformation‹ des Systems der Subjekte, Objekte und ihrer Beziehungen zu verstehen, als die jedem gesellschaftlichen Raum eigentümliche Krümmung, als der unsichtbare Zement, der den ungeheuren Plunder des Realen, Rationalen und Symbolischen zusammenhält, aus dem sich jede Gesellschaft zusammensetzt – und als das Prinzip, das dazu die passenden Stücke und Brocken auswählt und angibt.22

Das, was eine gesellschaftlich-geschichtliche Formation ausmacht, ist auf das Magma der gesellschaftlichen imaginären Bedeutungen zurückzuführen. Die Metapher des Magmas nutzt Castoriadis, um auf den flüssigen und nichthomogenen Charakter des gesellschaftlichen Daseins zu verweisen. Das Magma ist nicht bloß die Einheit heterogener Elemente. Diese befinden sich in ständiger Bewegung, können verschwinden und wieder auftauchen, hinzu kommen neue Bestandteile: »Unter Institution der Welt ist jeweils die Insti­ 17 18 19 20 21 22

Ebd., 251. Ebd., Hervorh. i. Orig. Ebd., 218. Ebd., 219. Ebd., 199. Ebd., 246.

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tuierung eines Magmas gesellschaftlicher Bedeutungen zu verstehen, die wir als eine Welt von Bedeutungen bezeichnen können und müssen.«23 Die Rolle des Imaginären ist grundlegend in der Identitätsstiftung einer Gemeinschaft. Castoriadis zufolge kann sich eine Gemeinschaft auf eine außergesellschaftliche Substanz in ihrer Gründung nicht berufen. Stets liegen einer Gemeinschaft imaginäre Bedeutungen zugrunde, die ein Ergebnis einer elementaren Fähigkeit sind, »ein Ding oder eine Beziehung zu vergegen­ wärtigen, die nicht gegenwärtig sind«24. Sie kann sich auf sich selbst in ihrer Instituierung nicht beziehen, in der Herausbildung von sozialen und politischen Strukturen kommt eine entscheidende Rolle der Einbildungskraft zu.25 2.1.2 Der Begriff des Politischen

Diese Konstellation setzt auch den Raum des Politischen voraus, da sich die dem Gemeinwesen zugrunde liegenden Denkfiguren in den politischen und sozialen Institutionen realisieren. Der Vorgang der Instituierung bezieht sich auf den Begriff des Politischen, der in seiner Differenz zu »Politik« zu betrachten ist. Die begriffsgeschichtliche Dimension der Differenz zwischen dem Konzept des Politischen und der Politik lässt sich laut Oliver Marchart in drei Schritten bzw. Aspekten zusammenfassen. Erstens wird der Begriff des Politischen für die spezifische Rationalität von Politik eingeführt. Zweitens versteht er unter dem Politischen eine Differenz von Politik gegenüber anderen Teilsystemen von Gesellschaft wie Moral oder Ökonomie.26 Dabei geht dieser Aspekt auf die Emanzipation des Politischen von »seiner traditionellen Unterordnung gegenüber dem Sozialen«27 zurück. Die Abgrenzung des Politischen ist eine Folge der zunehmenden Unfähigkeit des Sozialen, die ihm zugeschriebene Begründungsfunktion zu erfüllen. Dies führt zu einem Nebeneffekt, wenn »das Politische sich als zumindest instituierende, wenn auch nicht fundamentalistisch gründende Funktion von Gesellschaft zu erkennen gibt.«28 Den dritten Aspekt der Differenzierung bildet demnach die Rolle des Politischen, Gesellschaft in ihrer symbolischen Form zu begründen.29 Insbesondere die letzte begriffliche Bedeutung des Politischen hat sich in den 23 Ebd., 587. Hervorh. i. Orig. 24 Ebd., 218. 25 Vgl. Koschorke / Lüdemann / Frank / Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, 61. 26 Vgl. Marchart: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, 47. 27 Ebd., 36. 28 Ebd., 46. Hervorh. i. Orig. 29 Vgl. ebd., 47.

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letzten Jahrzehnten in der politischen Theorie und Philosophie durchgesetzt. Unter Politik versteht man einzelne Formen und Erscheinungen der Machtverhältnisse, während unter dem Politischen vornehmlich die Prozesse der Sinnkonstituierung von Gesellschaft definiert werden können: Politik bezeichnet die konkrete Praxis der Regierungskunst in einem Gemeinwesen. Unter Politik ist all das zu verstehen, was im Bereich der Praktiken, der Institutionen, der Gesetze und rechtstaatlichen Mittel, der Parteien, Parlamente und Wahlen, der Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse, der ökonomischen, kulturellen und transnationalen Relationen, der öffentlichen Meinungsbildung, des kollektiven Gedächtnisses, der Widerstände und der Partizipation angeordnet ist. Im Gegensatz dazu bezeichnet der Begriff des Politischen keine einzelnen Diskurse, sondern das allgemeine und durch fundamentale Immanenz gekennzeichnete Feld der Kräfteverhältnisse, die es einem Gemeinwesen ermöglichen, sich zu inaugurieren.30

Diese Differenz geht auf das Denken des Politischen zurück, das Claude Lefort diesbezüglich einbringt. Den Unterschied zwischen dem Politischen und der Politik erklärt er mit der Methodologie der wissenschaftlichen Erkenntnis.31 Die Politik wird primär im Feld der politikwissenschaftlichen Disziplinen verortet und setzt sich mit den sozialen Fakten auseinander, »die direkt oder indirekt mit der Ausübung der Macht zu tun haben.«32 Die politische Wissenschaft, die die Analyse von politischen Systemen zu ihrem Gegenstand macht und die Prinzipien ihres Funktionierens in Übereinstimmung mit den Idealen von Objektivität versucht offenzulegen, basiert auf dem Postulat, dass Wissenschaft als »Wissenschaft von Partikularbereichen« funktioniert und die Politik in Abgrenzung zu anderen Teilsystemen von Gesellschaft wie Ökonomie, Recht, Ästhetik oder Religion betrachtet.33 Hierzu differierend sucht das Denken vom Politischen in einem Regime, in einer Gesellschaftsform ein Prinzip der Interiorisierung, welches eine einzigartige Weise der Ausdifferenzierung und des In-Beziehung-Setzens der Klassen, Gruppen und der Stände erklärt, und gleichzeitig sucht es eine einzigartige Weise der Unterscheidung von Bezugspunkten, mit Hilfe derer die Erfahrung des Zusammenlebens sich ordnet – ökonomische, rechtliche, ästhetische, religiöse…34

Dementsprechend wäre eine analytische Trennung von Teilsystemen einer Gesellschaft kontraproduktiv für die Erklärung der Instituierungsprinzipien des Sozialen. Mit der Ausgliederung der Politik als Teilsystem des gesellschaft30 Spitta: Gemeinschaft jenseits von Identität? Über die paradoxe Renaissance einer politischen Idee, 45. 31 Vgl. Lefort, Claude: Fortdauer des Theologisch-Politischen? Wien 1999, 35. 32 Ebd., 36. 33 Vgl. ebd. 34 Lefort: Fortdauer des Theologisch-Politischen? 39.

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lichen Lebens kommt das Politische ins Spiel, mit dem Lefort die »Konstitution eines gesellschaftlichen Raums, die gesellschaftliche Form oder das Wesen des »Gemeinwesen« (la cité)«35 versteht. Grundlegend für das Politische ist laut Lefort seine doppelte Natur, die die Instituierung der Gesellschaft im Modus des Erscheinens und des Verbergens voraussetzt. Unter Erscheinen versteht er den Prozess, durch den sich die Gesellschaft formt und zur Einheit instituiert. Ihm gemäß werden die generischen Organisationsprinzipien der Gesellschaft verschleiert.36 Für Lefort ist das Denken des Politischen demzufolge ein Versuch, die Logik der Instituierung einer Gemeinschaft zu verstehen. Dafür führt er den Begriff des In-Form-Setzens ein, mit dem er die Art und Weise versteht, wie sich eine Gesellschaft zu einer politischen Einheit konstituiert.37 Dieser Begriff impliziert zwei weitere Bestandteile, die das Erkenntnisinteresse des Denkens vom Politischen bedingen. Auf der einen Seite ist es die Sinngebung, die sich eine Gesellschaft zuschreibt. Auf der anderen Seite resultieren die Form- und Sinngebung in zahlreichen Selbstrepräsentationen, die eine Gemeinschaft stetig vermittelt: Diese Formgebung (mise en form) ist eine Sinngebung (mise en sens) und zugleich eine Inszenierung (mise en scène). »Sinngebung«, da der gesellschaftliche Raum sich als Raum des Intelligiblen entfaltet, insofern es sich gemäß einer je spezifischen Form der Unterscheidung zwischen dem Realen und Imaginären, dem Wahren und Falschen, dem Gerechten und Ungerechten, dem Erlaubten und Verbotenen, dem Normalen und dem Pathologischen aufgliedert. Inszenierung, da dieser Raum in seiner jeweiligen Verfassung (sei sie aristokratisch, monarchisch oder despotisch, demokratisch oder totalitär) eine Quasi-Repräsentation seiner selbst enthält.38

Da die Art und Weise, wie die Gesellschaft repräsentiert wird, ihr zugleich Form und Sinn gibt, können diese drei Aspekte nicht voneinander getrennt betrachtet werden.39 Das Politische zeigt sich in der Einsetzung instituierender Logik, die sich im komplexen Wechselspiel mit Selbstverständigungen der Gesellschaft befindet.

35 Lefort, Claude: Die Frage der Demokratie. In: Rödel, Ulrich (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt am Main 1990, 281–297, hier 284. Hervorh. i. Orig. 36 Vgl. ebd., 284. 37 Vgl. ebd., 37. 38 Ebd., 284 f. 39 Vgl. Marchart: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, 132.

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Theoretische Prämissen

2.1.3 Zur interdiskursiven Theorie des politischen Imaginären

Die Ideen von Cornelius Castoriadis, der auf den schöpferischen und kontingenten Charakter des sozialen Instituierungprozesses hinweist, werden von Susanne Lüdemann als ein Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage betrachtet, wie das Imaginäre beschaffen wäre, falls die Gesellschaft das fiktionale Moment in ihrer Selbstbeschreibung anerkennen würde und der Unbestimmtheit des instituierenden Grundes Rechnung tragen würde.40 Sie knüpft an die Überlegungen von Sigmund Freud in dem Aspekt an, dass in jedem Traum eine unerkennbare und unentschlüsselbare Stelle vorhanden ist, die einen Zugang für das Verständnis des Unbewussten bietet. Das radikale Unbewusste, das aus der Aufspaltung in ein psychisch Reales und in imaginäre Prozesse rund um dieses Reale resultiert, weist eine primitive Trieborganisation auf, allerdings ist es nicht an konkrete Objekte, sondern an Vorstellungsrepräsentationen gebunden.41 Insbesondere in dem radikalen Unbewussten oder in der ursprünglichen Phantasiebildung, die auf die kollektive Entwicklung von Menschen zurückzuführen ist, verorten sich die Grundlagen für die Konstituierung des sozialen und politischen Imaginären: Daß bereits die »Urphantasien« als imaginäre Bearbeitungen, ursprünglich metaphorische Substitution eines fehlenden Ursprungs, eines verlorenen oder gerade in seiner Substitution ausgeschlossenen Realen gelten muß, heißt aber umgekehrt auch, daß ein einziger rhetorischer Bogen sich von den »privatesten« unbewußten Phantasien bis hin zu den »öffentlichen« und offiziellsten Imaginationen, beispielsweise von Staat und Gesellschaft, Geburt und Tod, Geschlechterdifferenz und Herrschaft, spannt.42

Im Werk »Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas«, das von Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Thomas Frank und Ethel Matala de Mazza in Co-Autorenschaft geschrieben wurde, spielt bei der theoretischen Konzeptualisierung das Vermögen der Imagination ebenfalls eine große Rolle in der Hervorbringung von Vorstellungen, die letztlich in Selbstrepräsentationen von Gesellschaft einmünden. Das soziale Imaginäre wird dabei definiert als die Gesamtheit der identitätsbildenden Figurationen, Symbole und Narrative, mit deren Hilfe eine Gemeinschaft sich selbst als Einheit erfindet und diese Imaginationen in verschiedenen theoretischen, künstlerischen und politischen Texten und Formen vermittelt.43 40 Vgl. Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, 62. 41 Vgl. ebd., 65. 42 Ebd., 69. Hervorh. i. Orig. 43 Vgl. Koschorke / Lüdemann / Frank / Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, 62.

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Oliver Kohns thematisiert die Genese des politischen Imaginären in der deutschen Kulturwissenschaft. Das Imaginäre spaltet sich ihm zufolge auf in das kollektive Imaginäre, das ein gemeinschaftliches Unbewusstes darstellt, und in das soziale und politische Imaginäre, das an der Instituierung einer Gesellschaft als Einheit teilhat. Das soziale Imaginäre ist dabei, dass »die imaginäre Projektion einer gesamtgesellschaftlichen Einheit deren Entstehung vorausliegen muss.«44 Hier setzt Kohns seine Kritik an: Er verweist auf das Primat einer sozialen und politischen Ordnung, die Elemente des politischen Imaginären hervorbringt, und nicht vice versa. Von dem Hintergrund erkennt er ihm eine Rolle in der Konstituierung einer politischen Ordnung ab. Er weist die Annahme zurück, dass »jegliche Ordnung des Politischen das imaginär (d. h. qua Identifikation) erreichte Selbstbewusstsein eines Kollektivs voraussetze«45. Bei der theoretischen Konzeptualisierung des politischen Imaginä­ren plädiert er stattdessen für die Analyse ästhetischer Figurationen des Politischen, die nicht im Sinne der Sichtbarmachung von politischer Einheit funktionieren, sondern der Sphäre der politischen Ideologie zugehörig sind und an der Produktion der politischen Bühne mitwirken.46 Wenn seine Annahme gerechtfertigt ist, dass die Analyse des politischen Imaginären nie vollständig sein und nicht sämtliche an der politischen Instituierung von Gesellschaft beteiligten Figuren und Elemente zum Vorschein bringen kann, würde die von ihm vorgeschlagene Zuwendung hin zur politischen Ästhetik zwar wichtige Informationen über das politische Geschehen liefern, gleichwohl kann die Wirksamkeit von Identitätsrepräsentationen eines Gemeinwesens, die aus dem Bereich des Imaginären stammen, nicht bestritten werden, wenn sie sich auch der kompletten Entschlüsselung entgegenstellen. An dieser Stelle scheint es produktiv zu sein, sich der theoretischen Konzeptualisierung des politischen Imaginären hinzuwenden, die seine Beschaffenheit mit dem Begriff des Diskurses verbinden. Juliane Spitta definiert das politische Imaginäre als eine diskursive Oberfläche, auf der sich Identitätsvorstellungen eines Gemeinwesens herausbilden und zur Wirkung gelangen.47 Sie knüpft an den Diskursbegriff von Foucault an. Bei ihrem Ansatz spielt die Differenz zwischen den diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken keine Rolle, da lediglich eine derartige Betrachtungsweise die Annahme begründen lässt, dass »die imaginären Konstruktionen trotz ihres phantasmatischen und überdeterminierten Charakters Realität haben.«48 Der von ihr aufgegriffene Dis44 Kohns, Oliver: Die Politik des »politischen Imaginären«. In: Doll, Martin / Kohns, Oliver (Hg.): Die imaginäre Dimension der Politik. Paderborn 2014, 19–48, hier 29. 45 Ebd., 39. 46 Vgl. ebd., 42 f. 47 Vgl. Spitta: Gemeinschaft jenseits von Identität? Über die paradoxe Renaissance einer politischen Idee, 42. 48 Ebd., 43.

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Theoretische Prämissen

kursbegriff setzt keine Unterscheidung zwischen sprachlicher Referenz und objektiver Realität, da die von der Gesellschaft hervorgebrachten Institutionen Teil des Diskurses sind.49 Ein derartiger Ansatz erweitert den analytischen Gebrauch des politischen Imaginären, da er erlaubt, im Prinzip viele Erscheinungsformen der Machtverhältnisse unter dem Konzept des Imaginären zu betrachten. Auch bei Rolf Parr erscheinen diskursive Positionen als Prismen des politischen Imaginären. In Anlehnung an die Interdiskurstheorie von Jürgen Link plädiert Parr dahingehend, dass das politische Imaginäre als ein Interdiskurs zu betrachten ist. Darin sieht er die Möglichkeit, »das Arsenal der in Umlauf befindlichen ästhetischen Figurationen politischer Personen, national-repräsentativer Gegenstände, kanonisierter Fotos, textueller und filmischer Narrative sowie nationaler Stereotype und Mythen«50 in ihren Querverbindungen zu denken und auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Im Kontext des politischen Imaginären versteht Parr unter den symbolischen Elementen: ein sich historisch zwar modifizierendes, synchron jedoch relativ stabiles und in sich kohärentes System, zu dem als interdiskursive (diskursverbindende)  Elemente alle Formen von Analogien, Metaphern und Symbolen, aber auch Mythen und narrative Stereotype gehören, wie sie bereits im Alltag (als einem interdiskursiven, also nichtspeziellen Lebensbereich) und dann gehäuft in der Literatur und auch den verschiedenen (Massen-)Medien anzutreffen sind.51

Die Konzeptualisierung des politischen Imaginären als ein diskursives Feld sollte ermöglichen, die Konstituierung eines Gemeinwesens durch Festlegung bestimmter Vorstellungen zu verfolgen. Die Theorie des politischen Imaginären fokussiert sich auf die instituierende Funktion der Fiktion. Faktum und Fiktion im Raum des Politischen lassen sich nicht trennen, »weil die nach allen Regeln der Kunst erzählten Geschichten Modelle und Denkfiguren bereitstellen, die schöpferisch auf den politischen Prozess zurückwirken.«52 Es besteht ein Wechselspiel zwischen Metaphern, Narrativen und Fiktionen sowie gesellschaftlich-politischen Institutionen. Die Gesellschaft setzt ihre Vorstellung von sich selbst in institutionelle Strukturen um. In diesem Sinne ahmt nicht die Selbstrepräsentation der Gesellschaft die politische Organisation nach, sondern die Organisation bildet

49 Vgl. ebd. 50 Parr, Rolf: Diskursive Positionen als Prismen des politisch Imaginären? In: Doll, Martin / Kohns, Oliver (Hg.): Die imaginäre Dimension der Politik. Paderborn 2014, 165–179, hier 166. 51 Ebd., 170. 52 Koschorke / Lüdemann / Frank / Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, 57.

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»das auf sie angewandte Bild nach.«53 Demzufolge ist die Fiktion mehr als ein Medium zur Modellierung von Wirklichkeit. In ihrer grenzüberschreitenden und instituierenden Funktion geht die Fiktion der Wirklichkeit voraus. Nicht die Fiktion spiegelt die außertextuelle Welt wider, sondern die in fiktionalen Texten enthaltenen Elemente wirken sich auf die Konstituierung der sozialen und politischen Realität aus. Das Konzept des politischen Imaginären, das Bezüge in den Theorien über den imaginären Charakter der Gemeinschaftsbildung in sich trägt, geht über das Verständnis der politischen Inszenierung und Repräsentation hinaus. Das politische Imaginäre als ein interdiskursives Feld, auf dem sich kollektive Symbole herausbilden, stabilisieren und konstituierend auf die Einheit eines Gemeinwesens auswirken, impliziert vielmehr, dass ein bestimmtes politisches Denken und Handeln ermöglicht und begründet wird. Von der Politik, unter die allgemein die Formen von Machtverhältnissen zu subsumieren sind, unterscheidet sich das Politische in der Hinsicht, dass es den Fokus auf die sinnkonstituierende und gründende Funktion von Gesellschaft ausrichtet. Im Raum des Politischen bedingen sich Fiktion und Wirklichkeit gegenseitig, da fiktionale Elemente Modelle produzieren, die in die Ausgestaltung von gesellschaftlichen Institutionen einmünden. Eine Reihe von rhetorischen Mitteln ist dabei unentbehrlich für die Analyse von kollektiven Selbstverständigungsformen eines politischen Wesens. An der Herausbildung des politischen Imaginären nimmt ein breites Spektrum ideologischer Strömungen, Ideen und bildlicher Figurationen teil. Ihre Interaktion und Aushandlung bestimmt die Wahrnehmung der Gesellschaft von ihrer eigenen politischen Identität. Die philosophische und politische (neo-)eurasische Bewegung ist eine der wichtigsten Komponenten der ideologischen Bühne des zeitgenössischen Russlands. Die Vorstellungen von der staatlichen Einheit, die aus der (neo-)eurasischen Bewegung hervorgehen und in ideologischen und künstlerischen Texten zu finden sind, wirken an der Bildung des politischen Imaginären Russlands mit. Die Rhetorik des (Neo-) Eurasismus bestimmt nicht nur die öffentlichen Diskussionen über die politische Entwicklung Russlands, sondern lässt sich deutlich in den Äußerungen zeitgenössischer Politiker nachverfolgen. Die Gründung der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft, die 2015 in die Eurasische Wirtschaftsunion übergangen ist, ist ein Beispiel dafür, wie die Terminologie des (Neo-)Eurasismus in Integrationsprozesse im postsowjetischen Raum eingedrungen ist. In diesem Sinne adressiert diese Studie die Figurationen und Narrative, die der philosophisch-politischen Bewegung des (Neo-)Eurasismus entstammen, in der fiktionalen Literatur reflektiert werden und an der Repräsentation einer einheitlichen politischen Gemeinschaft in Russland teilhaben. 53 Ebd., 57.

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Theoretische Prämissen

2.2 Raumtheoretische Ansätze 2.2.1 Kultur- und Raumsemiotik

Als ein Konzept mit beinahe universellem Anspruch stellt die kultursemiotische Theorie von Jurij Lotman einen Ansatz für die Analyse und Beschreibungen kultureller Dynamiken und Räume zur Verfügung. Ein zentraler Aspekt dieser Theorie ist das Konzept der Semiosphäre, die ihrerseits eine räumliche Metapher der kulturellen Einheit ist und Austauschmechanismen innerhalb und zwischen Kulturen veranschaulicht. Die Semiosphäre definiert Lotman als zeichenhaften Raum, der als Voraussetzung für die Existenz von Sprachen fungiert und in dem kommunikative Prozesse stattfinden.54 Der Begriff von Sprachen ist bei Lotman ziemlich weit und umfasst neben natürlichen Sprachen ebenfalls Kunstsprachen wie Metasprachen der Wissenschaft sowie kom­munikative Systeme von Kunst und Religion.55 Die Organisation der Semiosphäre zeichnet sich durch ihre Abgrenzung gegenüber anderen Semiosphären sowie ihre Heterogenität aus. Die Semiosphäre als Universalbasis besteht aus Zentrum und Peripherie, die im asymmetrischen Verhältnis zueinander stehen.56 Im Zentrum stabilisieren sich die Kulturen und gewinnen ihre Identitäten. Das Zentrum der Semiosphäre weist eine hohe strukturelle Organisation, Selbstrepräsentation und einen starren sowie entwicklungsresistenten Charakter auf.57 Die identitäre Trennung und Selbsteinschließung eines bestimmten semiotischen Systems ist ein Ergebnis eines Verfahrens der Selbstbeschreibung, das eine klare Grenze zwischen einem inneren und einem äußeren Raum zieht.58 Je näher man sich zur Peripherie bewegt, desto höher ist die Unbestimmtheit als wesentliches Merkmal der Kommunikation innerhalb der Semiosphäre, die zur Informationstransformation führt: Das bedeutet, dass sich zwischen sinnhafter und sinnloser, zwischen codierter und nicht mit einem erkennbaren Code versehener Zeichenübermittlung, mit einem Wort: zwischen Information und Rauschen keine glatte Trennlinie ziehen lässt.59 54 Vgl. Lotman, Jurij: Semiosfera. Kul’tura i vzryv. Vnutri mysljaščich mirov. Stat’i Issledovanija Zametki. Sankt-Peterburg. 2000, 250. 55 Vgl. Lotman, Jurij: Struktura chudožestvennogo teksta. Moskva 1970, 16. 56 Vgl. Lotman: Semiosfera. Kul’tura i vzryv. Vnutri mysljaščich mirov. Stat’i Issledovanija Zametki, 254. 57 Vgl. ebd., 254 f. 58 Vgl. Monticelli, Daniele: Self-description, Dialogue und Periphery in Lotman’s Later Thought. In: Frank, Susi K. / Ruhe, Cornelia / Schmitz, Alexander (Hg.): Explosion und Peripherie. Bielefeld 2014, 57–77, hier 66. 59 Koschorke, Albrecht: Zur Funktionsweise kultureller Peripherien. In: Frank, Susi K. / Ruhe, Cornelia, Schmitz, Alexander (Hg.): Explosion und Peripherie. Bielefeld 2014, 27–39, hier 32.

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Die Peripherie wird stets dem Einfluss angrenzender semiotischer Räume ausgesetzt, was zu einer Transformation des kulturellen Codes führen kann. An der Grenze in der Semiosphäre werden semiotische Prozesse intensiver, da kulturelle Symbole von anderen Semiosphären ständig in diesen Bereich eindringen. Bei Lotman ist der Begriff der Grenze ambivalent: Sie hat sowohl trennende als auch verbindende Bedeutung.60 Einerseits kommt es am Kontaktort zwischen Semiosphären ständig zum einem permanenten Austausch. Die Grenze ist zweiseitig und eine Seite davon ist immer zu der Außenseite gerichtet.61 Andererseits hat sie eine Art Barriere- bzw. Filterfunktion, die das Eindringen fremder Texte erschwert und sie dem etablierten kulturellen Code anpasst.62 Der gesamte Raum der Semiosphäre wird von den Grenzen verschiedener Ebenen überschritten und der innere Raum jeder dieser Subsemiosphären hat eine semiotische Identität, die als ein Bezug einer Sprache oder einer Gruppe von Texten zu einem metastrukturellen Raum, der sie beschreibt, verwirklicht wird.63 Neben der räumlichen Organisation zeichnet sich die Semiosphäre durch das gemeinsame zeitliche Koordinatensystem, nämlich die Einteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, aus.64 Die Dynamik und die Erneuerbarkeit von Elementen charakterisieren die Semiosphäre.65 Eine besondere Rolle in der diachronen Organisation der Kultur schreibt Lotman Symbolen zu, die er zu den Universalien der Menschheitskultur zählt. Zum einen stabilisieren sich die Kulturen um bestimmte Symbole und zum anderen verändern sich Symbole durch den dynamischen Charakter der Semiosphäre, was die Wandlung von Kulturen ermöglicht.66 Die Semiosphäre hat einen heterogenen Charakter. Die Sprachen der Semiosphäre sind unterschiedlicher Natur, was sowohl ihre vollständige Übersetzbarkeit als auch gleichermaßen ihre gegenseitige vollständige Unübersetzbarkeit bestimmt.67 Für Lotman ist die reibungslose Übermittlung von Informationen weder möglich noch wünschenswert. Jede Übertragung von Zeichen umfasst ein Element der Mehrdeutigkeit bzw. der partiellen Unübersetzbarkeit, das »nicht bloß eine Störbarkeit oder der kostentreibende Nebeneffekt einer idealiter reibungsfreien Informationsübermittlung, sondern ein funktioneller Bestandteil des Kommunikationsuniversums«68 ist. Hierin 60 Vgl. Lotman: Semiosfera. Kul’tura i vzryv. Vnutri mysljaščich mirov. Stat’i Issledovanija Zametki, 262. 61 Vgl. ebd., 267. 62 Vgl. ebd., 269. 63 Vgl. ebd., 263. 64 Vgl. ebd., 259. 65 Vgl. ebd., 253. 66 Vgl. ebd., 240–242. 67 Vgl. ebd., 252. 68 Koschorke: Zur Funktionsweise kultureller Peripherien, 35.

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Theoretische Prämissen

äußert sich der positive Wert von Mehrdeutigkeit, da diese zur Entstehung neuer Informationen beiträgt. Ist die Semiosphäre ein räumliches metaphorisches Konzept für die Beschreibung von Kulturen, ist es demzufolge möglich, kulturelle Selbst­ repräsentationsmechanismen im Zusammenhang mit geografischem Raum zu betrachten. Wie Albrecht Koschorke bemerkt, besteht die erneuerte Aktualität des Lotman’schen Konzepts in den »Parallelen zwischen der Struktur der Semiosphäre und der Raumgrammatik gegenwärtiger Machttheorien«.69 Dabei geht es speziell um Theorien des Imperiums, die auf Merkmale wie die Veränderung des kulturellen Codes im Zuge seiner Übermittlung, die Überwindung des Raumwiderstandes sowie das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie ein Augenmerk legen.70 Der Raum in der Semiosphäre wird allerdings weiter als nur ein topografischer Raum gefasst. Es handelt sich ebenfalls um einen imaginären oder abstrakten Raum: »Wenn die Isolation eines bestimmten Merkmals eine Menge aus kontinuierlich aneinander anschließenden Elementen ergibt, so können wir von einem diesem Merkmal zugeordneten abstrakten Raum sprechen.«71 Wie Cornelia Ruhe bemerkt, lässt sich das Konzept der Semiosphäre auf Nationalkulturen, kulturelle Phänomene oder literarische Texte anwenden.72 Im Kontext der (neo-)eurasischen Ideologie lässt sich Lotmans kultursemiotische Theorie insbesondere dazu einsetzen, die Selbstbeschreibung von Zentrum und Peripherie in Bezug auf den Innen- und Außenraum eines imaginierten eurasischen Imperiums sowie die Aushandlungen seiner Grenzen zu verfolgen. Darüber hinaus ist die Konzipierung der Kultur als ein semiotischer Raum mit heterogenen Sprachen von Bedeutung, insofern solch ein Verständnis der Kultur ein Augenmerk auf die Kommunikation bzw. die Wechselwirkung zwischen einzelnen Diskursen legt. Zwischen den ideologisch-publizistischen Diskursen des (Neo-)Eurasismus und den literarischen Texten bestehen wechselseitige Mechanismen von Kommunikation und Übersetzung, die in Sinntransformation und -generierung münden.

69 Ebd. 70 Vgl. ebd., 35 f. 71 Lotman, Jurij: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur. Berlin 2010, 202. 72 Vgl. Ruhe, Cornelia: Das Konzept der Übersetzung in Jurij Lotmans Kultursemiotik. In: Translating society: A Commentator’s Conference from October 29 to 31, 2009 in University of Konstanz, URL : https://www.translating-society.de/conference/papers/8/ (am 30.10.2020).

Raumtheoretische Ansätze 

41

2.2.2 Geopoetik und Geokulturologie

Geopoetik und Geokulturologie werden in Anlehnung an Susi Frank als komplementäre Analysekategorien73 aufgefasst, die es ermöglichen, einerseits den (neo-)eurasischen Diskurs rund um den imperialen Raum und andererseits die poetische Auseinandersetzung mit diesem Raum in literarischen Texten zu betrachten. Als Definition der Geopoetik schlägt sie vor, darunter »die Verfahren der symbolischen Konstruktion eines Geo-Raums und ihre spezifische Kombination«74 zu verstehen. Zu diesen gehören »unterschiedliche textuell figurative Verfahren, Motive, die sich zu Topoi verfestigen können, mythopoetische Strategien, die sich am mythologischen Bildreservoir bedienen, narrative Muster, spezifische Chronotopoi, Verfahren der semantischen Raumkonstruktion, der Konstruktion von Grenze, der Dynamik oder Statik des Raums«75. Die Entstehung des Konzepts der Geopoetik wird auf den schottischfranzö­sischen Schriftsteller und Dichter Kenneth White zurückgeführt.76 Im weitesten Sinne verwendet dieser die Geopoetik als Erforschung der Verbindung zwischen der Gesellschaft und der sie umgebenden Welt, die sich in einer Gesamtheit von künstlerischen Texten, Liedern, Gedichten und Reiseliteratur ausdrückt.77 »In der Vermischung von wissenschaftlichem und poetischem Diskurs bei der Erdentdeckung, -erkundung und -beschreibung sucht White nach Texten und Projekten, in denen Dichter zu Geographen oder Geographen zu Dichtern werden«78. Bedeutsamkeit im Konzept der Geopoetik von White erhält die Gestalt eines bestimmten menschlichen Lebensraums – einer Ortschaft, einer Region oder sogar eines Landes –, die mit Metaphern, Symbolen usw. aufgeladen wird.79 In Osteuropa wurde der Begriff zuerst in der Ukraine – von Igor’ Sid – dem Begründer des Geopoetischen Klubs der Krim – rezipiert. Geopoetik ist für Sid weniger eine poetische Beschreibung des Erdraums oder seiner Teile. Vielmehr rückt die Transformation des Raums durch die Schaf-

73 Vgl. Frank, Susi K.: Geokulturologie und Geopoetik: Definitions- und Abgrenzungsvorschläge. In: Marszałek, Magdalena / Sasse, Silvia (Hg.): Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen. Berlin 2010, 19–42, hier 19. 74 Ebd., 27. 75 Ebd., 28. 76 Vgl. ebd., 20; vgl. Marszałek, Magdalena / Sasse, Silvia: Geopoetiken. In: Marszałek, Magda­lena  / Sasse, Silvia (Hg.): Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen. Berlin 2010, 7–18, hier 7. 77 Vgl. White, Kenneth: Elemente der Geopoetik. Hamburg 1988, 10. 78 Marszałek / Sasse: Geopoetiken, 8. 79 Vgl. White, Kenneth: Al’batrosova skala. Vvedenie v geopoetiku. In: Dajs, Ekaterina / Sid, Igor’ (Hg.): Vvedenie v geopoetiku. Odinočnye ėkspedicii v okeane smyslov; antologija. Moskva 2013, 22–28, hier 26 f.

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Theoretische Prämissen

fung neuer territorialer oder durch die Korrektur der etablierten Mythen in den Vordergrund.80 Geopoetische Texte zeigen den Wunsch des Künstlers, sich territorial-landschaftliche Einheiten mit poetischen Mitteln anzueignen oder die bestehende Vision des Raums neu zu gestalten. In diesem Sinne nähert sich das Konzept der Geopoetik der Geokulturologie an. Wie Susi Frank bemerkt, weisen beide Begriffe ungeachtet verschiedener Herkunft und Anwendungsbereiche eine Überschneidung im Konzept des lokalen Textes auf.81 Die Prägung des Konzepts »Geokulturologie« führt sie auf den in Polen lebenden russischen Literaturwissenschaftler Vasilij Ščukin zurück.82 Dieser betont die enge Verbindung eines Menschen mit einem Ort – einem Land, einer Provinz, einem historischen Gebiet –, mit dem er seine Persönlichkeit identifiziert und der ein Gegenstand kreativer Auseinandersetzung, Ideologisierung und Mytholo­ gisierung wird.83 Diese Annahme kann sich ihm gemäß in zwei Möglichkeiten der literarischen Analyse ausdrücken: Erstens als Erforschung der Verbindung zwischen dem Werk eines Schriftstellers und einem bestimmten Ort, zweitens als Analyse literarischer Werke auf den in ihnen enthaltenen »soziokulturellen Lokus«, unter dem er eine »intentional-funktionale Variante des bewohnbaren Raums« versteht.84 In dem von Susi Frank formulierten Begriff der Geokulturologie wird der Fokus auf den größeren Zusammenhang zwischen Kultur und konkreten geografischen Räumen verschoben. Der Begriff Geokulturologie bezeichnet vornehmlich einen Wissensdiskurs, »der Geo-Räume bzw. Regionen als geokulturelle Einheiten voraussetzt, postuliert, sie als gegebene Objekte analysiert und sie gleichzeitig semantisch und semiotisch konstruiert und damit nicht zuletzt auch ideologische und politische Ziele verfolgt.«85 Die Ähnlichkeit von Geopoetik und Geokulturologie besteht in der rhetorisch-stilistischen Beschreibung von Räumen, Territorien und Landschaften. In der Geopoetik ist der Fokus eher auf die poetische, kreative Repräsentation und das Erschaffen von Territorien und Landschaften in der Literatur 80 Vgl. Sid, Igor’: Istorija ponjatija »Geopoetika«. In: Vestnik MGLU 722/11 (2015), 153–170, hier 161. 81 Vgl. Frank: Geokulturologie und Geopoetik: Definitions- und Abgrenzungsvorschläge, 27. 82 Vgl. ebd., 25. 83 Vgl. Ščukin, Vasilij: Geokul’turnyj obraz mira kak metodologičeskaja osnova literaturovedenija. In: Frank, Susi K. / Smirnov, Igor’ (Hg.): Zeit-Räume. Neue Tendenzen in der historischen Kulturforschung aus der Perspektive der Slavistik. Bd. 49: Wiener slawistischer Almanach. Wien 2002, 37–54, hier 39. 84 Vgl. Ščukin: Geokul’turnyj obraz mira kak metodologičeskaja osnova literaturovedenija, 46. 85 Frank: Geokulturologie und Geopoetik: Definitions- und Abgrenzungsvorschläge, 31.

Raumtheoretische Ansätze 

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ausgerichtet.86 In fiktionalen Texten wird die Gestalt des Raumes durch die individuelle Wahrnehmung des Künstlers realisiert: »Geopoetik erlaubt, nicht prinzipiell zu unterscheiden zwischen ›realen‹ und ›fiktiven‹ Räumen, und eröffnet den Blick auf die Durchlässigkeit, die Überschneidungen zwischen beiden Kategorien.«87 In der Geokulturologie tritt allerdings die konstruktivistische Essenzialisierung eines Raums in den Vordergrund.88 Geokulturologie postuliert die Abhängigkeit von Kultur und Raum und spiegelt in ihrer Entwicklungsgeschichte historische Varianten des Geodeterminismus wider.89 Geokulturologie als eine diskursive Strategie der symbolischen Raumaneignung wird von Frank als die kulturologische Variante von Geopolitik betrachtet.90 Geokulturologie befasst sich mit der Schaffung eines imaginären geografischen Raums, der mit der politischen Geschichte und den kulturellen Besonderheiten der darauf lebenden Völker verknüpft wird: Geokulturologische Texte dienen oft der Selbstbeschreibung oder / und der Abgrenzung von eigenem und fremdem Kulturraum. Unabhängig vom jeweiligen politischen Ziel besteht die diskursive Strategie von Geokulturologie darin, das Postulat eines regional spezifischen Kulturraums mithilfe der Rekonstruktion seiner historischen Entstehung in Beziehung zu und Wechselwirkung mit den geographischen Bedingungen zu erhärten und geokulturelle Einheiten mit gemeinsamer kultureller Identität, gemeinsamem kulturellen Gedächtnis, gemeinsamer Kulturproduktion (aktuelle Variante), gemeinsamer Beziehung zum Raum bzw. räumlicher Lebenspraxis zu konstruieren.91

Der Eurasismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen ist ein Beispiel für eine geokulturologische Machtstrategie.92 Im (neo-)eurasischen Diskurs ist die Konstruktion des einheitlichen politischen und kulturellen Raums »Eurasien« von Relevanz, der auch mithilfe geopoetischer Mittel repräsentiert wird. Literarische Texte, die diesen Raum reproduzieren oder neu erschaffen, ermöglichen es, die Reichweiten, blinde Flecken und selbstzerstörerische Momente dieses Diskurses zu betrachten. Geopoetische Texte können indes eine geokulturologische Dimension erwerben, indem sie das Entwerfen einer Landschaft oder eines imaginierten Raumes mit (geo-)politischen Zielen verknüpfen.93 86 87 88 89 90 91 92 93

Vgl. ebd., 26. Ebd., 30 f. Vgl. ebd., 20. Vgl. ebd., 32. Vgl. ebd., 33. Ebd., 34. Vgl. ebd., 32. Vgl. ebd., 37; vgl. Sid, Igor’: Geopoetika i geopoetičeskie proekty segodnja. In: Dajs, Ekaterina / Sid, Igor’ (Hg.): Vvedenie v geopoetiku. Odinočnye ėkspedicii v okeane smyslov; antologija. Moskva 2013, 240–252, hier 241.

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Theoretische Prämissen

Geopoetische Texte sind künstlerische Autorenexperimente mit einer bestimmten geografischen Umgebung, die Verkörperung in der fiktionalen Literatur findet. Diese Umgebung wird mythologisiert, semantisiert und mit bestimmten Merkmalen ausgestattet. Geokulturologie befasst sich mit einem Raum, dem von vornherein inhärente und essenziale Eigenschaften zugeschrieben werden. Dabei verschiebt sich die Auseinandersetzung mit einer bestimmten Gegend aus der mythisch-fiktionalen Sphäre in den Bereich des Politischen. Dessen ungeachtet kann sich die Funktion geopoetischer Texte auch in der Konterkarierung etablierter geopolitischer Gestalten ausdrücken. Mithilfe der theoretisch-analytischen Konzepte der Geokulturologie und Geopoetik lässt sich die Wechselverbindung zwischen der diskursiven Dimension von Raumaneignung im Rahmen des (Neo-)eurasismus und der künstlerischen Beschäftigung mit diesem Diskurs betrachten.

3. Figurative Verfahren des (Neo-)Eurasismus

3.1

Die Entstehung des klassischen Eurasismus

Unter dem klassischen Eurasismus wird die philosophisch-politische Strömung verstanden, die in den 1920er- bis 1930er-Jahren im russischen Emigrationskreis besonders in Sofia, Prag, Berlin und Brüssel entstanden ist. Der Eurasismus hat sich nicht nur auf die Diskussionen über Identitäten Russlands, sondern ebenfalls auf die Bereiche Geografie, Geschichte, Wirtschaft, Politikwissenschaft und Geisteswissenschaften und insbesondere die Sprachwissenschaft ausgewirkt. Seine Rezeption ist breitgefächert und mehrdeutig. Im Folgenden soll der Eurasismus indes nicht in all seinen Ausprägungen beschrieben werden, sondern es soll lediglich ein Überblick über seine Entstehung im geschichtlich-kulturellen Kontext sowie über die mitwirkenden Personen formuliert werden. Dies ist insofern relevant, als die konzeptionelle Seite der eurasischen Bewegung im unmittelbaren Zusammenhang mit dem politischen Hintergrund jener Zeit steht. Die eurasische Bewegung kann nicht abgetrennt von der russischen und der europäischen Ideengeschichte betrachtet werden. Zu den Vordenkern der Eurasier gehörten besonders die Slawophilen, die – im Gegensatz zu den Westlern1  – die Eigenständigkeit russischer Kultur und ihre grundlegende Unterscheidung von der europäischen Kultur behaupteten. Die eurasische Bewegung entstand im Kreise der russischen Emigranten, die nach der Niederlage der Weißen Bewegung gezwungen waren, die Heimat zu verlassen. In ihren Reflexionen thematisierten sie oftmals die sozialen und politischen Turbulenzen in Russland. Im Zuge seiner Entwicklung gewann der Eurasismus stetig Anhänger, Mitglieder und Förderer. Mit der Erweiterung polarisierte sich die von Anfang an heterogene Bewegung zunehmend, was sich nicht nur in den inhaltlichen Aspekten niederschlug, sondern zudem die Ansichten über die organisatorische Struktur betraf. Zu den Gründern des Eurasismus zählen unter anderen der Sprachwissenschaftler Nikolaj Trubeckoj (1890–1938), der Geograph und Wirtschaftler Pëtr Savickij (1895–1968), der Musikwissenschaftler Pëtr Suvčinskij (1892–1985) 1 Das Westlertum ist eine ideologische Bewegung, die in den 1830er- bis 1850er-Jahren entstanden ist. Die Westler gingen im Gegensatz zu den Slawophilen davon aus, dass sich Russland in seiner kulturellen und politischen Entwicklung in Richtung der Aneignung europäischer politischer und ökonomischer Errungenschaften und Werte orientieren soll.

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Figurative Verfahren des (Neo-)Eurasismus

und der Historiker Georgij Florovskij (1893–1979).2 Im Jahre 1921 veröffent­ lichten sie einen Sammelband mit dem Titel »Ischod k vostoku« (»Exodus nach Osten«), der zum ersten kollektiven Manifest der Eurasier wurde.3 Der eurasischen Bewegung traten der Historiker Georgij Vernadskij (1887–1973), der Philosoph und Rechtswissenschaftler Nikolaj Alekseev (1879–1964), der Sprachwissenschaftler und Philologe Roman Jakobson (1896–1982), der Philosoph Lev Karsavin (1882–1952) sowie der Literaturwissenschaftler Dmitrij Svjatopolk-Mirskij (1890–1939) bei. Die Geschichte des Eurasismus kann laut der Historikerin Marlène Laruelle in drei Phasen gegliedert werden. Die erste Phase ist die der Entstehung, die durch die Entwicklung der wissenschaftlichen Konzepte gekennzeichnet war (1921–1925).4 Susi Frank bezeichnet diese Etappe als eine geokulturologische Phase, während der sich die Eurasier bemühten, einen Zusammenhang zwischen den Besonderheiten von Kultur und den geografischen und klimatischen Bedingungen zu begründen.5 Die zweite Phase der Bewegung zeichnete sich durch die theoretische Vertiefung, aber auch durch die Polarisierung (­ 1926–1929) aus.6 Während ein Teil der Eurasier für die Auseinandersetzung mit dem Konzept »Eurasien« lediglich im Rahmen der publizistischen und wissenschaftlichen Tätigkeit plädierte, traten die anderen für die Umwandlung der Bewegung in eine politische Partei ein.7 Mit Beginn der 1930er-Jahre, die den Übergang in die dritte Phase kennzeichneten, kündigte sich im Eurasismus der theoretische und organisatorische Verfall an.8 2 Zu dem inneren Kreis der Eurasier (Nikolaj Trubeckoj, Pëtr Savickij und Pëtri Suvčinski), der die Leitung übernahm, die Strategie entwickelte, die Publikationen korrigierte und die wichtigsten Entscheidungen traf, zählt der Historiker Sergej Glebov auch den Offizier der Zaristischen und der Weißen Armee Petr Arapov (1897–1938). Er veröffentlichte zwar keine Publikationen zum Eurasismus, doch übernahm er eine wichtige Rolle in organisatorischen und politischen Fragen. Vgl. Glebov: Evrazijstvo meždu imperiej i modernom. Istorija v dokumentach. 22–45. 3 Zu den weiteren Positionspapieren zählten die Sammelbände »Na putjach« 1922 (»Auf den Wegen«) und »Rossija i latinstvo« 1923 (»Russland und Latinismus«) sowie die Manifeste »Evrazijstvo (opyt sistematičeskogo izloženija« 1926 (»Eurasismus. Empirie der systematischen Auslegung«) und »Evrazijstvo (formulirovka 1927 goda)« (»Eurasismus (Fassung des Jahres 1927)«). Zudem verfügte der Eurasismus über eine eigene Presse. Dazu gehörten das Jahrbuch »Evrazijskij vremennik« (1923–1927) und die Zeitschrift »Evrazijskaja chronika« (1925–1937). Die Emigrantenzeitschrift »Versty« (1926–1928) wurde in Paris unter Beteiligung einiger Eurasier publiziert. 4 Vgl. Laruelle: Ideologija russkogo evrazijstva ili Mysli o veličii imperii, 32. 5 Vgl. Frank, Susi K.: Eurasianismus. Projekt eines russischen »dritten Weges« 1921 und heute. In: Kaser, Karl / Gramshammer-Hohl, Dagmar / Pichler, Robert (Hg.): Europa und die Grenzen im Kopf. Klagenfurt 2003, 197–226, hier 198. 6 Vgl. Laruelle: Ideologija russkogo evrazijstva ili Mysli o veličii imperii, 32. 7 Vgl. ebd., 37. 8 Vgl. ebd., 32.

Visionen der eurasischen Einheit 

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Die heterogene Zusammensetzung der Mitglieder prägte ebenfalls die Vielfältigkeit der Konzepte und Ideen, die unter dem Stichwort Eurasismus generiert wurden. Bis jetzt lässt sich hinsichtlich der Versuche, den Charakter der eurasischen Bewegung wissenschaftstheoretisch zu lokalisieren, kein gemeinsamer Nenner identifizieren. Der Eurasismus wird als eine konservative Ideologie aufgefasst, die gegen die liberalen Werte des westeuropäischen Staates gerichtet ist; als eine moderne Bewegung, die den romantischen Diskurs reanimiert hat; als eine faschistische Ideologie; als eine Bewegung der russischen Emigrationselite und als eine Variante des russischen Nationalismus oder Imperialismus, wie Sergej Glebov darlegt.9 Diese Begegnung verschiedener Disziplinen und Diskurse hat die Entstehung einer Ideologie mit den Ansprüchen auf Totalität und eigener interner Logik rund um das Konzept »Eurasien« ermöglicht.10

3.2 Visionen der eurasischen Einheit 3.2.1 »Russland als Eurasien«: Rhetorik der Grenzziehung

In der eurasischen Bewegung kommt dem Konzept »Russland-Eurasien«11 als einheitlicher kultureller Zivilisation eine Schlüsselrolle zu. Damit meinten die Eurasier nicht nur das räumliche Paradigma, sondern ebenso die kulturell-historischen und geopolitischen Besonderheiten. Eurasien ist in dem Verständnis weder Europa noch Asien, sondern stellt eine unikale Welt, Kultur und ein besonderes historisches Schicksal dar. Es ist eine geschlossene Totalität, die sich durch seine inneren Elemente und nicht in Kategorien der Interaktionen mit dem Außen erklärt.12 Zu der geografischen und kulturellen Lage von Russland, das den größten Anteil von »Eurasien« ausmacht, schreibt der Eurasier Pëtr Savickij folgendes: 9 Vgl. Glebov: Evrazijstvo meždu imperiej i modernom. Istorija v dokumentach. Moskva, 61. 10 Vgl. Laruelle: Russian Eurasianism. An Ideology of Empire, 19. 11 Das Konzept »Eurasien«, unter dem die russischen Emigranten die kulturelle Identitätsbestimmung Russlands zu formulieren versuchten, war indes nicht ihre Erfindung. Der Begriff wurde aus der Arbeit »Das Antlitz der Erde« (1885–1909) des österreichischen Geologen Eduard Suess entlehnt, wie Stefan Wiederkehr ausführt. Als »Eurasien« benannte er ein Kontinentalmassiv von Europa und Asien. (Vgl. Wiederkehr: Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland, 36.) 12 Vgl. Laruelle, Marlène: Conceiving the Territory. Eurasianism as a Geographical Ideology. In: Bassin, Mark / Glebov, Sergey / Laruelle, Marlène (Hg.): Between Europe and Asia. The origins, theories, and legacies of Russian Eurasianism. Pittsburgh 2015, 68–83, hier 69.

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Figurative Verfahren des (Neo-)Eurasismus

Россия занимает основное пространство земель »Евразии«. Тот вывод, что земли ее не распадаются между двумя материками, но составляют скорее некоторый третий и самостоятельный материк, имеет не только географическое значение. Поскольку мы приписываем понятиям »Европы« и »Азии« также некоторое культурно-историческое содержание, мыслим как нечто конкретное круг »европейских« и »азиатско-азийских« культур, обозначение »Евразии« приобретает значение сжатой культурно-исторической характеристики.13 (Russland nimmt den größten Raum »Eurasiens« ein. Diejenige Schlussfolgerung, dass seine Territorien zwischen zwei Kontinenten nicht auseinanderfallen und sondern eher einen dritten und selbstständigen Kontinent bilden, hat nicht nur eine geografische Bedeutung. Da wir den Begriffen »Europa« und »Asien« auch einen kulturgeschichtlichen Inhalt beimessen, den Kreis der »europäischen« und der »asiatischen« Kulturen als etwas Konkretes voraussetzen, erlangt die Bezeichnung »Eurasien« die Bedeutung der verdichteten kulturgeschichtlichen Charakteristik.)

Die Eurasier lehnen die Vorstellung ab, dass das Uralgebirge eine Grenze zwischen dem europäischen und dem asiatischen Teil Russlands begründet. Dies basiert auf der These des Geografen Pëtr Savickij, dass die geografischen und klimatischen Bedingungen vor und hinter dem Uralgebirge die gleichen sind.14 Daraus wird geschlussfolgert, dass »Russland-Eurasien« eine einheitliche geografische, kulturelle und historische Welt ist. »Russland-Eurasien« ist eine gesetzmäßige räumliche Einheit, ihre inneren Verflechtungen sind wichtiger als eine angenommene Grenze zwischen Europa und Asien inmitten des Uralgebirges.15 Nach Auffassung der Eurasier ist der eurasische Kontinent nicht in einen asiatischen und europäischen Teil aufzuteilen, sondern auf zwei periphere Welten – Asien (China, Indien, Iran) und Europa mit der Grenze entlang der Flüsse Memel, Bug, San und der Mündung der Donau – und auf einen Mittelkontinent. Die Grenzen des letzten fallen mit den Grenzen des Russischen Imperiums zusammen, die ungeachtet der Erschütterungen des ersten Weltkriegs und der Revolution mehr oder weniger wiederhergestellt worden waren.16 Das Konzept »Russland-Eurasien« bleibt bis heute widersprüchlich und ruft einige Definitions- und Abgrenzungsprobleme hervor. Einerseits behaupten 13 Savickij, Pëtr: Geografičeskie i geopolitičeskie osnovy evrazijstva. In: Agamaljan, N. / ​ ­Dugin, Aleksandr (Hg.): Osnovy evrazijstva. Moskva 2002, 297–304, hier 299. 14 Vgl. Savickij, Pëtr. Evrazijstvo. In: Agamaljan, N. / Dugin, Aleksandr (Hg.): Osnovy evrazijstva. Moskva 2002, 266–280, hier 266. 15 Vgl. Kaganskij, Vladimir: Kul’turnyj landšaft i sovetskoe obitaemoe prostranstvo. Sbornik statej. Moskva 2001, 418. 16 Vgl. Evrazijstvo. (opyt sistematičeskogo izloženija) kollektivnaja monografija pervych evrazijcev (1926 g.). In: Agamaljan, N. / Dugin, Aleksandr (Hg.): Osnovy evrazijstva. Moskva 2002, 107–165, hier 132.

Visionen der eurasischen Einheit 

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die Eurasier, dass sich die geografische Zwischenlage Russlands in seiner kulturellen Hybridität niederschlägt. Andererseits kann »Russland-Eurasien« nicht auf die Gesamtheit europäischer und asiatischer Kulturmerkmale reduziert werden. Es begründet vielmehr eine Eigenart der kulturhistorischen und geografischen Welt, die sich sowohl von der asiatischen als auch von der europäischen Kultur unterscheidet. In Anlehnung an Albrecht Koschorke kann konstatiert werden, dass es sich hier um die Koexistenz widersprüchlicher epistemischer Erzählmuster handelt, die er mit dem Begriff »Doppelkonditionierungen« bezeichnet. Es geht dabei um »die Superimposition zweier Koordinatensysteme, die gewissermaßen gegeneinander verschoben sind […] und beide auf ihre Weise das gesamte Feld kartographieren, nur dass eben die Karten nicht passgenau übereinandergelegt werden können.«17 Die Schwerpunkte von Doppelkonditionierungen verlagern sich auf verschiedene Weise und bilden oft einen Gegensatz. Ein Erzählmuster hebt bestimmte Sachverhalte hervor und blendet die Perspektive eines anderen Erzählmusters aus. Ein Bild des Ganzen zeigt sich »in der Oszillation zwischen zwei unvollständigen und sich sogar wechselseitig ausschließenden Perspektiven«18. Der Eurasismus konstruiert Russland aus einer Perspektive als einen kulturell einheitlichen Raum, der in sich einzigartig ist, und negiert dabei gewissermaßen die historischen Interaktionen sowie Verflechtungen mit den benachbarten Ländern. Die zweite Perspektive, die sich im Begriff »Eurasismus« niederschlägt, setzt die Symbiose europäischer und asiatischer Kulturen voraus. Doch ist »Eurasien« keine Integration von Europa und Asien in der eurasischen Selbstbeschreibung, wie Alexander Höllwerth bemerkt. Im Eurasismus wird Europa pauschal abgelehnt, die eurasische Vision ist »eine Synthese des, geographisch gesehen, »europäischen« Teils Russlands und des »asiatischen« Teils Russlands gegen Europa.«19 Laut den Eurasiern stellen Europa und Russland zwei gegensätzliche Zivilisationen dar. Die grundsätzliche Kritik des Eurasismus richtete sich gegen die europäische Idee des Modernisierungsprozesses, der auch für andere Kulturkreise universal gelten soll. Der Eurasismus proklamiert erstens die Existenz eigenständiger und kulturell undurchlässiger Zivilisationen und bezeichnet zweitens »Russland als kulturhistorisch von Westeuropa verschieden und im Gegensatz zu einem individualistischen und nationalistischen Europa als die eindeutig bessere Alternative.«20 Sergej Glebov merkt an, dass Europa in der eurasischen Konzeption als nivellierende 17 Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, 370. Hervorh. i. Orig. 18 Ebd., 370 f. 19 Höllwerth: Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin. Eine Diskursanalyse zum postsowjetischen russischen Rechtsextremismus, 423. 20 Frank: Eurasianismus. Projekt eines russischen »dritten Weges« 1921 und heute, 200.

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Figurative Verfahren des (Neo-)Eurasismus

Kraft auf die Unterschiede zwischen den Kulturen wirkt, deswegen wird dem antieuropäischen Komplex so viel Bedeutung beigemessen.21 In Verbindung mit der Ablehnung Europas steht die Einbeziehung Asiens in das Identitätskonstrukt »Russland-Eurasien«. Die Aussichten auf Asien gestalten sich allerdings ambivalent. Laruelle lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass die eurasische Konzeption des Ostens bzw. Asiens einen Widerspruch in sich berge, da Asien an sich kein Interesse für die Eurasier darstelle, sondern lediglich ein Mittel für die Besinnung des Ostens auf die eigene Kultur sei, was der Verneinung von Westeuropa diene.22 Imaginäre Konstruktionen von Europa und Asien werden ins Spiel als Gegenpole für die Aushandlungen eurasischer Identität gebracht. Dementsprechend gestalten sich die Grenzziehungen mit ihnen verschieden: Während die Grenze zwischen Russland und Europa geschlossen ist und sich im Laufe der Geschichte kaum geändert hat, ist die Grenze mit Asien offen und kann sich im Zuge der territorialen Expansion Russlands verschieben.23 In Bezug auf Asien konnten die Eurasier keine einheitliche Position ausarbeiten. Ihrer Ansicht nach waren Grenzziehungen zwischen Russland und bestimmten Ländern Asiens unterschiedlich. Die Länder des Fernen Ostens – China und Japan – wurden als Teils Asiens und nicht als »Eurasien« betrachtet. Darüber hinaus existierte die sogenannte östliche Abzweigung des Eurasismus, die von dem nach China ausgereisten russischen Schriftsteller und Philosophen Vsevolod Ivanov (1888–1971) vertreten wurde. Er teilte die Position der Eurasier über die positive Bedeutung der mittelalterlichen mongolischen Herrschaft über Russland für die Entstehung des russisch-eurasischen Imperiums. Darüber hinaus vertrat er die These, dass die Quellen der mongolischen Staatlichkeit und des Verwaltungssystems, das Russland von den Mongolen entlehnt hat, in China liegen.24 Vor dem Hintergrund dieses indirekten Kulturtransfers verschieben sich die Grenzen des russisch-eurasischen Imperiums und die chinesische Zivilisation wird als gemeinsame Quelle für die russische und mongolische Staatlichkeit betrachtet. Außerdem betonte er den asiatischen Charakter der russischen Kultur und ging davon aus, dass die eurasische Bewegung lediglich die »Asische« (»Azijskij«) Bewegung heißen soll, da die Silbe »Eur« (»Evr«) die Verbindung mit Europa impliziert.25

21 Vgl. Glebov: Evrazijstvo meždu imperiej i modernom. Istorija v dokumentach, 66 f. 22 Vgl. Laruelle, Marlène: Myslit’ Aziju ili myslit’ Rossiju. In: Neprikosnovennyj zapas 3 (2003), URL : https://magazines.gorky.media/nz/2003/3/myslit-aziyu-ili-myslit-rossiyu. html (13.01.2021). 23 Vgl. Laruelle: Conceiving the Territory. Eurasianism as a Geographical Ideology, 72. 24 Vgl. Ivanov, Vsevolod: My na Zapade i na Vostoke. Kul’turno-istoricheskie osnovy russkoj gosudarstvennosti. Sankt-Peterburg 2005, 165 f. 25 Vgl. ebd., 21.

Visionen der eurasischen Einheit 

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Charakteristisch für das eurasische Denken war der Anspruch, Thesen wissenschaftlich zu untermauern. Für die Eurasier bestanden die Aufgaben der Wissenschaft primär in der Aufarbeitung der historischen Entwicklung Russlands. Zentral war hierbei die Frage nach der Einheit »Eurasien«, wie Sergej Glebov darlegt.26 Er betont, dass die Entwicklung der eurasischen wissenschaftlichen Kategorien unmittelbar an die Problematik des imperialen Staates gekoppelt war. Im Vergleich zu dem normativen Wissen eines Nationalstaates existierten in Russland keine Modelle, die das Imperium aus wissenschaftlicher Position begründen konnten.27 Die Eurasier versuchten, diese Lücke zu schließen, indem sie die Einheit des Russischen Imperiums auf die geografischen und kulturellen Faktoren zurückführten. Problematisch für die Aufarbeitung des eurasischen Gedankenguts war die Verflechtung wissenschaftlicher und ideologischer Diskurse.28 In Bezug auf den Eurasismus ist insbesondere die soziokulturelle Komponente der Wissensproduktion von Relevanz, die auf die globalen Geschehnisse und die persönlichen Auseinandersetzungen der Eurasier mit ebendiesen zurückzuführen sind. Zudem war das empirische Wissen unzureichend, das die Problematik des Imperiums betraf. Die Möglichkeit, dies für die aus Russland erzwungen ausgereisten Eurasier nachzuforschen, war äußerst begrenzt. In diesem Sinne erhält die rhetorische Stärke der eurasischen Konzepte eine besondere Rolle in den Begründungsund Überzeugungsstrategien des Imperiums als einer politischen Form. Das Ziel, die Einheit des eurasischen Raums wissenschaftlich zu untermauern, geht mit der Verwendung vielfältiger figurativer Verfahren einher. Die Eurasier greifen auf eine Reihe rhetorischer Figuren und bildlicher Symbole zurück. Diese sind in sich nicht unbedingt widerspruchsfrei, doch ihre weitgehenden Konnotationen und mit Affekten aufgeladenen Bedeutungen sind einer der Gründe, warum das Gedankengut des Eurasismus bis jetzt in Russland und zunehmend in anderen Ländern rezipiert sowie instrumentalisiert wird. Es geht in diesem Kapitel jedoch nicht darum, die Plausibilität der eurasischen Konzepte zu diskutieren. Stattdessen soll insbesondere deren Wirkungsmächtigkeit im Kontext der imperialen Selbstrepräsentationen analytisch entschlüsselt werden. Es sollen speziell die bildlichen Figuren analysiert werden, die die Eurasier in Bezug auf die geografische und politische Einheit Russlands generieren. Das Gedankengut der Eurasier ist in dieser Hinsicht ein Paradebeispiel für das politische Imaginäre, da sich die eurasische Rhetorik explizit um das Konzept der Einheit bemüht. Die Suche nach der absoluten Ganz26 Vgl. Glebov: Evrazijstvo meždu imperiej i modernom. Istorija v dokumentach, 102. 27 Vgl. ebd., 19. 28 Im Einzelnen sind die strukturalistischen Forschungen in der Linguistik von Nikolaj ­Trubeckoj, Roman Jakobson und Pëtr Savickij zu nennen, deren Einfluss auf die Entwicklung der Geisteswissenschaften nach den Worten von Sergej Glebov unterschätzt wird. (Vgl. ebd., 97.)

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heit zieht sich durch die gesamte eurasische Politik, Ästhetik, Ethnografie, Linguistik und Geografie.29 Bei genauerer Betrachtung des Konzeptes »Eurasien« spielen besonders die Begriffe des Raumes und des kollektiven Subjekts eine große Rolle. Die Eurasier gingen davon aus, dass eine natürliche Bindung zwischen einer Kultur, dem Volk als Träger dieser Kultur und dem geografischen Territorium vorliegt, in dem sich diese Kultur entwickelt. Sie beschränken sich allerdings nicht darauf, die Einheit von »Russland-Eurasien« zu formulieren. In ihren Überlegungen sind die Metaphern der Einheit mit weiteren symbolischen Figuren aufgeladen. 3.2.2 Die Metaphorik des geografischen Raums

In der Untersuchung des politischen Imaginären kommt den metaphorischen Ausdrücken eine entscheidende Rolle zu, da sich »Dichotomien vom Typ Basis / Ü berbau oder Realität / Fiktion«30 mit ihrer Hilfe begreifen lassen. Im Unterschied zu der klassischen Auffassung der Metapher, die in ihrer rhetorischen bzw. poetischen Funktion auf eine Abbildung der Realität rekurriert, gehen die modernen Theorien, die Bezug auf die Interaktionstheorie nehmen, von der Metapher als einem konstituierenden Bestandteil der Sprache und des Denkens aus. Dabei wird der dynamische Charakter der Bedeutungs­ erzeugung hervorgehoben, die aus der Zusammenführung zweier Vorstellungen in ein Wort oder eine Redewendung resultiert.31 Im Vordergrund dieses Begriffs steht die kontextuelle Natur der Metapherbildung. An den aus der Interaktionstheorie abgeleiteten Begriff der Metapher knüpfen sich die Fragen nach der Unterscheidbarkeit bzw. Ununterscheidbarkeit buchstäblicher und metaphorischer Rede an.32 In dieser Hinsicht fungiert die Metapher nicht bloß als poetischer Ausdruck vorhandener Begriffe, die Realität abbilden. Die anscheinend buchstäbliche Rede ergibt sich im Zuge des metaphorischen Denkens, das Vorstellungen vor den realen Sachverhalten produziert. Die Sprache als »lineare Verkettung differentieller Elemente (Laute und Vorstellungen)« ist der »sekundäre Effekt« jener Prozesse, »die sich, radikal betrachtet, als figurativ, und zwar in erster Linie als metaphorisch und metonymisch erweisen.«33

29 Vgl. ebd., 70. 30 Koschorke / Lüdemann / Frank / Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, 11. 31 Vgl. Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, 31. 32 Vgl. ebd., 32. 33 Ebd., 35.

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In der metaphorischen Forschung hat sich die Unterscheidung zwischen der wirkungsmächtigen Metapher, die als solche wahrgenommen wird, und der sogenannten toten Metapher etabliert. Dabei manifestiert sich die mytho­ poetische Gewalt der Ideologisierung gerade in dem Zeitpunkt, als die poe­ tische Bedeutung der Metapher verblasst und sie nicht als eine Metapher erkennbar ist.34 Darin besteht die Kraft der Metapher für die Erzeugung des politischen Imaginären. Eine Konvergenz dieser Ansicht ist in den theoretischen Ausführungen von Georg Lakoff und Mark Johnson zu beobachten, obwohl diese in einem unterschiedlichen Kontext entstanden sind. Die in den 1970er-Jahren entwickelte Theorie basiert auf der Annahme, dass Metaphern das Alltagsleben durchdringen und nicht nur Sprache, sondern auch Denken und Handeln strukturieren. Das menschliche Begriffssystem, in dessen Rahmen Denkprozesse und Aktivitäten verlaufen, ist metaphorisch organisiert und definiert.35 Damit ermöglicht die Erforschung der Metaphern den Rückgriff auf vorhandene und oft unbewusste Denkmuster, die sich im Laufe der Zeit verfestigt haben und in ihrer metaphorischen Wesenheit als solche nicht erkennbar sind. Mit dem diskursanalytischen Zugang zu Metaphern wird hervorgehoben, dass sie eine wirklichkeitskonstituierende Funktion innehaben. Metaphern werden als Bestandteil der Sprache konzipiert. Sie haben an der Konstitution und Reproduktion von Bedeutungen teil, mit denen eine bestimmte Welt­ ansicht naturalisiert wird.36 Diese theoretischen Zugänge widersprechen sich nicht, sie erlauben vielmehr, die Komplexität der metaphorischen Rede in ihrer Wechselwirkung zwischen den Denkprozessen und der sozial konstruierten Wirklichkeit zu begreifen. Derartige Überlegungen bieten überdies eine gute Handhabe zur Analyse der Metaphern, die in die Selbstbeschreibungen von Gesellschaften überfließen. Die Intentionen, die Einheit »Eurasien« geografisch zu begründen, fließen in die organischen37 figurativen Verfahren ein. Im politischen Imaginären ist der menschliche Organismus als ein metaphorischer Ausdruck des politischen 34 Vgl. ebd., 112. 35 Vgl. Lakoff, George / Johnson, Mark: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg 1998, 14. 36 Vgl. Shore, Cris: Metaphors of Europe: Integration and the Politics of Language. In: Nugent, Stephen / Shore, Cris (Hg.): Anthropology and cultural studies. London, Chicago / Illinois 1997, 126–159, hier 133. 37 Die Eurasier waren in dieser Hinsicht nicht originell. Für die Bezeichnung historischpolitischer Begebenheiten wurden oft die organischen Metaphern gebraucht, die den Zusammenhalt und die Entwicklung von menschlichen Kollektiven in den Kategorien der belebten und unbelebten Natur beschreiben. Siehe dazu Demandt, Alexander: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken. München 1978.

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Körpers, dessen Funktionieren nur in seiner Einheit und Ganzheit möglich ist, äußerst relevant.38 Im Eurasismus wird das Vorbild des menschlichen Körpers in Bezug auf den geografischen Raum Russlands angewendet. So formuliert Savickij in Bezug auf die von den Eurasiern postulierte mittlere Lage Russlands: Европа для России есть не более, чем полуостров Старого материка, лежащий к западу от ее границ. Сама Россия на этом материке занимает основное его пространство, его торс.39 (Europa ist für Russland nicht mehr als eine Halbinsel des Alten Kontinents, die westlich seiner Grenzen liegt. Selbst Russland nimmt auf diesem Kontinent seinen wesentlichen Raum, seinen Rumpf, ein.)

Auf diese Weise wird durch die Körpermetapher »tors« (»Rumpf«) die Bedeutung von Russland für den ganzen Kontinent hervorgehoben. Der Rumpf – anatomisch der zentrale Teil des Körpers – dient als metaphorische Begründung für die zentrale geografische Position Russlands in Eurasien. An die behauptete zentrale Lage Russlands wird die Begründung der organischen Ganzheit des eurasischen Kontinents angeknüpft. Устраните этот центр — и все остальные его части, вся эта система материковых окраин (Европа, Передняя Азия, Иран, Индия, Индокитай, Китай, Япония) превращается как бы в «рассыпанную храмину». Этот мир, лежащий к востоку от границ Европы и к северу от «классической» Азии, есть то звено, которое спаивает в единство их все.40 (Beseitigen Sie dieses Zentrum, verwandeln sich alle seine anderen Teile – dieses ganze System festländischer Randgebiete (Europa, Vorderasien, Iran, Indien, Indochina, China, Japan) – quasi in einen »zerstreuten Tempel«. Diese Welt, die östlich der Grenzen Europas und nördlich des »klassischen« Asiens liegt, ist das Bindeglied, das sie alle zu einer Einheit zusammenschweißt.)

Die Eurasier formulieren die Vision des eurasischen Raums, dem die Metapher der mittleren Lage zugrunde liegt. Der Geograf Pëtr Savickij geht davon aus, dass Russland mehr Gründe als China hat, sich als Mittelstaat zu verstehen.41 Die mittlere Lage Russlands auf dem eurasischen Kontinent ist in dieser Hinsicht rein imaginativ und ergibt aus geografischer Sicht keinen Sinn. Diese Metapher verweist jedoch auf den Begriff des Zentrums, das in der eurasischen 38 Vgl. Koschorke / Lüdemann / Frank / Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, 64. 39 Savickij: Geografičeskie i geopolitičeskie osnovy evrazijstva, 297. 40 Ebd., 298. 41 Vgl. ebd., 297.

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Theorie nicht nur die geografische Bedeutung, sondern auch die kulturhistorische und geopolitische Dimension umfasst. Die Metapher der mittleren Lage tritt zusammen in einer Reihe mit kulturellen Zeichen und Symbolen auf. Zentral ist in dieser Hinsicht die längst zur Formel gewordene jahrhundertalte Dichotomie »Europa vs. Asien«.42 An dieser Stelle ist anzumerken, dass sich diese Dichotomie in Bezug auf das Selbstverständnis Russlands erst in der Ideologie des Eurasismus herauskristallisiert hat. Die Debatten über die kulturelle Zugehörigkeit Russlands standen vorher zumeist im Kontext der Beziehungen zwischen Europa und Russland. Der Gegensatz »Europa vs. Russland vs. Asien« findet erst in eurasischen Werken eine systematische Ausarbeitung und Untermauerung. Obwohl die Eurasier die Konnotationen der dichotomischen Teilung »Europa und Asien« einer Kritik unterziehen, nutzen sie diese Opposition weiter. Diese dient der Konstruktion der kulturellen Grenzen und der Aushandlung des Zentrum-Peripherie-Verhältnisses in der eurasischen Theorie. Durch den Bezug auf asiatische Länder wird implizit die östliche (asiatische) Komponente im eurasischen Verständnis der russischen Kultur akzentuiert. Auch wenn die Selbstbeschreibungen Russlands in den Kategorien europäisch-russischer Beziehungen bis zu diesem Zeitpunkt lange diskutiert wurden, verschiebt sich der Fokus auf das imaginierte Asien, dem die Eurasier einen hohen Stellenwert in den Identitätskonstruktionen einräumen. Gleichzeitig problematisieren die Eurasier die Zugehörigkeit Russlands zu Europa. Wie Mark Bassin ausführt, sei die geografische Annahme, dass Russland einen europäischen und einen asiatischen Teil habe, im 18. Jahrhundert entstanden und wurde der imperialen Ideologie Russlands zugrunde gelegt. Die Eurasier zielen vielmehr darauf, die Selbstrepräsentationen des imperialen Staates zu ändern, der nach der Analogie mit der europäischen Kolonisierungsmission die asiatischen Teile als Kolonien und nicht als Teil des eigenen kulturellen Raums betrachtete.43 Das asiatische Gebiet Russlands war nicht bloß abhängiges Territorium und Rezipient der russischen Kultur, sondern prägte wesentlich nach Ansicht der Eurasier die russische kollektive Identität. Die Eurasier versuchten überdies die kulturhistorische Orientierung Russlands auf Europa umzudenken. In Anlehnung an den russischen Philologen Boris Uspenskij kann die Zugehörigkeit Russlands zu Europa entweder in der Kategorie der Metapher oder der Metonymie diskutiert werden. Während der metaphorischen Bezeichnung das Problem des Alten und des Neuen zugrunde liegt, betrifft das Prinzip der Metonymie die Frage nach dem Verhältnis zwi42 Zur geschichtlichen Aushandlung der Grenze zwischen Europa und Asien sowie ihren kulturellen Bedeutungszuschreibungen siehe Bassin, Mark: Russia between Europe and Asia: The Ideological Construction of Geographical Space. 43 Vgl. ebd, 5 f.

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schen Zentrum und Peripherie.44 Demnach könnte die freiwillige Orientie­ rung Russlands nach Europa durch das metaphorische Prinzip beschrieben werden. Dagegen setzt die kulturelle Expansion Europas nach Russland die metonymische Bedeutung voraus.45 An den Reformen des Zaren Peter I., der eine umfassende Modernisierung Russlands nach europäischen Maßstäben durchführte, setzten die Vertreter des Eurasismus ihre Kritik an. Besonders wird ihre autoritäre Durchsetzung hervorgehoben. Diese betraf lediglich die Oberschicht und führte zur Spaltung der Gesellschaft.46 Nach dieser Auffassung orientierte sich Russland nicht freiwillig an Europa, sondern wurde durch Peter den Großen zwangsweise europäisiert.47 Auf derartige Weise wurde die Petrinische Europäisierung Russlands in der Kategorie der Metonymie wahrgenommen, gemäß der Russland lediglich ein Teil der europäischen Peripherie ist. Die Eurasier zielten darauf ab, dieses imaginierte Zentrum-Peripherie-Verhältnis zu delegitimieren, indem sie Russland als ein Zentrum des eurasischen Kontinents ausriefen und Europa die periphere Lage zuschrieben: »In der Entkräftung der kulturellen Opposition von Europa und Asien, in der Negation der Grenze zwischen diesen so genannten Kontinenten rückten die Eurasianer Russland kulturell vom Rand, von der Peripherie in die Mitte einer von ihnen neu definierten geokulturellen Welt«48, um es mit den Worten von Susi Frank auszudrücken. 3.2.3 »Entwicklungsraum«: die Einheit von Raum und Gemeinschaft

Die leitende Hypothese der Forschungen in Bezug auf das politische Imaginäre besteht darin, dass die politische Verfasstheit einer Gesellschaft unabhängig von ihren Selbstbildern, die Vorgestaltungen eines Gemeinwesens enthalten, nicht erklärt werden kann.49 Dem Begriff des Körpers, der vielfältige Anknüpfungspunkte für die imaginäre Konstruktion eines politischen Gebildes hat, kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu. Eine weitere Tendenz beschreibt Rainer Guldin, der die Verbindung bzw. den Übergang der Metapher des politischen Körpers (body politic) in die 44 Vgl. Uspenskij, Boris: Europe as Metaphor and Metonymy (in Relation to the History of Russia). In: Uspenskij, Boris / Živov, Viktor / Levitt, Marcus (Hg.): »Tsar and God« and other essays in Russian cultural semiotics. Boston 2012, 175–190, hier 176 f. 45 Vgl. ebd., 182. 46 Vgl. Evrazijstvo. (opyt sistematičeskogo izloženija)  kollektivnaja monografija pervych evrazijcev (1926 g.), 162. 47 Vgl. Trubeckoj, Nikolaj: My i drugie. In: Agamaljan, N. / Dugin, Aleksandr (Hg.): Osnovy evrazijstva. Moskva 2002, 180–193, 182. 48 Frank: Eurasianismus. Projekt eines russischen »dritten Weges« 1921 und heute, 212. 49 Vgl. Koschorke / Lüdemann / Frank / Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, 58.

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Metapher des geografischen Körpers (body geographic) anhand visueller, literarischer, theatralischer und geopolitischer Repräsentationen europäischer Nationen analysiert. Seine These lautet, dass sich die Metapher des politischen Körpers allmählich mit der Metapher des geografischen Körpers in den politischen Diskursen seit dem 19. Jahrhundert verschmolzen hat.50 Für die Analyse der Körpermetaphorik des russischen Raums bieten seine Überlegungen ungeachtet des anderen kulturellen Hintergrunds eine fruchtbare Handhabe. Der Autor bezieht sich unter anderen auf Friedrich Ratzel, der »eine bedeutsame Genealogie für den Übergang von der Metapher des body politic zur Metapher des body geographic«51 entwickelt hat. Ratzels Ausgangspunkt ist, der Staat sei ein bodenständiger Organismus und wie alle anderen Lebewesen in seiner Entwicklung auf den Boden angewiesen. Die räumliche Verbreitung der Menschen und ihre politische Organisation werden als ein natürlicher Prozess konzipiert, der mit der Entwicklung der Lebewesen ähnlich ist.52 In diesem Zusammenhang entwickelt sich die Wechselwirkung zwischen dem Staat und dem Boden, der die Lebensbedingungen für die Entfaltung eines politischen Gebildes schafft. Der Boden ist damit das wichtigste Element in der politischen Organisation der Menschen. Nach Ratzel ist er eine Gegebenheit, aus der ökonomische und religiöse Aktivitäten des Volkes resultieren.53 Die Ideen von Ratzel spielten eine Rolle bei der Entwicklung des Begriffs »mestorazvitie« (»Entwicklungsraum«) durch den Geografen Pëtr Savickij. Das Konzept »Entwicklungsraum« wurde von Savickij ins Spiel gebracht, um die Wechselwirkung zwischen dem sozial-historischen Milieu und dem geografischen Territorium zu identifizieren. Diese Kategorie ist von großer Bedeutung bei den Eurasiern, die die Einzigartigkeit des eurasischen Raums betonten. In der eurasischen Ideologie hat sich dieses Konzept fest etabliert und findet seine Verwendung darüber hinaus ebenfalls im Neo-Eurasismus der postsowjetischen Zeit. In seiner Begründung des Begriffes »Entwicklungsraum« nutzt Savickij mehrere Analogien54 aus der Biologie und der Geologie: »Fundstätte« (»mestoroždenie poleznych iskopaemych«), »Pflanzenstandort« (»mestoproizrastanie rastitel’nych soobščestv«), »Lebensraum von Tieren« (»mestoobitanie život50 Vgl. Guldin, Rainer: Politische Landschaften. Zum Verhältnis von Raum und nationaler Identität. Bielefeld, Berlin 2014, 246. 51 Ebd., 270. 52 Vgl. Ratzel, Friedrich: Politische Geographie. Oder die Geographie der Staaten, des Verkehres und des Krieges. München, Berlin 1903, 3. 53 Vgl. ebd., 4. 54 Mit dem Begriff der Analogie wird in Anlehnung an Hans Georg Coenen »ein symmetrisches Verhältnis zwischen zwei sprachlich beschriebenen Gegenständen, nicht etwa zwischen Bedeutungen oder sprachlichen Ausdrücken« verstanden. (Coenen, Hans Georg: Analogie und Metapher. Grundlegung einer Theorie der bildlichen Rede. Berlin 2002, 31.)

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nych soobščestv«).55 Ferner fügt er dieser Reihe noch einen von ihm geschaffenen Neologismus »Ort der Bodenbildung« (»mestoformirovanie počv«56) hinzu. Der wissenschaftliche Anspruch seiner Wortschöpfung basiert auf der Verwendung vielfacher Analogien. Auch wenn die wissenschaftliche Plausibilität seines Konzepts aus heutiger Sicht fraglich ist, greift Pëtr Savickij auf eine der verbreiteten Methoden in der Wissenschaft zurück  – nämlich die Analogie. Seit den 1980er-Jahren findet die »Structure Mapping Theory« von Dedre Gentner breite Anwendung für die Analyse von wissenschaftlichen Analogien. Der Prozess der Analogiebildung basiert laut dieser Theorie auf der Abbildung von Relationen und nicht von Attributen zwischen den Domänen (der Basis und dem Ziel).57 Cameron Shelley erweitert die Structure Mapping Theory auf multiple Analogien, ebendies bietet die Grundlage für die nachfolgende Analyse. Bei den multiplen Analogien stellt sich die Frage, wie die Analogien miteinander verbunden sind. Entweder interagiert ein Quellenanalogon lediglich mit einem Zielanalogon und nicht mit anderen Quellen oder die Quellenanaloga interagieren gleichfalls miteinander.58 Insbesondere im Konzept von Pëtr Savickij spielt die zweite Option eine Rolle, da »Fundstätte«, »Pflanzen­ standort« und »Lebensraum von Tieren« und »Ort der Bodenbildung« als Analogien zueinander betrachtet werden können. Pëtr Savickij geht davon aus, dass ein bestimmter Raum Einfluss auf die in diesem Bereich existierenden Pflanzen und Tieren ausübt. Demzufolge ist die Entwicklung einer politischen Einheit unmittelbar mit einem Ort verbunden. Für die Benutzung multipler Analogien sind mehrere Gründe möglich. Cameron Shelley weist darauf hin, dass das Ziel bei der Verwendung solcher Analogien nicht nur darin besteht, eine Eigenschaft zu begründen, sondern dies auch mit einem ausreichenden Niveau an Zuversicht zu vollziehen, weil ein Analogon unzureichend zu sein scheint.59 In dem Fall ist die multiple Analogie ein rein rhetorisches Instrument, dessen Funktion in der überzeugenden Wirkung besteht. Betrachtet man den Begriff »Entwicklungsraum« von Pëtr Savickij, wird ebenfalls ein anderer Grund sichtbar, warum er die multiple Analogie wählt, um das Konzept zu begründen. Dies könnte man in Anlehnung an Cameron Shelley als den Prozess der Ergänzung in der Bildung von multiplen Analogien bezeichnen.60

55 Vgl. Savickij, Pëtr: Kontinent Evrazija. Moskva 1997, 282. 56 Ebd. 57 Gentner, Dedre: Structure-Mapping: A Theoretical Framework for Analogy. In: Cognitive Science 7 (1983), 155–170, hier 161. 58 Vgl. Shelley, Cameron: Multiple Analogies in Science and Philosophy. Amsterdam, Philadelphia 2003, 114. 59 Vgl. ebd., 117. 60 Vgl. ebd., 126.

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Wenn Pëtr Savickij die Wechselbeziehung zwischen der organischen Welt und dem Boden zeigen wollte, hätte wahrscheinlich das Analogon »Lebensraum von Tieren« gereicht. Die potenzielle Möglichkeit der Migration von Tieren an einen anderen Ort mit ähnlichen Bedingungen lässt den unmittelbaren Einfluss von Boden relativ werden. Dabei scheinen die Analoga »Fundstätte« und »Ort der Bodenbildung« diese semantische Lücke zu füllen, indem sie den stärkeren Einfluss von Boden und die untrennbare Verbindung zwischen der organischen und der nicht-organischen Welt hervorheben. In Bezug auf die voranstehend angeführte Begrifflichkeit drückt sich die Analogie darin aus, dass ein geografischer Raum als Voraussetzung für die Existenz der organischen und nicht-organischen Arten betrachtet wird. Darüber hinaus dient eine Auflistung von Begriffen aus verschiedenen Disziplinen der Verdeutlichung der totalen geografischen und biologischen Einheit Eurasiens. Der »Entwicklungsraum« ist ein Beispiel dafür, wie die Eurasier verschiedene rhetorische Strategien in einem Konzept zusammenführen, für das geografischer Raum und ein soziales Milieu vorausgesetzt werden.61 Um die Einheit zwischen einem Raum und einer Gesellschaft im Begriff »Entwicklungsraum« zu verdeutlichen und zu verstärken, bildet Pëtr Savickij die organische Metapher »das geografische Individuum« (»geografičeskij individuum«), die in unmittelbarer Verbindung zu der Idee der geografischen Totalität Eura­ siens steht.62 Sie ist auf eine weitere wichtige Metapher in der eurasischen Ideologie zurückzuführen, nämlich auf »die symphonische Persönlichkeit«. 3.2.4 »Symphonische Persönlichkeit« als Metapher der Vergemeinschaftung

Zu einer der Dimensionen des politischen Imaginären gehört die Konversion von Einzelkörpern in eine überindividuelle Einheit und somit die Entstehung eines politischen Körpers.63 Die Individuen formieren sich zu einem Gebilde höherer Ordnung, was mit tiefgreifenden Veränderungen verbunden ist und in der politischen Rhetorik die narrativen Übergänge von einer Gestaltlosigkeit hin zu einer symbolischen Ordnung hervorgebracht hat.64 Dabei beschränkt sich der metaphorische Gebrauch der politischen Einheit nicht nur auf figurative Strategien in der Kategorie der belebten Natur, sondern bezieht ebenfalls 61 Vgl. Wiederkehr: Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland, 70. 62 Vgl. Savickij: Kontinent Evrazija, 283. 63 Vgl. Koschorke / Lüdemann / Frank / Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, 66. 64 Vgl. ebd., 66 f.

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andere Figurationen wie die Metapher der Maschine oder die Narrative vom Gesellschaftsvertrag ein.65 Die rhetorischen Figuren der Einheit funktionieren indes nicht immer reibungslos. Selbst bezüglich des Modells Nationalstaat, dessen Narrative um Identität, Einheit und Homogenität der Gemeinschaft kreisen, entstehen Fragen nach Exklusion und Teilung.66 Problematischer wird die Situation, wenn die Figuren der Selbstbeschreibung eines Gemeinwesens Pluralität und Heterogenität berücksichtigen wollen. Bei dem klassischen Eurasismus der 1920er- bis 1930er-Jahre war das Problem der ethnischen Vielfalt des russischen Imperiums einer der wichtigsten Programmpunkte. Die Eurasier entwarfen ein Bild eines einheitlichen kulturellen Raums des Vielvölkerstaats, in dem sich die Einheit des Imperiums mit seinen zahlreichen Völkern in einem synthetischen und stabilen Konstrukt verträgt.67 Die Vertreter des Eurasismus behaupten, dass die im Russischen Imperium wohnenden Völker und Ethnien zu einer kulturhistorischen Einheit als Folge lang dauernder und intensiver Kontakte assimiliert sind.68 Detailliert ausgearbeitet wurde dieser Gedanke im Konzept der »symphonischen Persönlichkeit«. Die geschichtliche Entwicklung »Eurasiens« setzt die Existenz eines kollektiven Subjekts voraus. Eine Gruppe von Menschen, ein Volk, kann laut dem Eurasier Lev Karsavin als symphonische Persönlichkeiten definiert werden. Es ist eine überindividuelle Einheit und mehr als eine Summe von Individuen.69 Unter der »symphonischen Persönlichkeit« verstehen die Eurasier allgemein die Vergemeinschaftung einzelner Individuen zu einer überindividuellen Einheit. Die Eurasier postulieren die Existenz der besonderen eurasisch-russischen Kultur und ihres besonderen Trägers – der symphonischen Persönlichkeit. Im Konzept der symphonischen Persönlichkeit führen die eurasischen Denker gleichzeitig zwei Metaphern zusammen. Die Persönlichkeit bezieht sich auf die zuvor genannte Metapher des Körpers mit ihren Implikationen der Unteilbarkeit, Übersummativität, Natürlichkeit und Totalität.70 Diese orga­

65 Vgl. ebd., 60. 66 Vgl. ebd., 267. 67 Vgl. Glebov: Evrazijstvo meždu imperiej i modernom. Istorija v dokumentach, 65. 68 Vgl. Bassin: Nationhood, Natural Regions, Mestorazvitie – Environmentalist Discourses in Classical Eurasianism, 51. 69 Vgl. Karsavin, Lev: Fenomenologija revoluzii. In: Ključnikov, Sergej (Hg.): Russkij uzel evrazijstva. Vostok v russkoj mysli; sbornik trudov evrazijcev. Moskva 1997, 141–201, hier 143. 70 Der menschliche Körper gilt als das ursprüngliche Vorbild des Begriffes der Ganzheit; die Metapher des sozialen Körpers leistet die Übertragung der vom menschlichen Körper abgeleiteten Bestimmungen auf eine soziale Einheit. (Vgl. Koschorke / Lüdemann / Frank /  Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, 60.)

