Imperiale Herrschaft im Weichselland: Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864-1915) 9783110345377, 9783486781427

This study investigates Russian rule in the Kingdom of Poland in the late 19th and early 20th centuries to explore the m

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Table of contents :
Inhalt
Teil I: Einleitung
1 Das Königreich Polen und die Petersburger Herrschaft: Zur Einleitung
2 Kontexte: Begrifflichkeiten, Konzepte und Diskussionszusammenhänge
Teil II: Strukturen, Akteure und Felder imperialer Herrschaft im Königreich Polen
3 Die Etablierung Petersburger Herrschaft im geteilten Polen (1772–1863)
4 Vom Königreich zum Weichselland: Das imperiale Regime nach dem Januaraufstand (1863–1915)
4.1 Russifizierung, Depolonisierung oder innerer Staatsaufbau? Zum Handlungshorizont imperialer Autoritäten
4.2 Das System der Nachaufstandsperiode: Die Verwaltung des Weichsellands nach 1864
5 Die imperiale Verwaltung und der „persönliche Faktor“: Die Statthalter und Generalgouverneure der Jahre 1864–1915
5.1 Fedor Fedorovic Berg und Pavel Evstafievic Kocebu
5.2 Petr Pavlovic Al’bedinskij
5.3 Iosif Vladimirovic Romejko-Gurko
5.4 Pavel Andreevic Šuvalov und Aleksandr Konstantinovic Imeretinskij
5.5 Michail Ivanovic Certkov und Georgij Antonovic Skalon
5.6 Zehn Gesandte des Zaren: Die Warschauer Generalgouverneure im Kollektivporträt
6 Dienst in einem fremden Land: Selbstverortungen imperialer Beamter im Königreich Polen
7 Geistige Zollschranken und grenzüberschreitende Kommunikation: Zarische Zensur und polnische Öffentlichkeit
7.1 Die zarische Zensur im Königreich Polen: Gesetze und Institutionen, Konflikte und Mentalitäten
7.2 Eine polnische Gegenöffentlichkeit? Untergrundaktivitäten und grenzüberschreitende Kommunikation
7.3 Zarische Zensur und russische Öffentlichkeit in Warschau
8 „Im Kampf mit dem Lateinertum“: Die Politisierung der Religion und die Konfessionalisierung der Politik
8.1 Nation und Religion im Zeitalter des konfessionellen Paradigmas
8.2 Von Schulgebeten und Marienbildern: Stolpersteine einer Religionspolitik im multikonfessionellen Imperium
Teil III: Das Imperium und die Metropole – Das Beispiel Warschau
9 Die zarische Bürokratie und der städtische Raum: Modernisierung ohne Selbstverwaltung. Warschau 1880–1915
9.1 Warschau um 1900: Verfall einer okkupierten Stadt oder Genese einer europäischen Metropole?
9.2 „Doppelherrschaft“ in Warschau: Stadtpräsident und Oberpolizeimeister und die munizipale Administration
9.3 Generalgouverneure und Petersburger Minister: Warschau als Reichsstadt. Imperiale Perspektiven auf einen lokalen Kontext
10 Die Moderne als urbanes Projekt: Warschau im Wandel und Kontaktzonen einer Konfliktgemeinschaft
10.1 Positivisten und Philanthropen: Die Warschauer Gesellschaft und die imperiale Bürokratie im Prozess städtischer Modernisierung
10.2 Hausbesitzer und Spekulanten, Konzessionen und Korruption: Modernisierung als Geschäft
10.3 Technokratische Stadtvisionen: Die Ingenieure und die urbane Moderne
10.4 Imperiale Herrschaft und städtische Modernisierung. Ein Fazit
Teil IV: Verfassungen imperialer Gesellschaft
11 Russkaja Varšava: Die Imperiale Gesellschaft in Warschau
11.1 Wohltätigkeitsverein, Männerklub und Buchhandlung: Anfänge einer Vergesellschaftung der russisch-imperialen Gemeinde in Warschau
11.2 Die „goldenen Jahre“: Die russisch-imperiale Gemeinde im ausgehenden 19. Jahrhundert
11.3 Kulturelle Begegnungen und ethnische Selbstabschließungen: Russisch-imperialer Alltag in einer Vielvölkermetropole
11.4 Städtebilder, Raumstrukturen und Kulturhierarchien: Zur Topographie von Russisch-Warschau
11.5 „Nationalisierung der Bildung“? Die Kaiserliche Universität in Warschau und die Politisierung der Professorenschaft
Teil V: Das Imperium in der Krise – Das Königreich Polen in den Jahren 1900–1914
12 Die Revolution von 1905–1907 im Königreich Polen
12.1 Erodierende Autoritäten: Tumulte, Anschläge und Gewaltkulturen 1900–1904
12.2 1904–1906: Die lange Revolution im Königreich
12.3 „Wiederherstellung der Ordnung“: Dezember 1905–1907
12.4 Der Wandel der Angsthierarchien und die Lehren von 1905: Zum (Um-)Denken zarischer Beamter nach der Revolution
13 Der lange Schatten der Revolution: Ausnahmezustand und Krisenbewältigung 1907–1914
13.1 Alltag im Ausnahmezustand 1906–1909
13.2 Rückkehr der Normalität? Gesellschaftliches Leben und politische Öffentlichkeit in Zeiten von Parlamentarismus und Pressefreiheit. Warschau 1909–1914
13.3 „Zwischen Hammer und Amboss“: Der polnisch-jüdische Konflikt und der antijüdische Boykott von 1912
13.4 Ein fremdes Königreich? Das Weichselland am Vorabend des Weltkriegs
Teil VI: Das Königreich Polen und das Russische Imperium – Schlussbemerkungen
14 Das Weichselland unter Petersburger Herrschaft
15 Das Weichselland: Ein Königreich im Kaiserreich
15.1 Die „lokalen Besonderheiten“ des Grenzgebiets: Das Königreich Polen als imperialer Sonderfall
15.2 Eine Provinzialisierung des Zentrums? Zum Stellenwert der polnischen Gebiete im russischen Reichsgefüge
Anhang
Anmerkungen zu Transliteration, Zitationsweise, Abkürzungen sowie Zeit-, Orts- und Namensangaben
Verzeichnis der Abbildungen
Personenverzeichnisse
Quellen und Bibliographie
Verzeichnis der veröffentlichten Quellen
Sachregister
Personenregister
Ortsregister
Ordnungssysteme
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Imperiale Herrschaft im Weichselland: Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864-1915)
 9783110345377, 9783486781427

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Malte Rolf Imperiale Herrschaft im Weichselland

Ordnungssysteme

| Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit

Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael

Band 43

Malte Rolf

Imperiale Herrschaft im Weichselland | Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864–1915)

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

ISBN 978-3-486-78142-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-034537-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039713-0 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

| Meinen Eltern

Danksagung Dieses Buch hätte ohne die Unterstützung zahlreicher Kolleginnen und Kollegen, Freunde und Verwandter nicht entstehen können. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Vor allem möchte ich Jörg Baberowski für die langjährige Begleitung und Förderung des Projekts danken. Seine dauerhafte Ermunterung und Freundschaft haben mich auf dem langen Weg zum Buch sehr gestärkt. In einer Vielzahl von Diskussionskontexten habe ich Kommentare, Hinweise und Anregungen zu meinen Forschungen erhalten. Die hier aufgeworfenen Fragen und geäußerten Kritiken haben dieses Projekt entscheidend vorangebracht und geprägt. Danken möchte ich dafür vor allem Jan Behrends, Dietrich Beyrau, Robert Blobaum, Tim Buchen, Łukasz Chimiak, Michail Dolbilov, Laura Engelstein, David Feest, Mirjam Galley, Jörg Ganzenmüller, Klaus Gestwa, Christoph Gumb, Jörn Happel, Ulrike von Hirschhausen, Andreas Kappeler, Michael Khodarkovsky, Robert Kindler, Tomasz Kizwalter, Martin Kohlrausch, Hanna Kozińska-Witt, Claudia Kraft, Jan Kusber, Alexander Martin, Aleksej Miller, Igor Narskij, Jan Plamper, Robert Przygrodzki, Cornelia Rauh, Gábor Rittersporn, Benjamin Schenk, Felix Schnell, Walter Sperling, Darius Staliunas, Mark Steinberg, Katya Vladimirov, Ricarda Vulpius, Theodore Weeks und Agnieszka Zabłocka-Kos. Auch die Gutachter meiner Habilitationsschrift haben ebenso wie die Herausgeber der Reihe „Ordnungssysteme“ wichtige Anstöße zur abschließenden Überarbeitung meiner Studie gegeben. Ich bin hier Jörg Baberowski, Hannes Grandits, Nikolaus Katzer und Anselm Doering-Manteuffel für die gründliche und kritische Lektüre des Manuskripts zu großem Dank verpflichtet. Das gilt auch für die vielen Personen, die mich auf meinen Forschungsreisen nach Warschau, Vilnius, Petersburg oder Moskau unterstützt haben. Besonders meinem Freund Ivan Uspenskij bin ich erneut für seine Hilfestellungen sehr dankbar. Danken möchte ich ebenso der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die diese Archivreisen mit ihrer Förderung überhaupt erst möglich gemacht hat. Dieser Dank geht gleichfalls an die Fritz Thyssen Stiftung und die VolkswagenStiftung, die zwei aus dem Kontext meiner Studie erwachsene Tagungen gefördert haben. Cornelia Reichelt, Hans Rolf, Mirjam Galley, Johanna Grasser, Dorothee Hüls und Philipp Schedl haben die Mühsal der Korrektur auf sich genommen und dabei unter gelegentlich großem Zeitdruck mit bewundernswerter Aufmerksamkeit und Geduld die ursprünglich mehr als 800 Manuskriptseiten sowie Druckfahnen nach Fehlern und Unstimmigkeiten gesichtet.

VIII | Danksagung

Die wichtigste und schönste Unterstützung in den Jahren des Forschens und Schreibens habe ich jedoch von meiner Familie erfahren. Jolita, Jonas und Leja sind mein größtes Glück. Sie geben mir die Kraft zu arbeiten und das Lachen über das Leben. Ich bin ihnen für die Geduld, die sie mit mir hatten, und die Freude, die sie mir jeden Tag bereiten, unendlich dankbar. Mein ganz besonderer Dank gilt auch meinen Eltern Gertie und Hans. Ihre Herzlichkeit, ihr großzügiger und unermüdlicher Beistand, ihre anstiftende Lebensfreude und ihre unkonventionelle Sicht auf die großen und kleinen Dinge des Daseins haben ein Umfeld geschaffen, in dem die Arbeit am Manuskript leicht fiel, manchmal überhaupt erst möglich wurde. Viele Abschnitte habe ich in ihrem Landhaus – diesem Rückzugsort vor der Hektik des Alltags – geschrieben. Mit dem Gefühl großen Glücks und tiefer Dankbarkeit denke ich an ihre Teilhabe an meinem Schaffen und Lebensweg. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.

Inhalt Teil I:

Einleitung

1

Das Königreich Polen und die Petersburger Herrschaft: Zur Einleitung | 3

2

Kontexte: Begrifflichkeiten, Konzepte und Diskussionszusammenhänge | 13

Teil II: Strukturen, Akteure und Felder imperialer Herrschaft im Königreich Polen 3

Die Etablierung Petersburger Herrschaft im geteilten Polen (1772–1863) | 25

4

Vom Königreich zum Weichselland: Das imperiale Regime nach dem Januaraufstand (1863–1915) | 39 Russifizierung, Depolonisierung oder innerer Staatsaufbau? Zum Handlungshorizont imperialer Autoritäten | 57 Das System der Nachaufstandsperiode: Die Verwaltung des Weichsellands nach 1864 | 66

4.1 4.2

5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6

6

Die imperiale Verwaltung und der „persönliche Faktor“: Die Statthalter und Generalgouverneure der Jahre 1864–1915 | 83 Fedor Fedorovič Berg und Pavel Evstafievič Kocebu | 83 Petr Pavlovič Al’bedinskij | 85 Iosif Vladimirovič Romejko-Gurko | 89 Pavel Andreevič Šuvalov und Aleksandr Konstantinovič Imeretinskij | 95 Michail Ivanovič Čertkov und Georgij Antonovič Skalon | 101 Zehn Gesandte des Zaren: Die Warschauer Generalgouverneure im Kollektivporträt | 105 Dienst in einem fremden Land: Selbstverortungen imperialer Beamter im Königreich Polen | 111

X | Inhalt

7 7.1 7.2 7.3 8 8.1 8.2

Geistige Zollschranken und grenzüberschreitende Kommunikation: Zarische Zensur und polnische Öffentlichkeit | 125 Die zarische Zensur im Königreich Polen: Gesetze und Institutionen, Konflikte und Mentalitäten | 127 Eine polnische Gegenöffentlichkeit? Untergrundaktivitäten und grenzüberschreitende Kommunikation | 139 Zarische Zensur und russische Öffentlichkeit in Warschau | 149 „Im Kampf mit dem Lateinertum“: Die Politisierung der Religion und die Konfessionalisierung der Politik | 155 Nation und Religion im Zeitalter des konfessionellen Paradigmas | 156 Von Schulgebeten und Marienbildern: Stolpersteine einer Religionspolitik im multikonfessionellen Imperium | 171

Teil III: Das Imperium und die Metropole – Das Beispiel Warschau 9 9.1 9.2 9.3

10 10.1

10.2 10.3 10.4

Die zarische Bürokratie und der städtische Raum: Modernisierung ohne Selbstverwaltung. Warschau 1880–1915 | 183 Warschau um 1900: Verfall einer okkupierten Stadt oder Genese einer europäischen Metropole? | 185 „Doppelherrschaft“ in Warschau: Stadtpräsident und Oberpolizeimeister und die munizipale Administration | 197 Generalgouverneure und Petersburger Minister: Warschau als Reichsstadt. Imperiale Perspektiven auf einen lokalen Kontext | 215 Die Moderne als urbanes Projekt: Warschau im Wandel und Kontaktzonen einer Konfliktgemeinschaft | 227 Positivisten und Philanthropen: Die Warschauer Gesellschaft und die imperiale Bürokratie im Prozess städtischer Modernisierung | 227 Hausbesitzer und Spekulanten, Konzessionen und Korruption: Modernisierung als Geschäft | 245 Technokratische Stadtvisionen: Die Ingenieure und die urbane Moderne | 264 Imperiale Herrschaft und städtische Modernisierung. Ein Fazit | 276

Inhalt | XI

Teil IV: Verfassungen imperialer Gesellschaft 11 11.1

11.2 11.3 11.4 11.5

Russkaja Varšava: Die Imperiale Gesellschaft in Warschau | 283 Wohltätigkeitsverein, Männerklub und Buchhandlung: Anfänge einer Vergesellschaftung der russisch-imperialen Gemeinde in Warschau | 284 Die „goldenen Jahre“: Die russisch-imperiale Gemeinde im ausgehenden 19. Jahrhundert | 293 Kulturelle Begegnungen und ethnische Selbstabschließungen: Russisch-imperialer Alltag in einer Vielvölkermetropole | 298 Städtebilder, Raumstrukturen und Kulturhierarchien: Zur Topographie von Russisch-Warschau | 303 „Nationalisierung der Bildung“? Die Kaiserliche Universität in Warschau und die Politisierung der Professorenschaft | 313

Teil V: Das Imperium in der Krise – Das Königreich Polen in den Jahren 1900–1914 12 12.1 12.2 12.3 12.4

13 13.1 13.2

13.3 13.4

Die Revolution von 1905–1907 im Königreich Polen | 325 Erodierende Autoritäten: Tumulte, Anschläge und Gewaltkulturen 1900–1904 | 328 1904–1906: Die lange Revolution im Königreich | 341 „Wiederherstellung der Ordnung“: Dezember 1905–1907 | 357 Der Wandel der Angsthierarchien und die Lehren von 1905: Zum (Um-)Denken zarischer Beamter nach der Revolution | 367 Der lange Schatten der Revolution: Ausnahmezustand und Krisenbewältigung 1907–1914 | 375 Alltag im Ausnahmezustand 1906–1909 | 375 Rückkehr der Normalität? Gesellschaftliches Leben und politische Öffentlichkeit in Zeiten von Parlamentarismus und Pressefreiheit. Warschau 1909–1914 | 388 „Zwischen Hammer und Amboss“: Der polnisch-jüdische Konflikt und der antijüdische Boykott von 1912 | 398 Ein fremdes Königreich? Das Weichselland am Vorabend des Weltkriegs | 411

XII | Inhalt

Teil VI: Das Königreich Polen und das Russische Imperium – Schlussbemerkungen 14

Das Weichselland unter Petersburger Herrschaft | 419

15 15.1

Das Weichselland: Ein Königreich im Kaiserreich | 431 Die „lokalen Besonderheiten“ des Grenzgebiets: Das Königreich Polen als imperialer Sonderfall | 431 Eine Provinzialisierung des Zentrums? Zum Stellenwert der polnischen Gebiete im russischen Reichsgefüge | 437

15.2

Anhang Anmerkungen zu Transliteration, Zitationsweise, Abkürzungen sowie Zeit-, Orts- und Namensangaben | 463 Verzeichnis der Abbildungen | 465 Personenverzeichnisse | 467 Quellen und Bibliographie | 471 Verzeichnis der veröffentlichten Quellen|472 Sachregister | 525 Personenregister | 529 Ortsregister | 531 Ordnungssysteme | 533

| Teil I: Einleitung

1 Das Königreich Polen und die Petersburger Herrschaft: Zur Einleitung Der 22. Dezember 1913 hätte ein Festtag für Warschau werden können. Endlich sollte die dritte Weichselbrücke eingeweiht werden. Nach beinahe zehn Jahren Bauzeit war das imposante Werk fertiggestellt. Und doch wollte keine Feierstimmung in der winterlichen Stadt aufkommen. Ein erbitterter Streit zwischen der zarischen Bürokratie und der lokalen Bürgerschaft trübte die Zeremonie. Es ging um die Frage, welcher Bischof die Weihung des Viadukts vorzunehmen habe. Gebührte dem russisch-orthodoxen oder dem katholischen Kirchenmann dieses Privileg? Da sich die imperialen Behörden weigerten, den katholischen Geistlichen in den Festakt einzubinden, boykottierte ein Großteil der geladenen Honoratioren die Veranstaltung. In der Stadt kursierten Gerüchte über weitere, radikalere Proteste, so dass die Sicherheitsbehörden vor Ort erhöhte Schutzmaßnahmen veranlassten. Auch wenn die Feier letztlich ruhig verlief, kam sogar ein zarischer Beamter zu dem Schluss, dass diese Unstimmigkeiten die Feierlichkeiten „doch sehr verdorben hätten“.1 Die Weichselbrücke war das beeindruckende Resultat einer gelungenen Kooperation von zentralen Petersburger Instanzen, Warschauer Munizipalverwaltung und Teilen der polnischen Wirtschafts- und Technikelite. Aber der Konflikt um die symbolische Hierarchie der Einweihung bezeugt, wie wenig tragfähig ein solcher Konsens im Königreich Polen war. Schon in der Interpretation der Urheberschaft dieses städtischen Modernisierungsprojekts gingen die Meinungen weit auseinander. In der Wahrnehmung einer polnischen Öffentlichkeit war die Brücke aus den Mitteln der Stadt und über die Steuern ihrer Bürger finanziert worden. In der Perspektive der Beamten handelte es sich dagegen um einen Bau, den die imperiale Administration initiiert, realisiert und durch einen zentralen Kredit erst ermöglicht hatte. Je nach Deutung war dem katholischen oder dem orthodoxen Geistlichen der Vorrang in der Zeremonie bestimmt. Im Streit um die Rangordnung der Würdenträger wurden zugleich weit grundsätzlichere Ansprüche auf Hegemonie in der Weichselmetropole und im Königreich verhandelt. In dem Symbolkampf des Jahres 1913 verdichteten sich zahlreiche Konfliktlinien jenes Antagonismus, der die polnischen Gebiete unter russischer Herrschaft seit Jahrzehnten kennzeichnete. Es ging um die funda-

|| 1 APW, t.24 (WWO), sygn.263, kart.1–6 [Bericht über gesellschaftliche Entwicklungen in Warschau, 14.1.1914], hier kart.5v.