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nische Metapher impliziert ebenfalls die Formierung einzelner Individuen zu einem sozialen Körper: Die anfangs unverbundene Menge, so lautet das Vergemeinschaftungsprogramm, formiert sich zu einem Gebilde höherer Ordnung; die Individuen überwinden ihre reale Disjunktion und Unkoordiniertheit und verschmelzen in dem großen imaginären Subjekt, als das sich der Kollektivkörper seinen Teilhabern verspricht.71

Das Konzept der symphonischen Persönlichkeit wenden die Eurasier auf verschiedene soziale Einheiten an: Familie, Kirche und soziale Gruppierungen. Hierbei scheint ein hierarchisches Verhältnis vorzuliegen. Die russisch-eurasische Kultur ist in diesen Überlegungen von übergeordneter Bedeutsamkeit. Die Entstehung des Persönlichkeitsbegriffs in der russischen Kulturtradition ist nach Meinung von Nikolaj Plotnikov mit drei Aspekten – Autonomie, Identität und Individualität – verbunden. »Autonomie« bezieht sich auf die Fähigkeit, als Vernunftswesen gemäß einem moralischen Imperativ zu handeln.72 Die symphonische Persönlichkeit umfasst nach Auffassung der Eurasier ein überindividuelles Bewusstsein und einen überindividuellen Willen.73 »Identität« bedeutet »die Kontinuität des Bestehens durch die Zeit hindurch in unterschiedlichen Bewusstseinszuständen, die durch die einheitsstiftende Funktion der Reflexion und des Gedächtnisses gewährleistet wird.«74 Die Metapher der Persönlichkeit drückt im Eurasismus diesen Aspekt der Existenz in einem bestimmten Zeitraum aus und betont die Subjektivität der sozialen Einheit: Культура не есть случайная совокупность разных элементов и не может быть такой совокупностью. Культура — органическое и специфическое единство, живой организм. Она всегда предполагает существование осуществляющего себя в ней субъекта, особую симфоническую личность. И этот субъект культуры (культуро-личность), как всякая личность, рождается, развивается, умирает.75 (Kultur ist keine zufällige Gesamtheit verschiedener Elemente und kann keine solche Gesamtheit sein. Kultur ist eine organische und spezifische Einheit, ein lebendiger Organismus. Sie setzt immer ein in ihr verwirklichendes Subjekt, eine besondere symphonische Persönlichkeit voraus. Dieses Subjekt der Kultur (Kultur-Persönlichkeit) wird, wie jede andere Persönlichkeit, geboren, entwickelt sich und stirbt.) 71 Ebd., 66. 72 Vgl. Plotnikov, Nikolaj: ›Person ist eine Monade mit Fenstern‹. Umrisse einer Begriffsgeschichte der ›Person‹ in Russland. In: Plotnikov, Nikolaj / Haardt, Alexander (Hg.): Gesicht statt Maske. Philosophie der Person in Russland. Zürich 2012, 9–47, hier 14 f. 73 Vgl. Karsavin, Lev: Osnovy politiki. In: Agamaljan, N. / Dugin, Aleksandr (Hg.): Osnovy evrazijstva. Moskva 2002, 367–411, hier 370. 74 Plotnikov: ›Person ist eine Monade mit Fenstern‹. Umrisse einer Begriffsgeschichte der ›Person‹ in Russland, 15. 75 Evrazijstvo. (opyt sistematičeskogo izloženija) kollektivnaja monografija pervych evra­ zijcev (1926 g.), 131.

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Der dritte Aspekt des semantischen Feldes »Individualität« bezieht sich auf die Vorstellung einer Person als eines einzigartigen und unverwechselbaren Individuums, das »sich durch den Akt der ›schöpferischen Tat‹ als einzigartig setzt und auf diese Weise authentisches individuelles Leben erreicht.«76 Dieser Aspekt manifestiert sich ebenfalls in der metaphorischen Verwendung des Persönlichkeitsbegriffs zur Bezeichnung der russisch-eurasischen Kultur, der die Eurasier Besonderheit und Einzigartigkeit im Vergleich zu anderen kulturellen Formationen zuschreiben. Die Metapher der Persönlichkeit in Bezug auf eine soziale Entität impliziert, dass eine politische Einheit auf die Summe von einzelnen Individuen nicht reduzierbar ist. Eigener Wille und Verstand werden einem kollektiven Subjekt zugeschrieben. Es stellen sich die Fragen nach den Beziehungen zwischen einem Individuum und einem kollektiven Subjekt, wie bspw. die Fragen nach den Beziehungen zwischen verschiedenen kollektiven Subjekten. Mit dem Wort »symphonisch« wird angedeutet, dass die Formierung der einzelnen Individuen zu einem überindividuellen Ganzen in einem friedlichen, beinahe harmonischen Akt erfolgt. An diese Metapher ist das Narrativ der ethnischen Vielfalt des russischen Imperiums gekoppelt. Auf diese Weise versuchen die Eurasier, die Problematik der ethnischen Heterogenität positiv zu formulieren. Somit schließt das Konzept der symphonischen Persönlichkeit die Transformation der einzelnen Individuen zu einem sozial geordneten Ganzen ein: »[…] эмпирически единство симфонической личности сказывается в согласованности или соборном единстве составляющих ее симфонических же и индивидуальных личностей […]«77 (»[…] die Einheit einer symphonischen Persönlichkeit zeigt sich empirisch in der Übereinstimmung oder der konziliaren Einheit ihrer konstituierenden symphonischen und individuellen Persönlichkeiten […]«). Das symphonische Subjekt, das zum Begriff der Kultur bei den Eurasiern angewendet wird, ist nicht die einfache Summe einzelner Individuen, sondern eine abgestimmte Einheit.78 Die auf organischen Kategorien beruhende Konzeption des kollektiven Subjekts findet ihren Ursprung in der politischen Romantik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die den Staatskörper als sozialen Organismus konzipiert hat.79 In diesem Diskurs offenbart die Metapher des Körpers wichtige Implikationen 76 Plotnikov: ›Person ist eine Monade mit Fenstern‹. Umrisse einer Begriffsgeschichte der ›Person‹ in Russland, 15. 77 Evrazijstvo. (opyt sistematičeskogo izloženija) kollektivnaja monografija pervych evrazijcev (1926 g.), 115. 78 Karsavin: Osnovy politiki, 367. 79 Vgl. Matala de Mazza, Ethel: Die Unsumme der Teile. Körperschaft, Recht und Unberechenbarkeit. In: Hebekus, Uwe / Matala de Mazza, Ethel / Koschorke, Albrecht (Hg.): Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik. München 2003, 171–191, hier. 177.

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für das soziale Ganze: Funktionale Differenzierung, Interdependenzen treten als wichtige Merkmale des sozialen Ganzen, das »die Summe seiner Teile übersteigt«, in den Vordergrund.80 Die Funktionsweise dieser Metapher zeigt sich unter anderem auch darin, »den Mehrwert des sozialen Einsseins aus dem produktiven Zusammenwirken der verschiedenen Einzelnen abzuleiten und daraus eine rechtsrelevante Größe zu formen, die die ›Deckungslücke‹ zwischen dem allgemeinen Einen und der Menge der vielen auffängt«81. In der eurasischen Auslegung ist die symphonische Persönlichkeit mehr als die bloße Gesamtheit von Menschen. Diese Metapher impliziert nicht nur das hierarchische Verhältnis zwischen den einzelnen Teilen, sondern auch zwischen einem Individuum und der kulturellen Einheit. 3.2.5 Die Verkörperung des Politischen

Stellen der geografische Raum und das sich auf ihm entwickelnde sympho­ nische Subjekt eine Einheit dar, wird die Rolle des Staates untrennbar mit der »russisch-eurasischen« Kultur verbunden: »Из всех культурноисторических миров нашей планеты — это есть мир наиболее широкого и наиболее многостороннего участия государства во всех отраслях и во всех проявлениях жизни.«82 (»Von allen kulturhistorischen Welten unseres Planeten ist dies die Welt der breitesten und vielseitigsten Beteiligung des Staates in allen Bereichen und in allen Erscheinungsformen des Lebens.«) Prinzipiell sind den Auslegungen der Eurasier zwei Argumentationslinien über die Rolle des Politischen zu entnehmen, die auf die körperschaftliche Metaphorik zurückzuführen sind und in den Ausführungen der Eurasier ein Spannungsfeld zwischen der funktionellen Differenzierung und der Einheit eines sozialen Organismus darstellen. Der Etatismus wird bei den Eurasiern positiv bewertet. Er stellt einen weiteren wichtigen Bestandteil der totalen geografischen, kulturellen und ökonomischen Einheit Eurasiens dar. In seinem Aufsatz »Osnovy politiki« (»Die Grundlagen der Politik«) betrachtet Lev Karsavin den Staat als Merkmal, das die Einheit und die Ganzheit des kulturellen Organismus bestimmt.83 Auf den ersten Blick scheint es, als würden die Eurasier den Gedanken ablehnen, dass die Gesellschaft in funktionale Bereiche eingeteilt ist, zu denen Politik und Kultur gezählt werden. Politik ist im eurasischen Verständnis lediglich eine Erscheinungsform von Kultur. 80 Vgl. ebd., 178. 81 Ebd. 82 Savickij, Pëtr: Evrazijstvo kak istoričeskij zamysel. In: Agamaljan, N. / Dugin, Aleksandr (Hg.): Osnovy evrazijstva. Moskva 2002, 281–294, hier 285. 83 Vgl. Karsavin: Osnovy politiki, 367.

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Ferner finden sich an vielen Stellen Aussagen, die den voranstehend formulierten Gedanken von der Egalität des Sozialen und des Politischen infrage stellen. Die Einheit eines Gemeinwesens soll von einem Akteur oder mehreren Akteuren gewährleistet und repräsentiert werden, wie Lev Karsavin an einer späteren Stelle in »Osnovy politiki« schreibt. Это значит, что во всякой соборной личности (в семье, социальной группе, нации, культуро-субъекте) должен всегда быть преимущественный носитель и выразитель ее целости и единства. Иногда, особенно в малой соборной личности (семья, небольшая социальная группа), таким преимущественным носителем единства может быть одно лицо (отец, старший брат, «большак», «староста», «председатель»); иногда, особенно в больших соборных личностях, преимущественные носители единства сами являются некоторыми соборными личностями (совет старейшин в роде, «президиум» или «исполнительный комитет» в социальных группах, правящий слой и правительство в народе и τ д.), хотя и здесь, как мы увидим далее (§ 6), нормальным представляется опять-таки единоличное возглавление подобной социальной руководящей группы.84 (Das bedeutet, dass es in jeder konziliaren Persönlichkeit (in einer Familie, einer Sozialgruppe, einer Nation, einem kulturellen Subjekt) immer einen vorrangigen Träger und Vertreter ihrer Integrität und Einheit gibt. Manchmal, besonders in einer kleinen konziliaren Persönlichkeit (Familie, kleine soziale Gruppe), kann nur eine Person ein solcher vorrangiger Träger der Einheit sein (Vater, der ältere Bruder, »Hausherr«, »Vorsteher«, »Vorsitzender«,). Manchmal, besonders bei großen konziliaren Persönlichkeiten, sind die vorrangigen Träger der Einheit selbst einige konziliare Persönlichkeiten (»Ältestenrat der Familie«, das »Präsidium« oder »Exekutivkomitee« in sozialen Gruppen, die herrschende Schicht und die Regierung im Volk etc.), obwohl auch hier, wie wir unten (§ 6) sehen, die Einzelführung einer solchen sozialen Leitungsgruppe normal zu sein scheint.)

Diese Aussage könnte zuerst im Kontext der Körperschaftsmetaphorik betrachtet werden. Zu einer der Dimensionen der metaphorischen Körperschaft in der politischen Figurenlehre gehört die Verkörperung des politischen Körpers durch die Person des Herrschers, der das Gemeinwesen repräsentiert, aber auch im Namen und an der Stelle des Kollektivs agiert.85 In diesem Sinne fungiert die Person des Herrschers nicht nur als Repräsentant des Staates und des Gemeinwesens, sondern sie ist gleichzeitig eine Verkörperung des Politischen. Ein Herrscher wird zum souveränen Subjekt der Machtentscheidung. An dieser Stelle jedoch verläuft eine Differenzierungslinie, die das Primat des Politischen vor dem Gesellschaftlichen in der eurasischen Auffassung behauptet. Zwischen Trägern und Repräsentanten der Macht und Sozialwesen 84 Ebd., 373. 85 Vgl. Koschorke / Lüdemann / Frank / Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, 67.

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konstituieren sich Unterwerfungsverhältnisse, dabei soll die Herrschaftsperson über einen gewissen Grad der absoluten Macht verfügen.86 Für die Legitimierung dieser Verhältnisse greift Lev Karsavin auf die körperschaftliche Metaphorik zurück, der die Ungleichheit der Organe – Nationen oder Individuen – als eine natürliche, aber auch notwendige Voraussetzung für das Funktionieren des ganzen Organismus und somit der ganzen multinationalen Kultur zugrunde liegt.87 Der Herrschaftsperson wird dabei nicht per Konsens der Gesellschaft die Macht verliehen. Die Hierarchisierung des Sozialwesens, in der ein Akteur über Machtbefugnis verfügt, ist ein natürlicher Zustand. Mit der Vision des kulturellen Subjekts kollidiert die Idee, das Politische im Dienste der Kultur zu betrachten, das die funktionale Differenzierung der Individuen voraussetzt. Diese widersprüchliche Rhetorik ist nach Albrecht Koschorke eine übliche und sogar notwendige Praxis in den Gründungserzählungen von Gesellschaften. Für das Funktionieren einer sozialen Einheit ist diese Widersprüchlichkeit vital, denn sie »erlaubt, zwischen den inkompatiblen Prämissen umzugewichten« und »ein kulturelles Gebilde elastisch« zu halten.88 Das mag wahrscheinlich einer der Gründe sein, warum der klassische Eura­ sismus ungeachtet seiner relativ kurzen Zeitdauer eine derartig hohe Popularität bis heute genießt. Viele seiner rhetorischen Strategien werden von den Vertretern des Neo-Eurasismus genutzt und weiterentwickelt. Mit der bereits etablierten Semantik, die den bildlichen Figuren der Einheit des Eurasismus zugrunde liegt, kommen neue Bedeutungen hinzu, von denen im Folgenden die Rede ist. Obwohl der Eurasismus keinen wesentlichen Einfluss auf die politische Entwicklung in der Sowjetunion ausübte, erlebten die eurasischen Ideen eine Renaissance in den 1990er-Jahren. Ihre Wirkung prägt bis heute die Selbstrepräsentationen Russlands, die unter dem Stichwort »besondere Kultur« zusammengefasst werden können.

3.3 Die Theorie der Ethnogenese von Lev Gumilëv Lev Gumilëv (1912–1992) nennt man den »letzten Eurasier«89. Der klassische Eurasismus, insbesondere von Pëtr Savickij, mit dem Gumilëv lange Zeit Korrespondenz führte, hatte einen Einfluss auf die Entwicklung seiner Theorie der Ethnogenese. Im Einzelnen nutzt Gumilëv das Konzept »Entwicklungsraum« von Pëtr Savickij, um die Wechselwirkung zwischen der geografi86 Vgl. Karsavin: Osnovy politiki, 373. 87 Vgl. ebd., 378. 88 Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, 383. 89 Wiederkehr: Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland, 194.

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schen Landschaft und Ethnien zu begründen.90 Was versteht Gumilëv unter Ethnie? Um sein theoretisches Hauptkonzept zu untermauern, verwendet er eine Reihe von Analogien und Metaphern aus verschiedenen Bereichen der Wissenschaft, die sich bei näherer Betrachtung als durchaus widersprüchlich herausstellen. Gumilëv geht davon aus, dass Ethnie ein Phänomen ist, das an der Schwelle zwischen der Biosphäre und der Soziosphäre liegt. Folglich versucht er, Ethnie erst als ein biologisches Konzept zu begründen. Ihm zufolge ist der Einfluss der historischen und gesellschaftlichen Entwicklung auf Ethnien ein externer Faktor.91 Ethnie scheint daher eine angeborene Art zu sein, die zur Organisation und Formierung von Menschen in größere Gruppen führt. Sie unterscheiden sich in bestimmten Merkmalen voneinander. Der grundlegende Unterschied der Ethnie ist die Fähigkeit, die Gegenüberstellung zwischen dem Eigenen und dem Anderen zu entwickeln.92 Gumilëv geht davon aus, dass es unmöglich ist, sich einer Ethnie anzuschließen, da die Zugehörigkeit zu einer Ethnie von einem Subjekt quasi von der Geburt an und von den anderen Menschen als eine unbestrittene Tatsache wahrgenommen wird.93 Weder Sprache noch Ideologie und Kultur können die Merkmale für die Zugehörigkeit zu einer Ethnie sein. Als wichtigstes Prinzip für die Festlegung einer Ethnie nennt Gumilëv das sogenannte ethnische Stereotyp des Verhaltens, unter dem bestehende Normen zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Entwicklung einer ethnischen Gruppe zu verstehen sind.94 Darüber hinaus stellt Gumilëv Ethnie und Gesellschaft gegenüber. Soziale Gebilde wie Volksstämme, politische Parteien, Staaten unterscheiden sich von Ethnien – Kollektiven von Menschen, die über eine bestimmte Zeit entstehen und sich auflösen, die aber eine bestimmte Struktur, ein Stereotyp des Verhaltens und einen Rhythmus innehaben.95 Praktisch repräsentiert laut Gumilëv jede einzelne Ethnie einen in sich geschlossenen Organismus.96 Dennoch kommt die Definition der Ethnie, die auf der Gegenüberstellung zwischen »wir« und »den anderen« beruht, dem von Carl Schmitt formulierten Konzept des Politischen sehr nahe. Dieser schlägt die spezifische Kategorie des Politischen vor, nach der politische Motive und Handlungen auf der Gegenüberstellung und der Unterscheidung zwischen Freund und Feind beruhen.97 Die politische Oppo90 Vgl. Gumilëv, Lev: Evrazija. Moskva 2016, 493. 91 Vgl. ebd., 313. 92 Vgl. ebd., 321. 93 Vgl. ebd., 330. 94 Vgl. ebd., 381. 95 Vgl. ebd., 332. 96 Vgl. Bassin, Mark: The Gumilev mystique. Biopolitics, Eurasianism, and the construction of community in modern Russia. Ithaca 2016, 25. 97 Vgl. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1987, 26.

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sition von Freund und Feind kann aus religiösen, ökonomischen, ethnischen oder anderen Gegensätzen resultieren.98 Außer der Organismus-Metaphorik wendet sich Gumilëv an die Systemtheorie. In Anlehnung an den österreichischen Biologen Ludwig von Bertalanffy und an den sowjetischen Biologen Aleksandr Malinovskij bestimmt Gumilëv Ethnie als ein System von Elementen, die sich in Wechselwirkung und Interaktion befinden.99 реальную этническую целостность мы можем определить как динамическую систему, включающую в себя не только людей, но элементы ландшафта, культурную традицию и взаомосвязи с соседями.100 (wir können eine tatsächliche ethnische Einheit als ein dynamisches System definieren, das nicht nur Menschen, sondern auch Elemente der Landschaft, kulturelle Tradition und Beziehungen zu Nachbarn umfasst.)

Gumilëv unterscheidet zwei Typen von Systemen: rigide und korpuskulare Systeme. In rigiden Systemen seien sämtliche Elemente dergestalt verbunden, dass normales Funktionieren allein bei ihrer gleichzeitigen Existenz möglich sei. In korpuskularen Systemen interagieren Elemente frei und können durch andere ersetzt werden.101 Im Idealfall stelle eine Ethnie ein korpuskulares System dar, doch für ihre Langlebigkeit erschaffen Menschen kulturelle Traditionen und politische Institutionen, die in Bezug auf Ethnie auxiliarische rigide Systeme darstellen.102 In der Struktur einer Ethnie kann es mehrere subethnische Gruppen geben, die die Einheit einer Ethnie nicht beeinträchtigen.103 Ein übergreifendes Gebilde, das die Gruppe von Ethnien vereint, nennt Gumilëv Superethnie. Diese ist gleichzeitig in einer Region entstanden und zeichnet sich durch ökonomische, ideologische und politische Verbindungen zwischen Ethnien dieses Gebildes aus, was aber kriegerische Auseinandersetzungen zwischen ihnen nicht ausschließt.104 Die Beschreibung einer Ethnie mithilfe der Metapher eines lebenden Organismus erlaubt es, sie als eine einzigartige, unteilbare Formation zu betrachten. Gleichzeitig kann eine Ethnie in Analogie zur Gumilëvs Systemtheorie eine interne Organisation bilden und verändern, was sie von einem Organismus unterscheidet, dessen Organisation ursprünglich bei der Geburt festgelegt 98 Vgl. ebd., 37. 99 Vgl. Gumilëv: Evrazija, 393. 100 Ebd., 394. 101 Vgl. ebd., 397. 102 Vgl. ebd., 398. 103 Vgl. ebd., 400. 104 Vgl. ebd., 405.

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wurde. Im Gegensatz zu der Systemtheorie setzt die Beschreibung einer Ethnie in der Metapher eines Organismus ein geschlossenes Ganzes voraus, das die Herausbildung überethnischer Gebilde infrage stellt. Das ethnische System in Gumilëvs Definition kann Verbindungen zu weiteren ethnischen Gruppen herstellen, dies kann zur Bildung einer Superethnie führen. Elemente in einer solchen Bildung werden »neu formatiert«, was es ermöglicht, neue Verbindungen, Strukturen und hierarchische Beziehungen in einem überethnischen Gebilde herzustellen. Auf dem eurasischen Kontinent unterscheidet Gumilëv sechs ethnografische Regionen, die sich aus einem Komplex von klimatischen, geografischen und kulturellen Merkmalen ergeben haben.105 Der innere Teil des Kontinents – Eurasien im engeren Sinne des Wortes (»die Große Steppe«) – erstreckt sich von der Chinesischen Mauer bis zu den Karpaten.106 Gumilëv betrachtet diese geografische Region als Einheit107, die zwar von verschiedenen Völkern bewohnt, aber von den Nachbarn als ein einheitliches Gebilde wahrgenommen wurde.108 Gumilëv entwickelt diese Idee am Beispiel der Beziehungen zwischen der Goldenen Horde und Russland im 13. Jahrhundert. Die Geschichte dieser Interaktion betrachtet er als gleichberechtigte militärische Koalition. So bezeichnet Gumilëv die Invasion der Tataren-Mongolen in Russland 1223–1242 als den »großen westlichen Feldzug« (»Velikij zapadnyj pochod«), dessen Ziel es nicht war, Russland zu erkämpfen oder mit Tribut zu belegen, sondern die Kumanen endgültig zu besiegen.109 Zu diesem Zeitpunkt zogen die mit der Horde kämpfenden Kumanen an die russische Grenze zurück und baten die russischen Fürsten um Hilfe.110 Nach Gumilëv kämpften die Tataren-Mongolen auf dem Territorium Russlands lediglich mit den Fürstentümern, die sich weigerten, Nahrung und Pferde zur Verfügung zu stellen.111 Die Stadt Kozel’sk, deren Fürst fünfzehn Jahren zuvor an der Ermordung mongolischer Botschafter beteiligt war, die vorschlugen, das Bündnis zwischen den Russen und den Kumanen zu brechen und Frieden mit den Mongolen zu schließen, wurde belagert und schließlich zerstört.112 1241 war der große westliche Feldzug beendet: Die Feinde des mongolischen Ulus  – die Kumanen  – wurden nach Ungarn vertrieben und stellten keine Gefahr mehr für die Horde dar.113 105 Vgl. ebd., 169–171. 106 Vgl. ebd., 169. 107 Vgl. Gumilëv, Lev: Ot Rusi do Rossii. Očerki etničeskoj istorii. Moskva 2007, 88. 108 Vgl. Gumilëv: Evrazija, 170. 109 Vgl. Gumilëv: Ot Rusi do Rossii. Očerki etničeskoj istori, 115. 110 Vgl. ebd., 114. 111 Vgl. ebd., 117. 112 Vgl. ebd., 118. 113 Vgl. ebd., 120.

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Nach Gumilëvs Version waren die weiteren Beziehungen zwischen Russland und der Horde von der Notwendigkeit bestimmt, eine geopolitische Wahl zwischen Ost und West zu treffen. Aus Westeuropa bzw. der Expansion des Deutschen Ordens resultierte im 13. Jahrhundert eine Bedrohung für Russland.114 Unter diesen Bedingungen beschloss Alexander Newski, die Unterstützung der Horde zu gewinnen. Er kam zu der Horde von Batu Khan, freundete sich an und verbrüderte sich mit dessen Sohn Sartaq.115 So entstand ein Militärbündnis zwischen Russland und der Horde, das die Angriffe der Kreuzritter stoppte.116 Das Bündnis mit der Horde hatte laut Gumilëv weitreichende Konsequenzen für die kulturelle und politische Entwicklung Russlands. Darin sieht er die Prinzipien der Entwicklung des russischen Staates auf der Grundlage nationaler und religiöser Toleranz, die in angrenzenden Gebieten lebende Völker nach Russland lockten.117 Die Einheit der russischen Ethnie, die im Zuge der Kriege zwischen den Fürstentümern im 13. Jahrhundert verloren ging, wurde durch den Eintritt von Russland in die mongolische Superethnie wiederhergestellt.118 Daher sind die Bildung und Entwicklung des Russischen Imperiums mit dem Aufbau alliierter Beziehungen zwischen den Mongolen und den Russen in Lev Gumilëvs Interpretation der Geschichte eng verbunden.

3.4 Der Neo-Eurasismus: zwischen Kontinuität und Wandel 3.4.1 Akteure und Strömungen des Neo-Eurasismus

Obwohl der klassische Eurasismus der 1920er- bis 1930er-Jahre durch relative Heterogenität und ideologische Auseinandersetzungen gekennzeichnet war, standen die Vertreter dieser Bewegung in ständigem mündlichen sowie schriftlichen Austausch und bemühten sich, eine einheitliche programmatische Vision zu den Zwecken und den Inhalten der Bewegung zu formulieren. Die Renaissance der eurasischen Ideen in den 1990er-Jahren brachte hingegen eine vielfältige Mischung von Entwürfen hervor, deren Entwickler zwar die ideelle Kontinuität mit dem klassischen Eurasismus behaupten, doch im Grunde genommen versuchen, ihre eigene ideologische Version rund um das Konzept »Eurasien« zu entwickeln. 114 115 116 117 118

Vgl. ebd., 121 f. Vgl. ebd., 125. Vgl. ebd., 131. Vgl. ebd., 132 f. Vgl. ebd., 132.

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Der wohl bekannteste Vertreter der neo-eurasischen Bewegung ist Aleksandr Dugin, der nicht nur eine Vielzahl von Monografien zum Neo-Eurasismus veröffentlicht hat, sondern auch durch sein politisches Engagement bekannt geworden ist. Dies schlägt sich vor allem in folgenden Stationen seines politischen und beruflichen Werdegangs nieder: Von 1998 bis 2003 ist er Berater von Gennadij Seleznëv, dem Sprecher der Staatlichen Duma. 2002 gründet er die politische Partei »Evrazija«. 2003 wird er zum Leiter der internationalen eurasischen Bewegung mit ihren Niederlassungen in 29 Ländern. Zwischen 2008 und 2014 war er Professor für Soziologie und Internationale Beziehungen an der Staatlichen Universität Moskau. In der Sekundärliteratur existiert kein Konsens darüber, wie Dugins gesellschaftspolitisches und publizistisches Engagement hinsichtlich seines Einflusses auf die zeitgenössische Politik einzuschätzen ist. In dem Umstand, dass das Dugin’sche Buch »Osnovy geo­politiki« als Lehrbuch an der Generalstabsakademie für die russischen Offiziere verwendet wird, erkennt Stefan Wiederkehr ein Beispiel dafür, wie »es Dugin gelungen ist, sich an strategischen Schlüsselpositionen zu etablieren, wo er als einzelner mit geringem Aufwand langfristig große Wirkung erzielen kann«119. Allerdings ist, wie Alexander Höllwerth bemerkt, in der Einschätzung von Dugins politischem Engagement zwischen der Ebene der Faktizität und der Ebene »der erfolgreichen multidimensionalen und multimedialen Inszenierung«120 zu trennen. Selbst die Ebene der Faktizität ist problematisches Feld, da es um die Verflechtung des faktischen politischen Einflusses von Dugins Behauptungen und jener Fakten geht, die »sich unabhängig von Dugins eigenen Angaben ermitteln lassen«121. Doch unabhängig davon, wie weit Dugins politischer Einfluss wirklich reicht, lässt sich konstatieren, dass Dugin in gewissem Sinne eine einzigartige Erscheinung für das postsowjetische Russland ist. Durch die postulierte ideologische Treue zur eurasischen Tradition sowie durch die Bearbeitung und Neuveröffentlichung der eurasischen Klassiker schafft es Dugin, für sich eine Kontinuität mit dem Eurasismus der 1920erbis 1930er-Jahre zu behaupten.122 Neben der Aktualisierung und Popularisierung der eurasischen Ideen gelingt es Dugin, eine Art diskursives Feld zu schaffen. Es zeichnet sich durch eine Synthese aus Geopolitik, Esoterik und Mystik aus und ist in vielerlei Hinsicht ein Ausgangspunkt für die virale

119 Wiederkehr: Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland, 255. 120 Höllwerth: Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin. Eine Diskursanalyse zum postsowjetischen russischen Rechtsextremismus, 194 f. 121 Ebd., 195. 122 Vgl. Bassin, Mark: Eurasianism »Classical« and »Neo«: The Lines of Continuity. In: Mochizuki, Tetsuo (Hg.): Beyond the empire. Images of Russia in the Eurasian cultural context. Sapporo 2008, 279–294, hier 282.

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Verbreitung von eurasisch-imperialen Identitätskonstruktionen im postsowjetischen Raum. Dugin positioniert sich selbst als Eurasier, doch vereinnahmt er in seiner Ideologie Elemente aus verschiedenen politischen und philosophischen Strömungen. Aus dem Eurasismus der 1920er- bis 1930er-Jahre und der Geopolitik entlehnt er die geopolitischen Erklärungsmuster.123 Geografische Faktoren gelten in diesem Sinne als entscheidend für die Entwicklung kultureller Eigenheiten von Ländern und dienen zur Legitimation politischer Bündnisse. Dugins Konzepte sind in die geopolitische Variante des Neo-Eurasismus eingebettet, die den Westen ablehnt und die Länder Asiens in der Regel nur unter dem Aspekt möglicher Allianzen gegen den Westen betrachtet.124 Asiatische Kulturen in ihrer sprachlichen, materiellen und philosophischen Dimension werden in Bezug auf mögliche Einflussnahme auf die russische kollektive Identität als ambivalent betrachtet. Richard Sakwa postuliert, dass die Ideologie Aleksandr Dugins sogar der »neue Eurasismus« heißen solle, da sie sich signifikant von den pluralistischen neo-eurasischen Strömungen unterscheide, die ihre Ursprünge im klassischen Eurasismus haben und in anderen Ländern der Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten vertreten sind.125 Der Neo-Eurasismus, wie von Aleksandr Dugin repräsentiert, basiert auf dem geopolitischen Zugang zur Weltpolitik, der seine Ursprünge bei den klassischen geopolitischen Denkern wie Halford Mackinder, Karl Haushofer und Nicholas J. Spukman hat, und auf dem russischen Nationalismus in der Innenpolitik.126 Grundlegend ist dabei die Wahrnehmung der Geopolitik in dualistischen Konzepten, genauer genommen die Gegenüberstellung zwischen der Thalassokratie (Seemächte) und der Tellurokratie (Landmächte) bzw. zwischen dem Atlantismus und dem Eurasismus.127 Der Atlantismus ist bei Dugin im weitesten Sinne die Globalisierung, der Versuch, insbesondere die angelsächsischen und amerikanischen kulturellen Werte in anderen Regionen der Welt zu implementieren, was zu der Unifizierung der soziopolitischen, ethnischen, religiösen und nationalen Strukturen führen wird.128 Der Neo-Eurasismus ist gemäß Dugin eine Art alternative Globalisierung. Im Unterschied zum klassischen Eurasismus verschiebt sich das Feindbild von Europa zu den USA 123 Vgl. Laruelle: Russian Eurasianism. An Ideology of Empire, 115. 124 Vgl. Rangsimaporn, Paradorn: Interpretations of Eurasianism: Justifying Russia’s role in East Asia. In: Europe-Asia Studies 58/3 (2006), 371–389, hier 380. 125 Vgl. Sakwa, Richard: The Age of Eurasia? In: Bassin, Mark / Pozo, Gonzalo (Hg.): The politics of Eurasianism. Identity, popular culture and Russia’s foreign policy. London, New York 2017, 201–220, hier 209 f. 126 Vgl. ebd., 213 f. 127 Vgl. Dugin, Aleksandr: Eurasian mission: an introduction to Neo-Eurasianism. Milton Keynes 2014, 11. 128 Vgl. ebd., 42 f.

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und bildet eine Konstante in Dugins Werk.129 Das kontinentale Europa – präziser die germanisch-romanische Zivilisation in Dugins Ausdrucksweise – bleibt dagegen ein neutrales Phänomen, das sogar unter bestimmten Bedingungen in das eurasische Projekt integriert werden kann.130 Um ein Gegengewicht zur anglo-amerikanischen Allianz zu bilden, plädiert er für die Integration der Länder in drei große Zonen: die pan-eurasische Zone (Russland, Zentralasien, ehemalige Länder der Sowjetunion), die euro-afrikanische Zone und die pazifisch-fernöstliche Zone.131 Zu den weiteren wichtigen Vertretern des Neo-Eurasismus zählt man Aleksandr Panarin (1940–2003). Seit 1989 bis zum seinem Tod war er Professor für theoretische Politologie an der Moskauer Lomonosov-Universität. Seine Interpretation des Neo-Eurasismus bildet laut Stefan Wiederkehr eine moderate Form des Neo-Eurasismus.132 Explizit grenzt er sich noch in seinen ersten Schriften von den Ultra-Rechten und weiteren radikalen Bewegungen ab.133 Ungeachtet dieser Abgrenzung finden sich in seiner späteren Auslegung des Neo-Eurasismus Konzepte und Ideen, die mit den geopolitischen und rechts­ radikalen Ansichten Dugins kompatibel sind. Diese Ähnlichkeit ist, wie Marlène Laruelle darlegt, auf die allmähliche Annäherung an die Position Dugins und die Übernahme von Dugins geopolitischem Vokabular zurückzuführen.134 Nach Panarin sind die geopolitischen Bedingungen ein wichtiger Faktor für Russland. Wie Dugin bezieht er sich auf die geopolitischen Modelle, die die Dichotomie zwischen See- und Landmächten voraussetzten.135 Darüber hinaus ist das Konzept des zivilisatorischen Prozesses eine wichtige Grundlage seines Verständnisses des Neo-Eurasismus. Panarin versteht unter dem zivilisatorischen Prozess den nichtäquivalenten Informationsaustausch zwischen Kulturen, was sich in der modernen Westernisierung und Globalisierung ausdrückt.136 Eine kulturelle und zivilisatorische Besonderheit Russlands wird in dieser Hinsicht betont: Теперь следует обратиться к глубинным социокультурным основаниям евразийского сценария.. […] он предполагает открытую «реидеологизацию» общественной жизни и государственной политики. Во-первых, реидеологизация 129 Vgl. Wiederkehr: Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland, 250. 130 Vgl. Dugin: Eurasian mission: an introduction to Neo-Eurasianism, 31. 131 Vgl. ebd., 47 f, 57. 132 Vgl. Wiederkehr: Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland, 269. 133 Vgl. Panarin, Aleksandr: Filosofija politiki. Moskva 1994, 114. 134 Vgl. Laruelle: Russian Eurasianism. An Ideology of Empire, 88 f. 135 Vgl. Panarin, Aleksandr: Rossija v civilizacionnom processe (meždu atlantizmom i ­evrazijstvom). Moskva 1995, 212. 136 Vgl. ebd., 54.

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необходима в качестве энергетики нового цивилизационного обособления от Запада, без чего строительства самобытной цивилизационной модели не получится.137 (Nun sollten wir uns den tiefgehenden soziokulturellen Grundlagen des eurasischen Szenarios zuwenden. […] Es setzt eine offene »Re-ideologisierung« des öffentlichen Lebens und der staatlichen Politik voraus. Erstens ist eine Re-Ideologisierung als Energie einer neuen zivilisatorischen Isolation vom Westen notwendig, ohne die wird der Aufbau eines eigenständigen zivilisatorischen Modells nicht gelingen.)

In der Synthese der geopolitischen und zivilisatorischen Konzepte begründet er die Notwendigkeit, zwischen zwei Optionen der gesellschaftlich-politischen Entwicklung zu wählen: der Vereinigung mit dem atlantischen Modell, als dessen Vorbild die USA und Westeuropa gelten, und dem eurasischen Modell, unter dem er die Schaffung eines spezifischen Zivilisationsmodells versteht, das die Errungenschaften des Westens berücksichtigt, aber auf der eigenen historischen und kulturellen Tradition gründet.138 Panarin betrachtet den Westen als Antipode, aber er schließt die Möglichkeit technologischer Entlehnungen aus dem Westen und die ökonomische Integration mit dem Westen nicht aus. Die Abgrenzung vom Westen soll ausschließlich auf dem zivilisatorisch-kulturellen Niveau bleiben. Demzufolge geht er in seiner Ideologie von der Pluralität von Kulturen und ihren verschiedenen Entwicklungszeiten aus. Laut Laruelle ist Panarins Konzeption eine extreme Form des kulturellen Relativismus. Denn er geht davon aus, dass keine Nation eine andere Nation beurteilen kann. Sie hat weder das Recht noch die konzeptuellen Mittel, das zu tun.139 Für Panarins Theorie des Neo-Eurasismus sind auch die Widersprüche typisch, die überhaupt für den russischen Eurasismus charakteristisch sind. Unter anderem betont er die Heterogenität von Völkern und Ethnien. Dies jedoch kollidiert mit seiner Akzentuierung der Rolle des russischen Volkes im staatlichen Wesen. Neben der Unterstreichung der besonderen eurasischen Kultur Russlands erkennt Panarin den Sinn Eurasiens in der Reintegration der ehemaligen Länder der Sowjetunion. Während im klassischen Eurasismus die Rolle Ostasiens mit Ausnahme des östlichen Zweigs des Eurasismus, der bei Vsevolod Ivanov vertreten wurde, für die Aushandlung der eurasischen Identität Russlands nicht berücksichtigt wurde, beachtet Aleksandr Panarin explizit das östliche Zivilisationserbe in der politischen Dimension. Basierend auf seiner Interpretation östlicher Kulturen formuliert Panarin die grundlegenden Prinzipien der gesellschaft137 Ebd., 128. 138 Vgl. ebd., 54 f. 139 Vgl. Laruelle: Russian Eurasianism. An Ideology of Empire, 91.

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lichen und politischen Organisation, die seiner Meinung nach  – genauer betrachtet  – Ähnlichkeiten mit den politischen Institutionen in Russland aufweisen. Erstens geht er von der Ganzheit des Universums im Sinne der daoistischen Tradition aus140 und steht so im Gegensatz zu dem technologischen Aktivismus des Westens.141 Zweitens ist der östliche theokratische Staat ein Träger der Wertordnung und kontrolliert alle sozialen Praktiken.142 Im theokratischen Staat wird die politische Macht von der geistlichen bzw. religiösen Macht begrenzt und kontrolliert.143 Als drittes Prinzip nennt er in Anlehnung an den chinesischen Legismus die Wichtigkeit des Gesetzes als Mittel für die Erschaffung eines einheitlichen durchgehenden sozialen Raums, der durch die zentralisierte Macht regiert wird.144 Laut Panarin zeichnet sich der russische Raum durch die schwierigen ökonomischen und geografischen Bedingungen aus.145 In dieser Hinsicht benötigt der Raum eine andere soziale und politische Organisation im Vergleich zu den Ländern des Westens. Der Anteil der zentralisierten und administrativen Macht im politischen System soll in diesem Fall höher sein als in den europäischen Ländern.146 Die Einheit der zentralisierten Macht und die Distanzierung der Bürger zum Bereich der Politik bilden in seiner Konzeption eine notwendige Grundlage für das Funktionieren des politischen Systems in Russland. Die Einbeziehung der östlichen – insbesondere chinesischen – Philosophie in die Aushandlungen der politischen und kulturellen Identität Russlands im Kontext der neo-eurasischen Ideologie war für Michail Titarenko typisch. Michail Titarenko (1934–2016) war Sinologe und leitete das Forschungsinstitut für Fernoststudien der Russischen Akademie der Wissenschaften von 1985 bis 2015. In seinen zahlreichen Publikationen befasste er sich mit der chinesischen Philosophie und Kultur. Mit Fokus auf die russisch-chinesischen Beziehungen entwickelte er eine Version des Neo-Eurasismus, die vielfältige Kooperationen zwischen Russland und China betont und als »Interzivilisatorischer Eura­sismus«147 bezeichnet wurde. Er pries asiatische soziokulturelle Werte, denen er die Lösung der Probleme auf Basis von Besprechung, Kooperation und Kompromisssuche in der gesellschaftlich-politischen Ordnung zuschrieb.148 140 Vgl. Panarin, Aleksandr: Politologija. Zapadnaja i Vostočnaja tradicii: Učebnik dlja ­v uzov. Moskva 2000, 197. 141 Vgl. ebd., 198. 142 Vgl. ebd., 228. 143 Vgl. ebd., 230. 144 Vgl. ebd., 258. 145 Vgl. ebd., 265. 146 Vgl. ebd. 147 Vgl. Rangsimaporn: Interpretations of Eurasianism: Justifying Russia’s role in East Asia, 383. 148 Vgl. Titarenko, Michail: Geopolitičeskoe značenie Dal’nego Vostoka. Rossija, Kitaj i drugie strany Azii. Moskva 2008, 17.

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Darüber hinaus wird die wirtschaftliche Entwicklung in China als ein erfolgreiches Modell in Russland wahrgenommen. Während Russland in den 1990er-Jahren eine komplette Umorientierung hin zu den liberal-demokratischen Werten vornahm und in dieser Zeit mit zahlreichen Problemen konfrontiert wurde, wird die stufenweise Einführung von Marktreformen unter der Schirmherrschaft der kommunistischen Partei Chinas als wichtiger Faktor für die rasante Entwicklung des Landes betrachtet. Laut Titarenko hat Russland in Asien wegen seiner geopolitischen Position und der eurasischen Zugehörigkeit fundamentale Interessen. Die eurasische Zugehörigkeit wird mittels des Narrativs der russischen Expansion in den Osten legitimiert. In diesem Fall entsteht der Eindruck, dass die eurasische Identität Russlands paradoxerweise durch die Kolonisierung der asiatischen Gebiete erklärt wird, da die Russen in den Osten »hohe technische und aufklärende Kultur« (»vysokuju techničeskuju i prosveščenčeskuju kul’turu«149) gebracht haben. Asien und die asiatisch-pazifische Region sind ein Gebiet vitaler Interessen von Russland aus einer Reihe von historischen, kulturellen und ökonomischen Gründen, was sich auch in der Verschiebung der Prioritäten in den internationalen Beziehungen zu China zeigt.150 Hinsichtlich der politischen Organisation Russlands kann die Geschichtsinterpretation des Eurasiers Vsevolod Ivanov eine Grundlage für Titarenkos Parallelisierung zwischen dem russischen und dem chinesischen Staatssystem sein. Titarenko führt die Etablierung der politischen Organisation in Russland auf die Zeit der mongolisch-tatarischen Herrschaft und das von den Mongolen aus China entlehnte System der staatlichen Hierarchie und der imperialen Struktur im 13. bis 15. Jahrhundert zurück.151 Er behauptet, dass sowohl die russische als auch die chinesische Zivilisation zum Typ der staatlichen Zivilisationen gehören, denen die Prinzipien der staatlichen Einigkeit zugrunde liegen.152 Die gemeinsamen Merkmale dieser Zivilisationen sind die Einheit des Staates und die Unterordnung der individuellen Interessen unter die kollektiven Interessen.153 Der weitere wichtige Aspekt im Neo-Eurasismus von Titarenko ist der Umgang mit der Pluralität der Kulturen, den er unter den Begriffen »Symphonie vielfältiger Kulturen« (»simfonija mnogoobraznych kul’tur«154) und 149 Ebd., 13. 150 Vgl. ebd., 14. 151 Vgl. Titarenko, Michail: Rossija licom k Azii. Moskva 1998, 28 f. 152 Vgl. Titarenko: Geopolitičeskoe značenie Dal’nego Vostoka. Rossija, Kitaj i drugie strany Azii, 55. 153 Vgl. Titarenko: Rossija licom k Azii, 33. 154 Titarenko, Michail: Evrazijstvo kak paradigma suščetvovanija i rascveta mnogoobrazija kul’tur i civilizacij. In: Materialy sekcionnych sacedanij XI Meždunarodnych Lichačevskich čtenij 2011, URL : https://www.lihachev.ru/pic/site/files/lihcht/2011_ Sbornik/Tom_1/000_Plenarnoe/058_TitarenkoML .pdf (am 31.01.2020), 162.

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»interzivilisatorischer Dialog« (»intercivilizacionnyj dialog«155) fasst und sowohl für innerpolitische als auch außenpolitische Umstände anwendet. Der Neo-Eurasismus betrachtet laut Titarenko die Weltkultur als Symphonie der gleichen Kulturen, deren Beziehungen auf der Basis der gegenseitigen Einflüsse und Entwicklung vorhanden sind.156 Symptomatisch für den Neo-Eurasismus der postsowjetischen Zeit ist der stärkere Fokus auf die Ideologisierung des eurasischen Gedankenguts. Wenn sich die Eurasier in den 1920er- bis 1930er-Jahren den Kontinent Eurasien als eine kulturelle, historische und politische Gegebenheit zu begründen bemühten, betrachten die Neo-Eurasier die Idee des einheitlichen eurasischen Kontinents eher als Ersatz für die an Relevanz verlorene kommunistische Ideologie und eine Gegenalternative zur Globalisierung. Trotz der Heterogenität der neo-eurasischen Ideen weist die Rhetorik – insbesondere in Bezug auf die Figurationen der politischen Einheit  – erstaunliche Ähnlichkeiten mit dem klassischen Eurasismus auf. Darüber hinaus teilt die Neo-Eurasier ungeachtet ihrer ideologischen Unterschiede laut Marlène Laruelle eine Reihe philosophischer Annahmen, die auf dem kulturellen Relativismus und Determinismus, auf dem rhetorischen Kultus der nationalen Diversität, der Opposition zwischen dem Westen und Osten und dem Imperium als natürlicher politischer Organisationsform für Russland basieren.157 Im Folgenden wird auf die Rhetorik der Neo-Eurasier sowie den diesbezüglichen Einfluss des klassischen Eurasismus eingegangen. 3.4.2 Raum: Konstellation organischer Metaphorik

Die zentrale Idee des klassischen Eurasismus bestand in der Behauptung und Begründung eines einheitlichen kulturellen, geografischen und politischen Raums »Eurasien«. Zwar stellten die Eurasier diesen Raum Europa gegenüber, doch versuchten sie die Einheit des Raums aus den internen Faktoren zu erklären  – insbesondere aus der Verflechtungsgeschichte der Eurasien besiedelnden Ethnien und Völker. Im Neo-Eurasismus rückt der Fokus in der Begründung des einheitlichen Raums auf die geopolitischen Erklärungsmuster, denen die Gegenüberstellung der mosaikartigen Küstenstaaten und der kontinentalen Staaten zugrunde liegt. Zentral ist in dieser Hinsicht das Konzept »heartland« des britischen Geografen Halford Mackinder, das in die russische Sprache praktisch ohne wesentliche phonetische Änderungen übergegangen ist. Dugin fasst den Begriff als »das Herz der Welt« (»serdce mira«) 155 Titarenko: Geopolitičeskoe značenie Dal’nego Vostoka. Rossija, Kitaj i drugie strany Azii, 40. 156 Vgl. ebd., 91. 157 Vgl. Laruelle: Russian Eurasianism. An Ideology of Empire, 105.

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oder als »das Land des Kerns« (»zemlja serdceviny«).158 Im ersten Fall ist es eine eindeutig körperbezogene Metaphorik, die zwar die Einheit impliziert, wenn man das Herz als ein in sich geschlossenes Körperteil auffasst, das zwar alleine nicht funktionieren kann, doch eine lebenswichtige Funktion für den ganzen Organismus erfüllt. Damit enthält die Bezeichnung »heartland« auch in der russischen Fassung als Ausdrucksweise für den zentralen Teil eines Gebietes oder Landes die körperbezogene Metaphorik, indem das »Herz« die zentrale Lage und die vitale Rolle für den ganzen Kontinent markiert. Darüber hinaus wird dieser Aspekt im Neo-Eurasismus mit anderen Bedeutungen ergänzt. Im Neo-Eurasismus – sowohl bei Dugin als auch bei Panarin – wird das Konzept »heartland« in Anlehnung an Mackinder mit der Metapher »Os’ istorii« (»die Achse der Geschichte«) erklärt. Mit dieser Metapher zielt Dugin darauf ab, die Problematik des Zeit-Raum-Verhältnisses zu lösen, indem er den Küstenstaaten die Rolle einer Art experimenteller Räume zuschreibt. »Eurasien« ist in diesem Fall eine »Achse der Geschichte«, »denn die »Zivilisation« dreht sich um sie herum und schafft ihre auffälligsten, ausdrucksvollsten und vollständigen Formen nicht in ihrem lebensspendenden kontinentalen Ursprung, sondern in einer »Küstenzone«, in einem kritischen Gebiet, wo das Festland an den Raum des Wassers, Meeres oder Ozeans grenzt. (»поскольку «цивилизация» вращается вокруг нее, создавая свои наиболее броские, выразительные и законченные формы не в своем животворном континентальном истоке, но в «береговой зоне», в критической полосе, где пространство Суши граничит с пространством Воды, моря или океана.«159) In diesem Zusammenhang schließt die Diskussion über die geopolitische Lage Russlands auch die neo-eurasische Umwertung der historischen Bedeutung Russlands im Kontext der Weltgeschichte ein. Russland ist vom Standpunkt der Neo-Eurasier aus kein rückständiges Land, das gezwungen ist, die Zivilisationserrungenschaften des Westens zu rezipieren. Russland ist eine »Achse der Geschichte«, die die Entwicklungstendenzen anderen Kulturen vorgibt. Interessant an dieser Konzeptualisierung ist, dass die mechanische Metaphorik die körperkonnotierte Bedeutung nicht losgeworden ist. Besonders anschaulich wird dies an dem Zitat von Michail Titarenko: Россия сомкнула Восток и Запад на »Оси Истории«, задающей циклы формированию и развитию цивилизаций, ей досталась роль связующего звена живого организма евразийского континента.160 158 Vgl. Dugin, Aleksandr: Osnovy geopolitiki. Geopoliticheskoe buduščee Rossii. Myslit’ prostranstvom. Moskva 1999a, 44. 159 Ebd., 166. Hervorh. i. Orig. 160 Titarenko: Geopolitičeskoe značenie Dal’nego Vostoka. Rossija, Kitaj i drugie strany Azii, 116.

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(Russland hat Ost und West auf der »Achse der Geschichte« zusammengeführt, die die Zyklen für die Bildung und Entwicklung von Zivilisation vorgibt. Ihm wurde die Rolle eines Bindeglieds im lebendigen Organismus des eurasischen Kontinents zugeteilt.)

Diese Metaphorik geht wiederum auf die Mittellage zwischen europäischgermanischer, chinesischer, amerikanischer etc. Zivilisation zurück, die Russland von Titarenko zugeschrieben wird. Russland gewährleistet als ein Bindeglied das Funktionieren des gesamten eurasischen Kontinents. Neo-eurasische Ansichten über das Verhältnis von Raum und Zeit setzen die Tradition des klassischen Eurasismus fort, der laut Susi Frank »den Raum als Mittel der Überwindung der Geschichte konzeptualisiert.«161 Wie Lakoff und Johnson bemerken, bilden die »Erfahrungen mit physischen Objekten (insbesondere mit dem eigenen Körper) die Grundlage für eine enorme Vielfalt ontologischer Metaphern«162. Für die Selbstbeschreibungen von politischen Entitäten sind rhetorische Figuren äußerst relevant, die ein Bild der Gesellschaft als Ganzheit entwerfen.163 Nach der Analogie mit dem menschlichen Körper ist der politische Körper »nur lebensfähig, solange jeder Teil seine Aufgabe im Zutrauen auf das Ganze erfüllt.«164 Daraus folgt, dass eine Desintegration des politischen Körpers – indem ihm Teile des geografischen Raums weggenommen werden – zu seiner Lebensunfähigkeit oder Funktionsbeeinträchtigung führt. Wenn der Raum als eine natürliche Einheit konzipiert ist, wird keinerlei Amputation vorausgesetzt, weil das einen Eingriff in die Natur darstellt. Die Größe des Territoriums gehört zweifelsohne zu den wichtigsten identitätsstiftenden Merkmalen Russlands. Raumverluste werden folglich als traumatische Ereignisse in der russischen Geschichte dargestellt. Der Zerfall des Russischen Reiches nach der Februarrevolution 1917 beeinflusste die Herausbildung der eurasischen Tradition, die in ihren nostalgischen Reflexionen die Vision eines einheitlichen imperialen Raums zu rekonstruieren versuchte. Wie Sergej Glebov kommentiert, war das metaphysische Interesse an der Integrität des geografischen Raums das Hauptmotiv im Eurasismus, dessen Gründe in der traumatisierenden Wirkung der Revolution und des Zerfalls des imperialen Raums sowie in der zunehmenden Atomisierung der modernen Gesellschaft lagen.165 Die Desintegration der Sowjetunion wird im öffentlichen politischen Raum in den 2000er-Jahren ebenfalls als traumatisches Ereignis 161 Frank: Raum als Traum(a). Zur Geschichte der russischen Geokulturologie, 180. 162 Vgl. Lakoff / Johnson: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprach­ bildern, 35. 163 Vgl. Koschorke / Lüdemann / Frank / Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, 58. 164 Ebd., 16. 165 Vgl. Glebov: Evrazijstvo meždu imperiej i modernom. Istorija v dokumentach, 103.

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betrachtet. In seiner Botschaft an die Föderationsversammlung hat Vladimir Putin im Jahre 2005 den Zerfall der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts bezeichnet. Dies führt er nicht nur darauf zurück, dass mehr als 25 Millionen russische Staatsbürger jenseits des russischen Territoriums leben, sondern ebenfalls darauf, dass die Integrität des Landes beeinträchtigt wurde, was zu einem ökonomischen Kollaps führte und die Problematik der staatlichen Souveränität aufdeckte.166 Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass das Erbe des klassischen Eurasismus in dem durch den Zerfall der Sowjetunion traumatisierten und mit den Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Gebiete konfrontierten Russland stark rezipiert und instrumentalisiert wurde. Die neo-eurasische Tradition zeigt in dieser Hinsicht gewisse Kontinuitäten mit dem klassischen Eurasismus, indem sie die metaphysische Ganzheit und Integrität des eurasischen Raums behauptet. Weiterhin sprechen die Neo-Eurasier von einem Wechselspiel zwischen dem geografischen Raum und einem kollektiven Subjekt. Der eurasische Kontinent ist ein unteilbarer Raum und kann von einem oder zwei Staaten repräsentiert werden, während der Seebereich ein polyzentrischer und mosaikartiger Raum ist, der von mehreren Ländern vertreten wird.167 Eine derartige Rückkopplung zwischen der Einheit des Raums und der Staatlichkeit wirkte sich auf Erzählungen aus, die Desintegrationsmechanismen des Staates im Wechselspiel mit dem Raumverlust interdiskursiv thematisieren. Dugin postuliert in dieser Hinsicht eine Wechselwirkung zwischen dem geografischen Raum und dem politischen System Russland. Das zeitgenössische Russland, schreibt Dugin, ist als eine eigenständige geopolitische Einheit zu klein. Er vergleicht Russland mit einem »Stumpf des geopolitischen Körpers« (»obrubok geopolitičeskogo tela«168), dem die Kontrolle über die strategischen Punkte des Raums entzogen worden ist. Er weigert sich, die Russländische Föderation in ihren aktuellen Grenzen anzuerkennen, da Grenzen nicht mitten durch ein lebendes Wesen, mit dem er den geografischen Raum des Landes vergleicht, gezogen werden können. Das Russische Imperium und die Sowjetunion waren ihm zufolge die höchsten Formen des Lebens und lebendige Einheiten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist die Russländische Föderation kein lebendiges Wesen, es ist ein räumliches Simulakrum, das zum Aussterben prädestiniert ist.169 166 Vgl. Putin, Vladimir V. Poslanije Federal’nomu Sobraniju Rossijskoj Federazii. In: Prezident Rossii, 25.04.2005, URL : http://kremlin.ru/events/president/transcripts/22931 (am 09.05.2017). 167 Vgl. Panarin: Filosofija politiki, 133. 168 Dugin, Aleksandr: Geopolitika postmoderna. Vremena novykh imperij: očerki geopolitiki XXI veka. Sankt-Peterburg 2007, 163. 169 Vgl. Dugin, Aleksandr: Četvertaja političeskaja teorija. Rossija i političeskie idei XXI veka. Sankt-Peterburg 2009, 254.

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Diese Konstellation, die wiederum auf der organischen Metaphorik beruht, impliziert, dass das normale Funktionieren des Raums unmöglich ist. Denkt man in der neo-eurasischen Ideologie Eurasien in den Kategorien des lebenden Organismus, dessen Teilung unausweichlich zu seinem Tod führt, ist nun die dringende Frage nach der Wiederherstellung der Integrität des Organismus zu stellen. Nach der Analogie mit einem lebenden Organismus beeinträchtigt der Raumverlust das Funktionieren des politischen Körpers. Folglich soll die Raumintegrität in der neo-eurasischen Ideologie wiederhergestellt werden. 3.4.3 Begründungsstrategien der Raumexpansion

Die Wiederbelebung des Imperiums, dessen Grenzen bei den Neo-Eurasiern auf verschiedene Art und Weise bestimmt werden, bildet einen weiteren wichtigen Punkt in den ideologischen Konstruktionen des Konzeptes »Eurasien«. Die Begründungsstrategien der Erweiterung beziehen die Neo-Eurasier auf die essenzialistischen Vorstellungen, die eine untrennbare Verbindung zwischen dem Raum, der Regierungsform und dem kollektiven Subjekt als dem Träger einer besonderen Mission innerhalb dieses Raums voraussetzen. Eine Strategie appelliert an die sogenannte Logik des eurasischen Raums. Panarin geht von der Existenz eines einheitlichen Raums Eurasiens aus, der von einem oder maximal zwei Staaten vertreten sein soll.170 Dies dient andererseits als Garant des Friedens auf dem ganzen Kontinent und soll Konflikte zwischen verschiedenen Ethnien und Gruppen verhindern. Er geht in diesem Zusammenhang von der Existenz des eurasischen Monoliths aus, worunter er die Unteilbarkeit Eurasiens versteht. Die intrinsische Logik des eurasischen Monoliths besteht darin, dass er für den Prozess der Integration vorprogrammiert ist.171 Dem russischen Volk schreibt Panarin die Hauptrolle in der Integrationsmission zu. Für die Begründung dieser Aufgabe nutzt er den indoeuropäischen Mythos, dem die Triade des Pflügers, des Kämpfers und des Priesters als eine archetypische Grundlage für die Differenzierung einer Gesellschaft zugrunde liegt. In dem Vordergrund dieser Analogie, die auf das kollektive Subjekt angewendet wird, tritt die Funktionalität auf. Während die westlichen Gesellschaften einen Säkularisierungsprozess durchliefen, was zur Professionalisierung der Berufe Kämpfer und Pflüger und ihrer Entkopplung von dem Beruf Priester führte, bleiben diese Berufe in Russland mit der ideologischen, heiligen Funktion verbunden.172

170 Vgl. Panarin: Rossija v civilizacionnom processe (meždu atlantizmom i evrazijstvom), 212. 171 Vgl. ebd. 172 Vgl. ebd., 230.

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Тяжесть евразийского хартленда такова, что носителем его может быть только особый евразийский народ, более склонный к героике и жертвенности, чем гедонестически ориентированные народы Запада.173 (Die Härte des eurasischen Heartlands ist so groß, dass nur ein besonderes eurasisches Volk, das mehr zu Heldentum und Opfer als die hedonistisch orientierten Völker des Westens geneigt ist, sein Träger sein kann.)

Diese Rhetorik basiert auf dem essenzialistischen Verständnis, das jeder Kultur bestimmte Eigenschaften zuschreibt. Wenn das russische Volk bei Panarin Kämpfer und Priester ist, ist es bei Dugin das Volk des Imperiums. In dieses Konzept ordnet sich die messianische Funktion des russischen Volkes ein, was sich sowohl bei Dugin als auch bei Panarin verfolgen lässt. Die Idee der Erweiterung des russischen Raums als eines sinnkonstituierenden Elements in der Identitätsstiftung ist charakteristisch für das neo-eurasische Denken. Aleksandr Dugin führt die Einheit des eurasischen Raums mit der »besonderen« Mission des russischen Volkes zusammen, das die politische Stabilität auf dem eurasischen Kontinent im Zuge seines Vordringens gewährleisen muss: Русские расширялись как носители особой миссии, геополитическая проекция которой состояла в глубинном осознании необходимости объединения гигантских территорий евразийского материка. Политическая целостность евразийского пространства имеет для русской истории совершенно самостоятельное значение. Можно сказать, что русские чувствуют ответственность за это пространство, за его состояние, за его связь, за его цельность и независимость.174 (Die Russen expandierten als Träger einer besonderen Mission, deren geopolitische Projektion in einem tiefen Bewusstsein für die Notwendigkeit bestand, die riesigen Territorien des eurasischen Kontinents zu vereinen. Die politische Integrität des eurasischen Raums hat für die russische Geschichte eine völlig eigenständige Bedeutung. Man kann sagen, dass sich die Russen für diesen Raum, für seinen Zustand, für seine Verbindung, seine Integrität und seine Unabhängigkeit verantwortlich fühlen.)

Dergestalt drückt sich der integrative und allumfassende Aspekt des russischen Messianismus in Dugins Konzeption aus, der imstande ist, verschiedene Völker und Ethnien durch sein religiös-räumliches Weltverständnis zu einen.175 173 Ebd., 239. 174 Dugin: Osnovy geopolitiki. Geopoliticheskoe buduščee Rossii. Myslit’ prostranstvom, 196. Hervorh. i. Orig. 175 Vgl. Höllwerth: Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin. Eine Diskurs­ analyse zum postsowjetischen russischen Rechtsextremismus, 406.

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Die Rhetorik der Raumerweiterung schließt folglich mehrere Strategien ein, die auf dem Konzept der organischen Ganzheit des Raums und des Volkes basieren. In erster Linie wird die Aneignung des Raums in der historischen Perspektive von Neo-Eurasiern als eine unabdingbare Eigenschaft und Funktion des russischen Volkes betrachtet. Dies wiederum ergibt sich aus einem besonderen messianischen Typ der Zivilisation. Darüber hinaus wird die Notwendigkeit der territorialen Expansion mit der Logik des eurasischen Raums begründet. Einerseits stellt dieser eine unteilbare Ganzheit dar und andererseits soll er laut dem neo-eurasischen Konzept von einem politischen Subjekt repräsentiert sein. In diesem Zusammenhang wird der Zerfall der Sowjetunion als Störung der Ganzheit und folglich des normalen Funktionierens des politischen Körpers betrachtet. Die Erweiterung des Raums ist nicht allein die Verwirklichung einer besonderen Mission des russischen Volkes, sondern nach der Analogie mit einem lebendigen Organismus auch die Gewährleistung seiner Lebensfähigkeit. 3.4.4 Die Metapher der Brücke

Für die Beschreibung des russischen Raums wird die Metapher »Brücke« im Zusammenhang mit der dichotomischen West-Ost-Teilung angewendet. In ihrer ursprünglichen Bedeutung wird die Brücke als Konstruktion definiert, die zwei Punkte der Erdoberfläche, die durch Wasser, Graben oder ein anderes Hindernis geteilt sind, verbindet und die Kommunikation zwischen ihnen ermöglicht.176 Im übertragenen Sinne wird sie angewandt, um einem verbindenden Potenzial zwischen zwei Elementen auf die Spur zu kommen.177 Mit der Metapher der Brücke werden in Bezug auf den russischen geografischen Raum vor allem drei Dimensionen impliziert. Erstens führt der geografische Raum Russlands zwei (kulturell) verschiedene und abgegrenzte Räume im eurasischen Verständnis  – Europa und Asien bzw. Westen und Osten – zusammen. Geografisch teilt Russland mit beiden Kontinenten eine gemeinsame Grenze, was aus Sicht der Neo-Eurasier eine notwendige Voraussetzung für Interaktionen zwischen europäischen und asiatischen Ländern darstellt. Zivilisationen in der neo-eurasischen Terminologie erscheinen dabei als homogene, geschlossene Entitäten, die kaum miteinander in Berührung kommen. Michail Titarenko spricht in diesem Zusammenhang über zwei Typen der Zivilisationen: die westliche und östliche. Die westliche Zivilisation

176 Vgl. Most: In: Ušakov, Dmitrij (Hg.): Tolkovyj slovar’ russkogo jazyka. Bd. 2. Moskva 2000, 264. 177 Vgl. ebd.

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habe sich im Zuge des Kolonialismus und der Entwicklung der Weltmarktwirtschaft zu einer transnationalen bzw. transkontinentalen Zivilisation entwickelt. Zum prägenden Merkmal der westlichen Zivilisation gehöre ihr rationalistischer, pragmatischer und technokratischer Zugang zu der Beziehung zwischen Individuum, Gesellschaft und Umwelt.178 Im Vergleich zu der westlichen Zivilisation hat sich eine östliche Zivilisation laut Titarenko um eine dominierende Ethnie herum entwickelt und ist durch einen bestimmten Typ von Staatlichkeit gekennzeichnet. Dementsprechend unterscheidet Titarenko die chinesische, indische, japanische und koreanische Zivilisation. Zu den kulturellen Werten dieser Zivilisationen gehören besonders Kollektivismus sowie die Betrachtung des Menschen als Teil des Universums.179 Die westliche und die östliche Zivilisation werden so imaginiert, dass sie sich voneinander unabhängig in der Geschichte entwickelt haben und einen Mediator benötigen, damit eine Interaktion zwischen derartig unterschiedlich kulturell geprägten Gebilden zustande kommen kann. Die zweite Dimension impliziert, dass sich die metaphorische Brückenfunktion des russischen Raums sowohl im materiellen als auch im symbolischen Transfer ausdrückt. Die eurasische Vision über die Brückenlage Russlands setzt die Nutzung der geografischen Position voraus, um Handelsaustausch durch Transportwege zu ermöglichen: В нынешний век глобализации компьютерных информационных потоков уже не может идти речи о том, чтобы Россия выступала в качестве просто «моста» между цивилизациями Европы и Азии или ретранслятора их культур. В технико-экономическом смысле Россия могла бы стать трансконтинентальным мостом для производственной кооперации и торговых обменов, для прокладки трансконтинентальных транспортных путей и нефте- и газопроводов с большой выгодой для себя и ее соседей.180 (Im gegenwärtigen Zeitalter der Globalisierung der Computerinformationsflüsse kann keine Rede mehr davon sein, dass Russland nur als »Brücke« zwischen den Zivilisationen Europas und Asiens oder als Weitergeber ihrer Kulturen auftritt. In technischer und wirtschaftlicher Hinsicht könnte Russland eine transkontinentale Brücke für industrielle Zusammenarbeit und Handelsaustauch, für die Verlegung transkontinentaler Transportwege und Erdöl- und Gasleitungen mit großem Gewinn für sich selbst und seine Nachbarn werden.)

Diese Dimension der Brücke wird in den eurasischen Vorstellungen mithilfe der verbindenden Rolle Russlands im Transport von Waren von China nach 178 Vgl. Titarenko, Michail: Rossija: bezopasnost’ čerez sotrudničestvo. Vostočno-aziatskij vektor. Moskva 2003, 10. 179 Vgl. ebd., 10. 180 Titarenko: Rossija licom k Azii, 25.

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Europa mit der Transsibirischen Eisenbahn widergespiegelt.181 Damit ergibt sich die symbolische Bedeutung der Brücke auf der realen Ebene in der Form der Eisenbahnstraße, die zwei Kontinente verbindet und den Verkehr von Gütern und Personen gewährleistet. Der dritte Aspekt der Brückenmetapher besteht in dem Einfluss, der aus dieser vermittelnden Rolle für Russland resultiert. Die geografische Lage zwischen zwei Kontinenten wirkt sich auf die Selbstbestimmung Russlands aus. Das Konzept der eurasischen Identität allerdings erscheint selbst für die Eurasier nicht unproblematisch. Laut Titarenko stellt Russland mit seiner geografischen Lage nicht nur ein verbindendes Kettenglied in den Interaktionen zwischen den Zivilisationen des Ostens und des Westens dar, sondern ist gleichfalls ein Akteur in diesen Interaktionen, indem es sich kulturelles Wissen beider aneignet und eine Leitung in den Interaktionen übernimmt. Seine geografische Lage an den Grenzen Eurasiens bedingt Kontakte und Interaktionen mit »allen größten Zivilisationen«.182 Indem es den Transfer der kulturellen Errungenschaften zwischen Westen und Osten gewährleistet, akkumuliert es das Wissen von beiden und wird zu einer eurasischen Kultur, die Kulturen des Westens und des Ostens synthetisiert und darüber hinaus zu qualitativ neuen Kulturformen gelangt. Darüber hinaus vereint Russland im Rahmen des Staates nicht nur die russische Zivilisation, sondern auch andere Völker, die mit ihr auf die eine oder andere Art koexistieren und interagieren.183 Bereits an diesen Beispielen wird deutlich, dass der geografische Raum Russlands teilweise synonym mit den Begriffen des Volkes und des Staates benutzt wird. Dahingehend kann auf das Konzept von Pëtr Savickij »mestorazvitie« verwiesen werden, das die untrennbare Verbindung zwischen Raum und Kultur voraussetzt. Michail Titarenko nutzt diesen Begriff, um die kulturelle Einzigartigkeit des geografischen Raums Russlands zu beschreiben, die aus den Interaktionen mit den an Russland angrenzenden Zivilisationen resultiert.184 Obwohl dieser Begriff keine weitere wissenschaftliche Untermauerung im Neo-Eurasismus erhält, wird er oft bei den Neo-Eurasiern, insbesondere von Dugin und Titarenko verwendet, um den Einfluss der geografischen Lage auf die Besonderheit der russischen Kultur zu demonstrieren. In der von Titarenko genutzten Metapher der Brücke werden zwei widersprüchliche Bedeutungen in Bezug auf die sogenannte Mittlerlage Russlands zwischen China und Europa deutlich. Die Imagination von Kulturen als geschlossenen Räumen kollidiert mit der Intention, die spezifische eurasische 181 Vgl. Titarenko: Geopolitičeskoe značenie Dal’nego Vostoka. Rossija, Kitaj i drugie strany Azii, 24. 182 Vgl. Titarenko: Rossija licom k Azii, 20. 183 Vgl. ebd. 184 Vgl. ebd., 27.

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Identität Russlands zu begründen, die auf historische Verflechtungen mit den angrenzenden asiatischen und europäischen Ländern zurückgeführt wird. Dieses ambivalente Verständnis der Lage Russlands erlaubt es, einen Fokus für die (Neo-)Eurasier je nach aktueller politischer Agenda zu akzentuieren. Dabei rückt die vermittelnde Rolle Russlands zwischen kulturell abgesonderten Räumen ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn es um die Notwendigkeit verschiedener Interaktionen zwischen Ländern und die Rolle Russlands als Vermittler in diesem Zusammenhang geht. In einem gegensätzlichen Denkmuster, das die Entstehung der eurasisch-russischen Kultur in Wechselwirkung mit asiatischen Kulturen begründet, werden geopolitische Interessen akzentuiert, in denen zwischenstaatliche Zusammenschlüsse durch gemeinsame geschichtliche Entwicklung legitimiert sind. 3.4.5 Der Körper des Volkes

In Anlehnung an den klassischen Eurasismus differenziert Dugin die Gegenüberstellung des organischen, »holistischen« und des mechanischen, atomaren Zugangs zur Analyse von Gesellschaft und Geschichte.185 Der Organizismus erachtet Volk, Staat und Gesellschaft als ganzheitliche natürliche Wesen, die gemeinsam aus Geist und Boden geboren werden.186 Die organische Metaphorik wird bei der Konzeptualisierung der Einheit des Volkes verwendet. In dieser Hinsicht wird jede Kultur als unikales Wesen angesehen und ihr mögliches Vergehen ist mit einem Artentod vergleichbar, was einen Verlust für die Menschheit bedeuten würde.187 Der atomare Zugang betrachtet sämtliche sozial-historischen Gebilde – Ethnien, Staaten, Klassen – als Folge beliebiger Einigungen einzelner atomarer Individuen, die solche Einigung in verschiedenen Formen von Verträgen fixieren.188 Die Metapher des menschlichen Körpers dient für Dugin als Mittel für die Konstruktion des sozialen Ganzen, in der die Zusammengehörigkeit über die körperliche Analogie erklärt wird. Diese Zusammengehörigkeit ist im ontologischen Sinne zu verstehen, da das Volk als eine gemeinsame Körperlichkeit über die Generationen hinaus funktioniert. Der Körper des Individuums ist ausschließlich im Zusammenhang mit dem Körper des Volkes zu denken:

185 Vgl. Dugin, Aleksandr: Teorija evrazijskogo gosudarstva. Esse o Nikolae Nikolaeviče Alekseeve. In: Agamaljan, N. / Dugin, Aleksandr (Hg.): Osnovy evrazijstva. Moskva 2002a, 521–533, hier 525. 186 Vgl. ebd. 187 Vgl. Laruelle: Russian Eurasianism. An Ideology of Empire, 209. 188 Vgl. Dugin, Aleksandr: Teorija evrazijskogo gosudarstva. Esse o Nikolae Nikolaeviče Alekseeve, 525.

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Мы лишь эпизод в этом народном теле, которое предшествует нам в лице коллективного тела предков, соприсутствующем, кроме того, и в виде других русских людей. И когда один из нас задумывается о другом русском, он чувствует матрицу народа, общую телесность, принадлежность к ней и свою собственную в ней со-растворенность.189 (Wir sind lediglich eine Episode in diesem Volkskörper, der uns als kollektiver Körper der Vorfahren vorausgeht, der außerdem in Form anderer russischer Menschen mitpräsent ist. Und wenn einer von uns an einen anderen Russen denkt, spürt er die Matrix des Volkes, die gemeinsame Körperlichkeit, die Zugehörigkeit dazu und seine eigene Mitauflösung darin.)

Die Relativität eines individuellen Körpers ist der Körperlichkeit des Volkes unterzuordnen: »Und die Relativität unseres individuellen Körpers verblasst vor dem Antlitz der absoluten, ewigen und endlosen Körperlichkeit unseres eigenen Volkes.« (»И относительность нашего индивидуального тела меркнет перед лицом абсолютной, вечной и бесконечной телесности собственного народа«.190) In dieser Konzeptualisierung des sozialen Körpers tritt damit die Priorität des kollektiven Wesens vor das Individuum. So bestimmt Dugin den Begriff des Volkes als »den höchsten organischen Wert, eine Manifestation des Lebens und des Denkens, die in eine konkrete historische Form eingebettet sind.« (»высшая органическая ценность, проявление жизни и мысли, облаченных в конкретную историческую форму.«191) Wenn das Volk der absolute Wert ist, treten die Interessen und Rechte eines Individuums in den Hintergrund. Ein Individuum wird nur als Teil des sozialen Ganzen betrachtet. Gleichzeitig geht die Konzeption von Ethnien und Völkern über die organische Einheit hinaus, die notwendig für das Funktionieren des Organismus ist. Völkern und Ethnien wird »die innere Freiheit« zugeschrieben: »Как и всякое живое существо, этнос наделен внутренней свободой, в которой запечатлено его духовное достоинство.«192 (»Wie jedes Lebewesen ist eine Ethnie mit innerer Freiheit ausgestattet, in die ihre geistige Würde eingeprägt ist.«) Die Implikationen der organischen Metaphorik können gleichfalls in der Konzeptualisierung des Volkes von Titarenko beobachtet werden. Er unterscheidet die geistige, die intellektuelle und die physische Gesundheit des Organismus. Auch andere Zivilisationen werden dabei als Subjekte dargestellt, denen bestimmte Merkmale zugeschrieben werden. Grundsätzlich werden 189 Dugin: Četvertaja političeskaja teorija. Rossija i političeskie idei XXI veka, 245. 190 Ebd., 246. 191 Dugin, Aleksandr: Programma političeskoj partii »Evrazija«. Materialy Učreditel’nogo s’’ezda. Moskva 2002b, 24. 192 Ebd., 26.

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sämtliche Zivilisationen in zwei Kategorien eingeteilt: diejenigen, in denen das »Geistige« über das »Intellektuelle« und »Physische« überwiegt, und diejenigen, in denen das »Intellektuelle« und »Physische« Vorrang über das »Geistige« hat. Dabei ist das »geistige« Wohlbefinden Russlands, von dem nicht nur die »geistige«, sondern auch die »physische« und »intellektuelle« Gesundheit anderer Zivilisationen abhänge, von hoher Relevanz.193 Diese Form des Denkens ist auf die dichotomische Teilung zwischen dem Eigenen und dem Anderen zurückzuführen. In den Kulturwissenschaften bestimmen diese Denkmuster die Diskussionen in Bezug auf Erfahrungen mit Andersheit und die damit einhergehende Hinterfragung von Identitätskonzepten.194 Wenn auch Kategorien wie »Hybridität« oder »third space« eingeführt werden, um das dichotomische Schema zu überwinden, können die Theorien diesem Denken nicht vollständig entkommen, weil sie Kulturen als geschlossene Gebilde auffassen.195 In diesem Verständnis prägt Kultur ohne weitere Differenzierung das Leben eines ganzen in sich homogenen Volkes. Eine Gesellschaft wird als unverwechselbare und dauerhaft integrierte kulturelle Entität imaginiert. In den kulturwissenschaftlichen Konzepten, die von glatter Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden ausgehen, werden Kontakte zwischen kollektiven Entitäten nach dem Muster der Interaktionen zwischen Subjekten modelliert.196 In diesem Sinne spricht Albrecht Koschorke von Projektionen, von der Übertragung eigener Vorstellungen, Wünsche oder Ängste auf ein anderes Subjekt.197 Eine radikale Form dieses Denkens zeigt sich im bekannten und auch in Russland viel rezipierten Buch »Kampf der Kulturen« von Samuel Huntington198, der Interaktionen zwischen Kulturen auf die Freund-Feind-Logik zurückführt. Dieses Denken, dem die Metapher des Subjekts zugrunde liegt, prägt ebenfalls die neo-eurasischen Selbst- und Fremdbeschreibungen

193 Vgl. Titarenko: Geopolitičeskoe značenie Dal’nego Vostoka. Rossija, Kitaj i drugie strany Azii, 116. 194 Vgl. Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, 116. 195 Vgl. ebd., 117. 196 Vgl. ebd. 197 Vgl. ebd. 198 Huntingtons Modell basiert auf einem Kulturbegriff, der Gesellschaft als unverwechselbare und dauerhaft integrierte kulturelle Entität darstellt. Kultur prägt ohne weitere Differenzierung das Leben eines ganzen, in sich homogenen Volkes. (Vgl. hierzu Huntington, Samuel P.: Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. 6. Aufl. München 1997.)

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3.4.6 Rhetorik der kulturellen Vielfalt

Im klassischen Eurasismus ist die kulturelle Vielfalt eine der grundlegenden Komponenten in der Begründung der totalen Einheit Eurasiens. Wenn die Kontinuität zwischen dem klassischen Eurasismus und den verschiedenen Strömungen des Neo-Eurasismus mittlerweile fraglich erscheint, ist das Verhältnis der Neo-Eurasier zu der Problematik der Einheit des russischen Vielvölkerstaates durchaus nah zu der Position des klassischen Eurasismus. Die Neo-Eurasier betonen desgleichen die Notwendigkeit, die ethnische und kulturelle Vielfalt zu berücksichtigen und zu erhalten. Allerdings ist dies – mit den Worten von Laruelle – nicht mehr als ein rhetorischer Kult der kulturellen Diversität.199 In den neo-eurasischen Ausführungen wird die Rolle der Diversität besonders in den Interaktionen Russlands mit anderen Kulturen deutlich. Es werden dabei vor allem folgende Strategien beschrieben. Die Orientierung auf die kulturelle Diversität wird von den Neo-Eurasiern eher als Alternative für den einseitigen und unifizierenden Prozess der Globa­lisierung betrachtet. Beispielsweise zieht Titarenko Parallelen zwischen der chinesischen Kultur und dem Neo-Eurasismus. Es geht davon aus, dass der Neo-Eurasismus, der die Vielfalt von Kulturen befürwortet und dessen Prinzipien der russischen Kultur zugrunde liegen sollen, dem konfuzianischen Prinzip der »Harmonie in Verschiedenheit« (和而不同 Hé ér bù tóng, wortwörtlich »Harmonie ohne Einheitlichkeit«200) ähnlich ist. Dieses Konzept wurde von den chinesischen Diplomaten aufgegriffen und wird als implizite Kritik des liberalen Diskurses des Westens benutzt.201 In den internationalen Beziehungen wird mit dem Konzept die Anerkennung von kulturellen Unterschieden betont, wie Qing Cao ausführt. Darüber hinaus setzt es voraus, dass keine Werte aufgezwängt werden müssen.202 Titarenko zieht Parallelen zwischen diesem Prinzip und dem Neo-Eurasismus, der die kulturelle Vielfalt Russlands preist. Gleichzeitig wendet er dieses Prinzip in derselben Bedeutung wie die chinesische Diplomatie an, nämlich als Gegenüberstellung zu den vom Westen deklarierten Werten. In Titarenkos Konzeption des Neo-Eurasismus soll sich Russland auf seine asiatischen Züge besinnen und seine eurasische 199 Vgl. Laruelle: Russian Eurasianism. An Ideology of Empire, 101. 200 Im Konfuzianismus wird zwischen »he« (»Harmonie«) und »tong« (»Einheitlichkeit«) unterschieden. In der politischen und sozialen Kommunikation wird das Konzept »he« als wichtiger Prozess der Harmonisierung angesehen, der es ermöglicht, verschiedene Ideen und Ansichten miteinander in Einklang zu bringen. (Vgl. Kim, Sungmoon: Confucian democracy in East Asia. Theory and practice. New York 2014, 60 f.) 201 Vgl. Cao, Qing: China’s soft power. Formulations, contestations and communication. In: Cao, Qing / Tian Hailong / Chilton, Paul (Hg.): Discourse, Politics and Media in Contemporary China. Amsterdam, Philadelphia 2014, 171–195, hier 184. 202 Vgl. ebd.

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Identität behaupten. Die von ihm gezogenen Parallelen zwischen dem NeoEurasismus und dem Konfuzianismus erlauben ihm, China als alternatives Modell der unipolaren Einstellung zu der Entwicklung zu gebrauchen und die russisch-chinesische Annäherung zu legitimieren. Die Grundlage des Neo-Eurasismus begrenzt sich nicht auf die Problematik der kulturellen Vielfalt. Die Dichotomie des Westens und des Ostens sowie die daraus abgeleitete Mittellage Russlands dienen, wie bereits voranstehend angedeutet, einerseits der Begründung der Ganzheit Eurasiens und andererseits der Legitimation bestimmter Ansprüche Russlands gegenüber anderen Ländern und zum Modell für außenpolitische Beziehungen. Was die Problematik der kulturellen Vielfalt innerhalb des Landes angeht, bekennt sich der zeitgenössische Eurasismus auf rhetorischer Ebene zu den Prinzipien von Wechselbeziehungen, gegenseitiger Hilfe, Kooperation, Dialog und Komplementarität zwischen den Völkern und Ethnien Russlands, die mit einem historischen Schicksal verbunden sind. Neben der Behauptung der Gleichheit der verschiedenen Völker sind in den neo-eurasischen Konzepten ebenfalls Widersprüche anzutreffen, denen wie auch im klassischen Eurasismus die Problematik von Einheit und Heterogenität zugrunde liegt. Dabei kommt die Frage auf, welche Modelle den neo-eurasischen Vorstellungen der Einheit zugrunde liegen, wie der »Bezug des ›Zusammen‹, das Band, das die ›Teile‹ (Individuen, Gruppen) untereinander und mit dem imaginären ›Ganzen‹ verbindet.«203 Die Figurationen des sozialen Wesens gründen wieder auf den Konnotationen der organischen Einheit. Allerdings wird der russischen Ethnie in der Herausbildung des sozialen Körpers eine tragende Funktion zugeschrieben. Hier manifestiert sich ein Bezug auf die organische Metaphorik. Das russische Volk wird mit einer »Wirbelsäule« (»stanovoj chrebet«204) in der Bildung des eurasischen Volkes verglichen. Die Analogie mit einer Wirbelsäule, die uns auf die organische Metapher zurückführt, betrifft diesbezüglich außer den Vorstellungen des Volkes als einer organischen Ganzheit gleichfalls die Problematik des Funktionierens und der Hierarchie einzelner Teile des sozialen Körpers  – hier: ethnischer Gruppen. Der soziale Organismus, in diesem Fall die eurasische Gemeinschaft, wird als eine organische Einheit imaginiert, in der den Ethnien und Völkern bestimmte Funktionen für die Herstellung der Einheit dieses Organismus zugeschrieben werden. Des Weiteren setzt ein solches Imaginieren der sozialen Ordnung ein bestimmtes hierarchisches Verhältnis fest, da die zentrale tragende Konstitutionsrolle in der Funktionsfähigkeit des

203 Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, 109. Hervorh. i. Orig. 204 Titarenko: Rossija licom k Azii, 53.

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ganzen Körpers einer bestimmten Ethnie zugeschrieben wird – in dem Fall dem russischen Volk. Wie Lüdemann schreibt, zielt organische Metaphorik im politischen Denken von der Fabel des Menenius Agrippa über Paulus bis zu den Klassenkämpfen des 19. Jahrhunderts darauf ab, »einen real existierenden Konflikt durch das Bild einer hypostasierten Einheit zu überblenden«205. Dies betrifft zudem die Vorstellungen der Einheit in den eurasischen Konzeptualisierungen, die die heterogene, oft von den ethnischen Spannungen betroffene Gesellschaft in Russland als Einheit fassen. Die Imagination der Gesellschaft als eines Körpers geht jedoch über die Figuren der Einheit hinaus: Sie impliziert darüber hinaus die hierarchischen Verhältnisse zwischen den Ethnien, in denen die wichtigste Rolle dem russischen Volk zugeschrieben wird. So postuliert Titarenko, dass die russische Kultur eine völkerverbindende Funktion im eurasischen Raum Russlands hat. Die russische Sprache sei zu einer Verkehrssprache anderer Völker Russlands mit der Weltzivilisation geworden. Die russische Kultur sei laut Titarenko zu einem Antrieb in der Entwicklung von Ethnien geworden, die Russland besiedeln.206 Diese Aussagen offenbaren die Widersprüchlichkeit der neo-eurasischen Denktradition. Die Bemühungen, die kulturelle Heterogenität Russlands zu begründen, kollidieren mit dem Gedankenmodell, in dem der russischen Ethnie die Hauptrolle beim Staatsaufbau zugewiesen wird. 3.4.7 Zar als ontologisches Zentrum der Macht

Die Frage, wie und durch welche Figuren das Gemeinwesen verkörpert und repräsentiert wird, führt in der neo-eurasischen Auslegung auf die archaischen Figuren der monarchischen Herrscher zurück. Dugin verweist in dieser Hinsicht auf das kollektive Unbewusste des russischen Volkes als wichtigen Faktor im Bereich des Politischen, was die Etablierung der monarchischen Strukturen vorherbestimmt. Die im russischen Volk verankerten arche­ typischen Vorstellungen lassen ihn den Herrscher wählen, der am besten dem Archetyp des absolutistischen Herrschers entspricht.207 Auf diese Weise drückt sich auch das Prinzip der Hierarchie aus, das Dugin als einen grundlegenden Aspekt des Politischen auffasst.208 Für das politische System des Ostens, dem Dugin auch Russland zuordnet, sind die Prinzipien der Sakra­ 205 Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, 201. Hervorh. i. Orig. 206 Vgl. Titarenko, Michail: Rossija i ee aziatskie partnery v globalizirujuščemsja mire. Strategičeskoe sotrudničestvo, problemy i perspektivy. Moskva 2012, 89. 207 Vgl. Dugin, Aleksandr: Absoljutnaja rodina. Moskva 1999b, 582. 208 Vgl. Dugin, Aleksandr: Filosofija politiki. Moskva 2004, 19.