4 | 1 Das Königreich Polen und die Petersburger Herrschaft: Zur Einleitung

mentale Frage, wer das legitime Anrecht auf die Führung der Provinz habe, wem – wie sich der kommentierende Beamte zum Brückenstreit ausdrückte – das Königreich und die Stadt Warschau „gehöre“.2 Hier trat eine Konfrontation zwischen Bürokratie und Bevölkerung zu Tage, die die alltägliche Kommunikation der lokalen Konfliktgemeinschaft seit den Teilungen der Polnisch-Litauischen Adelsrepublik bestimmte und die seit der Niederschlagung des Januaraufstands von 1863 eine neue Qualität angenommen hatte. Welchen Ursprung dieser Antagonismus hatte, welche Formen er in dem halben Jahrhundert zwischen der Erhebung von 1863–64 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs annahm, welche Wandlungen er durchlief und welche Protagonisten sich gegenübertraten – all das ist Gegenstand dieses Buchs. Es wirft damit zugleich die grundsätzliche Frage nach den Formen, Strukturen und Akteuren imperialer Herrschaft im späten zarischen Vielvölkerreich auf. Denn das Zusammentreffen von Bürokratie und Bevölkerung in den polnischen Provinzen, ihre zahlreichen Auseinandersetzungen und Interaktionen eröffnen den Blick auf die Verfasstheit des Romanow-Imperiums insgesamt sowie auf die treibenden Kräfte seiner Transformation im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Am Fallbeispiel des „Weichsellands“3 wird die Komplexität des multiethnischen und -konfessionellen Staatsgebildes sichtbar und es treten die Grundprobleme der imperialen Verwaltung in einem Vielvölkerreich zu Tage, das vor allem an seinen Peripherien einem Flickenteppich aus Rechtssonderbereichen glich. Hier zeigt sich die Integrationsleistung des Reichsgefüges, aber auch seine zunehmende Fragilität. Und es lässt sich eine Geschichte des Alltags imperialer Machtausübung erzählen, die deren Prägekraft für die sozialen und kulturellen Strukturen einer der wichtigsten Reichsprovinzen aufzeigt. Es wird die widerspruchsvolle Situation einer konfliktintensiven Kommunikation zwischen Amtsträgern und Untertanen porträtiert werden, die doch immer wieder Momente der Grenzüberschreitung, des Konsenses und der Kooperation hervorbrachte. Es sind die administrativen Eliten der Petersburger Herrschaft, die im Mittelpunkt dieses Buchs stehen. Sie waren es, die in der Metropole an der Newa die Richtlinien für den Umgang mit der Heterogenität des Staatsverbundes ent|| 2 APW, t.24 (WWO), sygn.263, kart.1–6 [Bericht über gesellschaftliche Entwicklungen in Warschau, 1.12.1913–1.1.1914], hier kart.5v. 3 Seit 1864 hieß das Territorium offiziell Weichselland (Privislinskij kraj). Die zarischen Behörden vermieden nun den Hinweis auf eine eigenständige polnische Staatstradition. Allerdings wurde auch in der internen Korrespondenz der Regierungsbehörden die Bezeichnung Königreich Polen (Carstvo Pol’skoe) teilweise fortgeführt. Die Begriffe werden in dieser Arbeit als Synonyme verwendet.

1 Das Königreich Polen und die Petersburger Herrschaft: Zur Einleitung | 5

warfen, sie waren aber auch in der Peripherie diejenigen, die den zarischen Machtanspruch repräsentierten und das imperiale Regime implementierten. Im Königreich Polen war die Hegemonie dieser staatlichen Funktionsträger besonders ausgeprägt, da hier die leitenden Posten der Lokalverwaltung nach der Januarerhebung ausschließlich mit ortsfremden, vom Zaren und seinem Innenminister bestimmten Beamten besetzt wurden und zugleich alle Instanzen lokaler Selbstverwaltung untersagt blieben. In einer Untersuchung ihrer administrativen Praktiken, ihrer internen und externen Kommunikation sowie ihrer Selbstbilder werden diese wesentlichen Träger imperialer Herrschaft in einer der bedeutendsten Provinzen des Russischen Reichs profiliert. An dem zentralen Stellenwert des Weichsellands für den übergeordneten Zusammenhang des Imperiums besteht kein Zweifel. Das Königreich stellte eine der bevölkerungsstärksten, militärstrategisch und wirtschaftlich bedeutendsten Peripherien des Reichs dar.4 Als westlicher Vorposten in unmittelbarer Nachbarschaft und Konkurrenz zu den polnischen Teilungsgebieten ÖsterreichUngarns und Preußens war das multiethnische und -konfessionelle Königreich in vielem ein Laboratorium des Imperiums, in dem Praktiken der Herrschaftssicherung und Integrationskonzepte erprobt, verworfen und zum Teil auch erst erfunden wurden. Das Weichselland verfügte insofern über einen besonders prominenten Status bei den strategischen und programmatischen Überlegungen und Entscheidungen in St. Petersburg. Auch deshalb verspricht eine Studie zur imperialen Herrschaft im Königreich grundlegende Einsichten in jene Techniken, mit denen das Russische Reich seine Randgebiete inkorporierte und transformierte, sowie in jene Wechselwirkungen, mit denen die Peripherien auf das Gesamtgefüge zurückwirkten und letztlich dessen Stabilität gefährdeten.5 Die zeitliche und räumliche Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands ist von der Überlegung geleitet, dass sich die Vielschichtigkeiten und Inkonsistenzen, aber auch die formativen Dimensionen des imperialen Kontextes nur bei der dichten Beschreibung eines spezifischen, „situativen“ Interaktionsgeflechts herausarbeiten lassen. Denn ein solcher „situational approach“ verspricht, die Gemengelage der Strukturen und Akteure sowie die Wechselbezie-

|| 4 Im Königreich Polen lebten zum Zeitpunkt der Volkszählung von 1897 mehr als 9,4 Millionen Menschen. Die Bevölkerungsdichte war mit Abstand die höchste im Reich, Warschau mit fast 700.000 Bewohnern die drittgrößte Stadt im Imperium. Vgl. Henning Bauer/Andreas Kappeler/Brigitte Roth (Hrsg.): Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897, Bd. B, Stuttgart 1991, S. 34 und S. 408–409. 5 Beispielsweise betrafen unter Alexander III. 30 % aller Resolutionen, die der Zar nach Vorlage des Ministerkomitees unterzeichnete, die polnischen Provinzen. Vgl. L. E. Gorizontov: Paradoksy imperskoj politiki: Poljaki v Rossii i russkie v Pol’še (XIX – načalo XX v.), Moskau 1999, S. 215.

6 | 1 Das Königreich Polen und die Petersburger Herrschaft: Zur Einleitung

hungen ihrer Interessen und Selbstbilder und damit die reziproken Wirkungen von Zentrum und Peripherie in ihrer Komplexität beschreibbar zu machen.6 Eine solche Einsicht lässt den territorialen und chronologischen Zugriff traditioneller Nationalhistoriographien problematisch erscheinen, da hier Einheiten langer Dauer konstruiert werden, die historisch nicht bestanden oder wie im Fall der polnischen Teilungsgebiete für lange Zeit außer Kraft gesetzt waren. Vielmehr tritt die Prägekraft imperialer Grenzziehungen sowie der korrespondierenden administrativen Strukturen und Akteure zu Tage. Die räumlichen Trennlinien und temporalen Einschnitte, die die zarischen Machtinstanzen forcierten, bestimmten die Rahmenbedingungen, in denen sich die lokalen Entwicklungen vollzogen. Dies ist der Grund, warum sich die Studie auf das Weichselland und damit auf ein Gebilde von Petersburger Gnaden konzentriert und warum die tiefen Zäsuren von 1864 und 1915 ihre zeitliche Spannweite abstecken. Hier steht vor allem Warschau als Zentrum der Bürokratie und als Verdichtungsraum der Interaktionen zwischen imperialer Verwaltung und lokaler Bevölkerung im Mittelpunkt der Untersuchung.7 Als Schwerpunkte des Buchs sind sechs Themenfelder zu benennen. Die administrativen Apparate, die die zarischen Autoritäten nach dem polnischen Januaraufstand von 1863 zur Steuerung der rebellischen Provinzen etablierten und die bis zum Ende der russischen Präsenz im Weichselland 1915 Bestand hatten, machen den ersten und wichtigsten dieser Schwerpunkte aus. Die Studie arbeitet die Strukturen und inneren Logiken der Staatsverwaltung heraus und porträtiert die zentralen Akteure in diesem Gefüge. So entsteht das Bild einer vielschichtigen und heterogenen Bürokratie der Nachreformzeit, die sich durch die Ambivalenz von fortschreitender Professionalisierung und der Persistenz von Adels- und Patronagenetzwerken auszeichnete. In den zahlreichen internen Auseinandersetzungen der Administration offenbarte sich zugleich die Konfliktintensität des Verhältnisses von Verwaltungsinstanzen im Zentrum und in der Peripherie. Auf die konkrete Realisierung imperialer Herrschaft in den Randprovinzen hatten diese Kompetenzstreitigkeiten innerhalb des Staatsapparats unmittelbaren Einfluss. Vor allem der Institution des Statthalters beziehungsweise seit 1874 des Generalgouverneurs als obersten Beamten im Weichselland gilt die Aufmerksam|| 6 Vgl. Aleksei Miller: The Romanov Empire and Nationalism: Essay in the Methodology of Historical Research, Budapest 2008, S. 10–20. 7 Die grundsätzliche Differenz zwischen dem Weichselland und den sogenannten westlichen Gouvernements (zapadnye gubernii), jenem größeren Teil der polnisch-litauischen Teilungsgebiete, die Russland seit dem 18. Jahrhundert besetzt hielt bzw. inkorporiert hatte, wird im Abschnitt Strukturen und Akteure imperialer Herrschaft ausführlicher diskutiert.