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lität und der Traditionalität charakteristisch.209 Die Macht läuft laut Dugin auf einen zentralen Punkt hinaus: den Souverän. Dieses regierende Subjekt ist die Summe des Sakralen und folglich des Politischen.210 Für die Bezeichnung dieses Subjekts wählt Dugin zumeist den Titel des Zaren. Bereits die Wahl der archaischen Bezeichnung für einen Herrscher impliziert eine gewisse Bedeutung, die der Figur in Russland zugeschrieben wird. Diese Nostalgie weist auf die Verwurzelung der archaischen Figur des Zaren in der russischen Kulturtradition hin. An den Historiker Lothar Rühl anknüpfend weist Karlheinz Kasper darauf hin, dass bereits die Herrschaft von Ivan IV. den Grundstein für die Etablierung der monarchischen Institutionsform im kollektiven Bewusstsein und die Schaffung gesellschaftlicher und politischer autoritärer Strukturen gelegt hat, die Russland am besten charakterisieren.211 In Dugins Modell befinden sich der Zar, der Imperator und seine modernen Analoga – der Präsident, der Führer – im »ontologischen und anthropologischen«212 Zentrum der Gesellschaft. Durch monarchische Herrscher kommt das Volk laut Dugin mit transzendenten Daseinsebenen in unmittelbare Berührung. Darüber hinaus ist die sakrale Mission des russischen Monarchen eine der wichtigsten Seiten des kollektiven Unbewussten oder der nationalen Psychologie Russlands.213 Das alte Russland hatte immer ein sakrales Zen­ trum – zuerst Kiew und dann Moskau als Hauptstadt – und den lebendigen und personifizierten Pol der nationalen Heiligkeit – den Zaren.214 Die Vorstellung vom heiligen Zaren bettet sich in eins der drei »meta­ physischen Dogmen«215 ein, die die politischen Ideologien vorgeben und vom Menschen als Seinsimperativ erlebt werden. Diese Ideologie nennt Dugin »polar-paradiesisch« (»poljarno-rajskaj ideologija«216). Ihre Quintessenz führe auf die Behauptung eines Subjekts der himmlischen Natur zurück. Dieses Subjekt befinde sich in der Mitte des sakralisierten Kosmos. Es gebe kein metaphysisches Prinzip, auf das dieses Subjekt Rücksicht nehmen muss. Im Kosmos, in der Natur, auf der Erde gebe es nur die Widerspiegelung des Subjekts, deshalb ist die Natur ein Synonym des Paradieses und die Verkörperung seines Willens. Laut Dugins Vorstellung trete das göttliche Subjekt – Held, 209 Vgl. ebd., 111. 210 Vgl. ebd. 211 Vgl. Kasper, Karlheinz: Terror der Opričnina oder Diktatur der Vampire? Vladimir ­Sorokin und Viktor Pelevin warnen vor Russlands Zukunft. In: Osteuropa 57/10 (2007), 103–125, hier 113. 212 Dugin: Filosofija politiki, 112. 213 Vgl. Dugin: Absoljutnaja rodina, 579. 214 Vgl. ebd. 215 Dugin, Aleksandr: Konservativnaja revoljucija, Moskva 1994, 83. Dazu zählt er noch die Ideologie »Schöpfer – Schöpfung« und die Ideologie der »magischen Materie«. (Vgl. hierzu Dugin: Konservativnaja revoljucija, 87–97.) 216 Ebd., 85.

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heiliger Imperator, Prophet – einerseits in den Vordergrund und andererseits diene der sakrale Kosmos als die Fortsetzung des Subjekts.217 Das »polar-paradiesische Dogma« orientiert sich im Dugin’schen Verständ­ nis auf die Monarchie hin. Somit ist es darauf angelegt, die Figur des Herrschers maximal emporzubringen. Zugleich zielt es auf die horizontale Machtverbreiterung dieses Herrschers durch die imperiale Expansion – durch die Inklusion des maximalen Raums in die Sphäre seiner Herrschaft – ab.218 Diese Konzeption stellt neben zwei anderen Formen quasi metaphysische Grundlagen für verschiedene Variationen und Kombinationen bereit, die die reale Verkörperung des Politischen schaffen.219 Im Imperium realisiert sich das Prinzip des heiligen Herrschers, so führt Dugin aus, im Prinzip der Hierogamie. Das Imperium wird als eine heilige Ehe zwischen Himmel und Erde betrachtet: Небесный принцип воплощается в Правителе, Сыне Неба, Помазаннике. Земной принцип  – в самой бескрайней территории, а также народе, населяющим имперские земли. Специфика сугубо имперского эротизма предопределяет особый имперский тип сознания, для которого характерно, с одной стороны, понимание недосягаемой Высоты Правителя (на портреты Русского Царя простые крестьяне еще в XIX веке молились, как на икону), а с другой стороны, нескончаемой Широты имперских территорий.220 (Das himmlische Prinzip verkörpert sich im Herrscher, dem Sohn des Himmels, dem Gesalbten. Das irdische Prinzip befindet sich im grenzenlosen Territorium ebenso wie im Volk, das imperiale Länder besiedelt. Die Besonderheit des rein imperialen Erotismus prädestiniert den besonderen imperialen Bewusstseinstypus, der einerseits durch ein Verständnis der unerreichbaren Höhe des Herrschers (die Porträts des russischen Zaren wurden wie Ikonen von einfachen Bauern noch im 19. Jahrhundert angebetet) und andererseits durch die unendliche Breite des imperialen Territoriums gekennzeichnet ist.)

Auf ähnliche Weise argumentiert Panarin. Zwar nutzt er keinen Begriff der Hierogamie. Ein ähnlicher semantischer Gegensatz wird jedoch durch das Paar »der Zar – das Volk« konstruiert. Als die ideale harmonische Umsetzung des Gemeinwesens gilt bei Panarin die bäuerliche Gemeinde. Der russische Begriff »Krest’janstvo« (»Bauerntum«) ist Panarin zufolge die synkretische Bezeichnung für die Verflechtung und Übereinstimmung von Arbeits- und Christenpflicht, Christo- und Kosmozentrismus.221 Die bäuerliche Gemeinde 217 Vgl. ebd. 218 Vgl. ebd., 86. 219 Vgl. ebd., 82. 220 Ebd., 217 f. 221 Vgl. Panarin, Aleksandr: Politologija. Zapadnaja i Vostočnaja tradicii: Učebnik dlja vuzov. Moskva 2000, 281 f.

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weist eine untrennbare Verbindung zum lokalen Raum auf. In Panarins Modell stellt das mit Boden verbundene Volk einen kollektiven Körper dar, in dem sich Christus quasi transfiguriert hat. Der Zar symbolisiert das heilige, himmlische Prinzip. Die Sakralität des Zaren ist auf zwei Umstände zurückzuführen. Der Zar ist erstens die Verkörperung des messianischen Volkes, das »der Träger einer schweren, aber hohen und von Gott inspirierten Mission«222 sei. Der Zar, der nicht nur »die Macht, sondern auch die Organik des Volkslebens«223 erbt, steht repräsentativ für den kollektiven Leib des Volkes und stellt darüber hinaus einen Teil dieses Leibes dar. Transzendente und sakrale Bedeutungen, insbesondere die messianische Funktion des Volkes werden auf den Zaren übertragen. In der Union des Zaren-Messias und des messianischen Volkes erfüllt sich das Prinzip der östlichen messianischen Utopie: Das Volk überträgt die messianischen Aufgaben auf seine Machtinstanz und damit »behauptet es sich in seiner historischen Würde und und seinem messianischen Selbstbewusstsein.«224 In der symbiotischen organischen Ganzheit zwischen dem Zaren und dem Volk entsteht die Frage nach dem Verhältnis zwischen den einzelnen Teilen. Anders als im Modell des organischen politischen Körpers, in dem die einzelnen Teile zusammenhängende und hierarchische Struktur aufweisen und den einzelnen Teilen, sprich sozialen Schichten, bestimmte Ränge in dem System zugewiesen werden, verschiebt sich das Konzept in Panarins Auslegung zum dualistischen Verständnis des politischen Körpers, in dem der Zar über die absolute Macht verfügt und die Untertanen gleich sind. Das hierarchische Prinzip nimmt hier in der Unterwerfung der Untertanen vor dem Herrscher Gestalt an. In diesem Konzept soll der Zar über die absolute Macht verfügen: Великий царь, воплощающий христоцентричный космический порядок, должен обладать величайшей государственной волей, необходимой для того, чтобы наименее вероятное в нашем земном греховном мире состояние правды-справедливости сделать реально возможным. Земным воплощением этой сакральной воли является воля к власти — абсолютной власти.225 (Der große Zar, der die Christus-zentrierte kosmische Ordnung verkörpert, muss den größten staatlichen Willen haben, der notwendig ist, um den Zustand der Wahrheit und Gerechtigkeit, der in unserer irdisch sündigen Welt am unwahrscheinlichen ist, zu ermöglichen. Die irdische Verkörperung dieses sakralen Willens ist der Wille zur Macht – zur absoluten Macht.)

222 223 224 225

Ebd., 280. Ebd., 212. Ebd., 274. Hervorh. i. Orig. Ebd., 284.

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Die Bojaren – in der Terminologie von Panarin eine archetypische Bezeichnung für die administrative und ökonomische Elite – können hinderlich für die Realisierung dieser Macht sein.226 Die Begrenzung der absolutistischen Macht durch diese Elite wird als Versuch der Machtusurpation wahrgenommen, was zu einer politischen Kollision führen kann. Deshalb soll der Zar die Elite in ihren Ansprüchen auf die Macht und nicht umgekehrt begrenzen. Dies soll durch »die Fusion von zwei sakralen Polen – der Gemeindewelt und des sakralen Zaren«227 gewährleistet werden. Auf diese Weise wird ein semantischer Gegensatz zwischen dem Zaren unterstrichen, der das Himmlische symbolisiert, und dem Volk, das für die Erde steht und mit der Erde verbunden ist. Panarins Konzeption des Zaren dient nicht nur als eine Verkörperung eines Gemeinwesens, sondern ebenfalls der Begründung des Absolutismus. Wenn auch Panarin zugibt, dass das archaische Institut der Monarchie den zeitgenössischen Tendenzen der Politik nicht entspricht, geht er davon aus, dass das Leben in Russland während der Monarchie stabiler als unter den Regimen der linken Westler (der Bolschewisten-Marxisten) oder der rechten Westler (extremer Liberaler) war.228 Die Konzepte von Dugin und Panarin ähneln sich in einem Punkt: Beide sprechen von der Vereinigung von Zar und Volk. Dies weist deutlich die Ähnlichkeit mit der von Ernst Kantorowicz beschriebenen mittelalterlichen politischen Theologie auf, wenn er die Entstehung der Parallele zwischen Christus und König analysiert. Die Metapher der Ehe zwischen dem König und dem Staat war von hoher Relevanz bei der Begründung des Konzepts zweier Körper des Königs, dessen Ursprung im Vergleich der dualen Natur des Herrschers mit den beiden Körpern Christi liegt  – »dem natürlichen und mystischen, dem persönlichen und dem korporativen, dem individuellen und dem kollektiven«229. Diese Gleichsetzung führte zu der Projizierung der Beziehungen zwischen Christus und seinem kollektiven Körper  – der Gemeinschaft der Gläubigen – auf die Beziehungen zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen, die letztlich in der Metapher der Ehe resultierte: »Die Kirche als überindividueller Körper Christi, der gleichzeitig ihr Haupt und ihr Gatte war, fand eine genaue Parallele im Staat als überindividuellen, kollektiven Körper des Fürsten, dessen Haupt und Gatte er zugleich war.«230 Neben der mittelalterlichen juristischen Tradition der zwei Körper des Königs wird die neo-eurasische Konzeption des Zaren ebenfalls auf die Vorannahmen gegründet, die auf die traditionelle Vorstellungen der Herrschaft 226 227 228 229

Vgl. ebd., 279, 285. Ebd., 287. Vgl. ebd., 215. Kantorowicz, Ernst Hartwig: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. Stuttgart 1990, 210. 230 Ebd., 228.

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in Russland zurückführen sind. Die Zwei-Körper-Lehre, wie von Kantorowicz formuliert, basiert auf der Annahme, dass der König einen natürlichen und einen politischen Körper in der mittelalterlichen Theologie hat. Sein natürlicher Körper sei demnach sterblich, anfällig für Krankheiten und weist die Nachteile auf, die ebenfalls den natürlichen Körpern anderer Menschen eigen sind. Unter dem politischen Körper fasst Kantotowicz einen unsichtbaren, mystischen Körper, der von einer übermenschlichen und heiligen Aura umgegeben und frei von jeglichen Mängeln ist. Diese zwei Körper bilden eine unsichtbare Einheit, jeder Körper enthält den anderen.231 In der russischen Monarchie hat die Sakralisierung des Herrschers, wie Michael Cherniavsky darstellt, eine andere Tradition. Erstmaligen Ursprung hat sie im Mythos des heiligen Fürsten. Während der Dualismus des königlichen Körpers eine Spannung zwischen einem sterblichen und einem politischen Körper sowie letztlich eine Separation zwischen der Person und dem Amt des Königs in der mittelalterlichen Tradition herbeiführte, lag die Spannung zwischen der göttlichen Natur der fürstlichen Macht und der heiligen Natur des russischen Fürsten als eines Menschen.232 Die theologisch-politische Konzeption des Fürsten setzte die Vorstellung des Fürsten als eine Nachahmung von Jesus Christus sowohl in seiner politischen Funktion als auch in seiner menschlichen Natur voraus.233 Im 16. Jahrhundert entsteht die politische Theorie des sakralen Zaren in Russland, die ihre Ursprünge im Byzantinischen Reich hat. Der Fall des Byzantinischen Reiches und die somit entstandene Konzeption »Moskau als Drittes Rom« machen den russischen Zaren zum Thronfolger des byzantinischen Imperators und in diesem Kontext wurde der russische Monarch als Haupt des letzten orthodoxen Reichs mit einer messianischen Rolle versehen.234 Wie Aleksandr Dugin bemerkt, setzte das byzantinische Modell der Macht die Sakralisierung des Zaren voraus, der als ein Hindernis für den Antichristen wahrgenommen wurde. Eine solche Vision des Herrschers, so argumentiert er, sei nach dem Fall Konstantinopels auf die russischen Zaren übertragen worden und sei in der Einstellung des russischen Volks gegenüber seinen Herrschern zu Teilen bis heute vorhanden.235 Die aus dem Byzantinischen Reich entlehnte Konzeption des Zaren setzte erstmals die duale Natur des Herrschers nach der Analogie mit der europäischen Tradition voraus.236 Doch mit der Übertragung dieses Konzeptes auf das mittelalterliche Russland wurde sie modifiziert. Die Theorie des heiligen 231 Vgl. ebd., 31–33. 232 Vgl. Cherniavsky, Michael: Tsar and people. New Haven 1961, 29.  233 Vgl. ebd., 34. 234 Vgl. Uspenskij, Boris A.: Semiotika istorii, semiotika kul’tury. Moskva 1996, 213. 235 Vgl. Dugin: Filosofija politiki, 112. 236 Vgl. Cherniavsky: Tsar and people, 46.

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Figurative Verfahren des (Neo-)Eurasismus

Fürsten, die die komplette Mimesis des Christen – heilig in Natur und heilig in Handlung – voraussetzte, wurde in die neue Konzeption des Zaren integriert.237 Mit dieser Integration erfolgte die Modifikation der dualen Natur des Zaren. Diese Verschmelzung von zwei Mythen hat die Spannung zwischen den zwei ungleichen Körpern des Zaren zerstört.238 Die Konzeption der dualen Natur des Zaren wurde nicht abgeschafft, sondern hat sich in die Vorstellung transformiert, in der die menschliche Natur genauso bedeutend wie die politische Natur des Herrschers geworden ist.239 In der russischen kulturellen Tradition hat der natürliche, sterbliche Körper des Zaren ähnliche sakrale Bedeutung wie sein politischer Körper. In dieser Hinsicht wurde der politische Körper in höherem Maß mit seinem natürlichen Körper als mit den Prinzipien der dynastischen Machtvererbung assoziiert. Der Neo-Eurasismus, der mit den Kategorien »Raum«, »Volk« und »Machtinstanz« operiert, gibt einerseits ihre im klassischen Eurasismus etablierten Bedeutungen wieder. Andererseits verleiht er ihnen neue semantische Konnotationen. Die gesellschaftliche Einheit, die im klassischen Eurasismus primär durch den alleinigen Träger der Macht verkörpert wird, soll laut den neoeurasischen Vorstellungen durch die Figur eines absolutistischen Herrschers repräsentiert werden. Die Bedeutung des Zentrums, das dem geografischen Raum Russlands zugeschrieben wird, wird im Neo-Eurasismus durch die Metapher der Brücke ergänzt, die die Zivilisationen des Westens und des Ostens verbindet. Die Metapher des Organismus, die die Integrität des eurasischen Raums und des Volkes voraussetzt, dient im Neo-Eurasismus darüber hinaus der rhetorischen Legitimation der imperialen Expansion Russlands.

237 Vgl. ebd., 51. 238 Vgl. ebd., 52. 239 Vgl. ebd.

4. Manifestationen imperialer Herrschaft in »Ukus angela« (1999) von Pavel Krusanov

4.1

Die Petersburger Fundamentalisten

Auf literarischer und öffentlicher Bühne bleibt die Entstehung der Gruppe der Petersburger Fundamentalisten Ende der 1990er-Jahre nicht unbemerkt. Die literarische Gruppierung, zu der unter anderem Sergej Korovin, Sergej Nosov, Nal’ Podal’skij, Vladimir Rekšan, Aleksandr Sekackij und Pavel Krusanov gehören, erklären sich zu »Legionären des unsichtbaren Imperiums«1. Sie vertreten die These, dass die imperiale Staatsform grundlegend und anderen sozial-kulturellen Organisationsformen übergeordnet ist.2 In den Vordergrund ihrer Ideen rücken sie die Ablehnung der westlich-liberalen Werte und die Ästhetisierung des Imperiums, das als einzige staatliche Organisationsform Russland für eine außerordentliche Mission mobilisieren kann.3 Zu einem weiteren ideologischen Grundkonzept der Gruppierung gehört der Neofundamentalismus, der im weitesten Sinne des Wortes als Orientierung an der Wiederbelebung einer tiefen Kulturtradition verstanden wird.4 Die Petersburger Fundamentalisten sind für die vorliegende Arbeit bedeutsam, weil der Neo-Eurasier Aleksandr Dugin zumindest für den Anfang ihrer Entstehung als möglicher Beeinflusser genannt wird.5 Es finden sich grundsätzliche Parallelen in den Ideen von Aleksandr Dugin und den imperialen Vorstellungen der Petersburger Fundamentalisten. Der Philosoph Aleksandr Sekackij, der als der Hauptideologe der Gruppierung gilt, stellt den Organizismus des Imperiums der mechanischen Staatlichkeit des Nationalstaates gegenüber. Das Imperium ist eine Art des Geistes, der durch Länder und Kontinente wandert und lediglich auf einen passenden Moment wartet, 1 Krusanov, Pavel: Legionery nezrimoj imperii. In: Krusanov, Pavel (Hg.): Nezrimaja imperija. Sankt-Peterburg. 2005, 5–14, hier 5. 2 Vgl. ebd., 9. 3 Vgl. Bol’šev, Aleksandr: Postmodernistskij imperialism peterburgskich fundamentalistov (k voprosu o roli eklektiki v sovremennoj russkoj kul’ture). In: Vestnik Leningradskogo gosudarstvennogo universiteta im. A. S. Puškina 1/2 (2015), 47–56, hier 49. 4 Vgl. Krusanov: Legionery nezrimoj imperii, 8. 5 Vgl. Breunig, Markus: Aleksandr Sekackij und der Petersburger Fundamentalismus: Subjektstrategien im postsowjetischen Raum. München 2013, URL : https://edoc.ub.unimuenchen.de/16922/1/Breunig_Markus.pdf (am 18.08.2016), 11.

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Manifestationen imperialer Herrschaft in »Ukus angela«

um sich zu verkörpern.6 Sekackij formuliert das grundlegende Prinzip der Organisation des politischen Körpers des Imperiums. Der Staat ist hier nicht lediglich eine Summe von Infrastrukturen, Befugnissen von Strafbehörden oder der Wert von Goldreserven – er ist eine geistliche Tat, die das Dabeisein der Bürger und die Erneuerung ihrer Anstrengungen erfordert.7 In der Theoretisierung des Imperiums geht Sekackij von der organischen Staatlichkeit des Imperiums aus, was in Metaphern wie der soziale Körper oder der Körperbau der Gesellschaft reflektiert wird.8 Diese Konzeptualisierung ist durchaus nah zu den organischen Vorstellungen des Imperiums von Dugin. Es wäre allerdings vereinfachend zu behaupten, dass es um eine einseitige Übernahme von Dugins Philosophie sowie der dahinterstehenden Paradigmen und Postulate geht. In diesem Fall geht es höchstwahrscheinlich um die parallele Entwicklung der diskursiven Ideologeme, die sich beieinander bedienen und beeinflussen. Darüber hinaus entzieht sich die Tätigkeit der Petersburger Fundamentalisten – betrachtet im gesamten Kontext ihrer öffentlichen Aktionen und literarischen Werke  – der eindeutigen ideologischen Zuordnung. Eine der bekanntesten Aktionen der Fundamentalisten war der öffentliche Brief an Vladimir Putin, der am 16. April 2001 in der Sankt Petersburger Manege vorgelesen wurde. In diesem Brief wird bspw. thematisiert, dass sich die territorialen Verluste unmittelbar auf die imperiale Selbstbestimmung auswirken. Demzufolge ist es die wichtigste Aufgabe, die sogenannten unsichtbaren Grenzen des imperialen Selbstbewusstseins – Zargrad, Bosporus, Dardanellen – zu verteidigen.9 Laut Audun Mørch ist die rhetorische Figur in diesem Brief eine Hyperbel, die an die hyperbolische Trope von Rabelais erinnert.10 Er bezeichnet dies als das posttotalitaristische Lachen, dessen Funktion darin besteht, die Russen von dem Gefühl der Scham und Erniedrigung zu befreien, die auf den Zerfall der Sowjetunion und das Chaos der 1990er-Jahre zurückzuführen sind.11 Ähnlich argumentiert Boris Noordenbos, der die Werke von Pavel Krusanov als Ausdruck der besonderen Form der Ironie – »stëb«(dt. etwa: Spott, 6 Vgl. Krusanov: Legionery nezrimoj imperii, 10. 7 Vgl. Sekackij, Aleksandr: Šans dlja imperii i sovremennyj sociogenez. In: Kul’tprosvet, 17.01.2014, URL : http://www.kultpro.ru/item_33/#11 (am 27.02.2019). 8 Vgl. Sekackij, Aleksandr: Imperskaja real’nost’ i imperskije strašilki. In: Kul’tprosvet, 17.01.2014, URL : http://www.kultpro.ru/item_33/#11 (am 04.03.2019). 9 Vgl. Krusanov, Pavel / Nosov, Sergej / Rekšan, Vladimir / Sekackij, Aleksandr / Stogov, Il’ja. Otkrytoje pis’mo Presidentu Rossijskoj Federazii gospodinu V. V. Putinu. In: Kul’tprosvet, 17.01.2014, URL : http://www.kultpro.ru/item_33/#1 (am 11.05.2017). 10 Vgl. Mørch, Audun J.: In Search of the Grand: Pavel Krusanov. In: Lindbladh, Johanna (Hg.): The Poetics of Memory in Post-Totalitarian Narration. Bd. 3: CFE conference paper series. Lund 2008, 127–137, hier 129. 11 Vgl. ebd.

Die Petersburger Fundamentalisten 

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Hohn)  – betrachtet.12 Als Stilmittel der Ironie verbreitete sich stëb in der Sowjetunion in den 1970er- und 1980er-Jahren und bezeichnete eine derartige Überidentifikation des Sprechenden mit einer Idee, dass sich nicht eindeutig feststellen lässt, ob es um eine Zustimmung mit dieser Idee, Ironie oder eine Kombination beider Aspekte geht.13 Laut Noordenbos haben Krusanov und andere neo-imperiale Schriftsteller die Mechanismen von stëb übernommen, sodass die Differenzierung zwischen Kunst und Politik, politischem Engagement und reflektierter Distanz, ironischer Überidentifikation und ernsthafter Beteiligung an der postimperialen russischen Identität verschwimmt.14 Die Überidentifikation von Krusanov mit den imperialen Ideen resultiert unter anderem daraus, dass sie eine groteske Form annehmen, die weit über die üblichen kursierenden öffentlichen Diskurse hinausgeht und die Ernsthaftigkeit des Geschriebenen und Gesagten infrage stellt. Both inside and outside his texts Krusanov nourishes and frustrates his readers’ desire to classify the author’s position. When he is writing fanatical pleas to President Putin to expand the borders of the Russian »empire«, or when he is publically fulminating against Russia’s most celebrated postmodernist authors (as we will see below), Krusanov adopts the ethos of a militantly committed writer, cultivating an image that extends to his imaginative fiction and thus affects the interpretation his readers will arrive at. At the same time, however, Krusanov’s extra-textual statements and the ideas expressed by his sympathetic characters are often pushed to the extreme, to the point where they become conspicuously absurd.15

Stëb als spielerisches literarisches Stilmittel kann erschweren, die Position des Autors eindeutig einer bestimmten Ideologie zuzuordnen. Durch die Dekontextualisierung, also die Einbettung von Symbolen in einen ungewöhnlichen Kontext, nimmt der Autor eine kritische Distanz zu dem dominierenden Diskurs ein, sodass dem Leser die bekannten Symbole und Ideen unbekannt, absurd oder sinnlos vorkommen.16 Der zuvor erwähnte Brief ist interessant, insofern er einige Momente aus dem Roman »Ukus angela« aufgreift und somit den Roman retrospektiv zu einer Art politisches Manifest macht. In der alternativen Geschichte des Romans werden Zargrad, der Bosporus, die Dardanellen und weitere Gebiete durch die expansive imperiale Politik besetzt. In dieser Hinsicht wird Pavel 12 Vgl. Noordenbos, Boris: Ironic Imperialism: How Russian Patriots are reclaiming postmodernism. In: Studies in East European Thought 63 (2011), 147–158, hier 149. 13 Vgl. Yurchak, Alexei: Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation. Princeton, Oxford 2005, 250. 14 Vgl. Noordenbos, Boris: Post-Soviet literature and the search for a Russian identity. New York 2016, 112. 15 Ebd., 118. 16 Vgl. Yurchak: Everything Was Forever, Until It Was No More, 252.

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Krusanov als rhetorischer Vermittler der Petersburger Fundamentalisten betrachtet.17 Die Ästhetik des imperialen Bewusstseins entfaltet sich in litera­ rischen Strategien seines Werkes, dessen Symbolhaftigkeit und Bildlichkeit das diskursive Feld des eurasischen Denkens mitgestalten.

4.2 Handlung, Erzählungsrahmen und Rezeption des Romans »Ukus angela« Der Roman »Ukus angela« erschien 1999 zuerst in der Zeitschrift »Oktjabr’« und wurde nach seiner erstmaligen Publikation als gebundene Ausgabe im Jahr 2000 mehrmals aufgelegt. Er ist der erste Teil einer Trilogie, zu der die Romane »Bom-Bom« (2002)18 sowie »Amerikanskaja dyrka« (2005)19 gehören, und bettet sich in die eurasische Denktradition ein, die die Gegenüberstellung zwischen einem asiatischen und einem europäischen Teil des Landes im russischen Selbstverständnis zu überwinden versucht. Der Roman, der ambivalente Reaktionen in der Öffentlichkeit hervorgerufen hat, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den ästhetischen und ideologischen Ideen der Petersburger Fundamentalisten. Krusanov hat die imperiale Zukunft Russlands beschrieben, die entweder als Phantasie der imperialen Größe Russlands oder als dystopische Geschichte wahrgenommen wurde. So sei »Ukus angela« »eine aggressive literatur-militärische Doktrin, ein Programm der Reconquista, das auf der Missachtung aller traditionellen

17 Vgl. Breunig: Aleksandr Sekackij und der Petersburger Fundamentalismus: Subjektstrategien im postsowjetischen Raum, 101. 18 Die Romane weisen keine inhaltliche Verbindung auf. Der Roman »Bom-Bom« erzählt die Geschichte der Adelsfamilie Noruškin, deren Pflicht über die Jahrhunderte hinweg war, eine mystische Glocke in einem unterirdischen Turm zu schützen. Im Fall von Gefahren und Katastrophen steigt der Hüter der Glocke in den Turm herunter. Der Klang der Glocke kann das Volk zu aktiven Handlungen bewegen. Im Werk handelt es sich um Andrej Noruškin, der allmählich von seiner Mission erfährt und aus Sankt Petersburg in seinen Heimlandsitz zurückkehrt. Die erzählte Zeitspanne des Romans umfasst mehrere Jahrhunderte und schließt bedeutsame Perioden der russischen Geschichte – das tatarisch-mongolische Joch, die Zeit der Wirren, den Ersten Weltkrieg und den Anfang des Zweiten Weltkrieges – ein. 19 Im Roman »Amerikanskaja dyrka« (»Das amerikanische Loch«) geht es um eine Firma, deren Ziel darin besteht, die geopolitische Balance in der Welt zu ändern. Der Zerfall der Sowjetunion wird auf die Entstehung eines Bohrloches auf der Kola-Halbinsel im Jahre 1970 zu Ehren des 100. Jubiläums von Lenin zurückgeführt. In der Tiefe von 12.000 Metern haben sich Bohrarbeiter anscheinend der Hölle genähert, was der Sowjetunion ein Ende gesetzt hat. Das Ziel der Protagonisten ist es, Amerika zu überzeugen, ein ähnlich tiefes Bohrloch zu bohren, damit Amerikas Weltherrschaft zu Ende geht.

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europäischen Werte basiert«20. Demgegenüber verweist Ol’ga Slavnikova auf die irrationale Natur des beschriebenen Imperiums und die Sinnlosigkeit der imperialen Expansion, die letztlich an ihre Grenzen stößt und zum Scheitern verurteilt ist.21 Wie Audun Mørch anmerkt, ist es möglich, das »böse« Imperium in »Ukus angela« als ein negatives Spiegelbild des »guten« Imperiums zu interpretieren, das sich sowohl der Autor als auch die Leser wünschen.22 Krusanovs Imperium ist nach Ol’ga Oriševa eine komplexe synthetische Konstruktion, in der sich Elemente des Magischen, politische Technologien, historische Realitäten des 20. Jahrhunderts und die Ästhetik des 19. Jahrhunderts erkennen lassen.23 In der fiktiven Welt des Romans geht es um das eurasische Imperium unter dem Namen »Hesperia«, in dem Russland leicht zu erkennen ist. Der Roman besteht aus fünfzehn Kapiteln, die vom Leben des Imperators Ivan Nekitaev in nicht-chronologischer Form erzählen. Die gesamte Dramaturgie des Romans kreist um das Jahr seiner Krönung. Die vorherigen und nächsten Kapitel enthalten sowohl retrospektive Blicke auf die Kindheit und die politische Karriere von Ivan Nekitaev als auch die Nekitaevs Geburt vorangehende Teilung des Imperiums. In Bezug auf die lineare Verknüpfung entsprechen lediglich das erste und das letzte Kapitel des Romans der chronologischen Reihenfolge der Ereignisse in der fiktiven Welt. Im ersten Kapitel geht es um die Geburt und das Erwachsenwerden von Ivan Nekitaev. Das letzte Kapitel thematisiert den mehr als sieben Jahre dauernden Krieg, in dem es – sogar mit der Anwendung von Atomwaffen  – niemandem gelingt, den Sieg zu erreichen. Schließlich trifft Ivan Nekitaev die Entscheidung, die Hunde von Hekate – außerirdische Wesen – trotz apokalyptischer Gefahr die Erde betreten zu lassen. Diese Abweichung der Fabel vom Sujet schafft den Eindruck von Unregelmäßigkeit und Zeitlosigkeit. Wie Krusanov in seinem Roman schreibt: »проблема империи – это проблема времени: история в империи должна остановиться…«24 (»das Problem des Imperiums ist das Problem der Zeit: die Geschichte muss im Imperium zum Stillstand kommen.«) Auf diese Weise entsteht der Eindruck, dass Ereignisse im Roman parallel und verzögert verlaufen. Durch die Diskrepanz zwischen der Ereignischronologie und dem Ablauf der erzählten Ereignisse überlagern sich verschiedene Zeitspannen. Im Roman gibt es keine eindeutigen Indizien, um welchen vergangenen oder eventuell zukünftigen Zeitraum es sich handelt. Allein die Erwähnung einiger 20 Danilkin, Lev: Ukus angela. In Afiša, URL: http://www.afisha.ru/book/28/review/144968 (am 15.01.2018). 21 Vgl. Slavnikova, Olga: Ja ljublju tebja, imperija. In: Znamja 12 (2000), 188–197, hier 197. 22 Vgl. Mørch: In Search of the Grand: Pavel Krusanov, 132. 23 Vgl. Oriševa, Ol’ga: Imperija »zrimaja« i »nezrimaja«: posil’nye razmyšlenija i teme Imperii v russkoj postsovetskoj fantastičeskoj literature. In: Topos 1–2(2016), 134–151, hier 145. 24 Krusanov, Pavel: Ukus angela. Sankt-Peterburg 2001, 191.

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historischer Tatsachen lässt die Ereignisse des Romans einem bestimmten historischen Zeitpunkt zuordnen.25 Immerhin weitet die Gesamtheit historisch-geografischer Verweise die temporalen Grenzen des Romans aus. Die historischen Ereignisse in Russland – wie die Vermietung von Alaska, die Eroberung des Kaukasus im 19. Jahrhundert, die Unterdrückung der Aufstände in Polen und Tschechien, die Andeutung des Prager Frühlings – schafft den Effekt eines Zeitmosaiks, in dessen Rahmen verschiedene Zeitepochen miteinander koexistieren. In seinem Roman spielt Krusanov mit den imperialen Ideen, die die Integrität und die Größe des geografischen Raums mit dem Funktionieren des imperialen politischen Körpers in Zusammenhang bringen. Bevor das Imperium seinen Willen zur Expansion verwirklicht, beschreibt Krusanov die Wirren, die das Imperium in zwei Teile aufspalten. Die Vorgeschichte handelt von einer Frau namens Kljukva, die symbolhaft die Revolution im Roman verkörpert. Kljukva, deren Geburt mit drei Zeichen von Naturkraft gekennzeichnet wurde und die in einem Zigeunerlager aufwuchs, begegnet im Alter von sechzehn Jahren einem Thronfolger, der zugleich Kriegsminister ist, und verliebt sich in ihn. Ihre Beziehung hört in dem Moment auf, als Kljukva, die die Fähigkeit aufweist, die Zukunft der Menschen vorherzusagen, den Imperator kennenlernt und erkennt, dass er bereits tot ist, was die anderen allerdings nicht realisieren. Sie wird deswegen in die Kreml-Wand eingemauert, doch gelingt es ihr zu fliehen. Anschließend reizt sie das Imperium zum Aufstand und erklärt dem Imperator den Krieg. Auf sie gehen imperatorische Regimenter über und der Imperator ist gezwungen, zu kapitulieren. Kljukva, die zur »Mutter und Hoffnung der Welt« (»Mat’ i Nadežda mira«26) wird, bringt ihren ehemaligen Liebhaber, den Sohn des Imperators, um und schließt einen Friedensvertrag mit dem Imperator. Sie teilt das Imperium in Hesperien mit der Hauptstadt Sankt Petersburg und Osten mit Moskau als Hauptstadt. Diese Teilung führt zu einem weiteren Zerfall des Imperiums. Hesperien verliert zuerst die westlichen Provinzen Polen, Mähren, Pannonien und Tschechien. Dann erklären Transkaukasien, Bulgarien und Rumänien ihre Unabhängigkeit. Danach trennen sich Finnland, Kurland und Litauen von Hesperien.

25 Brigitte Obermayr betrachtet den Innenausbau der St.-Georgs-Kirche in Sankt Petersburg als einen möglichen Datierungspunkt für die zeitliche Zuordnung des Romans. 1996 wurde der Innenausbau abgeschlossen. Im Roman wird dies als ein Ereignis genannt, das ein Jahr vor Nekitaevs Krönung liegt. Die Thronbesteigung von Nekitaev wäre also das Jahr 1997. (Vgl. Obermayr, Brigitte: Wunschgeschichten. Ansätze einer Typologie des Alternativhistorischen in der russischen Literatur seit 1990. In: Nicolosi, Riccardo / Obermayr, Brigitte / Weller, Nina (Hg.): Interventionen in die Zeit. Kontrafaktisches Erzählen und Erinnerungskultur. Paderborn 2019, 69–88, hier 83.) 26 Krusanov: Ukus angela, 195.

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»Еще немного, и Гесперия, преданная вассалами, распалась бы в пыль, в нично, но тут в Москве, в столице Востока, диковинной смертью умер Отец Империи.«27 (Noch eine Weile und Hesperien, von den Vasallen verraten, hätte sich in Staub, in nichts aufgelöst, aber genau zur selben Zeit in Moskau, in der Hauptstadt des Ostens, ist der Vater des Imperiums eines seltsamen Todes gestorben.) Seitdem wird das Land von zwei Konsuln regiert. Etwa ein Vierteljahrhundert nach den Ereignissen heiratet der russische General Nikita Nekitaev die Chinesin Džan, die Tochter des Fischladenbesitzers am Rande von Chabarowsk. Bald wird er auf die Krim versetzt und nimmt am Krieg mit der Türkei teil. In dieser Ehe werden zwei Kinder – Tanja und Ivan – geboren. Nikita Nekitaev stirbt gleich, nachdem Ivan gezeugt wurde. Ivans Mutter begeht Selbstmord nach seiner Geburt. Erzogen werden die Geschwister in der Familie eines Kreishauptmannes zusammen mit dessen Sohn Petr. Im Kadettenkorps, in dem Ivan militärisch ausgebildet wird, begegnet er einem Altgläubigen, mit dem er sich anfreundet. Der Altgläubige erklärt, dass Ivan dazu prädestiniert ist, Imperator zu werden, weil er ein unsichtbares Zeichen hat, als ob er von einem Engel gebissen ist. Im Alter von sechzehn Jahren kehrt er ins Familiengut zurück, in dem auch Petr und Tanja zu dieser Zeit zu Gast sind. Ivan verliebt sich in seine Schwester. Die Rivalität mit Petr, der ebenfalls in Tanja verliebt ist, wirkt sich auf ihre zukünftigen Beziehungen aus, die Ivan Nekitaev auf den Punkt mit folgenden Worten bringt: »Я буду делать, как захочу, а ты будешь объяснять, почему я поступаю правильно.«28 (»Ich werde so handeln, wie ich will, und du wirst erklären, warum ich mich richtig verhalte.«) Nach Ivans Abwesenheit von dreizehn Jahren treffen sich die Protagonisten wieder. Ivan, der inzwischen General geworden ist, fängt erneut eine Beziehung mit seiner Schwester an, obwohl diese mit Petr verheiratet ist. Immerhin hilft Petr mit seinem rhetorischen Geschick in der Wahlkampagne von Nekitaev, der zum Konsul von Hesperien wird. Die nächste Absicht von Petr ist, den zweiten Konsul des Imperiums Gavrila Brylin zu beseitigen, damit Ivan Nekitaev zum Imperator werden könnte. Dies führt allerdings zu Aufständen in den westlichen Teilen des Imperiums und letztlich zum Krieg zwischen Russland und dem Westen. Russland verbündet sich mit China. Ivan Nekitaev vereint das Land und ändert die innenpolitische Organisation des Imperiums. Die Parallelen mit anderen imperialen Romanen sowie mehrere intertextuelle Verweise zu der Ideologie der Petersburger Fundamentalisten lassen einige Forscher über die Zugehörigkeit des Werkes von Krusanov zum imperialen Roman sprechen. Der Begriff »imperskost’« (dt. etwa: »Imperialität«), den

27 Krusanov: Ukus angela, 27. 28 Ebd., 23.

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Rosalind Marsh in diesem Zusammenhang nutzt, bezieht sich auf die im postsowjetischen Russland entstandene Mischung von nostalgischen Gefühlen auf die zerfallene Sowjetunion, die Ablehnung der Globalisierung unter der Ägide des Westens und die Sehnsucht nach nationaler Größe.29 Pavel Krusanov ist es laut Marsh gelungen, die gegenwärtige politische und literarische Situation zu adaptieren, indem er in seinen Werken fantastische und esoterische Elemente mit imperialen Ambitionen kombiniert.30 Das Werk Pavel Krusanovs wird in dieser Hinsicht als ästhetische Fortsetzung der ideologischen Tätigkeit der Petersburger Fundamentalisten eingestuft. Die Problematik der Geschichte und der Erinnerung an die traumatische sowjetische Erfahrung erkennt Aleksandr Etkind im Roman.31 Für die postsowjetische fiktionale Prosa, die sich durch die Einführung von magischen Elementen und die Reflexion der Gegenwart durch das Prisma des katastrophalen Erbes der Sowjetunion auszeichnet, schlägt er den Begriff »Magischer Historismus«32 vor. Gespenster, Werwölfe und andere jenseitige Wesen in literarischen Werken sind verkörperte Nachhalle jener traumatischen Erfahrung, die bis jetzt im postsowjetischen Russland noch nicht reflektiert und nachgearbeitet wurde.33 »Ukus angela« ist ein Beispiel für diese Tendenz: Im letzten Kapitel des Romans geht es um die Hunde der Hekate, der mythischen Wesen, deren alleinige Erscheinung den Tod bringen kann. Der Roman wird zudem in Bezug auf die Zugehörigkeit zur postmodernen Prosa diskutiert. Diese Diskussion kann man allgemein hinsichtlich der Problematik des russischen Postmodernismus betrachten. Mark Lipoveckij verweist darauf, dass die Besonderheit des russischen Postmodernismus auf zwei Aspekte zurückzuführen ist. Der erste Aspekt beziehe sich auf den Bruch zwischen der Ästhetik des Postmodernismus und der Selbstbeschreibung des russischen literaturzentrischen Mythos, unter dem insbesondere die Suche nach dem transzendenten Absoluten und dem System der Sinnorientierung zu verstehen sei. Zweitens fehlen dem russischen Postmodernismus Elemente des westlichen postmodernen Diskurses als Folge der späten Phasen der Kultur der Moderne.34 Diese Merkmale bestimmen, wie Mark Lipoveckij konstatiert, die Eigenartigkeit des russischen Postmodernismus.35 Existent sind jedoch 29 Vgl. Marsh, Rosalind J.: The »New Political Novel« by Right-Wing Writers in Post-Soviet Russia. In: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 14/1 (2011), 159–187, hier 169. 30 Vgl. ebd. 31 Vgl. Etkind, Aleksandr: Krivoe gore. Pamjat’ o nepogrebennych. Moskva 2016, 293. 32 Ebd., 276. 33 Vgl. ebd., 293. 34 Vgl. Lipoveckij, Mark: Paralogii. Transformacii (post)modernistskogo diskursa v russkoj kul’ture 1920–2000-ch godov. Moskva 2008, 2–5. 35 Vgl. ebd., 9.

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ebenso, wie Lipoveckij bemerkt, Elemente, die den russischen Postmodernis­ mus dem westlichen Kanon annähern. Diese sind die Unterminierung der formellen Organisation, die Illusion des Chaos, das spontane, manchmal sinnlose Spiel von Diskursen, Symbolen und Fragmenten symbolischer Ordnungen.36 In dieser Hinsicht spielt der Roman »Ukus angela« auf dem Niveau der Komposition mit den erzählenden Strategien, indem die Ereignisse in quasi zufälliger Ordnung wiedergegeben werden. Überdies benutzt, wie Mark Lipoveckij bemerkt, Krusanov das Verfahren historiografischer Metafiktion, die für den Postmodernismus typisch ist, und bezieht eine Reihe von neomythologischen Gestalten ein.37 Die Besonderheit des russischen Postmodernismus sieht Mark Lipoveckij im paralogischen Kompromiss binärer oder ternärer Modelle. Dies werde vor allem darin ausgedrückt, dass die postmoderne Unterminierung der Binarität in Konflikt mit der dominierenden Dualität der russischen Kultur gerate. Im russischen Postmodernismus kommen philosophische und ästhetische Kategorien miteinander in Berührung, die in avantgardistischen, realistischen und anderen Kontexten grundsätzlich unvereinbar seien. In diesem Zusammenhang werden Einheiten der mehr oder weniger stabilen binären Oppositionen wie bspw. das Eigene / das Andere oder Kosmos / Chaos in einen einheitlichen semantischen Raum eines Sujets, eines Motivs, einer Gestalt oder einer Phrase zusammengezogen.38 Die Wechselbeziehung zwischen traditionellen Oppositionen bringt eine Reihe von semantischen »Explosionen« hervor, die entweder zu der Auflösung antagonistischer Kategorien oder zu der Verfestigung des Konflikts führen können.39 In »Ukus angela« werden binäre Oppositionen, wie zu zeigen ist, insbeson­ dere in der Gestalt des Imperators Ivan Nekitaev präsent. Eine binäre Opposition betrifft die Gegenüberstellung zwischen der russischen und der chinesischen Kultur, die sich im Kontext der eurasischen Identität Russlands entfaltet. Dies verweist uns im Rahmen der Auseinandersetzung mit Krusanovs Roman auf die Parallele zwischen der Gestalt des Imperators und der Beschaffenheit des Imperiums und wird im Folgenden näher erläutert.

36 37 38 39

Vgl. ebd. Vgl. ebd., 492. Vgl. ebd., 52. Vgl. ebd., 53.

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4.3 Der politische Körper des Imperators 4.3.1 Die Ambivalenzen des Asiatischen

Die Gestalt des Imperators und die politische Organisation des eurasischen Imperiums stehen in unmittelbarem Zusammenhang und beeinflussen sich im Roman gegenseitig. Die Idee des eurasischen Imperiums zeigt sich in Motiven, zu denen die Eroberung des geografischen Raums, die Überwindung der Teilung des Lands in Osten und Westen und die militärisch-politische Union mit China gehören. Auch baut das Konzept des Imperiums auf die im russischen Bewusstsein existierenden Kulturmodelle auf, die mit bestimmten historischen Gestalten verbunden sind. Im Imperator Ivan Nekitaev sind die Züge jener Herrscher zu sehen, die in der russischen Geschichtsschreibung als Gründer mächtiger Staaten bekannt sind, z. B. Dschingis Khan oder Ivan  IV.40 In der Figur von Ivan Nekitaev wird die Idee des gemeinsamen russischen und asiatischen Raums durch die metonymische Gleichsetzung des Imperiums mit seinem politischen Repräsentanten personifiziert. Im Nachnamen »Nekitaev« ist die Zugehörigkeit zur asiatischen Zivilisation auf der sprachlichen Ebene durch das Präfix »Ne« (»Nicht«) zwar verneint. Der Stamm des Worts »Kitaev« (»Chinesisch«) deutet allerdings auf die chinesische Herkunft hin. Tatsächlich ist er der Sohn eines russischen Generals und einer Chinesin. Retrospektiv wird seine Geburt am Schnittpunkt zweier Länder – Russland und China – beschrieben: – Это темное место, – честно призналась ворожея. – А сто лет назад оптинский старец Назарий предсказал, что новый поводырь мира, влекущий народы сквозь страх, родится между молотом России и наковальней Поднебесной и что зачат он будет от мертвого, выносит его рыба, а дерево, пока он будет мал и слаб, даст ему кров и исхоронит от непогоды.41 (»Das ist eine dunkle Stelle«, die Wahrsagerin räumte es ehrlich ein, »vor hundert Jahren sagte der Älteste Nasarij aus Optina voraus, dass ein neuer Führer der Welt, der die Völker durch Angst führt, zwischen dem Hammer Russlands und dem Amboss des Reiches der Mitte geboren wird. Gezeugt wird er von einem Toten, ausgetragen wird er von einem Fisch, ein Baum wird ihm Unterkunft geben und vor Unwetter schützen, während er klein und schwach ist.«)

40 Vgl. Pachomova, Svetlana: Mifologizacija hudožestvennogo prostranstva v romane Pavla Krusanova »Ukus angela«. In: Achmetova, Galina D. (Hg.): Meždunarodnaja naučnaja konferencija »Sovremennaja filologija«. Ufa 2011, 112–114, hier 113. 41 Krusanov: Ukus angela, 265.

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Die Namensambiguität von Nekitaev – betrachtet im Kontext des (neo-)eura­ sischen Diskurses  – verweist einerseits auf die Behauptung des asiatischen Ursprungs in der kulturellen und politischen Identität des Imperiums im Roman, andererseits aber auch auf eine gewisse Abgrenzung von Asien und die Begründung seines eigenen, einzigartigen Entwicklungsweges. Nicht nur die sprachliche Ambiguität des Namens, sondern auch die räumliche Mobilität der Protagonisten reflektiert das Schwanken von Ivan Nekitaev zwischen der europäischen und asiatischen Kultur. Ivans Eltern Nikita Nekitaev und Džan die Dritte lernen sich kennen und heiraten in Chabarowsk, nahe der chinesischen Grenze. Gezeugt wird Ivan in Simferopol auf der Krim, die sich ebenfalls durch kulturelle Ambiguität auszeichnet. In Porchov, einer Stadt in Nordwestrussland, die als Festung zum Schutz in den Auseinandersetzungen mit dem Großfürstentum Litauen gegründet wurde, verbringt Ivan Nekitaev seine Kindheit. In dieser Hinsicht verkörpert die räumliche Mobilität der Eltern die Unentschlossenheit von Ivan Nekitaev zwischen den europäischen und asiatischen Kulturen. Die räumlichen Randpunkte des russischen Imperiums symbolisieren die kulturellen Grenzerfahrungen des Protagonisten. Dabei ist das Chinesische Ivan Nekitaevs ambivalent. Während die chinesischen Züge seiner Schwester Tanja im Roman deutlich zutage treten, befindet sich Nekitaev, der seinem russischen Vater ähnlich ist, im Oszillierungsmodus zwischen dem Russischen und dem Chinesischen. Geboren von einer Chinesin wird er jedoch in der russischen Kultur sozialisiert. In seinem scheinbar gewöhnlichen Erwachsenwerden weist er einen Charakterzug auf, der später zu seinem Charakteristikum wird: Grausamkeit. Bereits als Kind zeigt er Gleichgültigkeit gegenüber Lebewesen und quält Tiere.42 Parallelen dieser Grausamkeit finden sich in der Beschreibung der chinesischen Kultur. Als Nekitaev über die Intrige von Petr Legkostupov erfährt, droht er ihm mit der Todesstrafe.43 Die später folgende Todesstrafe wird auch auf eine chinesische Tradition zurückgeführt. Petr Legkostupov wird ertränkt. Dies wird beschrieben als »die ganze Leiche zu schenken«: Чертов китай! Цыси  – императрица и мать императора Гуансюя  – однажды облагодетельствовала любимую наложницу сына Чжэнь. […] Цыси даровала ей почетную смерть, которая на кудреватом китайском называлась »пожаловать целый труп«, – иначе говоря, ее милостиво не стали крошить на части. Чжэнь утопили в колодце.44

42 Vgl. ebd., 14. 43 Vgl. ebd., 324. 44 Ebd.

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(Verdammtes China! Cixi – die Kaiserin und Mutter von Kaiser Guangxu – erwies der Lieblingskonkubine des Sohns Zhen einmal eine Wohltat. […] Cixi bescherte ihr einen ehrenvollen Tod, der im gedrechselten Chinesischen hieß: »Gewähre die ganze Leiche«. Mit anderen Worten, sie wurde gnädigerweise nicht zerstückelt. Zhen wurde in einem Brunnen ertränkt.)

Krusanov bedient sich im Roman jener imaginierten Wahrnehmung Chinas, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend mit Despotie und Gewalttätigkeit in Verbindung gebracht worden ist. Grausamkeit, die in Nekitaevs Gewaltakten zuerst gegenüber den Tieren, dann auch den Menschen durchschlägt, wird zum Charakteristikum der imperialen Expansion. Die Mission des Imperiums, das Gesetz der vorherigen Zivilisation außer Kraft zu setzen und die neue symbolische Ordnung zu etablieren, führt zu der Zeitperiode, in der nicht alte oder neue Gesetze, sondern Kräfte des Horrors, der Zerstörung und des Chaos triumphieren.45 Gewalt wird zum intrinsischen Charakteristikum des Imperiums. Das Oszillieren von Nekitaev zwischen der chinesischen und der russischen Kultur wird ferner in den Beziehungen von Nekitaev mit Petr Legkostupov offenbar. Sie symbolisieren zwei Mächte, wie Igor’ Smirnov bemerkt: eine militärische und eine intellektuelle, die der militärischen Macht den Aufstieg ermöglicht. Zwei Mächte sind so dargestellt, dass die zweite offenkundig als schwächere gegenüber der ersten auftritt und diese bedient.46 Durch die Wahl der Berufe von Nekitaev und Legkostupov ist die kulturelle Nähe zur russischen / europäischen bzw. asiatischen Zivilisation angedeutet. Während Petr Legkostupov an der Universität Philosophie, romanische und slawische Philologie studiert47, setzt Ivan Nekitaev die militärische Karriere fort und übernimmt dabei die Prinzipien von Dschingis Khan: Если провинился солдат, я наказываю всю роту. Если провинилась рота, я наказываю батальон. Не децимация, но все же… Кроме того, дезертиров я расстреливаю, а словленным перебежчикам велю ломать хребет, как было заведено в туменах Чингисхана.48 (Wenn ein Soldat eine Straftat begangen ist, bestrafe ich die ganze Kompanie. Wenn eine Kompanie eine Straftat begangen hat, bestrafe ich das Bataillon. Kein Dezimation, trotzdem … Außerdem erschieße ich Deserteure und lasse den gefangenen Verrätern die Wirbelsäule brechen, wie es in den Tumen von Dschingis Khan gebräuchlich war.)

45 Vgl. ebd., 164. 46 Vgl. Smirnov, Igor’: Oliteraturennoe vremja. (gipo)teorija literaturnych žanrov. SanktPeterburg 2008, 221. 47 Vgl. Krusanov: Ukus angela, 14. 48 Ebd., 124.

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Am Beispiel der Figur von Ivan Nekitaev drückt sich die Ambivalenz des eurasi­schen Verständnisses der Rolle Asiens in der russischen kulturellen Selbstrepräsentation aus. Der Einfluss der Goldenen Horde, der im Eurasismus als Schlüsselfaktor in der Konstituierung der russischen Staatlichkeit betrachtet wird, wird im Roman durch die symbolische Nebeneinanderstellung von Ivan Nekitaev und Dschingis Khan affirmativ bestätigt. Die Imaginationen Chinas schwanken zwischen den Konstruktionen des Fremden und des Eigenen. Zum einen ordnet sich die dämonisierende Darstellung Chinas in die Kategorie des Fremden ein. Zum anderen drückt sich die Einbeziehung Chinas in die politische und kulturelle Identität Russlands in der Gestalt Ivan Nekitaevs aus, der das Imperium repräsentiert und im Namen und anstelle des Gemeinwesens auftritt. Im Roman entfaltet sich ferner die Problematik des russisch-chinesischen Verhältnisses am Beispiel der Beziehung zwischen Ivan Nekitaev und seiner Schwester Tanja. 4.3.2 »Blut zweier eurasischer Imperien«

Ivan Nekitaev beginnt im Alter von sechzehn Jahren eine Beziehung mit Tanja. Dies hat eine symbolische Bedeutung für den politischen Körper des Imperators und des Imperiums. Inzest ist in den meisten Kulturen ein gesellschaftliches Tabu. In seinem Werk »Totem und Tabu« setzt sich Sigmund Freud mit dem Inzesttabu und dem Beginn der Kultur in Abgrenzung zur Natur auseinander. Laut Freud ist das Inzesttabu ein komplexes Phänomen und markiert den Ursprung einer symbolischen Ordnung.49 Für den Ethno­logen Claude Lévi-Strauss ist das Inzesttabu eine Brücke zwischen der Natur und der Kultur. Lévi-Strauss argumentiert, dass das Inzesttabu einen Übergang von dem Zustand der Natur zum Zustand der Kultur symbolisiert, indem es natürliche Verwandtschaften durch soziale Allianz ersetzt.50 Den beiden Konzepten ist gemeinsam, dass sie dem Inzesttabu eine tragende Rolle im Entstehen der Kultur zuschreiben. Für Lévi-Strauss und Freud ist das Inzesttabu eine Regel, die die Kultur und die Natur voneinander unterscheidet. Das Inzesttabu ist 49 Freud betrachtete das Inzesttabu im Sinne seiner Rolle im Übergang von einer primitiven zu einer eher organisierten Gesellschaft. Er geht davon aus, dass Menschen in einem vorkulturellen Zustand eine natürliche Inzestneigung aufweisen, was eine potenzielle Gefahr für die Stabilität einer Familie und als Folge der ganzen Gesellschaft darstellt. Das Inzesttabu entstand, um sexuelles Potenzial in Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Familie zu minimieren und eine Distanz zwischen ihnen zu schaffen. (Vgl. hierzu Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. Bd. 9: Gesammelte Werke. 2. Aufl. London 1948, 145–176.) 50 Vgl. Lévi-Strauss, Claude: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt am Main 1981, 80 f.

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entscheidend im Prozess der Vergesellschaftung und in der Herstellung der sozialen Ordnung. Es gehört demnach zu den grundlegenden Wirkmechanismen für die Organisation einer Gesellschaft. Indem Ivan Nekitaev und Tanja das Inzesttabu brechen, begehen sie einen Anschlag auf die existierende symbolische Ordnung: Трудно поверить, но в итоге эта злая шалось кровью умыла империю и ввергла народы в бездну такого ужаса, какой вряд ли рассчитывал отыскать на палитре жизни-ада безвредно умствующий предводитель.51 (Es ist kaum zu glauben, aber dieser böse Streich wusch letztlich das Imperium mit Blut und stürzte die Völker in die Tiefe eines solchen Grauens, den der harmlos philosophierende Adelsmarschall kaum erwartete, auf der Palette der Lebenshölle zu finden.)

Darüber hinaus bietet die Beziehung zwischen Tanja und Ivan eine weitere Erklärung in diesem Kontext. Tanja symbolisiert im Roman die Zugehörigkeit zu der chinesischen Kultur. Sie wird oft als Wang Jitian benannt. In der chinesischen Mythologie ist Wang Jitian eine Dienerin der ältesten chinesischen Gottheiten Xi Wangmu, die in den alten Mythen die Herrscherin des Landes der Toten ist und allgemein als Symbol der Transzendenz verstanden wird. Wang Jitian tritt in der chinesischen Mythologie als Vermittlerin zwischen dem himmlischen und dem irdischen Reich auf und erfüllt die Aufträge von Xi Wangmu. Tanjas Spitzname »Wang Jitian« ist eine Andeutung in Bezug auf ihre transzendente mediatorische Rolle.52 Sie findet ihre Verwirklichung ebenfalls in einer Allianz zwischen Russland und China. Darüber hinaus verweist Tanjas Mittlerrolle implizit darauf, dass diese als ein Bündnis mit jenseitigen Kräften gedeutet werden kann. In dieser Hinsicht wird China die Rolle eines übernatürlichen Raumes zugewiesen. In der imperialen Expansion Russlands tritt Tanja als wichtige Akteurin auf. Um den zweiten Konsul des Imperiums Gavril Brylin zu beseitigen, lässt Legkostupov Nekitaev an eine Affäre zwischen Tanja und diesem glauben. Wütend und eifersüchtig beschuldigt Nekitaev seinen angeblichen Rivalen, der sich mittlerweile in dem englischen Konsulat in Warschau versteckt, des Staatsverrats. England zusammen mit Frankreich und den USA bieten den Westprovinzen Russlands Unterstützung unter der Bedingung, dass sie Partei für den Konsul Gavril Brylin ergreifen, was zum Aufstand von Polen, Böhmen und Mähren führt und letztlich einen langjährigen Krieg zwischen Russland und dem Westen provoziert. China tritt an der Seite Russlands auf und wird zu einem militärischen Verbündeten im Krieg gegen den Westen. 51 Krusanov: Ukus angela, 16 f. 52 Vgl. Breeva, Tat’jana: Nacional’nyj mif v russkom istoriosofskom romane situacii rubežnosti. Soderžanie i struktura. Saarbrücken 2011, 385.

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In den Verhandlungen mit China, das einen Pakt mit Russland abschließen will, füllt Tanja dank ihres »chinesischen Hintergrunds« eine mediatorische Funktion aus: – Постой, – спохватилась Таня. – В Петербурге меня просил о встрече китайский посланник. Видимо, он посчитал, что я лучше твоих дипломатов пойму его иносказания. По причине, так сказать, породы… Он намекал, что Поднебесная готова заключить с тобою пакт. Вполне невинный, но с тайными дополнениями. Китайцев отчего-то не устраивают их нынешние границы.53 (»Halt«, sagte Tanja, »in St. Petersburg bat mich der chinesische Gesandte um ein Treffen. Anscheinend dachte er, dass ich besser als deine Diplomaten seine Allegorien verstehen würde. Aufgrund von Blut sozusagen … Er deutete an, dass das Reich der Mitte bereit ist, einen Pakt mit dir zu schließen. Völlig harmlos, aber mit geheimen Zusätzen. Aus irgendeinem Grund sind die Chinesen mit ihren derzeitigen Grenzen nicht zufrieden.«)

Die Beziehung von Nekitaev mit Tanja, die als eine symbolische Allianz mit China gedeutet werden kann, schlägt in eine zwischenstaatliche Dimension der Union zwischen Russland und China um, was letztlich eine Expansion des Imperiums symbolisiert. Im Inzest offenbart sich auch die Problematik der politischen Körperschaft durch die metaphorisch-metonymischen Beziehungen. Der menschliche Körper ist nicht nur ein Vorbild für oder Vergleichsobjekt mit dem politischen Körper, sondern auch ein Teil von ihm.54 In dieser Hinsicht erfüllt das Blut durch die metonymische Übertragung die Funktion des individuellen menschlichen Körpers, der im Zusammenfügen mit anderen individuellen Körpern zu einer überindividuellen Einheit gelangt und damit die zweite Dimension der Körperschaft  – die Vergemeinschaftung  – bildet.55 Die Bedeutung der Beziehung zwischen Tanja und Nekitaev geht über diese Dimension hinaus: Die Vereinigung »eurasischer Blute« ist eine notwendige Voraussetzung für die Herausbildung des politischen Körpers von Ivan Nekitaev. – Внутренний царь стремится выйти из экрана наружу, как выходит стрекоза из личинки, но, чтобы достроить себя, чтобы замкнуться в совершенный алхимический круг, чтобы взрастить в себе алого льва преображения, он должен слиться с такой же кровью, какую несет в себе сам. Тяга эта выше и сильнее его, а кровь, признаться, унего редкая – кровь двух евразийских империй… – Гадалка посмотрела на Таню. – В точности как у вас.56 53 Krusanov: Ukus angela, 274. 54 Vgl. Koschorke / Lüdemann / Frank / Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, 66. 55 Vgl. ebd. 56 Krusanov: Ukus angela, 266.

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(»Der innere Zar strebt danach, aus dem Schirm nach außen zu treten, wie eine Libelle aus einer Larve hervortritt. Aber, um sich zu vervollständigen, um sich in einen vollkommenen alchimistischen Kreis zu schließen, um in sich selbst einen blutroten Löwen der Transfiguration heranzuzüchten, muss er mit demselben Blut verschmelzen, das er in sich trägt. Diese Sucht ist höher und stärker als er, und ehrlich gesagt, sein Blut ist selten – das Blut zweier eurasischer Imperien …«, die Wahrsagerin sah Tanja an, »genau wie bei Ihnen«.)

Die zitierte Passage lässt noch eine Lesart zu: Der von Pausanias beschriebene Narziss verliebt sich in sein eigenes Spiegelbild57, da es ihn an seine tote Zwillingsschwester erinnert. Die Eigenliebe zu seinem Spiegelbild erscheint als der Wunsch nach der »imaginären idealen Ganzheit«58. Tanja hat nicht vor, ihrem Bruder Widerstand zu leisten: »Ведь их желания совпадали не только в обоюдном преступном влечении, но и тщеславные помыслы их были почти зеркально схожи.«59 (»Ihre Wünsche stimmten doch nicht nur in gegenseitigem sündhaftem Trieb überein, sondern auch ihre ehrgeizigen Gedanken waren fast spiegelgleich.«) Der beschriebene Narziss-Mythos stellt damit die Sehnsucht nach der imaginären eigenen Ganzheit dar, die allein aus der Beziehung mit einem spiegelhaften Doppelgänger entstehen kann. Die Liebe Ivans zu seiner Schwester Tanja, die dasselbe und seltene Blut zweier eurasischer Imperien in sich trägt, stellt ein Begehren nach Einheit und der Rückkehr zur Geschlossenheit dar. Wie die Geschwistereinheit im NarzissMythos zum Bild vollständiger Identität und Untrennbarkeit ist60, ist Ivans Beziehung mit Tanja die Sehnsucht nach der Rückkehr zur eurasischen Einheit, die aus dem Russischen und dem Chinesischen resultiert. Die Beziehung zwischen Tanja und Ivan ordnet sich darüber hinaus in die symbolische Verbindung des Weiblichen und des Männlichen ein, was im Roman mehrere Analogien findet. Auf figurativer Ebene entsteht das Imperium durch die Ehe zwischen dem Imperator und der Erde – eine Anspielung auf Dugins Thesen. 57 Die Spiegelmotive begegnen uns in »Ukus angela« immer wieder. Die Spiegelproblematik wird in den Ausführungen von Tanja expliziert, als sie bemerkt, dass das Leben jeder Idee eine Galerie ihrer Bilder in Zerrspiegeln ist. (Vgl. Krusanov: Ukus angela, 230). Das Spiegelmotiv in Anlehnung an den Narziss-Mythos entfaltet sich in der Beschreibung von Sankt Petersburg, das mit Narziss verglichen wird, dessen Eifersucht auf den gespiegelten Doppelgänger die ganze Petersburger Metaphysik hervorgebracht hat. (Vgl. Krusanov: Ukus angela, 54 f.) 58 Grabbe, Katharina: Geschwisterliebe. Verbotenes Begehren in literarischen Texten der Gegenwart. Bielefeld 2005, 23. 59 Krusanov: Ukus angela, 96. 60 Vgl. Grabbe: Geschwisterliebe. Verbotenes Begehren in literarischen Texten der Gegenwart, 23.

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– Царство истое, не оплошное, не иначе родиться может, как от иерогамии, священного брака меж землею и небесами. Женич, помазанник небесный, и есть тайный государь, а невеста – держава земная со всеми ее обитателями.61 (Nicht das falsche, sondern das wahre Reich kann nicht anders als von der Hiero­ gamie – einer heiligen Ehe zwischen Erde und Himmel – geboren werden. Der Bräutigam, der himmlische Gesalbte, ist der geheime Herrscher, und die Braut ist das irdische Land mit all seinen Bewohnern.)

Die buchstäbliche Vereinigung des Männlichen und des Weiblichen erfährt in der Figur des Fürsten Koškin Realisierung. Mithilfe von Badnjak, den Nekitaev erstmals als einen Altgläubigen im Kadettenkorps kennenlernt, setzt Nekitaev in den Fürsten Koškin die Seele von Kaurka ein – einer ehemaligen Geliebten Nekitaevs, die er einige Zeit zuvor aus dem Flugzeug herausgestoßen hatte. Kaurka symbolisiert ein Opfer, das Tanja von ihrem Bruder fordert, als er die Beziehung mit ihr wiederaufnehmen will. Um Ivan vor der Rache von Kaurka zu schützen, deren Seele nach dem Tod in Sankt Petersburg auftaucht, setzt Badnjak ihre Seele in den Körper des Fürsten Koškin: Бадняк вложит в тебя Кауркину душу, и ты станешь совершенным, – обрадовал князя Иван. – Как Адам Кадмон, ты вместишь в себя обе сущности и овладеешь изначальной полнотой.62 (»Badnjak wird Kaurkas Seele in dich stecken und du wirst vollkommen sein«, Ivan erfreute den Fürsten, »wie Adam Kadmon wirst du beide Wesen aufnehmen und die ursprüngliche Vollständigkeit beherrschen.«)

Dies führt zu den unausweichlichen Veränderungen im Körper und im Geiste des Fürsten. Er verwandelt sich in ein geschlechtsloses Monster und verliert den Verstand. Sein einziger Wunsch besteht darin, sich mit allem Essbaren mithilfe eines auf seinem Bauch gebildeten Rachens vollzustopfen. тело его так переродилось, что теперь он мог, не сгибаясь, достать руками до коленей, спина его между лопаток заросла тугим мясом, а на ногах просияли диковинные колеса – по два на каждой подошве. Однако, помимо этих знаков совершенства, жестокий опыт оставил на теле князя еще одну печать – на месте пупка у него развился зев, напоминающий миножью пасть.63 (sein Körper hat sich so umgewandelt, dass er nun ohne Bücken mit seinen Händen seine Knie erreichen konnte; sein Rücken zwischen den Schulterblättern war mit ­festem Fleisch überwuchert und ausgefallene Räder traten an den Füssen heraus –

61 Krusanov: Ukus angela, 78. 62 Ebd., 154. 63 Ebd., 210.

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zwei an jeder Sohle. Doch neben diesen Zeichen der Vollkommenheit hinterließ das grausame Erlebnis noch ein weiteres Siegel am Körper des Fürsten – anstelle des Nabels entwickelte er einen Schlund, der einem Maul von Neunaugen ähnelte.)

Er wird zum Narren bei Ivan Nekitaev. Im Roman fungiert die Figur von Koškin als Doppelgänger von Nekitaev. In diesem Fall geht es in Anlehnung an die Theorie der Lachkultur von Michail Bachtin um einen parodierenden Doppelgänger64, dessen Funktion die Idee der Ganzheit als eine Vereinigung des Weiblichen und des Männlichen entlarvt. Das karnevalistische Lachen ist laut Bachtin ein Bestandteil des Krisenzustands und richtet sich auf den Wechsel der Weltordnung, der oft von Tod und Wiedergeburt begleitet wird.65 Ivan Nekitaev lernt den Fürsten Felix Koškin bei einem Empfang in dessen Haus kennen. Aus Scherz trifft Nekitaev den Fürsten mit einer falschen Kugel. Die Anwesenden denken, er sei tot. Erst einige Minuten später, als der Fürst Lebenszeichen erkennen lässt, ist allen bewusst, dass Nekitaev einen Streich gespielt hat. In dieser Hinsicht kann diese Szene als ein symbolischer Tod interpretiert werden. Später, als Kaurkas Seele in den Körper von Koškin eingeschlossen wird, kann Koškins Umwandlung als symbolische Wiedergeburt gelesen werden. Koškin verkörpert die Vereinigung des Männlichen und des Weiblichen, das bei Nekitaev für die Thronbesteigung laut der Wahrsagerin essenziell ist. Die Kategorie des Männlichen, die von Dugin in einer semantischen Reihe zusammen mit Herrscher benutzt wird, wird im Roman durch die Kategorie des Weiblichen ergänzt. Das Weibliche wird nicht nur allegorisch in Bezug auf das Imperium angewandt, sondern in das semantische Feld eingeführt, das den politischen Körper des Imperators charakterisiert. Darüber hinaus wird in der Gegenüberstellung »Nekitaev – Koškin« das Oppositionspaar »erhaben – lächerlich« Wirklichkeit. Nekitaev verkörpert die unersättliche Bestrebung des Imperiums, so viel wie möglich vom umgebenden Raum in seinen Einflussbereich zu inkorporieren. Doch darin ist gleichzeitig etwas Fatales und Tragisches vorhanden. Koškin zeichnet sich desgleichen durch den Wunsch aus, so viel Nahrung wie möglich zu sich zu nehmen, was aber lächerlich und komisch aussieht. Nach seiner Wiedergeburt verliert der Fürst seinen Verstand. Seine Fressgier scheint ebenso sinnlos zu sein wie Nekitaevs Wahnsinnstaten bei imperialen militärischen Eroberungen.

64 Vgl. Bachtin, Michail: »Problemy poėtiki Dostoevskogo«, 1963. Raboty 1960-ch – 1970-ch gg. Bd 6. Sobranije sočinenij. Moskva. 2002, 143. 65 Vgl. ebd.

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4.3.3 Der Dualismus »heilig – diabolisch«

Die Legitimation der Thronbesteigung von Ivan Nekitaev ist nicht durch seine Herkunft, sondern durch transzendente Handlung begründet. Nekitaev wird zum Imperator, da er durch den »Biss des Engels« dazu prädestiniert ist. Der Titel des Romans »Ukus angela« (»Der Biss des Engels«) rekurriert auf einige idiomatische Wendungen in der russischen Sprache. Besonders die Redewendung »Bog / angel poceloval v temečko« (»Gott / Engel hat auf den Scheitel geküsst«) ist anzuführen, die verwendet wird, um auf spezielle Begabungen einer Person zu verweisen. Auf der anderen Seite steht die Redewendung »kakaja mucha ego ukusila« (wortwörtlich »welche Fliege hat ihn gebissen«), die die Bedeutung hat: »komisches und böses Verhalten aufweisen«. Sie geht auf das Symbol der Fliege zurück, die in der mythologischen Tradition als Verkörperung des Bösen, Unreinen und des Teuflischen gilt. Im Roman wird dies mit der Legende der Schöpfung der Erde untermauert, die als eine Binnenerzählung in die Handlung eingebaut ist. Es handelt sich um zwei Brüder Paldobar (»der weiße Fürst«) und Modrubar (»der schwarze Fürst«), deren Gegenüberstellung eine symbolische Einteilung der Welt in Himmlisches und Teuflisches andeutet. Dabei wird berichtet, dass Modrubar Fliegen, Heuschrecken, alle blutsaugenden Insekten geschaffen habe.66 Der Titel »Ukus angela« zeigt somit die Kontamination zweier Redewendungen auf, die zwei Oppositionspaare sind: göttlich und diabolisch. Aus diesem theologischen Dualismus des Göttlichen und des Teuflischen, des Himmlischen und des Irdischen leitet sich die Gestalt von Ivan Nekitaev ab. Sowohl in der Beschreibung des politischen Körpers als auch in der des natürlichen Körpers des Imperators werden widersprüchliche Merkmale offenbar, die auf diesen Gegensatz zurückzuführen sind. Bereits seine Geburt deutet auf einen transzendenten Ursprung hin. Im Moment der Zeugung stirbt Ivans Vater. Nach Ivans Geburt begeht seine Mutter Selbstmord. Dies hat eine symbolische Bedeutung, worauf Jakovlev verweist: »Жизнь, начало которой ведет латентное самоубийство отца, и вполне реальное  – матери, не может быть не символом: она либо проклята изначально, либо чему-то суждена.«67 (»Das Leben, dessen Anfang der latente Selbstmord des Vaters und der durchaus reale Selbstmord der Mutter zugrunde liegt, kann nicht umhin, ein Symbol zu sein: Er ist entweder von vornherein verflucht oder für etwas bestimmt.«) Nekitaev wird ungewollt zur Ursache des Todes seiner Eltern. Dies kann als Bruch mit der etablierten symbolischen Ordnung interpretiert werden. 66 Vgl. Krusanov: Ukus angela, 71. 67 Jakovlev, Lev: Imperskij soblazn. In: Meždunarodnyj žurnal issledovanij kul’tury / International Journal of Cultural Research 11/2 (2013), 52–60, hier 54.

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Die Selbstdarstellung Ivans bezieht sich auf Kljukva, die Protagonistin im Roman, die »am Rande des Nichtseins« existiert (»suščestvujuščaja na grani bytija«68), was ihr ermöglicht, Räume jenseits beider Grenzen zu betrachten. Die Abstammung von einem Toten weist auf Ivans Nähe zur Unterwelt hin. Die transzendente Existenz von Ivan Nekitaev deutet eine Wahrsagerin an, als sie Petr Legkostupov sein schicksalhaftes Treffen mit dem zukünftigen Imperator mithilfe von Karten mitteilt. – Квадрат – это ощутимый и зримый физический мир, – продолжала хозяйка, – он равен ядру – Безумцу, и это значит, что весь зримый мир отражается в сознание человека – он есть сумма его представлений о мироздании. Но помимо сознания, в Безумце заключена душа – она есть центр треугольника непознаваемого мира. Выходит, что Безумец окружен двумя мирами, и оба они, в свою очередь отражены в нем.69 (»Das Quadrat ist die spürbare und sichtbare physische Welt«, fuhr die Gastgeberin fort, »es ist dem Kernstück – dem Irren – gleich, und das bedeutet, dass die gesamte sichtbare Welt im Bewusstsein eines Menschen widergespiegelt wird – es ist die Summe seiner Vorstellungen über das Universum. Aber zusätzlich zum Bewusstsein hat der Irre eine Seele – sie ist das Zentrum des Dreiecks der unerkennbaren Welt. Es stellt sich heraus, dass der Irre von zwei Welten umgegeben ist, und sie beide widerspiegeln sich wiederum in ihm.«)

Die von Dugin aufgestellte These, die Sakralität des monarchischen Herrschers sei unter anderem auf seine Berührung mit der jenseitigen Welt zurückzuführen, entfaltet sich im Roman in der Aussage der Wahrsagerin. Allerdings ist das Subjekt, das die diesseitige und jenseitige Welt repräsentiert, hier der Irre. Auf diese Weise wird der Mythos der Sakralität des Monarchen andeutungsweise unterminiert. Im Roman wird die Figur von Ivan Nekitaev basierend auf dem Dualismus der Gegensätzlichkeit diskursiv dargestellt. In Tabassaran, einem Gebiet im Kaukasus, erhält Nekitaev von den Rebellen den Spitznamen »Schaitan«. Zusammen mit dem anderen Spitznamen »Čuma« (dt. wortwörtlich: Pest) deutet dies auf die Dämonisierung seiner Gestalt hin.70 Damit ist er durch eine Eigenschaft charakterisiert, die als »unmenschlich« bezeichnet wird: Некитаев нещадно проливал кровь врагов, но он не унижал их — ни излишней жестокостью казней, ни насмешкой, ни милосердием. Пожалуй, для горцев это было самым загадочным и невыносимым, ибо в их мере бытия, действительно, выглядело чем-то нечеловеческим.71 68 Krusanov: Ukus angela,184. 69 Ebd., 47. 70 Vgl. Breeva: Nacional’nyj mif v russkom istoriosofskom romane situacii rubežnosti. Soderžanie i struktura, 381. 71 Krusanov: Ukus angela, 30.

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(Nekitaev vergoss gnadenlos das Blut der Feinde, aber er demütigte sie weder durch übermäßige Brutalität der Todesstrafen noch durch Spott oder Barmherzigkeit. Vielleicht war dies für das Bergvolk das Geheimnisvollste und das Unerträglichste, weil es in ihrem Maß des Daseins wirklich wie etwas Unmenschliches aussah.)

Unmenschlich bezieht sich in dieser Hinsicht nicht auf die Inhumanität von Ivan Nekitaev, sondern auf seine Natur, die jenseits des Menschlichen ist72 und eher in Kategorien des Übernatürlichen zu fassen ist. Im Unterschied zu weiteren Protagonisten lässt der Erzähler keinen Einblick in die Gedanken von Ivan Nekitaev zu. Außer der Leidenschaft zu seiner Schwester, die ihrerseits eine symbolische und metaphysische Bedeutung hat, scheint Ivan keine menschlichen Gefühle aufzuweisen. In Tabassaran soll Nekitaev den Aufstand der Rebellen unterdrücken. Tabassaran erscheint hier als ein bedrohliches »Anderes«: »Тьма здесь тоже была незнакомая, чужая – не та, что в России…«73 (»Die Dunkelheit war hier auch ungewohnt, fremd – nicht die gleiche wie in Russland …«). Dem kaukasischen Gebiet werden Anna Torosjan gemäß Merkmale zugeschrieben, die den mythologischen Vorstellungen über die Unterwelt eigen sind.74 Die Beschreibungen der unbekannten und bedrohlichen Natur korrelieren mit der Darstellung des Bergvolkes. Die Tabassaranen sind hier nicht nur eine Ethnie, die sich aus religiöser und kultureller Sicht von den Russen unterscheidet. Für ihre Charakterisierung greift Krusanov auf Kategorien zurück, die die verbreiteten Stereotype über den exotischen Kaukasus reproduzieren: Что Некитаев знал о них? Солнце – чернильница Аллаха. Нуга, халва, шербет. Раджеб, шабан, рамазан, шавваль. Муэдзин кричит с минарета, муфтий толкует шариат и заказывает паломникам кувшинчик воды из Земзема.75 (Was wusste Nekitaev über sie? Die Sonne ist das Tintenfass Allahs, Nougat, Halva, Sorbet. Radschab, Schaʿbān, Ramadan, Schawwāl. Der Muezzin ruft vom Minarett, der Mufti legt die Scharia aus und bestellt ein Kännchen Wasser aus Zamzam für die Pilger.)

Die Andersartigkeit des kaukasischen Volkes drückt sich nicht nur darin aus, dass es für die imperiale Armee unmöglich ist, eine diskursive Verständigung mit ihm zu erreichen. Krusanov entwirft ebenfalls die koloniale Wahrnehmung der Rebellen, dabei werden die Tabassaranen Tieren gleichgesetzt: 72 Vgl. Breeva: Nacional’nyj mif v russkom istoriosofskom romane situacii rubežnosti. Soderžanie i struktura, 382. 73 Krusanov: Ukus angela, 35. 74 Vgl. Torosjan, Anna: Evrazijskoje prostranstvo v romane P. Krusanova »Ukus angela«. In: Vestnik RUDN, serija Teorija yazyka. Semiotika. Semantika 1 (2015), 175–180, hier 177. 75 Krusanov: Ukus angela, 36 f.

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Они грызут гашиш, как сухари, и на спор ловят зубами скорпионов. После рукопожатия с ними можно не досчитаться пальцев. Они берут заложников и воюют, заслоняясь собственным прекрасным полом, который весьма невзрачен. С ними нельзя договориться, потому что у них змеиный, раздвоенный язык и они не помнят клятв.76 (Sie nagen an Haschisch wie an Zwieback und fangen Skorpione mit ihren Zähnen um die Wette. Nach Händeschütteln kann einer seine Finger vermissen. Sie nehmen Geiseln und kämpfen sich versteckend hinter ihrem eigenen schönen Geschlecht, das recht unansehnlich ist. Es ist unmöglich, mit ihnen zu verhandeln, weil sie eine gespaltene Schlangenzunge haben und sich nicht an Schwüre erinnern.)

Sie sind in dieser Darstellung ein Volk, das jenseits der Kategorien der Menschlichkeit existiert. In dieser Hinsicht nähert sich diese Repräsentation der Figur von Ivan Nekitaev. Im Kontext der imperialen Verhältnisse befindet sich Ivan Nekitaev in Tabassaran am Rande des Imperiums, das nicht nur aus geografischer, sondern ebenso aus kultureller Sicht eine Peripherie symbolisiert und mit der metaphysischen Einteilung der Welt in Diesseits und Jenseits verknüpft ist. Mit impliziten Parallelisierungen zwischen der Brutalität des Bergvolkes und der imperialen Armee, zwischen der Unmenschlichkeit von Ivan Nekitaev und den Rebellen wird das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie destabilisiert bzw. infrage gestellt, wenn man an den (neo-)eurasischen Diskurs über die Verbreitung von Russen als Trägern einer besonderen Mission denkt. Die Erweiterung des eurasischen Raums, die im Roman die Unterdrückung des Aufstands im Kaukasus einschließt, baut auf Gewalt und Grausamkeit, die als typische negative Eigenschaften des Fremden  – der Tabassaranen  – dargestellt werden. Die Opposition zum Teuflischen wird im Roman erstmals im Namen von Ivan Nekitaev angedeutet. Ivan gilt als ein typisch russischer Name. Darüber hinaus geht der Vorname Ivan auf den hebräischen Namen Jochanan zurück und bedeutet die »Gnade Gottes«. Eine weitere Untermauerung der Kategorie »göttlich« wird auf narrativer Ebene durchgeführt. Im Kadettenkorps lernt Ivan Nekitaev einen Altgläubigen kennen, der ihm auf seine schicksalhafte Prädestination hinweist und ein goldenes Amulett in Form einer Sonne schenkt.77 Es soll Ivan Nekitaev mit der transzendenten Macht als wahren Herrscher ausstatten. Dies führt uns einerseits auf den Kult der Sonne zurück, die in der ägyptischen Mythologie und in der Mythologie der alten Slawen als die höchste Göttlichkeit verehrt wurde. Boris Uspenskij weist darauf hin, dass sich die entwickelnde Sakralisierung der zaristischen Macht im 17. Jahrhundert in Russland beispiels­weise 76 Ebd., 37. 77 Vgl. ebd., 87.

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darin äußerte, dass der Zar »die gerechte Sonne« (»pravednoje solnce«) genannt ­w urde.78 Im Kadettenkorps erhält Ivan Nekitaev von einem Altgläubigen demnach ein Amulett, das die heilige Grundlage der imperialen Macht symbolisiert. Das Sommerlager des Kadettenkorps befindet sich am geografischen Rand des Imperiums, nicht weit von der Stadt Staraja Russa. Das Kadettenkorps entspricht dem Foucault’schen Begriff »Heterotopien«79. Im Sinne von Foucault erfüllt erstmals das Kadettenkorps eine kompensatorische Funktion, indem sich eine für den militärischen Dienst ausbildende öffentliche Anstalt durch ein System von strenger Hierarchie, disziplinierenden Regeln und Normen im Vergleich zu der realen Welt mit eher lockeren Verhaltensregeln auszeichnet. Es ist eine Anstalt, in der die Ordnung bezüglich sozialer Interaktionen völlig geregelt ist. Foucault nennt derartige Orte Heterotopien der Krise.80 Allgemein sind es Orte, an denen Menschen Transformationen, Übergangsprozesse und -rituale durchlaufen. Im Roman wird die Begegnung von Ivan Nekitaev mit einem Altgläubigen zu einem Zeichen. Nach einem Gespräch mit dem Altgläubigen sieht Ivan einen Traum, der seine Wahrnehmung der Wirklichkeit ändert und in dem er zum Herrscher der Welt wird. Der symbolische Übergang von einem Kadetten zu einem wahren, mittlerweile aber geheimen Imperator findet in einer militärischen Anstalt statt. Der Altgläubige verweist auf die Sakralität des Herrschers – »pomazannik nebesnyj«81 (»der Gesalbte des Herrn«). Das sakrale Übergangsritual macht das Kadettenkorps selbst zu einem sakralen Ort. Das Konzept des Imperiums im Roman beruht nicht zuletzt auf der Verbindung zwischen den Kategorien »sakral – militärisch«. Im Roman setzt sich Krusanov mit den traditionellen russischen Vorstellungen über die Natur des Zaren auseinander, laut denen der natürliche Körper des Herrschers ebenso sakral wie sein politischer Körper ist. Die Tatsache, 78 Vgl. Uspenskij, Boris: Semiotika istorii, semiotika kul’tury. Moskva 1996, 216. 79 Heterotopien nennt Foucault Räume mit vielschichtigen Bedeutungen oder Relationen zu anderen Räumen, als es sich auf den ersten Eindruck darstellt. Heterotopien seien anthropologische Universalien, doch ihre Bedeutung variiere abhängig von der jeweiligen Kultur und Zeitperiode. Heterotopien zeichnen sich nach Foucault durch ein System von Öffnung und Schließung in Bezug auf andere Räume aus. Dadurch seien Heterotopien lediglich bestimmten Gruppen von Individuen zugänglich. Laut Foucault erfüllen sie kompensatorische Funktion, indem sie eine vollkommene Ordnung im Vergleich zur Unordnung anderer Räume schaffen. Eine andere Funktion von Heterotopien bestehe in der Schaffung eines Illusionsraums, der den gesamten realen Raum als noch illusorischer enthülle. (Vgl. Foucault, Michel: Andere Räume. In: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik: Essai. Leipzig 1992, 34–46.) 80 Vgl. ebd. 40. 81 Krusanov: Ukus angela, 78.

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dass Nekitaev Attentate auf sein Leben vorhersehen kann, unterscheidet ihn von anderen Menschen und ist eine besondere Eigenschaft, die indes für seine Thronbesteigung nicht ausreicht. Die für den Herrscher charakteristische Sakralität des natürlichen Körpers findet ihre Bestätigung erst sieben Jahre nach der Thronbesteigung, allerdings lediglich auf der Ebene der Gerüchte. Nekitaevs Persönlichkeit werden ungewöhnliche Eigenschaften zugeschrieben, die ebenfalls im Zusammenhang mit der voranstehend erwähnten Metapher der Sonne betrachtet werden können. Помимо слухов о досуге, ходили толки и о необыкновенных личных свойствах императора. Рассказывали, будто он мог не спать по семнадцать суток, а когда засыпал, то сон его был краток и так крепок, что на нем можно было молотком колоть орехи,  – но даже при таком крепком сне он не терял бдительности и продолжал отдавать приказы о штурмах и казнях. не открывая глаз ибо видел сквозь веки, как рысь видит сквозь стену. Говорили, будто в груди Ивана пылает необычайный жар, так что счастливцы, удостоившиеся его приветливых объятий, ощущают нестерпимое жжение и впоследствии находят на своем теле ожоги.82 (Neben Gerüchten über die Freizeit gab es Gerüchte über die außergewöhnlichen persönlichen Eigenschaften des Imperators. Es wurde gesagt, dass er siebzehn Tage lang nicht schlafen konnte, und wenn er einschlief, war sein Schlaf kurz und so stark, dass man mit einem Hammer Nüsse auf ihm hacken konnte, aber selbst bei einem so festen Schlaf verlor er seine Wachsamkeit nicht und erteilte weiterhin Befehle für Angriffe und Hinrichtungen, ohne seine Augen zu öffnen, denn er sah durch seine Augenlider, wie ein Luchs durch eine Wand sieht. Es wurde gesagt, dass eine außergewöhnliche Hitze in Ivans Brust brannte, sodass die Glücklichen, die mit seinen freundlichen Umarmungen geehrt wurden, ein unerträgliches Brennen verspürten und anschließend Verbrennungen an ihren Körpern fanden.)