1 Das Königreich Polen und die Petersburger Herrschaft: Zur Einleitung | 7

keit. Die Bedeutung der jeweiligen Amtsinhaber für die Petersburger Machtausübung war zentral: Sie prägten die lokalen Herrschaftspraktiken und wirkten zugleich auf die Entscheidungsgremien im Zentrum ein. Sie waren als direkte Gesandte des Zaren mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet und verfügten über erhebliche Spielräume, um die Ausrichtung imperialer Politiken vor Ort konkret zu gestalten. Die Führungsstile, die die jeweiligen Generalgouverneure präferierten, offenbaren zugleich die divergierenden und sich wandelnden politischen Optionen der zeitgenössischen Funktionsträger. Maßnahmen zur Aufstandsvermeidung, Zentralisierungsbemühungen, Direktiven zur „Russifizierung“ oder „Depolonisierung“ der Provinz und ihrer Verwaltung sowie Versuche, einen modus vivendi mit der einheimischen Bevölkerung zu finden, korrespondierten und standen doch in einem Spannungsverhältnis, das Reibungen zwischen verschiedenen Staatsbeamten und -institutionen hervorrief. Eine Darstellung dieses Panoramas an Herrschaftspraktiken erlaubt generelle Aussagen zum Charakter imperialer Machtausübung, zu ihren Techniken, Konzepten und Strategien, aber auch ihren Paradoxien im Russischen Reich nach 1860. Grundlegende Strukturmerkmale der imperialen Apparate im Königreich bedingten zugleich die Konfliktlagen, die sich zwischen der zarischen Bürokratie und der einheimischen Bevölkerung entfalteten. Damit ist das zweite Schwerpunktthema dieser Studie benannt. Denn die Techniken imperialer Herrschaft nahmen nur in der Interaktion mit den Bewohnern der unterworfenen Reichsprovinz ihre konkrete Form an. Die Versuche der Autoritäten, eine Petersburger Hegemonie durchzusetzen, standen in Wechselwirkung mit den Handlungen und Reaktionen der polnischen und jüdischen Untertanen des Weichsellands. Hier konstituierte sich eine „Konfliktgemeinschaft“, in der die antagonistischen Akteure in beständiger Kommunikation standen und es in den Auseinandersetzungen zu zahlreichen Austauschprozessen kam.8 Das Bestreben Petersburgs, die indigene Bevölkerung aus den Entscheidungspositionen der Provinzverwaltung fernzuhalten, prägte die Grundstruktur und Dynamik der Konfrontation. So stand eine von Petersburg gesandte Bürokratie dauerhaft als externe Kraft der indigenen Bevölkerung gegenüber. An diesem Tatbestand änderte auch der Umstand wenig, dass etliche der Beamten sich über lange Dienstjahre im Weichselland und aufgrund ihrer Zirkulation in den polnischen Gouvernements zu Experten der Peripherie entwickelten. Das Buch präsentiert exemplarische Interaktions- und Konfliktsituationen. Zarische Zensur und staatliche Bildungs- oder Religionspolitik geben ebenso

|| 8 Vgl. auch Jan Křen: Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780–1918, München 1996.

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wie die Verwaltungspraktiken der modernen Metropole Warschau Einblick in den Alltag Petersburger Machtausübung. Sie verdeutlichen zugleich, wie stark die von den Zeitgenossen oft zitierten „besonderen Bedingungen“ des Königreichs auf bürokratische Praktiken zurückwirkten – und das gerade auch in jenen langen Phasen, die nicht primär durch bewaffnete Konfrontation und extreme Gewalt gekennzeichnet waren. In den alltäglichen Auseinandersetzungen im Weichselland treten zahlreiche Wechselwirkungen zwischen Beamten und Bevölkerung zu Tage, werden Formen und Grenzen der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen ethnischen und konfessionellen Milieus sichtbar. Muster und Räume ihrer Kooperationen scheinen ebenso auf wie deren Grenzen, die Existenz von Parallelwelten in gleichem Maße wie Momente von Grenzüberschreitungen. Zugleich manifestiert sich das Aufeinandertreffen von Maßnahmen und Kräften der Repression, der Renitenz, des Widerstands und nicht zuletzt der bewaffneten Erhebung. Gerade die Krisensituation der Jahre 1905–14 zeugt davon, dass diese sehr verschiedenen Interaktionsmuster oft genug zeitgleich bestanden. Militärische Aufstandsunterdrückung und die Entfaltung einer legalen politischen Öffentlichkeit waren keine Gegensätze, sondern Prozesse, die nicht nur simultan abliefen, sondern sich auch gegenseitig bedingten. Die Revolution von 1905–06 bedeutete nicht nur eine zwischenzeitliche Gefährdung der Autokratie ebenso wie der Petersburger Oberherrschaft im Weichselland. Sie stellte auch für viele der Prozesse und Konflikte, die die letzte Vorkriegsdekade im Russischen Reich bestimmen sollten, einen Katalysator dar. Die systemerschütternden Erhebungen generierten neue Strategien des Machterhalts bei den zarischen Autoritäten und sie schufen neue politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen für die Ausübung imperialer Herrschaft wie auch für die Artikulation öffentlicher Meinung und die Foren politischer Interessenvertretung. In diesem Buch ist daher der Revolution und ihren Folgewirkungen ein gesonderter Abschnitt gewidmet, der sich einer Chronologie der turbulenten Ereignisse annimmt. Denn die revolutionäre Dynamik und die mit ihr verbundene Eskalation der Gewalt verlangen eine chronologische Sicht auf die Konfliktgenese und die Ausweitung der Auseinandersetzungen zu einer Revolution, die die polnischen Provinzen flächendeckend erfasste. Nicht zuletzt in der Revolution wurde deutlich, wie prägend die Petersburger Herrschaft auf die gesellschaftlichen Formationen und die korrespondierenden politischen Forderungen im Königreich seit den 1860er Jahren gewirkt hatte. Damit ist das dritte Themenfeld der Studie angesprochen. Sie zeigt die formative Dimension imperialer Machtausübung am Beispiel des Weichsellands auf. Die administrativen Apparate der Autokratie, ihr Personal und die von ihnen erlassenen oder umgesetzten bürokratischen Bestimmungen entfalteten eine Prägekraft, die auf die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen im König-

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reich tiefgreifenden Einfluss nahm. Die in der Interaktion aus Bürokratie und Bevölkerung geborenen imperialen Herrschaftspraktiken bestimmten nachhaltig den Wandel der sozialen und kulturellen Landschaft der polnischen Provinzen und sie prägten den Verlauf der Konfliktlinien zwischen Staat und Gesellschaft. Noch in den unbeabsichtigten oder kontra-intentionalen Folgewirkungen zarischer Verwaltungstechniken offenbart sich ihr formativer Zug, da sie die Rahmenbedingungen setzen, innerhalb derer sich die Transformation von lokaler Soziabilität und den korrespondierenden kulturellen Entwürfen vollzog. Dies galt auch für die Selbstverortung der administrativen Eliten – dem vierten Schwerpunkt des Buchs. Diese basierte keinesfalls auf stabilen, unveränderlichen Glaubens- und Wissenssätzen, sondern stellte eine relationale Größe dar, die einem ständigen Wandel unterworfen war. Die Interaktionsformen der Konfliktgemeinschaft im Königreich wirkten prägend auf die Selbstbilder der imperialen Beamten zurück. Es wird darum gehen, die mentalen Horizonte der Funktionsträger der Autokratie zu porträtieren und zugleich zu profilieren, wie sich diese angesichts der Herausforderungen verschoben, die die polnische und jüdische Infragestellung der Legitimität Petersburger Präsenz im Weichselland bedeutete. Die handlungsleitenden Konzepte und Begrifflichkeiten der imperialen Beamten entstanden in einem Schnittfeld, in dem die Logiken der administrativen Apparate, die politischen Vorprägungen der Akteure und die Dynamik der Begegnung, oft genug der Konfrontation, mit der indigenen Bevölkerung ineinander wirkten. Vorstellungen vom Imperium, seinem Grundcharakter, seinen Gefährdungen sowie der eigenen Rolle bei der Aufrechterhaltung von Ordnung wurden in der konfliktreichen Kommunikation mit dem einheimischen Gegenüber geprägt. Die Fremdwahrnehmung der katholisch-jüdischen Umwelt im Weichselland hatte zudem Auswirkungen auf die eigenen Identitätsentwürfe der Petersburger Gesandten. Ihre Bilder vom Russischen, ihre Kriterien zur Identifizierung von kultureller Differenz wie auch ihre Hierarchisierungen der Reichsuntertanen und -völker erfolgten in Abgrenzung vom polnischen „Anderen“. Die Dauerhaftigkeit eines konfessionellen Paradigmas bei der Bestimmung von Verschiedenartigkeit oder auch die lokale Skepsis gegenüber den „Annäherungs-“ und „Verschmelzungs“-Visionen eines slawophilen und panslawischen Denkens erklären sich nicht zuletzt aus der Konfliktsituation, die für das Königreich als Erfahrungsraum kennzeichnend war. Zugleich formten die Repräsentanten Petersburger Herrschaft in ihrem Handeln und Auftreten bei den polnischen und jüdischen Untertanen das Bild, welches sich diese vom Russischen Reich und von der „russischen Fremdherrschaft“ machten. Die Symbole und Rituale einer Kultur der Differenz und Diskriminierung waren alltägliche Bestätigungen eben dieser russischen Fremdheit und hatten unmittelbare Auswirkungen auf die Formierung einer Vorstellung

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vom eigenen Polnisch- oder Jüdischsein. Die das Imperium herausfordernden Entwürfe von modernen Ethnonationen, die sich seit den 1890er Jahren herausbildenden neuen Organisationsformen und die sich artikulierenden Forderungen nach politischer Mit- und Selbstbestimmung waren auf das Engste mit den Strukturen und Praktiken Petersburger Herrschaft verflochten. Aber auch hier gilt, dass nicht allein die Konfrontation dominierte, sondern zahlreiche Phänomene von Grenzüberschreitungen möglich waren. In diesem Buch kommen daher jene polnisch-jüdischen gesellschaftlichen Kreise zu Wort, denen das Imperium eine Chance für Karriere, Mobilität und Geschäft bot und die positivere Deutungen vom Reichszusammenhang als jene eines Unterdrückungs- und Besatzungsregimes entwickelten. Die Prägekraft der Konfliktgemeinschaft im Weichselland wird zudem deutlich, wenn man sich der Entstehung einer imperialen Gesellschaft in den polnischen Provinzen und allen voran in Warschau annimmt. Die Profilierung der sozialen und kulturellen Welt dieser imperialen Diaspora bildet den fünften Schwerpunkt der Studie. Der Kreis der Zeitgenossen, die sich als Repräsentanten des Imperiums verstanden, beschränkte sich keinesfalls nur auf die kleine Gruppe von Amtsträgern der zarischen Bürokratie. Vielmehr ließen sich in der Nachaufstandsperiode zahlreiche Menschen in der Weichselmetropole nieder, die sich selbst als Angehörige einer imperialen Gemeinde sahen und die doch nicht zum exklusiven Zirkel der Staatsbeamten im engeren Sinne gehörten. Manche von ihnen – Akademiker, Ingenieure oder Statistiker – standen zwar im Staatsdienst, agierten ihrem Selbstverständnis nach aber als Privatpersonen. Andere – Immobilienhändler, Anwälte, Publizisten oder Verleger – versuchten als selbstständige Geschäftsleute in Warschau Fuß zu fassen. Die vornehmlich russisch-orthodoxen Mitglieder dieser imperialen Diaspora bevölkerten das Paralleluniversum eines Russisch-Warschau und entwickelten eine eigenständige urbane Kulturlandschaft, die weitgehend von jener der polnischen oder jüdischen Nachbarn isoliert blieb. Die Markierung von Differenz zu den nicht-orthodoxen, „fremdgläubigen“ Stadtmilieus und die Proklamation von Dominanz über sie waren in dieser Enklave ein starker Stimulus, um über das Besondere des Russischen zu reflektieren und seine Privilegierung im Reichsverbund einzufordern. Auch hier wirkte die Revolution von 1905 als Katalysator und stärkte die Positionen derjenigen, die für eine radikale Nationalisierung des Imperiums eintraten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt zeigten sich auch die Friktionen, die zwischen der hohen Staatsverwaltung und der imperialen Gemeinde in Warschau bestanden. Die Verwaltungselite des Vielvölkerreichs wurde in ihrer Multi- und Supranationalität zu einem Stein des Anstoßes für eine nationalistische Öffentlichkeit, die das Imperium immer mehr mit dem Russentum gleichsetzte. Wie sich zeigen wird,

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erwuchs der zarischen Bürokratie damit am Vorabend des Weltkriegs eine weitere Herausforderung. Dies galt für das Weichselland ebenso wie für andere Reichsperipherien und das Petersburger Zentrum. Aber das Königreich stellte in vielem einen imperialen Sonderfall dar, dessen Konflikte auf das Reichsinnere und die Metropole an der Newa zurückwirkten. Diese Wechselbeziehungen zwischen polnischen und anderen Randgebieten sowie der Reichshauptstadt bilden den sechsten Themenschwerpunkt dieses Buchs. Eine solche Interdependenz wurde durch das Rotationsprinzip der Staatsverwaltung erheblich befördert. Staatsbeamte mit Dienst- und Konfrontationserfahrung im Weichselland waren oft im Einsatz in anderen Randgebieten. Als Experten der Peripherie übernahmen sie leitende Posten in Grenzgouvernements, einige von ihnen rückten bis in die Petersburger Machtzentralen vor. Mit diesem Personal zirkulierte auch das Wissen um jene Herrschaftspraktiken, die sich im Königreich bewährt hatten. So wanderten die Vorstellungen von Konfliktlagen und die Konzepte ihrer „Lösung“ über diese Beamten mit imperialer Biographie von Provinz zu Provinz und aus den Peripherien ins Zentrum. Das Weichselland war eine „Brutstätte“9 der Konfrontation, die erheblich zur Erosion der Autorität einer supra-nationalen Dynastie beitrug. Dies gilt keinesfalls nur mit Blick auf das revolutionäre Spektrum polnischer oder jüdischer Provenienz. Denn auch die imperialen Beamten und vor allem die Vertreter der russischen Gemeinde in Warschau bezogen in den reichsweiten Debatten um die „polnische Frage“ Stellung. Sie kommunizierten Bilder vom „rebellischen Polen“, von der „russischen Wacht an der Weichsel“, vom „Kampf der Völker“ in der westlichen Reichsperipherie und nicht zuletzt auch von einer Hierarchisierung des Imperiums in „Kern“ und „Grenzsaum“. Einige von ihnen zeichneten sich durch rege Publikationstätigkeit aus, mit der sie eine breitere innerrussische Öffentlichkeit zu erreichen versuchten. Die „Warschauer Jahre“ treten als Topos jener Denkschriften hervor, in denen die grenzraumerprobten Funktionsund Meinungsträger Konzepte der Nationalisierung des Imperiums popularisierten. Indem diese Experten des Fremden aus den polnischen Randgebieten in zunehmendem Maße die politischen Diskussionen um die „nationalen Fragen“ in St. Petersburg bestimmten und in die entsprechenden Publikationsorgane und politischen Parteien drängten, trugen sie auch im Russischen Reich zu einer „Provinzialisierung“ des hauptstädtischen Meinungsmarkts bei.10 Diese

|| 9 Vgl. Političeskie itogi. Russkaja politika v Pol’še, anonym publiziert, Leipzig 1896, S. 19. 10 Vgl. dazu grundsätzlich Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000.

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Wechselbeziehungen zwischen Provinz und Metropole zeugen von den Verflechtungen, die zwischen Peripherie und Zentrum bestanden. Die Beschäftigung mit der russischen Herrschaft im Königreich Polen zwischen 1864 und 1915 erlaubt Einsichten in jene Transformationsprozesse, die das späte Zarenreich insgesamt kennzeichneten. Es geht um mehr als nur die Darstellung Petersburger Dominanz in einer weiteren Reichsprovinz. Das Buch stellt am exemplarischen Fall des Weichsellands die Grundsatzfrage, wie imperiale Herrschaft in jenem vielschichtigen und sich wandelnden Geflecht von administrativen Apparaten und Verwaltungstechniken, von konzeptionellen Horizonten und Selbstverortungen der Akteure, aber auch von ihren konkreten Erfahrungen, Begegnungen und Konflikten vor Ort Gestalt annahm. Und es fragt nach den nachhaltigen Wirkungen dieser Machtkonstellation auf die lokalen Entwicklungen sowie nach ihrem Stellenwert im übergeordneten Reichsgefüge. Die Heterogenität des Russischen Reichs, die Vielschichtigkeit der Akteure, die Integrationsbestrebungen wie auch die systemsprengenden Kräfte werden hier sichtbar. Denn es gilt generell: Die Komplexität imperialer Herrschaft in Vielvölkerreichen tritt uns nur in derartigen lokalen Konfliktgemeinschaften entgegen.