Die Beschreibung des sakralen natürlichen Körpers wird erst im letzten Kapitel angeführt. So werden dem natürlichen Körper des Imperators ungewöhnliche Eigenschaften erst nach seiner Thronbesteigung zugeschrieben. Der natürliche Körper wird in der Darstellung erst sakral, nachdem der politische Körper des Herrschers in der medialen Inszenierung von Petr Legkostupov – Nekitaevs zukünftigem Berater – heilige Züge erwirbt. Vier Jahre vor der Ernennung Ivan Nekitaevs zum Imperator wird eine Diskussion im philosophischen Verein »Kollegium der Throne« durchgeführt. Dabei treffen sich Ivan Nekitaev und Petr Legkostupov zum ersten Mal nach der dreizehnjährigen Abwesenheit Nekitaevs, während er beispielsweise an einem Krieg teilnahm und im Alter von 30 Jahren zum General-Gouverneur

82 Ebd., 333.

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von Zargrad wurde. Diese Begegnung wird schicksalhaft, als Ivan eine Entscheidung trifft, Petr nach Zargrad mitzunehmen und ihn zu seinem Berater zu machen. Interessant ist der Gegenstand dieser Diskussion, deren Elemente sich im Konzept des neuen vereinigten Imperiums wiederfinden. Das Thema der Diskussion ist das Mandat des Himmels. Die zentrale Frage dabei besteht darin, wie die Macht des Imperators legitimiert wird. Im Kontrast zum derzeit im Roman existenten politischen Modell, in dem die Staatsmacht auf die vom Volk gewählten Vertreter übertragen wird, wird in der Diskussion auf einen transzendenten Ursprung der Machterlangung eingegangen. Mit anderen Worten formuliert: Nicht die Art und Weise, wie eine Person zum Imperator wird, ist entscheidend für die Machtlegitimation, sondern ihr »Auserwähltsein« durch mystische Kräfte.83 Diese Begründung der imperialen Macht entfaltet sich weiter in narrativen Strategien des Romans. Koschorke, Lüdemann, Frank und Matala de Mazza verweisen darauf, dass der politische Körper eine unentbehrliche Grundlage für die Legitimierung der königlichen Macht ist. Macht ist indes nie groß genug, um »Herrschaft – und damit soziale Ordnung – dauerhaft zu begründen«.84 In der Situation, die ein Defizit des politischen Körpers aufweist, erscheint seine imaginäre Repräsentation: An die Stelle des symbolischen Körpers des Königs tritt sein medialer und imaginärer Leib.85 Die mediale Imagination des politischen Körpers von Ivan Nekitaev, die Petr Legkostupov für die Augen der Öffentlichkeit anfertigt, knüpft zuerst an die voranstehend erwähnte Sakralität der imperialen Macht an. Dafür bereitet er eine Art der philosophischen Begründung der Machtübernahme von Ivan Nekitaev vor, die auf die sakrale Natur seiner Macht hinweist: Es gibt keine weltliche Instanz, die die Rechtmäßigkeit seines Handelns beurteilen kann. Император – фигура божественной природы, стоящая посреди подвластной ему сакрализированной вселенной, вселенной-зеркала, в котором не отражается ничего, кроме самого императора, соли земли и неба. Ни над собой, ни под собой, ни тем более окрест Император не имеет никакого высшего метафизического принципа, с которым он вынужден был бы духовно считаться, а стало быть, он абсолютно свободен и неотделим от Бога. Бога внутри него. Вне его Бога нет. Вокруг существует только отражение Священного Императора. Следовательно, держава его по определению является синонимом рая – ведь она есть овеществленное продолжение его воли, ее «большое тело».86

83 Vgl. ebd., 112. 84 Koschorke / Lüdemann / Frank / Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, 154. 85 Vgl. ebd., 156. 86 Krusanov: Ukus angela, 107 f.

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(Der Imperator ist eine Figur der göttlichen Natur, die in der Mitte des ihm unterworfenen heiligen Universums steht, dem Spiegel-Universum, in dem sich nichts anderes als der Imperator selbst – das Salz der Erde und des Himmels – widerspiegelt. Weder über sich noch unter sich, geschweige um sich herum hat der Imperator ein höheres metaphysisches Prinzip, mit dem er geistig rechnen müsste, und deshalb ist er absolut frei und untrennbar von Gott. Gott ist in ihm. Es gibt keinen Gott außerhalb von ihm. Ringsherum existiert nur das Spiegelbild des Heiligen Imperators. Folglich ist sein Staat per Definition ein Synonym des Paradieses, schließlich ist er eine materialisierte Fortsetzung seines Willens, seines »großen Körpers«.)

In Legkostupovs Begründung ist der Imperator nicht nur ein Stellvertreter Gottes auf Erden; er hat gewissermaßen Gott in seinen Körper inkorporiert. In dieser Hinsicht offenbart sich der Maßstab der heiligen imperialen Macht: Das Imperium ist die Fortsetzung des Körpers des Imperators. Die imperiale Expansion wird auf diese Weise durch ein Sakralisierungsnarrativ legitimiert. Wenn der Imperator in sich den Körper von Gott inkorporiert hat, wird der dem Imperator untergeordnete Raum mit einem Paradies gleichgesetzt. Die Erweiterung des Raums verwandelt automatisch den weiteren Raum in ein Paradies: »чудесно превращая заросли подзаборной крапивы в рай.«87 (»[der Imperator] wandelt auf wundersame Weise die Wildnis gossenmäßiger Brennnessel ins Paradies um«). Diese mediale Inszenierung des Imperators bezieht sich intertextuell auf Dugins »polar-paradiesische« Ideologie.88 Die Beschreibung der ersten metaphysischen Grundlage des Politischen in Dugins Formulierung wurde bei Krusanov fast wortwörtlich wiedergegeben. Lediglich fügt er den Ausdruck »podzabornaja krapiva« (wortwörtlich »Brennnessel am Zaun«) hinzu. Das Wort »podzabornaja« hat neben der Grundbedeutung »sich am Zaun befinden« gleichfalls pejorative Konnotationen wie verkommen, unanständig und gossenmäßig inne. Die Zusammenführung des Erhabenen und des Profanen – in diesem Fall die Einführung des Ausdrucks »podzabornaja krapiva« – schafft den ironischen Effekt von stëb. Diese Begründung wird im Kapitel angeführt, in dem gleichzeitig über die Ernennung von Ivan Nekitaev zum General-Gouverneur von Zargrad berichtet wird. Zargrad bildet im Roman einen symbolischen Gegenpol zu Tabassaran. Ist Tabassaran ein bedrohlicher, fremder Raum, steht Zargrad fast als pars pro toto für das Imperium als zurückgewonnenes Zeichen seiner eschatologischen Mission. Im Roman gehört Zargrad dem Imperium. Die im Roman dargestellte Stadt lässt Gedanken aufkommen, dass sie gewissermaßen eine Quintessenz der von den Petersburger Fundamentalisten gewünschten Realisierung des Imperiums ist. Zargrad ist im Roman nicht nur der Ausdruck der nostalgischen Sehnsucht nach der Großartigkeit des Imperiums – es ist 87 Ebd. 88 Siehe Kapitel 3.4.7.

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eine Art Palimpsest, auf dem Zeichen und Symbole aus verschiedenen zeitlichen Epochen existieren, was den Eindruck der Simultanität von Raum und Zeit schafft. Allerdings stößt die scheinbare Allmächtigkeit des Imperators gerade in Zargrad an die Grenzen der Natur. Nekitaev unternimmt einen Tauchgang ins Marmarameer. Der Tauchgang wird zwar in einer Tauchkugel durchgeführt, doch der symbolische Charakter dieser Aktion lässt sie als Initiationsritual interpretieren. An dieser Stelle wird die Begründung der heiligen Macht des Imperators angeführt, die den dem Imperator untergeordneten Raum mit dem Paradies vergleicht. Dass Nekitaevs Tauchgang misslingt, führt ­Legkostupov darauf zurück, dass sich das Meer weigert, das Paradies zu sein.89 Dies kann als eine ironische Subversion der Begründung der imperialen Macht gelesen werden, indem die räumliche Verbreitung der imperialen Macht an ihre Grenzen stößt. Darüber hinaus weist Rosalind Marsh darauf hin, dass der Roman intertextuelle Bezüge zu Vladimir Solovievs »Antichrist« (1899) hat.90 Um die innerpolitische Organisation des Imperiums, das von zwei Konsuln regiert wird, zu ändern und Ivan Nekitaev an die autokratische Macht zu bringen, bereitet Petr Legkostupov einen Text vor, der der Meinungsbildung der Öffentlichkeit dienen soll. In den Thesen von Legkostupov geht es um die destruktive Kraft von Chaos. Chaos wird mit Antichrist gleichgesetzt, der seinerseits »ein verzerrtes Abbild Christi am Untergang der Welt.« (»iskažennoe otraženie Christa u skončanija vremen.«91) In Legkostupovs Formulierung wird der Absturz ins Chaos nicht zum Niedergang der Welt führen, er ist eine reinigende eschatologische Zwischenzeit, der eine mystische Veränderung der Realität folgt.92 In der poetischen Struktur des Romans werden diese Thesen mit der binären Opposition »heilig – diabolisch« gekoppelt. Nekitaev vereinigt beide Bestandteile. Als Antichrist erfüllt er eine zerstörerische Mission, die allerdings einen messianischen Aspekt in sich trägt. Wie Mark Lipoveckij bemerkt, basiert das russische Imperium auf der sakralisierten und gleichzeitig automatisierten Gewalt. Es wird jedes Chaos überleben und als ein transzendentes Absolutum triumphieren.93 Die Beschaffenheit des politischen Körpers des Imperators wird in der Kombination des Oppositionspaars »heilig« und »diabolisch« Realität. Die Sakralität des Herrschers, die für die kulturelle Tradition Russlands steht, wird durch die Einführung der binären gegensätzlichen Kategorie »diabolisch« 89 Vgl. Krusanov: Ukus angela, 109. 90 Vgl. Mørch: In Search of the Grand: Pavel Krusanov, 131. 91 Krusanov: Ukus angela, 166. 92 Vgl. ebd., 165. 93 Vgl. Lipoveckij: Paralogii. Transformacii (post)modernistskogo diskursa v russkoj kul’ture 1920–2000-ch godov, 496.

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in das semantische Feld der Konzeption des imperialen Herrschers unterminiert. Die Dimension des politischen Körpers bezieht sich auf die Person des Imperators und den Körper des Imperiums. Beide stehen zueinander in einem ambivalenten Verhältnis. Die Metaphorik der imperialen Körperschaft entwickelt sich im Roman auf zwei Feldern. Erstens stellt das Imperium eine Staatsform oder, in anderen Worten, einen politischen Raum dar. Der politische Raum wird mit dem Körper des Imperators gleichgesetzt. Das Imperium ist Widerspiegelung und Fortsetzung seines Willens in der Formulierung von Petr Legkostupov, der die Legitimation der Thronbesteigung von Ivan Nekitaev vorbereitet. Indem das Imperium mit dem Paradies verglichen wird, wird der göttliche Ursprung der imperialen Macht akzentuiert.

4.4 Der Körper des Imperiums 4.4.1 Metamorphosen des geografischen Raumes

Die Wechselverbindung zwischen dem Herrscher, dem politischen Körper und dem geografischen Raum bildet ein weiteres Motiv im Roman. Erstmals tritt ein bestimmter geografischer Raum als notwendige Voraussetzung für die Existenz des Imperiums auf. Die Vorgeschichte in »Ukus angela« handelt von dem Aufstand, der zur Teilung des Imperiums und zur Schwächung der Macht führte. Die Teilung des Imperiums in Osten und Hesperien (Westen) ist in die Gegenüberstellung zwischen Europa und Asien eingebettet, die zu einem wichtigen Kern der neo-eurasischen Selbstbeschreibungen gehört. Die räumliche Teilung des Imperiums führt auch zur geopolitischen Spaltung. Während der Osten des Imperiums mit der Hauptstadt Moskau die Annäherung an den Westen (Europa und die USA) anstrebt, schließt Hesperien eine Union mit Asien. Wenn man die Namen der Teile des Imperiums einbezieht (Hespera im Altgriechischen ist Westen), ist die Umdeutung der für Russland traditionellen Gegenüberstellung zwischen Moskau und Sankt Petersburg zu beobachten. Im Kontext dieses Gegensatzes ist Moskau eine Stadt, die besonders mit Archaik und Rückständigkeit Russlands assoziiert wird, während Sankt Petersburg als Symbol der Moderne, des Progresses und Russlands »Fensters zum Westen« gilt. Im Roman wird diese Kulturaxiologie umgedreht. Die dargestellte Welt erscheint im Zerrspiegel imperialer Bestrebungen. Der Konsul des Ostens Gavrila Brylin strebt eine Beziehung mit Europa und den USA an, die im Roman bereits vor dem Untergang stehen: Гаврила Брылин был давним сторонником сближения России с Европой и Североамериканскими Штатами, уже испускавшими ядовитый инфернальный

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душок, подслащенный парфюмом и кленовым сиропом: смерть всегда душится приторными духами, с ее приходом в доме пахнет халвой. Сейчас Сухой Рыбак выступал поборником рациональности и торжества человеческого разума. Но если сдернуть мишуру с засасывающих врат адовых, консула от Востока легко представить слугою Господина Хаоса, слепым флейтистом из чудовищной свиты Азатота, а то и самим Гогом.94 (Gavrila Brylin war ein langjähriger Befürworter der Annäherung Russlands an Europa und die Nordamerikanischen Staaten, die schon einen mit Parfum und Ahornsirup gesüßten höllischen Giftgeruch verströmten: Der Tod parfümiert sich immer mit übersüßem Parfum, bei seiner Ankunft riecht das Haus nach Halva. Nun tritt Suchoj Rybak als ein Verfechter der Rationalität und des Triumphs der menschlichen Vernunft auf. Wenn man aber den falschen Glanz von den saugenden Toren der Hölle abreißt, ist es leicht, sich den Konsul des Ostens als einen Diener des Herren Chaos, als blinden Flötisten aus dem ungeheuren Gefolgte von Azathoth und sogar als Gog selbst vorzustellen.)

Unter diesen Bedingungen scheint der Sturz des zweiten Konsuls Gavrila Brylin unentbehrlich, damit das Imperium weiter existieren und seine Expansionspolitik betreiben kann. China ist in diesem Zusammenhang äußerst relevant. Nekitaev schließt einen militärischen Pakt mit China, das Hilfe in dem ausbrechenden Krieg gegen den Westen anbietet. Dies ist eine Aktualisierung der Idee der russisch-chinesischen Union nicht nur in kultureller und symbolischer Dimension, sondern auch auf militärischer Ebene. Die von Krusanov beschriebene Teilung spielt auf die eurasische Auseinandersetzung mit der Teilung des Landes in zwei geografisch determinierte Räume – Asien und Europa – an. Im Roman wird die Idee angedeutet, dass das Imperium, wenn es den Osten und den Westen in seinem politischen Gebilde nicht vereint, Gefahr läuft, gänzlich zu verschwinden. Darin zeigt sich die Identifikation von Krusanov mit dem neo-eurasischen imperialen Diskurs: Die Existenz des Imperiums ist ausschließlich in der Symbiose der westlichen und der östlichen Kulturen und deren geografischen Räumen denkbar. Diese symbolische Einteilung in Osten und Westen funktioniert allerdings anders als in der eurasischen Tradition, wenn sie auf der Überwindung der traditionellen Teilung Russlands in den europäischen und den asiatischen Teil mit der Grenze im Uralgebirge besteht. Die Hauptstadt von Hesperien ist Sankt Petersburg und dies erinnert eher an die Petrinischen Reformen, als die Errichtung von Sankt Petersburg die Modernisierung und Europäisierung des Lands vorantrieb. Moskau als Hauptstadt des Ostens symbolisiert im Roman eher die archaische russische Tradition. Krusanov kombiniert damit auf diese Weise verschiedene Konnotationen symbolischer Elemente und involviert 94 Krusanov: Ukus angela, 172.

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den Leser in den Umgang mit der literarischen Wirklichkeit. Dergestalt verschwimmen die Grenzen des Texts in Hinblick auf die Intertextualität und die Subversivität. In »Ukus angela« bleibt das Imperium auch nach der formellen Wiedervereinigung und der Rückeroberung der während der Aufstände verlorenen Gebiete geteilt. Allein die Machtergreifung von Ivan Nekitaev führt zur Einigung des Imperiums und dessen intrinsischer Mission – der Erweiterung des Raums. Es folgen die Annexion von Mogulistan und Mongolien, die persische Kampagne, die Okkupation von Spitzbergen, die wiederholte Friedenserzwingung von Schirwan, der Landeeinsatz in Kalkutta, die Erteilung eines Mandats für Zypern, das Expeditionskorps in Makran und die Zerschlagung der Hohen Pforte.95 Der Krieg mit der Türkei, an dem Nikita Nekitaev, der Vater des zukünftigen Imperators, teilnahm, bricht aus, nachdem das Imperium der türkischen Regierung ein Ultimatum gestellt hat. Die Türkei soll Zargrad und weitere Gebiete abtreten. Infolge des zweimonatigen Kriegs gibt das Osmanische Reich den Ansprüchen des Imperiums nach. Im Jahr der Thronbesteigung erklärt der Imperator Ivan Nekitaev England, Frankreich, Deutschland und den Vereinigten Staaten, die die rebellierenden westlichen Provinzen des Imperiums – Polen, Böhmen, Mähren und Livlan – unterstützen, den Krieg. Ivan Nekitaev gelingt es, die Rebellion der Gebiete zu unterdrücken, was als Anspielung auf den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Tschechien 1968 verstanden werden kann. Mit der Schließung eines militärischen Paktes mit China zerschlägt das Imperium die Türkei und okkupiert Norwegen, Schweden sowie Dänemark. Dennoch gelingt es ihm nicht, in dem mehr als sieben Jahre andauernden Krieg einen Sieg zu erlangen. Die Eroberung des Raums ist das intrinsische Charakteristikum des Imperiums. Das Imperium bemüht sich stets, seine Grenzen auszubauen. In dieser Erweiterung zeigt sich auch das Problematische, mit dem die Erklärung der so verschiedenen Rezeptionen des Buchs zusammenhängt. Bei einigen Kritikern wurde das Buch als ein Apologet der aggressiven militärischen Politik oder als ein Traum von der imperialen Größe Russlands wahrgenommen.96 Betrachtet man die im Roman beschriebene Erweiterung des Raums, wird ebenfalls die andere Problematik deutlich. Indem das Imperium versucht, die Grenzen zu erweitern, ist es zwar zur besonderen Anstrengung fähig, weckt aber zerstörerische Kräfte, die es selber vernichten können.

95 Vgl. ebd., 29. 96 Siehe Ermošina, Galina: P.  Krusanov. Ukus angela. In: Znamja 7 (2000), URL : http:// magazines.russ.ru/znamia/2000/7/ermosh.html (am 07.01.2021).

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4.4.2 Imperium als Lebewesen

Die organische Metaphorik wird auf das Imperium im Sinne seiner Erweiterungsmission angewendet. Das Imperium erfährt im Zuge der Entwicklung ebenfalls Spaltungen und Raumverluste. In diesem Zustand ist es lediglich eine Form der politischen Organisation, die von zwei gewählten Konsuln regiert wird. Während des Aufstands, der von Nadežda Mira durchgeführt wird, verliert das Imperium zuerst die westlichen Provinzen: Polen, Mähren, Pannonien und Tschechien. Dann verkünden die transkaukasischen Reiche politische Unabhängigkeit. Ihnen folgen Finnland, Kurland und Litauen. Mit dem Tod des Imperators wird die Russland in zwei Gebiete teilende Linie von Mat’ i Nadežda Mira durchlässig. Dies führt zu einer formellen Wiedervereinigung. Zwar wird es nach wie vor von zwei gewählten Konsuln regiert, sobald jedoch die territoriale Integrität des Lands wiederhergestellt wird, wird das Imperium mit einem Subjekt gleichgesetzt, das über eigenen Willen und Verstand verfügt: »Империи хватало разумения терпеть вещи, прибавляющие ей славы.«97 (»Das Imperium hatte genug Verstand, Sachen zu ertragen, die zu seinem Ruhm beitragen.«) Die Subjekteigenschaften des Imperiums entfalten sich im Zuge weiterer Vereinigungs- und Expansionsmaßnahmen. Die Teilung des Imperiums in Osten und Westen, die an die Zerstörung der Ganzheit erinnert, wird von Ivan Nekitaev überwunden. Auf narrativer Ebene werden die Teile des Landes, die Ivan Nekitaev vereint, zu dem Imperium, dessen »Ganzheit« sich in der Metapher des Subjekts niederschlägt. Империя всегда стремится расширить свои границы, но совсем без границ она жить не может. Как только империя воплотит идею всемирности, она перестанет существовать. Она просто потеряет всякий смысл – ведь в ее реальном времени не останется ничего героического.98 (Das Imperium versucht immer seine Grenzen zu erweitern, aber ganz ohne Grenzen kann es nicht leben. Sobald das Imperium die Idee von Universalität verwirklicht, wird es aufhören zu existieren. Es wird einfach jede Bedeutung verlieren – schließlich wird nichts Heldenhaftes in seiner realen Zeit bleiben.)

In diesem Zitat erscheint das Imperium als Subjekt; die auf das Imperium angewendete Metapher des Körpers geht über den rein physischen menschlichen Organismus hinaus, dessen Ganzheit und Einheit notwendige Voraussetzungen für sein Funktionieren darstellen. Der Erweiterung des Imperiums liegt eine Mission zugrunde, die es verwirklichen muss. Das Imperium besitzt 97 Krusanov: Ukus angela, 104. 98 Ebd., 222.

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seinen eigenen Willen, dem auch der Wille des Imperators untergeordnet ist. Allerdings ist dieser Wille zur Expansion destruktiv. In dem Maße, wie die Grenzen des Imperiums erweitert werden, wird der Eroberer mehr und mehr von dem Menschlichen entkoppelt und öffnet den Durchgang zum Jenseits.99 In dieser Hinsicht stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Imperator und dem Imperium. Auf ein ambivalentes Verhältnis zwischen beiden verweist ein Dichter während einer Sitzung der literarisch-philosophischen Zeitschrift »Argus-Pavlin«. Die Legitimation der imperialen Macht wird mit den intrinsischen Charakteristiken des Imperiums begründet. Das Imperium wird als verzerrter politischer Raum dargestellt, dem sowohl der Imperator als auch die Untertaten untergeordnet sind. В горизонте нашего интереса оказывается не важным, кем был некто до того, как он стал императором. Почему так? Не потому ли, что империя уже изначально диктует избраннику известные условия, выносит не подлежащий обжалованию приговор? То есть империя – это иное пространство, оно как бы искривлено. И если ты становишься в нем императором, то ты уже не владеешь собой – ты такой же ее слуга, как последний раб.100 (Im Kreise unseres Interesses stellt es sich heraus, dass es egal ist, wer jemand war, bevor er Imperator geworden ist. Warum ist das so? Liegt es daran, dass das Imperium dem Auserwählten von vornherein gewisse Bedingungen diktiert, ein unanfechtbares Urteil verkündet? Das bedeutet, das Imperium ist ein anderer Raum, er ist quasi verzerrt. Wenn du darin Imperator wirst, dann beherrscht du dich nicht mehr: Du bist genauso sein Knecht wie der letzte Sklave.)

Die Metapher des politischen Körpers entfaltet sich im Roman primär auf zwei Ebenen. Die Person des Imperators und der Körper des Imperiums stehen zueinander in einem ambivalenten Verhältnis. Einerseits vertritt der Imperator das Imperium, andererseits diktiert dieses dem Imperator seinen Willen auf. Der physische Raum des Imperiums wird mit einem Körper gleichgesetzt, der eine Fortsetzung des Körpers und Willens des Imperators ist. Speziell das Imperium ist eine bestimmte Form des Staates oder des politischen Feldes. Das Imperium als politische Form wird durch den Imperator repräsentiert und verkörpert. Zweitens bezieht sich die Metapher des Körpers auf den geografischen Raum. Das Imperium erlebt im Roman den Verlust und die Spaltungen des geografischen Raums. In diesem Zustand ist es lediglich eine Form der politischen Organisation, die von zwei Konsuln regiert wird. Im Zuge verschiedener militärischer Expansionsmaßnahmen gewinnt es die Kontrolle über den verlorenen Raum. Als die territoriale Integrität des Landes wiederhergestellt ist, erscheint das Imperium als ein Subjekt, das über Willen und Verstand verfügt. 99 Vgl. Slavnikova: Ja ljublju tebja, imperija, 197. 100 Krusanov: Ukus angela, 118.

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Die Konzipierung des Imperiums, die auf das Subjekt-Sein des politischen Raums verweist, ordnet sich in die narrativen Strategien des Romans ein, die das Imperium als ein sich ständig um Erweiterung bemühendes Lebewesen charakterisieren. Das Imperium besitzt einen eigenen Willen, dem ebenfalls der Wille des Imperators untergeordnet ist. Die Logik des imperialen Raums, die sich erstmals in der territorialen Integrität und in der danach folgenden Expansion ausdrückt, bestimmt die politische Organisation. 4.4.3 Lokalisierung von Souveränität

Mark Lipoveckij verweist darauf, dass Krusanovs Konzept des Imperiums hybrid ist: Es basiert sowohl auf der Idee »Moskau als das Dritte Rom« als auch auf den antiwestlichen Stimmungen der Eurasier sowie auf der Vorstellung von Passionarität, die von Lev Gumilëv ausgearbeitet wurde.101 Wie Lev Jakovlev anmerkt, finden sich die Elemente des Imperiums wie die Machtexpansion und das Paradigma der Entkopplung der Untertanen von der Machtentscheidung in den politischen Konzepten des Römischen Imperiums sowie des chinesischen Reiches.102 In »Ukus angela« wandelt sich allerdings, so die Annahme, das Konzept des Imperiums mit der Machtübernahme durch Ivan Nekitaev. Genau genommen kann von drei Typen der Verkörperung des politischen Körpers gesprochen werden. Der Roman kann in drei zeitliche Etappen gegliedert werden. Die erste Etappe berichtet vom Aufstand von Kljukva und die damit verbundene Teilung des Imperiums in Osten und Westen. In dieser Zeit wurde das Imperium vom »Vater des Imperiums« regiert. Die Bezeichnung »Vater des Imperiums« erinnert an Stalins Titel »Vater der Völker«, wie Tat’jana Breeva bemerkt. In Krusanovs Darstellung verwandelt sich dies in eine Manifestation der tödlichen Natur der Staatlichkeit.103 Die Allusion auf die sowjetische Vergangenheit drückt sich darin aus, dass der »Vater des Imperiums« im Roman tot ist. Dass das Land von einem Toten regiert wird, kann darüber hinaus als Anspielung auf den unbeerdigten Körper von Vladimir Lenin sowie die Diskussionen über die Bedeutung des kommunistischen Erbes für das Land interpretiert werden. Alexei Yurchak geht auf die kulturell-geschichtlichen Umstände der Balsamierung des Körpers von Lenin ein und vertritt die These, dass dies zur Entstehung einer besonderen politischen Kosmologie geführt habe, die das Zwei-Körper-Modell an die Souveränität angekoppelt hat.104 Die 101 Vgl. Lipoveckij: Paralogii. Transformacii (post)modernistskogo diskursa v russkoj kul’ture 1920–2000-ch godov, 492. 102 Vgl. Jakovlev: Imperskij soblazn, 56. 103 Vgl. Breeva: Nacional’nyj mif v russkom istoriosofskom romane situacii rubežnosti, 384. 104 Vgl. Yurchak, Alexei: Bodies of Lenin: The Hidden Science of Communist Sovereignity. In: Representations 129/1 (2015), 116–157, hier 131 f.

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Souveränität wurde in diesem Konzept nicht in der Figur des Herrschers (wie in den vormodernen Monarchien) oder in der abstrakten Bevölkerung (wie in den modernen Demokratien), sondern im Körper der Partei lokalisiert.105 Der Körper von Lenin stellt einen Teil des dualen Körpers der Partei – ihren unsterblichen Teil – dar.106 Die Konservierung Lenins Leiche ist nichts anderes als die materielle Kultivierung des unsterblichen, sich ständig erneuernden Körpers des parteilichen Souveräns, der die individuellen sterblichen Körper von Mitgliedern und Leitern transzendiert.107 Die naturalistische Beschreibung des toten Imperators, der von Mücken und Würmern gefressen wird, ist als eine Dekonstruktion und Parodie der politischen Konzeption der Souveränität in der Sowjetunion zu lesen. Der zerfallende Körper des Imperators deutet im Roman eben auf das zerstörende politische System hin, dessen Souveränität an die Bewahrung der physischen Körperform des Imperators gekoppelt ist. Kljukva wird in die Kremlmauer lebend eingemauert. Ebendies kann als spiegelbildliche Parallele zur Sowjetunion, deren politische und militärische Führer an der Kremlmauer begraben wurden, interpretiert werden. Die lebend begrabene Kljukva wird dem toten regierenden Imperator gegenübergestellt. Die ironische Anspielung auf die Sowjetunion bezieht sich desgleichen auf die Schaufel (»sovok«), mit deren Hilfe Kljukva aus dem Kreml herauskommt.108 »Sovok« fungiert im Russischen als eine pejorative Bezeichnung der Sowjetunion. Im Roman wird die Schaufel als Mittel zur Überwindung der Kremlmauer eingesetzt. Durch diese Parallele werden die Entlarvung und die Zerstörung des politischen Systems durch die inneren Widersprüche angedeutet. Nach der Revolution wird das Imperium von zwei gewählten Konsuln regiert. Krusanov entwirft ein politisches Modell, dessen Organisation an die republikanische Regierungsform des Römischen Reiches im sechsten Jahrhundert vor Christus erinnert, als die ersten zwei Konsuln gewählt wurden. Im Römischen Reich wurde mit der Schaffung des neuen Rechtssystems der Lokus der Souveränität aus den Händen des Königs genommen und auf den Körper des Volkes übertragen.109 Die im Roman beschriebene Zeitperiode nach dem Aufstand von Kljukva stellt das politische System dar, in dem die Bevölkerung zur Trägerin ihrer Souveränität wird. Mit der Machtübernahme durch Ivan Nekitaev wird, wie sich feststellen lässt, der Lokus der Souveränität nun jedoch auf den Körper des Herrschers zurückdelegiert, wie dies für absolutistische Monarchien charakteristisch ist. Nach der politischen Transformation befinden sich die Gesellschaft und 105 Vgl. ebd., 146. 106 Vgl. ebd. 107 Vgl. ebd., 146 f. 108 Vgl. Krusanov: Ukus angela, 194. 109 Vgl. Burbank / Cooper: Empires in world history. Power and the politics of difference, 25.

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der Imperator auf verschiedenen Ebenen der Machtentscheidung. Nachdem sich Nekitaev als Imperator erklärt und das Militär ihm die Treue schwört, verschwindet das Volk als ein Subjekt der Geschichte aus der Erzählung. Die Logik der Verkörperung funktioniert nicht zwischen dem Herrscher und dem Kollektiv, sondern zwischen dem Imperator und dem imperialen Raum, der dem ausgewählten Einzelnen seine Konditionen diktiert. Die gesamte Machtbefugnis liegt beim Imperator. Das Herrschaftsmodell wandelt sich im Roman von einer quasi demokratischen Regierungsform zu einer absolutistischen Monarchie. Die alleinige Staatsgewalt liegt beim Imperator. Wenn man die Herkunft von Ivan Nekitaev – von dem Toten – in Betracht zieht, lassen sich zudem Parallelen mit dem toten Imperator ziehen. Der Lokus der Souveränität kehrt zu dem Herrscher zurück, dessen natürlicher Körper eine Semantik des Todes trägt. Der Tod des natürlichen Körpers des Herrschers steht in direktem Zusammenhang mit der Zerstörung seines politischen Körpers und folglich ebenso mit dem Zerfall des Imperiums. Im letzten Kapitel, sieben Jahre nach der Thronbesteigung, wurden infolge des Einsatzes von Atomwaffen Erde und Wasser vergiftet. Ernteausfälle und Naturkatastrophen kennzeichnen die Regierung von Ivan Nekitaev. Das Leben im Imperium scheint zu erlöschen. Das Einzige, das Ivan Nekitaev interessiert, sind militärische Aktionen und die Eroberung neuer Räume. 4.4.4 Imperiale Unifizierungsstrategien

Die Konzeption des Imperiums basiert auf der räumlichen Machtexpansion, die durch die räumliche Verbreitung die unterzuordnenden Räume in den Bereich des Sakralen verwandeln soll. Dies äußert sich besonders in den Strategien der Inklusion bzw. Exklusion. Das Eigene verbreitet sich in dem ihm zugehörenden Raum durch die Unterdrückung des »Anderen«.110 Dabei wird eine klare Linie zwischen dem »Eigenen« und dem »Anderen« gezogen: »Tогда распознаются »свои« и »чужие«.«111 (Dann lassen sich die »Eigenen« und die »Fremden« erkennen.) In »Ukus angela« bemüht sich das Imperium, die Kategorie des »Eigenen« zu erweitern.112 Allerdings erfolgt dies nicht durch die Inklusionsstrategie mit der Bewahrung der ethnischen Vielfalt, sondern durch die Unifizierung bzw. Vernichtung des kulturellen »Anderen«. Ivan Nekitaev erobert nicht nur das Territorium, sondern zerstört die Armee des Gegners auf eine Weise, dass ihre Wiederherstellung und der Gegenkrieg nicht mehr 110 Vgl. Lipoveckij: Paralogii. Transformacii (post)modernistskogo diskursa v russkoj kul’ture 1920–2000-ch godov, 491. 111 Krusanov: Ukus angela, 172. 112 Vgl. Jakovlev: Imperskij soblazn, 56.

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möglich sind. Er lässt im Krieg mit Mähren, das harten Widerstand leistet, die dritte Stufe der Einschüchterung anwenden, indem er komplett das Leben des Landes ändert. с танками и огнеметами прошел по моравским селениям, не зная милости и оставляя за собой изжеванные гусеницами пепелища.[…] Кроме того, Некитаев велел заложить новые города и снести уцелевшие, а людей переселить с насиженных мест в необжитые. Словом, он решил изменить в этой стране все, чтобы здесь не осталось не города, не учреждения, ни звания, ни богатства, которые не были бы обязаны ему своим сущестованием […]113 (mit Panzern und Flammenwerfern zog er durch mährische Dörfer. Er zeigte keine Gnade und hinterließ die von den Gleisketten zerdrückten Brandstätten. […] Außer­ dem ließ Nekitaev neue Städte gründen und gebliebene Städte vernichten, die Menschen von ihren angestammten Orten in unwirtliche Gegenden umsiedeln. Mit einem Wort, er beschloss, alles in diesem Land zu ändern, damit es keine Stadt, keine Anstalt, keine Rangstufe geben würde, die ihm ihre Existenz verdanken würde […]).

Außer der physischen Vernichtung, denen die Rebellen ausgesetzt sind, wird all das, was zu der erinnerungskulturellen und identitätsstiftenden Dimension eines Volkes gehört, zerstört. Das Konzept des Imperiums, das im Roman angeführt ist, gründet sich nicht auf Prinzipien der religiösen, kulturellen und ethnischen Heterogenität. Vielmehr liegen ihm die gewalttätigen Strategien der Unterdrückung und Unifizierung zugrunde. So verschwindet ebenfalls die Beschreibung des ethnisch heterogenen Volkes, die noch in den Kapiteln vor der Machtübernahme von Nekitaev präsent ist. Das letzte Kapitel des Romans, dessen Handlung sieben Jahre nach der Krönung stattfindet, ist einer Sitzung des Beirats des Imperiums gewidmet. Figuren in diesem Kapitel sind der Imperator, sein Beirat sowie die Gardewache. Die kulturelle Vielfalt im letzten Kapitel wird allein durch überlebende Artefakte – Papyrusrollen, Schilder usw. – dargestellt. Die ethnische und nationale Vielfalt des Imperiums wird durch die militärische Ordnung ersetzt. Um den Sieg in dem mehr als sieben Jahre dauernden Krieg zu erreichen, lässt Nekitaev außerirdische Wesen, die Hunde von Hekate (der altgriechischen Göttin der Magie, der Totenbeschwörung und des Spuks), auf die Erde – trotz der Gefahr, dass diese Wesen ihn selbst vernichten und das Imperium in Chaos stürzen könnten. In diesem Sinne ist Ivan Nekitaev bereit, sein Leben und alles zu opfern, damit die intrinsische Mission des Imperiums, die Petr Legkostupov als »Universalität« (»vsemirnost’«) beschreibt, verwirklicht werden kann. 113 Krusanov: Ukus angela, 307 f.

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In seinem Werk bewegt sich Krusanov zwischen der Anhänglichkeit zu den militärisch-imperialen Ideen und ihrer spielerischen Reflexion.114 Krusanovs Auseinandersetzung mit den eurasischen Diskursen führt in der literarischen Fiktion dazu, dass das Imperium nicht nur über die im Neo-Eurasismus geforderten Grenzen hinausgeht, sondern auch die ganze Welt zu erobern versucht. Darin aber steckt seine (selbst-)zerstörerische Kraft. Im Roman bedingen sich die Gestalt des Imperators und des Imperiums gegenseitig. Ivan Nekitaev setzt den Willen des Imperiums um, den umgebenden Raum zu erobern und zu vereinheitlichen. Dabei tritt eine Diskrepanz zwischen der narrativen Darstellung des Imperators und seiner politischen Inszenierung in Krusanovs Werk auf. Während sich die philosophische Begründung der imperialen Macht an das im neo-eurasischen Diskurs formulierte Konzept des heiligen Monarchen annähert, verbindet die narrative Komponente den natürlichen und politischen Körper des Imperators mit der Semantik des Todes. Entgegen der rhetorischen Rechtfertigung der imperialen Erweiterung, die den umgebenden Raum in ein Paradies verwandeln soll, erweist sich die Herrschaft von Ivan Nekitaev als destruktiv und tödlich für den Staat. Seine Regierung zerstört nicht nur die kulturelle Diversität in der Welt, sondern untergräbt ebenfalls die Lebensgrundlagen der Menschen. Das Imperium verwandelt sich metaphorisch in eine Leiche. Und dessen semantisches Analogon ist der tote Körper des Imperators.

114 Vgl. Noordenbos: Post-Soviet literature and the search for a Russian identity, 128.

5. Einheit und Heterogenität des Imperiums in »Evrazijskaja simfonija« (2000–2005) von Chol’m van Zajčik

5.1

Die Romanreihe: eine kultur- und literaturwissenschaftliche Annäherung

Auf den ersten Blick wirkt die Romanreihe unter dem übergeordneten Titel »Evrazijskaja simfonija« (2000–2005 »Die eurasische Symphonie«) von Chol’m van Zajčik wie eine literarische Realisierung von eurasischen Motiven. Bereits der Titel weist darauf hin, dass die Elemente der (neo-)eurasischen Ideologie eine Rolle bei der Gestaltung des Werkes spielen. Eine Anspielung auf den Begriff »symphonische Persönlichkeit« ist mit dem Wort »Simfonija« (»Symphonie«) gewährleistet. Mit dem Konzept bemühten sich die Eurasier, die absolute Einheit von Individuum, Gesellschaft, Kultur, Religion und Staat zu begründen.1 Im Kontext der imperialen Heterogenität von Kulturen gingen die Eurasier davon aus, dass es sich nicht um eine Menge, sondern um eine symphonische Einheit der einzelnen Kulturen handelt.2 In diesem Sinne bezieht sich der Titel auf die Implikationen der Metapher der Persönlichkeit in den Imaginationen eines kollektiven Ganzen, die die organische Natürlichkeit des gemeinschaftlichen Körpers voraussetzen. Auch verweist der Titel auf den von Michail Titarenko geprägten Terminus »Symphonie vielfältiger Kulturen«, mit dem er die Idee der kulturellen eurasischen Diversität begründen wollte.3 Die Romanreihe deutet demnach ein friedliches Miteinander verschiedener Ethnien in einem Staat an. Der (Neo-)Eurasismus zielt darauf ab, die Einheit der in Eurasien lebenden Völker durch kulturelle Wechselwirkungen zu untermauern, die über viele Jahrhunderte hinweg stattgefunden haben. Das Werk appelliert an dieses Konzept und modelliert eine Situation, in der die Einheit der Völker durch einen freiwilligen Akt der Vereinigung zustande kam. Der Zyklus der Romane basiert auf dem Postulat, dass die Einheit des Staates eine unverzichtbare Voraussetzung für die Einheit der Völker ist – für das friedliche Zusammenleben verschiedener Kulturen auf einer geografischen Raum-

1 Vgl. Karsavin: Osnovy politiki, 368. 2 Vgl. ebd., 369. Siehe dazu Kapitel 3.2.4. 3 Siehe dazu Kapitel 3.4.1. und 3.4.6.

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Einheit und Heterogenität des Imperiums in »Evrazijskaja simfonija«

einheit. Es scheint also, dass sich »Evrazijskaja simfonija« diskurskonform zu den Annahmen der (neo-)eurasischen Ideologie verhält, indem der Zyklus der Romane Millionen Menschen verschiedener Kulturen und Konfessionen auf einem Territorium in einer scheinbar harmonischen Gesellschaft leben lässt. Im Vordergrund steht die Darstellung des Lebens im imaginierten Imperium – die Realisierung eines kontrafaktischen Szenarios. Eine gängige Definition beschreibt kontrafaktische Literatur als eine alternative Entwicklung der Vergangenheit, bei der ein oder mehrere Ereignisse an einem bestimmten Zeitpunkt einen anderen Verlauf nehmen und zu einem neuen historischen Ausgang führen.4 »Evrazijskaja simfonija« modelliert eine Veränderung eines Geschichtsgangs, die auf der Annahme basiert, dass der Sartaq Khan der Goldenen Horde am Anfang der 60-er Jahre des 13. Jahrhunderts eine Union mit dem russischen Fürsten Alexander Newski schloss.5 In der etablierten Geschichtsfassung half Sartaq zwar dem Fürsten Alexander Newski 1252 gegen den Aufstand des Bruders Andrej, allerdings gingen die Interaktionen zwischen Alexander Newski und Sartaq über die Grenzen militärischer Kooperation nicht hinaus. In der alternativen Geschichte der Romanreihe gründet Sartaq zusammen mit Alexander Newski einen Staat. Der Roman stellt die erinnerungskulturelle Dimension der mongolischen Herrschaft infrage, die in die offizielle sowjetische und die russische Geschichtsschreibung als eine Periode der ökonomischen und politischen Abhängigkeit Russlands von dem mongolischen Imperium eingegangen ist, und fügt sich in die eurasische Interpretation der Geschichte ein. In der Konzeption von Lev Gumilëv wird die Interaktion zwischen Russen und Mongolen von der Mitte des 13. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts als für beide Seiten vorteilhaftes Militärbündnis aufgefasst.6 Die Romanreihe knüpft an die Idee des Bündnisses an und erweitert sie auf politische und kulturelle Dimensionen. »Evrazijskaja simfonija« spielt eine Situation nach, in der eine Annäherung 4 Vgl. Nicolosi, Riccardo /  Obermayr, Brigitte / Weller, Nina: Kontrafaktische Interventionen in die Zeit und ihre erinnerungskulturelle Funktion. Einleitung. In: Nicolosi, Riccardo /  Obermayr, Brigitte / Weller, Nina (Hg.): Interventionen in die Zeit. Kontrafaktisches Erzählen und Erinnerungskultur. Paderborn 2019, 1–15, hier 3; vgl. Navratil, Michael: Jenseits des politischen Realismus. Kontrafaktik als Verfahren politischen Schreibens in der Gegenwartsliteratur (Juli Zeh, Michel Houellebecq). In: Neuhaus, Stefan / Nover, Immanuel (Hg.): Das Politische in der Literatur der Gegenwart. Berlin De Gruyter 2019, 359–376, hier 366; vgl. Widmann, Andreas Martin: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung. Untersuchungen an Romanen von Günter Grass, Thomas Pynchon, Thomas Brussig, Michael Kleeberg, Philip Roth und Christoph Ransmayr. Heidelberg 2009, 49–50; vgl. Rosenfeld, Gavriel David: The world Hitler never made. Alternate history and the memory of Nazism. Cambridge, New York u. a. 2005, 4. 5 Vgl. van Zajčik, Chol’m: Delo žadnogo varvara. Sankt-Peterburg 2000, 7. 6 Vgl. Gumilëv: Ot Rusi do Rossii. Očerki etničeskoj istorii, 125.

Die Romanreihe: eine kultur- und literaturwissenschaftliche Annäherung 

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zwischen Russland und Asien bereits vor mehreren Jahrhunderten stattfand. Die daraus entstandene spezifische Kultur des eurasischen Staates funktioniert als Grundlage für den sozialen Wohlstand und das friedliche Miteinander verschiedener Ethnien innerhalb einer staatlichen Entität. Die Romanreihe entlehnt die eurasische Idee über die positive Auswirkung der mongolischen Herrschaft auf die Herausbildung militärisch-politischer Strukturen und die Entwicklung des russischen Imperiums. Die Ambition des Texts wird nachvollziehbar, Russland zumindest am Anfang der Gründung des Staates nicht bloß als einen Rezipienten einer fremden Kultur, sondern einen gleichberechtigten Partner in der imperialen Staatsgründung zu beschreiben. Auf der lexikalischen Ebene wird die Vereinigung von Russland und der Horde im Namen des Imperiums »Ordus’« wiedergegeben. Aus den Morphemen der Wörter »Orda« (»Horde«) und »Rus’« (»altes Russland«) bilden die Autoren den Neologismus »Ordus’«. Wie Andreas Martin Widmann bemerkt, fungieren menschliche Subjekte als wichtiges Element7 kontrafaktischer Geschichtsdarstellung, denn gerade im Bereich der zentralen, politischen Geschichte erweist sich die unlösbare Verknüpfung von Individuum und Ereignis, von Subjekt und Geschichte und die Abhängigkeit von historisch handelnden Menschen entgegen den dezentralisierten und depersonalisierenden Tendenzen in der Geschichtswissenschaft und -theorie.8

Der Romanzyklus bedient sich real existiert habender Personen, die nicht nur als Bausteine des Kontrafaktischen, sondern ebenso durch den Akt der Staatsgründung als Modelle für die Etablierung der Prinzipien der Vereinigung auftreten. Dies wird in einer angeblichen Übersetzung des Wortes Ordus’ aus dem Chinesischen angedeutet: Если эти иероглифы, читающиеся как »Оуэрдусы«, перевести по смыслу, их можно понять как »Пахать [землю] (т.е. трудиться) вдвоем, на равных – и держать под контролем свое низменное [эгоистическое, корыстное]«. Очевидно, в этой фразе сформулирован основной принцип объединения, совершенного в свое время Сартаком и Александром.9

7 Als weiteren Baustein des Kontrafaktischen zählt Andreas Martin Widmann die Unterscheidung zwischen zwei Ebenen der Ereignisdarstellung, nämlich zwischen dem beschreibenden und erklärenden Modus der Geschichtsrepräsentation bzw. zwischen Story und Plot. Als weiteres wichtiges Element des Kontrafaktischen nennt er Kerne, unter denen historische Ereignisse und Entscheidungssituationen gefasst werden können, die als Ausgangspunkt für kontrafaktische Geschichtsentwürfe dienen können. (Vgl. Widmann: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung, 133–139.) 8 Ebd., 141. 9 van Zajčik: Delo žadnogo varvara, 25. Eckige und runde Klammern i. Orig.

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Einheit und Heterogenität des Imperiums in »Evrazijskaja simfonija«

(Wenn man diese Hieroglyphen, die als »Ouerdusy« gelesen werden, sinngemäß übersetzt, kann man sie als »Pflügen [die Erde] (d. h. arbeiten) zu zweit, auf Augenhöhe – und unter Kontrolle eigener niedriger [egoistischer, selbstsüchtiger] Beweggründe halten« verstehen. Offensichtlich spiegelt diese Phrase das grundsätzliche Prinzip der Vereinigung wider, die Sartaq und Aleksandr zu ihrer Zeit vollgezogen haben.)

Durch die Parallelisierung ethnischer Zugehörigkeit zwischen zwei Herrschern und zwei Protagonisten im Roman – Vermittler russischer und mongolischer Herkunft – findet dieser politische Akt der Staatsgründung eine symbolische Verkörperung auf der Ebene der interpersonellen Beziehungen und zugleich aktualisiert er die kontrafaktische Staatsgründung in der erzählten Zeit des Romans. Die Handlung der Romane spielt sich demnach in einem Staat ab, der aus der Vereinigung der Horde und Russland im 13. Jahrhundert entstanden ist. Zum 14. Jahrhundert hat sich der Staat in eine Wohlstandsgesellschaft gewandelt. China, das zu der Zeit eine politische Krise durchlebte, zog vor, sich auf föderative Grundlagen mit Ordus’ im 14. Jahrhundert zu einigen. Das kontrafaktische Gründungsnarrativ wird als eine wichtige Komponente der Entstehung einer besonderen Kultur in Ordus’ im Vorwort des Herausgebers thematisiert. Так на просторах Евразии возникла колоссальная империя с чрезвычайно специфической культурой. Именно эта культура – культура уважительности к иному, культура способности все считать родным и все приспосабливать для пользы народа – к двадцатому веку сделала Ордусь величайшим, богатейшим и гуманнейшим государством мира.10 (So entstand ein riesiges Imperium mit einer ganz eigenen Kultur in den Weiten Eurasiens. Gerade diese Kultur – die Kultur des Respekts gegenüber dem anderen, die Kultur der Fähigkeit, alles als heimisch betrachten und alles zum Wohle des Volkes anzupassen – hat Ordus’ im zwanzigsten Jahrhundert zum größten, wohlhabendsten und menschenfreundlichsten Staat der Welt gemacht.)

Zwischen dem im Vorwort beschriebenen kontrafaktischen Staatsursprung und den Ereignissen in der Romanreihe liegt eine Zeitspanne von mehreren Jahrhunderten. Die Ereignisse in der Romanreihe spielen sich um die Jahrtausendwende 2000 ab. In der Romanreihe ist das Imperium eine natürliche und unentbehrliche Form der politischen Ordnung, die den ökonomischen Wohlstand und wohl auch die kulturelle Diversität gewährleistet. Die Ermittlungsfälle im Roman sind Verbrechen, die den Status quo des Imperiums herausfordern und die Identität des Imperiums beeinträchtigen können.

10 Ebd., 7.

Die Romanreihe: eine kultur- und literaturwissenschaftliche Annäherung 

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Mikhail Suslov weist darauf hin, dass das Narrativ von »Evrazijskaja simfonija« einen therapeutischen Effekt in sich trägt, indem es versucht, die Bifurkationsstelle in der Geschichte zu finden, die zum Zerfall der Sowjetunion führte. Das Trauma von 1991 wird hier zwar nicht thematisiert, aber als Wunsch wahrgenommen, einige Ereignisse der Geschichte rückgängig zu machen, insbesondere die Westernisierung von Peter I., die Oktoberrevolution, den Großen Vaterländischen Krieg und die Desintegration der Sowjetunion.11 Der Erfolg der Romane wird einerseits auf die in den Romanen dargestellte Alternative des westlichen Entwicklungsmodells zurückgeführt.12 Nicht zufällig wird das dargestellte Imperium in der Rezeption als gutes wahrgenommen, in dem alle Völker und Glaubensrichtungen gleich sind.13 Andererseits wird die Popularität mit mehreren intertextuellen Verweise auf die sowjetische Kultur und die damit verbundene Nostalgie nach dieser Zeit erklärt. Mark Lipoveckij bemerkt, dass sich »Evrazijskaja simfonija« von Chol’m van Zajčik in die postmodernen Auseinandersetzungen mit den sowjetischen Mythologemen, Diskursen und Symbolen einordnet.14 So erinnert die Hymne von Ordus’ an den sowjetischen Text: »Die unzerbrechliche Union der kulturellen Völker vereinigte für die Ewigkeit Aleksandr und Sartaq.« (»Союз нерушимый улусов культурных сплотили навек Александр и Сартак.«15) Die Texte, die an die sowjetische Vergangenheit appellieren, repräsentieren in der Regel die positive kulturelle Erfahrung der sowjetischen Vergangenheit und haben eine therapeutische Funktion im Gegensatz zu den traumatischen Erlebnissen der postsowjetischen Zeit.16 In diese Argumentationslinie fügt sich ebenfalls die These von Birgit Menzel ein. Sie geht davon aus, dass die russische Populärliteratur17 der postsowjetischen Zeit »Funktionen der Vergangenheitsbewältigung 11 Vgl. Suslov, Mikhail: Eurasian Symphony: Geopolitics and Utopia in Post-Soviet Alternative History. In: Bassin, Mark / Pozo, Gonzalo (Hg.): The politics of Eurasianism. Identity, popular culture and Russia’s foreign policy. London, New York. 2017, 81–100, hier 88. 12 Vgl. Volodichin, Dmitrij: Intellektual’naja fantastika. Moskva 2007, 152. 13 Vgl. Goričenskij, Aleksej: Imperija nanosit otvetnyj udar. Poka – udar literaturnyj. URL : http://orduss.pvost.org/pages/press_5.html (am: 25.12.2020). 14 Vgl. Lipoveckij: Paralogii. Transformacii (post)modernistskogo diskursa v russkoj kul’ture 1920–2000-ch godov, 723–724. 15 van Zajčik: Delo žadnogo varvara, 106. 16 Vgl. Lipoveckij: Paralogii. Transformacii (post)modernistskogo diskursa v russkoj kul’ture 1920–2000-ch godov, 726–727. 17 In der postsowjetischen Zeit sind mehrere fiktionale Werke entstanden, die die kontrafaktische Geschichtsdarstellung thematisieren. Wie Marija Galina ausführt, wenden sich die Autoren vor allem der Revolution von 1917, dem Zweiten Weltkrieg und dem Verlust der geopolitischen Bedeutung Russlands zu. Zu erwähnen sind an dieser Stelle die Werke, in denen eine kontrafaktische Geschichtsdarstellung geopolitische Veränderungen bzw. eine Umverteilung des Raums nach sich zieht: »Inoe nebo« (1993) – Neuveröffentlichung 1997 unter dem Titel »Vse, sposobnyje deržat’ oružij« von Andrej Lazarčuk, »Tichij angel proletel« (1994) von Sergej Abramov, »Sed’maja čast’ t’my« (1997) von Vasilij Ščepetnev,

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Einheit und Heterogenität des Imperiums in »Evrazijskaja simfonija«

für breite Bevölkerungsschichten übernommen hat, die sowohl Angebote der Bewältigung als auch der kompensatorischen Reideologisierung umfassen«18. Der Romanzyklus wurde zwischen 2000 und 2005 veröffentlicht und scheint die von Menzel beschriebene kulturelle Funktion zu erfüllen. Allerdings funktioniert das postmoderne Spiel mit verschiedenen Diskursen anders als z. B. im Roman von Pavel Krusanov. Vielleicht wäre es angemessener, über die formelle Übernahme einiger Verfahren des Postmodernismus im Roman zu sprechen, wenn man in Anlehnung an Mark Lipoveckij das grundlegende Prinzip der russischen postmodernen Literatur – die Umwandlung des literaturozentrischen Mythos und die damit verbundenen paralogischen Kompromisse von binären oder tertiären Oppositionen – in Betracht zieht. In diesem Fall geht es nicht um den Einbezug von binären Oppositionen in ein semantisches Feld. Die Romane bleiben der Gegenüberstellung binärer Gegensätze treu. Dies zeigt sich in einer klaren Unterscheidung zwischen »guten« Ermittlern und »schlechten« Verbrechern. Der Untertitel des Romanreihe »Plochich ljudej net« (»Es gibt keine schlechten Menschen«) drückt den konfuzianischen Gedanken aus, dass Menschen von Natur aus gut sind. Die Verbrecher sind im Roman keine »schlechten« Menschen im ontologischen Sinne, sie sind lediglich Subjekte, die zumeist in eine schwierige Lage geraten und deswegen eine Fehlentscheidung treffen. In einigen Rezeptionen wurde die dargestellte Welt als Utopie19 wahrgenommen. Nach der Bemerkung von Lobin unterscheidet sich zwar die Romanreihe von der klassischen Utopie20, insofern sie die Schaffung eines isolierten Chronotopos und die kulturelle Homogenität der Bevölkerung voraussetze.21 Trotzdem ordnet er die Romanreihe diesem Genre zu, da das Hauptthema nicht nur die Gestaltung einer glücklichen und vernünftigen Gesellschaft, »Žavoronok« (1999) von Andrej Stoljarov, »Černoe znjama« (2014) von Dmitrij Kazakov. (Vgl. hierzu Galina, Marija: Vernut’sja i peremenit’. Al’ternativnaja istorija Rossii kak otraženie travmatičeskich toček massogo soznanija postsovetskogo čeloka. In: Novoe literaturnoe obozrenie 146 (2016), 258–271.) 18 Menzel, Birgit: Die Transzendenz des Alltags: Trivialliteratur und Science Fiction in der postsowjetischen Perestrojka und postsowjetischen Zeit. In: Pietrow-Ennker, Bianka (Hg.): Kultur in der Geschichte Russlands: Räume, Medien, Identitäten, Lebenswelten. Göttingen 2007, 315–332, hier 317. 19 Vgl. Eliseev, Nikita: Niže urovnja morja. Sem’ petersburgskich toček Chol’ma van Zajčika i ego »Evrazijskoj simfonii«. In: Russkij Žurnal, 02.09.2002, URL : http://old.russ.ru/ krug/20020829.html (am 25.01.2020). 20 Als Merkmale von Utopie werden von Heller und Niqueux zwei Elemente genannt. Das erste Element bestehe im Bruch mit der Gegenwart, der sich in der mehr oder weniger ausgeprägten Ablösung von der Zeit oder dem Raum ausdrücke. Die zweite Eigenschaft sei eine Vision, die gesellschaftliches Allgemeinglück verspricht (Vgl. Heller, Leonid / ​ ­Niqueux, Michel: Geschichte der Utopie in Russland. Bietigheim-Bissingen. 2003, 13). 21 Vgl. Lobin, Aleksandr: Avtorskie konсepcii rossijskoj istorii v russkoj literature XXI veka, Uljanovsk 2015, 245.

Die Romanreihe: eine kultur- und literaturwissenschaftliche Annäherung 

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sondern auch eine Formel für ein friedliches Zusammenleben aller Nationen und Konfessionen sei.22 Laut Tat’jana Breeva kann der Zyklus der Romane ebenfalls als Realisierung der eurasischen Utopie betrachtet werden.23 Darüber hinaus lässt sich die Romanreihe in die Gattung des Kriminalromans einordnen. Vergleicht man allerdings die Romanreihe mit anderen Werken der populären Literatur dieses Genres, lässt sich behaupten, dass die Dynamik des Sujets und die Darstellung der Ermittlungen relativ einfach sind.24 Die Kriminalkomponente der Romane funktioniert in diesem Fall eher als ein die Leser anlockender Hintergrund für die Entfaltung der Prinzipien und Ideen einer vermeintlich utopischen Gesellschaft.25 Die Romane sind als Übersetzung aus dem Chinesischen konzipiert. Damit ordnen sie sich in die Pseudoübersetzungsliteratur, eine Unterart von literarischen Mystifikationen ein, wenn originale Werke für die Übersetzungen aus anderen Sprachen ausgegeben werden.26 Chol’m van Zajčik ist ein literarisches Pseudonym der Schriftsteller Vjačeslav Rybakov und Igor’ Alimov. Der Name ist eine Anspielung auf den niederländischen Sinologen Robert van Gulik27, der eine Reihe von Kriminalromanen um den chinesischen Richter Di schrieb. Das Vorbild der Romanfigur war eine historische Persönlichkeit in China zur Zeit der Tang-Dynastie (618–906). In der »Evrazijskaja simfonija« trägt ein Kater den Namen Richter Di, was sich als weitere Parallele zu Robert van Gulik deuten lässt. In dem Vorwort der Herausgeber zum zweiten Roman »Delo nezaležnych dervišej« (»Der Fall der unabhängigen Derwische«) wird seine fiktive Biografie beschrieben. Dabei enthalten die Romane zahlreiche Kommentare und intertextuelle Verweise, die dem Leser einen besseren Einblick in die chinesische Kultur geben sollen. Der Text weist eine große Zahl an wortwörtlichen Übersetzungen und Entlehnungen aus dem Chinesischen auf. Die anscheinend utopische Gesellschaft, die in einer Reihe von Romanen dargestellt ist, ist in hohem Maß von der chinesischen Kultur geprägt. Zum Teil sind diese Auszüge fiktiv, wie 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. Breeva: Nacional’nyj mif v russkom istoriosofskom romane situacii rubežnosti, 295. 24 Vgl. Lobin: Avtorskie konсepcii rossijskoj istorii v russkoj literature XXI veka, 244. 25 Vgl. Lanin, Boris: Voobražaemaja Rossija v sovremennoj russkoj antiutopii. In: Mochizuki, Tetsuo (Hg.): Beyond the empire. Images of Russia in the Eurasian cultural context. Sapporo 2008, 375–390, hier 378. 26 Vgl. Čuprinin, Sergej: Ešče raz k vorposu o kartograffi vymysla. In: Znamja 11(2006), URL: http://znamlit.ru/publication.php?id=3120 (am 06.11.2019). 27 Il’ja Kukulin weist neben dem Zyklus von Kriminalromanen von Robert van Gulik noch auf zwei Quellen für die Stilistik und das Sujet der Romanreihe »Evrazijskaja simfonija« hin: den Roman von Vasilij Aksenov »Ostrov Krym« und den Roman« Žuk v muravejnike« der Brüdern Strugatskij. (Vgl. Kukulin, Il’ja, »Naš novyj kiberpank«, In: Nezavisimaja gazeta vom 01.02.2001, URL: http://www.ng.ru/ng_exlibris/2001-02-01/6_cyberpunk.html (am 10.12.2017).)

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z. B. ein Kommentar zum 22. Kapitel der Gespräche des Konfuzius (Lun-yu), die tatsächlich aber nur aus zwanzig Kapiteln bestehen. Damit realisieren die Autoren ihre Vision der chinesischen Kultur in Anwendung auf die russischeurasische harmonische Gesellschaft. Der Romanzyklus führt somit auf die Prinzipien der Formierung einzelner Individuen, Nationen und Ethnien zu einer holistischen Gesellschaft zurück und lässt den Gedanken erkennen, dass ein friedliches Miteinander verschiedener Völker realisierbar ist. Auf erzählerischer Ebene geht es, wenn auch in ironischer Form, in drei von sieben veröffentlichten Romanen um Konfliktsituationen zwischen Ethnizitäten und Konfessionen, die meistenteils erfolgreich überwunden werden, sodass die Einheit des Imperiums wieder bestätigt wird. Ungeachtet des wahrscheinlichen Anspruchs der Autoren, eine Vision einer einheitlichen Gesellschaft zu entwerfen, nimmt die Romanreihe zunehmend eine fremdenfeindliche und antisemitische Haltung ein, die ihren Kulminationspunkt im letzten veröffentlichten Roman »Delo nepogašennoj luny« erreicht. Während die drohende Teilung in den Romanen »Delo nezaležnych dervišej«, »Delo o polku Igoreve«, »Delo pobedivšej obez’jany« und »Delo Sud’i Di« erfolgreich überwunden wird, scheint die Idee der Einheit und Vielfalt im Roman »Delo nepogašennoj luny« unterminiert zu sein. Narrative und inhaltliche Strategien des letzten Romans der Reihe bilden einen gewissen Widerspruch, so meine These, zu der Idee der symphonischen Einheit verschiedener Kulturen unter dem Dach der imperialen Herrschaftsform. Die unterschwellige antisemitische Haltung der Romane stellt grundsätzlich die Möglichkeit der imperialen Einheit infrage. Im Folgenden werden imperiale Strategien der Einheit im Roman beschrieben. Des Weiteren wird anhand ausgewählter Romane die Problematik der interreligiösen und interkulturellen Beziehungen präsentiert, die die Texte der Romane auf programmatischer Ebene zu überwinden versuchen, doch durch ihre verschleierte fremdenfeindliche Haltung gegenüber einigen ethnischen und religiösen Gruppen daran scheitern. Es könnte konstatiert werden, die Darstellung der Gesellschaft in den Romanen sei durchaus nah zu den Prinzipien, die Oliver Marchart in Bezug auf den Totalitarismus beschrieben hat. Er hat die These aufgestellt, dass das Hauptmerkmal des Totalitarismus darin bestehe, dass die Einheit einer Gesellschaft durch die Verdeckung jeder Form von Antagonismus hergestellt wird. Dies führt allerdings zu einem internen Widerspruch, da die Teilung als eine ontologische Dimension nie vollständig verdrängt werden kann und durch interne Substitute ersetzt werden muss.28 In Bezug auf den Romanzyklus lässt sich behaupten, dass die Textstrategien des Romans das Prinzip der verneinten Teilung reproduzieren, indem der 28 Vgl. Marchart: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, 144.

Visionen des Imperiums 

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Roman auf oberflächlicher Ebene die Einheit begründet, gleichzeitig aber eine neue Differenz konstruiert. Besonders anschaulich lässt sich dies im letzten Roman der Reihe »Delo nepogašennoj luny« beobachten. Es funktioniert durch die Diskrepanz zwischen dem kontrafaktischen Szenario über die Rettung der Juden und der narrativen Struktur der Romanreihe, die sich sowohl durch die antisemitische Darstellung jüdischer Figuren als auch die strukturelle Diskriminierung der Juden in der fiktionalen Welt des Romans auszeichnet.

5.2 Visionen des Imperiums 5.2.1 Herstellung interethnischer und interkonfessioneller Einheit

Das narrative Muster der Romane ordnet sich in das typische Schema eines Kriminalromans ein, das auf die Struktur »Fall – Ermittlung – Lösung« zurückzuführen ist und mit einigen Erzählvariationen in allen Romanen der Reihe zu finden ist. Exemplarisch werden dieses Schema – am Beispiel des ersten Romans »Delo žadnogo varvara« (»Der Fall eines begierigen Barbaren«)29 – und der Bezug des Romans zum (neo-)eurasischen Diskurs analysiert. In den ersten fünf Kapiteln wird in das Leben zweier Protagonisten mit semantisch kodiertem Namen – Bagatur und Bogdan – eingeführt. Der Vorname Bagatur bedeutet ungefähr »Riese«, »tapferer Kämpfer«, »Kraftmensch« bei mongolischen und türkischen Völkern. Er ist Abteilungsleiter in der Ermittlungsverwaltung der Vollzugsbehörde (»sledstvennoe upravlenie Palaty nakazanij«30), was als Anspielung auf den Geheimdienst FSB gelesen werden kann. Bagatur ist von zutiefst verschlossenem Charakter und übt seinen Job mit einer solchen Leidenschaft aus, dass er oftmals über die angebrachten Vermittlungsmethoden hinausgeht bzw. Gewalt anwendet. Im ersten Roman soll der Beamte des Amts für die ethische Aufsicht Bogdan Ruchovič Oujancev Sju an der Ermittlung teilnehmen. Der slawische Name Bogdan bedeutet »Geschenk Gottes«. In der dargestellten Welt ist Bogdan russisch und orthodox. Die Idee der russisch-asiatischen Verbindung wird in die Figurenebene integriert, indem Bogdan und Bagatur trotz derartig verschiedener kultureller und individueller Hintergründe eine feste Freundschaft schließen. Wie sich im Folgenden zeigen wird, gehören Figuren im Roman als diskursive Konstruktionen des Kulturellen bzw. des Nationalen zu den wichtigen Merkmalen des Sujets. 29 Der Roman gewann sofort große Popularität und wurde beim russischsprachigen Phantastenfestival in der Ukraine 2001 mit dem ersten Preis ausgezeichnet. 30 van Zajčik: Delo žadnogo varvara, 27.

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Einheit und Heterogenität des Imperiums in »Evrazijskaja simfonija«

Gemäß Tat’jana Breeva verfügen die Protagonisten über eine Reihe von polaren Eigenschaften, was durch die ethnischen und konfessionellen Unterschiede ergänzt wird. Im Roman soll diese Polarität die Mechanismen des multikulturellen Staates, der nicht auf Antagonismus und Unifizierung, sondern auf den Prinzipien der Komplementarität gründet, symbolisieren.31 Eine Gegensätzlichkeit drückt sich auch in ihrem Familienstand aus: Während Bogdan mit einer Muslimin, Firuse, verheiratet ist und im vierten Kapitel eine befristete Ehe mit der Französin Žanna schließt, ist Bagatur alleinstehend. Bogdan ist äußerst altruistisch und glaubt fest daran, dass Werte wie »Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Pflicht«32 für Menschen leitend sind. Er verfügt über ausgeprägte Intuition und Einsichtsfähigkeit, was seinen professionellen Aufstieg ermöglicht und neben der ihm innewohnenden außergewöhnlichen Eigenschaft diesen Aufstieg ebenfalls als transzendent markiert. Der Fürst des russischsprachigen Gebiets im Imperium sagt diesbezüglich: вы  – самый добросердечный из работников, приближенных к престолу. Это факт. То, что вы с вашим характером смогли подняться столь высоко, – само по себе чудо…или промысел Божий…33 (Sie sind der herzensbeste Mitarbeiter unter allen, die dem Thron nahestehen. Das ist eine Tatsache. Dass Sie mit ihrem Charakter so hoch aufsteigen konnten, ist ein Wunder an sich … oder die Vorsehung Gottes …)

Bogdan ist dem politisch-offiziellen Zentrum des Imperiums nicht gegenübergestellt: Es gibt keinen Konflikt zwischen seiner inneren Haltung und der ideologischen Konstruktion des Imperiums. Dies kann als die Besetzung des offiziellen Zentrums mit einer humanistischen Ethik interpretiert werden, die Bogdan vertritt. Solcherart bietet sich nicht nur ein Identifikationsangebot mit dem altruistischen Bogdan, sondern auch mit der Politik des Imperiums an, was zum Teil den Erfolg der Romane beim Publikum und teilweise ihre positivistische Interpretation bei den Kritikern erklärt. Die Titel der Kapitel erinnern, indem sie die Zeit und den Ort des Geschehens benennen, an einen Polizeibericht. Gleichwohl fängt der Roman mit der Einführung in das private Leben der Protagonisten und nicht mit der unmittelbaren Schilderung eines kriminellen Falls an. Der Anfang des Romans beschreibt einen Freitagabend in Bagaturs Wohnung, aus der sich eine Aussicht auf den Konfuzius-Tempel, den Buddha-Tempel und den Prospekt der allgemeinen Ruhe in der Stadt Aleksandrija eröffnet. Am gleichen Abend geht er in 31 Vgl. Breeva: Nacional’nyj mif v russkom istoriosofskom romane situacii rubežnosti, 304–306. 32 van Zajčik, Chol’m: Delo nezaležnych dervšej. Sankt-Peterburg 2003a, 336. 33 van Zajčik, Chol’m: Delo nepogašennoj luny. Sankt-Peterburg 2005, 74 f.

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sein Lieblingslokal, wo er die Nachrichten im Internet durchliest und auf diese Weise über den Diebstahl des Brustkreuzes des Heiligen Hierarchen Sysoj aus dem Patriarchat erfährt – das Verbrechen, das das Sujet des Romans bestimmt. Danach wird zur Darstellung Bogdans Familienlebens gewechselt. Wie sich herausstellt, soll Bogdans Frau Firuse, die ihr erstes Kind erwartet, nach einer Familientradition einige Monate nach der Geburt des Kindes in ihrem Elternhaus verbringen. Für die Zeit, die Bogdan ohne sie bleibt, findet sie für ihn eine zweite Frau – die Französin Žanna, die sie und Bogdan bei einem Konzert kennenlernen. Bogdan und Žanna schließen am selbigen Tag eine dreimonatige befristete Ehe. Eine fast idyllische Familienszene in Bogdans Haus, als Firuse Bogdans zweiter Frau Žanna einige Tipps vor ihrer Abreise gibt, wird durch eine plötzliche Wendung im Erzählgeschehen  – nämlich durch einen Telefonanruf und die darauf folgende Abfahrt von Bogdan zum Tatort – unterbrochen. Zum ersten Mal begegnen sich die Protagonisten am Tatort – in der Sakristei. Die erste Begegnung der Ermittler ruft gegenseitiges Misstrauen hervor. Beide betrachten einander als Rivalen und wollen ihre Vermutungen in Bezug auf das Verbrechen nicht preisgeben. Schließlich schlägt Bogdan vor, vorläufige Rückschlüsse auf Papier zu bringen und sie auszutauschen. Dabei stellen sie fest, dass ihre Vermutungen erstaunlicherweise zusammenfallen. Die ausgeschaltete Alarmanlage und die auffälligen Türbeschädigungen lassen die Protagonisten vermuten, dass die Täter sie auf die falsche Fährte zu locken versuchen. Die erste Verdächtigte ist die Mitarbeiterin des Patriarchats, Bibizin. Allerdings ist festzustellen, dass dies eine falsche Fährte ist. Ein anderer Mitarbeiter, Bergis Landsbergis34, der zuvor mit seinen Andeutungen die Verdächtigung auf Bibizin hingelenkt hatte, steht nun im Blickpunkt der Ermittlungen. Mithilfe einer unrechtmäßigen Überwachung finden die Protagonisten heraus, dass Landsbergis tatsächlich das Kreuz gestohlen hat. Darüber hinaus soll er auf eine Anordnung seines Bruders, eines amerikanischen Geschäftsmanns, das wichtigste Heiligtum im russischsprachigen Landsteil des Imperiums – die Jassa von Dschingis – stehlen. Durch die Erläuterung ihrer Herkunft wird die Geschichte der Staatsgründung Ordus’ verdeutlicht. Die Jassa von Dschingis – das mongolische Grundgesetz – schenkte der mongolische Herrscher Sartaq dem russischen Fürsten Alexander Newski zu Ehren des Vertrags über die gleichberechtigte Vereinigung der Horde und des alten Russlands, der im Gegenzug die mit Juwelen eingelegte Ausgabe des russischen Gesetzes  – »Russkaja Prawda« (»die Russische Wahrheit«)  – schenkte. Durch den Kulturtransfer des russischen und des mongolischen Gesetzbuches wird die Staatsgründung in einem symbolischen Akt gefeiert. 34 Der Name Landsbergis kann als Anspielung auf den litauischen Politiker Vytautas Landsbergis gelesen werden.

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Die Gründung einer politischen Gemeinschaft erfolgt durch und mit einem Vertragsschluss. Der Umgang mit den Reliquien in den jeweiligen Teilen des Imperiums illustriert den utopischen Wunsch nach den Bedingungen für das friedliche Miteinander unterschiedlicher Ethnien und Konfessionen: Im Gebiet von Aleksandrija war der Text der Jassa viel bekannter, während die Bestimmungen der »Russischen Wahrheit« im Gebiet von Kasan’ größere Popularität gewann.35 Mit dem Austausch von nationalen Gesetzbüchern, die im Laufe der Zeit zu den wichtigsten Heiligtümern der jeweiligen Teile des Imperiums geworden sind, findet ein Akt statt, der zweierlei Implikationen hat. Erstens erwerben beide Gesetzbücher im Laufe der Zeit sakrale Konnotationen und symbolisieren damit die Realisierung der utopischen Vision des Imperiums, in der die Ausführung der Gesetze eine religiöse Komponente in sich birgt. Zweitens kann dieser Umtausch als ein erfolgreicher Kulturtransfer bezeichnet werden, indem er die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen verschwimmen lässt. Eine symbolische Bedeutung des Gesetzbuches der Jassa von Dschingis drückt sich in dem Imperativ aus, alle Religionen zu respektieren.36 In den Romanen wird dieses Prinzip im Modell der multiplen religiösen Identität sowohl auf der Ebene der Gesellschaft als auch auf der Ebene des Individuums Wirklichkeit. Erstens erfüllt der Konfuzianismus37 die Rolle der vereinigenden Philosophie38, die praktisch alle Lebensbereiche durchdringt. Zusammen mit dem Bekenntnis zu einer Religion befolgen die Bewohner von 35 Vgl. van Zajčik: Delo žadnogo varvara, 88. 36 Vgl. ebd., 34. 37 Die Lehre des Konfuzius hat eine nicht aufhörende Debatte nach seinem Charakter in der Wissenschaft ausgelöst. Die Versuche, den Konfuzianismus zu erklären, scheinen ein breites Spektrum von Kategorien einzubeziehen: Er ist sowohl eine philosophische als auch eine religiöse Tradition, die einen untrennbaren Bestandteil der chinesischen Kultur darstellt. Der Konfuzianismus wird in China, wie Anna Xiao Dong Sun bemerkt, offiziell nicht als eine Religion anerkannt. Jedoch hat sein komplexer und widersprüchlicher Charakter seit dem Anfang der europäisch-chinesischen Kontakte dazu geführt, dass der konfuzianischen Lehre zunehmend auch religiöse Merkmale zugeschrieben wurden. (Vgl. Sun, Anna Xiao Dong: Confucianism as a world religion. Contested histories and contemporary realities. Princeton 2013, 1 f.) Einer der Gründe dafür waren konfuzianische Konzepte, die in der Wahrnehmung der europäischen geisteswissenschaftlichen Tradition die transzendenten Merkmale in sich bergen. Wie Torbjörn Lodén schreibt, gehört der Konfuzianismus nicht zu den monotheistischen Religionen, jedoch spiele das Konzept von Himmel eine große Rolle dabei. Im etablierten Konfuzianismus nähert sich die Bedeutung von Himmel der Idee der natürlichen Ordnung, wobei dabei betrachtet wird, dass die fundamentalen ethischen Prinzipien dem Universum innewohnend sind und ihre Nichtbefolgung schädliche Konsequenzen haben kann, was nicht weit von der Vorstellung einer übermenschlichen Macht ist. (Vgl. Lodén, Torbjörn: Rediscovering Confucianism. A major philosophy of life in East Asia. Folkestone 2006, 3 f.) 38 Vgl. Dubakova, Anna: »Evrazijskaja simfonija« Chol’ma van Zajčika kak utopija panreligioznogo is pansozial’nogo ekumenizma. In: Gramota 21/2 (2009), 50–51, hier 51.

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Ordus’ die konfuzianische Lehre, die mit jeder Konfession kompatibel zu sein scheint. Das Bekenntnis zu einer bestimmten Religion – ob Buddhismus, Orthodoxie oder Islam – setzt in Ordus’ ein Streben nach Selbstverbesserung in Übereinstimmung mit der konfuzianischen Ethik voraus. Die Verbreitung des Konfuzianismus scheint im Imperium enorm zu sein. Im Zentrum der Stadt Aleksandrija befindet sich ein Konfuzius-Tempel, was auf der topologischen Ebene die Hierarchisierung der Religionen im Imperium darstellt. Dorthin begeben sich die Protagonisten, um eine Genehmigung für die Beschattung der verdächtigen Person einzuholen. In diesem Zusammenhang fungiert der Konfuzianismus als übergeordnete Philosophie, die das harmonische Miteinander verschiedener Konfessionen und Religionen ermöglichen soll. Sie ist auch fest in die alltägliche Praxis der Menschen integriert: Воздействие благородно деловитого конфуцианства сказалось и здесь; издавна светский распорядок жизни сложился так, что, вне зависимости от вероисповедания, люди проводили седьмой день недели с семьей. Будь ты мусульманин или христианин, иудей или буддист  – считалось в высшей степени аморальным не посетить в отчий день свой храм, не отстоять, скажем, заутреню и не подать батюшке кучку поминальных записок.39 (Auch hier hat der Einfluss des edlen und soliden Konfuzianismus gewirkt; seit langer Zeit hat sich der gesellschaftliche Alltag so entwickelt, dass Menschen unabhängig von den Konfessionen den siebten Tag der Woche mit der Familie verbringen. Ob Du Moslem oder Christ, Jude oder Buddhist bist – es gilt als äußerst unsittlich, an dem Elterntag nicht in den Tempel zu gehen, am Morgensegen beispielsweise nicht teilzunehmen und dem Priester nicht einen Haufen von Gedenkzetteln zu überreichen.)

Die Vereinbarkeit verschiedener Religionen beginnt somit auf dem Niveau eines Individuums, was ein Muster für interkonfessionelle Beziehungen in der Gesellschaft vorgibt. Die ökumenische Bestrebung nach Einigung aller Religionen und Kirchen40 fungiert jedoch nicht als Grundlage das friedliche Koexistieren verschiedener Konfessionen und Religionen im Imperium. Vielmehr geht es dabei um das Prinzip der multiplen religiösen Zugehörigkeit, nach dem ein Mensch in seinem Alltag gleichzeitig Praktiken und Traditionen zweier oder mehrerer religiöser Systeme vereinbaren kann. Bogdans familiäre Beziehungen können als Paradebeispiel für dieses Prinzip angesehen werden. Obwohl er sich zum orthodoxen Christentum bekennt, folgt er auf Anregung seiner muslimischen Frau der Tradition der Polygamie, die im Islam gestattet ist, und heiratet die zweite Frau – die katholische Französin Žanna. 39 van Zajčik: Delo žadnogo varvara, 142. 40 Vgl. Dubakova: »Evrazijskaja simfonija« Chol’ma van Zajčika kak utopija panreligioznogo is pansozial’nogo ekumenizma, 50.

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Außerhalb der Rahmenerzählung bleibt die Frage, wie dies mit den Prinzipien der orthodoxen Religion kompatibel ist. Die Autoren beschreiben den totalen religiösen Synkretismus, der interfamiliäre und gesellschaftliche Bereiche durchdringt. Wie Mikhail Suslov bemerkt, hebt Chol’m van Zajčik eher religiöse als nationale Heterogenität hervor. Ordus’ ist durch religiöse Gemeinden strukturiert, die nicht unbedingt mit der ethnischen und nationalen Einteilung zusammenfallen.41 Immerhin ist das Verhältnis der Protagonisten weit entfernt vom kanonischen religiösen Gehorsam. Trotz der abgelehnten Genehmigung, die sie im Konfuzius-Tempel erbitten, wird der Verdächtige Landsbergis unter rechtswidrige Beobachtung gestellt. Bagatur bittet Bogdan, dies zu organisieren, da dessen orthodoxe Religion ermögliche, durch Erfüllung einer vom Priester auferlegten Buße die Sünde zu tilgen. Bagatur als Buddhist traut sich dies daher nicht: »Я бы сам – но с кармой не шутят …«42 (»Ich würde das selbst machen, man spielt aber mit dem Karma nicht … ») Endlich führen die Ermittlungen zu einem Auftraggeber – dem amerikanischen Milliardär Hammer Zores43 zurück, der Bergis Landsbergis und seinen Bruder beauftragt hat, die Jassa von Dschingis zu stehlen. Da seine Täterschaft nicht bewiesen werden kann, entscheidet die an der Vermittlung teilnehmende chinesische Prinzessin, dem Milliardär die Jassa von Dschingis zu schenken. Dieser Akt soll eine transzendente Bestrafung nach sich ziehen, indem sich der Himmel um die Wiederherstellung der Gerechtigkeit kümmert. Der Milliardär wird sich ruinieren, sein Vermögen wird zur Versteigerung kommen und die Jassa wird zurück nach Ordus’ gebracht. Весь народ, как один человек, хочет, чтобы ошибка была исправлена, а варвар – наказан. А когда император просит Небо и Землю о том, чего хочет весь народ и в чем сходятся главы всех улусов, Небо и Земля подчас идут императору навстречу.44 (Das ganze Volk will wie ein Mensch, dass der Fehler beseitigt und der Barbar bestraft wird. Wenn der Imperator Himmel und Erde darum bittet, was sich das ganze Volk wünscht und worüber sich die Verwaltungsbeamten aller Ulus einig sind, kommen Himmel und Erde dem Imperator meist entgegen.)

Die Figur des Milliardärs tritt im Roman als Bestandteil der antiwestlichen Ausrichtung auf. Die Idee der unversöhnlichen Feindschaft gegenüber dem Westen, so Mikhail Suslov, ordnet sich in die Erzählhandlung der Romanreihe 41 Vgl. Suslov: Eurasian Symphony: Geopolitics and Utopia in Post-Soviet Alternative History, 93. 42 van Zajčik: Delo žadnogo varvara, 173. 43 Eine Anspielung auf den amerikanischen Investor ungarischer Herkunft George Soros. 44 van Zajčik: Delo žadnogo varvara, 264.

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ein, in der die Verbrecher hauptsächlich mit dem Westen oder dem westlichen Einfluss assoziiert sind.45 Die Brüder Landsbergis landen im Gefängnis – im Sujet des Romans dient dies der Illustration des schädlichen Einflusses des Westens. Die Leitidee des Romans, es gebe keine schlechten Menschen, findet an dieser Stelle Bestätigung: Die Brüder Landsbergis sind nicht schlecht per se, lediglich durch den Einfluss des amerikanischen Milliardärs haben sie einen Fehler begangen. Sie wirken darüber hinaus im Roman als diskursive Repräsentation der baltischen Staaten, was sich auf narrativer Ebene in die Problematik des Verhältnisses zwischen Ordus’ und dem Westen einordnet. Das Ende des Romans dient in gewisser Weise als Symbol für die zeitgenössischen geopolitischen Projektionen Russlands: Die Integration der baltischen Staaten in den Westen, der im Roman als Feindbild dargestellt wird, ist im Roman eine Andeutung auf vermeintlich fehlerhaftes Verhalten der baltischen Staaten. Der Roman entwirft solchermaßen ein bestimmtes geopolitisches Modell, in dessen Zentrum sich Ordus’ mit enormer kultureller, wissenschaftlicher und ökonomischer Bedeutung befindet. Ihm wird der Westen, repräsentiert durch die Staaten des westlichen Europas und Amerika gegenübergestellt. Japan ist ein unabhängiger Staat und lehnt sich in seinem Entwicklungsmodell eher an den Westen an, wird allerdings freundlich wahrgenommen und aus dem konträren Verhältnis zwischen dem Westen und Ordus’ ausgeschlossen. Neben der ideologischen Botschaft des Romans, die die Absonderung und gleichzeitig kulturelle Überlegenheit des eurasischen Imperiums Ordus’ gegenüber dem Westen behauptet, thematisiert der Text des Romans die Möglichkeit der Einheit von Menschen ungeachtet ihrer unterschiedlichen konfessionellen und kulturellen Hintergründe. 5.2.2 Figurationen politischer Ordnung

In »Evrazijskaja simfonija« wird die Idee der multikulturellen Gesellschaft durch die Anwendung eines kontrafaktischen Szenarios Wirklichkeit, das den Vertragsschluss zwischen dem russischen Fürsten und dem mongolischen Khan zur Grundlage der Entstehung neuer Staatlichkeit macht. Die Metapher des Gesellschaftsvertrags spiegelt bewusstes Vorhaben von Subjekten wider, eine bestimmte politische Ordnung zu konstituieren. Im Unterschied zu der Metapher eines Organismus, die die Lebensfähigkeit einer Gesellschaft allein in ihrer primären Gesamtheit voraussetzt, basiert die Metapher des Vertrags auf der Vorstellung eines von Menschen intentional geschaffenen Gemeinwesens. In diesem Verständnis der sozialen Instituierung verlagert sich der 45 Vgl. Suslov: Eurasian Symphony: Geopolitics and Utopia in Post-Soviet Alternative History, 86.

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Schwerpunkt des metaphorischen Denkens auf die entwickelten Normen, Regeln und Ideen, die als Grundlage des gesellschaftlichen Ganzen dienen. In der Vertragsmetapher ist gleichfalls »das Moment des Ursprungs akzentuiert: Das Sozialverhältnis kann als Vertragsverhältnis betrachtet werden, weil es auf die Idee eines ursprünglichen Kontrakts zurückzuführen ist.«46 Dies würde bedeuten, dass der Staat seiner vertraglichen Gründung nicht vorausgeht und »die Beendigung des Vertrags unmittelbar jede Form von Gemeinschaft auflösen und die Individuen zurück in den Naturzustand versetzen würde.«47 Die Formierung der Gesellschaft durch einen derartigen Akt impliziert eine freiwillige Zusammensetzung ihrer Bestandteile. In dieser Hinsicht konnotiert das kontrafaktische Narrativ der Gründung des Imperiums Ordus’ die potenzielle Auflösungsmöglichkeit der imperialen Einheit. Allerdings greift die Rhetorik der gemeinschaftlichen Einheit in der erzählten Zeit der Romanreihe auf andere bildliche Figuren zurück – nämlich auf Familien- und Körpermetaphern. Mit der organischen Körpermetaphorik, die auf Natürlichkeit, Kontinuität und Unteilbarkeit abzielt, wird darüber hinaus das Verhältnis zwischen den Teilen des politischen Gemeinwesens von Ordus’ beschrieben. Im Roman »Delo Sud’i Di« (»Der Fall des Richters Di«) zieht der Imperator eine Parallele in einer Fabel zwischen einem menschlichen Körper und einem Staat. Als zwei Lehrlinge Konfuzius fragten, ob ein Staat, wenn er seine Untertanen zwingt, das zu machen, was sie nicht wollen, ein Feind für jeden Menschen ist. Die Antwort von Konfuzius lässt die sozialen Beziehungen eines Staates in einer Organismus-Metapher denken. In seinen Ausführungen spielt der Körper eine übergeordnete Rolle und seine Mitglieder erfüllen Funktionen, damit er funktionieren kann: Бывает, телу нужно бежать, и тогда легкие задыхаются, но враг ли тело легким? Бывает, телу нужно трудиться, и тогда сердце бьется до изнурения – но враг ли тело сердцу?48 (Es kommt vor, dass der Körper laufen muss und dann die Lunge keine Luft mehr bekommt, ist der Körper aber ein Feind der Lunge? Es kommt vor, dass der Körper schwer arbeiten muss und dann das Herz bis zur Erschöpfung schlägt, aber ist der Körper dem Herzen ein Feind?)

Genauso funktioniert es aber auch andersherum: Kranke Organe sind dem Körper keine Feinde. Der metaphorische Gebrauch des Körpers in Bezug auf eine politische Einheit bringt ein abhängiges Verhältnis zwischen einem 46 Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, 170. 47 Spitta: Gemeinschaft jenseits von Identität? Über die paradoxe Renaissance einer politischen Idee, 79. 48 van Zajčik, Chol’m: Delo Sud’i Di, Sankt-Peterburg 2003c, 262.

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Staat und seinen Untertanen hervor. Ein Körper ist seiner Natur nach allein als unteilbare Einheit der Körperteile zu denken: Sein Zerfall ist nicht nur schädlich, sondern auch naturwidrig.49 Die Organismus-Analogie erlaubt darüber hinaus, soziale Beziehungen in hierarchischer Ordnung darzustellen. In dieser Fabel impliziert die Imagination gesellschaftlicher Einheit anhand der Körpermetapher, dass individuelle Interessen der Logik des Gemeinwesens untergeordnet werden müssen. Eine Parallele für die Notwendigkeit der hierarchischen Struktur einer Gesellschaft findet sich im Nachwort des letzten Romans der Reihe »Delo nepogašennoj luny« (»Der Fall des nichtausgelöschten Mondes«). Die erzählende Instanz führt die Leser in die Bedeutung des chinesischen Schriftzeichens 仁(rén) ein, was als Humanität oder Menschlichkeit übersetzt werden kann. Die Bedeutung des Schriftzeichens erschöpft sich darin jedoch nicht. Es folgen die Reflexionen der erzählenden Instanz über die Bedeutung der schriftlichen Form. Das Schriftzeichen besteht aus zwei Zeichen: »Person« und »zwei«, was verschiedene Interaktionen zwischen zwei oder mehreren Personen symbolisiert. Dabei wird das chinesische Zeichen 二 (zwei) der römischen Ziffer II gegenübergestellt, was den grundlegenden Unterschied in der Fassung der Stelle eines Individuums in der Gesellschaft zwischen der europäischen und der chinesischen Zivilisation symbolisiert. Während zwei Individuen in der europäischen Zivilisation als ebenbürtig, aber auch als antagonistisch wahrgenommen werden können, sind Individuen in der chinesischen Kultur a priori ungleich: В Китае же один из двух обязательно, неизбежно, по определению – ближе к Небу, другой ближе к Земле; один – старше, другой – младше.50 (In China ist einer der beiden unbedingt, unvermeidlich und grundsätzlich näher am Himmel, der andere ist näher an der Erde; der eine ist älter, der andere ist jünger.)

Das Schriftzeichen 仁 (rén) symbolisiert dahingehend ein gesellschaftsmodellierendes Prinzip, nach dem die Rollenverteilung, die Ungleichheit von Funktionen und Pflichten in jeder Gesellschaf bestehen.51 Im Roman »Delo Sud’i Di« wird die Möglichkeit der dienstlichen Versetzung von Bagatur nach Cambaluc in der Rückblende geschildert. Seine Absage führt Bagatur auf das voranstehend ausgeführte Prinzip zurück. In Analogie zu Tieren, die lediglich unter bestimmten klimatischen und geografischen Bedingungen leben können, ist der Mensch in der Lage, erst dann seine »natürliche« Bestimmung zu erfüllen, wenn er den für ihn vorgesehenen Platz im sozialen System einnimmt: 49 Vgl. Koschorke / Lüdemann / Frank / Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, 18. 50 van Zajčik: Delo nepogašennoj luny, 501. 51 Vgl. ebd., 501 f.

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Карп дожен жить в пруду, ибо именно там карп на своем месте, гармонично сливается с придонной тиной, и нечего ему, карпу, делать в быстрых водах горной реки. Возомнивший себя форелью карп не имеет шансов исполнить свое природное предназначение.52 (Karpfen sollten in einem Teich leben, denn dort ist der Karpfen an seinem Platz, verschmilzt harmonisch mit Bodenschlamm. Der Karpfen hat in den schnellen Gewässern eines Gebirgsflusses nichts zu tun. Ein Karpfen, der sich für eine Forelle hält, hat keine Chancen, seine naturgegebene Bestimmung zu erfüllen.)

Die Beschreibung der politischen Ordnung in Ordus’ schließt ebenso Familienmetaphern ein. Im Roman »Delo nepogašennoj luny« sind Aussagen enthalten, die die Ähnlichkeit zwischen einem Staat und einer Familie in Anlehnung an die Lehre von Konfuzius postulieren. Imaginationen, die auf einer Parallele zwischen Familie und Staat beruhen, sind sowohl in verschiedenen Formen der Figurenrede (wörtliche Rede und Gedanken) als auch in den Kommentaren des fiktiven Übersetzers zu finden. Im Text ergeben sich aus der Parallelisierung zwischen einer Familie und einem Staat bestimmte Eigenschaften der politischen Ordnungen: Давным-давно великий Конфуций сформулировал основные принципы уважительного отношения человека к государству и государства к человеку, приравняв государство и семью. Служа отцу, можно научиться служить государю, учил он, а заботясь о сыне, можно научиться заботиться о народе.53 (Vor langer Zeit formulierte der große Konfuzius die grundlegenden Prinzipien einer respektvollen Haltung des Menschen zum Staat und des Staates zum Menschen, indem er Staat und Familie gleichsetzte. Indem man dem Vater dient, kann man lernen, dem Herrscher zu dienen, lehrte er, und indem man sich um den Sohn kümmert, kann man lernen, sich um das Volk zu kümmern.)

Auf diese Weise werden Bestandteile sowie Beziehungen zwischen politischem System und Familie gleichgesetzt. In dieser Konzeption ist der Herrscher ein fürsorglicher Vater, der an das Kindeswohl denkt. Untertanen werden mit Kindern einschließlich ihrer politischen Unreife gleichgesetzt: In diesem Zusammenhang dürfen Untertanen dem Herrscher und seiner Politik nicht entgegenwirken Somit balanciert die Begründung des Imperiums Ordus’ zwischen den Metaphern des künstlichen Vertragsschlusses, der organischen Metaphorik und der Metapher der Familie. Mit dem Vertragscharakter der politischen Gemeinschaftsgründung wird der freiwillige Charakter des Zusammenlebens 52 van Zajčik: Delo Sud’i Di, 18. 53 van Zajčik: Delo nepogašennoj luny, 142.

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von Völkern und Ethnien in Ordus’ impliziert. Allerdings sind, wie durch einige Rückblenden in den Romanen angedeutet wird, in der Geschichte von Ordus’ innere militärische Auseinandersetzungen und die Niederwerfung von Aufständen nicht unbekannt.54 In der Verbindung mit der Familienmetaphorik, der das konfuzianische Prinzip der Ehrerbietung des Sohns zugrunde liegt, ist die diskursive Auseinandersetzung mit historischer Gewalt als einer staatsbildenden Komponente in der erzählten Welt ausgeschlossen. Die Erinnerungskultur in der erzählten Zeit der Romanreihe verharmlost die staatliche Gewalt gegenüber Ethnien oder sozialen Gruppen. Auch die staatliche Gewalt gegenüber Individuen ist im Gesetz eingeschrieben und wird in Form der körperlichen Strafen Realität. Auf programmatischer Ebene entwirft der Text in der erzählten Zeit eine harmonische Gesellschaft: »die gegenwärtigen Tage der allgemeinen ordussischen Harmonie«55. Die Metapher des Körpers bringt die Imagination der politischen Ordnung hervor, in der das Interesse der Gesellschaft vor das des Individuums gestellt wird. Die Gesellschaft wird als natürliche Einheit dargestellt, die unteilbar und unauflöslich ist. 5.2.3 Topografien des imperialen Raums

Zum 21. Jahrhundert hat sich Ordus’ in ein gigantisches Imperium mit sieben autonomen Ländern56 und drei Hauptstädten entwickelt: Оно [государство] раскинулось от сияющих тропиков Индокитая и Тайваня до холодных вод Суомского залива…57 (Er [der Staat] erstreckte sich von den sonnigen Tropen Indochinas und Taiwans bis zu den kalten Gewässern des Finnischen Meerbusens.)

Im Imperium sind mehrere Ethnien und Nationalitäten vorhanden; verschiedene Konfessionen – Orthodoxie, Islam, Buddhismus, Taoismus, Judaismus – scheinen friedlich miteinander zu koexistieren. Das Imperium besteht aus sieben Verwaltungsgebieten, dabei ist jedes Gebiet mit höchstmöglicher Autonomie ausgestattet.58 Im russischsprachigen Gebiet des Imperiums heißt die 54 Vgl. van Zajčik: Delo Sud’i Di, 123. 55 Ebd. 56 Eine ironische Anspielung auf die administrative Reform im Jahre 2000, als Russland in sieben Föderationskreise eingeteilt wurde. (Vgl. Rybakov, Vjačeslav: Chol’m van Zajčik kak zerkalo russkogo konservatizma. In: Russkaja ideja, 31.08.2014, URL : https://politconservatism.ru/prognosis/kholm-van-zaychik-kak-zerkalo-russkogokonservatizma (am 25.12.2020)). 57 van Zajčik: Delo žadnogo varvara, 7. 58 Vgl. van Zajčik: Delo nepogašennoj luny, 41.

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Hauptstadt Aleksandrija Nevskaja (Allusion auf Sankt Petersburg), in der Mongolei Karakorum, in China und im ganzen Imperium Cambaluc (Beijing). Die Erweiterung des geografischen Raums, die zu den existierenden Grenzen geführt hat, liegt in ferner Vergangenheit und ist aus dem Rahmen der fiktionalen Geschichte ausgeschlossen. Dies impliziert die Unveränderlichkeit der Grenzen und soll selbst im Rahmen der literarischen Fiktion den Eindruck von Objektivität erwecken. Es scheint sogar, der Text der Romanreihe lehne auf inhaltlicher und narrativer Ebene die Idee der Erweiterung des Raums ab. Die Handlung des Romans »Delo Sud’i Di« spielt sich in Cambaluc ab, wo die Hautprotagonisten eingeladen werden, das chinesische Neujahr und den sechzigjährigen Geburtstag des Imperators zu feiern. In diesem Fall ist das Objekt der Ermittlung das religiöse Heiligtum von Muslimen – der Mantel des Propheten. Derjenige, der den Mantel hat, hat einen Anspruch, Muslime der ganzen Welt unter seiner Herrschaft zu einigen. Dem Neffen des Imperators, der den Islam vor kurzem »aus politischen Motiven« angenommen hat, wurde der Mantel unter der Voraussetzung, dass er die Muslime anderer Länder bei ihren Separationsbestrebungen unterstützen wird, als Geschenk angeboten. Das Sujet des Romans ist eine Anspielung auf das Konzept der »Russischen Welt«.59 Wenn die Idee der »Russischen Welt« mit dem Neo-Eurasismus durchaus kompatibel zu sein scheint, verneint der Handlungsverlauf des Romans die Möglichkeit der Separation bestimmter Bevölkerungsgruppen unter dem Vorwand religiöser oder kultureller Zugehörigkeit. Im Werk bereut der Neffe des Imperators seine Entscheidung, den Mantel des Propheten anzunehmen, und gibt seinen Anspruch auf den Thron auf. Eine Diskrepanz zwischen den (neo-)eurasischen Ideen und dem Text der Romanreihe kann in der Thematisierung der Stellung Russlands zwischen Europa und Asien ermittelt werden. Auf programmatischer Ebene wird die Sonderstellung Russlands bzw. dessen Nichtzugehörigkeit zu Europa und Asien in »Evrazijskaja simfonija« in einem Lied thematisiert: Мы не Европа и не Азия, Но сожалений горьких нет. Возникла странная оказия ‒да! В последние полтыщи лет!60

59 Unter der »Russischen Welt« versteht man ein kulturzivilisatorisches Konzept, das auf die Integration russischsprachiger Bevölkerungsgruppen abzielt und in den 2000er-Jahren zunehmend als geopolitische Strategie zur Legitimierung außenpolitischer Aktivitäten Russlands im postsowjetischen Raum eingesetzt wird. (Vgl. Schmid, Ulrich: Russki mir. In: Dekoder, 20.05.2016, URL : https://www.dekoder.org/de/gnose/russki-mir (am 03.11.2019); vgl. Alejnikova, Svetlana M.: »Russkij mir«: geopolitičeskij podchod. In: Vesti BGPU 2/1 (2017), 41–47, hier 41). 60 van Zajčik, Chol’m: Delo o polku Igoreve. Sankt-Peterburg 2003b, 51.

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(Wir sind weder Europa noch Asien, Es gibt aber kein bitteres Bedauern. Es gab einen seltsamen Anlass – ja! In den letzten fünf hundert Jahren!)

Allerdings sind die erzählerischen Strategien der Romanreihe so aufgebaut, dass die proklamierte Nichtzugehörigkeit Russlands weder zu Europa oder Asien unterminiert wird. Im Neo-Eurasismus ist die Position von Michail Titarenko, der für eine Annäherung zwischen China und Russland plädiert, zwar durchaus nah zu den Motiven der Romanreihe. Allerdings konstruiert das in den Romanen beschriebene Modell des Imperiums die Dynamik der russisch-chinesischen Verhältnisse anders als dies in den publizistischen Texten des (Neo-)Eurasismus angestrebt wird. »Evrazijskaja simfonija« positioniert Russland nicht als ein Zentrum des eurasischen Imperiums im Gegensatz zum (Neo-)Eurasismus, sondern lediglich als eine der Provinzen im Nordosten.61 Im Text der Romane wird Russland im eurasischen Raum des Imperiums eine periphere Lage in der Dynamik der russisch-chinesischen Beziehungen zugeschrieben. Mikhail Suslov stellt sogar die These auf, dass die vorgeschlagene Version des vereinten Imperiums, dessen politisches Zentrum in China liegt, nicht nur eine alternative Version des Eurasismus, sondern sogar bis zu einem gewissen Grad ein anti-eurasisches Projekt ist.62 Das utopische Ordus’ ist demnach größer als das eigentliche Russland, so Mikhail Suslov, allerdings ist Russland in Ordus’ kleiner im Vergleich zu seinen gegenwärtigen Grenzen. Dies entlarvt das dialektische Oszillieren eurasischer Imagination zwischen zusammenhängender Selbst-Verkleinerung und SelbstVergrößerung.63 Dieser These folgend, lässt sich hinzufügen, ein ähnliches Oszillieren funktioniert in den Kategorien des Zentrums und der Peripherie anhand der Gegenüberstellung von Aleksandrija Nevskaja und Cambaluc. Im Roman »Delo Sud’i Di« besichtigen die Protagonisten die Verbotene Stadt in Cambaluc: – Отчего я здесь чувствую себя таким маленьким и ничтожным?.. И тут, обычно не склонный к проявлению эмоций, Баг мягко положил ему руку на плечо и молвил проникновенно: – Потому что мы приближаемся к центру мира…64

61 Vgl. Suslov: Eurasian Symphony: Geopolitics and Utopia in Post-Soviet Alternative History, 91 f. 62 Vgl. ebd., 81. 63 Vgl. ebd., 92. 64 van Zajčik: Delo Sud’i Di, 129.

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(»Warum fühle ich mich so klein und nichtig?« Und da legte der gewöhnlich zurückhaltende Bag sanft die Hand auf seine Schulter und sagte stimmungsvoll: »Weil wir uns dem Zentrum der Welt nähern …«)

Cambaluc ist nicht nur das Zentrum von Ordus’, sondern das der ganzen Welt. In dieser Hinsicht reproduziert der Text eher die sinozentrische Weltordnung, die China als das Zentrum der Zivilisation betrachtet und deren Wirkung in China bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts galt. Die Etablierung der chinesischen Kultur war ein Kriterium, laut dem benachbarte Länder im sinozentrischen Weltverständnis nach einem Zivilisierungsgrad beurteilt wurden.65 Während sich der (Neo-)Eurasismus gegen die Universalisierung anderer Kulturen nach westlichen Werten sowie Maßstäben und auf rhetorischer Ebene für die Pluralität von Kulturen und ihren Entwicklungsprozessen positioniert, verneint »Evrazijskaja simfonija« die kulturelle Vielfalt auf globaler Ebene. Dem sinozentrischen Ordus’ wird in dieser Hinsicht kulturelle Überlegenheit gegenüber anderen Ländern zugeschrieben. Der Westen wird aus den zivilisierten Ländern ausgeschlossen. Ferner drücken sich die Strukturierung und die Hierarchisierung des Raums anhand der Beschreibung von geografischen Gestalten aus. Die Textstrategien des Romanzyklus illustrieren die Semiotik der Raumorganisation. Den Ausgangspunkt für die Modellierung der geografischen Oppositionen bildet die Stadt Aleksandrija Nevskaja – eine Anspielung an Sankt Petersburg. Die Stadt ist im russischen kulturellen Gedächtnis fest mit der Europäisierung Russlands unter Zar Peter I. verknüpft, trägt aber den Namen zu Ehren des Fürsten von Alexander Newski in der fiktionalen Welt des Werkes. Dies reflektiert eine Aktualisierung des kontrafaktischen Narrativs über die Vereinigung Russlands sowie der Goldenen Horde und blendet die Problematik der Modernisierung Russlands nach europäischem Vorbild aus der fiktionalen Welt aus. Darüber hinaus spielt sich die Handlung der Romane im russischsprachigen Gebiet des Imperiums in Aslaniv, Mosyke (Moskau) und den Solowezki-Inseln ab. An der dichotomischen topologischen Gegenüberstellung zwischen diesen Städten lässt sich verfolgen, wie sich die Semiotisierung des Raums vollzieht. 65 Das System der konzentrischen Kreisen bestimmte das System der internationalen Beziehungen zwischen China und anderen Ländern, die in drei Zonen gegliedert werden können: Die erste Zone bestand aus kulturell ähnlichen Ländern – Korea und Vietnam und Japan (für einige Zeit), die zweite Zone aus den nomadischen und halbnomadischen Völkern, die an der Grenze des chinesischen kulturellen Einflussgebiets wohnten, und die dritte – die äußere – Zone aus »Außenbarbaren« – Länder mit wesentlichen See- oder Landentfernungen zu China. (Vgl. Fairbank, John King: A preliminary framework. In: Fairbank, John King (Hg.): The Chinese World Order. Traditional China’s Foreign Relations: Cambridge1968, 1–19, hier 2.)

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In der Romanreihe funktioniert dies anhand mehrerer symbolischer Gegensätze: »zivilisiert – barbarisch«, »zentral – peripher«, »mystisch – heimisch«, »himmlisch – irdisch«. So strukturiert das Zentrum-Peripherie-Muster nicht nur das Verhältnis zwischen dem russischsprachigen Gebiet und dem Reich der Mitte, sondern gleichfalls zwischen den Städten. Aleksandrija Nevskaja tritt in Bezug zu Aslaniv und Mosyke als ein kulturell überlegenes Zentrum auf. Wenn die wirtschaftliche Rückständigkeit und die rechtliche Unkenntnis der Bevölkerung in Aslaniv situationsbedingt sind und auf die rechtswidrigen Handlungen der lokalen Regierung zurückzuführen sind, scheint Mosyke per se rückständig zu sein. Die »städtische Ansiedlung« (»zaštatnyj gorodok«66) Mosyke zeichnet sich durch »sinnlose Unregelmäßigkeit« (»bestolkovaja besporjadočnost’«67) aus. In Mosyke findet die Handlung des Romans »Delo pobedivšej obez’jany« statt, in dem es um den religiösen Kult um die ägyptische Mumie – eine Anspielung auf den mumifizierten Körper Lenins  – geht. Die Ideen der Sekte werden impliziter Kritik unterzogen. Die soziale Modellierung gründet nach den Vorstellungen der Sekte auf eine Analogie zwischen einer ideellen Staatsordnung und einer Maschine: У них [секты хемунису] так выходило, что она [машина] является идеальной и с точки зрения реального государственного переустройства  – что может быть удобнее, мощнее и послушнее машины с рычагами?. и с точки зрения нравственной: нет никаких мучений, нет ни малейших угрызений, нет изнурительных сложностей типа »с одной стороны, с другой стороны…«; даже личной ответственности нет.68 (Bei ihnen [der Sekte Hemunisu] scheint es so, dass sie [die Maschine] ideal sowohl unter dem Gesichtspunkt einer realen staatlichen Neuordnung ist  – was kann bequemer, mächtiger und lenkbarer als eine Maschine mit Hebeln sein? – als auch aus moralischer Sicht: Es gibt keine Qual, es gibt nicht die geringste Reue, es gibt keine mühseligen Schwierigkeiten wie »zum einen, zum anderen …«; es gibt sogar keine Eigenverantwortung.)

Dies wird im Text des Romans der organischen Metaphorik gegenübergestellt, die einer der Bestandteile der imperialen Selbstbeschreibung im Roman ist. Die ironische Darstellungsweise der religiösen Sekte »Hemunisu« und ihres sakralen Objektes, das im Roman mystische Ereignisse verursacht, schreibt 66 van Zajčik: Delo žadnogo varvara, 26. Im Russischen Imperium bezeichnete das Work »zaštatnyj« eine Siedlung mit einem Stadtrecht, die aber kein Zentrum eines Bezirks war. Im zeitgenössischen Sprachgebrauch bedeutet es etwa durchschnittlich, marginal, mittelmäßig. 67 van Zajčik, Chol’m: Delo pobedivšej obez’jany. Sankt-Peterburg 2002, 27. 68 Ebd., 64.

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sich in die Strategien der Gegenüberstellung zwischen dem zivilisierten Aleksandrija und dem rückständigen Mosyke ein. Anhand der Gegenüberstellung von Aleksandrija Nevskaja und den Solowezki-Inseln funktioniert die Einteilung des Raums in einen inneren bekannten Raum und in einen äußeren Raum, der sich durch mystische und transzendente Eigenschaften auszeichnet. Die Solowezki-Inseln sind im Roman »Delo lis-oborotnej« – quasi eine extraterritoriale Gestalt im Sinne einer Heterotopie nach Foucault. Dorthin begibt sich Bogdan, um eine Buße zu erfüllen. Auf den Inseln leben Fuchsfeen – phantastische Wesen aus der chinesischen Mythologie  –, die das menschliche Erscheinungsbild (oft junger verführerischer Frauen) annehmen können. Die transzendente Komponente des Romans wird mit der chinesischen Kultur in Zusammenhang gebracht. Im Unterschied zur ironischen Darstellung des religiösen Kults »Hemunisu« zeichnet sich der Roman »Delo lis-oborotnej« durch die dramatische und tragische Schilderung des Geschehenen aus. Im Roman wird aus den Fuchsfeen gesetzwidrig eine Arznei hergestellt. Die chinesische Kultur ist eine Quelle des Phantastischen und des Transzendenten in der Romanreihe. Darüber hinaus findet dies eine Bestätigung im Roman »Delo Sud’i Di«, dessen Handlung sich in der Stadt Cambaluc abspielt. Die transzendente Komponente führt auf die verstorbene Prinzessin  – die Ehefrau des zukünftigen Imperators – zurück. Nach ihrem Tod gibt sie Zeichen, die die Ermittler auf die Erklärung eines Geheimnisses bringen. Wie im vorherigen Roman verzahnt sich die Thematik der Transzendenz mit einem Drama. In dieser Hinsicht weist die Transzendenz der chinesischen Kultur eine erhabene Konnotation auf. Auf einer Horizontalebene geht die Struktur der chinesisch-russischen Beziehungen in das Zentrum-Peripherie-Verhältnis ein, in dem China eine übergeordnete Rolle zugeschrieben wird. Außerdem situiert die mit der chinesischen Kultur in Zusammenhang gebrachte Thematik der Transzendenz das russisch-chinesische Verhältnis auf einer vertikalen Achse. Die Verkörperung dieses Verhältnisses bildet die Stadt Cambaluc ab, die im Roman nicht nur das politische und kulturelle Zentrum des Landes, sondern ebenfalls das transzendente Zentrum bildet. Zudem zeigt sich dies in dem Konzept der imperialen Macht. In »Evrazijskaja simfonija« trägt der Imperator unter anderem den Titel »Sohn des Himmels«. Der Text reproduziert einen der grundlegenden Begriffe für die Legitimierung der politischen Macht. Der Imperator ist in dieser Hinsicht ein Pol, der eine transzendente Verbindung zwischen dem Himmel und der Erde gewährleistet.

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5.3 Zwischen Einheit und verschleierter Teilung 5.3.1 Überwindung der drohenden Teilung

In drei von sieben Romanen geht es darum, wie eine drohende Teilung oder eine Beeinträchtigung des imperialen Status quo erfolgreich überwunden und beseitigt wird. Die Romane vermitteln das Bild eines Staates, in dem ein friedliches Miteinander verschiedener Ethnien möglich ist. Die Handlung des zweiten in der Reihe erschienenen Romans »Delo nezaležnych dervišej« (»Der Fall der unabhängigen Derwische«) spielt in Aslaniv – der Hauptstadt einer Provinz –, die Unabhängigkeit vom Imperium und eine politische Integration mit Europa anstrebt. Eine der bedeutenden Komponenten in diesem literarischen Projekt ist das Vorwort des Herausgebers, das neben der Erläuterung des kontrafaktischen Staatsgründungsnarrativs eine bestimmte Lesart des Romans gestattet. Im Vorwort zum zweiten Roman thematisiert die Herausgeberin Olga Trofimova das Verhältnis zwischen dem imperialen Zentrum und den Regionen. Sie geht darauf ein, dass die Gesellschaftsordnung von Ordus’ demokratisch und der Willen einzelner Völker sowie Ethnien unantastbar seien.69 Die Einmischung des imperialen Zentrums in Unabhängigkeitsbewegungen einzelner Provinzen ist deswegen unmöglich. Dieser Gedanke wird in der Rede von Mokij Nilovič, dem leitenden Aufsichtsbeamten und Chef von Bogdan, bestätigt.70 Die in der erzählten Welt der Romane etablierte politische Ordnung setzt prinzipiell die Möglichkeit der Trennung einzelner Gebiete vom Imperium voraus. In Bezug auf zahlreiche intertextuelle Verweise auf die zeitgenössische Politik Russlands stellt Aslaniv eine synthetisierte Anspielung sowohl auf die Ukraine als auch auf Tschetschenien dar.71 Der Roman erzählt von der Tätigkeit der »unabhängigen Derwische«, einer kulturell-historischen Organisation in Aslaniv. Die typische Bekleidung eines Derwischs besteht aus einem Turban  – einer mit dem Islam assoziierten Kopfbedeckung  – sowie einer »Kosovorotka«  – einem traditionell slawischen Hemd.72 Die Stickerei auf dem Hemd verweist auf ein traditionelles ukrainisches Hemd, das zu einem nationalen Symbol der Ukraine in den postsowjetischen Jahren geworden ist. Die »Bruderschaft der unabhängigen Derwische« (»Bratstvo Nezaležnych 69 Vgl. van Zajčik: Delo nezaležnych dervšej, 6. 70 Vgl. ebd., 112. 71 Vgl. Kovalev, Viktor: Naše fantastičeskoe buduščee. Političeskie diskursy i političeskie prognozy v sovremmenoj rossijskoj fantastike: za i protiv (II). In: Politija 49/2 (2008), 58–75, hier 64; Koshino: The Image of Empire in Contemporary Russia’s »Alternative Histories«, 395. 72 Vgl. van Zajčik: Delo nezaležnych dervišej, 54.

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Dervišej«) propagiert die kulturelle Eigenständigkeit des Volkes, insbesondere Poetizität und Bildlichkeit der Sprache des Volkes, das das Gebiet von Aslaniv bewohnt.73 In Aslaniv sind starke nationalistische und separatistische Stimmungen zu beobachten. Gleichzeitig wird die chinesische Sprache, die im ganzen Imperium eine offizielle Verkehrssprache ist, verboten. Besondere Aufmerksamkeit wird der Suche von historischen Reliquien in der Organisation gewidmet. Dafür wird die ganze Bevölkerung mobilisiert. Es stellt sich heraus, dass die Regierung von Aslaniv unter dem Vorwand archäologischer Ausgrabungen Fortifikationsmaßnahmen errichtet, um sich von dem Imperium möglicherweise durch eine bewaffnete Auseinandersetzung zu trennen. Allerdings bezieht sich der Ermittlungsfall auf ein anderes Verbrechen. Bogdan fährt nach Aslaniv, um nach dem Verschwinden seiner zweiten Frau und eines Professors aus Frankreich zu ermitteln. Bagatur begibt sich zu einem Derwisch, der der Teilnahme am im ersten Roman beschriebenen Verbrechen – Diebstahl des Brustkreuzes des Heiligen Sysoj – verdächtig ist. Der formale Grund, sich nach Aslaniv zu begeben, sind also nicht die Separationsstimmungen der Provinz. Das Ermittlungsverfahren führt zu der Spur, dass die Entführung der zweiten Frau von Bogdan und des französischen Professors mit dem Leiter der örtlichen Verwaltung Kučum74 im Zusammenhang steht. Mithilfe des französischen Professors hoffte er den Schatz seines Vorfahren – des Grafen Drakussel – zu finden, um sich von Ordus’ zu trennen und dem »gemeinsamen europäischen Haus«75 anzuschließen. Es stellt sich außerdem heraus, dass Kučum für dieses Ziel unter dem Deckmantel der archäologischen Ausgrabungen Schanzarbeiten durchführt. Auf diese Weise wird die Schuld für die Separationsversuche und die Volksverhetzung dem Leiter der örtlichen Verwaltung zugeschrieben. Dabei wird impliziert, dass dies gegen den Willen des Volkes geschieht und das Volk diesbezüglich betrogen wurde. Auch in diesem Werk wird die Verbindung mit dem Westen als destruktiv dargestellt. Einerseits ist Kučum ein Nachfahre des Grafen Drakussel, der mit den Schätzen ins Ausland zu seinen Verwandten fliehen wollte. Der Unterschied zwischen den grundlegenden Werten in Ordus’ und im Westen und die ethische Überlegenheit des imperialen Zentrums, verkörpert durch den Berater der Ethik-Abteilung, Bogdan Oujancev-Sju, werden dabei thematisiert. Kučum will den Schatz für die persönliche Bereicherung finden und nicht, um das Leben in der Provinz zu verbessern, wie Bogdan es sich vorstellt. Daneben tritt Bogdan im Roman auch als ein rhetorischer Vermittler der imperialen Ordnung auf. Anhand zweier unterschiedlicher Metaphern bringt 73 Vgl. ebd., 53. 74 Eine Anspielung auf Leonid Kutschma – den ukrainischen Präsidenten von 1994 bis 2005. 75 van Zajčik: Delo nezaležnych dervišej, 318.

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er bestimmte Implikationen zum Ausdruck, die das Verhältnis zwischen dem imperialen Zentrum und seinen Bestandteilen betreffen. Die mögliche Abspaltung von Aslaniv wird durch die metaphorische Beschreibung des Imperiums als eines lebendigen Organismus problematisiert. Die mögliche Trennung des Gebiets Aslaniv würde auch bedeuten, das Lebendige zu teilen. Внезапно пришедшая в голову мысль о возможном отделении Асланiвського уезда от Ордуси не вызвала у него большого раздражения: обидно и глупо, конечно, было бы делить неделимое и рвать на части живое, но ведь любой народ вправе жить так, как ему хочется. И кто мы такие, чтобы этому мешать?76 (Der plötzlich in den Sinn gekommene Gedanke an die mögliche Trennung des Ujesdes Aslaniv von Ordus’ rief bei ihm keinen großen Ärger hervor: Natürlich wäre es bitter und dumm, das Unzertrennbare zu teilen und das Lebendige in Stücke zu reißen, aber jedes Volk hat das Recht, so zu leben, wie es will. Und wer sind wir, um das zu stören?)

Ferner zieht er eine Parallele zwischen der imperialen Organisation und einer Stadt, in der es zentrale Strom- und Wasserversorgung gibt. Jeder solle aber selbstständig sein eigenes Haus aufräumen.77 Laut seinen Ausführungen mischt sich das Imperium in interne Angelegenheit und die Verwaltung von einzelnen Gebieten nicht ein. Die Aufgabe des Imperiums sieht er in der Verteidigung, Bildung, im Bauwesen und in der Wirtschaft.78 In dieser Hinsicht geht er auf die politische Organisation des Imperiums in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem Zentrum und den Peripherien ein. Die Provinzen des Imperiums verfügen über einen ausgeprägten autonomen Status laut Bogdans Vorstellung. Im Roman wird der Abspaltungsversuch von Aslaniv als ein Ausnahmefall beschrieben, der auf rechtswidrige Handlungen des Leiters der örtlichen Verwaltung zurückzuführen ist. Aus der Perspektive des Erzählers wird die Reaktion der Bewohner auf gesetzeswidrige Handlungen der örtlichen Regierung, nämlich Zorn und Empörung, hervorgehoben. Die destruktiven Folgen der Separationsbestrebungen drücken sich in der schrumpfenden Wirtschaft und in der Zunahme von Kriminalität aus. Die erzählerischen Strategien des Romans lassen keinen Zweifel an dem Kausalzusammenhang zwischen der drastischen Verschlechterung des Lebensstandards und den Bemühungen der Regierung von Aslaniv, sich vom Imperium zu trennen und dem Westen anzuschließen. Die erfolgreiche Ermittlung führt letztlich zu der Überwindung der drohenden Teilung und der Wiederherstellung des Status quo. 76 Ebd., 240. 77 Vgl. ebd., 273. 78 Vgl. ebd.

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Im nächsten Roman »Delo o polku Igoreve« (»Der Fall des Heeres Igors«) wird der seltsame Selbstmord eines Bojar der öffentlichen Versammlung kurz vor einer wichtigen politischen Entscheidung – einer Abstimmung über die Gewährung von ökonomischen Sonderrechten für das Gebiet von Aleksandrija – ermittelt. Wie in den anderen Romanen steht der unmittelbare Ermittlungsfall mit einer ethischen und ethnischen Problematik in Verbindung. Der russische Nationalist Archip Kosul’kin ändert mithilfe genetisch modifizierter Blutegel das Bewusstsein der Bojaren, damit sie für die Gewährung der ökonomischen Präferenzen dem Gebiet von Aleksandrija (im Roman ist das Gebiet von einer Mehrheit ethnischer Russen bewohnt) abstimmen. Nach der Behandlung mit Blutegeln erlebten einige Bojaren einen inneren Konflikt zwischen aufgedrängten Ideen und eigenen Überzeugungen und versuchten, Selbstmord zu begehen. In diesem Roman wird auf die Rolle der Russen in der Entstehung von Ordus’ eingegangen. Die narrativen Strategien des Romans verhalten sich konträr zu der Idee der russischen Besonderheit, die andeutungsweise den klassischen Eurasismus mitgestaltet und ihre Entfaltung insbesondere in den Schriften des Neo-Eurasiers Aleksandr Dugin erhalten hat. Der Roman »Delo o polku Igoreve« negiert die Idee der russischen Überlegenheit. Die narrative Struktur wird durch die Gegenüberstellung eines Helden und seines Antipoden vorbestimmt. Bogdan, der im Roman die Rolle des positiv besetzten imperialen Zentrums übernimmt, zeichnet sich durch moralisch-ethische Überlegenheit gegenüber weiteren Protagonisten im Roman aus und hat hohen sozialen und beruflichen Erfolg. Im Roman vertritt er die Idee, dass die Gewährung jedweder Präferenzen für ein Gebiet die Einheit des Landes unterminieren würde. Sein Antipode, ein negatives Identifikationsangebot, ist russischer Nationalist mit dem kuriosen Namen Kosul’kin. Aus der Perspektive des Erzählers erfährt der Leser, dass er ein Mensch mit Ambitionen ist, der jedoch in seinen Bemühungen, etwas zu erreichen, gescheitert ist. Die Aufnahmeprüfungen bestand er ausschließlich mithilfe seines Freundes und erhielt die Note »der Mittlere aus den Mittleren« (»iz srednich srednij«79). Der Erzähler schildert demnach die Gestalt einer durchschnittlichen Person. Alle seine Misserfolge führt Kosul’kin auf seine Nationalität – als Russe – zurück und verbindet dies mit historischer Ungerechtigkeit gegenüber den Russen. Die Legitimation dieser Ungerechtigkeit findet er im mittelalterlichen russischen Epos »Slovo o polku Igoreve« (»Igorlied«) – einer literarischen Alternative im Roman. Im Originalwerk geht es um den Feldzug des Fürsten Igor Nowgorod-Severskij gegen die Polowzer, der allerdings mit Igors Niederlage endet. Im Epos wird die Niederlage auf politische Uneinigkeit zwischen den Russen zurückgeführt. In »Evrazijskaja simfonija« ist das Werk eine poetische Geschichte darüber, 79 van Zajčik: Delo o polku Igoreve, 315.

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wie Fürst Igor’ zu einer Reise aufbricht, um eine der Töchter des Polowzer Khans Končak zu heiraten.80 Der Inhalt des Originalwerks ist im Rahmen des Romans ein verbotener Text, der einerseits dafür instrumentalisiert wird, die Russen als »dumme Angreifer und Räuber«81 zu diskreditieren. Zum Teil bezieht sich der Roman auf Lev Gumilëv in seiner Interpretation des Epos »Slovo o polku Igoreve«. In seinem Werk »Poiski vymyšlennogo carstva« (1970 »Die Suche nach einem mythischen Reich«) stellt er die These auf, dass das Epos ein politisches Pamphlet sei und die pro-tatarische Politik von Alexander Newski im Werk angegriffen werde.82 Darüber hinaus wird der Text bei den Slawophilen in der literarischen Wirklichkeit des Romans »Delo o polku Igoreve« genutzt, um die Idee der Trennung Russlands von Ordus’ zu verteidigen. Ihre Idee bestand darin, dass sich die Russen von Ordus’ lösen und an den Nachfahren der Polowzer für die Niederlagen des Fürsten Igor’ rächen müssen, was zu einem Aufblühen der russischen Kultur führen soll.83 Die erzählerischen Strategien des Romans stehen in Übereinstimmung mit der Idee der Haltlosigkeit des russischen Nationalismus, die von schwachen, unfähigen Menschen verwendet wird. Letztlich wird Kosul’kin verhaftet. Der Fürst des Gebiets von Aleksandrija erlässt ein Verbot der Abstimmung über die Gewährung ökonomischer Präferenzen für das Gebiet von Aleksandrija. Die Gefahr des potenziellen ökonomischen Ungleichgewichts, das die politische Integrität des Landes beeinträchtigen kann, ist beseitigt. Im Roman »Delo pobedivšej obez’jany« (»Der Fall des gewonnenen Affen«) geht es um die friedliche Koexistenz von Konfessionen und Religionen auf dem Territorium von Ordus’. Wenn sich doch Konflikte ergeben, werden diese ironisch dargestellt und scheinen den existierenden Status quo nicht zu beeinflussen. Es geht um eine Auseinandersetzung zweier religiöser Sekten »Hemunisu« und »Baku«. Zum Zeitpunkt der im Roman beschriebenen Ereignisse existiert der religiöse Kult von »Hemunisu« fast 70 Jahre. Die ironische Darstellungsweise der Sekte, die die kommunistische Ideologie mit dem religiösen Diskurs verbindet, ordnet sich zwar in typische Verfahren des Postmodernismus ein. Allerdings lassen die erzählerischen Strategien des Romans an die Pluralität der Konfessionen, wenn auch in einer komischen Form, auf dem Territorium von Ordus’ sowie an die Möglichkeit der Überwindung der religiösen Spaltung glauben. Der Schauplatz der Handlung ist diesmal die Stadt Mosyke. Die Vorgeschichte erzählt von der Mumie des ägyptischen Zaren Minu, die 1896 gefunden und im darauffolgenden Jahr von dem Präsidenten Frankreichs 80 Vgl. ebd., 253 f. 81 Ebd., 61. 82 Vgl. Gumilëv, Lev: Poiski vymyšlennogo carstva. Moskva 2002, 376 f. 83 Vgl. van Zajčik: Delo o polku Igoreve, 62.

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an Ordus’ geschenkt wird. Dafür wird in Mosyke ein Tempel in Form einer ägyptischen Pyramide gebaut. Rund um die Mumie formiert sich die religiöse Sekte »Hemunisu«. Von der religiösen Gruppe »Hemunisu« spaltet sich später die Sekte »Baku« ab und es entsteht zwischen ihnen ein ideologisches Konfrontationsverhältnis. Dabei entwickelt sich die Debatte insbesondere um die Beerdigung der Mumie Minu, die die Sekte »Baku« aktiv befürwortet. Wie im Roman »Delo nezaležnych dervišej« dreht sich ein Verbrechen auch um rechtswidrige Handlungen des Bürgermeisters, der beide Sekten diskreditieren wollte. Der Sektenführer von »Baku« stirbt. In dieser Zeit wird die Mumie Minu entführt. Die Anhänger von »Hemunisu« vermuten, dass die Mumie anstelle des Sektenführers begraben worden sein könnte. Auf einem Friedhof bei der Beerdigung des Sektenführers entbrennt ein Streit, als die Anhänger von »Hemunisu« fordern, den Sarg zu öffnen. Schließlich finden sie die Mumie nicht im Sarg, sondern in dem für die Beerdigung des Sektenführers vorbereiteten Grab. Auf dem Papyrus, das die Mumie in ihren Händen hält, treten die Hieroglyphen hervor: »Ich habe es satt mit ihnen. Sowohl mit den einen als auch mit den anderen.« (»Как вы все мне осточертели. И те и другие.«84) Dies scheint zumindest vorübergehend den Streit zwischen den Sekten zu ersticken. Der neue Sektenführer von »Baku« gesteht die Entführung der Mumie. Wenn auch über das weitere Schicksal von »Hemunisu« und »Baku« danach nicht mehr berichtet wird, widerspricht das Ende des Romans den Prinzipien der religiösen Pluralität nicht. Die Entwicklung des religiösen Pluralismus wird zwar nicht als problemlos geschildert, aber Widersprüche und Konflikte zwischen Konfessionen werden auf Handlungen einzelner Personen und nicht auf strukturelle Probleme des Imperiums zurückgeführt. Anscheinend können interethnische und -religiöse Konflikte überwunden werden und die Einheit des Imperiums kann wiederhergestellt werden. 5.3.2 Scheitern der Einheit

Die Handlung des letzten in der Reihe erschienenen Romans »Delo nepogašennoj luny« (»Der Fall des nichtausgelöschten Mondes«) bezieht mehrere Ereignisse ein: die Feier des sechzigjährigen Jubiläums des Gebiets von Jerusalem, die Entführung einer Waffe und die interethnischen Konflikte in der Region Teplis85, die zu Judenpogromen führen. Der Prolog des Romans berichtet über ein kontrafaktisches Ereignis  – die Umsiedlung von Juden aus Europa nach Ordus’ in den 1930er-Jahren. 84 van Zajčik: Delo pobedivšej obez’jany, 281. 85 Der Name der Region ist eine Anspielung auf die Hauptstadt Georgiens – Tiflis.

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In kontrafaktischen Gegenentwürfen handelt es sich um »die Revision von Realität: Ein bestimmter Abschnitt der Vergangenheit (meist der nationalen Geschichte) wird neu erzählt bzw. umgeschrieben, und zwar dergestalt, daß die tatsächliche Ereigniskette noch als Kontrastfolie durchscheint«86. Im Roman wird eine Art »des Kontrafaktischen im Kontrafaktischen« entworfen. Während sich Russland im Bündnis mit China und der Mongolei infolge der alternativen Entwicklung der Ereignisse zu einem riesigen Imperium entwickelte, durchliefen die westeuropäischen Länder in der fiktionalen Welt des Romans einen ähnlichen Entwicklungsweg wie in der Geschichte, die tatsächlich stattfand. Obwohl einige Namen leicht geändert wurden, ist die Anspielung auf bestimmte historische Ereignisse – Hitlers Aufstieg zur Macht und der Holocaust – leicht zu erkennen. Die Autoren nehmen diesen historischen Bezugspunkt und modellieren, was wäre, wenn sich Ordus’ in das Schicksal der in Europa wohnenden Juden eingemischt hätte. Die alternative Geschichte beschreibt, dass die auf dem Territorium des heutigen Palästina wohnenden Muslime den Juden einen Teil der Region für die Gründung des Verwaltungsgebiets von Jerusalem zur Verfügung stellen. Das Alternativszenario erzählt davon, was passiert wäre, wenn der Holocaust nicht geschehen wäre. Die Handlung des Prologs spielt sich im Warschau der 1930er-Jahre ab. Aus einer psychiatrischen Klinik werden Führer des »sogenannten Nationalsozialismus« (»tak nazyvaemogo nacional-socializma«87) befreit. In der Stadt nimmt die antisemitische Stimmung zu. Moisej Rabinovič, ein bekannter Rechtsanwalt in Warschau, ist informiert über die bedrohliche Lage für Juden und versucht, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden. Eines Nachts träumt er einen Traum – eine Anspielung auf eine Geschichte aus dem Alten Testament: die Vertreibung von Agar und ihrem Sohn Ismael. In diesem Traum ist er Abraham und bittet Agar um Verzeihung, dass er sie und ihren Sohn vertrieben hat. Vom Schlaf erwacht, spürt Moisej Erleichterung: Oн все сделал правильно, и с плеч свалился привычный непосильный груз, давивший его, как он теперь понимал, от века. И может быть, не только его.88 (Er hat alles richtig gemacht und eine untragbare Last ist von seinen Schultern gefallen, die ihn über Jahrhunderte, wie er nun verstanden hat, unterdrückt hat. Vielleicht nicht nur ihn.)

Hier taucht zum ersten Mal die Idee der Buße des jüdischen Volks auf, die wie ein roter Faden den ganzen Roman durchzieht und ein Bestandteil der antise86 Rodiek, Christoph: Erfundene Vergangenheit. Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (Uchronie) in der Literatur, Frankfurt am Main 1997, 10. Hervorh. i. Orig. 87 van Zajčik: Delo nepogašennoj luny, 40. 88 Ebd., 38.

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mitischen Darstellung der Juden ist. Am nächsten Morgen kommt ein Militärattaché aus Ordus’ zu Moisej und teilt ihm die Entscheidung des Nahen Ostens, der im Roman zu Ordus’ gehört, mit, einen Teil von Palästina als ständigen Wohnsitz für die Juden zu übergeben. Der Vorname des Militär­attachés  – Ismail – steht unmittelbar in Verbindung mit dem Inhalt des Traums, in dem Moisej Rabinovič Agar darum bittet, seinen Sohn Ismail zu sehen. Auf diese Weise erhält der Traum von Moisej eine transzendente Bedeutung, die den Traum und die Realität, die Buße und die Erlösung – in diesem Kontext das kontrafaktische Sujet über die Umsiedlung von Juden – in einen Kausalitätszusammenhang bringt. Der Roman erzählt über die Ereignisse, die sich sechzig Jahre nach der Gründung des Gebiets von Jerusalem abspielen. Neben den in den Kriminalfällen ermittelnden Protagonisten spielen Mordechaj Vanušin und seine Frau Magda eine wichtige Rolle.89 Im Roman ist Vanušin genialer Physiker, der an der Entwicklung verschiedener Waffenarten teilnimmt. Die verheerende Wirkung der Waffenversuche lässt sich Vanušin um den Ausstieg aus der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen bemühen. Ungeachtet seiner Bemühungen setzt er die Arbeit an der Waffenentwicklung fort. Seine ausgeprägte ethische Haltung gerät in einen Konflikt mit seiner Berufspflicht, der er jedoch weiter mit Hingabe nachgeht, bis der Imperator ein Verbot von Massenvernichtungswaffen in Ordus’ auferlegt. Im Roman ist er somit imstande, bis zu einem gewissen Grad das offizielle Zentrum des Imperiums zu beeinflussen – die Massenvernichtungswaffen zu verbieten – und bietet dank seiner Ehrlichkeit und Ehrenhaftigkeit ein einigermaßen positives Identifikationsangebot. Trotz des Massenvernichtungswaffenverbots bleibt der Einsatz der bereits hergestellten Waffen in einem potenziellen Krieg möglich. Einen Ausweg sieht Vanušin in der Versöhnung sämtlicher Menschen, was militärischen Konflikten zwischen Ländern vorbeugen kann. Eine Voraussetzung erkennt er darin, dass sämtliche Ethnien und Völker jeweils für ihre Sünden gegeneinander büßen. An dieser Stelle gerät er in Schwierigkeit mit der Implementierung seiner Ideen. Es scheint, dass er Probleme hat, sich mithilfe konventioneller diskursiver Praktiken zu verständigen. Seine Frau Magda tritt als diskursive Vermittlerin für seine Ideen auf. Magda rettete, als sie noch Kind war, ihre jüdische Freundin vor der nationalsozialistischen Verfolgung und war deswegen gezwungen, mit ihr nach Ordus’ umzusiedeln. Im Roman tritt sie allerdings als offensichtliche Antisemitin auf. Ihre negative Darstellung wird unter anderem durch die Verbindung zum Westen  – sie hat stetig Kontakt mit den Journalisten in Europa – akzentuiert. Es scheint also, als ob Vanušin, indem er bewusst oder unbewusst die antisemitische Rhetorik von Magda übernimmt 89 Eine Anspielung auf den Akademiker Andrej Sacharow und seine Frau Jelena Bonner. (Vgl. Lobin: Avtorskie konсepcii rossijskoj istorii v russkoj literature XXI veka, 254.)

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und artikuliert, einen Fehler begeht. Nicht ohne seine Frau kommt Vanušin auf den Gedanken, dass er selbst ein Vorbild für seine Ideen sein kann und für Sünden seines Volkes – in diesem Fall der Juden – büßen muss, obwohl der heterodiegetische Erzähler seine jüdische Herkunft als fraglich beschreibt.90 In Gesprächen mit Magda lassen sich die Konturen der antisemitischen Rhetorik herauskristallisieren. Aufgrund der Verkopplung der antisemitischen Rhetorik von Magda und Mordechaj mit der als nationalsozialistisch markierten Propaganda könnte man annehmen, dass der Roman als Kritik am Antisemitismus aufzufassen ist. Dennoch lässt die Bestätigung einiger Stereotypen über Juden im Roman die Rhetorik des Protagonisten in einem widersprüchlichen Licht erscheinen. Der Roman weist eine evidente antisemitische Haltung auf, die auf mehreren Ebenen zu finden ist. Dies betrifft die Gestaltung der jüdischen Protagonisten, die die antisemitische Rhetorik von Magda und Mordechaj Vanušin unterschwellig bestätigen. Vanušin greift eines der verbreiteten Stereotype über Juden – nämlich den Reichtum der Juden – auf 91: Eine subtile Bestätigung dieses Stereotyps wird im Prolog des Romans in der Beschreibung von Moisej Rabinovič ersichtlich. Er ist ein erfolgreicher Rechtsanwalt, der wahrscheinlich das teuerste Auto hat.92 Ein weiteres Beispiel findet sich in der erzählten Zeit des Romans  – sechzig Jahre nach der Umsiedlung der Juden nach Ordus’. Bagaturs neue Bekannte Gulčataj-Susanna, eine in Teplis wohnende Jüdin, sagt Folgendes, als sie den Reichtum als einen der Diskriminierungsgründe der Juden nennt: Из ее скупых фраз следовало, что с некоторых пор по Теплису поползли странноватые пересуды. В общем и целом сводились они к тому, что-де ютаи, не будучи коренными жителями Теплиса, но осев тут сравнительно недавно – скажите пожалуйста, своего улуса, милостиво дарованного императором, им уже не хватает! – как-то постепенно сделались фигурами достаточно видными, а подчас и влиятельными как в уездном хозяйстве, так и в уездной администрации.93 (Aus ihren kargen Worten folgte, dass sich merkwürdiges Geschwätz seit kurzem durch Teplis verbreitet hat. Im Großen und Ganzen lief alles darauf hinaus, dass die Juden als nicht altansässige und relativ neu sesshaft gewordene Bewohner von Teplis – der Ulus, der vom Imperator gnadenreich gewährt wurde, reicht ihnen nicht mehr aus! – irgendwie allmählich zu den angesehenen und mitunter einflussreichen Personen sowohl in der Wirtschaft als auch in der Administration des Kreises wurden.)

90 Vgl. van Zajčik: Delo nepogašennoj luny, 261. 91 Vgl. ebd., 253 f. 92 Vgl. ebd., 22. 93 Ebd., 243.

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Aus diesem Zitat lässt sich ablesen, dass das Stereotyp über den Reichtum der Juden auf erzählerischer Ebene bestätigt wird. Mit dieser Bestätigung geht ein weiteres antisemitisches Stereotyp einher, nämlich eine gewisse »Arroganz« der Juden gegenüber den anderen Völkern. So kommentiert Gulčataj-Susanna den materiellen Aufstieg der Juden in Teplis: Но что же делать, – сказала в заключении Гюльчатай, – если наш народ и вправду оказался способнее в ведении денежных дел, в торговле и производстве?94 (Was ist aber zu tun – sagte Gulčataj abschließend –, wenn sich unser Volk tatsächlich fähiger in der Verwaltung von Geldangelegenheiten, im Handel und in der Produktion erwiesen hat?)

Die antisemitische Rhetorik von Magda und Mordechaj umfasst neben dem »fragwürdigen« Reichtum ebenfalls »Selbstisolation« der Juden. Dies wird in einigen Episoden bestätigt, als Bagatur Lobo nach Teplis kommt. An einer Synagoge in Teplis sind alle Inschriften auf Iwrit und »diese Isolation kam Bag auch komisch vor: Normalerweise wurden wesentliche Inschriften in Ordus’ in allen lokalen Hauptsprachen angebracht.« (»И эта отъединенность тоже показалась Багу странной: обычно в Ордуси существенные надписи делались на всех главных местных наречиях.«95) In einer Episode mit Gulčataj-Susanna wird diese Thematik weiter entfaltet. In einem jüdischen Lokal bestellt sie Getränke auf Iwrit, das Bagatur nicht versteht. Dies wird als Taktlosigkeit von Bagatur wahrgenommen. Die Problematik dieser Episode wird zudem dadurch betont, dass Gulčataj-Susanna ihr Versehen gar nicht bewusst wird. Implizit wird das antisemitische Stereotyp, das die Juden als ein sich »selbst isolierendes« Volk gegenüber anderen Kulturen beschreibt, bestätigt. Der nächste Punkt der antisemitischen Rhetorik von Magda und Mordechaj betrifft »Gewandtheit« und »Heuchelei«, die im Roman auf erzählerischer Ebene ebenfalls eine Bestätigung finden. вся их культура построена на том, чтобы обходить закон. Весь их быт. Сперва они напридумывали тьму запретов, которые делают жизнь просто-напросто невозможной. А отменить уже нельзя. […] И конечно, теперь они всем остальным, нормальным честным людям в жульстве дадут сто очков вперед.96 (ihre ganze Kultur ist darauf aufgebaut, das Gesetz zu umgehen. Ihr ganzes Leben. Zuerst haben sie sich eine Menge Verbote ausgedacht, die das Leben einfach unmöglich machen. Die können aber nicht abgeschafft werden. […] Und natürlich sind sie jetzt allen anderen, normalen ehrlichen Menschen in der Schummelei einen Schritt voraus.) 94 Ebd., 244. 95 Ebd., 219. 96 Ebd., 256.

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Eine erzählerische Verkörperung findet diese Rhetorik, als Magda ihre Freundin Sonja am Schabbat besucht und einige Abweichungen von den jüdischen Ritualen bemerkt. Sonja antwortet, dass sie »nie ganz orthodox waren und dass ein Manöver immer möglich ist…« (»никогда совсем уж ортодоксами не были, так что маневр всегда возможен…«97) In dieser Hinsicht überlagert sich die antisemitische Rhetorik von Magda mit den erzählerischen Strängen des Romans, die eine subtile antisemitische Darstellung der Juden als literarischer Figuren bieten. An dieser Stelle ist zu bemerken, dass auch Muslime in der Romanreihe in einem stereotypisierenden und widersprüchlichen Licht behandelt werden. Der Unterschied zu der Beschreibung einiger als negativ markierter Figuren, wie z. B. des Russen Kosul’kin aus dem Roman »Delo o polku Igoreve«, besteht in der größeren Zahl der als negativ dargestellten Muslime und in der daraus resultierenden essenzialistischen Beschreibung ihrer Religion und Kultur. Die erste Spur so einer stereotypierenden Darstellung ist im Roman »Delo Sud’i Di« zu finden. Eine Gruppe von Muslimen aus Frankreich versucht im Roman, ein Flugzeug zu entführen. Der im Flugzeug sitzende Beamte des Amts für die ethische Aufsicht Bogdan Oujancev-Sju denkt dabei: »… junge Nation, junge Religion …«98 Zwar zweifelt er gleich an seinem Gedanken, dennoch bestätigen seine Überlegungen subtil das Stereotyp, dass der Islam eine jüngere und weniger entwickelte Religion als z. B. das Christentum ist. Im Kontext des Ereignisses – der Flugzeugentführung – geht es ebenfalls um die stereotype Gleichsetzung des Islam mit dem Terrorismus. Einer widersprüchlichen Gestaltung unterliegen einige muslimische Figuren auch im Roman »Delo nepogašennoj luny«. Der militärische Leiter der Massenvernichtungswaffenversuche Mitrocha Nedeluch ist Muslim. Bei seiner Darstellung wird auf die ihn prägende Herkunft eingegangen: Опытные воин благородного старого чекана, плоть от плоти тех великих воителей, что в свое время пронесли зеленое знамя Пророка над половиной мира, он волей-неволей давно уже утратил ту чувствительность, которая так красит штатских.99 (Als erfahrener Krieger einer edlen alten Prägung, Fleisch vom Fleisch jener großen Krieger, die einst die grüne Fahne des Propheten über die halbe Welt trugen, verlor er wohl oder übel vor langer Zeit jene Sensibilität, die Zivilisten so sehr auszeichnet.)

Einerseits wird er als Person dargestellt, die auf die Verteidigungsfähigkeit von Ordus’ beharrt und mit Leib und Seele seinem Militärdienst gegenüber treu 97 Ebd., 175. 98 van Zajčik: Delo Sud’i Di, 102. 99 van Zajčik: Delo nepogašennoj luny, 149.

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Einheit und Heterogenität des Imperiums in »Evrazijskaja simfonija«

ist. Seine Position verteidigt Mitrocha Nedeluch mit Zitaten aus dem Koran. In seiner Zielstrebigkeit und gewissen Starrheit kann er indes zerstörerische Folgen der Waffenversuche für die Natur nicht abwägen. Im Roman stirbt er bei einer Nichtbefolgung der Sicherheitstechnik: Er versucht, den Motor einer Trägerrakete mit einem brennenden Streichholz zu starten, was den Tod von zweihundert Wissenschaftlern und Offizieren nach sich zieht.100 Muslime werden im Roman widersprüchlich dargestellt. Einerseits weisen sie eine Verbindung zu Juden auf. So hat der Muslim Ismail Kormibassov bei der Umsiedlung der Juden nach Ordus’ mitgewirkt. Im Licht der antisemitischen Gestaltung der Juden im Roman erscheint diese Verbindung problematisch. Andererseits weisen einige Muslime im Roman eine evidente antisemitische Haltung auf. Eine derartige Darstellung der Muslime bezieht sich auf den Offizier Mustafa ibn Šuravi, der die Leitung der Bewachung von Vanušin übernommen hat. Er sympathisiert mit Vanušin und seinen antisemitischen Ideen. Er tritt in Kontakt mit dem Korrespondenten der deutschen Zeitschrift »Waffen Spiegel«, Joachim von Šnobel’štempel, und liefert ihm Daten, um Ordus’ als einen totalitären Staat in den westlichen Massenmedien zu zeigen, der Dissidenten verfolgt. Weiterhin unterstützt er den Hauptanstifter der Judenpogrome – den Muslimen Zija Gamzachuev, indem er sich mit ihm geheim trifft und ihn vor der Fahndung warnen will. Ein formeller Grund für die Judenpogrome ergibt sich aus einer anderen interethnischen Problematik als der Diskriminierung der Juden in Ordus’. In der Stadt Teplis wohnen zwei Völker, die sich lange Zeit miteinander friedlich vertragen haben, bis die Frage entstand, wer von diesen zwei Völkern »das gastfreundlichste, herzenswärmste und edelherzigste Volk ist« (»samyj naidobrejšij, naigostepriimnejšij i naiblagorodnejšij«101). Einen Anlass gab eine alte Schrift, in der ein Volk mit diesen herausragenden Eigenschaften beschrieben wurde. Dieser Schrift konnte man jedoch nicht genau entnehmen, um welches Volk es sich handelt, was zu einer Rivalität zwischen den Völkern »Fuzjany« und »Saachi« führte. Um herauszufinden, um welches Volk es sich im alten Manuskript handelt, wurde eine öffentliche Versammlung zusammengerufen. In dieser Versammlung gab der Historiker jüdischer Herkunft Jochannen Lewenbaum bekannt, dass sämtliche das Gebiet zur Zeit der Entstehung der Schrift bewohnenden Volksgruppen ein einheitliches Volk bildeten.102 Der Versuch der Versöhnung zwischen zwei Völkern scheitert, als sich Magda einmischt. In ihrer Rede stellt sie die Juden und die anderen Völker einander gegenüber und weist darauf hin, dass die Hypothese des Historikers ­Jochannen Lewenbaum lediglich ein Betrugsversuch sei. Nach ihrer Meinung 100 Vgl. ebd., 151. 101 Ebd., 250. 102 Vgl. ebd., 365 f.

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sei die Zusammensetzung einzelner Völker zu einer überindividuellen Einheit ohne Verlust nationaler Identität nicht möglich.103 Demonstrativ provokatives und rücksichtsloses Verhalten von Magda gegenüber anderen Vertretern der Sammlung markiert auch ihre Aussagen und ihre antisemitische Rhetorik in diesem Kontext als falsch. Ihre Rede führt zuerst zu einer Verschärfung des Konflikts zwischen »Fuzjany« und »Saachi«. Eine Eskalation eines interethnischen Konflikts entfaltet sich in den nachfolgenden Ereignissen nach der Versammlung: Der bisher vertuschte Antisemitismus, der in der Region zu beobachten gewesen ist, geht über in die Zerstörung von jüdischen Geschäften und in Angriffe auf Juden. Der Antisemitismus ist nicht nur auf das Fehlver­ halten einzelner Protagonisten – Magda und Mordechaj – zurückzuführen, sondern scheint der wohl harmonischen Gesellschaft von Ordus’ innezuwohnen. In Teplis werden Juden auf systematische Art und Weise diskriminiert und benachteiligt. Der Text des Romans zeigt eine offene Diskriminierung der Juden als strukturelle Erscheinung, was im Kontrast der Programmatik des gesamten Zyklus steht, der sich bemüht, ein friedliches Miteinander verschiedener Religionen und ethnischer Gruppen darzustellen. Im letzten Roman der Reihe trifft Mordechaj die Entscheidung, den Mond mit seiner letzten erfundenen Waffe »Sneg« (dt. wortwörtlich: »Der Schnee«) zu liquidieren.104 Dadurch hofft er, zwei Ziele zu erreichen. Die Auslöschung des Monds als eine Grundlage des jüdischen Kalenders würde die religiösen Komponenten der jüdischen Kultur105, die im Roman als Objekt der antisemitischen Rhetorik von Mordechaj vorkommen, unterminieren. Zweitens soll die buchstäbliche Vernichtung des Mondes, die von dem Juden – M ­ ordechaj Vanušin – während des Purimfestes erfolgt, den Tag zum Tag der Buße und Er103 Vgl. ebd., 368 f. 104 Der Titel des Romans »Delo negopašennoj luny« rekurriert auf die Erzählung von Boris Pil’njak »Povest’ negopašennoj luny« (1926) (1926, Die Geschichte vom nichtausgelöschten Mond). Die Erzählung wurde einige Monate nach dem Tod von Michail Frunse (1885–1925) – einem sowjetischen Armeeführer während des russischen Bürgerkriegs – geschrieben. Im Vorwort lehnt der Autor explizit die mögliche faktische Grundlage seines Werkes ab und verweist darauf, dass er Frunse nicht kannte und die Details seines Todes ihm unbekannt sind. (Vgl. hierzu Pil’njak, Boris A.: Povest’ nepogašennoj luny. The tale of the unextinguished moon. Letchworth 1971, 6.) Allerdings wurde die Geschichte als eine eindeutige Anspielung auf reale historische Prototypen – Frunse und Stalin – aufgefasst. (Vgl. Marsh, Rosalind J.: Images of dictatorship. Portraits of Stalin in literature. London 1989, 20 f.) Die Erzählung wurde sofort verboten. Im Werk handelt es sich um den Tod des Armeeführers Gavrilov, der nach einer Magenoperation stirbt. Der Befehl für die Operation kommt von einem Mann, dessen Name in der Geschichte nicht erwähnt wird, der aber als Anspielung auf Stalin wahrgenommen wurde. Vor der Operation schickt Gavrilov seinem Freund Popov einen Brief, aus dem sich herausstellt, dass Gavrilov den tödlichen Ausgang vermutet. Die Erzählung endet damit, dass Nataša, Popovs Tochter sagt, dass sie den Mond auslöschen will. 105 Vgl. van Zajčik: Delo nepogašennoj luny, 458.

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Einheit und Heterogenität des Imperiums in »Evrazijskaja simfonija«

lösung werden lassen.106 Auch wenn die Entscheidung, den Mond zu vernichten, eindeutig als fehlerhaft markiert wird, hat die Idee der Buße im Roman eine widersprüchliche Bedeutung. Im Prolog wird die Buße des Rechtsanwalts als transzendent markiert und auf erzählerischer Ebene unmittelbar mit der Rettung der Juden in Zusammenhang gebracht. Wenn sich die vorangegangenen Romane der Reihe durch die Überwindung interreligiöser und interethnischer Konflikte auszeichnen, was an die Einheit der Völker glauben lässt, verliert der letzte Roman der Reihe seine Überzeugungskraft in Bezug auf die Idee der Einheit durch die xenophobische Darstellungsweise jüdischer und muslimischer Figuren. Dies bestätigt unterschwellig die antisemitische Rhetorik von Magda und Mordechaj, auch wenn die Rhetorik im Kontext des Romans problematisch und falsch erscheint. Das überschneidet sich mit der Diskriminierung der Juden auf erzählerischer Ebene, die in Teplis zu Pogromen eskaliert. Der Glaube an ein friedliches Zusammenleben verschiedener Ethnien und Völker wird durch den Handlungsverlauf des Romans – Judenpogrome und -vertreibung – unterminiert. Der Text des Romans plausibilisiert in gewisser Weise die Judenpogrome, die als gesetzmäßige Reaktion anderer Ethnien auf jüdische »Isolation« und »Heuchelei« aufgefasst werden. Der Roman »Delo nepogašennoj luny« operiert mit Schuldzuweisungen in extrem antisemitischer Weise, die die Herausgeberin im Vorwort zum Roman auf den Punkt bringt: Она [Ордусь] спасла их [евреев] от мира, но не спасла от них самих. Ютаи таковы, какими и век, и другой назад.107 (Es [Ordus’] rettete sie [die Juden] vor der Welt, aber nicht vor sich selbst. Die Juden sind so geblieben wie sie vor Jahrhunderten waren.)

Der Roman wählt als einen Bifurkationspunkt die Annahme, was wäre, wenn Ordus’ die Juden von der nationalbolschewistischen Verfolgung gerettet und ihnen die Entstehung eines autonomen Bezirkes ermöglicht hätte. Das Eingreifen von Ordus’ und die anschließende Umsiedlung von Juden ist der Bifurkations­punkt, an dem die Narration im Roman einem alternativgeschichtlichen Szenario folgt. In Anlehnung an die Begrifflichkeit von Catherine Gallagher könnte man sagen, dass es jedoch um eine Loop-Struktur in dem alternativhistorischen Plot geht.108 Mit dem Loop-Plot wird eine narrative Struktur gemeint, in der sich ein kontrafaktisches Geschichtsmodell in einem 106 Vgl. ebd. 459. 107 van Zajčik: Delo nepogašennoj luny, 7. 108 Neben dem Y-Plot unterscheidet Gallagher die Gabel-Struktur, die gleichzeitig mehrere Entwicklungsszenarien voraussetzt. (Vgl. Gallagher, Catherine: Undoing. In: Clayton Jay / ​Newman, Karen Alison / Hirsch, Marianne (Hg.): Time and the Literary. New York 2002, 11–29, hier 17 f.)

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Wiederholungszyklus auflöst und die Gegenwart der Vergangenheit ähnlich erscheint.109 So wird die Rückkehr zu der Ausgangssituation nach der Realisierung des kontrafaktischen Szenarios vorprogrammiert und somit die deterministische Auffassung des Geschichtsverlaufs begründet. Sechzig Jahre nach der Umsiedlung sind Juden wieder verfolgt und diskriminiert  – allerdings in Ordus’, dem Land, in dem verschiedene Ethnien und Völker harmonisch zusammenleben sollen. Die Pogrome von jüdischen Geschäften und Häusern ähneln in ihrer Darstellungsweise dem tatsächlichen Geschichtsverlauf der Novemberpogrome 1938. Die Reihe, die ursprünglich aus neun Romanen bestehen sollte, wurde mit der Publikation des siebten Romans beendet. Die Autoren haben versucht, ein funktionierendes Modell einer multikulturellen Gesellschaft zu konstruieren. Die narrative Struktur des letzten Romans ist allerdings so angelegt, dass die Idee des friedlichen Zusammenlebens von verschiedenen Ethnien scheitert. Die Einheit zwischen Menschen und Ethnien kann nicht wiederhergestellt werden. Der letzte Roman ist von immanenten Widersprüchen geprägt, die nicht aufgelöst werden können und die den Traum der Wiederherstellung des Imperiums zunichtemachen.

109 Vgl. ebd., 15.

6. Vladimir Sorokin und imperiale Phantasmagorien

6.1

Dekonstruktion der Machtdiskurse

Die schriftstellerische Laufbahn von Vladimir Sorokin beginnt mit dem Konzeptualismus, der als inoffizielle Kunstrichtung in den 1970er-Jahren in der Sowjetunion entstand.1 Die Dekonstruktion des Sozialistischen Realismus entwickelte er in der Soz Art – einer Version des Konzeptualismus.2 Wie Naum Lejderman und Mark Lipoveckij bemerken, »wird die Auseinandersetzung mit dem sozialistisch-realistischen Diskurs in der Soz Art durch die extreme Komplizierung der Aufgabe diktiert, sich von der Macht des Diskurses zu befreien […].« (»обращение к соц-реалистическому дискурсу в соц-арте продиктовано предельным усложнением задачи высвобождения от власти дискурса […]«3). In seinen Werken bedient er sich als postmoderner Autor des Verfahrens, das auf das intertextuelle Spiel von Zitaten, Stilen, Diskursen zurückzuführen ist. Für Sorokin ist laut Christine Engel »literarischer Text ein vieldimensionaler Raum, der aus einem Gewebe von literarischen und kulturellen Zitaten und einer Vielzahl von Schreibweisen besteht.«4 Die intertextuelle Schreibweise von Vladimir Sorokin bezeichnet Dagmar Burkhart mit dem Terminus »Pastiche«, unter dem sie ungeachtet einiger definitorischer Variablen einen Stilpluralismus und eine Form der Imitation versteht, die eine Mischform von Parodie und scheinbar ernsthafter Beteiligung darstellt.5 Mark Lipoveckij weist darauf hin, dass Sorokins Œuvre eine aphorische Kombination verschie1 Den Begriff des Konzeptualismus hat Boris Grojs in seinem Artikel mit dem Titel »Moskovskij romantičeskij konzeptualism« (»Moskauer romantischer Konzeptualismus«) vorgeschlagen. (Vgl. hierzu Grojs, Boris: Utopija i obmen. 1. stil’ Stalin, 2. O novom, 3. Stat’i. Moskva 1993, 260–283.) 2 Vgl. Lejderman, Naum / Lipoveckij, Mark: Sovremennaja russkaja literatura. 1950–1990-e gody. V dvuch tomach. Tom 2: 1968–1990. Moskva 2003, 490. 3 Ebd., 490 f. 4 Engel, Christine: Sorokin im Kontext der russischen Postmoderne. Problem der Wirklichkeitskonstruktion. In: Wiener Slavistisches Jahrbuch 43 (1997), 53–66, hier 59. 5 Vgl. Burkhart, Dagmar: Ästhetik der Häßlichkeit und Pastiche im Werk von Vladimir Sorokin. In: Burkhart, Dagmar (Hg.): Poetik der Metadiskursivität. Zum postmodernen Prosa-, Film- und Dramenwerk von Vladimir Sorokin. München 1999, 9–19, hier 14.

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Vladimir Sorokin und imperiale Phantasmagorien

dener Modalitäten, des Komischen und des Gehobenen, der Utopie und der Dekonstruktion, verkörpert.6 In Bezug auf die dekonstruktivistische Technik von Sorokin wird auch die subversive Affirmation erörtert. Bei dem Verfahren geht es um die Beteiligung eines Künstlers an einem bestimmten Diskurs. Eine scheinbare Zustimmung fließt in eine so übertriebene Modifizierung des Diskurses ein, dass sie eine entgegensetzte Bedeutung erwirbt und auf diese Weise unterminiert wird. Mit den Worten von Silvia Sasse: »Die anfängliche Vergegenwärtigung und bloße Zitation verwandelt sich jedoch zunehmend in ein komplexes Geflecht von Schreibweisen, die sich gegenseitig zur Schau stellen und tautologisch in ihrer fortwährenden Überbietung ad absurdum führen.«7 Dagmar Burkhart weist darauf hin, dass die ästhetischen Verfahren von Sorokin auf die Enthüllung des Diskurssystems zurückzuführen sind: Insofern ist die in den Sorokin-Texten zu beobachtende Tautologie, Diskursparodie und scheinbar affirmierende Imitation in Verbindung mit Gewaltdarstellung aus dem postulierten Totalitarismus von Diskurssystemen zu erklären: Totalitarismus auf dem Gebiet politisch-ideologischer Diskurse (Faschismus, Stalinismus, sozialistisches Sowjetsystem) und vor allem literarischer und anderer kulturologischer Diskurssysteme (der narrative Realismus des 19. Jahrhunderts, das Megasystem des Sozrealismus mit seinen Subdiskursen der Aufbau- und Kriegsromane, der Dorfprosa etc.)8

In der postsowjetischen Zeit schließt Sorokins dekonstruktive Strategie immer mehr neue diskursive Räume ein. In dieser Hinsicht kann man die Aufdeckung nationalistischer, imperialer, geopolitischer und neoradikaler Diskurse in seinen Werken beobachten. Eine wesentliche Rolle wird dabei den (neo-)eurasischen Diskursen gewidmet. Sie werden oft im Zusammenhang mit dem Topos China, das seit dem Ende der 1990er-Jahre zunehmend in Sorokins Werken erscheint, betrachtet. Il’ja Kukulin bezeichnet diese Werke als einen futurologischen Zyklus, der eine sinozentrische Welt9 mit China als dem Hauptakteur beschreibt. Die Entwicklung dieses Themas kann man in den Werken »Goluboe salo« (1999 »Der himmelblaue Speck«), »Conkretnye« (2000 »Die Konkreten«), »Den’ opričnika« (2006 »Der Tag des Opritschniks«), »Sacharnyj kreml’« (2008 »Der Zuckerkreml«), »Metel’« (2010 »Der Schneesturm«) und in 6 Vgl. Lipoveckij: Paralogii. Transformacii (post)modernistskogo diskursa v russkoj kul’ture 1920–2000-ch godov, 444. 7 Sasse, Silvia: Texte aus dem Kanon der Leere. Sozart – Konzeptkunst – Noma – Mokša. In: Via regia 48/49 (1997), 4–10, hier 5. 8 Burkhart: Ästhetik der Häßlichkeit und Pastiche im Werk von Vladimir Sorokin, 12. 9 Tatiana Filimonova zählt zu den Werken, in denen die chinesischen Motive vorkommen, auch die Erzählung »Ju« (2000). (Vgl. Filimonova, Tatiana: Rossijskaja imperija, kitajskaja materija: imperskoje samosoznanije v proizvedenijach Vladimira Sorokina. In: Dobrenko, Evgenij / Kalinin, Il’ja / Lipoveckij, Mark (Hg.): »Eto prosto bukvy na bumage…« Vladimir Sorokin: posle literatury. Moskva 2018, 251–278, hier 254.)

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dem Film »Mišen’« (2011 »Target – Die Zone ewiger Jugend«, Regie Aleksandr Zel’dovič) beobachten.10 China ist in diesen Werken ein Land, das großen Einfluss auf Russland im ökonomischen und kulturellen Bereich ausübt. Die Werke von Vladimir Sorokin zeigen damit die diskursive Auseinandersetzung mit der Rolle Chinas in der Welt und in Russland, wobei die Entwicklung der chinesischen Thematik darüber hinaus gewisse Ambivalenzen in der Darstellung Chinas hervorbringt. Durch die Einbeziehung chinesischer Elemente greift Sorokin einerseits auf den (neo-)eurasischen Diskurs zurück.11 China dient in dieser Hinsicht als ironische Widerspiegelung russischer imperialer Ansprüche.12 Andererseits ist die schriftstellerische Auseinandersetzung mit antichinesischen Stimmungen, die in der russischen Gesellschaft zu beobachten sind, nicht zu leugnen.13 Sorokins Œuvre zeichnet sich demzufolge durch die Überlappung mehrerer Motive in einem semantischen Feld aus, die sowohl dem Topos China als auch dem (neo-)eurasischen Diskurs hinzugezählt werden können. Wenn asiatisches Kulturerbe auf rhetorischer Ebene ein unabdingbarer Bestandteil der (neo-)eurasischen Selbstbeschreibung ist, existieren dennoch polarisierte Ansichten in Bezug auf die Zugehörigkeit Chinas zum russisch-eurasischen Imperium in dieser Ideologie. Sorokin führt den (neo-)eurasischen Diskurs und Chinas Imaginationen in seinen Werken zusammen und spielt mit diesbezüglich unterschiedlichen Perspektiven. In einigen Werken mischen sich (neo-)eurasische Diskurse mit chinesischen Motiven, in anderen Werken koexistieren (neo-)eurasische Ideen und Chinas Darstellung als parallele Motive und in noch anderen Fällen stellen sie eine Gegenüberstellung dar. Das Zusammenspiel dieser Thematik kann in drei Schemata gegliedert werden. Die erste Wechselwirkung zwischen den (neo-)eurasischen und den chinesischen Motiven ist im Roman »Goluboe salo« zu beobachten und drückt sich in ihrer Opposition aus. In der beschriebenen Zukunft des Romans ist Russland ein »chinesierter« Staat, der in die globale Welt integriert ist. Die Gesellschaft dieses Staates wird von dem Biophilologen Boris Gloger verkörpert und stellt eine technokratische, kosmopolitische und libertäre Utopie dar, die dem Orden der Erdrammler gegenübergestellt wird.14 In der Gemeinschaft 10 Vgl. Kukulin, Ilya: From History as Language to the Language of History: Notes on the Target. In: Roesen, Tine / Uffelmann, Dirk / Kühn, Katharina (Hg.): Vladimir Sorokin’s languages. Bergen 2013, 315–344, hier 329. 11 Vgl. Filimonova: From Scythia to a Eurasian Empire: The Eastern Trajectory in Russian Literature 1890–2008, 170. 12 Vgl. Filimonova: Rossijskaja imperija, kitajskaja materija: imperskoje samosoznanije v proizvedenijach Vladimira Sorokina, 255. 13 Vgl. Filimonova: From Scythia to a Eurasian Empire: The Eastern Trajectory in Russian Literature 1890–2008, 170. 14 Vgl. Lipovetsky, Mark: Postmodernist novel. In: Dobrenko, Evgenij / Lipovetsky, Mark (Hg.): Russian literature since 1991. Cambridge 2015, 159.

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Vladimir Sorokin und imperiale Phantasmagorien

der Erdrammler verdeutlicht sich eine alternative Version der Zukunft, die auf der nationalistischen Isolation und der künstlichen Rekonstruktion der Vergangenheit basiert.15 Obwohl die Sekte eher eine Realisierung des nationalistischen Programms symbolisiert und chinesische Motive in die Darstellung der politischen Ordnung der Sekte nicht einbezogen werden, kann dieses Werk dessen ungeachtet als eines der ersten gelten, in denen Sorokin konsequent die dem (Neo-) Eurasismus zugrunde liegende Idee der Einheit zwischen Gemeinschaft und Boden aufarbeitet. Des Weiteren gründet sich die Selbstbeschreibung der Sekte auf die Kategorien der Brüderlichkeit, die folglich auch die Selbstrepräsentation der Opritschnina im Roman »Den’ opričnika« bestimmen. Zweitens kann man in den Werken »Den’ opričnika«, »Sacharnyj kreml’« und »Metel’« dagegen die Verschmelzung der eurasischen und chinesischen Thematik beobachten. Sorokins Auseinandersetzung mit China wird hier in einen breiteren Diskurs über die russische Identität im Kontext der eurasischen Ideen eingebettet. Außer der gemeinsamen synchronen Perspektive sind diese Werke Sorokins durch die sich verflechtenden und einander ergänzenden Narrative in den Imaginationen Chinas und durch die kritische Reflektion der auf den (neo-)eurasischen Ideen basierenden gesellschaftlich-politischen Ordnung gekennzeichnet. Die eurasische Vorstellung von der gemeinsamen russisch-asiatischen Identität transformiert sich in Sorokins Werken in die wirtschaftliche und kulturelle Annäherung Russlands an China, das aber eine übergeordnete Rolle in diesen Beziehungen spielt. China bettet sich einerseits in die Raumproblematik ein, die im postsowjetischen Russland in den Selbstbeschreibungen zunehmend mehr Platz einnimmt, andererseits unterminieren die in Sorokins Werken vorhandenen Repräsentationen von China, die sich oft auch auf die Abwertung und Sinophobie zurückführen lassen, diejenigen (neo-)eurasischen Konzepte, die China in das russische Verständnis des eurasischen Raums einbeziehen. Drittens verdrängt die Reflexion des (neo-)eurasischen Diskurses das Topos China. Im Roman »Tellurija« (2013) wird die Darstellung Chinas als einer Großmacht aus der fiktionalen Welt praktisch ausgeblendet. Sorokin beschreibt in diesem Roman eine imaginierte Zukunft des eurasischen Kontinents. Dabei existiert Russland als ein einheitlicher Staat nicht mehr, stattdessen sind fünfzehn unabhängige Republiken entstanden. Der Titel des Romans rekurriert direkt auf Dugins geopolitische Vision einer Tellurokratie, wie Dirk Uffelmann bemerkt.16 Wenn man diesen direkten Verweis auf die neoeurasische Ideologie in Betracht zieht, scheint es, dass das Werk nicht nur das 15 Vgl. ebd. 16 Vgl. Uffelmann, Dirk: Eurasien im Retrofutur: Vladimir Sorokins Tellurija. In: Engel, Christine / Menzel, Birgit (Hg.): Russland und / a ls Eurasien. Kulturelle Konfigurationen, Berlin 2018, 45–66, hier 47.

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Konzept des einheitlichen Raums Eurasiens untergräbt, sondern auch die Rolle der eurasischen Ideologie als eines vereinheitlichenden Ordnungsprinzips in der russischen Gesellschaft infrage stellt. Sorokins Anspielungen auf ideologische Diskurse generieren also vieldeutige Visionen politischer Ordnungen, in denen sich aktualisierte Diskurse mit den tradierten Sichtweisen in kollektiven Identitätsformen verflechten und mehrere Interpretationen anbieten. Das Wort »Phantasmagorien« aus dem Titel dieses Kapitels scheint die ästhetischen Verfahren von Sorokin in Bezug auf die Reflexion des (neo-)eurasischen Diskurses wiederzugeben. Die irrationale Seite imperialer Modelle zeigt sich oft, so Ol’ga Slavnikova, in Phantasmagorien, deren Autoren mit der Kombination und Vermischung von Mythen und Symbolen spielen. Vladimir Sorokin, der zu diesen Autoren gehört, setzt sich mit der Entlarvung des imperialen Mythos auseinander.17 Die Gestalt des Imperiums, das Sorokin in seinen Werken erarbeitet, erinnert an einen Täuschungseffekt und erweist sich bei genauer Betrachtung als eine Anhäufung von Illusionen, Phantasien, Grotesken und wahnhaften Traumbildern. Nicht zufällig zählt Mark Lipoveckij Vladimir Sorokin zu den Generationsschriftstellern, denen es gelingt, Träume und Wünsche der Schriftsteller einer Generation zu fixieren.18 In seiner Analyse des russischen Postmodernismus hat Mark Lipoveckij die Hypothese aufgestellt, dass die Hybridisierung post- und vormoderner Identitätsdiskurse zur Antriebskraft des Mainstreams in den 2000er-Jahren in Russland wurde.19 Diese Eigenschaft zeichnet ebenfalls die Werke von Vladimir Sorokin aus, der Szenen phantasmatischer Welten und entsprechender Identitäten entwirft, die sich aus den Verflechtungen von Elementen des postmodernen Bewusstseins und von Fragmenten des sowjetischen Mythos mit den archaischen Ritualen und Symbolen ergeben.20 Das Spiel mit unbewussten Assoziationen, Einstellungen, Ideen und Phantasmen spiegelt Sorokins Roman »Goluboe salo« wider. Diesen Roman vergleicht Aleksandr Genis mit einem fremden Traum, von dem keine erzählerische Logik und Kohäsion zu erwarten ist.21 Im Roman werden historische Epochen, verschiedene Modelle politischer und sozialer Ordnung, alternative Visionen von Vergangenheit und Zukunft oft in unvorhersehbaren unerwarteten Kombinationen verflochten. 17 Vgl. Slavnikova: Ja ljublju tebja, imperija, 195. 18 Vgl. Lipoveckij: Paralogii. Transformacii (post)modernistskogo diskursa v russkoj kul’ture 1920–2000-ch godov, 408. 19 Vgl. ebd., 521. 20 Vgl. ebd. 21 Vgl. Genis, Aleksandr: Moj Sorokin. In: Dobrenko, Evgenij / Kalinin, Il’ja / Lipoveckij, Mark (Hg.): »Eto prosto bukvy na bumage…« Vladimir Sorokin: posle literatury. Moskva 2018,11–29, hier 18.

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Vladimir Sorokin und imperiale Phantasmagorien

6.2 »Goluboe salo« (1999) 6.2.1 Zur Rezeption des Romans

In dem 1999 veröffentlichten Roman »Goluboe salo« geht um zwei Zeitperio­ den: die kontrafaktische Vergangenheit im stalinistischen Russland im Jahre 1954 und um eine Version der Zukunft, die sich im Jahre 2068 abspielt. In der Zukunft wird eine besondere Substanz – der himmelblaue Speck – in einem geheimen unterirdischen Laboratorium in Sibirien aus den Klonen der russischen Schriftsteller hergestellt. Der erste Teil ist in Form von vierzehn Briefen geschrieben, die einer der Mitarbeiter des Laboratoriums GENLAB 18 (ehemali­ger Stützpunkt der Luftabwehr) – der Biophilologe Boris Gloger – an seinen Liebhaber schreibt. Der andere Teil ist der Beschreibung der Sekte der Erdrammler gewidmet, die den himmelblauen Speck rauben, die Mitarbeiter des Laboratoriums umbringen und zu ihrem Wohnort in einem Berg zurückkehren. Im Stollen des Bergs wird der himmelblaue Speck an untere Ebenen weitergereicht, bis er die tiefste Ebene, das Zimmer des Großmeisters, erreicht. Der Großmeister schickt den Stoff mithilfe einer Zeitmaschine in das Jahr 1954. In dieser zeitlichen Periode beschreibt Sorokin eine alternative Geschichte, in der Stalin am Leben und mit Hitler befreundet ist. Zwischen Hitler und Stalin entbrennt ein Streit über den himmelblauen Speck. Stalin spritzt sich den himmelblauen Speck in sein Gehirn, was zur globalen Verzerrung des Raums und der Zeit führt. Am Ende des Romans ist Stalin ein Diener jenes Mannes, an den Boris Gloger die Briefe im ersten Teil des Romans geschrieben hatte. Aus dem himmelblauen Speck wird ein Umhang gemacht, den Glogers Geliebte für einen Osterball anzieht. Den ersten auf den 2. Januar 2068 datierten Brief von Boris Gloger wirft er weg. Igor’ Smirnov weist darauf hin, dass »Goluboe salo« eine neue Etappe in Sorokins ästhetisch-schriftstellerischer Entwicklung markiert.22 Wie Mark Lipoveckij bemerkt, habe Sorokin den Roman in der Absicht geschrieben, seine Leserschaft zu erweitern und in seine Ästhetik auf eine weniger experimentelle Art als in seinen früheren Werken einzuführen. Ein spielerischer Umgang mit verschiedenen Genres – Alternative Geschichte, Science Fiction und die Parodien auf die bekannten russischen Klassiker Dostojewski, Tolstoi, Tschechow, Pasternak, Achmatowa, Platonov und Nabokov – führt er auf diese Intention zurück.23 22 Vgl. Smirnov, Igor’: Novyj Sorokin? In: Hansen-Kokoruš, Renate / Richter, Angela (Hg.): Mundus narratus. Festschrift für Dagmar Burkhart zum 65. Geburtstag. Frankfurt am Main 2004, 177–182, hier 177; Lipovetsky: Postmodernist novel, 155. 23 Vgl. Lipovetsky: Postmodernist novel, 156.