2 Kontexte: Begrifflichkeiten, Konzepte und Diskussionszusammenhänge Das Buch befasst sich mit den imperialen Eliten des Russischen Reichs und seiner westlichsten Provinz, des Königreichs Polen.1 Jener kleine und exklusive Kreis der obersten Staatsbeamten steht im Mittelpunkt, der in den Petersburger Entscheidungsgremien und in der Lokaladministration im Weichselland die Richtlinien und die Umsetzung imperialer Politik prägte. Gerade die Warschauer Generalgouverneure zählten zu jenem Milieu (hoch)adliger Funktionsträger der staatlichen Verwaltung und Regierungsinstanzen, das Dominic Lieven als die Führungselite des ancien régime porträtiert hat und Dietrich Geyer so treffend als multinationale Machtelite im Staatsdienst beschrieb, die „mit allen Fasern und Interessen an der Bewahrung der Einheit des Imperiums“ hing.2 Da in dieser Studie allerdings auch die Gouverneure der polnischen Provinzen und andere Beamte der Lokalverwaltung in den Blick geraten, wird hier der Kreis der Akteure über die „core elite“ des autokratischen Hofs, wie sie Richard Wortman einmal charakterisiert hat, hinaus erweitert und eher jenes Verständnis von Elite übernommen, das Brenda Meehan-Waters favorisiert, wenn sie die vier höchsten Grade der Rangtabelle als Mitglieder der Elite im Russischen Reich bezeichnet.3 Sie waren es, die der imperialen Herrschaft nicht nur ihr Gesicht verliehen, sondern auch maßgeblich ihre grundsätzliche Ausrichtung und ihre Konkretisierung vor Ort beeinflussten. Damit stellt sich zugleich die Frage, in welchem Sinne hier imperiale Herrschaft zu verstehen ist. Es geht weniger um einen weiteren Versuch, das vielförmige und variable Gebilde des Imperiums in eine enge Definition zu zwängen. Vielmehr sollen einige Überlegungen aus den zahlreichen Empire-Debatten angeführt werden, die dieses Buch angeregt haben. Einige Einsichten der new

|| 1 Die Studie verwendet die im Deutschen allgemein gebräuchliche Terminologie Russisches Imperium als Übersetzung von Rossijskaja Imperija. 2 Dietrich Geyer: Nation und Nationalismus in Rußland, in: Manfred Hettling/Paul Nolte (Hrsg.): Nation und Gesellschaft in Deutschland, München 1996, S. 100–113, S. 103. Siehe auch Dominic Lieven: Russia’s Rulers Under the Old Regime, New Haven 1989, v. a. S. 27–83. 3 Vgl. dazu Richard Wortman: Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy. From Peter the Great to the Death of Nicholas I, Bd. 1, Princeton 1995, S. 4–5; Brenda Meehan-Waters: Social and Career Characteristics of the Administrative Elite, 1689–1761, in: Walter McKenzie Pintner/Don Karl Rowney (Hrsg.): Russian Offialdom: The Buraucratization of Russian Society from the Seventeenth to the Twentieth Century, London 1980, S. 76–105, hier S. 78.

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imperial history haben für die Erforschung russischer Präsenz im Königreich Polen neue Perspektiven eröffnet. Auch mit Blick auf das Verhältnis von Petersburger Zentrum und polnischen Peripherien lässt sich weder die klare Dichotomie von Metropole und Provinz mit ihrem charakteristischen hierarchischen Gefälle noch die vermeintliche Eindeutigkeit eines „kolonialen Projekts“ beispielsweise in Form einer programmatischen „Russifizierung“ konstatieren. Auch hier bestanden enge Wechselbeziehungen, waren Hierarchien im Fluss und wurden beständig neu ausgehandelt, auch hier konkurrierten zahlreiche höchst unterschiedliche Visionen der Integration der Provinzen in das Reichsgefüge und ihrer Durchdringung durch die zentralen Apparate und nahmen die Debatten um die „polnische Frage“ in den Kontakten und Konflikten zwischen peripheren und zentralen Akteuren ihren Gehalt an.4 Dies wirft zudem ein Schlaglicht auf die formative Dimension imperialer Herrschaft. Denn die Mächtekonstellationen und Austauschprozesse der hier porträtierten Konfliktgemeinschaft prägten nicht nur die sozialen, ökonomischen und politischen Strukturen des Weichsellands. Sie hinterließen auch in den kulturellen Selbst- und Fremdentwürfen der beteiligten Protagonisten ihre tiefen Spuren. Imperiale Herrschaftstechniken wirkten selten so, wie es sich ihre Befürworter vorgestellt hatten, aber sie veränderten mit ihren fundamentalen In- und Exklusionsprinzipien die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich die Menschen begegneten und ihre Auseinandersetzungen ausfochten. Gerade auch deshalb ist ein genauer Blick auf die Begegnungen der Zeitgenossen, ihre kulturelle Kommunikation mit all ihren „produktiven Missverständnissen“ von zentraler Bedeutung, wenn man etwas über den dynamischen Prozess der Selbst- und Fremdzuschreibungen erfahren will. Teilweise waren hier die vielzitierten „Zwischenräume“ von Bedeutung, jene ambivalenten Kontaktzonen, in denen das Aufeinandertreffen von Menschen Bewegung in die vorgefertigten Selbstverortungen brachte. Aber jene Sphären, in denen unorthodoxe Interaktionen, die sonst ausgeschlossen schienen, möglich waren, jene

|| 4 Siehe u. a. Antoinette Burton: Burdens of history. British feminists, Indian women and imperial culture, London 2003; Catherine Hall: Civilising Subjects. Metropole and Colony in the English Imagination, 1830–1867, Cambridge 2002; David Lambert/Alan Lester: Introduction. Imperial Spaces, Imperial Subjects, in: David Lambert/Alan Lester (Hrsg.): Colonial Lives Across the British Empire: Imperial Careering in the Long Nineteenth Century, Cambridge 2006, S. 1–31; Ann Laura Stoler/Frederick Cooper: Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda, in: Ann Laura Stoler/Frederick Cooper (Hrsg.): Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley 1997, S. 1–56; Kathleen Wilson: Introduction: Histories, Empires, Modernities, in: Kathleen Wilson (Hrsg.): A New Imperial History. Culture, Identity, and Modernity in Britain and the Empire, 1660–1840, Cambridge 2004, S. 1–26.

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Foren, in denen kulturelle Differenz auch jenseits der sonst festgezurrten Hierarchien verhandelt werden konnte, waren angesichts des Antagonismus zwischen Bürokratie und Bevölkerung im Weichselland sehr begrenzt.5 Und dennoch bestanden auch in einem derartigen Konfrontationskontext Prozesse wechselseitiger Beeinflussung, wurden Bilder vom Eigenen und Fremden reziprok entworfen, generierten die konfliktintensiven Begegnungen analoge Problemwahrnehmungen aller Divergenz der „Lösungs“-Vorschläge zum Trotz. In gewissem Sinne handelte es sich hier um die Konkordanz eines Denkens ohne Konsens. Auch verfeindete und erbittert streitende Protagonisten rekurrierten auf den gleichen Horizont der „polnischen Frage“, da sie permanent miteinander im Austausch standen.6 Die Entscheidungshoheit über die Bajonette der Armee bedeutete keinesfalls eine Hegemonie in der Konkurrenz der Weltdeutungen. Wie am Beispiel der Debatten um die Nationalisierung des Imperiums zu diskutieren sein wird, erfolgten konzeptionelle Anstöße nicht selten von Seiten der „Kolonisierten“. Auch die Selbstentwürfe der Gesandten des Zentrums wurden in dieser Konfliktgemeinschaft der Peripherie geprägt und wirkten auf die hauptstädtischen Öffentlichkeiten zurück. Damit ist ein weiterer Grundgedanke dieser Studie angesprochen: Die Zirkulation von Vorstellungen, Konzepten und Praktiken, deren Genese nicht selten in den Provinzen erfolgte, ehe sie in ein reichsweites Netz der Kommunikation und der Transfers eingespeist wurden. Die Geschichte des Imperiums als eine der Verflechtungen, der Kreisläufe und der Rotationen zu erzählen, heißt, sich von einer Zentrumsfixierung zu lösen, die lange Zeit auch die Historiographie des Zarenreichs bestimmt hat. Gerade mit Blick auf das Königreich Polen bewahrheiten sich die Überlegungen, die der Provinz als Experimentierfeld einer „kolonialen Moderne“ einiges Innovationspotential zusprechen.7 Und dies im doppelten Sinne: Zum einen stellte auch das Weichselland ein Laboratorium für moderne Verwaltungspraktiken dar, die in Richtung einer interventionistischen || 5 Vgl. u. a. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 5. 6 Vgl. auch Jörg Baberowski: Auf der Suche nach Eindeutigkeit. Kolonialismus und zivilisatorische Mission im Zarenreich und der Sowjetunion, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 47/3 (1999), S. 482–503, v. a. S. 486–487; Shingo Shimada: Identitätskonstruktion und Übersetzung, in: Aleida Assmann/Heidrun Friese (Hrsg.): Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität, Frankfurt/Main 1998, S. 138–165, v. a. S. 141–152. 7 Vgl. u. a. Andreas Eckert: Kolonialismus, Moderne und koloniale Moderne in Afrika, in: Jörg Baberowski/Hartmut Kaelble/Jürgen Schriewer (Hrsg.): Selbstbilder und Fremdbilder. Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel, Frankfurt/Main 2008, S. 53–66; Timo Heiler: Laboratorien für die Moderne? Die deutschen Kolonien als Versuchsfeld einer urbanen und gesellschaftlichen Neugestaltung, in: Journal of New Frontiers in Spatial Concepts, 2 (2010), S. 57– 68, v. a. S. 59–68.