»Goluboe salo« (1999) 

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In der Öffentlichkeit rief der Roman kontroverse Reaktionen hervor. Eine regierungstreue Organisation »Iduščije vmeste« (»Die gemeinsam Gehenden«) klagte Sorokin der Verbreitung von Pornografie an und unternahm mehrere Aktionen gegen ihn.24 Der Grund dafür war die detaillierte Darstellung von sexuellen Szenen, unter anderen zwischen Stalin und Chruschtschow. In der Sekundärliteratur wird der Roman als die Quintessenz des literaturozentrischen Mythos besprochen. Dabei wird oft der Ausdruck von Aleksandr Genis zitiert, der den himmelblauen Speck »den russischen Gral: der Geist, der Körper geworden ist« (»eto russkij graal’: duch, stavšij plot’ju«25) genannt hat. Laut Il’ja Kalinin kann der himmelblaue Speck als »eine Metapher jener Leistungskraft, die der Autor in der Sprache aufdeckt«26 gelesen werden. Wie Mark Lipoveckij schreibt, funktioniert dies durch die »Übertragung der Diskursivität auf die Ebene der Körperlichkeit« (»perenos diskursivnosti na uroven’ telesnosti«27). Голубое сало, мистическая субстанция, вырабатывается клонами великих русских писателей в процессе творчества (образцы которого включены в роман): дискурс русской литературы прямо переводится в физиологическое измерение, приобретая одновременно трансцендентальное значение …28 (Der himmelblaue Speck, eine mystische Substanz, die von den Klonen der großen russischen Schriftsteller in einem Schöpfungsprozess erzeugt wird (Beispiele dessen sind im Roman enthalten): Der Diskurs der russischen Literatur wird direkt in eine physiologische Dimension übertragen und erwirbt dabei eine transzendentale Bedeutung …)

24 Siehe dazu folgende Beiträge: Engel, Christine: Der Kampf um Deutungsmacht als inszenierter Skandal. Vladimir Sorokin im Bol’šoj-Theater. In: Neuhaus, Stefan / Holzner, Johann (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen 2007, 707–717; Strukov, Vlad: Medijnye miry Vladimira Sorokina. ot postmodernisma k postmedia, ili Skandal i logika rannego putinizma. In: Dobrenko, Evgenij / Kalinin, Il’ja / Lipoveckij, Mark (Hg.): »Eto prosto bukvy na bumage…« Vladimir Sorokin: posle literatury. Moskva 2018, 277–312; Räsänen, Salla: Osobennosti nacional’noj ochoty na pisatelja. Literaturnaja bor’ba 2002 goda vokrug romana Vladimira Sorokina Goluboe salo. Helsinki 2005, URL : https://helda.helsinki.fi/bitstream/handle/10138/19354/osobenno. pdf?sequence=4&isAllowed=y (am 12.02.2021). 25 Genis, Aleksandr: Strašnyj son. In: Ofizial’nyj sajt Vladimira Sorokina, 10.1999, URL : https://www.srkn.ru/criticism/genis.shtml (am 02.03.2020). 26 Kalinin, Il’ja: Vladimir Sorokin: U-topos jazyka i preodolenije literatury. In: Dobrenko, Evgenij / Kalinin, Il’ja / Lipoveckij, Mark (Hg.): »Eto prosto bukvy na bumage…« Vladimir Sorokin: posle literatury. Moskva 2018, 122–145, hier 124. 27 Lipoveckij, Mark: Sorokin-trop: karnalizacija. In: Dobrenko, Evgenij / Kalinin, Il’ja / Lipoveckij, Mark (Hg.): »Eto prosto bukvy na bumage…« Vladimir Sorokin: posle literatury. Moskva 2018, 100–121, hier 102. 28 Ebd., 106.

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Darüber hinaus wird der Roman in der Forschungsliteratur in Bezug auf seine erinnerungskulturelle Funktion thematisiert. Brigitte Obermayr verweist auf die Erzählstruktur des Romans und betont die Aktualisierung der StalinMythologie im gegenwärtigen russischen Erinnerungsdiskurs: Parallel verlaufende und ineinander verschachtelte Erzählstränge brechen historische Verlässlichkeit auf. Dies betrifft vor allem das vermeintliche Faktum, dass das ›Sowjetische‹ zu Ende oder am Ende sei. Daraus resultiert […] eine neue Ordnung, oder besser gesagt: Die Wiederkehr der alten Ordnung: Stalin ist immer noch – wieder – da.29

In Bezug auf die Verknüpfung von Literatur und Macht hebt Irina Gradinari die Bedeutung des Romans insbesondere vor dem Hintergrund seiner Referenz auf die kollektive Identitätsbildung hervor. Sie geht davon aus, dass Sorokins Roman die Problematik der Vergangenheitsaufarbeitung im postsowjetischen Russland thematisiert. Aus den Fragmenten der russischen und sowjetischen Geschichte konstruiert der Text ein neues Selbstbild, das anstelle der verlorenen sowjetischen Identität entsteht.30 In ihrem Beitrag geht sie vornehmlich auf zwei Schwerpunkte ein: Erstens betrachtet sie das Verhältnis von politischer Macht und Literatur und die Rolle der Literatur in der Reproduktion des neuen kulturellen Bewusstseins: Die Literaturproduktion bedeutet laut Sorokin eine Neukonfiguration und damit eine gewaltsame Verstümmelung aktueller Diskurse. So besteht der Schöpfungsakt auf der einen Seite aus den Auseinandersetzungen mit den literarischen Traditionen, Motiven und Topoi, die die berühmten Schriftsteller des 19. und 20. Jh. verkörpern; auf der anderen Seite verarbeitet der Verfasser die historische Vergangenheit seiner Kultur.31

Zweitens liest sie den Roman als Metapher des kollektiven Bewusstseins nach dem Konzept von Sigmund Freud, indem sie die drei Teile des Romans als das Unbewusste, Vorbewusste und Bewusste bezeichnet.32 Während das kollektive Ich (das Bewusste), repräsentiert durch die Briefe des Ich-Erzählers Boris Gloger, im ersten Teil des Romans situiert ist, steht die stalinistische Vergangenheit für den erinnerungskulturellen Vorrat und demzufolge für das Funktionieren des kollektiven Unbewussten.33 Den Orden der Erdrammler ordnet Gradinari dem Vorbewussten zu, das »unbewusste Regungen auffasst, 29 Obermayr: Wunschgeschichten. Ansätze einer Typologie des Alternativhistorischen in der russischen Literatur seit 1990, 80. 30 Vgl. Gradinari, Irina: Literatur, Macht und kollektive Bewusstseinsgenese in Goluboe salo von Vladimir Sorokin. In: Gierzinger, Georg (Hg.): Spielformen der Macht. Interdisziplinäre Perspektiven auf Macht im Rahmen junger slawistischer Forschung, Innsbruck 2011, 27–49, hier 28 f. 31 Ebd., 33. 32 Vgl. ebd., 41. 33 Vgl. ebd., 43.

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die wieder bewusst werden können.«34 Insofern spiegelt die Darstellung des Ordens die politischen und gesellschaftlichen Tendenzen im zeitgenössischen Russland wie den wachsenden Nationalismus und die zunehmende Verschmelzung von Kirche und Staat wider: So steht der religiöse Orden der Erdrammler für das aktuelle Machtdispositiv, das im kollektiven Bewusstsein zwischen Präsenz und Latenz verbleibt. GS [»Goluboe salo«] verdichtet zahlreiche Bilder und lässt das Machtdispositiv als ein Amalgam aus Religion, russischem Nationalismus, Patriarchat und ökonomischer Oligarchie erscheinen. Der Orden deutet auf den Aufschwung der Religiosität nach dem Zerfall der Sowjetunion und den steigenden Einfluss der orthodoxen Kirche auf die Politik hin Die Mönche sprechen im Gegensatz zu Glogers chinesisch-russisch-deutsch-englischem Sprachhybrid Russisch, was als Allusion auf den latenten russischen Nationalismus gesehen werden könnte; der Orden besteht nur aus Männern – ein Sinnbild für das maskuline Patriarchat.35

Das politische System des Ordens steht demnach im Fokus der vorliegenden Arbeit. Die metaphorische Beschreibung des Ordens, der laut Gradinari im Vorbewussten der kollektiven Identität lokalisiert ist, verweist auf die potenzielle Aktualisierung seiner politischen Strukturen im kollektiven Bewusstsein. Die Mitglieder des religiösen Ordens greifen die Gruppe der prochinesischen Wissenschaftler an, die das Bewusste im Roman repräsentieren. Im symbolischen Sinne weist dies auf die gewaltsame Etablierung der archaischen patriarchalischen Strukturen über die egalitäre kosmopolitische Ordnung hin. In der erzählerischen Struktur des Romans verbinden die Erdrammler die Zukunft und die Vergangenheit, indem sie den himmelblauen Speck mithilfe einer Zeitmaschine aus dem Jahr 2068 in das Jahr 1954 schicken. Mehrere Forscher weisen darauf hin, dass der Orden der Erdrammler eine Anspielung auf »Počvenničestvo« (dt. etwa: »Bodenständigtum«) – eine literarische und philosophische Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts  – ist.36 Tatiana Filimonova sieht darüber hinaus eine Verbindung zwischen der Wiedergeburt der Ideen von »Počvenničestvo« und Neo-Eurasismus in den 1990er-Jahren in Russland.37 Das Ende der Sowjetzeit aktualisierte die Gegenüberstellung zwischen den Westlern und den Slawophilen,

34 Ebd. 35 Ebd., 44. 36 Vgl. Lipoveckij: Paralogii. Transformacii (post)modernistskogo diskursa v russkoj kul’ture 1920–2000-ch godov, 440; vgl. Uffelmann, Dirk: The Chinese Future of Russian Literature. »Bad Writing« in Sorokin’s Ouevre. In: Roesen, Tine / Uffelmann, Dirk / Kühn, Katharina (Hg.): Vladimir Sorokin’s languages. Bergen 2013, 170–193, hier 177. 37 Vgl. Filimonova: Rossijskaja imperija, kitajskaja materija: imperskoje samosoznanije v proizvedenijach Vladimira Sorokina, 261.

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so die These von Maksim Marusenkov. Der im Roman dargestellte Konflikt zwischen den Erdrammlern und der prochinesischen Intelligenz kann als eine groteske Satire auf dieses Konfrontationsverhältnis betrachtet werden.38 6.2.2 Materialisierung der Machtvertikale

Eine der wichtigsten ästhetischen Strategien Sorokins ist nach Mark ­Lipoveckij die Materialisierung sprachlicher Metaphern. In Anlehnung an Dirk Uffelmann39 geht er davon aus, dass sie ein zentraler Topos in Sorokins gesamtem Œuvre ist. Diesen Topos benennt er mit dem Begriff »karnalizacija« (dt. etwa: »Verleiblichung«, »Verkörperlichung«), den er von dem lateinischen Wort carnalis – körperlich, fleischlich – ableitet. Auf diesen Topos sind viele wichtige Eigenschaften der Ästhetik Sorokins zurückzuführen, weil gerade dieses Stilmittel der Dekonstruktion der autoritären Diskurse dient.40 Der Orden der Erdrammler kann demzufolge als eine realisierte Metapher der Verbindung zwischen Gemeinschaft und Boden gelesen werden, die den Ideen des (Neo-)Eurasismus zugrunde liegt. Im Roman wird dies durch die detaillierte Beschreibung des Lebens der Erdrammler zum Ausdruck gebracht. Die Erdrammler leben in einem Stollen. Der mehrschichtige Stollen symbolisiert das Modell der Macht, indem das Heruntersteigen in die Tiefe gleichsam die hierarchische Rangordnung verdeutlicht. Nachdem die Erdrammler die Vertreter der pro-chinesischen Kultur umbringen und den himmelblauen Speck rauben, kehren sie zum Stollenschacht in ihrem Berg zurück. Die Beschreibung der ersten Stollenebene, die sich näher zur Erdoberfläche befindet, zeugt von der Armut und Verwahrlosung der dort wohnenden Menschen: »überall lagen Kabelreste und rostiger Schrott herum«;

38 Vgl. Marusenkov, Maksim: Absurdopedija russkoj žiznii Vladimira Sorokina. Zaum’, grotesk i absurd. Sankt-Peterburg 2012, 195. 39 Dirk Uffelmann hat eine Periodisierung von Sorokins Œuvre vorgeschlagen. Die erste Tendenz bezeichnet er als eine »Materialisierung der Metapher«. Die zweite Tendenz wird mit der Formel »Emotionaler Positivismus« definiert. Die dritte nennt er den »fantastischen Substanzialismus«. Den Roman Goluboe salo zählt er zu der dritten Periode. Der himmelblaue Speck ist laut Uffelmann ein Nebenprodukt des schriftstellerischen Schöpfungsprozesses und gleichzeitig eine fantastische Substanz. Diese Substanzen, die mit der dritten Tendenz in Sorokins Werken verbunden sind, werden zu den »normativen oder mythopoetischen Substanzen« gezählt. (Vgl. Uffelmann, Dirk: »Lëd tronulsja« peresekajščiesja periody v tvorčestve Vladimira Sorokina (ot materializacii metafor k fantastičeskomu substanzialismu). In: Dobrenko, Evgenij / Kalinin, Il’ja / Lipoveckij, Mark (Hg.): »Eto prosto bukvy na bumage…« Vladimir Sorokin: posle literatury. Moskva 2018, 64–87, hier 72–74.) 40 Vgl. Lipoveckij: Sorokin-trop: karnalizacija, 101 f.

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»bärtige, zerlumpte Leute«41. Ivan gibt den himmelblauen Speck Vanjuta, der über eine Lücke auf eine tiefere Stufe heruntersteigt: [Здесь внизу] было теплее и светлее, чем наверху. Пространство выработанной штольни освещали десятки электрических светильников, каменистый пол был чисто подметен, нигде не было мусора или остатков шахтерского оборудования.42 (Hier unten war es heller und wärmer als oben. Dutzende elektrischer Beleuchtungskörper erhellten den Stollen, der Steinboden war sauber gefegt, nirgends waren Abfälle oder Überreste von Grubengerät zu sehen.43)

Vanjuta übergibt auf einer tieferen Ebene den himmelblauen Speck dem in der sozialen Rangordnung höher gestellten Mitglied, Vater Zigon. Vanjuta selbst wird von Zigon geschlagen und gefoltert. Zigon steigt auf die nächste Ebene in einen großen Saal herunter. Im Saal befinden sich zehn Marmortische, an denen glatzköpfige Menschen in schwarzen Anzügen sitzen. Dies kann als vieldeutige Anspielung – sowohl auf Parteifunktionäre als auch auf die Mafia aus den 1990er-Jahren – gelesen werden. Nicht zuletzt hat der Saal auf dieser Ebene Marmorwände und -tische. Marmor wurde sehr oft in der Sowjetunion beim Bauen eingesetzt. Die Selbstbeschreibung des Ordens gründet sich auf Familienkategorien. Sie sprechen einander mit der Anrede »Bruder« an. Den Großmeister reden sie »otče« (»Vater«) an, was jedoch die Familiensphäre transzendiert und dergestalt im Bereich des Religiösen ansiedelt. Den Orden selbst nennen sie »bratie« (Mitbrüder, Klostergemeinschaft). Im russischen Sprachgebrauch bedeutet das Wort in übertragener und oft ironischer Weise die Menschen, die einem gemeinsamen beruflichen Milieu angehören. Somit befindet sich die Selbstbeschreibung des Ordens an der Schwelle zwischen den Kategorien von Verwandtschaft, Religion und sozialer Institution. Außerdem erhielt das Wort »brat« (»Bruder«) im Diminutiv »bratok« eine Verbreitung in den 1990erJahren in Russland für die Bezeichnung der Mafiamitglieder. Das Aussehen der auf dieser Ebene angesiedelten Mitglieder des Ordens erinnert an die typischen Attribute der Mafia, deren Mitglieder häufig dunkle Kleidung und kahlrasierte Köpfe hatten. Auf der Tribüne beginnt Zigon eine Rede, die in einen Gesang mit dem einzigen Wort »Nein« übergeht. Nach mehreren Stunden dieses Gesangs kommen nur »komische unmenschliche Laute« (»strannye nečelovečeskie zvuki«44) 41 42 43 44

Sorokin, Vladimir: Der himmelblaue Speck. Köln 2000, 169. Sorokin, Vladimir: Goluboe salo. Moskva. 1999, 127. Sorokin: Der himmelblaue Speck, 172. Sorokin: Goluboe salo, 132.

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aus seinem Mund. Einer der Anwesenden mit dem Namen Arsenij Andreev bringt Zigon um. Wie Dagmar Burkhart bemerkt, werden in Sorokins Texten nicht nur Körper verstümmelt, die Sprache wird ebenfalls Verzerrungen und Veränderungen unterzogen: Erstens erleidet die Sprache einen Gestaltverlust durch Verstümmelung und Deformation; zweitens wird durch sie die ständige Wiederholung sinnentleert und entsemantisiert.45 Gewalt spiegelt die Zerstörung der Sprache wider. Die normale Sprache ist nicht fähig, Gewalt ausdrücken. Somit befindet sich Gewalt außerhalb des rationalen Denkens, das sich in der zusammenhängenden Rede zeigt. An der Weiterreichung des himmelblauen Specks von oben nach unten lässt sich ein bestimmter Typ von Kommunikation beschreiben. Dieses totalitäre System zeigt eine zusammenhängende Zirkulation von Gewalt und Sprachverlust. Wenn die Mitglieder der Sekte den himmelblauen Speck auf die nächste Ebene bringen, sind sie nicht fähig, mithilfe der Sprache ihre Gedanken auszudrucken und sich diskursiv zu verständigen. In diesem Typ der Gesellschaft funktioniert die Kommunikation zwischen verschiedenen Schichten und Machtebenen mithilfe des himmelblauen Specks – der materialisierten Metapher der Literatur. Die Bedeutung des himmelblauen Specks ist den Mitgliedern des Ordens allerdings unbekannt, demnach sind sie metaphorisch von der Literatur getrennt. Auf diese Weise zeigt Sorokin die Unmöglichkeit von Informationsübermittlung mithilfe konventioneller diskursiver Mittel von den oberen Ebenen des Stollens (von der unteren Schicht der Bevölkerung) zu der tiefsten Ebene (zu dem Großmeister). Die Kommunikation zwischen verschiedenen Schichten des Ordens funktioniert durch Gewalt. Weiter geht Andreev zu dem Meister, der sich auf der gleichen Ebene befindet. Der Meister zwingt ihn, das in Späne zerkleinerte Diktiergerät zu essen, das die Erdrammler zusammen mit dem himmelblauen Speck geraubt haben. Der Meister begibt sich auf die nächste Ebene zum Bewahrer der Erdproben. Savelij verkleistert des Meisters Ohren mit einer Erdprobe. Auf der nächsten Stufe der vielschichtigen Machtvertikale wohnen Mönche mit riesigen Phallen, deren Aufgabe es ist, das Ritual – die Kopulation mit der Erde – zu vollziehen. Savelij wird hier zwar weder gefoltert noch geschlagen, doch wird er von den eigentlichen Erdrammlern entwürdigend behandelt. In einem Korb senkt sich Vil – der nächste Bote des himmelblauen Specks – durch den Schacht nach unten ab, bis er die letzte Ebene  – das Zimmer des Großmeisters erreicht. Insgesamt wird der himmelblaue Speck also durch sieben Stationen auf sechs Ebenen weitergereicht. Bei der Beschreibung der Sekte bedient sich Sorokin des oben erwähnten Verfahrens subversiver Affirmation. Die Verbindung zwischen Gemeinschaft 45 Vgl. Burkhart: Ästhetik der Häßlichkeit und Pastiche im Werk von Vladimir Sorokin, 13 f.

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und Boden, die eine ideologische Grundlage unter anderem für die (neo-) eurasische Bewegung bildet, verwandelt sich in Sorokins Text im eigentlichen Sinne des Wortes in eine Einheit, indem die Sekte tief im Boden lebt. Der Großmeister wohnt auf der untersten Ebene des Stollens, was den Kulminationspunkt der Einheit mit der Erde verkörpert. Der Großmeister hat keinen Namen. Sorokin entwirft auf diese Weise ein bestimmtes Modell souveräner Macht. In diesem Modell stellt der Repräsentant der Gemeinschaft einen politischen Körper dar: Jegliche persönlichen und menschlichen Züge werden ihm entzogen. Bevor der Großmeister Vil mit einer Zeitmaschine in das Jahr 1954 schickt, liest er die Binnenerzählung »Golubaja tabletka« (»Die blaue Tablette«). In dieser Erzählung geht es darum, wie der Ich-Erzähler eine blaue Tablette nimmt und in seinen Halluzinationen im Bolschoi-Theater – »das wichtigste Klärbecken Moskauer Kanalisation«46 – landet. Zuschauer müssen Druckluftgeräte tragen, um die Aufführung zu sehen. Peter Deutschmann betrachtet die Binnen- und Rahmenerzählungen von »Goluboe salo« unter dem Gesichtspunkt von mise-en-abyme – dem erzählerischen Verfahren – als eine Form von Autoreflexivität, die einfache Verdopplungen, unendliche und aphorische Reduplikationen einschließt.47 Durch die Integration dieser Erzählung in den Teil des Romans, der das Leben der Sekte unter der Erde beschreibt, wird eine der semantischen Bedeutungen des Worts »Stollen« (im Russischen »stol’nja«) in Form der unterirdischen Kommunikationssysteme – Kanalisation – aktualisiert.48 Noch ein subversives Element, das bereits in der Sekundärliteratur beschrieben worden ist, betrifft das Kultobjekt der Erdrammler – die »Feuchte Mutter Erde«. Es ist, wie Dirk Uffelmann schreibt, eine materialisierte Metapher des späten slawischen Kultus des russischen Bodens, der als »Počvenničestvo« bekannt und unter anderem bei Dostoevskij vertreten ist.49 Manuela Kovalev geht davon aus, dass der Kult der Erdrammler die materialisierte Metapher einer der Phrasen der russischen Obszönität darstellt, die in einer körperlichen Umsetzung in Kopulation mit dem sibirischen Land widergespiegelt wird. Sorokins Beschreibung der Erdrammler sei mit der Theorie von Boris 46 Sorokin: Der himmelblaue Speck, 221 f. 47 Vgl. Deutschmann, Peter: Intersubjektivität und Narration. Gogol’, Erofeev, Sorokin, Mamleev. Frankfurt am Main 2003, 291. 48 In seinem Debütroman Norma, der zwischen 1979 und 1983 geschrieben wurde, vor seiner ersten offiziellen Veröffentlichung im Jahre 1994 im Samizdat verbreitet wurde und aus acht Teilen besteht, dekonstruiert Sorokin die sprachliche Ideologisierung und Normativität des sowjetischen Lebens. Im ersten Teil geht es darum, wie sowjetische Bürger eine den Fäkalien ähnliche Substanz verzehren. 49 Vgl. Uffelmann: The Chinese Future of Russian Literature. »Bad Writing« in Sorokin’s Ouevre, 177.

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Uspenkskij verbunden, der den Ursprung der obszönen Lexik in heidnischen Kulturen sieht.50 Die Erde, die nach heidnischen Vorstellungen die Grundlage alles Lebendigen ist, hat sich in der Metapher der Mutter realisiert: Мотив совокупления с землей имеет явные мифологические корни: именно представление о супружеских отношениях между небом и землей, дающих начало жизни, и лежит в основе восприятия земли как общей матери […].51 (Das Motiv der Kopulation mit Erde hat offensichtlich mythologische Wurzeln, nämlich die Vorstellung der ehelichen Beziehung zwischen Himmel und Erde, die das Leben entstehen lässt und die der Wahrnehmung der Erde als gemeinsamer Mutter zugrunde liegt […].)

In Sorokins Roman wird die Gestalt der Mutter Erde durch symbolischen Inzest desakralisiert.52 Dies kann aber auch als metaphorischer Ausdruck für die Einheit zwischen Gemeinschaft und Boden gelesen werden. So eine symbolische Fassung dieses Rituals führt uns auf die Bedeutung des Inzests für die kulturelle Ordnung zurück. Lejderman und Lipoveckij weisen darauf hin, dass eines der Merkmale in Sorokins Werken die Änderung des symbolischen Codes ist: »der symbolische Code wird durch den naturalistischen Code ersetzt, bedingte Signale werden durch bedingungslose ersetzt, »Kultur« durch »Natur« (oder durch das, was als Nicht-Kultur, Wildheit oder Archaik wahrgenommen wird).« (»символический код вытесняется кодом натуралистическим, условные сигналы замещаются безусловными, »культура« – »природой« (или тем, что воспринимается как вне-культура, дикость, архаика).«)53 Wenn Inzest bei Pavel Krusanov eine destruktive Natur für eine symbolische Ordnung hat, dann wird die Kultur bei Sorokin um einen symbolischen Inzest aufgebaut, der den Bereich von Kultur / symbolischer Ordnung in das Feld von Archaik überträgt. Sorokin stellt ein geschlossenes politisches System mit einer strengen Hierarchie dar, die auch soziale Verhältnisse verdeutlicht. Isolation wird hier durch eine physische Unterbringung des Ordens der Erdrammler tief in einem Berg realisiert. Dies ist nicht nur eine metaphorische Umsetzung der Verbindung zwischen Gemeinschaft und Boden, sondert isoliert im buchstäblichen Sinne die Sekte von der Außenwelt. Mit der Gestaltung der Ordensstruktu-

50 Vgl. Kovalev, Manuela: Pystye slova? Funkcija nenormativnoj leksiki v romane V. Sorokina »Goluboe salo«. In: NLO 1 (2013), 194–205, hier 200. 51 Uspenskij, Boris: Izbrannye trudy. Jazyk i kul’tura. Moskva 1994, 70. 52 Vgl. Filimonova: Rossijskaja imperija, kitajskaja materija: imperskoje samosoznanije v proizvedenijach Vladimira Sorokina, 262. 53 Lejderman / Lipoveckij: Sovremennaja russkaja literatura. 1950–1990-e gody. V dvuch tomach. Tom 2, 492 f.

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ren realisiert Sorokin die Vorstellung der hierarchischen Machtverhältnisse auf der räumlich-sozialen Dimension, wie Peter Deutschmann bemerkt.54 Die Beschreibung der Machtverhältnisse im Berg der Erdrammler funktioniert durch die architektonische Metaphorik55 und genau genommen die Metapher der Machtvertikale. Sorokin entwirft damit ein geschlossenes Herrschafts- und Gesellschaftssystem, was eine buchstäbliche Realisierung dieser Metapher darstellt:56 Der Schriftsteller schildert eine Gemeinschaft, deren politische Ordnung sich auf strenger vertikaler Hierarchie gründet und ein aufeinanderfolgendes Unterstellungsverhältnis zwischen ihren Mitgliedern voraussetzt. Der Abstieg auf die untere Ebene der Machtvertikalen bedeutet paradoxerweise den Aufstieg auf die obere Stufe der Machtverhältnisse. In dieser Hinsicht wird der Orden der Erdrammler der pro-chinesischen Gemeinschaft ebenfalls aus dem Gesichtspunkt seiner räumlichen Organisation gegenübergestellt. Während die Mitarbeiter des Klonlaboratoriums im Bunker auf einer Ebene wohnen und dadurch das Prinzip der Horizontalität in ihren Arbeitsbeziehungen verkörpern, liegt dem Orden der Erdrammler die vertikale Machtverteilung zugrunde, die durch die Unterbringung der Mitglieder auf verschiedenen Ebenen im Stollen metaphorisch zum Ausdruck kommt. Eine traditionelle Metapher der Macht, in der der Herrscher mit einer oberen Position assoziiert wird, wandelt Sorokin in ein Modell, indem sich der

54 Vgl. Deutschmann: Intersubjektivität und Narration. Gogol’, Erofeev, Sorokin, Mamleev, 297. 55 Architektonische Metaphorik wird verwendet, um die Elemente und Typen der gesellschaftlichen Differenzierung – Zentrum / Peripherie, funktionale Teilung und hierarchische Segmentierung – zu beschreiben. (Vgl. Villányi, Dirk / Lübcke, Thomas: Soziologische Systemtheorie und Metaphorik – Zur Epistemologie der Metapher des Systems. In: Junge, Matthias (Hg.): Metaphern und Gesellschaft. Die Bedeutung der Orientierung durch Metaphern, Wiesbaden 2011, 31–48, hier 35). 56 Die Maßnahmen, die die Bezeichnung »Stärkung der Machtvertikale« (»ukreplenie vertikali vlasti«) bekommen haben, wurden bei Vladimir Putin am Anfang der 2000erJahre eingeleitet und schließen eine Reihe von Gesetzen ein, die auf die Schwächung der politischen Opposition und der regionalen Selbstverwaltung abzielen. Die Redewendung »Machtvertikale« hat zwar breite Anwendung mit dem Beginn der Amtszeit Putins gefunden, erscheint allerdings in den Massenmedien bereits im Jahre 1991 laut dem »Wörterbuch der russischen öffentlichen Sprache« der Zeitung Kommersant. (Vgl. Višnepol’skij, Kirill / Močenov, Andrej / Nikulin, Sergej: Slovar’ russkogo publičnogo jazyka konza XX veka. In: Kommersant, 23.06.2003, URL : https://www.kommersant.ru/doc/390624 (am 30.01.2020).) Auch der erste Präsident der Russischen Föderation, Boris Jel’cin, spricht in der Botschaft der Föderationsversammlung von der Notwendigkeit, die Machtvertikale zu stärken. (Vgl. El’cin, Boris: Poslanije Prezidenta Rossii Borisa El’cina Federal’nomu Sobraniju RF: »Rossija na rubeže epoch«. In: Intelros, URL : http://www.intelros.org/lib/ elzin/1999.htm (am 30.01.2020).) Über die Etablierung der Metapher »Vertikale« im politischen Sprachgebrauch siehe Belousov, Aleksandr: »Vertikal’« kak političeskaja metafora. In: Svobodnaja mysl’ 06 (2007), 23–36.

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Großmeister des Ordens ganz unten befindet. Dies kann als buchstäbliche Metaphorisierung der phraseologischen Redewendung »etwas auf den Kopf stellen« (russisch »perevoračivat’ s nog na golov«) interpretiert werden. So hat im russischen Sprachgebrauch das Wort »glava« (»das Haupt«, »der Chef«, »der Leiter«) eine etymologische Verwandtschaft mit dem Wort »golova« (»der Kopf«). Im veralteten oder poetischen Sprachgebrauch bedeutet »glava« auch »der Kopf«. Im Russischen existieren ebenfalls die Redewendungen »stojat’ vo glave« – buchstäblich »am Haupt stehen« bzw. »an der Spitze stehen« oder »stavit’ vo glavu ugla« (»in den Mittelpunkt stellen«), was auf die Bedeutung der Körpermetapher für die Bildung politischer Begriffe verweist. Das Modell des menschlichen Körpers dient der Etablierung der Struktur, in der die funktionale Dominanz des Kopfs die horizontal-vertikalen Verhältnisse semiotisch markiert. »Oben« wird mit einer leitenden dominanten Rolle assoziiert. Die Redewendung bezieht sich auf archetypische Gegensätze zwischen »unten« und »oben«, denen einerseits Vorstellungen über Körperfunktionen und andererseits archetypische Gegenüberstellungen zugrunde liegen. Laut diesen Vorstellungen wird die Welt als System von ausgewogenen Gegensätzen für die Ordnungsbildung wahrgenommen, in der alles auf seinem Platz ist und eine bestimmte Bedeutung hat.57 Der Kulturwissenschaftler Mojsej Kagan betrachtet die Etablierung der räumlichen Semantik in der Kulturgeschichte. Raumfragmente wie z. B. »oben« und »unten« dienen dazu, Hierarchie- und Wertverhältnisse zu bilden. In dem letzten Paradigma wird »oben« (Himmel) mit Göttlichem, Geistigem und »unten« (Erde) mit Tod und bösen Geistern assoziiert.58 In der Redewendung »etwas auf den Kopf stellen« drückt sich die negative Einstellung zu dem wiedergegebenen Sachverhalt, aber auch die Umkehrung von grundlegenden, ordnungsinstituierenden Begriffen oder, in anderen Worten ausgedrückt, die Entstehung von Chaos aus.59 Sorokin entwirft ein autokratisches Modell der Macht mit dem alleinigen Herrscher an der Spitze und gleichzeitig dekonstru­iert er dieses Modell, indem er die traditionelle räumliche Metapher der Macht umdreht.

57 Vgl. Perevernut’ s nog na golovu. In: Telija, Veronika / Brileva, Irina (Hg.): Bol’šoj frazeologičeskij slovar’ russkogo jazyka. Značenie, upotreblenie, kul’turologičeskij kommentarij. Moskva 2007, 659. 58 Vgl. Kagan, Moisej: Filosofija kul’tury, Moskva 2018, 66 f. 59 Vgl. Perevernut’ s nog na golovu. In: Telija / Brileva (Hg.): Bol’šoj frazeologičeskij slovar’ russkogo jazyka. Značenie, upotreblenie, kul’turologičeskij kommentarij, 659 f.

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6.3 Der kollektive Körper der Opritschnina 6.3.1 Imaginationen Asiens in »Den’ opričnika«

Der im Jahr 2006 herausgegebene Roman »Den’ opričnika« schildert eine alternative Entwicklung Russlands im Jahre 2027, in der sich das Land vom Westen mit einer Mauer abgrenzt.60 Neben der physischen Isolation in Form der Mauer vollzieht sich die Abgrenzung vom Rest der Welt durch den symbolischen Akt der Verbrennung der Reisepässe.61 Die politische Ordnung Russlands verwandelt sich in eine konservativ-orthodoxe Monarchie mit Merk­malen eines Terrorstaates. Der Titel rekurriert auf Alexander Solschenizyns »Odin den’ Ivana Deni­ soviča« (»Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch«)62, in dem es um einen Tag aus dem Leben eines Häftlings in einem Arbeitslager geht. Im Gegensatz zu der Erzählung handelt es sich in Sorokins Werk um ein totalitäres Staatssystem aus einer Täterperspektive. Wie Dirk Uffelmann bemerkt, ist »Den’ opričnika« ein Stück der psychologischen Literatur, indem der Roman die Perspektive der Täter und damit die Rechtmäßigkeit der durch Mord, Vergewaltigung und Brandstiftung umgesetzten Normen zu verinnerlichen versucht.63 Der Ich-Erzähler des Romans, Andrej Komjaga hat sein Geschichtsstudium an der Moskauer Lomonossow-Universität abgebrochen und zur Opritschnina gewechselt. Durch die Beschreibung seines Tages führt der Opritschnik in das Leben der imaginierten Zukunft Russlands ein. Früh morgens verlässt Komjaga sein Haus, das vorher einem Beamten gehörte und von den Opritschniki eingezogen wurde. Die erste Aktion des Tages ist die Hinrichtung eines staatsfeindlichen Adligen. Die Opritschniki verbrennen sein Haus, vergewaltigen seine Witwe und schicken seine Kinder 60 Vgl. Sorokin, Vladimir: Den’ opričnika. Moskva 2006, 38. 61 Vgl. ebd., 137. 62 Vgl. Obermayr, Brigitte: Choosing a Different Example Would Mean Telling a Different Story: On Judgement in Day of Oprichnik. In: Roesen, Tine / Uffelmann, Dirk / Kühn, Katha­rina (Hg.): Vladimir Sorokin’s languages. Bergen 2013, 245–265, hier 249. Marina Aptekman verweist auch auf intertextuelle Bezüge zum Roman von Petr Krasnov »Za čertopolochom« (1921). (Vgl. Aptekman, Marina: Forward to the Past, or Two Radical Views on the Russian Nationalist Future. Pyotr Krasnov’s Behind the Thistle and Vladimir Sorokin’s Day of an Oprichnik. In: The Slavic and East European Journal 53/2 (2009), 241–260, hier 242.) 63 Vgl. Uffelmann, Dirk: The Compliance with and Imposition of Social and Linguistic Norms in Sorokin’s Norma and Den’ oprichnika. In: Lunde, Ingunn / Paulsen, Martin (Hg.): From poets to Padonki. Linguistic authority and norm negotiation in modern Russian culture. Bergen 2009, 143–167, hier 155; vgl. Uffelmann, Dirk: Vladimir Sorokin’s discourses. A companion. Boston 2020, 134 f.

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ins Kinderheim. Nach dem Gewaltakt an der Familie des Adligen findet der Gottesdienst in der Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale statt. Nach einer anschließenden Mahlzeit im Weißen Palais des Kremls ruft der Zar den Leiter der Opritschnina und drei Opritschniki zur Geheimen Kanzlei. Dort liest ihnen der Vorsteher der Geheimen Kanzlei ein Spottgedicht auf den Schwiegersohn des Zaren – Andrej Urusov – vor, der Brandstiftungen und Vergewaltigungen verdächtigt wird. Der Zar befragt seinen Schwiegersohn und dieser gesteht die Verbrechen. Zu den Aufgaben, die er an dem Tag noch erledigen muss, gehört die Zensur eines Festkonzertes. Nach dem Konzert begegnet er einer Primaballerina, die ihn mit Geld und Drogen (chinesischen Goldfischen) besticht, um ihrer in Ungnade gefallenen Freundin zu helfen. In dieser Episode behauptet Komjaga, dass die Opritschnina »eine Brüderschaft und kein Orden«64 ist. Ihren Chef reden die Opritschniki als »Batja«65 an, dieser ist für sie »wie ein leiblicher Vater«66. Die Selbstrepräsentation der Opritschnina in familiären Kategorien und nicht des Ordens ruft die Konnotation der Egalität hervor und nicht die der hierarchischen Gliederung, was jedoch in späteren Episoden entlarvt wird. In einer der danach folgenden Szenen führen die Opritschniki ihrem Blutkreislauf Goldfische zu, die einen Drogenwahn hervorrufen. Bei einer solchen Halluzination verwandelt sich Komjaga mit den Mitgliedern der Opritschnina in einen Drachen mit sieben Köpfen, der mit wilder Freude im von den Opritschniki gehassten Amerika Vernichtung verbreitet. Noch eine wichtige Aufgabe muss Andrej Komjaga im Zollamt erledigen. Er fährt nach Orenburg, um chinesische Lkw zu stoppen, um durch die aufgezwungene Versicherung Geld zu erpressen. Als Nächstes fliegt Komjaga nach Tobol, um sich auf Anweisung der Gossudarin mit der Wahrsagerin Praskov’ja zu treffen. Komjaga bespricht mit ihr Russlands Gegenwart und Zukunft. Nach der Rückkehr nach Moskau geht er zum Konzert des Volkserzählers und Barden Artamoša, der einen allegorischen Sprechgesang spielt, der sexuelles Fehlverhalten der Gossudarin aufdeckt. In den Auftritt mischen sich Mitglieder einer kremltreuen Organisation. Diese werden allerdings vom Publikum geschlagen. Komjaga berichtet der Gossudarin über den Besuch bei der Wahrsagerin und die gescheiterte Provokation gegen den Volkssänger Artamoša. Der Tag endet mit einem gemeinsamen Abendessen der Opritschnina. Nach dem Essen gehen sämtliche Opritschniki zur Banja67, wo sie eine kollektive homosexuelle Orgie begehen. Dann erscheint in der Banja der Schwiegersohn 64 65 66 67

Sorokin, Vladimir: Der Tag des Opritschniks. Köln 2008a, 71. Sorokin: Den’ opričnika, 17. Sorokin, Vladimir: Der Tag des Opritschniks, 139. Traditionelles russisches Dampfbad.

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des Zaren – Urusov, um bei der Opritschnina um Schutz zu bitten. Zu diesem Zeitpunkt ist bereits deutlich geworden, dass der Zar dem Schwiegersohn seine Protektion entzogen hat. Die Opritschniki bringen Urusov um. Dann nehmen die Opritschniki an einer weiteren kollektiven Aktion teil – sie bohren sich gegenseitig mit Bohrmaschinen in die Beine. Nach der Heimkehr schläft Komjaga ein und sieht in einem Traum ein weglaufendes Pferd. Der Roman »Den’ opričnika« zeigt eine Wende in der zunehmenden geopolitischen Orientierung Russlands auf Asien in den 2000er-Jahren. Auf mehreren Ebenen erstreckt sich dabei der chinesische Einfluss auf Russland. Als Komjaga ins Haus eines hochrangigen Beamten eintritt, sieht er, dass die ganze Einrichtung im chinesischen Stil ist: В гостиной все на китайский манер — лежанки, ковры, столики низкие, вазы в человечий рост, свитки, драконы на шелке и из нефрита зеленого. Пузыри новостные тоже китайские, гнутые, черным деревом отороченные. Восточными ароматами пованивает. Мода, ничего не поделаешь. Поднимаемся наверх по лестнице широкой, ковром китайским устланной.68 (Das Gesellschaftszimmer ist ganz auf chinesische Art eingerichtet: Liegen, Teppiche, flache kleine Tische, mannshohe Vasen, Rollbilder, Drachen auf Seide und aus grünem Jadestein. Auch die Verlautbarungsblasen sind aus China: geschweifte Formen, in Ebenholz gefasst. Fernöstliche Düfte hängen in der Luft. Das ist die heutige Mode, was soll man machen. Über die breite, mit einem chinesischen Läufer ausgelegte Treppe steigen wir hinauf in den ersten Stock.69)

Die chinesische Einrichtungsmode in Sorokins Russland erinnert an die Bedeutung Chinas in Europa im 18. Jahrhundert. Weijian Liu schreibt, dass der Wunsch, verschiedene Lebensbereiche wie Möbel, Kunstwerk oder Gartenbau nach dem chinesischen Muster in Europa im 18. Jahrhundert zu stilisieren, über einen einfachen Modetrend hinausging. Dies korrespondierte mit dem wachsenden Interesse an der konfuzianischen Philosophie70, in der europäische Philosophen ein aufgeklärtes Staatsideal sehen.71 Im Roman verkörpert die Repräsentation Chinas jenen Teil der russischen Identität, der die tiefe Verwurzelung in asiatischen Kulturen von den (Neo-)Eurasiern beigemessen wird.

68 Sorokin: Den’ opričnika, 25. 69 Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 27. 70 Die konfuzianische Philosophie enthält auch Elemente der politischen Ideologie, die davon ausgeht, dass ein idealer Staat auf moralischen Prinzipien basieren soll. Nach Konfuzius schließen diese Prinzipien einen Komplex von ethisch-rechtlichen Normen wie Respekt vor Älteren, Regierungstreue, Pflicht und Fürsorge für Mitmenschen ein. 71 Vgl. Liu, Weijian: Kulturelle Exklusion und Identitätsentgrenzung: zur Darstellung Chinas in der deutschen Literatur 1870–1930. Bern u. a. 2007, 93–98.

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Die Sinisierung Russlands manifestiert sich gleichfalls in der Verbreitung der chinesischen Sprache, die zu dem wichtigsten Kommunikationsmittel in Russland geworden ist. Für die Opritschniki ist Chinesisch ein Muss: »Ein umgangssprachliches Chinesisch habe ich mir mit den Jahren zugelegt, ohne das käme ich heutzutage nicht weit.«72 Gleichzeitig werden Entlehnungen aus anderen Sprachen verboten bzw. durch russische Äquivalente ersetzt. Die Bedeutung der chinesischen Sprache erschließt sich in einem Poem über die Kindheit des Gossudaren, als er lernte: »Guojia« heißt »der Staat«73. Chinesisch tritt somit als der grundlegende Kulturcode in der politischen Sozialisation des künftigen russischen Herrschers auf. Die in Sorokins Werk beschriebene Orientierung an der chinesischen Kultur geht jedoch auf andere politisch-gesellschaftliche Strukturen als die konfuzianischen Ideale zurück. Es handelt sich dabei um ein rein imaginiertes China, dem bestimmte Züge in der politischen Ordnung zugeschrieben werden und das als Vorrat an Symbolen und Motiven für die Konstruktion des russischen politischen Imaginären dient. Dabei treten jene Merkmale in den Vordergrund, die mit der Wahrnehmung Chinas als einer Diktatur und Despotie verbunden sind. Neben der absolutistischen Regierungsform erweist sich der im Roman dargestellte chinesische Staat auch deshalb als autoritär, weil Hinrichtungen in diesem Land praktiziert werden.74 Sorokins Russland weist erstaunliche Ähnlichkeiten mit China in seinen repressiven politischen Strukturen auf. Ein Spiel mit verschiedenen diskursiven Elementen und Ideologemen zeigt sich in der Repräsentation Chinas, das einerseits im Roman als Bestandteil der russisch-eurasischen Identität betrachtet werden kann und sich andererseits durch eine gewisse Mehrdeutigkeit auszeichnet. Neben der kulturellen Vorherrschaft Chinas schildert Sorokins Werk die buchstäbliche Absorption des russischen geografischen Raums durch die chinesische Massenmigration. Der Autor führt die imaginative Zukunft Russlands vor, indem er 28 Millionen Chinesen in Westsibirien wohnen lässt. Der Zar drückt dabei seine Sorge über die Lage der Chinesen in Zusammenhang mit Steuermanipulationen aus. Die Steuern werden von den in Russland lebenden Chinesen nach China bezahlt.75 Dies weist auf die wirtschaftliche Kontrolle Chinas über einen Teil des Territoriums Russlands hin. Die Dominanz der chinesischen Waren demonstriert darüber hinaus die technologische Abhängigkeit Russlands von China. Wie Mark Lipoveckij bemerkt, stellt Sorokin die steigende Kolonisie72 Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 123. 73 Ebd., 105. 74 Vgl. Kukulin, Ilya: From History as Language to the Language of History: Notes on the Target, 329. 75 Vgl. Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 178.

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rung Russlands und die Bedrohung der russischen Souveränität dar.76 Dirk Uffelmann beschreibt die Abhängigkeit Russlands von China als eine Art des chinesischen Jochs, der fiktionalen Kopie der mittelalterlichen mongolischen Herrschaft über Russland.77 Auf diese Weise dient die Darstellung Chinas im Roman gleichzeitig auch als Dekonstruktion des (neo-)eurasischen Diskurses. Sorokins literarische Motive der russisch-chinesischen Verschmelzung stellen die durch den (Neo-) Eurasismus zugeschriebene zentrale Rolle Russlands in Eurasien infrage, indem sie Russland auf der symbolischen Ebene eine periphere Lage in der Dynamik der russisch-chinesischen Integration zuschreiben. Der Roman ist in diesem Zusammenhang als eine Entlarvung des (neo-)eurasischen Hauptpostulats zu betrachten – nämlich Russland als das kulturelle, politische und ökonomische Zentrum des eurasischen Kontinents. Russlands außenpolitischer Kurs, der sich mit der im politischen zeitgenössischen Sprachgebrauch etablierten Redewendung »Russlands Wende nach Osten« umschreiben lässt, bleibt trotz der ambivalenten Beschreibung Chinas im Roman eindeutig. Dies wird in einer Szene dargestellt, als der Opritschnik Komjaga auf Befehl der Zarin eine Wahrsagerin besucht und über die Zukunft Russlands erfährt: — Государь ваш — белая береза. А на березе той сук сухой. А на суку коршун сидит, белку живую в спину клюет, белка зубами скрипит, если послушать ухом чистым — в скрипе том два слова различимы: »ключ« и »восток«. Понимаешь, голубь? […] — Что между словами этими помещается? — Не разумею, Прасковья Мамонтовна. Может… дупло? — Умом ты прискорбен, голубь. Не дупло, а Россия.78 (»Euer Gossudar ist eine weiße Birke. Und diese Birke trägt einen dürren Ast. Und auf dem Ast sitzt ein Geier, hackt dem lebendigen Eichhörnchen den Rücken rot, das Hörnchen knirscht mit den Zähnen. Wer ihm lauscht mit reinem Ohr, der hört zwei Worte aus dem Knirschen heraus: die Quelle das eine, der Osten das andere. Verstehst, mein Lieber?« [….] »Was ist es, das zwischen die beiden Wörter passt?« »Ich weiß es nicht, Praskowja Mamontowna … Eine Lücke vielleicht?« »Du bist nicht gescheit, mein Täubchen. Keine Lücke. Russland!«79) 76 Vgl. Lipoveckij, Mark / Etkind, Aleksandr: Vozvrašenije tritona: Sovetskaja katastrofa i postsovetskij roman. In: NLO 6 (2008), 174–206, hier 190 f. 77 Vgl. Uffelmann: Vladimir Sorokin’s discourses, 138. 78 Sorokin: Den’ opričnika, 136. 79 Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 134 f. Hervorh. i. Orig.

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In dieser Passage, die ironisch die narrativen Strategien der russischen Märchen nachahmt und zugleich den esoterischen Stil von Dugin parodiert, wird angedeutet, dass die Grundlagen für die gesellschaftlich-politischen Strukturen Russlands im Osten liegen. Allerdings bleibt die Bedeutung dieser Worte für Komjaga unverständlich, der aber seine Aufgeklärtheit gegenüber anderen Opritschniki dank des angefangenen (aber abgebrochenen) Geschichtsstudiums hervorhebt.80 Ungeachtet der Verbreitung der chinesischen Kultur in Sorokins Russland klafft eine Lücke zwischen dem etablierten ideologischen Diskurs und seiner Wahrnehmung durch die politische Elite des Landes, der die Opritschniki angehören. Die (neo-)eurasischen Ideologeme funktionieren ausschließlich auf rhetorischer Ebene. Eine Rechtfertigung der Gewalt erfolgt mit der Einbeziehung der Figur von Dschingis Khan, als einer der Opritschniki nach der Vergewaltigung bemerkt: — Все-таки как славно сокрушать врагов России! — бормочет он, доставая пачку »Родины« без фильтра. — Чингисхан говорил, что самое большое удовольствие на свете — побеждать врагов, разорять их имущество, ездить на их лошадях и любить их жен. Мудрый был человек!81 (»Russlands Feinde kleinzukriegen macht richtig Spaß!«, brummt er, eine Packung filterlose Rodina hervorziehend. »Wie schon Dschingis Khan gesagt hat: Es gibt kein größeres Vergnügen auf Erden, als Feinde in den Staub zu zwingen, ihre Güter zu verwüsten, ihre Pferde zu reiten und ihre Frauen zu lieben. Ein weiser Mann!«82)

Im (Neo-)Eurasismus gilt Dschingis Khan als der Einiger Eurasiens, jenes einheitlichen kulturellen und politischen Raums, als dessen Nachfolger die eurasische Ideologie Russland betrachtet. In der Wahrnehmung der Opritschniki steht die Figur von Dschingis Khan in direktem Zusammenhang mit Gewalt. Im Roman findet eine diskursive Verschiebung der eurasischen ideologischen Einstellungen in der Rhetorik der Opritschnina statt. Die Opritschniki artikulieren nicht nur jene Momente, die staatliche Gewalt im Namen ideologischer Ziele legitimieren. Brigitte Obermayr spricht in ihrem Beitrag über den Roman als eine Art des Urteils, das eine Selbstlegitimierung der staatlichen Gewalt zum Ausdruck bringt. Sie geht auf die russische bzw. sowjetische Darstellungsweise der Herrschaft Ivans IV. zurück, die die Legitimation der Gewalt in den Interessen des Staates rechtfertigt, und bemerkt, dass der Roman »Den’ opričnika« diese Legitimierung dekonstruiert.83 Gewalt wird um der Gewalt 80 Vgl. Sorokin: Den’ opričnika, 42. 81 Ebd., 33 f. 82 Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 35. 83 Vgl. Obermayr: Choosing a Different Example Would Mean Telling a Different Story: On Judgement in Day of Oprichnik, 248.

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willen begangen. Die Selbstlegitimierung der Gewalt geschieht im Roman auch unter dem Einbezug von Elementen der (neo-)eurasischen Ideologie. 6.3.2 Das Sakrale und die Opritschnina

Bei allen ironischen Anspielungen auf den (neo-)eurasischen Diskurs ist der Roman »Den’ opričnika« nach Ansicht vieler Wissenschaftler eine Projektionsfläche zeitgenössischer politischer Tendenzen, die durch die Aktualisierung des historischen Gewaltdiskurses über die Opritschnina zum Ausdruck kommen. Mit der repressiven Struktur der Opritschnina, die mit der Zeit des Zaren Ivan IV. historische Kontinuitäten aufweist, zielt Sorokin einerseits auf die Aufarbeitung der historischen Gewalterfahrungen84 ab und deutet andererseits die zeitgenössischen Entwicklungen in Russland an, die durch die sich verstärkende Rolle der Geheimdienste im sozialen und politischen Leben sowie die nationalistischen und fremdenfeindlichen Tendenzen charakterisieren.85 Wie David Gillespie bemerkt, bietet »Den’ opričnika« nicht die zyklische Version der russischen Geschichte als der Rückkehr zur autokratischen Tyrannei an, sondern zeigt die endgültige Durchsetzung von staatlicher Gewalt – die Finalität der russischen Geschichte.86 Ähnlich argumentiert Boris Sokolov. 84 In einem Interview bemerkte Sorokin, dass die Opritschnina in der russischen klassischen Literatur gar nicht widergespiegelt ist. Außer Aleksej Tolstoj in »Knjaz’ serebrjanyj« und Michail Lermontov in »Pesn’ o kupze Kalašnikove« hat sich niemand diesem Thema zugewendet. Die Opritschnina, die in der russischen Kultur kaum reflektiert wurde, wird zu einem Trauma für Russland im Anschluss an Freuds Theorie des Unbewussten. Das traumatische Erlebnis wird aus dem kollektiven Bewusstsein ins Unterbewusste verdrängt, übt trotzdem weiter einen Einfluss auf die Denk- und Handlungsmuster aus. (Vgl. Sorokin, Vladimir: »Moj »Den’ opričnika« – eto kupanie avtorskogo krasnogo konja.« Interv’ju Sof ’ji Širokovoj v Vladimirom Sorokinym. In: Offizial’nyj sajt Vladimira Sorokina, URL : http://www.srkn.ru/interview/sshirokova.shtml (am 09.01.2021).) 85 Vgl. Chantsev, Aleksandr: The Antiutopian Factory. In: Russian Studies in Literature 45/2 (2009), 6–41, hier 20. In ihrem Beitrag setzt sich Julia Fatianova mit den Folgen der Opritschnina für die Nachwelt auseinander. Als die erste repressive Institution habe die Opritschnina eine wichtige kulturgeschichtliche Bedeutung für die Entwicklung des Polizeiwesens in Russland. Zur Stärkung der autoritären individuellen Führung nutzten die Zaren Petr I., Nikolai I. und Aleksander  II . militärische Institutionen, die auf persönlicher Loyalität zum Zaren basierten und zur Bekämpfung von Opposition dienten. In der Sowjetzeit findet der repressive Apparat seinen Ausdruck in Geheimpolizeiinstitutionen wie WeTscheKa, NKWD und KGB. Dem postsowjetischen Staatsicherheitsdienst FSB werden Kontinuitäten mit Strukturen des KGB zugeschrieben. (Vgl. Fatianova, Julia: Opritschnina. Orden des Schreckens oder Vorstufe eines russischen Polizeiwesens? In: Grutzpalk, Jonas (Hg.): Beiträge zu einer vergleichenden Soziologie der Polizei. Potsdam 2009, 70–88.) 86 Vgl. Gillespie, David: Vladimir Sorokin and the Return of History. In: Tabachnikova, Olga / Harrison, Elizabeth / Tooke, Christopher (Hg.): Facets of Russian irrationalism between art and life. Mystery inside enigma. Leiden, Boston 2016, 519–530, hier 523 f.

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Sorokin zeige die Synthese der tatsächlichen russischen Vergangenheit und einer fantastischen Zukunft und bringe den Gedanken hervor, dass die Zukunft Russlands seine Vergangenheit ist.87 Hervorzuheben ist in dieser Hinsicht die sprach-stilistische Analyse des Romans von Robert Hodel. Er vertritt die These, dass der dargestellte Staat im Roman auf sprachlicher Ebene vier Zeitstufen verkörpert: 1) das archaische Russland des Zaren Ivan IV., 2) der Kalte Krieg der sowjetischen Zeit, 3) Putins erste Amtszeit 1999–2000 und 4) die fiktionale Zukunft von Russland – die Handlungsgegenwart des Romans im Jahr 2027.88 Alexander Höllwerth geht davon aus, dass Sorokins Roman »auf politische und ideologische Entwicklungen in Putins Russland, in dem Demokratie und Rechtsstaatlichkeit immer mehr ins Wanken kommen«89 reagiert. Wie Dirk Uffelmann bemerkt, konzeptualisiert Sorokin im Roman satirische Diskurse über neo-autoritäre Tendenzen, indem er sie in den Kontext einer typischen postsowjetischen dystopischen historischen Novelle platziert.90 Im Zusammenhang mit dem Werk ist der Vortrag von Aleksandr Dugin zu erwähnen, den er 2005 im Schloss der Aleksandrowa Sloboda – ehemaliger Sitz des Zaren Ivan IV. – hält. In dem Vortrag unter dem Titel »Metafizika opričniny« (»Metaphysik der Opritschnina«) konstruiert er eine bestimmte Vision der Opritschnina und verknüpft dies mit der (neo-)eurasischen Ideologie. Er geht auf die etymologische Bedeutung des Wortes ein – »oprič« (dt. etwa: »getrennt«, »ausgeschlossen«) – und hebt eine besondere politische und rechtliche Stellung der Opritschnina hervor. Gegenüber der traditionellen Gesellschaft des alten Russlands bildete die Opritschnina in Dugins Auslegung eine parallele Hierarchie. Wenn die Vertreter der etablierten hierarchischen Machtstruktur über notwendige personelle Eigenschaften nicht verfügen, so Aleksandr Dugin, entsteht eine parallele Hierarchie, in der die persönliche Leistung in den Vordergrund rückt. Die Opritschnina vergleicht er mit Geheimbünden und Orden wie Janitscharen in der Türkei oder Ritterorden in Europa, wobei er bemerkt, dass die Opritschnina ausschließlich ein russisches Phänomen sei. Die Opritschnina sei geschaffen, um zur imperialen Politik des Zaren beizutragen. Ivan  IV. sei laut Dugin der archetypische russische Zar und 87 Vgl. Sokolov, Boris: Novaja geopolitika Vladimira Sorokina. In: Review of Slavic studies – Matica srpska (Novi Sad, Serbia) 87 (2015), 251–264, hier 253. 88 Vgl. Hodel, Robert: Der Gewaltdiskurs der Politik als literarische Vorlage bei Andrej Platonov und Vladimir Sorokin. In: Burlon, Laura / Frieß, Nina / Gradinari, Irina (Hg.): Verbrechen – Fiktion – Vermarktung. Gewalt in zeitgenössischen slavischen Kulturen, Potsdam 2013, 65–85, hier 81–83. 89 Höllwerth, Alexander: Den’ Opričnika  – die Vision eines pseudosakralen, totalitären High-Tech-Imperiums zwischen Rekonstruktion und Dekonstruktion. In: Eismann, Wolfgang / Trost, Klaus (Hg.): Anzeiger für Slawische Philologie, Graz / Austria 2010, 55–97, hier 74. 90 Vgl. Uffelmann: Vladimir Sorokin’s discourses, 149.

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die klassische Figur des Eurasismus, da er die Modernisierung ohne Verwestlichung und die Zentralisierung Russlands durchgeführt habe. Weiterhin weist Dugin darauf hin, dass die Opritschnina eine Widerspiegelung eines wichtigen Archetyps – einer parallelen hierarchischen Organisation mit einem geheimen metaphysischen Zentrum – sei. Während ihrer Entstehung war Ivan IV. ein derartiges Zentrum. Indem Dugin eine Parallele zwischen Ivan  IV. und Stalin zieht, postuliert er die Langlebigkeit dieses Archetyps und auch seine Aktualität im zeitgenössischen Russland.91 Wie Aleksander Höllwerth bemerkt, sind für Dugin »Ivan Groznyj und seine Opričnina Mythologeme, Bausteine für seine Rekonstruktion imperialer Ganz- und Einheitlichkeit, in der metaphysische Totalität und staatliche Totalitarität miteinander einhergehen.«92 Der Roman »Den’ opričnika« von Vladimir Sorokin kann nicht ausschließlich als eine direkte Auseinandersetzung mit Dugins Thesen gelesen werden. Zwischen Dugins Vortrag und Sorokins Roman liegt so wenig Zeit, dass es angemessener wäre, über ihre parallele Entstehung zu sprechen. Im Fall von Sorokins Werk wäre es angebrachter, über die Aufspürung der gefährlichen Tendenzen der Zeit  – die Legitimierung und Stärkung der staatlichen Gewalt – zu sprechen, die Dugin als ein Bestandteil seiner ideologischen Vision artikuliert und die zunehmend auch das öffentliche Leben durchdringen.93 Im seinem Vortrag benutzt Dugin den Begriff »groznaja sakral’nost’« (dt. etwa: »Sakralität des Schreckens«)› dessen Erklärung er in seinen Büchern, unter anderen »Filosofija politiki« (»Philosophie der Politik«), anführt. Dugin geht von der Opposition zwischen der profanen und der sakralen Welt aus. Unter Letzterer versteht er die Manifestation von etwas Jenseitigem – einer Art Realität, die der profanen Welt nicht gehört und die heiligen Schrecken und Ekstase hervorruft.94 In der traditionellen Gesellschaft waren jegliche Sphären des Lebens von dem Sakralen durchdrungen, wie er weiter ausführt. Jedes Objekt, jedes Ding, jedes Wesen gehöre zu einer Kette symbolischer Phänomene, durch die die »Entdeckung des Sakralen« fließe. Unter dem Sakralen versteht er nicht nur erhabene und gute Dinge, sondern ebenso »niedrige«.95 Er geht davon aus, dass Gewalt als solche der Welt inhärent 91 Vgl. Dugin, Aleksandr: Metafizika opričniny. Tezisy vystuplenija Aleksandra Dugina v ramkach novogo universita). In. Arktogeja, 26.02.2005, URL : http://arcto.ru/article/1252 (am 06.04.2020). 92 Höllwerth: Den’ Opričnika – die Vision eines pseudosakralen, totalitären High-Tech-Imperiums zwischen Rekonstruktion und Dekonstruktion, 73. Hervorh. i. Orig. 93 Maria Engström spricht in ihrem Beitrag von der Bewegung der Neo-Opritschnina, die in der postsowjetischen Zeit entstanden ist. (Vgl. hierzu Engström, Maria: Novaja opričnina i ideja »sakral’nogo terrora« v sovremennoj Rossii. In: Ambrosiani, Per / Bodin, Per-Arne / Zorikhina Nilsson, Nadezjda (Hg.): Da veselitsja Nov’’grad’’. Må Novgorod fröjda sig: Hyllnigsskrift till Elisabeth Löfstrand, Stockholm 2016, 49–64.) 94 Vgl. Dugin: Filosofija politiki, 90 f. 95 Vgl. ebd., 148.

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sei.96 Gewalt ist ein unabdingbarer Bestandteil des Sakralen, unter dem er ein dualistisches Konzept von »heiligen«, »erhabenen«, »hellen«, »guten« und »niedrigen«, »dunklen«, »gefährlichen« Sphären des Lebens versteht.97 Das Konzept des dualen Sakralen bestimmt die politische Philosophie von Dugin, laut der die Sakralität der politischen Macht gleichfalls unheimliche, dunkle Seiten einschließt. Die Entstehung dieses Konzepts führt er auf Philosophen wie Georges Bataille, Michel Foucault, Gilles Deleuze und Maurice Blanchot zurück.98 An dieser Stelle ist ein kurzer Exkurs in das Konzept des Sakralen von Georges Bataille anzuführen, da dessen Philosophie den Ton für die ganze nachfolgende französische Philosophie vorgibt.99 Bataille geht in seinem Werk »Theorie der Religion« davon aus, dass die duale Natur des Sakralen ursprünglich sowohl das Erhabene, Göttliche als auch das Niedrige und Unreine umfasste. Dann traten niedrige, dunkle und unreine Elemente aus dem Bereich des Sakralen heraus, gingen in das alltäg­liche, profane Leben über und bildeten einen Gegensatz zu der erhabenen, himmlischen und göttlichen Sphäre in der modernen philosophischen Wahrnehmung: Ursprünglich standen sich die heilvollen und reinen und die unheilvollen und unreinen Elemente im Innern der göttlichen Welt gegenüber, und die einen wie die anderen waren offensichtlich vom Profanen gleich weit entfernt. Betrachtet man aber eine Hauptströmung im reflexiven Denken, so wird sichtbar, daß jetzt das Göttliche mit der Reinheit, das Profane mit der Unreinheit verbunden ist.100

Das Konzept des Sakralen ist bei Bataille eng mit dem Konzept der Immanenz oder der Kontinuität, der Intimität verbunden, das, wie er behauptet, der Tierwelt direkt innewohnt. Tiere seien nicht autonom gegenüber der Welt um sie herum, sie existierten in der Welt als »Wasser in Wasser«.101 Die Welt der Menschen unterscheidet sich von der Welt der Tiere durch das Vorhandensein der profanen Welt, die mit dem Beginn des Einsatzes von Werkzeugen und infolgedessen mit der Etablierung von Subjekt-Objekt-Beziehungen entstanden ist.102 So hat sich der Mensch von der Welt der Immanenz entfremdet.103 Die profane Welt wurde dann der sakralen Welt gegenübergestellt, die ursprüng-

96 Vgl. ebd., 114. 97 Vgl. ebd., 148. 98 Vgl. ebd., 186. 99 Vgl. Zygmont, Aleksej: Svjataja negativnost’. Nasilie i sakral’noe v filosofii Žorža Bataja. Moskva 2018, 10. 100 Bataille, Georges: Theorie der Religion. München. 1997, 60. Hervorh. i. Orig. 101 Vgl. ebd., 24. 102 Vgl. ebd., 27–30. 103 Vgl. ebd., 37.

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lich aus der tierischen oder göttlichen Kontinuität der Lebewesen und der Welt als Ganzer stammte. Mithilfe von Opferritualen versuchten die Menschen erneut, sich der Welt des Sakralen zu nähern – dem Zustand der Immanenz, der Unmittelbarkeit des Seins in der Welt, der Einheit mit der Welt. Bataille geht davon aus, dass ein Opferritual die Dinglichkeit im Opfer zu zerstören versucht. Das Ritual vertreibe das Opfer aus der Welt der Subjekt-Objekt-Beziehungen und überträgt es in die Welt des Immanenten. Gleichzeitig wird angenommen, dass die Teilnehmer des Rituals nicht mehr von der immanenten Verbindung zwischen Mensch und Welt getrennt sind.104 Opferrituale treten somit als Akte auf, die der Gemeinschaft ermöglichen, in Kontakt mit der Welt des dualen Sakralen zu treten. Wie Aleksej Zygmont in Bezug auf die Philosophie des Sakralen und der Gewalt feststellt, ist Gemeinschaft für Bataille an sich sakral, und Gewalt in jeder abstrakten oder konkreten Form ermöglicht, voneinander getrennte Individuen in einem einheitlichen Gemeinschaftskörper zu einigen.105 Gewalt wirkt als Treibstoff für ein Opferritual, zerstört damit die Grenzen zwischen Individuen und stellt eine Verbindung zwischen ihnen her.106 Somit steht Gewalt in direktem Zusammenhang mit der Bildung sozialer Einheit. Die kollektive Gemeinschaftsbildung der Opritschnina, die mit Gewaltritualen verknüpft ist, wurde bereits in der literaturwissenschaftlichen Forschung thematisiert. Tine Rosen, die die Opritschnina in Anlehnung an Michail Bachtin in Begriffen des repressiven, totalitaristischen Karnevals betrachtet, schreibt, dass sich die individuelle Identität in der Opritschnina praktisch aufgelöst hat.107 Wie Marina Aptekman anmerkt, ist das zentrale Ziel der Opritschnina, dass die Wiederauferstehung des unterbewussten »Wir« im Buch zustande kommt. Dabei weisen die Gewaltszenen einen rituellen Charakter auf, der den besonderen Status der Opritschniki bildet und ihre Verschmelzung mit dem kollektiven unterbewussten Körper darstellt.108 Wie Mark Lipoveckij bemerkt, wird dank der Umwandlung des Diskurses in körperliche Motive deutlich, dass die innere Einheit des kollektiven Körpers, die durch die neo-traditionalistische Ideologie geschaffen wurde, auf sexualisierter Gewalt beruht – Transgressionen, die die Logik der Macht sowohl gegenüber dem Anderen als auch dem Eigenen bestimmt. Weiterhin führt er aus,

104 Vgl. ebd., 39–41. 105 Vgl. Zygmont: Svjataja negativnost’. Nasilie i sakral’noe v filosofii Žorža Bataja, 66. 106 Vgl. ebd., 96. 107 Vgl. Roesen, Tine: Drive of the Oprichnik: On Collectivity and Individuality in Day of the Oprichnik. In: Roesen, Tine / Uffelmann, Dirk / Kühn, Katharina (Hg.): Vladimir Sorokin’s languages. Bergen 2013, 266–281, hier 270–274. 108 Vgl. Aptekman: Forward to the Past, or Two Radical Views on the Russian Nationalist Future, 252 f.

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dass die Transformation des Körperlichen in das Diskursive die Mechanismen des neo-traditionalistischen Diskurses offenlegt; die kollektive transgressive Körperlichkeit wird durch die kollektive sogenannte Geistigkeit ersetzt. Allerdings führt die zirkulare Logik des Neo-Traditionalismus auf die kollektive sexuelle Orgie  – »Raupe«  – zurück und letztlich auf die Umwandlung des Diskurses in die Körperlichkeit.109 Il’ja Gerasimov geht davon aus, dass der Roman die Materialisierung des russischen nationalen organischen Körpers veranschaulicht. Die Metapher des menschlichen Körpers dient, so Gerasimov in »Den’ opričnika« dazu, den Verlust der Subjektivität und der individuellen Interessen zu demonstrieren: Язык телесности, политика тела оказываются универсальным культурным кодом доминирования и подчинения, обмена и разграничения в воображемом русском обществе точно так же, как этот язык преобладает во внедискурсивных пространствах современной тюрьмы или армии.110 (Die Sprache der Körperlichkeit, die Politik des Körpers erweisen sich als ein universeller kultureller Code der Beherrschung und der Unterwerfung, des Austausches und der Differenzierung in einer imaginären russischen Gesellschaft, so wie diese Sprache in nicht-diskursiven Räumen eines zeitgenössischen Gefängnisses oder einer Armee vorherrscht.)

Wie er ausführt, sind alle Gewaltakte der Opritschnina lediglich auf den Stoffwechsel zwischen den »Zellen« oder  – anders formuliert  – den Individuen zurückzuführen, die das Funktionieren des ganzen Körpers gewährleisten.111 Die These der nachfolgenden Beobachtung geht davon aus, dass sich die Instituierung der Gemeinschaft der Opritschnina durch das Konzept des dunklen, linken Sakralen von Georges Bataille erklären lässt. Auf die Ähnlichkeit zwischen Bataille und Sorokin verweist Mark Lipoveckij in Bezug auf den Roman »Goluboe salo«. So liest er jenen Roman vor dem Hintergrund der philosophischen Ästhetik von Marquis de Sade, die Georges Bataille im Sinne der ruinösen Kraft des Sakralen vorschlägt.112 Der Unterschied zwischen Bataille und Sorokin besteht laut Lipoveckij darin, dass Batailles Programm romantisch ist, während Sorokin eher eine aphorische Kombination verschiedener Modalitäten schafft.113 109 Vgl. Lipoveckij: Sorokin-trop: karnalizacija, 111 f. 110 Gerasimov, Il’ja: »Pravda russkogo tela« i sladostnoe nasilie voobražaemogo soobščestva. In: Dobrenko, Evgenij / Kalinin, Il’ja / Lipoveckij, Mark (Hg.): »Eto prosto bukvy na bumage…« Vladimir Sorokin: posle literatury. Moskva 2018, 512–524, hier 517. 111 Vgl. ebd., 521. 112 Vgl. Lipoveckij: Paralogii. Transformacii (post)modernistskogo diskursa v russkoj kul’ture 1920–2000-ch godov, 441–444. 113 Vgl. ebd., 444.

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Bei Bataille funktionieren die Opferrituale als Mittel, eine Verbindung zu dem verlorenen Sakralen herzustellen, und sind dabei eher eine Art der Rückkehr zu der idyllischen organischen »Gemeinschaft« im Sinne von Ferdinand Tönnies  – »der vollkommenen Einheit menschlicher Willen als einem ursprünglichen oder natürlichen Zustand«114. Bei Sorokin geht es im buchstäblichen Sinne um einen Übergang in den tierischen Zustand, der den Unterschied zwischen Kultur und Natur reduziert. 6.3.3 Gewalt und Gemeinschaft

Kollektive Rituale der Opritschnina fördern den Übergang von Individuen in einen überindividuellen Körper. Allerdings funktioniert die Beschreibung der gemeinschaftlichen Einheit der Opritschnina nicht durch die Metapher des menschlichen Körpers, sondern durch die Metapher der Tiere. Die tierische Metaphorik in Sorokins Werk dient der Dekonstruktion des eurasischen Konzeptes des Volkes als der symphonischen Persönlichkeit, der Bewusstsein, Denken und religiös-moralische Grundlage zugeschrieben wurden. In der ersten Gewaltszene des Romans wird der Edelmann von den Opritschniki umgebracht. Seine Frau bleibt zwar am Leben, ihr Tod ist während der Vergewaltigung dennoch nicht ausgeschlossen: Теперь ‒ жена. Возвращаемся в дом. – Не до смерти! ‒ как всегда, предупреждает голос Бати.115 (Als Nächstes die Frau. Wir kehren zurück ins Haus. »Lasst sie am Leben!«, mahnt uns, wie üblich, die Stimme des Alten.116)

Der kollektive Vergewaltigungsakt ist hier ein Ritual, das sich der Tötung des Edelmanns und der Zerstörung des Hauses anschließt. Der Tod nach Georges Bataille ist das Mittel, mit dem ein Opfer aus der Welt der Dinge herausgezogen werden kann: Das Ding – und nur das Ding – soll im geopferten Tier zerstört werden. Das Opfer zerstört die in der Realität existierenden Bande der Unterordnung eines Gegenstandes, es entreißt das Opfertier aus der Welt der Nützlichkeit und gibt es einer Welt kapriziöser Unbegreiflichkeit zurück.117 114 Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. 8. Aufl. Darmstadt 1991, 7. 115 Sorokin: Den’ opričnika, 29. 116 Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 31. 117 Bataille: Theorie der Religion, 39.

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Der Tod ist eine Natur, die der Mensch nicht erobern und in die Welt des Profanen aufnehmen konnte.118 So bringt der Tod das Individuum aus der Welt der Dinge heraus und in die Welt der natürlichen Immanenz zurück, die den Zustand der Tiere auszeichnet. Ein Opferritual realisiert sich in einem Fest, das den Menschen ermöglicht, sich für eine bestimmte Zeit von der profanen Welt der Dinge zu entfernen und dem Bereich des Sakralen zu nähern.119 Ferner bedeutet ein Fest für Bataille die Verschmelzung von einzelnen Individuen zu einer kollektiven Einheit: Das Fest oder die Feier versammelt Menschen, die der Genuß der ansteckenden Opfergabe (die Kommunion) in eine Glut taucht, doch wird diese sogleich von einer gegenläufigen Besonnenheit begrenzt: Im Fest flackert ein Verlangen nach Zerstörung auf, aber eine bewahrende Besonnenheit setzt ihm Grenzen und lenkt es in geordnete Bahnen.120

Im Moment einer rituellen feierlichen Handlung werden individuelle Grenzen zwischen den Beteiligten aufgehoben, sodass eine kohärente zusammengeschweißte Gemeinschaft aus einer disparaten Ansammlung von Menschen entsteht.121 Ein feierliches Ritual ist mit einem symbolischen Opfer verbunden. Dies ermöglicht es, Gewalt und Zerstörung in einem gesellschaftlich akzeptablen Rahmen zu halten. In Sorokins Werk befindet sich die Opritschnina als politische Struktur außerhalb der Gesellschaft, der in ihr geltenden Gesetze und der Mechanismen, die den sozialen Zusammenhalt symbolisch gewährleisten. Repressive Aktionen bilden eine Art von gewalttätigen Ritualen, die es erlauben, die Einheit der Opritschnina-Gemeinschaft immer wieder erneut zu bekräftigen. Der Mord an dem Edelmann und die Vergewaltigung seiner Frau treten im Roman als ein Übergang in den Bereich des ambivalenten Sakralen auf, durch den der kollektive Charakter des Opritschnina affirmiert wird. Die Frau des Adligen überlebt, dennoch verwandelt ihr nicht auszuschließender Tod die Vergewaltigungsszene in eine Art Opferritual. Wie zuvor ausgeführt, zieht Gewalt in der Philosophie von Georges Bataille die Zerstörung der Subjektivität und die Auflösung des Individuums in der Immanenz des Daseins nach sich, die von der Welt der Natur untrennbar und dem tierischen Zustand sehr nah ist. Die Vergewaltigung wird von Komjagas Gebrumm begleitet:

118 Vgl. Bataille, Georges: Prokljataja čast’. Sakral’naja soziologija, Moskva 2006, 328. 119 Vgl. Bataille: Theorie der Religion, 47 120 Ebd. 121 Vgl. ebd. 48.

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Без этого дела наезд все одно, что конь без наездника… без узды… конь белый, конь… красивый… умный… завороженный… конь… нежный коньогонь… сладкий… сахарный конек без наездника… и без узды… бес узды… с бесом белым… с бесом сладким… с бесом сахарной узды… с бесом сахарной узды  … с бесом сахарной узды… с бесом сахарной узды… даляко ли до пя-а-а-а-а-а-аааааазды-ы-ы-ы-ы-ы-ы-ы-ы-ы!122 (Ohne das wäre so ein Zugriff nur eine halbe Sache … Wie ein Ross ohne Reiter … ohne Zügel … ein Rösslein, das der Hafer sticht … mein weißes Ross, mein schönes … kluges … Zauberross, mein Feuerross, mein … zügelloses Zuckerross mit Zeckenstich … mit Zuckerzecken- … Zuckerzecken- … Zuckerzecken- … Zuckerzangenzecken­ zacken-zackzack-zazazacke-aa-aaa-a-a-a-hhch!123)

In diesem Gebrumm taucht das Motiv des Pferdes auf, das darüber hinaus am Anfang und am Ende des Romans in Komjagas Träumen erscheint. Tina Roesen interpretiert das Motiv des Pferdes im Roman als den Ausdruck des individuellen, subjektiven Drangs des Hauptprotagonisten Komjaga, der im Gegensatz zu den aufgenötigten Normen und Ritualen des Staates steht. Dies führt Roesen auf die persönlichen Wünsche und Träume von Komjaga zurück. Selbst der Nachname Komjaga ist, wie sie bemerkt, eine Vermischung von zwei Wörtern – »konjaga« für das Wort Pferd und das Wort »koma« für das Wort Koma.124 Es scheint jedoch, dass das Motiv des Pferdes für diese Episode und für den ganzen Roman weitreichende Bedeutung hat, die sich auf die individuellen Triebe von Komjaga nicht reduzieren lässt und mit großer Wahrscheinlichkeit sogar eine entgegengesetzte Bedeutung hat. Das Gebrumm von Komjaga kann in dieser Passage als zaum’ (dt. etwa: »eine Sprache jenseits der Vernunft«)125 betrachtet werden. In dieser Hinsicht geht es um eine Art der pathologischen Sprache.126 Auf stilistischer Ebene

122 Sorokin: Den’ opričnika, 31. 123 Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 21. 124 Vgl. Roesen: Drive of the Oprichnik: On Collectivity and Individuality in Day of the Oprichnik, 280 f. 125 Maksim Maruskenkov unterscheidet zwischen mehrere Arten von zaum’: unbekannte Sprache, sakrale Sprache, pathologische Rede, Jargon- und Terminologiesprache, die »neurussische Sprache«. Zaum’ als stilistisches Verfahren drücke sich in der Verwendung oder Erfindung phonematischer, lexikalischer, semantischer oder syntaktischer Sprachkonstruktionen aus, die sich von dem etablierten Sprachgebrauch unterscheiden und häufig nicht entschlüsselt werden können. Er betrachtet zaum’ als eines der wichtigsten erzählerischen Verfahren in Sorokins Œuvre. (Vgl. hierzu Marusenkov: Absurdopedija russkoj žiznii Vladimira Sorokina. Zaum’, grotesk i absurd, 71–140.) 126 In Mesjaz v Dachau nutzt Sorokin laut Marusenkov die pathologische Sprache. Vgl. ebd., 107–113.

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drückt sich dies in Wiederholungen, die die Bedeutung vorheriger Wörter verzerren, in der Unterbrechung der Satzstruktur und der Beliebigkeit der Aussagen aus. Wie Georges Bataille postuliert hat, kann die Intimität nicht diskursiv ausgedrückt werden.127 Die Natur der Immanenz ist unvereinbar mit der Selbstbehauptung des Subjektes und kohärentem Denken, das sich in Sprache ausdrückt: »Paradoxerweise ist die Intimität die Gewalt, sie ist die Zerstörung, weil sie sich mit der Position des getrennten Individuums nicht verträgt.«128 In dieser Hinsicht zeugt Komjagas wahnsinnige Rede von einer Art Rückkehr zum Zustand der natürlichen Immanenz. Das Sprachspiel von Sorokin, das sich in Komjagas Gebrumm ausdrückt, führt dazu, dass die Gestalt des Pferdes figurativ in die Gestalt eines Dämons übergeht. Während des Rituals werden die individuellen Grenzen des Protagonisten zerstört. Im symbolischen Sinne verwandelt er sich zuerst in ein Tier und dann in ein Monster. In dieser Szene erfolgt somit die Auflösung von Komjagas Subjektivität, was sich auf der metaphorischen Ebene in dem Übergang in den tierischen Zustand äußert. Die Gestalt des Pferdes kann hier auch als eine Metapher der Aggression und Gewalt interpretiert werden. Das Motiv des Pferdes, das zu Anfang und zu Ende des Romans in Komjagas Traum erscheint, stellt einen intertextuellen Bezug zu dem Roman »Mertvye duši« (1842 »Die toten Seelen«) von Nikolaj Gogol’ her, in dem er Russland mit einem rasenden Dreigespann (russ: Trojka129) vergleicht. Durch das Prisma von Gogols früherer Prosa betrachtet Michail Èpštejn die Gestalt Russlands in dieser Textstelle und geht davon aus, dass sich viele der dämonischen Motive seiner früheren Werke in diesem Auszug widerspiegeln.130 Das wichtigste Motiv für Gogols lyrischen Exkurs sind die Geschwindigkeit und die schnelle Bewegung der Russland-Trojka.131 Dem Vergleich der Trojka mit einem Vogel geht im frühen Gogol’ der Vergleich eines Teufels mit einem Vogel voraus, wie Èpštejn bemerkt, sodass eine bildliche Reihe um das Motiv der schnellen Fahrt entsteht: Trojka – Vogel – Teufel.132 Komjagas Träume von einem laufenden Pferd erinnern an ein Dreigespann der Pferde im Roman »Mertvye duši«. Das wichtigste verbindende Motiv in beiden Episoden ist die Geschwindigkeit der Pferde:

127 Vgl. Bataille: Theorie der Religion, 45. 128 Ebd. 129 Die Visualisierung dieser Gestalt – ein rennendes Pferd – war ein Vorschaubild für die Nachrichten in den 1990er-Jahren in Russland. 130 Vgl. Èpštejn, Michail: Slovo i molčanie. Metafizika russkoj literatury. Moskva 2006, 108. 131 Vgl. ebd., 117. 132 Vgl. ebd., 118.

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Gogol’ »Mertvye duši«

Sorokin »Den’ opričnika«

Не так ли и ты, Русь, что бойкая необгонимая тройка несешься?133

чую, что конь этот особый, всем коням конь, красавец, ведун, быстроног; поспешаю, а догнать не могу,135

(Jagst nicht auch du, Russland, wie eine muntere, von niemandem einzuholende Trojka dahin?134)

(ahne schon, dass es ein besonderes ist, ein Traum von einem Pferd, rassig, schnellfüßig, ein Zauberpferd, ich gehe schneller und kann es doch nicht einholen136)

Besondere mystische Kräfte haben die Pferde in Gogols Werk. Bei Sorokin verfügt das Pferd in Komjagas Traum ebenfalls über außergewöhnliche und metaphysische Eigenschaften, da es die Verkörperung seines Schicksals darstellt: Gogol’ »Mertvye duši«

Sorokin »Den’ opričnika

и что за неведомая сила заключена в сих неведомых светом конях? Эх, кони, кони, что за кони! Вихри ли сидят в ваших гривах?137

кричу, зову, понимаю вдруг, что в том коне – вся жизнь, вся судьба моя, вся удача, что нужен он мне как воздух, бегу, бегу за ним, а он все так же неспешно удаляется,139

(und welch unbekannte Kraft liegt in diesen Pferden, wie sie die Welt noch nie geschaut? Ach, Pferde, ihr Pferde, was seid ihr für Pferde! Sitzt euch der Wirbelwind in den Mähnen?138)

(fange an zu rufen, zu schreien, denn auf einmal weiß ich, dieses Pferd ist mein Leben, mein Schicksal, mein Wohl und Wehe, ich brauche es wie die Luft zum Atmen  – ich renne, renne, renne hinter ihm her, während das Pferd ganz gemütlich wegläuft.140)

Die Bewegung des Pferdes in Komjagas Traum und der Pferde in Gogols Werk ist ziellos. In beiden Fällen wissen die Erzähler nicht, wohin sie laufen und können sie weder einholen noch aufhalten:

133 134 135 136 137 138 139 140

Gogol’, Nikolaj: Mertvye duši. Poėma. Moskva 1984, 266. Gogol’, Nikolaj: Tote Seelen. Düsseldorf 2009, 306. Sorokin: Den’ opričnika, 5. Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 7. Gogol’: Mertvye duši, 267. Gogol’: Tote Seelen, 306. Sorokin: Den’ opričnika, 5. Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 7.

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Gogol’ »Mertvye duši«

Sorokin »Den’ opričnika«

Русь, куда ж несешься ты? дай ответ. Не дает ответа.141

Конь мой белый, погоди… не убегай… куда ты, родимый… куда, белогривый… сахарный конь мой…143

(Russland, wohin nur stürmst du, gib Antwort? Es gibt keine Antwort.142)

(Mein weißes Pferdchen, halt ein … lauf nicht weg … Wo willst du hin, mein liebes … schönes … mein Zuckerpferdchen du …144)

Zieht Gogol’ einen direkten Vergleich zwischen dem Dreigespann und Russland, ist dieser Vergleich bei Sorokin eher implizit und resultiert aus dem Kontext des gesamten Romans. So drückt sich in dem Gewaltritual symbolisch der Übergang einzelner Körper der Opritschniki in den kollektiven Körper aus, der durch die Metapher des Pferdes realisiert ist. Das Motiv des Pferdes ist eng mit der Desubjektivierung und Dämonisierung des Protagonisten verbunden, wenn er sich symbolisch zuerst dem tierischen und dann dem teuflischen Zustand nähert. Intertextuelle Verknüpfungen mit dem Roman »Mertvye duši« verbinden die Gestalt des Pferdes mit Russland und projizieren auf diese Weise Gewalt als eine gemeinschaftsstiftende Kategorie auf die ganze Gemeinschaft. Im nächsten kollektiven Ritual geben die Opritschniki in ihren Blutkreislauf Goldfische aus China, die einen Drogenwahn hervorrufen. Wie Tomáš Glanc bemerkt, wird die Kategorie der »psychoaktiven Substanz« von Sorokin wortwörtlich genommen, indem die Drogen als lebendige, sich selbstständig bewegende Wesen dargestellt werden.145 In dieser Episode erfolgt der Übergang zu einem symbolischen Tierzustand buchstäblich durch eine Vereinigung mit der Welt der Fauna, was in einem halluzinogenen Traum den Tierzustand bei den Opritschniki erweckt. Die Opritschniki stellen sich in diesem Zustand als einen riesigen Drachen vor. Das kollektive Wahnbild der Opritschniki ist in Form einer Nachahmung von Bylina  – einem russischen traditionellen Heldenepos  – geschrieben.146 Allerdings spiegelt der kollektive Redefluss der Opritschniki die umgekehrte Perspektivenstruktur wider, in der die Erzählung von der Person des Täters bzw. des negativen Protagonisten geführt wird. Im traditionellen russischen 141 Gogol’: Mertvye duši, 267. 142 Gogol’: Tote Seelen, 306. 143 Sorokin: Den’ opričnika, 223. 144 Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 221. 145 Vgl. Glanc, Tomáš: Antropologičeskije narkotiki Sorokina. In: Dobrenko, Evgenij / Kalinin, Il’ja / Lipoveckij, Mark (Hg.): »Eto prosto bukvy na bumage…« Vladimir Sorokin: posle literatury. Moskva 2018, 204–218, hier 212. 146 Vgl. Aptekman: Forward to the Past, or Two Radical Views on the Russian Nationalist Future, 254.