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Staatsbürokratie wiesen und die oft über das administrative Handeln der Autokratie in den inneren Reichsgebieten hinausgingen. Ähnlich wie in anderen europäischen Kolonialreichen auch wirkten jene in der Peripherie etablierten Techniken, Wissensbestände und Begrifflichkeiten auf die Metropolen zurück. Neuere Forschungen zur Habsburger Monarchie haben bereits gezeigt, dass sich derartige Prozesse nicht nur in den europäischen Überseereichen, sondern auch in einem kontinentalen Landimperium abspielten.8 Zum anderen – und dies im deutlichen Kontrast zu den Kolonien der anderen europäischen Imperialmächte – war das Königreich und vor allem Warschau als sein urbanes Zentrum zu einem Grad mit den pan-europäischen Entwicklungen verbunden, wie es nur für wenige andere Regionen des Zarenreichs galt. Warschau war Russlands neues „Fenster zum Westen“, viele der Transformationen, die die europäischen Großstädte im 19. Jahrhundert in Metropolen verwandelten, erreichten das Reich der Romanows über diese Vermittlungsinstanz. Die „koloniale Moderne“ erhielt somit im Weichselland eine andere Konnotation: Die Peripherie erschien als Brückenkopf zu einer Europäizität, die ihre Vorbildfunktion für die zarischen Eliten auch um die Jahrhundertwende nicht eingebüßt hatte. Und dennoch verweisen die Debatten, die diese Inversion der militärischen Machtverhältnisse in den kulturellen Hierarchien auslöste, darauf, wie sehr in der Kontaktzone des Weichsellands multiple Entwürfe der Moderne in Konkurrenz zueinander standen. Im fin de siècle war die Deutungshoheit des imaginierten „einen Weges“ des europäischen Fortschritts bei den Staatsbeamten und der russischen Öffentlichkeit keinesfalls mehr unumstritten. Gerade auch die Auseinandersetzung mit den polnischen Konzepten eines lateinischen Europas stärkte die Positionen jener, die für einen eigenen russischen Zivilisationsentwurf und einen anderen Entwicklungspfad für das kommende Jahrhundert plädierten. Manche von ihnen stilisierten sich als explizit „anti-modern“, viele teilten ein unbestimmtes Unbehagen gegenüber den Ambiguitäten moderner Lebensformen und Gesellschaftsvisionen – all diese Ent-

|| 8 Vgl. z. B. Harald Binder: Galizien in Wien. Parteien, Wahlen, Fraktionen und Abgeordnete im Übergang zur Massenpolitik, Wien 2005; Tim Buchen/Malte Rolf (Hrsg.): Imperiale Karrieren. Lebensläufe, Karrieremuster und Selbstbilder der Reichseliten in der Romanow- und der Habsburger Monarchie, Berlin 2015; Laurence Cole/Daniel L. Unowsky (Hrsg.): The Limits of Loyalty. Imperial Symbolism, Popular Allegiances, and State Patriotism in the Late Habsburg Monarchy, Oxford 2009; Endre Hárs et al. (Hrsg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn, Tübingen 2006; Hans-Christian Maner (Hrsg.): Grenzregionen der Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert. Ihre Bedeutung und Funktion aus der Perspektive Wiens, Münster 2005.

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würfe waren zugleich ein Ausdruck der großen Vielfalt, die in den zeitgenössischen Vorstellungen von Modernität bestand.9 Der dynamische Charakter der Peripherie zeigte sich aber auch in anderen Sphären. So nahm die Eskalation von Gewaltpraktiken, die das ausgehende Zarenreich kennzeichnete, ihren Anfang in den Randgebieten des russischen Imperiums. Wie in anderen europäischen Großreichen auch entstanden zunächst fernab vom Zentrum zum Teil extrem gewalttätige Räume, deren Intensität an bewaffneten und blutigen Auseinandersetzungen mittelbar aber auch reichsweit das Gewaltniveau steigerte. Partiell greift auch hier das Paradigma der „kolonialen Moderne“, wurden in den peripheren Provinzen doch Techniken und Logistiken der „Säuberungen“, Vertreibungen, Deportationen und (Lager-)„Konzentrationen“ entwickelt, wie hier ebenso die Kategorien zur spezifischen, ethnischen oder rassischen Katalogisierung von Bevölkerungsgruppen und die Verfahren zur individuellen Erfassung oft erstmals zur Anwendung kamen. Viele dieser Ausgrenzungs-, Repressions- und Vernichtungspraktiken, die das Europa im Zeitalter der Bürger- und Weltkriege prägen sollten, wurden so zunächst in den Randgebieten der Imperien generiert und „erprobt“.10 Andererseits resultierten die Gewaltdynamiken an der Peripherie gerade auch aus der Schwäche staatlicher Präsenz und imperialer Durchdringung. So griff oftmals die Logik des Massakers als Strategie, um herrscherliche Macht in diesen staatsfernen Räumen kommunizierbar zu machen. Gerade dort, wo zentrale Repräsentanten rar waren, erschienen den Akteuren die Rauchschwaden brennender Dörfer als das effektivste Mittel, um die Straf- und Disziplinierungshoheit der Herrschaft zu manifestieren.11 Diese staatlichen Repressionsmaßnahmen hatten in der Regel ihre Entsprechung in den Handlungen jener Gewaltakteure, die auf den Sturz der Ordnung abzielten. Im Zusammenhang

|| 9 Vgl. zum Postulat der multiplen Moderne v. a. Shmuel N. Eisenstadt: Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000. Siehe auch Sebastian Conrad/Andreas Eckert: Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen: Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, S. 7–49. 10 Vgl. u. a. Jörg Baberowski: Diktaturen der Eindeutigkeit. Ambivalenz und Gewalt im Zarenreich und in der frühen Sowjetunion, in: Jörg Baberowski (Hrsg.): Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 37–59, S. 47–49; Peter Holquist: Violent Russia, Deadly Marxism? Russia in the Epoch of Violence, 1905–1921, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History, 4/3 (2003), S. 627–652, v. a. S. 634–636; Philipp Ther: Ethnic Cleansing, in: Dan Stone (Hrsg.): The Oxford Handbook of Postwar European History, Oxford 2012. 11 Vgl. auch Felix Schnell: Der Sinn der Gewalt. Der Ataman Volynec und der Dauerpogrom von Gajsin im Russischen Bürgerkrieg (1919), in: Zeithistorische Forschungen, 5/1 (2008), S. 18–39; Trutz von Trotha: Zur Soziologie der Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hrsg.): Soziologie der Gewalt, Opladen 1997, S. 9–56, v. a. S. 37–43.

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des Zarenreichs waren es die revolutionären Gruppierungen, die in der Form des terroristischen Attentats auf den Modus des Massakers zurückgriffen. Der tote Polizist am Straßenrand und der ermordete Gouverneur in seiner Kutsche waren Signalakte einer asymmetrischen Kriegs- und Revolutionsführung. Auch in dieser Hinsicht erwies sich die Peripherie des Imperiums als besonders intensiver Gewaltraum.12 Oft genug verstärkten sich derartige Logiken der Gewalt gegenseitig und mündeten in den Reichsrandgebieten in einer Eskalationsspirale, die die Erfahrungs- und Erwartungshorizonte aller Beteiligten beeinflusste und nicht selten über die ehemaligen Frontkämpfer der Peripherie auch das Gewaltniveau in den Konflikten der zentralen Metropolen erhöhte. Diese Dynamiken werden am Beispiel der Revolution von 1905 im Weichselland zu diskutieren sein. Noch ein weiterer konzeptioneller Bezugsrahmen ist anzusprechen: Bei aller Kritik der Forschung an der strikten Dichotomie von Metropole und Provinz dient der Begriff der Kolonie weiterhin zur Beschreibung der überseeischen Besitzungen europäischer Imperien. Diese Terminologie ist mit Blick auf das Königreich Polen irreführend. Mögen die Dominanzverhältnisse der Machtapparate und auch die Segregation einer imperialen Verwaltungselite in eine solche Richtung weisen, so spricht doch einiges dagegen, das Weichselland als Kolonie und Warschau als koloniale Stadt zu bezeichnen. Zum einen markierte die Kolonie keine relevante Größe in der Selbstbeschreibung der imperialen Akteure. Denn obwohl das Russische Reich de facto eine Vielzahl von Rechtssonderbereichen an seinen Peripherien schuf, sprach der Inkorporations- und Absolutheitsanspruch des Selbstherrschers gegen Formen der abgestuften Abhängigkeit von Protektoratsgebieten. Im Selbstverständnis der Autokratie waren alle Territorien des Imperiums gleichermaßen dem Herrscher unterworfen.13 Diese Konzeption imperialer Integration hatte weitreichende Konsequenzen für die staatliche Durchdringung der Peripherien. Denn so schwach die administrativen Strukturen wegen des Mangels an Ressourcen und Personal auch blieben, so unhinterfragt war der Anspruch des Zentrums auf die Einheit des Imperiums als Staatsverband. Spätestens mit den Großen Reformen machte sich Petersburg

|| 12 Vgl. Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992, v. a. S. 33–71; Jacques Sémelin: Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und Völkermorden, Hamburg 2007, v. a. S. 19–121; Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt, Frankfurt/Main 1996, v. a. S. 7–26 und S. 209–226; Trutz von Trotha: Soziologie der Gewalt; Peter Waldmann: Gesellschaften im Bürgerkrieg. Zur Eigendynamik entfesselter Gewalt, in: Zeitschrift für Politik, 45/4 (1995), S. 343–368; Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt/Main 2005. 13 Siehe Michael Khodarkovsky: The Russian Empire in Comparative Perspective.