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Epos ist die Schlange bzw. der Drache eine negative Figur, die von einem russischen Helden besiegt wird. In Sorokins Werken finden sich Stellen, die die Wörter »China« und »Drache«. in einen Zusammenhang bringen. Im Hause des hingerichteten Beamten zerbrechen die Opritschniki zwei chinesische Vasen, die »wie die Schale von einem großen Drachenei«147 zerspringen. In »Sacharnyj kreml’« trinkt der Kapitän der Staatssicherheit »grünen chinesischen Tee, Marke Drachenschatten«148. Wenn der Drache in Russland traditionell ein gefährliches Wesen symbolisiert, ist er in der chinesischen Mythologie ein fast heiliges Tier, das eine Verkörperung der Macht ist. In dieser impliziten Symbiose der russischen und chinesischen Drachensymbolik wird die geo- und kulturpolitische Orientierung Russlands angedeutet. So wird China in Sorokins Russland als Partner wahrgenommen, mit dessen Hilfe Russland den USA gegenübertreten kann. Im kollektiven Traum der Opritschniki wird die Zerstörung des geopolitischen Feindes Russlands – in diesem Fall Amerika – im Namen des Drachen wiedergegeben. Anzumerken ist, dass der Drache sieben Köpfe hat – eine Parallele mit den sieben Stationen der Macht des Ordens der Erdrammler im Roman »Goluboe salo«. Im russischen Heldenepos sowie in der Märchenfolklore wird die Schlange bzw. der Drache als eine Verkörperung des Teufels und des Bösen wahrgenommen.149 Auch in der christlichen Tradition wurde der Drache mit der Schlange gleichgesetzt und als Symbol für die Teufelskräfte betrachtet. In Sorokins Werk greift der Drache Amerika an, das von den Opritschniki als Mittelpunkt des Bösen wahrgenommen wird. Все плюют они на Святую Русь, На Святую Русь на православную, Все глумятся они на над правдой, Все позорят они имя Божие.150 (Auch auf Russland, unser Heiliges, da spucken sie, Unser rechtgläubiges Land geht denen am Arsch vorbei, Was auf Erden recht und wahr ist, amüsiert sie nur, Gottes Namen in den Dreck zieh’n, ja, das können die.151)

In diesem Ritual gehen die Opritschniki symbolisch in einen kollektiven Körper – den Drachen – über, was sie dem unreinen oder dem bösen Sakralen 147 Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 28. 148 Sorokin, Vladimir: Der Zuckerkreml. München 2012, 47. 149 Vgl. Markov, Aleksej: Iz istorii russkago bylevogo eposa. Moskva 1905, 54; Amfiteatrov, Aleksandr: D’javol v byte, legende i literature Srednich vekov. Moskva 2017, 48. 150 Sorokin: Den’ opričnika, 94. 151 Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 93.

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nach Bataille näherbringt. Die Metapher des Drachen, dessen Äußeres eine Kombination aus dem Körper der Eidechse und den Flügeln einschließt, hängt mit der Begrifflichkeit zusammen, die die Opritschniki in der realen Welt des Romans verwenden. So besteht die Elite der Opritschnina aus dem rechten und dem linken Flügel. Beim Abendessen der Opritschnina sind die Tische »so aufgestellt, dass sie allesamt auf den einen stoßen, an dem der Alte sitzt und mit ihm die beiden Flügel – der rechte und der linke«152. (»Столы длинные в зале так поставлены, что все упираются в один стол, за которым сидят Батя и оба крыла – правое и левое«153.) Wie Marusenkov schreibt, zeugt eine Kursivschrift in Sorokins Werk von der Akzentuierung des Wortes. In vielen Fällen kann die Konnotationsbedeutung eines kursiven Wortes unklar bleiben.154 Hinzugefügt werden kann, dass die Kursivschrift darauf verweist, dass eine zusätzliche lexikalische Konnotation im Wort realisiert ist, die über die allgemein akzeptierte Bedeutung hinausgeht. Es ist davon auszugehen, dass der linke und der rechte Flügel im Kontext des Romans »Den’ opričnika« in direktem Zusammenhang mit der Gestalt des Drachen steht. Die epische Form des wahnsinnigen kollektiven Redeflusses der Opritschniki wird schließlich durch die pathologische Rede ersetzt. Satzzeichen, Großbuchstaben verschwinden aus dem Text, die Sprachsyntax wird verletzt. Der Text wird chaotisch, inkohärent und abrupt, was die Bewusstseinstrübung und -veränderung der Opritschniki widerspiegelt. Глядь, увидели страну ту безбожную. Налетели мы тотчас, изловчилися, Стали жечь ее из семи голов, Из семи голов, из семи ротов, Стали жрать-кусать тех безбожников, А нажравшись их кости повыплюнули, да опять жечь-палить принималися, жечь-палить тех гадов, тех гадов-гадских, выблядков омерзительных, безбожных наглых забывших все святое все трисвятое их надобно выжигать аки отпрысков асмодея аки тараканов аки крыс смердящих […]155 (Da auf einmal lag es vor uns, das verfluchte Land! Und wir griffen sofort an, und zwar aus vollem Rohr, Sieben Köpfe war’n ein Feuersturm, Sieben Köpfe, sieben Mäuler auch, Bissen zu, schlangen die Höllenbrut,

152 Ebd., 171. 153 Sorokin: Den’ opričnika, 174. Hervorh. i. Orig 154 Vgl. Marusenkov: Absurdopedija russkoj žiznii Vladimira Sorokina. Zaum’, grotesk i absurd, 130. 155 Sorokin: Den’ opričnika, 97.

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Hauten rein, spuckten hinterher die Knochen wieder aus, und weiter ging das große Sengen und Brennen, Morden und Brandschatzen, weg mit den Scheusalen, den niederträchtigen, weg mit den widerlichen Ausgeburten, den unverfrorenen Gotteslästerern, die nicht mehr wissen, was heilig und allmächtig ist auf Erden, ausgebrannt gehört dieses Pack weggeätzt wie Aschmodais Gezücht wie Schaben wie stinkende Raten ausmerzen […]156)

In diesem Ritual findet die symbolische Bestätigung des kollektiven Körpers statt, aber die Bedingung dafür ist die kollektive Bewusstseinsveränderung. Die Szene endet mit der Vergewaltigung einer Ausländerin. Die Form der inkohärenten Rede zeugt von der Unmöglichkeit, Gewalt diskursiv auszudrücken, und von dem Übergang des kollektiven Bewusstseins in die Geistesverwirrung. Sorokin nutzt die organische Metaphorik für die Veranschaulichung der Einheit der Gemeinschaft. Die Metapher der Tiere inklusive der Metapher des Drachens funktioniert bei ihm als Dekonstruktion des eurasischen Diskurses über die Metapher der Persönlichkeit, die der Vorstellung von Gemeinwesen zugrunde liegt. Die Tiermetaphorik, die für die Beschreibung der Einheit der Opritschniki im Roman verwendet wird, zieht bestimmte Konnotationen wie einen Mangel an Moral und Vernunft nach sich. Der Tag endet mit dem Abendessen der Opritschniki bei dem Alten. Während des kollektiven homosexuellen Akts werden die hierarchischen Strukturen der Opritschnina und ihre Erneuerbarkeit symbolisch bestätigt. Vor diesem Ritual nehmen die Opritschniki Pillen ein. Die Einnahme dieser Mittel vergleicht Komjaga mit dem Abendmahl. Die Beschreibung erinnert an religiöse christliche Motive: Накрывает язык мой трепещущий таблетку, яко облако храм на холме стоящий. Тает таблетка, сладко тает под языком, в слюне хлынувшей на нее, подобно реке Иордань по весне разлившейся.157 (Meine Zunge umschließt die bebende Pille, wie eine Wolke den Tempel auf des Hügels Mitte umhüllt. Die Pille zergeht, schmilzt süß an der Zungenwurzel, im Speichelfluss, der sie so mächtig umspült wie der Jordanstrom zur Frühlingsschmelze.158)

Diese Selbstrepräsentation der hierarchischen Struktur der Opritschnina funktioniert mithilfe einer Metapher aus der Insektenwelt – der Raupe.159 156 Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 95 f. 157 Sorokin: Den’ opričnika, 198. 158 Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 195. 159 Im Roman »Serdca četyrech« entwirft Sorokin anhand der Metapher der Krätzemilbe ein Modell des Kollektivkörpers. Zur Funktionsweise dieser Metapher siehe die Beiträge von Christine Engel: Engel, Christine: Sorokin im Kontext der russischen Postmoderne.

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Vladimir Sorokin und imperiale Phantasmagorien

Мудро, ох мудро придумал Батя с гусеницей. До нее все по парам разбивались, отчего уже тень разброда опасного на опричнину ложилась. Теперь же парному наслаждению предел положен. Вместе грудимся, вместе и наслаждаемся. А таблетки помогают. И мудрее всего то, что молодь опричная завсегда в хвосте гусеницы пихается. Мудро это по двум причинам: во-первых, место свое молодые обретают в иерархии опричной, во-вторых, движение семени происходит от хвоста гусеницы к голове, что символизирует вечный круговорот жизни и обновление братства нашего. С одной стороны, молодежь старших уважает, с другой — подпитывает. На том и стоим. И слава Богу.160 (Das mit der Kette war wirklich eine gescheite Idee vom Alten. Vorher haben wir uns immer paarweise zusammengetan, wodurch ein gefährlicher Keim der Zersetzung in die Opritschnina getragen wurde. Jetzt ist paarweisen Vergnügungen ein für alle Mal ein Riegel vorgeschoben. So wie wir unsere Arbeit gemeinsam voranbringen, so frönen wir gemeinsam der Lust. Die Pillen helfen uns dabei. Und das Schlaue daran ist, dass die jungen Opritschniki stets am Ende der Kette rammeln. Schlau aus zweierlei Gründen: Erstens erlangen die jungen Männer auf diese Weise automatisch ihren Platz in unserer Hierarchie, und zweitens sind so, indem der Samenfluss vom Ende der Kette zur Spitze hin erfolgt, der ewige Kreislauf und die fortführende Erneuerung sehr schön symbolisiert: Die Jungen erweisen den Alten ihren Respekt und führen ihnen zugleich Nährstoffe zu. Darauf bauen wir. Und das ist gut so.161)

Gleichzeitig hat die Raupe in den christlich-religiösen Vorstellungen, auf die der Vergleich der Pilleneinnahme mit dem Abendmahl am Anfang des Rituals zurückführt, eindeutige Konnotationen. Die Metamorphose des Schmetterlings ist eine Metapher für die Wiedergeburt. Während der Schmetterling ein Symbol der menschlichen Seele ist, verkörpert die Raupe den verderblichen und sterblichen Körper des Menschen. Dass die Metapher der Raupe kein Schritt für eine weitere geistige Transformation der Opritschnina ist, zeigt sich in den Gedanken von Komjaga. Nach dem Ritual erinnert er sich daran, wie er sich um seine Gesundheit kümmert, die in seinem »gefahrvollen Leben ein hohes Gut«162 ist. In den Vordergrund rückt die Wahrnehmung des menschlichen Körpers, bei der nur auf das gesunde Funktionieren Wert gelegt wird. Nach der Analogie mit dem individuellen Körper von Komjaga zielt der kollektive Körper der Opritschniki ausschließlich auf die Befriedigung physiologischer Bedürfnisse ab. Mentale Prozesse oder geistige Transformation werden durch reine Physiologie ersetzt. Problem der Wirklichkeitskonstruktion, 53–66; vgl. Engel, Christine: Sorokins allesverschlingendes Unbewusstes: Inkorporation als kannibalischer Akt. In: Burkhart, Dagmar (Hg.): Poetik der Metadiskursivität. Zum postmodernen Prosa-, Film- und Dramenwerk von Vladimir Sorokin. München 1999, 139–149. 160 Sorokin: Den’ opričnika, 203 f. Hervorh. i. Orig. 161 Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 200. Hervorh. i. Orig. 162 Ebd.

Der kollektive Körper der Opritschnina 

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Sorokins Spiel mit der Körperlichkeit dient in diesem Fall als Dekonstruktion politischer und ideologischer Diskurse, die auf der organischen Metapher in der Beschreibung der Gesellschaft beruhen. Die für den (neo-)eurasischen Diskurs charakteristische Metapher des menschlichen Körpers wird durch Tiermetaphern ersetzt. Darüber hinaus kommt es zu einer Degradierung der Tiergestalten – oder mit anderen Worten – zu einem Übergang von relativ hoch entwickelten zu den weniger entwickelten Wesen bzw. Insekten in der Selbstbeschreibung der Opritschnina, die sich auf folgende symbolische Reihe zurückführen lässt: Pferd – Schlange (Drachen) – Raupe. Die kollektiven Gewaltrituale der Opritschniki funktionieren als Mittel, mit der Welt der unreinen, ambivalenten Sakralen in Berührung zu kommen. Dies erfüllt ebenfalls eine gemeinschaftsstiftende Funktion. Am Ende des Abends bohren die Opritschniki einander mit feinen Bohrmaschinen in die Beine. Die Verletzung des eigenen Körpers erscheint in diesem Ritual als das Mittel, individuelle Grenzen zu zerstören und sie zu einer Gemeinschaft der Opritschnina zu vereinen, die buchstäblich durch drehende Bohrmaschinen miteinander verbunden ist. Somit sind die Opritschniki nicht nur die Täter der Gewalt, sondern auch ihre Objekte. Bei diesem Ritual werden die Unterschiede zwischen dem Opfer und dem Henker symbolisch zerstört, jeder Opritschnik ist in diesem Fall sowohl das eine als auch das andere. Gewalt tritt hier als Zerstörung individueller Grenzen und Körper auf, die den kollektiven Körper der Opritschniki bilden, und wird zum Grundprinzip, auf dem die ganze Gemeinschaft aufgebaut ist. Im Erzählband »Sacharnyj kreml’« wird ein typisches Kinderspiel für diese Zeit beschrieben: Играют они уже все Рождество в одно и то же, в опричников и столбовых. »Столбовые« усадьбу построили из снега, засели в ней. »Опричники« их обступили: »Слово и Дело!« »Столбовые« откупаются сосульками. Как только сосульки кончаются ‒ »опричники« на приступ усадьбу »столбовых« берут.163 (Sie spielten Opritschnik und Edelmann, wie die ganze Weihnachtswoche schon: Die Edelleute haben sich aus Schnee ein Landgut gebaut und darin verschanzt, die Opritschniki umzingeln sie und rufen »Schuld und Sühne!« Die Edelleute kaufen sich mit Eiszapfen frei, solange sie welche haben. Irgendwann sind sie alle, und das Gut wird von den Opritschniki gestürmt.164)

In dieser Hinsicht bildet das Kinderspiel, das den Zusammenstoß zwischen den Opritschniki und den Edelleuten imitiert, bestehende Regeln, Bräuche und Normen ab. Durch die Wiederholung des repressiven Rituals der Opritschniki reproduzieren Kinder soziale Beziehungen zwischen verschiedenen Schichten 163 Sorokin, Vladimir: Sacharnyj kreml’. Moskva 2008b, 23. 164 Sorokin: Der Zuckerkreml, 17 f.

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und hierarchische Strukturen, die in der Gesellschaft etabliert sind. Auf diese Weise verdeutlicht Sorokin die Kontinuität von auf Gewalt basierenden Normen als eine gemeinschaftsbildende Voraussetzung.

6.4 Die Macht der Simulakren 6.4.1 Die Entkörperung des Herrschers

Der Roman »Den’ opričnika« setzt sich in einer Reihe von Erzählungen fort, die unter dem Titel »Sacharnyj kreml’« 2008 herausgegeben wurden. Dabei ist der Erzählband »Sacharnyj kreml’« keine unmittelbare Fortsetzung der Beschreibung von Komjagas Tag, sondern reproduziert laut Anne Krier die lokalen, zeitlichen und politischen Bedingungen des Romans »Den’ opričnika«.165 Der Unterschied zum vorherigen Roman besteht unter anderem darin, dass im Kontrast zu der Erzählperspektive des Täters in »Den’ opričnika« keine einmischende Erzählinstanz bzw. ethische Position in »Sacharnyj kreml’« vorliegt.166 Der Erzählband beschreibt die Zukunft Russlands im Jahre 2028, doch wie Anna Artwińska bemerkt, ist die erzählte Zeit des Werkes eine Vermischung aus verschiedenen Epochen und Stilen. Mit diesen verschiedenen Zeitperspektiven entsteht eine ahistorische, essenzielle und homogene Darstellung Russlands  – als eines von Gewalt und Barbarei dominierten Landes.167 Der Band besteht aus 16 Erzählungen, die sich durch intertextuelle Verweise sowohl auf andere Werke Sorokins als auch auf verschiedene Texte der russischen Kultur auszeichnen. Mit den Erzählungen wird der Einblick in das Leben vielfältiger Sozialschichten im dystopischen Russland – Bettler, Zwangsarbeiter, Sicherheitsdienstoffiziere, Hofnarren, Prostituierte, Arbeiter der Zuckerkremlfabrik – gewährt. Als roter Faden fungieren die aus Zucker gefertigten Kreml-Figuren. Auf Parallelen zwischen »Sacharnyj kreml’« und der früheren Erzählung von Sorokin »Norma« haben viele Forscher hingewiesen. In beiden Erzählungen materialisiert sich die Metapher der Macht in einer konkreten Substanz, die die Bürger des Staates verzehren. Laut Aleksandr Genis sind menschliche 165 Vgl. Krier, Anne: Vladimir Sorokins ›Neues Russland‹ zwischen Zuckerkreml und Körperstrafen: Die Zukunft als Vergangenheit. In: Wiener Slawistischer Almanach 68 (2011), 171–200, hier 173. 166 Vgl. ebd., 173 f. 167 Vgl. Artwińska, Anna: The (Post-)Communist Orient: History, Self-Orientalization und Subversion by Michał Witkowski und Vladimir Sorokin. In: Zeitschrift für Slavistik 62/3 (2017), 404–426, hier 413.

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Exkremente die wichtigste Metapher in der Erzählung »Norma«, in »Sacharnyj kreml’« ist es Zucker.168 Ähnlich argumentiert Mark Lipoveckij, der davon ausgeht, dass die Verinnerlichung repressiver Machtstrukturen von einem Subjekt durch Transformation des Diskurses in körperliche Metaphern zum Ausdruck gebracht wird.169 Der Zuckerkreml funktioniert, wie Dirk Uffelmann konstatiert, als eine politische Allegorie des totalitären Diskurses.170 Die staatliche Macht – vorher in »Den’ opričnika« von dem Gossudaren verkörpert – wird nun durch das Symbol des Zuckerkremls zum Ausdruck gebracht. Allerdings bedarf die Beobachtung, dass der Zuckerkreml die materialisierte Metapher der Macht ist, noch näherer Erläuterung. Die Hypothese der nachfolgenden Analyse geht davon aus, dass der Zuckerkreml als eine verkleinerte Kopie des weißen Kremls stellvertretend für den Herrscher und seine Macht171 eine ambivalente Funktion erfüllt, die sich in einem komplexen Wechselspiel zwischen Repräsentation und Verschleierung manifestiert. Aufschlussreich für das Verständnis dieses Mechanismus ist das Konzept der zwei Körper des Königs, das von Ernst Kantorowicz beschrieben wurde: der natürliche und der politische Körper bildeten eine Einheit.172 Der König besaß in der mittelalterlichen politischen Tradition laut Kantorowicz eine doppelte Natur: einen natürlichen und einen politischen Körper, dessen Ursprünge in der christlichen Theologie liegen. Der politische Körper war mit transzendenten Merkmalen ausgestattet und unterwarf den natürlichen Körper.173 Die Einheit der zwei Körper des Herrschers wird bereits in »Den’ opričnika« aufgelöst: Der Zar erscheint niemals als real existierende Person in der erzählten Wirklichkeit des Romans. Andere können ihn ausschließlich in Form eines Hologramms beobachten. Лик государя возникает в воздухе кабинета. Краем глаза замечаю золотую, переливающуюся рамку вокруг любимого узкого лица с темно-русой бородкой и тонкими усами.174

168 Vgl. Genis: Moj Sorokin, 24; Krier: Vladimir Sorokins ›Neues Russland‹ zwischen Zuckerkreml und Körperstrafen, 181. 169 Vgl. Lipoveckij: Sorokin-trop: karnalizacija, 103. 170 Vgl. Uffelmann, Dirk: Sorokins Schmalz oder Die Küche des Konzeptualismus. In: Franz, Norbert (Hg.): Russische Küche und kulturelle Identität. Potsdam 2013, 229–252, hier 240. 171 Vgl. Naumann, Kristina: Russische Satire im 21. Jahrhundert als Zeitkommentar: Vladimir G. Sorokins Sacharnyj Kreml’ und Oleg V. Kašins Roissja vperde. Kiel 2017, URL : https://macau.uni-kiel.de/receive/diss_mods_00023018?lang=de (am 01.09.2020), 103. 172 Vgl. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, 31. Siehe dazu in dieser Studie Kapitel 3.4.7. 173 Vgl. ebd. 174 Sorokin: Den’ opričnika, 53.

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(Inmitten des Kabinetts ist das Antlitz des Gossudaren erstanden. Aus dem Augenwinkel gewahre ich den goldschimmernden Rahmen rings um das geliebte schmale Gesicht mit dem brünetten Kinnbart und dem feinen Schnurrbart.175)

Zum zweiten (und letzten) Mal im Roman »Den’ opričnika« taucht der Zar plötzlich während des Abendessens der Opritschniki auf, um mit diesen über die Steuerhinterziehung der in Sibirien lebenden Chinesen und im Zusammenhang damit über Chinas große wirtschaftliche Verluste zu sprechen. Seine Erscheinung ähnelt der übernatürlichen Manifestation des Göttlichen. И вдруг, как гром с неба: радужная рамка на потолке зала, до боли родное узкое лицо с темно-русой бородкой. Государь!176 (Und just in diesem Moment, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, erscheint an der Decke des Saales der regenbogenschillernde Rahmen mit dem ach so vertrauten schmalen Gesicht, dem dunkelblonden Kinnbart. Unser Gossudar!177)

Die Fähigkeit des Zaren, plötzlich während des Abendessens der Opritschniki zu erscheinen, deutet auf die religiöse Vorstellung hin, nach der Gott allgegenwärtig ist und alles sieht. Im Erzählerband »Sacharnyj kreml’« erscheint der Zar auch lediglich in visueller Form, aber nie als eine politisch agierende Person. In der ersten Erzählung »Marfušina radost’« (»Marfuschas Freude«) wird der Alltag einer Moskauer Familie am Weihnachtsfest beschrieben. Zuerst taucht der Zar in Form eines lebendigen Porträts in der Wohnung von Marfuša auf und grüßt sie als Antwort auf ihren Morgengruß zurück. Der Höhepunkt dieses Tages ist eine festliche Prozession von allen Kindern in Moskau auf dem Roten Platz, bei dem der Zar jedem Kind einen Zuckerkreml gibt – eine verkleinerte Kopie des Kremls. Dabei »leuchtet riesengroß das Antlitz des Gossudaren«178 oben in den Wolken. Das Erscheinen seines Gesichts in den Wolken, im Himmel zeugt von seiner anscheinend gottgleichen Gestalt. Angesichts der Tatsache, dass Sorokin die russische Literatur mit Körperlichkeit füllen wollte179, hat eine derartige Darstellungsweise der Herrschaftsfigur, die sich ausschließlich auf seine visuelle Präsenz begrenzt, eine gewisse Relevanz. In dieser Hinsicht dreht Sorokin das Konzept der zwei Körper des 175 176 177 178 179

Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 53. Sorokin: Den’ opričnika, 176. Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 173. Sorokin: Sacharnyj kreml’, 32. Sorokin, Vladimir: Ubojnoe salo: »Ja chotel napolnit’ russkuju literaturu govnom.« Interv’ju Ol’gi Semenovoj s Vladimirom Sorokinym. In: Offizial’nyj sajt Vladimira Sorokina, URL : https://www.mk.ru/old/article/2002/07/21/164539-uboynoe-salo.html (am: 05.01.2021).

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Herrschers um: Sein natürlicher Körper wird zu einer Abstraktion. In Anlehnung an Mark Lipoveckij könnte man formulieren, dass es im Roman die Transformation des Körperlichen in das Diskursive oder die Entkörperung – das Gegenteil von karnalizacija – gibt.180 Das Erscheinen des Zaren in den Werken »Den’ opričnika« und »Sacharnyj kreml’« in Form eines Porträts oder Hologramms bezieht sich einerseits auf die Ikonenmalerei  – Bilder der heiligen Personen in der Tradition des östlichen Christentums,181 andererseits erinnert diese Darstellung des Zaren an eine sowjetische und postsowjetische Tradition182: Porträts der politischen Führer, die sowohl im öffentlichen Raum – in Amtsgebäuden sowie während verschiedener Demonstrationen – als auch zum Teil in privaten Räumen gefunden werden können.183 Sorokin entlarvt dennoch die mögliche heilige Bedeutung des lebendigen Porträts des Gossudaren in der Erzählung »Petruška« (»Petruschka«). Der Zwerg Petr Borejko, der in der Komischen Kanzlei des Kremls als Hofnarr tätig ist, kehrt nach einem Konzert für Regierungsbeamte nach Hause zurück. Er vermisst seine Geliebte Rita, die den staatlichen Repression unterzogen wurde und im Gefängnis bleibt. Er arrangiert einen symbolischen Racheakt an der Regierung und zerstört das Hologramm des Zaren, das ohne Kopf und lediglich mit halber Schulter bleibt. Danach bittet Petruša einen Roboterdiener, das vorherige Hologramm zu reproduzieren, auf dem der Zar keinen Hals und kein Kinn hat. Es wird deutlich, dass Petruša mehr als einmal einen ähnlichen Racheakt durchgeführt hat. Die rituelle Aktion, das Bild des Zaren in Form eines Hologramms zu zerstören, ersetzt die Rituale der Verehrung, die in der Erzählung »Marfušina radost’« beschrieben werden. In der Erzählung »Petruška« reagiert die visualisierte Kopie des Zaren in keiner Weise auf Vandalismus in Bezug auf sein Bild. Das Hologramm bleibt ein Hologramm. Das Hologramm oder das lebendige Porträt des Zaren soll verbergen, was nicht existiert, nämlich der natürliche Körper des Zaren. Mit anderen Worten ist 180 Vgl. Lipoveckij: Sorokin-trop: karnalizacija, 110. 181 Vgl. Engel, Alexander: The Presence of Sacralization: The Configuration of Presence in Vladimir Sorokin’s Kremlin Made of Sugar. In: Gottwald, Markus / Kirchmann, Kay / Paul, Heike (Hg.): (Extra)Ordinary Presence. Social Configurations and Cultural Repertoires. Bielefeld 2017, 137–156, hier 143; vgl. Naumann: Russische Satire im 21. Jahrhundert als Zeitkommentar, 101. 182 Vgl. Engel: The Presence of Sacralization, 144. 183 Im Jahre 2020 wurde der Bau der Hauptkirche der Streitkräfte Russlands abgeschlossen. An den Wänden der Kathedrale sollten Vladimir Putin, Joseph Stalin, Sergej Schojgu und andere russische Beamte abgebildet sein, was eine öffentliche Debatte nach sich zog. Infolgedessen wurde beschlossen, das Mosaik mit den Bildern der Politiker nicht zu platzieren. (Vgl. hierzu Sizova, Kristina: Krestnyj chod vmesto Putina: počemu v chrame ubrali panno. In: Gazeta, 01.05.2020, URL : https://www.gazeta.ru/army/2020/05/01/13069033. shtml (am 04.06.2020).)

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das Hologramm des Zaren nach Baudrillard ein Simulakrum der Macht.184 Baudrillard unterscheidet vier Entwicklungsstufen eines Simulakrums. In der ersten Ordnung sei das Zeichen ein Spiegelbild der grundlegenden Realität. Im zweiten Fall verschleiere und verzerre es die zugrunde liegende Wirklichkeit. Im dritten Entwicklungsstadium verschleiere das Zeichen die Abwesenheit der tatsächlichen Realität. In der vierten Stufe habe es keinen Bezug zu irgendeiner Realität: Es sei sein eigenes reines Simulakrum.185 Im Roman »Den’ opričnika« ist das lebendige Porträt des Gossudaren nach Baudrillard die dritte Entwicklungsstufe des Simulakrums. Es verschleiert die Abwesenheit des natürlichen Körpers des Zaren und gibt vor, seine visualisierte Kopie zu sein. Das Porträt beansprucht, den wirklichen Zaren darzustellen, ist jedoch tatsächlich eine Kopie ohne das Original. Zu erwähnen sind in dieser Hinsicht die Gedanken von Baudrillard über Ikonen. Nach Baudrillard sind Ikonen oder Bilder Gottes ein Simulakrum, denn die in den Bildern repräsentierte Gottheit verschwindet. Er weist auf die Macht der Simulakren, auf ihre Fähigkeit hin, Gott im Bewusstsein der Menschen auszulöschen.186 In Anlehnung an diese Behauptung könnte man sagen, dass die Simulation des Zaren in »Sacharnyj kreml’« in Analogie zu der simulativen Erscheinung der Ikone auch den Zaren im Bewusstsein der Menschen auslöscht. Somit kann es eine Metapher für den Ausdruck »bez carja v golove« – wortwörtlich »ohne Zaren im Kopf« – sein. In der russischen Sprache wird der Ausdruck genutzt, um eine dumme, unüberlegte oder sogar verrückte Person zu bezeichnen. Sorokin entwickelt diese Bedeutung in der Erzählung »Pis’mo« (»Der Brief«). Hierauf wird später zurückzukommen sein. Wenn der Zar in »Den’ opričnika« in Form eines Hologramms oder lebendigen Porträts erscheint, aber dennoch am politischen Leben partizipiert, beispielsweise indem er seinen Schwiegersohn der Verbrechen beschuldigt oder die Situation mit den Chinesen in Westsibirien mit den Opritschniki diskutiert, begrenzt sich die Erscheinung des Zaren in »Sacharnyj kreml’« ausschließlich auf ritualisierte Grüße oder Handlungen wie die Verteilung der Geschenke an die Kinder. In diesem Erzählband zeugt so eine Verkörperung des Zaren vom Übergang zur vierten Stufe der Simulation, in der das Simulakrum nichts mit der Realität zu tun hat und ein Simulakrum in reiner Form ist. Der politische Körper des Zaren verschwindet ebenfalls aus der erzählten 184 Rosalind Marsh weist darauf hin, dass das postmoderne Konzept des Simulakrums von Jean Baudrillard oft seine Widerspiegelung in den politischen Novellen der postsowjetischen Zeit gefunden hat: In den Romanen Duša patriota von Evgenij Popov, Generation ›P‹ von Viktor Pelevin, Gospodin Gexogen von Alexander Prochanow. In den Werken werden politische Herrscher als Simulakren dargestellt. (Vgl. hierzu Marsh, Rosalind J.: Literature, history and identity in post-Soviet Russia, 1991–2006. Oxford 2007, 268–271.) 185 Vgl. Baudrillard, Jean: Simulacra and simulation. Ann Arbor 1994, 6. 186 Vgl. ebd., 4.

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Wirklichkeit des Romans. An seiner Stelle treten repräsentativ der weiße Kreml und seine verkleinerte Kopie – der Zuckerkreml – auf. 6.4.2 Der Zuckerkreml: Simulakrum des politischen Körpers Rhetorik der totalitären Ideologie

Im Erzählband »Sacharnyj kreml’« repräsentiert der Zuckerkreml in verkleinerter Form den tatsächlich existierenden Kreml in der erzählten Wirklichkeit des Romans. Nach Baudrillard wäre der Zuckerkreml die erste Entwicklungsstufe eines Zeichens in Bezug auf die repräsentierte Realität. Die detaillierte Beschreibung des Zuckerkremls – die Erwähnung einzelner Türme wie des Borovitskaja-Turms, des Nikolskaja-Turms und des Waffenturms ‒ verweist direkt auf den real existierenden Gebäudekomplex, den Moskauer Kreml.187 Der Moskauer Kreml als offizieller Wohnsitz der Staatsmacht gilt als das wichtigste politische und kulturelle Symbol des Landes. Darüber hinaus existieren auf dem Territorium des Kremls mehrere Kathedralen, was dem Kreml eine wichtige religiöse Bedeutung verleiht. In der Sowjetzeit erlangte der Moskauer Kreml einen weiteren Grad an Sakralisierung, der mit der Beerdigung politischer Führer verbunden war. Der Unterschied zum wirklich existierenden Kreml besteht darin, dass der Kreml im Erzählband weiß ist. In »Pis’mo« (»Der Brief«) wird von der Ich-Erzählerin Praskov’ja berichtet, dass der Kreml vor zwölf Jahren auf Befehl des Zaren in weißer Farbe gestrichen wurde. Praskov’ja erinnert sich, wie sie sich am Sonntag mit ihrer gesamten Familie nach Moskau begeben hat, um sich den neu gestrichenen Kreml anzusehen. In der Beschreibung, wie Praskov’ja und andere Menschen den Kreml betrachten, tritt der übernatürliche religiöse Hintergrund des Kremls in den Vordergrund. Den Kreml anzuschauen ist gleich mit der Bedeutung einer nationalen einheitlichen Idee. Kristina Naumann geht davon aus, dass der weiße Kreml »zu einer Art Ersatzreligion wird und eine umfassend hypnotisierende und einnehmende Wirkung auf die Menschen hat.«188 а просто смотри и радуйся, веселись душой своей, пей глазами Кремль белый, ешь глазами Кремль белый, и больше ничего не надобно189 (es genügt, zu schauen und von Herzen froh zu sein, den weißen Kreml mit den Augen trinken, den weißen Kreml mit den Augen essen, mehr muss nicht sein190) 187 Vgl. Naumann: Russische Satire im 21. Jahrhundert als Zeitkommentar, 96. 188 Ebd., 111. 189 Sorokin: Sacharnyj kreml’, 230. 190 Sorokin: Der Zuckerkreml, 157.

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Das Überstreichen des Kremls mit weißer Farbe markiert einen symbolischen Meilenstein  – die Verlagerung des politischen Machtmonopols von der Figur des Zaren auf den weißen Kreml. Neben der Tatsache, dass der Zuckerkreml als Symbol staatlicher Macht und als illusorischer Vertreter des politischen Körpers des Zaren verwendet wird, kann man ihn als einen impliziten Verweis auf den Ausdruck »Kremlpropaganda«  – und in dieser Hinsicht die Auswirkungen des ideologischen Diskurses auf das Bewusstsein der Menschen  – deuten. Die Erzählung zeichnet die Einflussmechanismen des Propagandadiskurses nach, den Praskov’ja in ihrer inkohärenten Rede reproduziert, womit sie einerseits als ein Opfer und andererseits als Vermittlerin des ideologischen Diskurses auftritt. Es scheint, dass der Diskurs von dem größten Teil der den Kreml betrachtenden Menschen akzeptiert und geteilt wird. Der letzte Teil von Praskov’jas Brief ist eine Art Propagandatext, der sich der typischen Manipulationstechniken bedient. Im Brief kommen endlose und aufdringliche Wiederholungen der Redewendung »den weißen Kreml sehen«191 vor. Die Anhäufung dieses Ausdrucks in verschiedenen Variationen dient dazu, den politischen Imperativ zu bekräftigen und ihn in eine Art Grundwahrheit zu verwandeln. Praskov’jas Rede zeichnet sich durch die Vereinfachung stilistischer Konstruktion und die Reduzierung lexikalischer Vielfalt im Vergleich zu dem Beginn des Briefs aus, was auf eine gewisse Veränderung und Primitivierung der Weltanschauung hinweist. Fasst man die auf sechs Seiten angeführte Rede von Praskov’ja zusammen, ergibt sich ein bestimmtes Imperativmuster des ideologischen Diskurses, das auf den Zusammenhang zwischen dem kollektiven Betrachten des Kremls und Glück verweist. Der Appell an die Einheit der Gemeinschaft ist ein weiteres Mittel, um die Verbindlichkeit und die Unvergänglichkeit der ideologischen Idee zu bekräftigen: »beieinander zu sein, eins zu sein mit der Welt«192, »stehen in scheuer Menge«193, »alle Leute beieinander sind«194. Den Kreml anzuschauen wird zu der wichtigsten Aufgabe mit der größten Priorität, was die Annäherung an das Hauptziel – an den euphorischen Zustand der Freude – verheißt: »am Ort der großen, guten Sache«195, »sodass einem das Herz übergeht«196, »es uns allen gut geht«197 »alle werden glücklich sein bis in alle Ewigkeit«198, »das Herz übergeht vor Freude«199. 191 Ebd., 158. 192 Ebd., 156. 193 Ebd., 158. 194 Ebd., 159. 195 Ebd., 156. 196 Ebd., 157. 197 Ebd. 198 Ebd. 199 Ebd.

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Gleichzeitig ist es wichtig, den Kreml anzugucken und »стояь смирно, стоять хорошо, дабы не спугнуть ничего и не потревожить«200 (»stillstehen, gerade stehen und ordentlich, damit nichts aufgestört wird und durcheinanderkommt«201). Das Adverb »smirno« (»still, aber auch stillgestanden«) ähnelt einem militärischen Befehl in der Armee »Ravnjajs’! Smirno!« (»Richtet euch auf! Stillgestanden!«). Eine lexikalische Parallele des Wortes »smirno« findet sich in der Erzählung »Kočerga« (»Der Schürhaken«) im Familiennamen des Untersuchungshäftlings Andrej Smirnov. Es wird die Arbeit der Geheimen Kanzlei beschrieben, als der Hauptmann der Staatsicherheit, Sevast’janov, den Untersuchungshäftling Andrej Smirnov verhört. Ihm wird vorgeworfen, dass er eine Dissidentenerzählung über einen Schürhaken geschrieben und verbreitet hat. In der Erzählung, die im Stil eines russischen Volksmärchens geschrieben ist, handelt es sich um einen Schürhaken, der beschließt, sich eine leichtere Arbeit zu suchen.202 Schließlich landet der Schürhaken in der Geheimen Kanzlei und wird zu einem Foltermittel der Gefangenen. Laut Vladimir Sorokin ist Smirnov der häufigste russische Familienname, was er auf die Geduld des russischen Volkes und seine Fähigkeit, viel zu ertragen, zurückführt.203 In der Erzählung gesteht Andrej Smirnov unter Folter die Verbreitung des Dissidentenmärchens »Kočerga« und verrät die Namen anderer Menschen, die angeblich auch an der Verbreitung der Dissidentenerzählung beteiligt waren. Die Erzählung »Pis’mo« endet mit einer inkohärenten Rede, die aus drei sich wiederholenden Sätzen besteht: »tut mir leid«204, »verzeiht mir um Himmels willen«205, »ich tu’s nie wieder«206, die einerseits an die pathologische Rede und andererseits an die christlich-orthodoxe Praxis der Beichte erinnern. Auf die Ähnlichkeit der Funktion des Beichtens in der sowjetischen Ideologie und in der Religion weist Sylvia Sasse hin. Bereits in den früheren Texten wie »Obelisk« (»Der Obelisk«) und »Mesjac v Dachau« (»Ein Monat im Dachau«) setzte sich Sorokin, wie sie ausführt, mit der Form der Beichte auseinander. So wie die Beichte die mit der Sünde eingeleitete Autonomie eines Subjekts rückgängig macht und ihn in den kollektiven Innenraum einer religiösen Gemeinschaft zurückbringt, wird die Beichte im sowjetischen Diskurs ebenfalls 200 Sorokin: Sacharnyj kreml’, 229. 201 Sorokin: Der Zuckerkreml, 156. 202 Vgl. Sorokin: Sacharnyj kreml’, 79. 203 Vgl. Sorokin, Vladimir: Novoe desjatiletie. K 60-letiju Radio Svoboda. God 2008. Interv’ju Eleny Fanajlovoj i Ivana Tolstogo s Vladimirom Sorokinym. In: Offizial’nyj sajt Vladimira Sorokina, URL : https://www.srkn.ru/interview/novoe-desyatiletie-k-60letiyu-rs-god-2008.html (am 03.06.2020). 204 Sorokin: Der Zuckerkreml, 159. 205 Ebd. 206 Ebd. 160.

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zu einem Mittel, die subjektiven Eigenschaften eines sozialistischen Subjekts zu eliminieren.207 »Das Beichten als Sprechgestus oder Verhaltensmodus, in dem das Subjekt transparent wird, unterstützt damit die Prozesse der totalitären Subjekt-Konzeption.«208 Praskov’jas Beichte wird in eine Form pathologischer Rede eingebettet, in der syntaktische Verbindungen unterbrochen werden, was den Eindruck von Praskov’jas Wahnsinn erweckt. Michail Èpštejn merkt an, dass der Wahnsinn als literarisches Verfahren nicht selten in der Darstellung von totalitären Ideologien verwendet wird.209 Er geht davon aus, dass der menschliche Verstand »von der Krankheit der Anarchie – von dem ekstatischen Wahnsinn – oder der Krankheit des Totalitarismus – von dem doktrinellen Wahnsinn«210 ‒ betroffen werden kann. Er nennt zwei grundlegende Typen des Wahnsinns: den Wahnsinn der Inkohärenz und den der Unbeweglichkeit. Letzteres drückt sich in der Fixierung, der Konzentration des Verstands auf einen festen Punkt aus.211 Praskov’ja soll wie andere Menschen still stehen und den Kreml betrachten. Es ist naheliegend, dass sich dann das Bewusstsein der Menschen auf ein einziges Objekt – den Kreml – konzentriert. Ihre körperliche Unbeweglichkeit zeigt somit die Steifheit und die totalitäre Ausrichtung ihres Bewusstseins. Praskov’ja bekennt sich wie Andrej Smirnov schuldig. In diesem Staat werden die Bürger auf diese Weise als potenzielle Verbrecher wahrgenommen. Die Willkür staatlicher Machtstrukturen weist direkt auf das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit hin. In der Rede von Praskov’ja verdeutlicht sich auf diese Weise die (Re-)Eta­ blierung der totalitären Ideologie. Zu den wesentlichen Merkmalen dieser Ideologie gehören der Verzehr des Zuckerkremls, die Festlegung strenger hierarchischer Beziehungen, die repressive Natur des Verhältnisses zwischen Bevölkerung und Macht sowie die totalisierende vereinheitlichende Wirkung des ideologisch-politischen Diskurses. Allerdings ist die Wirkungsmacht des Diskurses nicht umfassend, wie einige Erzählungen des Bandes zeigen. In dieser Hinsicht ist die Erzählung »Očered’« (»Die Schlange«) zu erwähnen, die Sorokins Selbstreflexion zu seinem vorherigen Roman »Očered’« (1985 »Die Schlange«) darstellt. In Perm – einer Stadt im Uralvorland – stehen Menschen für Zuckerkreml Schlange. Als die Protagonisten der Erzählung – Vera und ihr neuer Bekannter Trofim – an

207 Vgl. Sasse, Silvia: Gift im Ohr. Beichte – Geständnis – Bekenntnis in Vladimir Sorokins Texten. In: Burkhart, Dagmar (Hg.): Poetik der Metadiskursivität. Zum postmodernen Prosa-, Film- und Dramenwerk von Vladimir Sorokin, München1999, 127–137, hier 130. 208 Ebd., 130. 209 Vgl. Èpštejn: Slovo i molčanie. Metafizika russkoj literatury, 222. 210 Ebd., 219 211 Vgl. ebd.

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der Reihe sind, stellt sich heraus, dass die Türme des Zuckerkremls bereits ausverkauft sind und lediglich die Mauern übrig sind. Sorokin schafft eine Metapher, dass das Beste in Moskau bleibt und ausschließlich Fragmente des Luxus andere Städte erreichen.212 Darüber hinaus dient der Zuckerkreml als eine Machtmetapher dazu, nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Verhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie zu veranschaulichen. In die Peripherie kommt die politische Macht, verkörpert durch den Zuckerkreml, allein in reduzierter, verkürzter Form an.213 Wenn man die für Sorokin charakteristische Metaphorisierung des Diskurses betrachtet, kann dies darüber hinaus als Schwächung des symbolischen politischen Codes – des ideologischen Machtdiskurses – interpretiert werden. Ein weiteres Beispiel dafür findet sich in der Erzählung »Chljupino«. Chljupino symbolisiert ein gewöhnliches russisches Dorf. Die Erzählung handelt von der Bäuerin Saša und ihrem Bauernhof mit Kühen. Die Zeitung mit dem Foto eines Ministers, auf dem die abgerissene Titelzeile »… RRAGENDE BILANZEN«214 zu lesen ist, verwendet Saša als Toilettenpapier. Ihr Freund Vanja bringt ihr einen Zuckerkremlturm, den sie zusammen verzehren. Dabei erzählt Vanja eine Geschichte über sexuelles Fehlverhalten der Schwiegertochter des Zaren. Man kann diese Episode dahingehend deuten, dass jene hypnotisierende Wirkung der politischen Ideologie, die in der Erzählung »Pis’mo« beschrieben wird, an der Peripherie schlichtweg fehlt. Abgebrochene Wörter in der Zeitung symbolisieren nach der Analogie mit den abgebrochenen Teilen des Zuckerkremls die Auflösung des ideologischen Diskurses an der Peripherie des Staates. Der Zuckerkreml: zwischen Verkörperung und Verschleierung

Der Zuckerkreml funktioniert, wie zuvor erwähnt, als ein komplexes Zeichen, das sich in seiner Repräsentations- und Verschleierungsfunktion auf den politischen und natürlichen Körper des Herrschers bezieht. Fungiert der Herrscher im allgemeinen Sinne als der Repräsentant der Gemeinschaft 215, findet dieses Verhältnis zwischen Herrscher und Gemeinschaft eine Widerspiegelung in der aus Zucker gefertigten Kreml-Figur. Auf das Wechselspiel zwischen dem Körper des Herrschers und der Figur des Zuckerkremls verweist der Traum von Marfuša in der Erzählung 212 Vgl. Andreeva, Natal’ja / Bibergan, Ekaterina: Igry i teksty Vladimira Sorokina. SanktPeterburg 2012, 331. 213 Vgl. Naumann: Russische Satire im 21. Jahrhundert als Zeitkommentar, 116. 214 Sorokin: Der Zuckerkreml, 219. 215 Vgl. Koschorke / Lüdemann / Frank / Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, 67.

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»Marfušina radost’« (»Marfuschas Freude«). Sie schläft ein und träumt »vom Gossudaren auf seinem Silberschimmel – schneeweiß und aus Zucker«.216 In diesem Traum verwandelt sich der Zar in Zucker, was eine Anspielung darauf ist, dass sein Körper durch den Zuckerkreml ersetzt wird. Kristina Naumann geht auf die Bedeutung der weißen Farbe beim Zuckerkreml ein und hebt deren Ambivalenz hervor. Die weiße Farbe ist in dieser Hinsicht die Farbe der Macht. Außerdem kann die weiße Farbe Freude oder das Unheimliche symbolisieren.217 In Sorokins Erzählband wird die weiße Farbe darüber hinaus bei der Beschreibung des menschlichen Körpers verwendet: »die dicken weißen Beine«218 in der Erzählung »Son« (»Der Traum«); »milchweiß ist das Mädchen«219 in »Dom terpimosti« (»Das Freudenhaus«). Die weiße Farbe des Kremls enthält implizit eine Anspielung auf die weiße Farbe des menschlichen Körpers. Darüber hinaus ist das Pferd des Zaren im Traum von Marfuša von weißer Farbe. Das Symbol des Pferdes bezieht sich auf die Metapher des kollektiven Körpers der Opritschniki, die in Kapitel 6.6.3 beschrieben wurde. Von weißer Farbe ist auch die Kuh in der figurativen Bedeutung des geografischen Raums Russlands in der Erzählung »Kočerga«. Als solche stellen der weiße Kreml und indirekt seine Kopie in Form des Zuckerkremls nicht nur die Verkörperung des natürlichen Körpers des Zaren, sondern auch die metaphorische Materialisierung der kollektiven und räumlichen Einheit Russlands dar. Auf das Verhältnis zwischen dem Zuckerkreml und der Beschaffenheit des menschlichen Körpers verweist ebenso die Erzählung »Kočerga«, in der die Folterszene des Untersuchungsgefangenen Smirnov dargestellt wird. Der Kapitän der Staatssicherheit Sevast’janov injiziert in dessen Körper eine Substanz, wodurch sich Smirnovs Körper in Glas verwandelt. Weiter droht Sevast’janov, Smirnovs Körper mit einem schweren Hammer in Stücke zu brechen. – давай-ка мы этого хрустального интеллегента разобъем на куски, а?220 (»Wollen wir diesen gläsernen Intellektuellen hier nicht in Scherben hauen?«221)

Smirnov ist entsetzt über den drohenden Tod und gesteht die Tat. Die mögliche Zerschlagung des Körpers von Smirnov erinnert an die Erzählung »Marfušina radost’«, in der ein Hammer das Mittel der Spaltung des Zuckerkremls ist:

216 Sorokin: Der Zuckerkreml, 34. 217 Vgl. Naumann: Russische Satire im 21. Jahrhundert als Zeitkommentar,106. 218 Sorokin: Der Zuckerkreml, 76. 219 Ebd., 205. 220 Sorokin: Sacharnyj kreml’, 89. 221 Sorokin: Der Zuckerkreml, 60.

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А потом достал папаша молоточек да и расколол Кремль на части  – каждую башню отдельно.222 (Schließlich hatte Papa das Hämmerchen geholt und den Kreml akkurat in seine Teile zerlegt – jeden Turm für sich.223)

In diesem Fall zieht Sorokin eine Parallele zwischen dem menschlichen Körper, dessen Leben von seiner Ganzheit abhängt, und dem Zuckerkreml mit seiner ständigen Zerstückelung. Die Spaltung des Zuckerkremls funktioniert analog zur möglichen Fragmentierung des menschlichen Körpers. In der Geschichte »Kočerga« geht es um einen anderen Fall der Zerstückelung – in dem Fall der »Weißen Kuh«. Die Kuh fungiert an dieser Stelle als Metapher für den geografischen Raum Russlands und wird von einer Sekte zerstückelt. Eine Anspielung auf den Zusammenhang zwischen dem politischen Körper des Zaren und dem Kreml findet sich in der bereits besprochenen Erzählung »Pis’mo«. In der Erinnerung von Praskov’ja beleuchtete die Sonne den weißen Kreml und er schien so sehr, dass es für sie schwierig war, ihn anzusehen. In der weiteren Beschreibung wird der Kreml selbst zu einer Quelle blendenden Lichts: »die Sonne geht nicht unter sie strahlt und der Kreml er strahlt und er glänzt«224, »der große Kreml wird uns scheinen«225, »wird uns allen leuchten immerdar unser vortrefflicher weißer Kreml«226. So wird der Kreml zur Metapher der Sonne. Wie Boris Uspenskij andeutet, erfolgt die Sakralisierung des russischen Zaren auch durch dessen Zuordnung durch die symbolische Metapher der Sonne.227 In Sorokins Erzählband verdrängt der Kreml in der metaphorischen Bedeutung der Sonne die heilige Bedeutung des Monarchen. Anstelle des politischen Körpers des Zaren erscheint der weiße Kreml, der zum alleinigen Symbol der politischen Macht wird. Als die verkleinerte Kopie des weißen Kremls funktioniert der Zuckerkreml als Simulakrum des natürlichen und politischen Körpers des Zaren. So wie der Zuckerkreml den natürlichen Körper des Zaren verkörpert, hat er eine ambivalente Funktion in Bezug auf seinen politischen Körper. Der politische Körper als Verkörperung der Staatsmacht weist auf die Heiligkeit der Figur des Herrschers hin, indem er von einer mythischen Aura der Gottgleichheit und Übermenschlichkeit umgeben ist. Darauf deutet die Ausfertigung des Zuckerkremls hin. Bei der Ausfertigung soll der Zuckerkreml ganzheitlich und ohne Risse sein, wie der Meister in der Verpackungsabteilung Afanasij Nosov in der Erzählung »Na zavode« (»Die Fabrik«) sagt: 222 Sorokin: Sacharnyj kreml’, 45. 223 Sorokin: Der Zuckerkreml, 34. 224 Sorokin: Der Zuckerkreml, 158. 225 Ebd. 226 Ebd. 227 Vgl. Uspenskij: Semiotika istorii, semiotika kul’tury, 216.

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– Кремль он целокупен быть должен. – Целокупен? – Целокупен. – Почему? – Как почему? Государево дело, садовая голова! Чтобы ни единой трещинки, ни единой щербины. Ни единого порока. Ясно?228 (»Ein Kreml hat nun mal ganzheitlich zu sein.« »Ganzheitlich?« »Ganzheitlich.« »Wieso das?« »Wieso was? Das ist eine Staatsangelegenheit, Dummchen! Da darf es keinen noch so feinen Riss geben, keine noch so kleine Scharte! Makellos! Kapiert?«229)

Die Wortverbindung »Gosudarevo delo« (dt. etwa: Staatsangelegenheit, aber auch Gossudars Angelegenheit) hat in diesem Kontext doppelte Bedeutung. Einerseits ist es eine Angelegenheit von staatlicher, besonders relevanter Bedeutung. Andererseits bezieht sie sich direkt auf den Gossudaren, seinen politischen Körper, der einwandfrei und frei von allen natürlichen Mängeln sein muss. Eine Anspielung auf den natürlichen Körper, dessen normales und gesundes Funktionieren nur bei seiner Ganzheit möglich ist, sollte nicht ausgeschlossen werden. Der politische Körper des Herrschers setzt zusätzlich zu seiner sakralen ontologischen Natur230 die Fähigkeit voraus zu regieren, mit anderen Worten: bestimmte Entscheidungen umzusetzen und Untertanen deren Einfluss auszusetzen. Diese Dualität zwischen der politischen Aktion und dem Wesen des politischen Körpers kann nicht umhin, das Verhältnis zwischen der Figur des Zaren und seiner indirekten Verkörperung – dem Zuckerkreml – zu beeinflussen. Indem der Zuckerkreml den politischen Körper des Zaren in der Bedeutung seiner mystischen übernatürlichen Eigenschaft symbolisch verkörpert, verschleiert er gleichzeitig die Abwesenheit des tatsächlichen Herrschers – desjenigen, der das Land regiert. Der Zuckerkreml ist somit eine Kopie des Kremls – des politischen Machtsymbols des Landes. Ihm ist allerdings der Bezug auf den realen Körper des Herrschers und somit auf die wirkliche Macht entzogen. So ist der Zuckerkreml ein Simulakrum des politischen Körpers im Sinne seiner Regierungsfunktion und der wirklichen Macht. 228 Sorokin: Sacharnyj kreml’, 246. 229 Sorokin: Der Zuckerkreml, 168. 230 Aleksandr Dugin weist darauf hin, dass die Figur des Zaren in der traditionellen Gesellschaft in erster Linie durch ihren ontologischen Status gekennzeichnet ist. Staatspolitische Aufgaben sind den mystischen ontologischen Aufgaben untergeordnet, die der Zar durch das Dasein verkörpert und die den Sinn des gesamten politischen Lebens der Gesellschaft haben. (Vgl. Dugin: Filosofija politiki, 98 f.)

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Eine weitere Verbindung zwischen der Figur des Herrschers und dem Zuckerkreml findet sich in der Erzählung »Underground«. Hier realisiert Sorokin durch die affirmative Subversion die Metapher des Abendmahls.231 Anstelle einer christlichen Gemeinschaft geht es in der Erzählung um eine Gruppe von Menschen, die staatlichen Repressionen ausgesetzt sind. Anstelle von Brot und Wein als Symbolen für Christi Leib und Blut treten im buchstäblichen Sinn des Wortes die Mitglieder der Zarenfamilie auf. Die Protagonistin der Erzählung, Arina Lobodina, ist die Tochter eines aus politischen Motiven verhafteten Beamten. Ihre Mutter und die Brüder sind ebenfalls verhaftet und ins Lager verbannt. Arina schließt sich einer geheimen Gesellschaft von RepressalienUnterworfenen an, die in einem kollektiven halluzinogenen Traum eine Art Rache arrangieren. Aus einem Koffer mit der Aufschrift VENGEANS – 28, in dem die Nummer 28 einerseits an das Jahr 2028, die erzählte Gegenwart des Werkes – erinnert und andererseits an die Anzahl der Teilnehmer der Racheaktion, werden halluzinogene Pillen genommen und verteilt. Nach ihrer Einnahme verwandeln sich die Opfer des politischen Terrorregimes imaginativ in Werwölfe, die die Mitglieder der Zarenfamilie zerfleischen. Christine Engel geht auf die kulturgeschichtliche Verbindung zwischen Kannibalismus und der christlichen Hostie ein. Die Religion als eine der wichtigsten symbolischen Formen dient laut ihr dem Ausdruck und der Befriedigung ambivalenter Wünsche von Menschen. In sämtlichen christlichen Religionen, so Engel weiter, ist die Kreuzigung Christi, sein Opfer, ein grundlegendes Symbol. Die Kirche bietet auf diese Weise eine ritualisierte Form des Kannibalismus an, die »die formale Versöhnung zwischen Aggression und Zuneigung«232 ermöglicht. In der Hostie drückt sich der Akt des symbolischen Kannibalismus aus, indem Leib und Blut Christus symbolisch verzehrt werden.233 Weiter betrachtet Engel die Formen des Kannibalismus in den früheren Werken von Sorokin  – »Obelisk« und »Mesjac v Dachau«  – und vertritt die These, dass sich Sorokins kannibalistische Szenen auf eine ritualisierte Struktur der christlichen Sakramente orientieren und die Funktion haben, das Chaos zu demonstrieren, das hinter jedem rituellen Diskurs verborgen ist. »Das gemeinschaftsstiftende Moment der Kommunion wird dabei eher als Bedrohung denn als Segen gesehen.«234 Im Mittelpunkt steht dabei nicht die Sublimation des Kannibalismus, sondern das Rückbuchstabieren der Metapher.235 In der Erzählung »Underground« geht es um ein ähnliches 231 Vgl. Naumann: Russische Satire im 21. Jahrhundert als Zeitkommentar, 122. 232 Engel: Sorokins allesverschlingendes Unbewusstes: Inkorporation als kannibalischer Akt,147. 233 Vgl. ebd., 146 f. 234 Ebd., 147. 235 Vgl. ebd.

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Spiel mit den Metaphern, indem politisch Verfolgte in einer Drogentrance die monarchische Familie in Stücke zerreißen und auffressen. Auf viele Querverbindungen zwischen Kirche und Staat verweist Ernst Kantorowicz in Bezug auf die Herausbildung politischer Symbolik im Mittelalter. Der Begriff corpus mysticum fungierte dabei als eine der Quellen, das staatliche Wesen zu sakralisieren. Die Verbreitung der Metapher im politischen Denken verbindet Kantorowicz mit der Verlagerung des Begriffs corpus mysticum aus dem theologischen Sprachgebrauch in die politische Sphäre. Corpus mysticum, das sich in der christlichen Theologie im Mittelalter herausgebildet hat, prägte später die spätmittelalterlichen und die modernen Konzeptionen des staatlichen Wesens. Ursprünglich bezeichnete corpus mysticum nur die geweihte Hostie und nach 1150 wurde der Begriff übertragen, um die Kirche als die Organisation der Christenheit zu bezeichnen.236 Das corpus mysticum erwarb im Laufe der Zeit zunehmend politische Konnotationen und wurde mit der Kirche als einem politischen Körper assoziiert, wie Kantorowicz weiter ausführt. Der Begriff wurde politisiert und von Staatsmännern instrumentalisiert, um die Positionen des Staates zu stärken.237 Bei diesem Prozess wurden übernatürliche und transzendente Werte auf das Staatswesen und sein Haupt – den König  – übertragen.238 Verfolgt man die kulturgeschichtliche Entwicklung des Abendmahls sowie die semantischen Verschiebungen des Begriffs corpus mysticum, so lässt sich der doppelte Prozess der Re-Metaphorisierung im Sorokins Werk beobachten, der auf ein Schema zurückzuführen ist: Kannibalismus – Opfer – Hostie – Kirche – Staat – Herrscher. Gleichzeitig geht es in der Erzählung »Underground« um die Dekonstruktion der gemeinschaftsstiftenden Funktion des Zuckerkremls respektive der Racheaktion. Im kollektiven halluzinogenen Traum finden den Zaren die in Werwölfe verwandelten Menschen nicht. Auch im Traum entpuppt sich der simulative Charakter des staatlichen Wesens, indem der Herrscher schlechthin abwesend ist. Allerdings findet die Protagonistin den kleinen Zarenstammhalter und zerreißt ihn, ohne ihn mit ihnen zu teilen. Dies ruft Antipathien der übrigen Teilnehmer ihr gegenüber nach dem Ende der Rache hervor. – Ты последыша сожрала, – неодобрительно улыбнулся старик. […] – В следующий раз не жадничай, – посоветовал старик. – Делись. Торопило не твори. Ясно? Ариша кивнула, тяжело дыша. – Не токмо ты обижена.239 236 Vgl. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, 211. 237 Vgl. ebd., 218. 238 Vgl. ebd., 226. 239 Sorokin: Sacharnyj kreml’, 290.

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(»Du hast das Nesthäkchen gefressen«, sagte der Alte und grinste schief. […] »Sei das nächste Mal nicht so gierig«, mahnte der Alte. »Gib anderen was ab. Nur nichts überstürzen. Klar?« Arina nickte keuchend. »Nicht nur dir ist Leid geschehen.«240)

Dass die Protagonistin, die ihre »Beute« im Rauschzustand nicht teilt, nach dem Aufwachen unfreundlich angesehen wird, deutet auf ihre implizite Ausgrenzung seitens der anderen Teilnehmer hin. Somit geht die Bedeutung des Kannibalismus in dieser Erzählung über eine Racheaktion hinaus. Sorokin dreht die christliche Bedeutung der Eucharistie um, in der die Einheit der Menschen in Christus symbolisch durch das Ritual des Abendmahls bestätigt wird – den Verzehr von Brot und Wein, was den Leib und das Blut Jesu symbolisiert. Im Erzählband soll die symbolische Einheit der Menschen, die unter staatlichen Repressionen gelitten haben, buchstäblich durch den Verzehr von Mitgliedern der Zarenfamilie wiederhergestellt werden. Durch den Akt des symbolischen Kannibalismus sollen marginalisierte und verfolgte Menschen wieder eine metaphysische Verbindung untereinander und zur Gemeinschaft etablieren. Dennoch kann die Einheit sogar in einem halluzinogenen Traum nicht wiederhergestellt werden und erweist sich als ebenso illusorisch wie die Figur des Zuckerkremls in Bezug auf den politischen Körper des Zaren. Der Zuckerkreml, ein Simulakrum des politischen Körpers, kann das Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinschaft nicht ersetzen. Die Einheit der Gesellschaft bleibt somit fraglich. So ist der Zuckerkreml gleichzeitig eine Metapher der drohenden Spaltung des Staates.241 Im Erzählband »Sacharnyj kreml« wird der Zuckerkreml dem Leser gewöhnlich nie als das Ganze, sondern in zerstückelter Form vorgeführt.242 Die einzige Ausnahme ist ein Weihnachtsgeschenk für Kinder in der Erzählung »Marfušina radost’«. Im letzten Kapitel »Opala« (»Ungnade«) schießt der in Ungnade gefallene Adlige auf den Hauptprotagonisten des Romans »Den’ opičnika« und dann auf eine Zuckerkreml-Figur, von der einzelne Stücke abfallen. Die Zerteilung des Zuckerkremls ist in den vorherigen Kapiteln des Werkes mit der Absicht verbunden, ihn zu verzehren, was in Bezug auf die Gleichsetzung der Figur des Zaren mit dem Zuckerkreml beinahe eine sakrale Bedeutung aufweist. In der letzten Episode wird der Zuckerkreml infolge rachsüchtiger und gewalttätiger Handlungen eines Oppositionellen zerstört. Dies kann symbolisch als eine kommende Untergrabung der monarchischen Macht ge240 Sorokin: Der Zuckerkreml, 199. 241 Vgl. Andreeva / Bibergan: Igry i teksty Vladimira Sorokina, 322. 242 Vgl. Krier: Vladimir Sorokins ›Neues Russland‹ zwischen Zuckerkreml und Körperstrafen, 177.

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deutet werden, deren wirtschaftliche Existenz auf dem praktisch erschöpften Gasvorkommen basiert. Auf metaphorischer Ebene bildet die Zerstückelung des Zuckerkremls den Zerfall der Einheit des politischen und natürlichen Körper des Zaren ab, der im Roman »Den’ opričnika« angedeutet wird. Dem Zaren wird sein natürlicher Körper entzogen, sein Auftreten beschränkt sich auf visuelle Kopien seines Körpers. Dennoch hat er immer noch einen politischen Körper, die Fähigkeit zu regieren – allerdings unter Bedingungen kolonialer Abhängigkeit von China. In »Sacharnyj kreml’« verliert er ebenfalls seinen politischen Körper und bleibt ein Simulakrum mit ritualisierten Grußformen. Der Zuckerkreml verliert seine sakrale Bedeutung im Gegensatz zu dem in der Erzählung »Pis’mo« beschriebenen Gebäudekomplex. Zwar soll sich der Verzehr des Zuckerkremls in gewisser Weise gemeinschaftsstiftend243 auswirken. In der erzählten Wirklichkeit des Romans lässt die metaphysische Wirkung des Zuckerkremls im Vergleich zu dem in der Erzählung »Pis’mo« beschriebenen totalisierenden Effekt des weißen Kremls nach. Der Zuckerkreml verliert seine menschenverbindende Funktion und die Gesellschaft bleibt polarisiert sowie gespalten. Die abgebrochenen Teile des Zuckerkremls und die Auflösung der Einheit des politischen und natürlichen Körpers des Herrschers spiegeln die Prozesse der politischen Desintegration und der wirtschaftlichen Stagnation des Landes wider.

6.5 Figurationen des geographischen Raumes 6.5.1 Raum als Transit

Vladimir Sorokin bezieht sich auf die Mittlerrolle Russlands zwischen China und Europa und reflektiert die in den neo-eurasischen Texten formulierte Metapher der Brücke. Die Auseinandersetzung mit der geografischen Lage Russlands findet besonders in seinen Werken »Den’ opričnika« und »Sacharnyj kreml’« statt. Eine große Rolle spielt in diesem Kontext die Gestalt einer transkontinentalen Eisen- und Autobahn. Sie wird von dem Ich-Erzähler in »Den’ opričnika« als eine der wichtigsten Einrichtungen bestimmt. Дорога! Мощная эта вещь. Идет она из Гуанчжоу через Китай, ползет через Казахстан, через Южные Ворота в Южной Стене нашей, потом — через Россию-матушку и до самого Бреста. А там — прямиком до Парижа. Дорога 243 Vgl. Naumann: Russische Satire im 21. Jahrhundert als Zeitkommentar, 116 f.

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»Гуанчжоу — Париж«. С тех пор как все мировое производство всех главных вещей-товаров потихоньку в Китай Великий перетекло, построили эту Дорогу, связующую Европу с Китаем. Десятиполосная она, а под землею — четыре линии для скоростных поездов. Круглые сутки по Дороге ползут тяжелые трейлеры с товарами, свистят подземные поезда серебристые. Смотреть на это — загляденье.244 (Diese Trasse ist ein gewaltiges Ding! Sie nimmt in Guangzhou ihren Anfang, durchquert China, kriecht durch Kasachstan, stößt durch das Südtor in der Südmauer herein und zieht sich dann quer durch unser liebes Russland bis nach Brest. Und von dort geraden Weges nach Paris. »Guangzhou-Paris«, das ist schon was! Die Trasse wurde gebaut, nachdem sich die Produktion aller wichtigen Industriegüter mehr oder weniger komplett nach China verlagert hatte. Eine zehnspurige Autobahn plus vier unterirdische Schnellzuggleise. Rund um die Uhr brummen die Schwertransporter hier entlang, flitzen die Silberpfeile unter der Erde. Man kann sich kaum sattsehen daran.245)

Russland wird zu einer gigantischen Transitzone, die Guangzhou und Paris verbindet und eine der wichtigsten Haupteinkommensquellen in Russland ist. Auf den ersten Blick kann man diese Autobahn als Realisierung der eurasischen Visionen bezüglich der Brückefunktion Russlands zwischen Europa und Asien deuten. Von dem französischen Ethnologen und Anthropologen Marc Augé stammt die Unterscheidung in Orte und Nicht-Orte, die Anknüpfungspunkte für die Interpretation des Verhältnisses zwischen der Transitstraße und dem russischen Raum in Sorokins Werken anbieten. Laut Marc Augé ist ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet.246 In dieser Hinsicht ist ein Ort ein sinnkonstituierender und symbolischer Raum, dessen Bewohner über Erinnerungskultur verfügen und in Relationen zu dem Territorium und zueinander ihre Identität immer wieder bestätigen. Im Gegensatz zu einem Ort existiert ein Nicht-Ort, der »keine Identität besitzt und sich weder als relational noch historisch bezeichnen lässt.«247 Dazu werden »die für den beschleunigten Verkehr von Personen und Gütern erforderlichen Einrichtungen (Schnellstraßen, Autobahnkreuze, Flughäfen) ebenso wie die Verkehrsmittel selbst«248 gezählt. Wenn man an eine Transitzone denkt, sind dies Orte, die man einfach passiert, ohne sich hier aufzuhalten, sodass sich zu ihnen kein fester persönlicher Bezug entwickeln kann. Betrachtet man die Überlegungen 244 Sorokin: Den’ opričnika, 123. 245 Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 121. 246 Vgl. Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt am Main 1994, 92. 247 Ebd. 248 Ebd., 44.

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von Marc Augé, liegt der Schluss nahe, dass die von Sorokin beschriebene Straße Guangzhou‒Paris ein Nicht-Ort ist. Der implizierte Vergleich der Straße mit dem russischen Raum führt darauf zurück, dass die Hauptfunktion des Raums ganz auf die Transitzone reduziert ist. Die dem Raum zugeschriebene eurasische Identität wird in Sorokins Reflexionen negiert. Der Raum wird als ein kulturloser und geschichtsloser Nicht-Ort dargestellt. Auf einer anderen Ebene wird die Transitfunktion des russischen Raums unterminiert. Die Opritschniki halten chinesische Lkw auf, um Geld von den Fahrern zu erpressen.249 In dieser Szene wird Bewegung als ein wesentliches Merkmal des Transits unterbrochen.250 Die fahrenden Lkw werden im buchstäblichen Sinne auf der Straße aufgehalten. Der russische Raum verwandelt sich bei Sorokin in eine gigantische Transitzone, deren korrektes Funktio­ nieren von korrupten Beamten jedoch nicht gewährleistet werden kann. Auf diese Weise schließt Sorokins Auseinandersetzung mit dem russischen Raum eine doppelte Subversion ein: Einerseits ist die Transitstraße als eine Reaktion auf die neo-eurasischen Visionen über die verbindende Lage Russlands zwischen Europa und Asien zu betrachten, andererseits wird die Bedeutung des Transits auf narrativer Ebene unterminiert. Die materielle Dimension der Brückenmetaphorik drückt sich in einem Gas-Rohr aus. In »Den’ opričnika« ist die Gaslieferung ein wichtiges politisches Instrument in den geopolitischen Beziehungen zwischen Russland, China und Europa. »Русский Лазурный берег« голосом наглого охальника смеет критиковать государево распоряжение о суточном перекрытии Трубы №3, Сколько злобы накопили господа европейцы! Десятки лет сосали наш газ, не задумываясь о том, как непросто достается он нашему трудолюбивому народу. Экая новость: в Ницце опять холодно! Придется вам, господа, хотя бы пару раз в неделю есть холодное фуа-гра. Bon appetite! Китай-то поумнее вас оказался.251 (Auf »Côte d’Azur Russe« schließlich wagt es ein dreister Ohrenbläser, die jüngste Verfügung des Gossudaren über die vierundzwanzigstündige Schließung des Rohrs Nr. 3 zu kritisieren. Den Herren Europäern scheint die Galle schön überzulaufen! Dutzende von Jahren haben sie unser Gas abgezapft, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, mit wie viel Aufopferung es unser fleißiges Volk aus den Tiefen holt. In Nizza ist

249 Eine ähnliche Szene wiederholt sich im Film »Misen’«, als der Zolloffizier Nikolaj zwei chinesische Lkw konfisziert, weil sie nicht beim Zollamt versichert sind. Als die Chinesen die gesetzwidrig aufgehaltenen Lkw später zurückfordern, bringt Nikolaj sie um. 250 In »Mišen’« wird auch eine Szene der Jagd auf chinesische Migranten gezeigt. Russische Zolloffiziere rasen mit Motorrädern durch die Gegend und werfen Netze aus speziellen Waffen auf Menschen. 251 Sorokin: Sacharnyj kreml’, 97.

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es schon wieder kalt? Na, so was! Dann gibt’s eben paarmal die Woche kalte Küche, meine Herren! Foie gras! Bon appetit! Da sind sie in China, scheint’s, heller …252)

Im Erzählband »Sacharnyj kreml’« wird Gas zu einem Grund in der innenpolitischen Wende Russlands. In der letzten Novelle geht es darum, dass Russlands Gas von den Chinesen aufgebraucht worden ist und die Gasreserven in Russland aufgezehrt sind. Russland mit seiner Gaslieferungsfunktion hört auf, ein Bindeglied zwischen Europa und Asien zu sein. An die Werke »Den’ opričnika«, »Sacharnyj kreml’«, schließt sich, wie Dirk Uffelmann bemerkt, die Novelle »Metel’« (2010 »Der Schneesturm«) an. Die Zeit der erzählten Wirklichkeit der Werke – die 2030er-Jahre – sowie mehrere intertextuelle Verweise lassen diese Texte in einem zusammenhängenden Kontext betrachten.253 In der erzählten Wirklichkeit der Novelle benutzt man statt Autos wegen ausgegangener Erdölreserven Pferde als Transportmittel. Im Werk handelt es sich um einen gescheiterten Versuch des Arztes Platon Garin, den praktisch leblosen Raum während des Schneesturms zu überwinden und sein Ziel im Dorf Dolgoe zu erreichen. In Dolgoe herrscht eine aus Bolivien stammende Epidemie, die Menschen in Zombies verwandelt. Garin muss dringend einen Impfstoff zustellen, um sterbende Menschen zu retten. Garins Pferde sind erschöpft. An einer Station auf seinem Weg, an der Garin anhält, gibt es keine Ersatzpferde. Der Brotfahrer Perchuša erklärt sich bereit, dem Arzt zu helfen und ihn mit seinen Zwergpferden zu dem Epidemie-Ausbruchsort zu fahren. Auf dem Weg fällt das Fahrzeug ab und zu aus. Garin und Perchuša halten bei einem Müller an und verbringen dort eine Nacht. Am nächsten Tag, als sie die Reise fortsetzen, bedeckt Schnee die Straße. Sie halten bei »Vitamindery«254 (»Dopaminierer«)255 an. Aus ethnischer und linguistischer Sicht kombinieren sie Elemente der slawischen und asiatischen Welt und verkörpern auf diese Weise eine eurasische Gemeinschaft.256 Ihre Hauptbeschäftigung ist die Herstellung und der Verkauf von Pyramiden – einer neuen Art von Droge. Sorokin webt in die Erzählung eurasische Elemente ein. In der Verknüpfung der Themen Eurasismus und Drogen deuten sich Parallelen zwischen der Drogentrance und dem Einfluss staatlicher Ideologien an, die Sorokin in seinem nachfolgenden Werk »Tellurija« fortsetzen wird.

252 Sorokin: Der Zuckerkreml, 81. 253 Vgl. Uffelmann: Vladimir Sorokin’s discourses, 163. 254 Sorokin, Vladimir: Metel’. Moskva 2010, 143. 255 Sorokin, Vladimir: Der Schneesturm. Köln 2012, 98. 256 Vgl. Filimonova: Rossijskaja imperija, kitajskaja materija: imperskoje samosoznanije v proizvedenijach Vladimira Sorokina, 269.

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Im Austausch für medizinische Leistungen probiert Garin bei den Dopa­ minierern eine Droge. Danach machen sie sich wieder auf den Weg. In der eingetretenen Dunkelheit kommen die Pferde von der Straße ab. Garin versucht, zu Fuß zu gehen. Als er erkennt, dass er erfrieren könnte, kehrt er zu Perchuša mit den Pferden zurück. Am Ende lassen sich Garin und Perchuša unter der Plane des Wagens mit den Pferden für die Nacht nieder und bemühen sich verzweifelt, der Kälte zu entkommen. Am nächsten Morgen erfriert Perchuša. Garin wird von Chinesen mit riesigen Pferden gefunden und in einem Zug transportiert, da er seine Beine nicht mehr bewegen kann. Die Rettung erweist sich aber als eine metaphysische Verdammnis: …поняв, […] что в его жизни, в жизни Платона Ильича Гарина, теперь судя по всему, наступает нечто новое, нелегкое, а вероятнее всего – очень тяжкое, суровое, о чем он раньше и помыслить не мог.257 (… er begriff, dass […] in seinem, Platon Iljitsch Garins Leben nun allem Anschein nach etwas Neues begann, etwas, das gewiss nicht leicht, nein, das vermutlich sehr hart und schwierig werden würde, so wie er es sich früher nicht einmal vorzustellen vermochte …«258)

In Bezug auf das Verhältnis zwischen Raum und Zeit scheint die Welt der russischen Provinz aus der Geschichte zu fallen.259 Das Hauptmotiv der Novelle ist die Überwindung des gleichsam endlosen schneebedeckten Raums. Der Schneesturm ist untrennbar mit der Symbolik der weißen Farbe verbunden, die im Kontext des Werkes eine negative Konnotation annimmt. Weiß hat in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Leere, des weißen Blattes – frei von jeglichem Inhalt. In Bezug auf das Thema Schneesturm weist die Novelle von Vladimir Sorokin zahlreiche intertextuelle Verweise auf die russische klassische Literatur auf.260 Der Schneesturm in Sorokins Werk ist nicht nur ein wesentlicher Bestandteil der russischen Landschaft, sondern ein etabliertes literarisches Topos in der Thematisierung des russischen Raums, dem außer Unendlichkeit und Weite ebenfalls Unwetter – auch im übertragenen Sinne – inhärent ist. Der Schneesturm und die scheinbar unüberwindbare Entfernung von einem Dorf zum anderen verwandeln sich in ein einziges Ganzes – einen feindlichen Raum –, dem darüber hinaus die Merkmale eines Tieres zugeschrieben werden. Die Wörter »wild« und »heulen«261, die in der Beschreibung des Schnee257 Sorokin: Metel’, 301. 258 Sorokin: Der Zuckerkreml, 206. 259 Vgl. Uffelmann: Vladimir Sorokin’s discourses, 162. 260 Zu der Intertextualität des Werkes siehe Uffelmann: Vladimir Sorokin’s discourses, 151–164. 261 Sorokin: Der Zuckerkreml, 136, 166.

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sturms auftauchen, können als Beiworte für Wölfe benutzt werden, denen die Protagonisten auf ihrem Weg begegnen. Die Metapher, die Sorokin in seinem Werk durch den Protagonisten Garin zum Ausdruck bringt, wird durch die Wortverbindung »Lebensweg« ausgedrückt. Raum überwinden, heißt Hindernisse auf dem Lebensweg überwinden und eigene Ziele erreichen. »Преодоление преград, осознание пути, непреклонность… – думал он, с наслаждением отдаваясь красоте окружающего мира. – Каждый человек рождается, чтобы обрести свой жизненный путь.«262 (»Und während er sich der Schönheit des Panoramas genüsslich hingab, gingen ihm hehre Gedanken durch den Kopf. Schranken überwinden! Wissen, wohin man will! Standhaft sein … Ein jeder wird in diese Welt geboren, um seinen Lebensweg zu finden.«263)

Trotz des Schneesturms fährt Garin nach Dolgoe, um Menschen vor der Epidemie zu retten. Die Unmöglichkeit, den Raum zu überwinden, und »diese grenzenlose weiße Ödnis«264 machen Garins Weg unerfüllbar. Der Raum erweist sich für den Protagonisten sowohl im physischen als auch im metaphysischen Sinne als destruktiv. Er erreicht das Dorf nicht, seine Beine sind wegen der Eiseskälte beschädigt und sein Leben scheint auf ungeahnte Schwierigkeiten zu stoßen. In »Den’ opričnika« verwandelt sich der geografische Raum des Imperiums in eine gigantische Straße. Der Raum wird der besonderen kulturellen Identität beraubt, die der (Neo-)Eurasismus ihm zuschreibt. Die Dekonstruktion der neo-eurasischen Metapher der Brücke wird von Sorokin durch eine affirmative Subversion in der gigantischen Hochgeschwindigkeitsstraße ausgedrückt, die durch Russland führt und Europa sowie China verbindet. Der Verkehr als Hauptmerkmal dieser Straße ist bedroht. In »Metel’« wird die Fahrt der Protagonisten unterbrochen. Ein leerer schneebedeckter Raum ohne irgendwelche Orientierungszeichen dominiert ihre Reise, zerstört die Straße und untergräbt die Lebensmission des Arztes Garin.

262 Sorokin: Metel’, 215. 263 Sorokin: Der Schneesturm, 145 f. 264 Ebd.,181.

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6.5.2 Tiermetaphorik

In Bezug auf die in der Körpermetapher enthaltene Konnotation der organischen Ganzheit265 entwickelt Vladimir Sorokin die Problematik des russischen Raums in »Sacharnyj kreml’«. Anstelle des menschlichen Körpers tritt jedoch die Metapher einer Kuh. Mit diesem Vergleich hängt auch die Entwertung des russischen Raums zusammen, die sich auf der erzählerischen Ebene weiter entfaltet. Sorokin beschreibt die Zerlegung einer Kuh. Während eines magischen Rituals werden die Umrisse des geografischen Raums Russlands auf die Kuh übertragen. Das Tier wird zerlegt und die Einzelteile in die Peripherien Russlands transportiert. Коровья задняя часть была свезена на Дальний восток, сварена и скормлена японским переселенцам, пашину и подбрюшье доставили в Барнаул, налепили из них пельменей и скормили китайцам, из грудинки сварили борщ и в Белгороде накормили им восемнадцать хохлов-челноков, в Рославле, белорусским батракам навертели котлет из коровьих передних ног, а из головы сварили холодец, которым, неподалеку от Пскова накормили трех эстонских старух. Все шестеро сектантов были арестованы, допрошены, все признались, назвали сообщников и пособников, но в деле, тем не менее, осталось темное место: коровий потрох. В магическом ритуале по «расчленению» России он играл важную роль.266 (Die Keulen zum Beispiel wurden in den Fernen Osten verbracht, daselbst gesotten und Umsiedlern aus Japan zu essen gegeben, die Bauchlappen nach Barnaul geliefert, zu Pelmeni verknetet und den Chinesen kredenzt, die Brust kam an eine Borschtschsuppe und auf die Teller von achtzehn kleinrussischen Kleinhändlern in Belgorod, weißrussischen Tagelöhnern in Roslawl wurden Klopse aus dem Fleisch der Vorderhaxen gerollt, und der Kopf ward zu Sülze gekocht, die aßen drei estnische Mütterlein unweit von Pskow. Die sechs Sektenmitglieder hatte man festgesetzt und verhört, sie waren geständig, nannten Verbindungsmänner und Helfershelfer, doch an der Sache blieb ein dunkler Fleck: das Gekröse. Es hatte beim magischen Ritual von Russlands »Zerlegung« eine wichtige Rolle gespielt.267)

Bei dieser Aktion werden die Teile der Kuh mit den Randgebieten Russlands assoziiert. Dabei bezieht sich das Ritual auf den in »Den’ opričnika« beschrie265 Als ein Bindeglied zwischen den Körper- und Raummetaphern von politischen Gebilden fungieren in der europäischen Tradition Abbildungen in Form von Tieren. Die Metaphorik tritt unter anderem bei Amputationen oder Verletzungen der territorialen Ganzheit zutage. (Vgl. Guldin: Politische Landschaften. Zum Verhältnis von Raum und nationaler Identität, 262.) 266 Sorokin: Sacharnyj kreml’, 97 f. 267 Sorokin: Der Zuckerkreml, 66.

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benen Fall der Verschwörung zwischen der Auswärtigen Kanzlei und der Duma, der »unter der Überschrift ›Filetieren und verkaufen‹ in die Annalen Russlands eingegangen ist.«268 Составляют они на даче министра страшный договор о разделе России. ПРЕДСЕДАТЕЛЬ ДУМЫ: Ну, власть мы возьмем. Ну, а с Россией что делать, Сергей Иванович? МИНИСТР: Распилить и продать. ПРЕДСЕДАТЕЛЬ: Кому? МИНИСТР: Восток — японцам, Сибирь — китайцам, Краснодарский край — хохлам, Алтай — казахам, Псковскую область — эстонцам, Новгородскую — белорусам. А уж середку — себе оставим.269 (Sie hocken auf der Ministerdatscha und schmieden den furchtbaren Komplott zu Russlands Teilung. DUMA-VORSITZENDER : Gesetzt den Fall, wir reißen die Macht an uns. Was fangen wir mit Russland an, Sergej Iwanowitsch? MINISTER : Filetieren und verkaufen. VORSITZENDER : An wen? MINISTER : Den Osten an die Japaner, Sibirien an die Chinesen, den Kreis Krasnodar an die Ukrainer, den Altai an die Kasachen, das Gebiet Pskow an die Esten, Nowgorod an die Weißrussen und das Mittelstück behalten wir.270)

Während Titarenko den russischen Raum als einen lebendigen Organismus und ein Subjekt in den Interaktionen mit anderen Zivilisationen betrachtet, wird Russland in Sorokins »Sacharnyj kreml’« mit der Kuh verglichen. Das Symbol der Kuh taucht bereits in der russischen Konzeptkunst der 1990erJahre auf. Unter Bezug auf die im Jahr 1994 durchgeführte Aktion von Oleg Kulik und Vladimir Sorokin sowie das herausgegebene Buch »V glub’ Rossii« (1994 »Ins Innere Russlands«) weist Mark Lipoveckij darauf hin, dass die Kuh ein tradiertes Symbol Russlands ist, das intertextuelle Bezüge mit dem von Viktor Pelevin erwähnten Märchen »Krošečka-Havrošečka«271 (dt. etwa: »Die 268 Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 114. 269 Sorokin: Den’ opričnika, 116 f. 270 Sorokin: Der Tag des Opritschniks, 115. 271 In »Svjaščennaja kniga oborotnja« von Viktor Pelevin (2004 »Das heilige Buch der Werwölfe«) verwandelt sich ein General des FSB in einen Werwolf und bittet in einem Ritual einen Kuhschädel um Erdöl. Die Kuh ist eine Andeutung auf ein russisches Märchen »Krošečka-Havrošečka«. Im Märchen ist die Kuh eine Zauberin, die dem Waisenmädchen namens Krošečka-Havrošečka hilft. Bei Pelevin ist aber die Kuh eine Allegorie auf Russland, dessen Ressourcen Oligarchen und korrupte Machstrukturen »ausmelken«, während das Waisenmädchen, eine Personifikation des russischen Volkes, im Gegensatz zu dem Märchen kaum etwas bekommt. Während die Kuh im russischen Märchen ein denkendes und handelndes Subjekt ist und dem Mädchen helfen will, verwandelt sich

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kleine Havrošečka«), einer russischen Variante des Aschenputtels, aufweist.272 Einen Anlass für diese Aktion gab ein anderes Projekt der Konzeptualisten, als sie 1991 ein animalistisches Festival für die Metaphorisierung politischer Prozesse durchführten. Bei dem Projekt schlachtete man ein Ferkel als Andeutung auf die Teilhabe der Menschen an Gewaltvorgängen, die aber als solche nicht wahrgenommen oder sogar ignoriert werden, wie es bei den stalinistischen Repressionen der Fall war, wie Dmitrij Bavil’skij in seinem Interview erzählt. Der von den Massenmedien zugeschriebene Symbolismus der Aktion, der quasi auf die Parallelisierung zwischen der Schlachtung des Schweins und Russland abzielte, diente einer weiteren Entwicklung der tierischen Metaphorik in der Konzeptkunst.273 Die Kuh impliziert als allegorische Darstellung des russischen Raums, dass die Subjektzüge, die dem Raum von Titarenko und Krusanov zugeschrieben werden, ihm in Sorokins Erzählung entzogen werden. Der Raum ist zwar ein Lebewesen, dem aber eigener Willen und Verstand aberkannt wird. Vielmehr wird der Raum zum Objekt der Politik. Die »Russland-Kuh« wird getötet und zergliedert. Damit wird die Problematik der Ganzheit des Raums angesprochen. Auf diese Weise setzt sich Sorokin mit den Prognosen über den Zerfall Russlands auseinander, die anknüpfend an die Auflösung der Sowjetunion in den Massenmedien diskutiert werden, und zugleich reflektiert er die Politik, die in den Kategorien des Raums operiert. In diesem Zusammenhang verzeichnet Sorokin die Bedeutung des Raums für die russische identitätspolitische Selbstbestimmung: Schließlich werden die Sektenmitglieder verhaftet. Gleichzeitig wird die sakrale Bedeutung, die im Eurasismus hervorgehoben wird, dem Raum durch den Vergleich mit der Kuh genommen. Indem die Kuh mit einer auf ihr gemalten geografischen Karte Russlands in einem magischen Ritual zergliedert wird, wird der Raum wieder mit einem Sinn versehen. In dieser Hinsicht erfolgt die Sakralisierung des russischen Raums durch seine Zergliederung. Seine Größe und Ganzheit werden als grundlegende identitätspolitische Kategorien infrage gestellt.

bei Pelevin die Kuh in ein rechtloses Tier, das nur von den oligarchischen und korrupten Machtstrukturen ausgenutzt wird. (Vgl. Pelevin, Viktor: Svjaščennaja kniga oborotnja. Moskva 2004, 248–254.) 272 Vgl. Lipoveckij: Paralogii. Transformacii (post)modernistskogo diskursa v russkoj kul’ture 1920–2000-ch godov, 652. 273 Vgl. Bavil’skij, Dmitrij: Dialogi s Olegom Kulikom #7. Životnoje. Brat’ja. In: Topos. Literaturno-filosofskij žurnal, 22.09.2002, URL : http://www.topos.ru/article/530 (am 11.07.2016).

»Tellurija« (2013): Transformation von Räumen und Gemeinschaften 

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6.6 »Tellurija« (2013): Transformation von Räumen und Gemeinschaften 6.6.1 Verwandlung von Zeit in Raum Raumdesintegration

In »Tellurija« (2013) setzt Sorokin die Idee des Zerfalls von Russland um, die in »Den’ opričnika« und »Sacharnyj kreml’« angedeutet wurde. Mitte des 21. Jahrhunderts hörte Russland als einheitlicher Staat auf zu existieren und an seiner Stelle entstanden fünfzehn (»polutora desjatkov novych stran«274) unabhängige Staaten. Die Zahl fünfzehn kann in diesem Fall als eine Anspielung auf fünfzehn Sowjetrepubliken interpretiert werden.275 Dennoch ist das Prinzip der Teilung in Sorokins Werk nicht nur die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe oder Nationalität, wie dies in der Sowjetunion der Fall war. Jedoch werden nur zwölf der fünfzehn entstandenen Staaten auf dem Territorium des ehemaligen Russlands mit einem Namen und einer bestimmten Charakterisierung ausgezeichnet. Bei den meisten Ländern ist das staatsbildende Prinzip die territoriale Zugehörigkeit (die Republik von Bajkal, Moskovija, die Fernöstliche Republik, die Republik von Brjansk, das Fürstentum von Rjasan’, die Demokratische Republik von Ural, Barabin – von dem Namen der Barabasteppe im südlichen Teil Westsibiriens). Das Prinzip der politisch-religiösen Vereinigung liegt der SSSR  – Stalinistische Sowjetische Sozialistische Republik – zugrunde. Lediglich Tartarija und das Fürstentum von Baschkirija können den Staaten, die auf dem ethnisch-nationalen Prinzip basieren, hinzugerechnet werden. Ein rein fiktionaler Staat, der keine Parallelen mit den tatsächlich existierenden Ländern aufweist, ist die Demokratische Republik Tellurija, die sich im Altai-Gebirge befindet. Wie Dirk Uffelmann bemerkt, ist der Name der Republik, die sich im Titel des Romans wiederfindet, auf das Konzept von Aleksandr Dugin im Kontext der Gegenüberstellung der See-(Tallasokra-

274 Sorokin, Vladimir: Tellurija. Moskva 2020, 387 f. 275 Die Zahl der Sowjetrepubliken lag zwischen vier und sechzehn während der Existenz der Sowjetunion. Zum Zeitpunkt der Gründung bestand die UdSSR aus vier Republiken, zum August 1940 aus sechzehn Republiken. 1956 wurde der Karolo-Finnischen Sozialistischen Sowjetrepublik der Status einer autonomen Republik innerhalb der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik RSFSR zugeteilt. Seit der Zeit bestand die administrative Teilung der Sowjetunion aus fünfzehn Republiken bis zu ihrem Zusammenbruch im Jahre 1991.

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tie) und Landmächte (Tellurokratie) zurückzuführen.276 Die Demokratische Republik Tellurija wurde 2028 in der erzählten Zeit des Romans gegründet. Neben vielen anderen Staaten entstand Tellurija auf den Ruinen des zerfallenen Imperiums – des in »Den’ opričnika« und »Sacharnyj kreml’« beschriebenen Staates. Im letzten Werk steht dieses Jahr im Zeichen einer beginnenden politischen und ökonomischen Krise, die durch die Erschöpfung der Gasreserven verursacht wurde. Vor der Entstehung der Republik Tellurija wurde im Jahre 2022 (vor der erzählten Zeit des Romans) einer der Zoroastrier-Tempel gefunden, der im 4. Jahrhundert vor Christus auf einer Tellurium-Lagerstätte gegründet worden war.277 Aleksandr Dugin geht davon aus, dass die alte iranische Religion der Zoroastrier großen Einfluss auf die eurasische Kultur der Nomadenvölker hatte. Das dieser Religion zugrunde liegende dualistische Modell der Sakralität, das sowohl die negative, böse als auch die positive, gute Seite vereint, beeinflusste in Dugins Auslegung die geografischen und politischen Ansichten der Iraner, die in der Wahrnehmung anderer Länder in den Kategorien des Lichts und der Dunkelheit resultierten.278 Darüber hinaus finden intertextuelle Verweise – Parodien, scheinbare Affirmationen  – auf den (neo-)eurasischen Diskurs und die zeitgenössische russische Politik vielfältige Verkörperung im Roman »Tellurija«. Wie Dirk Uffelmann anmerkt, ist Kapitel XXIII besonders von derartigen Elementen geprägt, die mit dem retrofuturistischen Diskurs des Eurasismus zusammenhängen. So kommt der Name des Präsidenten von »Tellurija« Jean-François Trocart dem belgischen rechten Denker Jean-François Thiriart sehr nahe, der die Formel von einem »Europa von Brest nach Vladivostok« vorgeschlagen hat, die Dugin in seinen Arbeiten zitiert.279 Darüber hinaus findet sich im Roman der Ausdruck »Put’ na vostok« (»Der Weg nach Osten«), der auf das eurasische Manifest von Pëtr Savickij »Ischod k Vostoku« (»Exodus nach Osten«) Bezug nimmt.280 Ferner bezieht sich das politische Schlagwort »Mir i sila v edinstve«281 (»Die Welt und die Stärke in Einheit«), das auf dem Wappen von Tellurija geprägt ist, direkt auf die pro-präsidiale russische Partei »Edinaja Rossija« (»Einiges Russland«). Gleichzeitig verweist es auf die Grundidee des (Neo-)Eurasismus – die politische und kulturelle Einheit Eurasiens. Die in Sorokins Roman beschriebene postimperiale Welt fungiert als Gegenbeispiel zum Modell eines einheitlichen Staates, der in der (neo-)eurasischen 276 Vgl. Uffelmann, Dirk: Eurasia in the Retrofuture: Alexandr Dugin’s »tellurokratia«, Vladimir Sorokin’s »Telluria«, and the Benefits of Literary Analysis for Political Theory. In: Die Welt der Slaven 62/2 (2017), 360–384, hier 361. 277 Vgl. Sorokin: Tellurija, 228 278 Vgl. Dugin: Filosofija politiki, 203. 279 Vgl. Uffelmann: Eurasia in the Retrofuture, 378. 280 Vgl. ebd., 377. 281 Sorokin: Tellurija, 284.

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Ideologie als Voraussetzung für die Erhaltung der kulturellen und ethnischen Vielfalt dient. Anstelle eines riesigen Imperiums sind mehrere Länder entstanden, die sich in Kultur, Sprache und Regierungsform stark voneinander unterscheiden. Die Erhaltung der sprachlichen und ethnischen Vielfalt im Roman wurde erst mit dem Zusammenbruch des Landes in mehrere Staaten möglich, die ihre Kulturpolitik unabhängig bestimmen können. Wenn die Menschen in »Den’ opričnika« und »Sacharnyj kreml’« archaisiertes Russisch mit einer Beimischung von Chinesisch sprechen, kommt in der Romanwelt von »Tellurija« auch Altaisch und Kasachisch vor. Die Idee der Auflösung des einheitlichen staatlichen Raums spiegelt sich auf ästhetischer Ebene wider – der Roman besteht aus fünfzig separaten Kapiteln, die in verschiedenen Stilen geschrieben sind. Für jedes Kapitel erfindet Sorokin seine eigene Sprache, wobei er manchmal bereits existente Stile imitiert – von der Sprache eines russischen Volksmärchens bis zur Sprache der modernen Intelligenz, Bürokratie, Boheme etc. – und manchmal eine neue Sprache erfindet.282 Ein Gesamteffekt dieser stilistischen Polyphonie besteht darin, dass es schwierig ist, eine einzelne Botschaft oder Ideologie im Werk zu verfolgen.283 In jedem Kapitel findet sich der Leser in einem neuen – territorialen, kulturellen und sprachlichen – Raum wieder. Das einzige Verbindungselement ist Tellurium. Dies ist ein seltenes Element, das zu den Metalloiden gehört und in der realen Welt tatsächlich existiert (im Gegensatz zu der fantastischen Substanz des himmelblauen Specks). In der fiktiven Welt des Romans ist ein Tellurnagel eine Art Droge, mit deren Hilfe Protagonisten in eine psychedelische Trance versinken. Gleichwohl geht die Rolle des Tellurnagels im Roman viel weiter und beeinflusst nicht nur die inhaltliche Seite des Werkes, sondern auch dessen metadiskursive Dimension. Die Bedeutung des Tellurnagels im Roman erstreckt sich auf mehrere Ebenen, die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen. Auf der ersten oberflächlichen Ebene verdrängt der Tellurnagel die Wirkung staatlicher Ideologien, was Sorokin durch die Aussagen seiner Figuren thematisiert. In Kapitel XXII bereiten zwei anthropomorphische Wesen  – Menschen mit Hundekopf  – an der Grenze zwischen Tartarija und dem Fürstentum von Baschkirija eine Suppe aus dem Kopf eines im Krieg gegen »wachhabitische Barbaren« gefallenen Ritters zu. Im Kopf des Ritters findet sich ein Tellurnagel, der einem von ihnen in die Zunge sticht. Auf die meta282 Vgl. Latynina, Alla: Crazy guilt Vladimira Sorokina. Loskutnoe odejalo »Tellurii« sšito masterom po unikal’noj technologii. Povtorit’ nevozmožno. In: Novyj mir 3 (2014), 182–189, hier 184. 283 Vgl. Lipovetsky, Mark: The New ›Norma‹: Vladimir Sorokin’s Telluria and Post-Utopian Science Fiction. In: Suslov, Mikhail / Bodin, Per-Arne (Hg.): The Post-Soviet Politics of Utopia. Language, Fiction and Fantasy in Modern Russia, London, New York 2019, 301–314, hier 305.

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phorische Bedeutung des Tellurnagels als einer Ideologie verweist Foma – einer der Anthropomorphen: И печальный парадокс в том, что этим варварам не пришлось забивать себе в головы ничего металлического, чтобы стать героями, ибо головы их с детства были забиты героическими идеями. А вот противоборствующая сторона не смогла обойтись без гвоздей. Поэтому она и проиграла.284 (Und das traurige Paradox ist, dass diese Barbaren sich kein Metall in den Kopf jagen mussten, um Helden zu werden, denn ihre Köpfe wurden von klein auf mit heroischen Idealen vollgestopft. Für ihre Gegner aber waren die Nägel unverzichtbar. Eben deshalb haben sie verloren.285)

Das Einhämmern von Nägeln wird direkt mit der Implementierung einer bestimmten Ideologie verglichen. Die für Sorokin charakteristische Materialisierung sprachlicher Metaphern ist hier mit dem Ausdruck »zasest’ gvozdem v golove« (»wie ein Nagel im Kopf steckenbleiben«) verbunden: Über eine Idee, die ständig im Kopf eines Menschen präsent ist. Neben der Bezeichnung »Tellurnagel« wird im Roman häufig der Name »Tellurkeil« genannt. Das Wort »Keil« führt auf den Ausdruck »klin klinov vyšibajut« (»ein Keil treibt den anderen«) zurück. Die Redewendung taucht im X. Kapitel des Werkes in Bezug auf eine andere Droge auf, die einer der Protagonisten statt Tellurkeil nehmen will.286 In der russischen Sprache bedeutet der Ausdruck die Veränderung eines Zustands durch dieselben Mittel, die diesen verursacht haben. Durch die semantische Kette »Tellur«, »Ideale«, »Keil« erscheint der Tellurnagel in Sorokins Roman als Ersatz für eine einheitliche staatliche Ideologie auf postimperialem eurasischem Raum. Dennoch können die Tellurnägel nicht mit der überwältigenden Macht eines ideologischen Diskurses verglichen werden, der zum Beispiel in der Erzählung »Pis’mo« aus dem Werk »Sacharnyj kreml’« beschrieben wurde. Die Wirkung von Tellur verursacht eine Vielzahl von Effekten, die in direktem Zusammenhang mit dem subjektiven Bewusstsein des Individuums und seinem kreativen Potenzial stehen und nicht mit überindividuellen Konzepten.287 Die Tellurnägel können das Gedächtnis aktivieren und übernatürliche Fähigkeiten wecken. Unter dem Einfluss eines Tellurnagels kann sich die Großmutter der Protagonisten in den Kapiteln XXXIX–XLI erinnern, wo sich die Skulptur von »drei Großen Glatzen«288 befindet, die das Imperium zerstört haben. In einer 284 Sorokin: Tellurija, 189. 285 Sorokin, Vladimir: Telluria. Köln 2015, 190. 286 Vgl. Sorokin: Tellurija, 81 287 Vgl. Lipovetsky: The New ›Norma‹: Vladimir Sorokin’s Telluria and Post-Utopian Science Fiction, 308. 288 Sorokin: Telluria, 344.

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anderen Erzählung hilft ein alter Mann mit einem in den Kopf gehämmerten Tellurnagel dem Mädchen Varja, die gestohlene Umniza – eine Art künstlichen Intellekts – zu finden. Tellur fungiert als Ersatz für eine nationale Idee oder Ideologie, die alle Länder auf dem Territorium des eurasischen Raums vereint. Seine Kraft liegt jedoch im Spannungsverhältnis zwischen der narkotischen Trance und der individuellen Selbstverwirklichung. Der Mensch ist frei in der postimperialen Welt von der Wirkung totalitärer Ideologien (mit einigen Ausnahmen). Diese Freiheit ist jedoch nicht absolut. Sie begrenzt sich auf Träume und Illusionen, die die neue Droge Tellurnägel einem Menschen liefern kann. Der Name Tellur stammt vom lateinischen Wort tellus, tellura (Erde), der auch der Name der alten römischen Gottheit der Mutter Erde ist, worauf Alla Latynina hinweist. Die Ambivalenz dieser Gottheit drückt sich in der Kombination zweier entgegengesetzter Prinzipien – der Personifizierung der Erdfruchtbarkeit einerseits und der Gottheit des Todes andererseits ‒ aus, da die Erde ebenfalls als die Grabstätte der Toten dient.289 In dieser indirekten Anspielung befasst sich der Schriftsteller mit dem Kultus der Erde und allgemeiner des Raums, der sich dennoch von dem etablierten im (Neo-)Eurasismus unterscheidet. In der erzählten Wirklichkeit des Romans wird Zeit im buchstäblichen Sinne in Raum verwandelt. Die Staaten tragen in der fiktionalen Welt die Merkmale einer oder mehrerer vergangener Epochen. Selbst die Namen der meisten erinnern an bestimmte damals existente staatliche Gebilde. Moskovija (Moskowien) war eine politisch-geografische Bezeichnung des Russischen Staates, die vorwiegend in Westeuropa vom 15. bis Anfang des 18. Jahrhunderts inoffiziell verwendet wurde. Das Fürstentum von Rjasan war ein mittelalterlicher russischer Feudalstaat, der vom 12. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts bestand hatte. Tartarija (Tartarei) war eine geografische Bezeichnung in der westeuropäischen Literatur für eine Großregion vom Kaspischen Meer bis zum Pazifik und bis zu den Grenzen von China und Indien. Die Fernöstliche Republik war eine sozialistische Sowjetrepublik, die im russischen Fernosten und im Transbajkal von 1920 bis 1922 existierte. In gewissem Sinne kann jeder Staat als eine Rekonstruktion einer bestimmten historischen Zeit betrachtet werden. Zwar beschreibt Sorokin die postimperiale Zukunft Russlands. Die Staaten auf diesem Gebiet verweisen jedoch auf vergangene kulturell-politische Entwicklungsmodelle. Im Folgenden wird darauf eingegangen, welche Zeitvorstellungen dem Werk von Sorokin zugrunde liegen und wie sie aktualisiert werden.

289 Vgl. Latynina: Crazy guilt Vladimira Sorokina, 188.

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Zeitvorstellungen

In der literaturwissenschaftlichen Rezeption wird der Roman unter anderem in Anlehnung an ein Werk von Berdjaev als das neue Mittelalter interpretiert.290 Berdjaevs Werk wurde 1924 unter dem Eindruck einer zerfallenden symbolischen Ordnung aufgrund des Ersten Weltkrieges und der Revolution verfasst. Er prophezeite den bevorstehenden Beginn einer neuen Ära, die dem Mittelalter ähnlich sei, sich jedoch im Entwicklungsgrad des menschlichen Geistes erheblich von ihm unterscheiden sollte: Новым средневекоьем я называю ритмическую смену эпох, переход от рационализма новой истории к иррационализму или сверхнационализму средневекового типа.291 (Das Anbrechen des neuen Mittelalters nenne ich den rhythmischen Wandel der Epochen, den Übergang vom neugeschichtlichen Rationalismus oder Überrationalismus des Mittelalters.292)

Mark Lipoveckij sieht erstaunliche Ähnlichkeit zwischen Sorokin und B ­ erdjaev im Konzept der sakralen, materiellen Verkörperung, die bei Sorokin der Tellurnagel ist.293 In der Beschreibung der Mechanismen der neuen mittelalterlichen Gesellschaft folgt Sorokin Berdjaev in dem Sinne, dass Sorokin die Rolle einer professionellen Bruderschaft betont, die Nationen und Nationalismus entgegengesetzt wird, wie Lipoveckij konstatiert. Im Roman ist die professionelle Bruderschaft eine Quelle ethischer und kultureller Normen.294 Dirk Uffelmann betrachtet »Tellurija« als einen retrofuturistischen und metadiskursiven Roman in Bezug auf Dugins Geopolitik, der ermöglicht, das eurasische Chronotop als retrofuturistisch zu definieren.295 Die Definition des Retrofuturismus »umfasst die Wiederaneignung von Vorstellungen über die Zukunft aus vergangenen Epochen der Menschheitsgeschichte«296. Zu den 290 Vgl Lipovetsky: The New ›Norma‹: Vladimir Sorokin’s Telluria and Post-Utopian Science Fiction, 306; vgl. Filimonova: Vladimir Sorokin’s Telluria, 103; vgl. L’vovskij, Stanislav: Tret’ja psichodeličeskaja Vladimira Sorokina, ili »Tellurija«: pjat’desjat glav i tom, čego byt’ ne možet. In: Dobrenko, Evgenij / Kalinin, Il’ja / Lipoveckij, Mark (Hg.): »Eto prosto bukvy na bumage…« Vladimir Sorokin: posle literatury. Moskva 2018, 589–633, hier 595. 291 Berdjaev, Nikolaj: Novoe srednevekov’e. Razmyšlenie o sud’bĕ Rossii i Evropy. Berlin 1924, 13. 292 Berdjaev, Nikolaj: Das neue Mittelalter. Betrachtungen über das Schicksal Russlands und Europas. Tübingen 1950, 22. 293 Vgl. Lipovetsky: The New ›Norma‹: Vladimir Sorokin’s Telluria and Post-Utopian Science Fiction, 307. 294 Vgl. ebd. 295 Vgl. Uffelmann: Eurasia in the Retrofuture, 361. 296 Uffelmann: Eurasien im Retrofutur, 49.

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weiteren Merkmalen gehört eine hybridisierte Temporalität, die Vergangenheit und Zukunft verwischt.297 Sorokins Werk kann laut Uffelmann unter dem Prisma des Retrofuturismus betrachtet werden, da »sowohl der Bezug auf technische Visionen des 20. Jahrhunderts als auch ein Mix von gegenwärtigen Futurologien und Vormoderne«298 gegeben sind. In Sorokins »Tellurija« sind in beinahe allen Kapiteln retrofuturistische Elemente vorhanden.299 Eine metadiskursive Lektüre des Romans zeigt, dass Retrofuturismus als generatives zeitliches Paradox fungiert, so Uffelmann. Liest man den Roman durch eine metadiskursive Brille, lässt sich feststellen, dass der Autor etwas über den Diskurs des Neo-Eurasismus erzählt, auf den er sich intertextuell bezieht, nämlich, dass dieser Diskurs an sich retrofuturistisch ist.300 Die metadiskursive Dimension von »Tellurija« ermöglicht eine diskursreferenzielle Lesart des Romans – »Lektüre, die den Roman in Referenz zu Dugins Tellurokratie-Diskurs und den dafür konstitutiven Retrofuturismus liest.«301 Dugins Rückkehr zu traditionellen archaischen Werten ist eines der neoeurasischen Grundkonzepte. Wie Dirk Uffelmann anmerkt, läuft das Verhältnis von Raum und Zeit in Dugins Schriften oft auf den Appell »Zeit als destruktives Merkmal der Realität abschaffen«302 hinaus.303 Eine Rückkehr zur Vormoderne und zu Traditionalismus basiert bei Dugin auf der nichtlinearen Logik des Retrofuturismus.304 Diese Besonderheit – Zeit als Kategorie der Geschichte und Kategorie zur Bewertung der Entwicklungsstufe einer bestimmten Kultur zu verweigern – zeichnet sowohl den klassischen Eurasismus als auch die zeitgenössische neo-eurasische Bewegung aus. Eine scheinbare Bestätigung dieser Konstellation ist in Kapitel XLVII zu finden, in dem eine Art von Freiheitshymne von einer Ich-Erzählerin wiedergegeben wird. Unter dem Einfluss eines Tellurnagels verwandelt sie sich in eine Reiterin auf einer weißen Stute, die durch die Steppe eilt und die Menschen umbringt, die sie verfolgen. Die Steppe ist in dieser Hinsicht klarer Hinweis auf die tatarisch-mongolische mittelalterliche Herrschaft über Russland, die nach Ansicht der Eurasier die Quelle der russischen Staatlichkeit war. Am Ende des Kapitels werden die Worte der Reiterin angeführt, die den Ansichten der Eurasier über den Vorrang des Raums über die Zeit sehr nahe stehen:

297 Vgl. ebd. 298 Ebd. 299 Vgl. Uffelmann: Eurasia in the Retrofuture, 374. 300 Vgl. ebd., 380. 301 Uffelmann: Eurasien im Retrofutur, 62. 302 Dugin: Četvertaja političeskaja teorija, 94. 303 Vgl. Uffelmann: Eurasia in the Retrofuture, 367. 304 Vgl. ebd., 368.

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Умерло время в сердце моем. Есть лишь пространство и жажда желаний. Я счастлива вечно.305 (Es starb die Zeit in meinem Herzen. Nur der Raum ist da und die Begier der Wünsche. Ich bin ewig glücklich.306)

Mithilfe von Tellurnägeln, wie in Kapitel XLIX beschrieben wird, ist es möglich, Zeit und Raum zu überwinden: »Теллур, чье имя – Преодоление Времени и Пространства!«307 (»Tellur, dessen Name ist die Überwindung von Zeit und Raum!«308) Die spezifische narkotische Wirkung von Tellur wird betont: die Fähigkeit eines Menschen, in seinen Illusionen an einem beliebigen Ort und zu beliebiger Zeit zu erscheinen. Indirekt wird angedeutet, dass es mithilfe von Tellurnägeln möglich ist, Zeit als Kategorie sozialer, politischer und wirtschaftlicher Entwicklung zu überwinden. Die Menschheit hat die Kata­ strophen früherer Epochen überwunden und verharrt in ihrer soziokulturellen Entwicklung. Die Zukunft wird nicht mit der Umsetzung utopischer Projekte universellen Glücks verbunden. In Kapitel XXVIII bemerkt Ivan Il’ič, einer der Zimmermänner – die sogenannten Fachleute im Einhämmern der Nägel –, in Bezug auf die eingetretene postapokalyptische Epoche: Взгляните на наш евроазиатский континент: после краха идеологических, геополитических и технологических утопий он погрузился наконец в благословленное просвещенное средневековье. […] Человек вернул себе веру в трансцендентальное. Вернул чувство времени. Мы больше никуда не торопимся.309 (Betrachtet doch nur unseren euroasiatischen Kontinent: nach dem Zusammenbruch der ideologischen, geopolitischen und technologischen Utopien ist er endlich in ein gesegnetes aufgeklärtes Mittelalter gesunken. […] Der Mensch hat sich den Glauben an die Transzendenz zurückgeholt. Sein Gefühl für die Zeit. Wir sind nicht mehr in Eile.310)

Wie Stanislav L’vovskij bemerkt, ist die Romanwelt von »Tellurija« eine »posthistorische« Welt, in der die Idee der Zeit in den Zustand des 17. Jahrhunderts gemäß der Formulierung von Reinhart Koselleck zurückgekehrt ist.311 Koselleck zufolge lebte die Welt in der endzeitlichen Erwartung des kommenden Jüngsten Gerichts, bis sich die Ideen über den Geschichtsverlauf als den so-

305 Sorokin: Tellurija, 382. 306 Sorokin: Telluria, 386. 307 Sorokin: Tellurija, 400. 308 Sorokin: Telluria, 405. 309 Sorokin: Tellurija, 263. 310 Sorokin: Telluria, 256. 311 Vgl. L’vovskij: Tret’ja psichodeličeskaja Vladimira Sorokina, 630.

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zialen und politischen Fortschritt etabliert haben.312 Die Welt von »Tellurija« lebt, wie L’vovskij schreibt, nicht von Erwartungen, sie befindet sich eher in einer Zeit nach dem Jüngsten Gericht und ihre Existenz ist in gewissem Sinne »postmortal« und »posthistorisch«.313 Die Erwartung des kommenden Jüngsten Gerichts geht laut Jan Assmann auf die hebräisch-jüdische Tradition zurück, die auf der linearen Zeitvorstellung basiert. Ihr wird die zyklische Zeit der Griechen gegenübergestellt, die »kreisläufig immer wieder zum Ausgangszustand zurückkehrt, im Tageszyklus, im Jahreszyklus und im Zyklus des Großen Jahres, das nach vorübergehender Katastrophe eines Wasser- und Feuer-Kataklysmus doch wieder in die letztlich triumphierende Identität zurückkehrend in der Vollkommenheit des Anbeginns sich erneuert.«314 Das Zyklusende ist die Grenzsituation zwischen zwei Zyklen und kann entweder der Anfang eines neuen Zyklus sein oder zum Stillstand führen.315 In Sorokins Werk treten zwei Typen von Zeitvorstellungen gleichzeitig auf. In Bezug auf die soziokulturelle Entwicklung bzw. Zeit geht es um den zyklischen Zeitbegriff, nach dem Konstellationen vergangener historischer Epochen wieder zutage treten. Gleichzeitig geht es um das Ende des Zyklus, der sich im Stillstand befindet und zeitlos ist. Anders verhält es sich mit der technischen Evolution, die sich in der linearen Zeit befindet. Der technische Fortschritt ist im Roman so weit gegangen, dass die Zeit kaum an das Mittelalter erinnert. In der fiktiven Welt des Romans existieren verschiedene technische Geräte, genmodifizierte Tiere oder anthropomorphe Wesen. So trennt Sorokin den technischen und soziokulturellen Fortschritt. Während die technische Entwicklung weit fortgeschritten ist, kehrt die soziokulturelle Entwicklung einzelner Staaten zu den früheren Epochen zurück und erstarrt in diesem Zustand. Es bleibt fraglich, ob die Staaten aus diesem Zyklus heraustreten können. SSSR – die Stalinistische Sowjetische Sozialistische Republik – ist die Verkörperung des »Stalinistischen Paradieses«316. Drei Oligarchen aus Moskau kauften einen Teil des Landes von Barabin und der Uralrepublik und setzten ihre Idee der idealen sozialistischen Gesellschaft um. In Stalingrad, der Hauptstadt der SSSR , wurde ein Marmortempel errichtet, in dem die Überreste des sowjetischen Diktators ruhten. Die Haupteinnahmequelle des Staates ist der Tourismus. Zahlreiche Besucher kommen in die Republik, um

312 Vgl. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1992, 265 f. 313 Vgl. L’vovskij: Tret’ja psichodeličeskaja Vladimira Sorokina, 630. 314 Assmann, Jan: Denkformen des Endes in der altägyptischen Welt. In: Stierle, Karlheinz / ​ Warning, Rainer (Hg.): Das Ende. Figuren einer Denkform. München 1996, 1–31, hier 1. 315 Vgl. ebd. 316 Sorokin: Telluria, 392.

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sich »den »gerechtesten Staat der Welt««317 anzusehen, dessen Bevölkerung sich zu einer neuen Religion – dem Stalinismus – bekennt. Das Sammeln und die Ausstellung von Artefakten, die von der Stalinzeit geblieben sind, erinnern an ein Museum. Im weiteren Sinne stellt die Stalinistische Republik die Rekonstruktion einer bestimmten historischen Epoche – der Herrschaft Stalins und seines Personenkults – in der materiellen und kulturellen Dimension dar. Stalins Leiche symbolisiert das Ende der Entwicklung des Staates. Die historische Epoche des Stalinkults wurde in der SSSR rekonstruiert, die in diesem Zustand verharrt ist. In Moskovija herrscht nach der Bemerkung eines britischen Touristen der aufgeklärte Theokratokommunofeudalismus als Herrschaftsform.318 Das Land ist in politisch-kultureller Hinsicht eine Art Nachfolgerstaat des Russischen Reiches, das in den Romanen »Den’ opričnika« und »Sacharnyj kreml’« beschrieben wurde. In »Tellurija« ist Moskovija der Ausgangspunkt für den Vergleich mit der Entwicklung anderer postimperialer Staaten Russlands. Nach dem Zerfall des Reiches erlebte Moskovija eine Wirtschaftskrise, Hungersnot, Kannibalismus.319 Es ist durch die Mauer in drei Bezirke geteilt, was gleichzeitig die sozioökonomische Differenzierung der Bevölkerung widerspiegelt.320 Der Gossudar beherrscht nach wie vor das Land. Es gibt eine Untergrundbewegung, die nach einer Revolution strebt.321 Ab und zu entstehen im Land Protestbewegungen, die vom Kreml erfolgreich unterdrückt werden.322 Das nach dem Zusammenbruch des Imperiums entstandene Belomor’e – ein Staat an der Küste des Weißen Meeres  – erhielt wirtschaftliche Unterstützung von den Deutschen und den Finnen, durch den sogenannten »Neubert-Mallinen-Plan«323. In Bezug auf Moskovija ist das Land ein ideologischantagonistischer Staat. In der Fernöstlichen Republik leben neben Russen auch Japaner und Chinesen. Es gibt Casinos, Spielotheken und Nachtclubs, die in Moskovija verboten sind. Aus dem Gespräch zwischen den Protagonisten Šan und Aleksej in Kapitel XLIII geht hervor, dass es in der Fernöstlichen Republik mehr Freiheit, aber auch mehr Kriminalität als in Moskau gibt.324 Kapitel VII beschreibt die Jagd der Adligen im Fürstentum von Rjasan’. Die Jagderzählung bildete sich als besonderes Genre Mitte des 19. Jahrhunderts

317 Ebd. 318 Vgl. Sorokin: Tellurija, 15. 319 Vgl. ebd., 56, 273. 320 Vgl. ebd., 274 f. 321 Vgl. ebd., 104 322 Vgl. ebd., 291 f. 323 Sorokin: Telluria, 275. 324 Vgl. Sorokin: Tellurija, 355.

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heraus.325 Auch die Adelstitel der Protagonisten erinnern an die Epoche des 19. Jahrhunderts. Ein Fürst und ein Graf besprechen in »Tellurija« nach einer erfolgreichen Jagd die Vergangenheit Russlands – die katastrophalen Umwälzungen der Revolution und des Stalinismus ‒ sowie die gegenwärtige Situation in der erzählten Zeit des Romans in Moskovija und dem Fürstentum von Rjasan’. Wie sich in ihrem Gespräch herausstellt, ist das Fürstentum von Rjasan’ der wirtschaftlichen, kulturellen und technologischen Entwicklung Moskau voraus. Der Fürst führt diese erfolgreiche Entwicklung auf die durchgeführte Reform der russischen Sprache zurück – das Verbot von Fremdwörtern und Surschyk326, weil die Sprache den Staat repräsentiert.327 Eine sprachliche Widerspiegelung der politischen Ordnung in Moskovija findet sich in Kapitel III. Das Kapitel ist eine Art Gebet für den Ruhm der kommunistischen Partei. Im Gebet ist die Lexik zu finden, die sich auf verschiedene historische Epochen und soziale Schichten bezieht ‒ die politische und ideologische Lexik der Sowjetunion und des postsowjetischen Russlands: »KPdSU«328, »Zentralkomitee und Gewerkschaftsverband«329, »Förderung demokratischer Maßnahmen«330 »im Dunstkreis der Macht«331, »für Machtvertikale«332; die Lexik der kriminellen Subkultur: »auf den Strohsäcken, Pritschen und Latrinen aller Straflager unserer Unermesslichen Heimat«333), »[wie man] arschfickt und im Klo kaltmacht«334; die Lexik der Wirtschaft und der Konsumgesellschaft: »mit der Finanzexpertise«335, »für Smartphones der siebten Generation«336; die Lexik der Religion: »nach Gottes alleinigem Willen«337 und die Elemente von klassischer Literatur sowie autoreferenzielle Bezüge: »für die weiße Birke zitternd ohne Blatt«338, »auf den Tag des Opritschniks«339.

325 Vgl. Mel’nikova, Alena: Ochotnič’i narrativy v russkoj literatury vtoroj poloviny XIX – pervoj treti XX v. In: Zyrjanov, Oleg / Praščeruk, Natal’ja / Sozina, Elena K. (Hg.): Dialogi klassikov – dialogi s klassikoj. Sbornik naučnych statej. Ekaterinburg 2014, 61–81, hier 61. 326 Eine Mischsprache, die Elemente der russischen und ukrainischen Sprache hat, und in einigen Gebieten der Ukraine, Russlands und der Republik Moldau verbreitet ist. 327 Vgl. Sorokin: Tellurija, 57. 328 Sorokin: Telluria, 18. 329 Ebd., 19. 330 Ebd., 18. 331 Ebd. 332 Ebd., 19. 333 Ebd., 18. 334 Ebd., 19. 335 Ebd., 18. 336 Ebd., 19. 337 Ebd., 18. 338 Ebd., 19. 339 Ebd., 20.

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Auf der lexikalischen Ebene ist es eine Art Palimpsest, in dem Spuren vergangener Epochen, autoreferenzielle Zeichen und intertextuelle Verweise auf die russische klassische Literatur vorhanden sind. Darüber hinaus werden lexikalische Einheiten in der Regel in einen neuen, unerwarteten Kontext zusammengeführt: eine Kombination von Einheiten aus verschiedenen historischen Epochen, sozialen Schichten, eine Kombination aus niedrigem und erhöhtem Stil: »der Topmanager des Gossudaren, zum Ruhme der KPdSU«340, »der nationalen Nanotechnologien des Heiligen Geistes«341. Sorokin parodiert die offizielle Erinnerungspolitik im postsowjetischen Russland als Kombination aus inkongruenten Elementen: Die atheistische Kultur der Sowjetunion wird mit der Rhetorik von Demokratie und Orthodoxie verflochten. Darüber hinaus zeigt er, wie ein politisch-ideologischer Diskurs im postsowjetischen Russland funktioniert: durch die Vermischung von scheinbar nichtkompatiblen Elementen. Liest man den Roman als einen Metadiskurs auf den NeoEurasismus in Anlehnung an Dirk Uffelmann, lässt sich die Kombination inkongruenter Ideologeme aus anderen antagonistischen imperialen oder nationalistischen Diskursen in der (neo-)eurasischen Ideologie beobachten. Sorokin problematisiert die historische Zeit nicht als eine dem Raum entgegengesetzte Kategorie, sondern als eine Kategorie, die mit fortschreitendem Progress und radikalen futuristischen politischen Utopien sowie Projekten verbunden ist. Die Abfolge historischer Epochen in ihrer evolutionären Entwicklung wird infrage gestellt. Spuren der Vergangenheit können die Zukunft füllen, in der politische Gebilde als Überlagerung historischer Entwicklungsstadien erscheinen. 6.6.2 Repräsentationen gemeinschaftlicher Einheit Der tote Körper des Imperiums

Die politische Einheit von Russland in der Vergangenheit wird insbesondere durch organische Metaphern in Sorokins Roman zum Ausdruck gebracht. Diese Beschreibung entstammt dem Wechselspiel von Fremd- und Selbstbeschreibung. In Kapitel II stellt ein Tourist aus Großbritannien Russland im 20. Jahrhundert als einen monarchischen Koloss dar, der nach der Revolution zu fallen begann. Die weitere Geschichte Russlands im 20. und 21. Jahrhundert wird durch die Metapher des toten Körpers deutlich. Russland entpuppt sich als Leiche, die die bolschewistische Partei nicht fallen ließ:

340 Ebd., 18. 341 Ebd.

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Совершив ночной переворот в Санкт-Перербурге, они подхватили падающий труп империи у самой земли.342 (Nach dem gelungenen nächtlichen Umsturz in St. Petersburg fingen sie den fallenden Leichnam auf, kurz bevor er am Boden aufschlug.343)

Nach seiner Machtübernahme beschloss Stalin, die imperiale Leiche aufzurichten. Die Wiederherstellung des toten Imperiums wurde auf Kosten zahlreicher menschlicher Opfer erreicht. In dem politischen Raum, der durch die Metapher des toten Körpers repräsentiert wird, sind seine Bürger dem Tod geweiht: Это называлось kollektivizacia + industrializacia. За десять лет он сделал это, поднимая великаншу по методу древних цивилизаций, когда под воздвигаемое изваяние последовательно подкладывались камни. Вместо камней Сталин подкладывал тела граждан СССР.344 (Das nannte sich kollektivizacia + industrializacia. Er bewerkstelligte das innerhalb der folgenden zehn Jahre, indem er die Riesin allmählich aufrichtete, wie es in alten Zivilisationen üblich gewesen war, als man Steine unter die Statuen schob, um sie Schritt für Schritt in die Senkrechte zu bringen. Anstelle von Steinen mussten bei Stalin die Körper der Sowjetbürger herhalten […].345)

Die Zeitperiode nach Stalins Tod, die in der Geschichte den inoffiziellen Namen »Tauwetter-Periode« erhielt, verwandelt sich bei Sorokin zu einem Auftauchen der Leiche, die danach kurz eingefroren wurde, aber dann begann sie wieder aufzutauchen. Bei Sorokin ist dieses Einfrieren und Auftauchen des »Leichnams des Imperiums«346 eine Anspielung auf die abwechselnden Perioden der Stärkung und Schwächung des politischen Regimes in der sowjetischen Geschichte. In Kapitel VII werden in einem Gespräch zwischen einem Fürsten aus dem Fürstentum von Rjasan’ und einem Grafen aus Moskovija über die Vergangenheit Russlands ähnliche Kategorien organischer Metaphern verwendet. – Князь, Россия, завалилась сама. […] Нутро ее за девятнадцатый век так прогнить изволило, что и пули не понадобилось. Рухнул колосс от одной немецкой дробины.347

342 Sorokin: Tellurija, 14. 343 Sorokin: Telluria, 14. 344 Sorokin: Tellurija, 14 f. Hervorh. i. Orig. 345 Sorokin: Telluria, 14 f. Hervorh. i. Orig. 346 Ebd., 14. 347 Sorokin: Tellurija, 53.

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(»Fürst, Russland hat sich selbst erledigt.« […] »Sein Inneres geruhte im 19. Jahrhundert derartig zu verfaulen, dass nicht einmal eine Kugel nötig war. Ein deutsches Schrotkörnchen hat den Koloss zum Einsturz gebracht.«348)

Die postsowjetische Zeit in Sorokins Werk wird als Zerfall des toten Körpers des Imperiums bezeichnet. In Anspielung auf die mehrjährige Amtszeit ­Putins wird einerseits im folgenden Zitat seine sich Jahr für Jahr verstärkende imperiale Rhetorik hervorgehoben. Andererseits deutet es auf eine Diskrepanz zwischen dem wachsenden imperialen Selbstbewusstsein und Putins tatsächlicher Politik. Der zufolge ist die Wiederherstellung des toten Imperiums zum Scheitern verurteilt. Sein Zusammenbruch führt im Roman zu der Entstehung neuer politischen Formen, die im Unterschied zu der Leiche des Imperiums Lebenszeichen aufweisen: Но здесь наконец к власти пришла мудрая команда во главе с невзрачным на первый взгляд человеком. Он оказался великим либералом и психотерапевтом. На протяжении полутора десятков лет, непрерывно говоря о возрождении империи, этот тихий труженик распада практически делал все, чтобы труп благополучно завалился. Так и произошло. После чего в распавшихся кусках красавицы затеплилась другая жизнь.349 (Aber hier kam endlich eine weise Gruppe an die Macht, mit einem auf den ersten Blick unscheinbaren Menschen an die Spitze. Er stellte sich als großer Liberaler und Psychotherapeut heraus. Im Verlauf von fünfzehn Jahren, in denen er unablässig die imperiale Wiederauferstehung herbeiredete, tat dieser stille Arbeiter des Zerfalls alles dafür, die Leiche glücklich zu Boden zu bringen. Und so kam es dann auch. Danach erblühte in den Bruchstücken der Schönheit neues Leben.350)

Kapitel XXXIX bis XLI beschreiben eine Art Pilgerfahrt einer Familie, die aus Großmutter Lisa und ihren beiden Enkelkindern besteht, zur Skulptur von drei russischen Herrschern, in denen eine klare Anspielung auf Lenin, Gor­batschow und Putin zu erkennen ist. In diesen Kapiteln operiert Sorokin durch die Worte seiner Protagonisten mit tierischen Metaphern in Bezug auf die Einheit des politischen Raums des Imperiums. Wie bereits erwähnt, dienen Metaphern aus der Tierwelt als Gegenbeispiele zu der Metapher der »Persönlichkeit«, die von den Eurasiern verwendet wurde, um die geistige und intellektuelle Entwicklung des kollektiven politischen Subjekts »Eurasien« zu betonen. это три изваяния трех роковых правителей России, перед вами Три Великих Лысых, три великих рыцаря, сокрушивших страну-дракона. Первых из них, говорит, вот этот лукавый такой, с бородкой, разрушил Российскую империю, 348 Sorokin: Telluria, 53. 349 Sorokin: Tellurija, 15. 350 Sorokin: Telluria, 15.

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второй, в очках и с пятном на лысине, развалил СССР, а этот, с маленьким подбородком, угробил страшную страну по имени Российская Федерация. И все три бюста вырубил шестьдесят лет тому назад мой покойный муж, демократ, пацифист, вегетарианец и профессиональный скульптур в то лето, когда дракон Россия окончательно издох и навсегда перестал пожирать своих граждан.351 (dies sind drei Bildnisse dreier schicksalhafter Herrscher Russlands, vor euch seht ihr die Drei Großen Glatzen, die drei großen Ritter, die den bösen Drachen vernichtet haben. Der erste von ihnen, sagte sie, dieser Verschlagene mit dem Spitzbart, erledigte das Russische Imperium, der zweite, der Brillenträger mit dem Fleck auf der Glatze, zerstörte die UdSSR , und dieser hier mit dem kleinen Kinn richtete das fürchterliche Land namens Russische Föderation zugrunde. Und alle drei Büsten schuf vor sechzig Jahren mein verstorbener Mann, Demokrat, Pazifist, Vegetarier und professioneller Bildhauer, in jenem Sommer, als der Drache Russland endgültig krepierte und für immer aufhörte, seine Bürger zu fressen.352)

In diesem Zitat ist die Metapher des Drachen in Bezug auf das russische Imperium ein intertextueller Verweis auf den Roman »Den’ opričnika«, in dem sich die Opritschniki in einer kollektiven narkotischen Trance in einen Drachen verwandeln, der alles auf seinem Weg zerstört. Eine weitere intertextuelle Metapher, die den Leser auf die kollektive Selbstdarstellung der Opritschnina zurückführt, ist die Raupe. In Kapitel XL vergleicht Sonja, die Enkelin von Lisa, die Plauderei ihres Bruders Pavlik, der während der Reise nicht aufhört, mit einer großen, fetten Raupe: Это хищное животное невероятно активно и прожорливо – оно заползает вам в мозг и последовательно выжирает его.353 (Dieses Rauptier ist enorm aktiv und gefräßig – es kriecht einem ins Hirn und verschlingt es Stück für Stück.354)

Die nächste organische Metapher, die in direktem Zusammenhang mit dem neo-eurasischen Diskurs in Dugins Interpretation steht, ist die Subversion der Idee eines einheitlichen geografischen Raums. Großmutter Lisa erzählt ihren Enkelkindern von Moskau, »das »sich wie ein bösartiger Frosch über Jahrhunderte aufblähte und seine Haut von Brest bis zum Stillen Ozean spannte, bis die drei Stiche der Schicksalsnadel es zum Platzen brachten«.«355) (»которая, »раздувшись на века злобной лягушкой, растянула свою кожу от Бреста 351 352 353 354 355

Sorokin: Tellurija, 339 f. Sorokin: Telluria, 343 f. Sorokin: Tellurija, 343. Sorokin: Telluria, 347. Ebd., 349.

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до Тихого океана, а потом лопнула от трех уколов роковой иглы«.«356) In den Tiermetaphern wird die Bedeutung der inneren und äußeren Aggression des Imperiums manifest, das nicht nur die umliegenden Gebiete absorbiert, sondern auch eigene Bürger nicht verschont. In der erzählten Wirklichkeit des Romans gibt es Staaten mit der traditionellen politischen Ordnung, deren Repräsentanten nach wie vor wie die Figuren des monarchischen Herrschers – wie der Gossudar in Moskovija oder der Präsident mit absoluter Macht in der Republik Telluria – auftreten. Kapitel XXIII beschreibt die Szene, in der der Präsident von Telluria von der Spitze des Berges zu einem Altai-Dorf hinabsteigt und mit einer der Familien eine Mahlzeit einnimmt. Ein fast senkrechter Abstieg, der mit einer Gleitschirmlandung endet, kann symbolisch im Kontext der Metapher der Macht der scheinbaren Bestätigung des neo-eurasischen Diskurses interpretiert werden. Wie Panarin und Dugin bemerken (Kapitel 3.3.7.), stellt der Zar oder sein zeitgenössisches Analogon die Verkörperung des himmlischen Prinzips dar, während das Volk, repräsentiert durch eine bäuerliche Gemeinde, das irdische Prinzip verkörpert. Den Bergabstieg des Präsidenten in Tellurija könnte man metaphorisch als den Abstieg vom Himmel des Herrschers zur Erde interpretieren. Dies bestätigt auf den ersten Blick das traditionelle hierarchische Machtmodell. Betrachtet man diese Episode im Kontext von Sorokins Werk, fällt einem ein ähnlicher Abstieg von oben nach unten innerhalb eines Berges im Roman »Goluboe salo« ein, in dem die Metapher der Machtvertikale eine entgegengesetzte Bedeutung einnimmt. Gemeinschaften der Zukunft

In »Tellurija« basiert die Beschreibung der zukünftigen Gesellschaft nicht auf Kategorien der organischen Metaphern, sondern auf Analogien aus den Naturwissenschaften, genau genommen aus der klassischen Physik und der Quantenphysik. Wie Sorokin in einem Interview sowohl in Bezug auf sein Werk als auch auf die zeitgenössische Tendenz – die Atomisierung der Welt – bemerkte: Если вы заглянете в московское метро или европейское кафе, то увидите, что люди сидят, уткнувшись в гаджеты. Раздробление уже произошло, мир атомизируется. Границы будут проложены там, где кончается privacy человека. Мир будет дробиться еще сильнее — на государства-квартиры, государства человеческого размера.357 356 Sorokin: Tellurija, 345. 357 Sorokin, Vladimir: »U nas prosveščennyj feudalism.« Interv’ju Natal’i Kočetkovoj s Vladimirom Sorokinym. In: Offizial’nyj sajt Vladimira Sorokina, URL: https://www.corpus. ru/press/our-enlightened-feudalism.htm (am 25.08.2020).

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(Wenn Sie in die Moskauer U-Bahn oder in ein europäisches Café schauen, werden Sie Leute sehen, die mit der Nase vor ihren Gadgets sitzen. Die Fragmentierung hat bereits stattgefunden, die Welt ist atomisiert. Grenzen werden dort gezogen, wo die Privatsphäre einer Person endet. Die Welt wird noch mehr fragmentiert sein  – in Staaten-Wohnungen, Staaten menschlicher Größe.)

Im (Neo-)Eurasismus wird der organische Ansatz zur Beschreibung der Gesellschaft dem mechanisch-atomistischen Ansatz gegenübergestellt. In der atomistischen Betrachtung werden Menschen, die nach den Gesetzen der Gesellschaft agieren, den freien Atomen gleichgesetzt, deren Bewegung durch mechanische Gesetze reguliert wird. Die Metapher des Atoms steht im Gegensatz zu der organischen Metaphorik, laut der die Mitglieder der Gesellschaft durch das übergeordnete Ganze, zu dem sie gehören, miteinander verbunden und begrenzt sind.358 Die organische Metapher verschwindet in der Beschreibung einzelner Staaten in der erzählten Zeit des Romans nicht, sie wird jedoch durch die Analogien aus der Physik in Sorokins Werk ergänzt. Eine der ersten Analogien ist das Konzept des Magnetfelds  – einer physikalischen Erscheinung, die Kraftwirkung erzeugen kann und durch die die Wechselwirkung zwischen magnetisierten Gegenständen ausgeführt wird. Die Zimmermänner im Roman verfügen über solch ein Magnetfeld, von dessen Stärke das erfolgreiche Einhämmern eines Tellurnagels oder die Korrektur eines schief eingehämmerten Nagels abhängt. – Ак соргы зависит от силы поля плотника, – бригадир потягивал чаек, посасывая лакричный леденец. – Если поле мощное – индуктор не нужен, – с категоричной деликатностью кивал Латиф.359 (»Aq sorği hängt vom Kraftfeld des Zimmermanns ab.« Der Brigadier schlürfte den Tee und lutschte dabei ein Lakritzbonbon. »Wenn ein Feld stark genug ist, braucht man keinen Induktor«, bestätigte Latif, so feinfühlig wie strikt.360)

Darüber hinaus ergänzen sich die Analogien aus der klassischen Physik mit den Erkenntnissen aus der Quantenphysik in Sorokins Werk. In Kapitel XXVIII erinnert sich einer der Zimmermänner daran, wie er einem Mann und seinem Sohn Tellurnägel eingehämmert hat.

358 Siehe dazu Kapitel 3.4.5. 359 Sorokin: Tellurija, 254. 360 Sorokin: Telluria, 255. Hervorh. i. Orig.

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А отец – про орбиты электронов, про неопределенность Гейзенберга, он физиков оказался, и стал свободной частицей, фотоном, и полетел сквозь орбиты, и жаждет встретить сына для энергетического слияния. Оказывается, они с сыном – пара запутанных фотонов, одна, так сказать, квантовая семья. Изрекает папаша с завидной высокопарностью, что они, дескать, одна квантовая семья, испущены одним источников, что надобно токмо преодолеть время…361 (Derweil redet der Vater von Elektronenumlaufbahnen und der Heisenbergischen Unschärferelation, Physiker, wie sich herausstellte, er sei nun ein freies Teilchen, Photon, und sehnte sich danach, mit seinem Sohn im energetischen Zusammenschluss vereint zu werden. Er und sein Sohn sind ein Paar verwirrter Photonen, eine Quantenfamilie sozusagen. So quasselt das Papachen jedenfalls, und das mit beneidenswerter Schwülstigkeit, behauptet, sie, die Quantenfamilie, seien aus einer einzigen Quelle entsprungen, und dass man einzig die Zeit überwinden müsse …362)

Ohne auf die Theorie der Quantenmechanik detailliert einzugehen, sind die einzelnen Prinzipien an dieser Stelle zu erwähnen, die zum einen als poetische Strategien des Werks dienen und zum anderen als Analogien, nach denen die Funktionsprinzipien der Gemeinschaft der Zimmermänner im Roman beschrieben werden können. Eines der Phänomene der Quantenmechanik erhielt die Bezeichnung Quantenverschränkung. Bei diesem Zustand entwickeln zwei oder mehrere Teilchen eine Abhängigkeit voneinander, auch über größere Distanzen hinweg. Wenn Teilchen interagieren, entstehen Korrelationen zwischen ihnen: Kohärente Teilchen haben eine tiefe Verbindung untereinander – die Wirkung auf ein Teilchen wird von einem anderen Teilchen wahrgenommen. Ein weiteres Phänomen bezieht sich auf den Dualismus der Elementarteilchen, der in der Tatsache deutlich wird, dass Elementarteilchen Anzeichen sowohl von Korpuskeln als auch von Wellen zeigen können. Elementarteilchen wie Elektron, Neutron und Photon verhalten sich unter bestimmten Bedingungen als gut lokalisierte Objekte, die sich mit bestimmten Energien und Impulsen auf klassischen Trajektorien und unter anderen Bedingungen als Wellen bewegen. Ein weiteres Paradox ist die sogenannte Heisenberg’sche Unschärferelation, laut der es unmöglich ist, die Parameter beider Eigenschaften eines Quantensystems zu bestimmen. Wenn man die Lokalisierung eines Elementarteilchens im Raum bestimmt, ist es gleichzeitig unmöglich, seine Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung herauszufinden. In der Quantenphysik gibt es verschiedene Möglichkeiten, das Prinzip der Quantenverschränkung und der Heisenberg’schen Unschärferelation zu 361 Sorokin: Tellurija, 251 f. Hervorh. i. Orig. 362 Sorokin: Telluria, 253.

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interpretieren. Eine davon ist die Viele-Welten-Theorie, die ursprünglich von Hugh Everett formuliert wurde und die Existenz mehrerer paralleler Universen voraussetzt. Laut der Viele-Welten-Theorie befindet sich die Quantenwelt in einem Zustand, der als Überlagerung gleichzeitig koexistierender Zustände oder Superposition beschrieben werden kann.363 Diese Zustände werden als viele Welten oder als alternative klassische Realitäten bezeichnet.364 Die ganze Quantenrealität stellt die Gesamtheit jeglicher alternativer Superpositionen oder Realitäten dar.365 Jede Komponente der Superposition, getrennt von den anderen, zeigt eine Projektion dessen, was das Bewusstsein des Beobachters als Projektion der klassischen Realität wahrnehmen kann, und die verschiedenen Komponenten der Überlagerung entsprechen den Projektionen verschiedener Welten.366 Diese verschiedenen Projektionen werden vom Bewusstsein des Beobachters subjektiv wahrgenommen, während die Quantenwelt selbst objektiv existiert, als ob sie vom Bewusstsein des Beobachters unabhängig wäre.367 Das Bewusstsein des Beobachters nimmt demzufolge alternative Realitäten der Quantenwelt unabhängig voneinander wahr, wie Michael Mensky ausführt. In der Projektion einer klassischen Realität, die vom Bewusstsein wahrgenommen wird, gibt es keinen Platz für andere, obwohl sie objektiv nicht weniger real sind.368 Diese Viele-Welten-Interpretation setzt folglich die Existenz mehrerer klassischer Alternativen bzw. Realitäten voraus, was als die Existenz vieler Welten dargestellt werden kann. Eine Person kann sich gleichzeitig in einer unbestimmten Anzahl paralleler Welten befinden, doch ihr Bewusstsein nimmt nur eine Projektion bzw. eine alternative Realität wahr. In »Tellurija« kann sich ein Mensch mithilfe eines Tellurnagels in anderen Welten wiederfinden. In der Vergangenheit kann er eine andere Person oder ein anderes Wesen sein. Im Unterschied zu anderen Drogen in Sorokins Werken stellt sich dies als real heraus. So können sich z. B. die in der Vergangenheit gewonnenen Informationen unmittelbar auf die Gegenwart auswirken. Eine der häufigsten Auswirkungen ist ein Treffen mit der anderen Welt – der Welt der Toten. In Kapitel XVI bittet ein Mitarbeiter der Fabrik den Direktor um Geld, damit er sich einen Tellurnagel kaufen und ihn sich einhämmern lassen könnte, um von seinem verstorbenen Bruder herauszufinden, wo der Letzte die für die Arbeit im Betrieb notwendigen Instrumente versteckte. 363 Vgl. Wendt, Alexander: Quantum mind and social science. Unifying physical and social ontology. Cambridge 2015, 78. 364 Vgl. Mensky, Michael: Consciousness and quantum mechanics. Life in parallel worlds; miracles of consciousness from quantum reality. Singapore 2010, 66 f. 365 Vgl. ebd., 67. 366 Vgl. ebd., 70. 367 Vgl. ebd. 368 Vgl. ebd., 77.

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In Kapitel XXV bittet die Ich-Erzählerin ihren Geliebten in einem Brief um Verzeihung und teilt ihm mit, dass sie sich einen Tellurnagel in den Kopf einhämmern lassen will, um jemanden in der Stadt seiner Kindheit zu treffen und um etwas für ihn zu bitten. Kapitel XLV enthält ein Flugblatt, in dem Riesen zu einer Demonstration gegen die Machtübernahme durch chinesische Legionäre in der Republik Bern und gegen die Anklage über die Geschäfts- und Bankplünderung aufgefordert werden. Laut Flugblatt waren es nicht die Riesen, die Goldreserven der Nationalbank gestohlen haben, sondern Zwerge, die sich den Zugang in die Bank mithilfe des Zimmermanns Vol’pe verschafft hatten.369 Er ist mit der von den Salafisten hingerichteten Vorkriegsbankführung durch Tellurnagel in Kontakt getreten.370 Unter der Wirkung eines Tellurnagels ist menschliches Bewusstsein dementsprechend imstande, Welten zu teilen bzw. mit anderen Worten die Register zwischen alternativen Realitäten zu wechseln, wie es in Kapitel XV über die Rettung eines Kätzchens der Fall ist. In diesem Kapitel werden zwei alternative Welten abwechselnd dargestellt: die Rettung eines Kätzchens in der Vergangenheit und die erzählte Gegenwart des Kapitels selbst. И оказался Ариеэль в городе битвы. И убивали люди друг друга в городе том. […] И взял Ариэль животное и вынес на руках своих из горящего дома. И выпустил животное на свободу. И животное ушло в свои пределы.371 (Und Ariel war in der Stadt des Gefechtes. Und die Menschen töteten einander in jener Stadt […] Und Ariel nahm das Tier und trug es in seinem Armen aus dem brennenden Haus. Und er entließ das Tier in die Freiheit. Und das Tier ging seiner Wege.372)

Das Bewusstsein des Protagonisten Ariel’ wird quasi zwischen der Welt der Vergangenheit und der Gegenwart gespalten. Mithilfe einer Binnenerzählung wird nun in die Geschichte über die Rettung des Kätzchens eingeführt, die die stilistischen Verfahren einer Legende parodistisch nachahmt und in kursiver Schriftart hervorgehoben ist. Der Leser wird in die erzählte Zeit des Kapitels versetzt, in der Ariel’ mit einer Prostituierten aus Vietnam in seinem Haus ist. Analogien mit den Elementen der Quantentheorie liegen auch den im Roman beschriebenen Formen der sozialen Einheiten zugrunde. In »Tellurija« stellt die professionelle Gemeinschaft der Zimmermänner eine solche Einheit dar. Die Elemente dieser Gemeinschaft sind wie Elementarteilchen in einem verworrenen Zustand, was dieses Modell sowohl vom mechanischen als auch vom organischen Ansatz unterscheidet. 369 Vgl. Sorokin: Tellurija, 367. 370 Vgl. ebd. 371 Ebd., 119. 372 Sorokin: Telluria, 118 f.

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Im Modell der sozialen Einheit, der Analogien aus der Quantenmechanik zugrunde liegen, besteht der Unterschied zum mechanisch-atomistischen Ansatz darin, dass Individuen stabile und kohärente Verbindungen miteinander herstellen können. Die Verschränkung von Elementen oder mit anderen Worten die Wechselbeziehung zwischen Personen im Kontext dieses Modells resultiert aus ihren Interaktionen und wird nicht als eine ontologische Voraussetzung dargestellt, wie dies in der organischen Beschreibung des sozialen Ganzen passiert, in dem seine Mitglieder per se einen integralen Bestandteil bilden. Die intensiven Kontakte zwischen Individuen führen zu der Aushandlung und der Etablierung sozialer und ethischer Standards, die eine Grundlage für die Kohärenz zwischen ihnen und für die Inklusions- und Exklusionsprinzipien schaffen. Gesellschaftliche Verhaltensregeln entstehen im Prozess der Kommunikation zwischen Menschen und werden nicht unbedingt im Rahmen des sozialen oder kulturellen Gedächtnisses weitergegeben.373 Der Witz des Zimmermanns Serž, sie seien ein »Artel« und »fahren nach Europa, Geschäfte machen«374 wird von seinen Kollegen mit Verwirrung und Abneigung wahrgenommen. Der Brigadeleiter führt die Unangemessenheit dieses Witzes auf die ethischen Grundsätze der Zimmermannbrigade zurück. – Мы  – честные плотники. И это нас отличает от многих профессионалов. Вместе мы оказались только отчасти из-за нашего авторитета, опыта и профессионализма. В большей степени вместе мы, потому что мы – честные. Честная артель. И вы, Серж, попали в эту бригаду не только потому, что забили три сотни прямых и всего двенадцать кривых. Есть плотники, забившие больше и лучше. Вы ответственный, этически адекватный человек. Иначе бы вас не было здесь.375 (»Wir sind ehrliche Zimmerleute. Und das unterscheidet uns von vielen Spezialisten. Zusammen sind wir zum Teil nur aufgrund unserer Autorität, Erfahrung und Professionalität. In höherem Maße sind wir zusammen, weil wir ehrlich sind. Ein ehrliches Artel. Und Sie, Serge, sind nicht nur deshalb in diese Brigade gekommen, weil Sie dreihundert gerade und nur zwölf krumm eingeschlagen haben. Es gibt Zimmerleute, die mehr und besser eingeschlagen haben. Sie sind bei uns, weil Sie ehrlich sind. Sie sind ein verantwortungsvoller, ethisch korrekter Mensch. Sonst wären Sie nicht hier.«376)

Die Verbindung innerhalb der Brigade manifestiert sich auch auf einer nichtdiskursiven Ebene. Auf die Antwort von Serž, dass er die Unangemessenheit seines Witzes verstehe, erwidert der Brigadeleiter: 373 Zur Unterscheidung zwischen sozialem und kulturellem Gedächtnis siehe Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, 31–36. 374 Sorokin: Telluria, 245. 375 Sorokin: Tellurija, 246. 376 Sorokin: Telluria, 247.

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– Нет, друг мой, вы не поняли. Вы произнесли сейчас «я понял» формально, я чувствую это. Вы никогда не относились к нашей совместной работе как к шабашенью. Вы давно уже осознали и осмыслили наши моральные принципы. Вы разделяете их, так как вы  – честный плотник. Вы не понимаете другого: почему мы отнеслилсь к этой шутке столь серьезно.377 (»Nein, mein Freund, Sie haben nicht verstanden. Sie haben das ›Verstanden‹ förmlich ausgesprochen, ich fühle das. Sie haben unsere gemeinsame Arbeit nie als Geschäftchenmachen angesehen. Sie haben sich unsere moralischen Prinzipien längst bewusst gemacht und reflektiert. Sie teilen sie, weil Sie ein ehrlicher Zimmermann sind. Sie verstehen etwas anderes nicht: Warum wir auf diesen Scherz so ernst reagiert haben.«378)

Wie voranstehend erwähnt, kann die Semantik der kursiv hervorgehobenen Worte in Sorokins Werken über die bestehende lexikalische Bedeutung hinausgehen. Das Verb »fühlen« könnte in diesem Kontext die Verschränkung und gegenseitige Abhängigkeit von Individuen sein, die sich aus ihren Interaktionen ergibt. In diesem Zusammenhang rücken die Verbindung mit dem kulturhistorischen Ganzen und den dieses vertretenden politisch-sozialen Institutionen in den Hintergrund. Die Zimmermannbrigade besteht aus einer Vielzahl von Nationalitäten, die ihrer Herkunft bewusst sind, die Bindung zu den kulturellen Wurzeln ist jedoch optional. Zuerst treten soziale Verhaltensregeln auf, die sich während der Interaktionen zwischen den Individuen des entstehenden gesellschaftlichen Ganzen entwickeln. In Kapitel XXVIII erinnert sich einer der Zimmermänner, Ivan Ivanovič, wie er einer Frau einen Tellurnagel einhämmerte, die ihren verstorbenen Ehemann treffen wollte. Vor dem Einhämmern wollte die Frau von sich erzählen. Dies widerspricht jedoch der Berufsethik der Zimmermänner, die die Biografien der Kunden nicht kennen sollen. Der Zimmermann Ivan Ivanovič führt seine Absage auf die Prinzipien der klassischen Physik zurück. Я категоричен: не могу и не хочу перегружать свои поля.379 (Ich kategorisch: Ich kann und will meine Felder nicht überlasten.380)

Die Regel, nach der sich der Zimmermann weigert, etwas über das Leben der Frau zu erfahren, kann aber auch dem Prinzip der Verschränkung und der gegenseitigen Abhängigkeit zugeschrieben werden. Dennoch gelingt es der Frau, ihm die Geschichte des Todes ihres Mannes zu erzählen. Er war ein 377 Sorokin: Tellurija, 247. 378 Sorokin: Telluria, 248. 379 Sorokin: Tellurija, 256. 380 Sorokin: Telluria, 258.

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Volkssänger, der Balladen seiner eigenen Dichtung sang, die den Verfall der politischen Eliten des Landes aufdeckte. Im Volksmund wurde er »Goldkehle«381 genannt. Die Geschichte endet damit, dass er von den staatlichen Sicherheitsdiensten entführt und getötet wurde, indem ihm geschmolzenes Gold eingegossen wurde. Ein paar Tage später erhielt die Frau einen Goldbarren, der aus dem Hals ihres Mannes entnommen worden war. Als der Zimmermann die Geschichte hört, willigt er ein, einen Tellurnagel einzuhämmern. Dies geht aber ‒ in der Terminologie der Zimmermänner ‒ »schief« und innerhalb von vierundzwanzig Minuten stirbt die Frau. In Analogie zu Elementarteilchen erweisen sich der Zimmermann und sein Kunde als eng verbunden, falls der Zimmermann etwas über die Identität seines Kunden erfährt. Wenn zwei Teilchen in der Quantenphysik von vornherein kohärent verschränkt sind, wird der Einfluss auf eines von ihnen vom anderen Teilchen wahrgenommen. Wenn der Zimmermann etwas über das Leben seines Kunden erfährt, entsteht eine gewisse Verbindung zwischen ihnen. In der voranstehend angeführten Episode hat die persönliche Geschichte der Frau das Bewusstsein oder die »Felder« des Zimmermanns beeinflusst, was ebenso den Prozess des Einhämmerns gestört und zum Tod der Frau geführt hat. In der Beschreibung der sozialen Einheit, die aufgrund von Analogien aus der Quantenmechanik funktioniert, hat eine Person einen freien Willen und die Fähigkeit, Bindungen an den kulturhistorischen und geografischen Raum zu überwinden und neue Beziehungen zu bilden. In Kapitel XXXV sucht ein Zoomorph – ein menschenähnliches Wesen mit dem Kopf eines Esels – eine Arbeit und findet sie nach einigen Schicksalsschlägen schließlich auf einem Bauernhof auf einem Berg in Monte Verito. In diesem Fall bedeutet die lange Reise des Zoomorphs eine Art des sozialen Aufstiegs, der metaphorisch durch eine Aufwärtsbewegung gekennzeichnet ist – die Farm liegt auf einem Berg. Ein weiteres Beispiel für die autonome Lebensentscheidung findet sich im letzten Kapitel des Romans »Tellurija«. Der Protagonist Gavrila (in Kapitel XVII ist er der Kutscher bei der Fürstin Varvara Erofeevna, die aus Moskau wegen drohender staatlicher Repressalien flieht) lässt sich im letzten Kapitel des Werkes alleine im Wald nieder und baut sich ein Haus. Das Reisen der Protagonisten von einem Punkt zum anderen mit Pferd oder zu Fuß symbolisieren horizontale Verbindungen innerhalb eines sozialen Ganzen bzw. die Abwesenheit der vertikalen Machtverhältnisse. Während der Mittagspause essen die Zimmermänner einschließlich des Brigadeleiters zusammen: Sie befinden sich auf der gleichen Ebene, was von einer horizontalen Machtverteilung innerhalb des Gemeinwesens zeugt.

381 Ebd., 259.

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Neben den bestehenden archaischen Formen der sozialen Einheit, deren Selbst- und Fremdrepräsentationen in Kategorien der organischen Metaphern funktionieren, entstehen im Roman neue gesellschaftliche Modelle, denen die Prinzipien der Freiwilligkeit des Individuums zugrunde liegen. Ebendieses ist imstande, die bestehenden Verbindungen zu einem kulturellen Ganzen zu brechen und sein Schicksal durch Eigeninitiative zu bestimmen. Ein Mensch verfügt über freien Willen, ist aber fähig, gegenseitig abhängige Bindungen mit anderen Menschen zu bilden.

7. Schlussbetrachtung

Das Wiederaufleben des Eurasismus im postsowjetischen Russland war eine der Optionen, das ideologische Vakuum nach dem Zusammenbruch des Marxismus-Leninismus zu füllen. Obwohl der Neo-Eurasismus nicht zur Staatsideologie des postsowjetischen Russland wurde, sind viele seiner Elemente in das politische Vokabular eingegangen und prägen politische Realien bis heute. Die (neo-)eurasische Rhetorik ist ein Bestandteil des nationalen politischen Imaginären, das die Vorstellung über ein geeintes Russland bildet. In (neo-)eurasischen Diskursen wurden die Bedeutung eines einheitlichen eurasischen Raums und seine Verbindung mit der kulturellen und politischen Identität des Landes aktualisiert. Die Bestimmung der Grenzen Eurasiens, die rhetorische Begründung seiner Unteilbarkeit, Sichtweisen auf die Einheit einer ethnisch heterogenen Gesellschaft und Machtstrukturen bilden den Eckpfeiler des (neo-)eurasischen Diskurses. Die postsowjetische fiktionale Literatur wirkt sich gewissermaßen stabilisierend auf den neo-eurasischen Diskurs aus, indem sie seine Ideen und Elemente einem breiten Publikum in unterhaltsamer Form darbietet. Gleichzeitig aktualisiert die Literatur verborgene Konnotationen, erzeugt neue Bedeutungen von kollektiven Symbolen und Mythologemen, die im Zusammenhang mit dem (neo-)eurasischen Konzept des Imperiums entstanden sind. Die fiktionale Literatur greift die für den (Neo-)Eurasismus grundlegenden Kategorien von Raum, nationaler bzw. ethnischer Heterogenität des Imperiums, Dichotomie von Europa und Asien, von einem autokratischen Regierungsmodell auf und setzt ihre Akzente auf verschiedene Art und Weise. Darin kann sich auch die destabilisierende Funktion der Literatur zeigen, indem sie die vielfachen Widersprüche des Diskurses selbst in ursprünglich affirmativ angelegten Werken aufdeckt. Der Raum Russlands, der nicht in europäische und asiatische Teile unterteilt ist, sondern ein einheitliches Ganzes bildet, diente im Eurasismus als Ausgangspunkt für die ideologische Entfaltung. »Eurasien«, mit dem Russland gleichgesetzt wurde, stellt eine besondere Welt dar, bei deren Bildung Kontakte zu den Völkern und Ländern Asiens eine wichtige Rolle in der eurasischen Rhetorik spielten. In Bezug auf benachbarte Länder Europas und Asiens wird Russland in der Ideologie des (Neo-)Eurasismus jedoch eine zentrale Bedeutung im geografischen und kulturell-zivilisatorischen Sinne beigemessen. Die Metapher der mittleren Lage Russlands auf dem eurasischen Kontinent nimmt in den Werken von Chol’m van Zajčik und Vladimir Sorokin die entgegengesetzte Bedeutung an. In »Evrazijskaja simfonija« von Chol’m

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Schlussbetrachtung

van Zajčik – in dem Werk, das sich diskurskonform zu der (neo-)eurasischen Ideologie verhält –, verschiebt sich Russland auf eine periphere Position in der fiktionalen Welt des Imperiums. In Sorokins Werken rückt Russland in den wirtschaftlichen und kulturellen Einflussbereich von China. Die im klassischen Eurasismus formulierte Metapher des Zentrums wird durch die Metapher der Brücke im Neo-Eurasismus ergänzt. In diesem Sinne soll die Position Russlands zwischen Europa und Asien den kulturellen und materiellen Austausch zwischen diesen beiden Zivilisationen gewährleisten. Die Funktion Russlands, diesen Transfer sicherzustellen, wird in Sorokins Werk durch subversive Affirmation im Motiv der Hochgeschwindigkeitsstraße zwischen Europa und Asien realisiert. Der geografische Raum Russlands, dessen Funktion auf die Gewährleistung des Warentransports zwischen Europa und Asien reduziert wird, verliert die besondere kulturelle Identität, die ihm vom (Neo-)Eurasismus zugeschrieben wird. Die Metapher des Organismus, die im (Neo-)Eurasismus auf den geografischen Raum Russlands angewendet wird, wird in Krusanovs Roman zur Charakterisierung der imperialen Regierungsform genutzt und durch die Merkmale des Subjekts ergänzt. Das Imperium wird zu einem Lebewesen mit eigenem Willen und dem Wunsch nach ständiger Expansion, was letztlich als selbstzerstörerischer Prozess offenbar wird. Neben der Idee eines unteilbaren Raums, ausgedrückt in der organischen Metaphorik, behaupten die (Neo-)Eurasier die totale Einheit von Raum, Gesellschaft und politischem System. Die Idee wird von Sorokin durch die Darstellung des Ordens der Erdrammler in »Goluboje salo« verwirklicht. Die unterirdische Sekte, die den Kult der Kopulation mit der Erde ausführt, ist eine metaphorische Realisation der untrennbaren Verbindung zwischen Gesellschaft und Boden. Das dekonstruktive Element von Sorokins Prosa manifestiert sich in der Gestaltung der Machtstrukturen des Ordens: Der Meister des Ordens befindet sich auf der untersten Ebene des Stollens, was die etablierte anthropologische Semiotisierung des Gegensatzes oben und unten für Machtstrukturen widerlegt. Im klassischen Eurasismus gingen die Bemühungen, die Einheit des imperialen Raums Eurasien zu begründen, auf die Rolle der ethnisch und kulturell heterogenen Bevölkerung für die Herausbildung der eurasischen Kultur zurück. Im zeitgenössischen Eurasismus fungiert dieses Konzept ausschließlich populistisch. Während die Neo-Eurasier die ethnisch heterogene Zusammensetzung Russlands erwähnen, betonen sie die dominierende Rolle der ethnischen Russen bei der Bildung des politischen Raums des Landes sowie ihre messianische Funktion bei der Umsetzung des imperialen Projekts – die Erweiterung der territorialen Grenzen Russlands bis zu dem Punkt, an dem die Wiederherstellung des Imperiums möglich ist. In der Fiktion ist kulturelle Vielfalt eines der Hauptthemen. Krusanov entwirft ein negatives Bild der

Schlussbetrachtung

265

heterogenen Bevölkerung des Imperiums. Der Kaukasus ist ein feindliches Land und seine Bevölkerung wird implizit mit den Kräften aus dem Jenseits verglichen. Mit der Erweiterung des imperialen Raums wird die kulturelle Vielfalt der angrenzenden Gebiete zerstört. In der Romanreihe »Evrazijskaja simfonija«, die das Leben einer harmonischen multikulturellen Gesellschaft nach den eurasischen Prinzipien darzustellen versucht, wird dennoch fremdenfeindliche Rhetorik gegenüber bestimmten religiösen und ethnischen Gruppen laut. Im letzten Roman betrifft die Diskriminierung von Juden narrative Strategien und untergräbt die Hauptidee des Werkes  – die Konstruktion eines funktionierenden Modells einer kulturellen und ethnischen Vielfalt unter der imperialen politischen Ordnung. In seinen Werken spitzt Sorokin die Widersprüche zu, die dem (neo-) eurasischen Diskurs über die Korrelation zwischen kultureller Vielfalt und der Manifestation des russischen Nationalismus zugrunde liegen. Im Roman »Goluboe salo« zeichnet sich die Sekte der Erdrammler, die die (neo-)eurasischen Prinzipien der Einheit mit dem Boden verkörpern, durch Feindseligkeit gegenüber anderen Kulturen aus. Ihre archaische Kultur, ausgedrückt in der ausschließlichen Verwendung der russischen Sprache (oft mit einer Mischung aus veralteter und obszöner Lexik), ist eine Manifestation der nationalistischen Komponente der (neo-)eurasischen Ideologie. Die fiktionale Literatur, die auf die Vision des eurasischen Imperiums zurückgreift, bezieht Elemente und Mythologeme aus anderen antagonistischen Diskursen und enthüllt die in der (neo-)eurasischen Ideologie verborgenen Widersprüche. Während die Opritschnina bei Dugin eine Aktualisierung des historischen Narrativs über Ivan IV. – den ersten eurasischen Herrscher Russlands – ist, verkörpert die Opritschnina bei Sorokin ein Modell einer homogenen, fremdenfeindlichen Struktur politischer Gewalt. Trotz der Hinwendung Russlands nach Osten, die im Neo-Eurasismus als eine Rückbesinnung auf die asiatische Komponente der kulturellen russischen Identität betrachtet werden kann, ist die Verbindung zwischen Russland und China bei Sorokin rein pragmatischer Natur. Chinesische Sprache, chinesische Waren sind unabdingbarer Teil des Lebens in der erzählten Wirklichkeit, in der China eine dominierende Rolle auf der Weltbühne spielt. Durch die Rituale der Gewalt, die sowohl gegen sich selbst als auch gegen andere gerichtet sind, wird der kollektive Körper der Opritschnina bestätigt. Die der Opritschnina zugrunde liegende Tiermetaphorik ist bei Sorokin eine Dekonstruktion des eurasischen Konzeptes der »symphonischen Persönlichkeit« als der Summe aller Kulturen, der auch eine bestimmte körperlichgeistige Struktur zugeschrieben wird. Die auf den Körper der Opritschnina angewendete Tiermetaphorik, impliziert den Verfall der moralischen und ethischen Werte, der auf die gesamte Gesellschaft projiziert wird. Im Roman »Tellurija« wird die professionelle Gemeinschaft der Zimmermänner als eine

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Schlussbetrachtung

Kontrastfolie der sozialen Ordnung der Opritschnina dargestellt. Die Einheit der Zimmermannbrigade wird narratologisch nicht durch organische Metaphorik, sondern in Analogie zu den in der Quantenphysik beschriebenen Funktionsprinzipien von Elementarteilchen realisiert. Die Zimmermänner sind eine ethnisch und kulturell vielfältige Gemeinschaft, die verschiedene Sprachen spricht. In diesem Modell der sozialen Einheit können Menschen in Analogie zu Elementarteilchen unabhängig von ihrem kulturell-historischen Hintergrund Verbindungen untereinander herstellen und ethische Verbindlichkeiten entwickeln. Sorokin entwickelt ein Modell der sozialen außerstaatlichen kosmopolitischen Einheit, die den in ihrer Entwicklung erstarrten Staatsformationen gegenübergestellt wird. Im klassischen Eurasismus wird die Vorstellung, dass es in jeder symphonischen Persönlichkeit, d. h. in jedem Gemeinwesen, einen hauptsächlichen Träger seiner Integrität und Einheit geben soll, darauf zurückgeführt, dass ein solcher Träger in der Regel eine männliche Person oder seltener eine Gruppe von Menschen ist. Im zeitgenössischen Eurasismus wird diese Rolle dem Zaren  – oder seinen modernen Analoga wie dem autokratisch regierenden Präsidenten  – zugeschrieben. Dugin und Panarin gehen von der Sakralität des Herrscher aus: Der Zar spiegelt das göttliche, himmlische Prinzip wider, während das Volk oder das Imperium mit der Erde gleichgesetzt wird. In Krusanovs Roman spiegelt die Figur des Herrschers  – des Imperators Ivan Nekitaev – eine parologische Kombination sich gegenseitig ausschließender Konzepte wider. In seiner Gestalt verschmelzen die Kategorien des Heiligen und des Dämonischen, des Erhabenen und des Niederen. Seine Herkunft von den Toten, die semiotisch seine Verbindung mit der Unterwelt bzw. der Erde markiert, unterminiert das Prinzip der himmlischen Sakralität im neo-eurasischen Verständnis. Sorokin entlarvt den Mythos über die Sakralität des Herrschers durch subversive Affirmation. In »Den’ opričnika« erscheint der Zar lediglich in Form eines holografischen Bildes. Mit einer derartigen Darstellungsform verwandelt sich der Zar in ein Simulakrum seines natürlichen Körpers. In »Sacharnyj kreml’« wird er schließlich durch die Figur des Zuckerkremls ersetzt. In Bezug auf den natürlichen und politischen Körper des Herrschers erfüllt der Zuckerkreml eine ambivalente Funktion. Ersetzt er den natürlichen Körper des Zaren, verschleiert er gleichzeitig die Abwesenheit der tatsächlichen Regierungsmacht. Die monarchischen Strukturen scheinen letztlich dem Untergang geweiht zu sein. Der Zar wird durch das totale Simulakrum – den Zuckerkreml – ausgetauscht. Die subversive Seite der Literatur wirkt sich manchmal aber paradoxerweise auf die Stabilisierung politischer und ideologischer Diskurse aus. So wurde »Den’ opričnika« von Vladimir Sorokin in einigen patriotischen Kreisen nicht als Dystopie, sondern als eine für die gegenwärtige politische Situation

Schlussbetrachtung

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passende Utopie wahrgenommen.1 Dennoch weist die russische Literatur eine wichtige dekonstruktive Funktion auf. Die fiktionalen Texte, die sich auf das Konzept des eurasischen Imperiums beziehen, wenden Realien oder die Ästhetik des Imperiums in verschiedenen kulturellen und historischen Kontexten an und schaffen eine differenzierte Vision eines Imperiums. Indem die Literatur interdiskursiv an dem politischen Imaginären teilnimmt, produziert sie oft ambivalente, mehrdeutige Erzählungen. Die literarischen imperialen Entwürfe, die aus einer Kombination von diskursiven Elementen und ihrer fiktionalen Umsetzung resultieren, gehen über (neo-)eurasische politische Modelle hinaus bzw. stellen sie infrage und offenbaren die sich selbst unterminierende Seite der eurasisch-imperialen Rhetorik.

1 Vgl. Novikova, Liza: Slasti prederžaščie. Izdan »Sacharnyj kreml’« Vladimira ­Sorokina. In: Kommersant, 08.08.2008, URL: https://www.kommersant.ru/doc/1009014 (am 14.02.2021).

Danksagung

An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Personen bedanken, die mich während meines Promotionsvorhabens unterstützten. Insbesondere gilt großer Dank meinem Erstbetreuer Prof. Dr. Riccardo Nicolosi, der mich in allen Phasen der Promotion hilfreich unterstützt und die Arbeit mit Geduld und wertvollen fachlichen Hinweisen begleitet hat. Prof. Dr. Raoul Eshelman danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens, aber auch für fruchtbare Anregungen. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. M ­ artin Schulze Wessel, der sich bereit erklärt hat, die Rolle des Drittprüfers zu übernehmen. Mein Dank gebührt der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien, die mir neben der finanziellen Förderung ein äußerst inspirierendes und freundliches Umfeld für meine Forschung geboten hat. Ich bedanke mich auch herzlich für die Aufnahme in die Reihe »Schnittstellen« sowie für die großzügige Unterstützung der Drucklegung. Danken möchte ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Forschungskolloquiums Slavistische Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Studiengruppe »Literatur – Narrativität – Diskurs« der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien sowie des slavistischen Forschungskolloquiums der Universität Konstanz, mit denen ich meine Ideen diskutieren durfte. Dank möchte Prof. Dr. Jurij Murašov aussprechen, der mich im Übergang zum Promotionsstudium unterstützte und mir die Möglichkeit gab, als Wissenschaftliche Hilfskraft an seinem Lehrstuhl zu arbeiten. Abschließen möchte ich mit meinem Dank an meinen Ehemann Dimitri für seine stetige Ermutigung und unermüdliche Unterstützung während der gesamten Promotionszeit.

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Personenregister

Agamben, Giorgio  27 Agrippa, Menenius  90 Alekseev, Nikolaj  46 Alimov, Igor’  141 Aptekman, Marina  201 Assmann, Jan  247 Augé, Marc  231 f. Aust, Martin  12 Bachtin, Michail  114, 201 Bassin, Mark  16, 55 Bataille, Georges  200–204, 206, 210 Batu Khan  69 Baudrillard, Jean  218 f. Bavil’skij, Dmitrij  238 Berdjaev, Nikolaj  17, 244 Blanchot, Maurice  200 Breeva, Tat’jana  129, 141, 144 Burkhart, Dagmar  175 f., 186 Cao, Qing  88 Castoriadis, Cornelius  28–31, 34 Cherniavsky, Michael  95 Clowes, Edith  17 Deleuze, Gilles  200 Dschingis Khan  106, 108 f., 196 Dugin, Aleksandr  16 f., 19, 70–72, 76 f., 79, 81, 84–86, 90–92, 94 f., 97 f., 112, 114, 116, 122, 162, 178, 196, 198–200, 239 f., 244 f., 253 f., 265 f. Engel, Christine  175, 227 Èpštejn, Michail  206, 222 Etkind, Aleksandr  104 Everett, Hugh  257 Filimonova, Tatiana  16, 183 Florovskij, Georgij  46

Foucault, Michel  22, 35, 119, 158, 200 Frank, Susi  12 f., 41 f., 46, 56, 78 Frank, Thomas  34 Freud, Sigmund  34, 109, 182 Genis, Aleksandr  179, 181, 214 Gentner, Dedre  58 Gerasimov, Il’ja  202 Gillespie, David  197 Glanc, Tomáš  19, 208 Glebov, Sergej  16, 47, 49, 51, 78 Gogol’, Nikolaj  206, 208 Gorbatschow, Michail  252 Gradinari, Irina  182 f. Guldin, Rainer  56 Gumilëv, Lev  18, 65–69, 129, 136, 163 Günther, Clemens  19 Haushofer, Karl  71 Hodel, Robert  198 Höllwerth, Aleksandr  16, 49, 70, 198 f. Huntington, Samuel  87 Ivan IV.  91, 197–199, 265 Ivanov, Vsevolod  50, 73, 75 Jakobson, Roman  46 Jakovlev, Lev  115, 129 Johnson, Mark  53, 78 Kagan, Mojsej  190 Kantorowicz, Ernst  94 f., 215, 228 Karsavin, Lev  46, 60, 63–65 Kasper, Karlheinz  91 Klitsche-Sowitzki, Ulrike  17 Kohns, Oliver  35 Konfuzius  142, 150, 152 Korovin, Sergej  97

Personenregister

Koschorke, Albrecht  34, 40, 49, 65, 87, 121 Koselleck, Reinhart  246 Koshino, Go  18 Kovalev, Manuela  187 Krier, Anne  214 Krusanov, Pavel  20, 24, 97–105, 108, 117, 119, 122, 125, 129 f., 133, 140, 188, 238, 264, 266 Kukulin, Il’ja  176 Kulik, Oleg  237 L’vovskij, Stanislav  246 f. Laclau, Ernesto  27 Lakoff, Georg  53, 78 Laruelle, Marlène  15 f., 46, 50, 72 f., 76, 88 Latynina, Alla  243 Lefort, Claude  27, 32 f. Lejderman, Naum  175, 188 Lenin, Vladimir  129 f., 157, 252 Lévi-Strauss, Claude  109 Link, Jürgen  22, 36 Lipoveckij, Mark  104 f., 123, 129, 139 f., 175, 179–181, 184, 188, 194, 201 f., 215, 217, 237, 244 Liu, Weijian  193 Lobin, Aleksandr  140 Lotman, Jurij  24, 38–40 Lüdemann, Susanne  28, 34, 90, 121 Mackinder, Halford  71, 76 f. Malinovskij, Aleksandr  67 Marchart, Oliver  27, 31, 142 Marsh, Rosalind  104, 123 Marusenkov, Maksim  184, 210 Matala de Mazza, Ethel  34, 121 Mensky, Michael  257 Menzel, Birgit  139 f. Mørch, Audun  98, 101 Mouffe, Chantal  27 Naumann, Kristina  219, 224 Newski, Aleksander  69, 136, 145, 156, 163

287 Noordenbos, Boris  98 f. Nosov, Sergej  97 Obermayr, Brigitte  182, 196 Oriševa, Ol’ga  101 Panarin, Aleksandr  72–74, 77, 80 f., 92–94, 254, 266 Parr, Rolf  36 Pelevin, Viktor  17, 237 Peter I.  56, 139, 156 Plotnikov, Nikolaj  61 Podal’skij, Nal’  97 Putin, Vladimir  9, 79, 98, 198, 252 Ratzel, Friedrich  57 Rekšan, Vladimir  97 Rosen, Tine  201 Ruhe, Cornelia  40 Rühl, Lothar  91 Rybakov, Vjačeslav  141 Sakwa, Richard  71 Sartaq Khan  69, 136, 145 Sasse, Silvia  176, 221 Savickij, Pëtr  45, 47 f., 54, 57–59, 65, 84, 240 Schmid, Ulrich  18 Schmitt, Carl  66 Ščukin, Vasilij  42 Sekackij, Aleksandr  97 f. Seleznëv, Gennadij  70 Shelley, Cameron  58 Sid, Igor’  41 Sirotinina, Svetlana  19 Slavnikova, Ol’ga  101, 179 Smirnov, Igor’  108, 180 Sokolov, Boris  197 Sorokin, Vladimir  17, 20, 25, 175–182, 184, 186–191, 194 f., 197–199, 202–204, 206–211, 213 f., 216–218, 221–225, 227–245, 247, 250–252, 254 f., 257, 260, 263–266 Spitta, Juliane  27, 35 Spukman, Nicholas J.  71

Personenregister

288 Stalin, Josef  129, 199, 248, 251 Suslov, Mikhail  139, 148, 155 Suvčinskij, Pëtr  45 Svjatopolk-Mirskij, Dmitrij  46 Thiriart, Jean-François  240 Titarenko, Michail  74–78, 82–84, 86, 88, 90, 135, 155, 237 f. Tönnies, Ferdinand  203 Trubeckoj, Nikolaj  45 Uffelmann, Dirk  18, 178, 184, 187, 191, 195, 198, 215, 233, 239 f., 244 f., 250 Uspenskij, Boris  55, 118, 225

van Gulik, Robert  141 van Zajčik, Chol’m  18, 20, 24, 135, 139, 141, 148, 263 f. Vernadskij, Georgij  46 von Bertalanffy, Ludwig  67 White, Kenneth  41 Widman, Andreas Martin  137 Wiederkehr, Stefan  15, 70, 72 Yurchak, Alexei  129 Zygmont, Aleksej  201