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daran, die Sonderstellung der Provinzen abzubauen und auf eine reichsweite Standardisierung von Verwaltung und Recht zu drängen. Dieses Unifizierungsprojekt galt auch für das Königreich Polen und verdeutlicht zugleich, dass es sich in der Perspektive des Zentrums beim Weichselland um eine Reichsprovinz an der Peripherie, aber keinesfalls um ein wenn auch abhängiges, so doch auswärtiges Territorium handelte. Nicht zuletzt verdeckt der Begriff der Kolonie, dass in den polnischen Teilungsgebieten das Dominanzverhältnis der Metropole gegenüber der Provinz in vielem unklar blieb. Mochte die militärische Hegemonie Petersburgs durch die zarische Armee abgesichert sein, so war selbst in der Sicht der imperialen Beamten das Gefälle in ökonomischen und kulturellen Entwicklungsbereichen oft umgekehrt. Dies erklärt auch, warum sich die für den europäischen Kolonialismus so charakteristische Zivilisierungsmission mit Blick auf die polnischen Provinzen nur schwer formulieren und für eine breitere Öffentlichkeit plausibel machen ließ. Alle russisch-imperialen Versuche, eine Petersburger mission civilisatrice auch an der westlichen Peripherie zu proklamieren, hatten sich zudem mit einem antagonistischen Gegenentwurf der polnischen Seite auseinanderzusetzen, dessen Stärke nicht nur aus seiner langen Tradition, sondern auch aus dem Rekurs auf den geteilten europäischen Wertehorizont resultierte.14 Eben daraus zog das polnische Nationalbewusstsein sein Selbstbewusstsein und seine argumentative Autonomie gegenüber den russisch-imperialen Hegemonie- und Inkorporationsansprüchen. Die Idee der polnischen Nation und ihre Referenz auf die alte Staatstradition bedeuteten eine permanente Herausforderung für die Petersburger Herrschaft. Damit berührt eine Studie zum polnischimperialen Antagonismus zwingend jenen Diskussionszusammenhang, der das komplexe und konfliktreiche Verhältnis von supra-nationalen Imperien und den Entwürfen von Nationen und Nationalitäten thematisiert. Zu Recht sind die systemsprengenden Potentiale der vielen, konkurrierenden Nationalismen in || 14 Vgl. u. a. Raphael Utz: Rußlands unbrauchbare Vergangenheit. Nationalismus und Außenpolitik im Zarenreich, Wiesbaden 2008, v. a. S. 216–245; Theodore R. Weeks: Slavdom, Civilization, Russification: Comments on Russia’s World-Historical Mission, 1861–1878, in: Ab Imperio, 2 (2001), S. 223–248. Zum polnischen Anspruch auf Europäizität vgl. Andrzej Chwalba: Polen und der Osten. Tausend Jahre Nachbarschaft, in: Andrzej Chwalba (Hrsg.): Polen und der Osten. Texte zu einem spannungsreichen Verhältnis, Frankfurt/Main 1994, S. 12–75; Stanislaw Eile: Literature and Nationalism in Partitioned Poland, 1795–1918, Houndmills 2000, S. 46–83; Alix Landgrebe: „Wenn es Polen nicht gäbe, dann müsste es erfunden werden“. Die Entwicklung des polnischen Nationalbewusstseins im europäischen Kontext von 1830 bis in die 1880er Jahre, Wiesbaden 2003, S. 112–227; Steffi Marung: Zivilisierungsmissionen à la polonaise. Polen, Europa und der Osten, in: Frank Hadler/Matthias Middell (Hrsg.): Verflochtene Geschichten: Ostmitteleuropa, Leipzig 2010, S. 100–123.

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Vielvölkerreichen in den Vordergrund gestellt worden. Sie untergruben letztlich die Legitimität der Monarchien und die Autorität der Zentren und trugen maßgeblich zum Untergang der Imperien bei. Nationalhistoriographien – auch neueren Datums – tendieren allerdings dazu, den Siegeszug der Nation bis zur Eigenstaatlichkeit als teleologische Entwicklung darzustellen. Letztlich ist ihnen der Großteil der Nationalismustheorien in dieser Dramaturgie gefolgt. Der finale Triumph der Nationalstaaten über die zerfallenden Imperien sollte jedoch nicht zu einer Geschichtsschreibung der Zwangsläufigkeit verleiten. Nicht nur ist die Frage zu klären, warum die Imperien bei all ihrer Fragilität derart lange Bestand hatten und selbst die extremen Belastungen der ersten Kriegsjahre aushielten.15 Vor allem sollte das Imperium nicht einfach nur als Raum gesehen werden, in dem sich jene Nationalisierungsprozesse abspielten, die dann schließlich zum Auseinanderbrechen der Reiche führten. Imperiale Herrschaft ist vielmehr als eine prägende Kontextsetzung zu verstehen und zu beforschen, die auf die Auseinandersetzung um das, was denn die Nation sei und wie sie sich zu organisieren habe, erheblichen und nachhaltigen Einfluss hatte.16 Dieses Ineinandergreifen von imperialer Politik und der schrittweisen Nationalisierung des Imperiums im Zeitalter des Nationalismus ist ein Thema des Buchs. Dies erklärt auch die Präferenz für einen „situativen Zugang“, wie ihn Aleksej Miller entworfen hat.17 Denn nur in der Untersuchung einer konkreten „Situation“ der imperialen und nationalen Wechselbezüge einer bestimmten Reichsregion wird man dem komplexen Akteursgeflecht gerecht und kann man die Genese der Vorstellungen vom Eigenen und Fremden als Austauschbeziehung beschreiben. So rücken die reziproke Kommunikation, das erbitterte Streitgespräch zur „polnischen Frage“, die aufeinandertreffenden und konkurrierenden Symbolisierungen von „Reich“ und „Nation“ sowie die zahlreichen

|| 15 Vgl. auch Theodore R. Weeks: Nation and State in Late Imperial Russia: Nationalism and Russification on the Western Frontier, 1863–1914, DeKalb 1996, S. 4. Zum Erstarken ethnonationalistischer Separatismen in der Kriegssituation vgl. Aleksandra Ju. Bachturina: Okrainy rossijskoj imperii: Gosudarstvennoe upravlenie i nacional’naja politika v gody pervoj mirovoj vojny (1914–1917 gg.), Moskau 2004, v. a. S. 15–77; Tomas Balkelis: In Search of a Native Realm: The Return of World War One Refugees to Lithuania, 1918–24, in: Nick Baron/Peter Gatrell (Hrsg.): Homelands: War, Population and Statehood in Eastern Europe and Russia, 1918–1924, London 2004, S. 74–97; Peter Gatrell: War, Population Displacement and State Formation in the Russian Borderlands, 1914–24, in: Nick Baron/Peter Gatrell (Hrsg.): Homelands: War, Population and Statehood in Eastern Europe and Russia, 1918–1924, London 2004, S. 10–34. 16 Vgl. dazu auch Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Berlin 1998, S. 48–62. 17 Aleksei Miller: The Romanov Empire and Nationalism, S. 10–20.

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und widersprüchlichen Abgrenzungsversuche in das Zentrum der Betrachtungen. Repräsentationen von politischen Autoritätsansprüchen standen hier im Wettstreit und beeinflussten sich doch gegenseitig.18 Die multiethnische und – konfessionelle Konfliktgemeinschaft im Weichselland vermag eben dies deutlich zu zeigen.19 In diesem Beziehungsgeflecht legt das Buch den Schwerpunkt auf die staatlichen Akteure und ihre Konzepte und Praktiken imperialer Herrschaft. Dies leitet sich vor allem aus der Zentralität ihrer Machtposition in den Konfrontationen im Königreich ab. Es erklärt sich aber auch aus dem erstaunlichen Befund, dass die imperialen Eliten im Weichselland im Gegensatz zu anderen Reichsregionen bisher kaum zum Gegenstand der Forschung gemacht worden sind. Denn anders als für die Räume der Ostseeprovinzen, des Kaukasus, des Kiewer sowie des Wilnaer Generalgouvernements besteht für das Königreich weiterhin ein Desiderat an Studien, die die lokalen Spielräume, die Repräsentationsstrategien, aber auch die Handlungszwänge der imperialen Elite zum Thema machen. Eine Untersuchung der imperialen Elite in ihrer Vielschichtigkeit, mit ihren inneren Widersprüchen und ihrer konfliktreichen Kommunikation mit der lokalen Bevölkerung steht noch aus.20

|| 18 Vgl. Jörg Baberowski/David Feest/Christoph Gumb: Imperiale Herrschaft. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, S. 8–13; Jörg Baberowski: Selbstbilder und Fremdbilder. Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel, S. 9–13; Roger Chartier: Kulturgeschichte zwischen Repräsentation und Praktiken, in: Roger Chartier (Hrsg.): Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung, Frankfurt/Main 1992, S. 7–23; Oswald Schwemmer: Die kulturelle Existenz des Menschen, Berlin 1997, v. a. S. 15–40. 19 An dieser Stelle sei allerdings darauf hingewiesen, dass sich die Studie vorwiegend mit dem imperial-russisch-polnischen Antagonismus befasst, während die „jüdische Frage“ nachgeordnet behandelt wird. Dies erklärt sich aus der Aufmerksamkeitshierarchie der imperialen Akteure, die hier porträtiert werden. Für die Repräsentanten Petersburger Herrschaft hatte die „polnische Frage“ zumindest mit Blick auf das Königreich eindeutig Priorität. 20 Als wegweisend sind hier die Studien von Łukasz Chimiak, Andrzej Chwalba, Leonid Gorizontov, Robert Przygrodzki, Katya Vladimirov und Theodore Weeks zu nennen. Siehe Łukasz Chimiak: Kariery tzw. Bałtów w rosyjskiej administracji Królestwa Polskiego w drugiej połowie XIX w., in: Przegląd Historyczny, 88/4 (1997), S. 441–458; Andrzej Chwalba: Imperium korupcji w Rosji w Królestwie Polskim w latach 1861–1917, Krakau 1995; Andrzej Chwalba: Polacy w służbie Moskali, Warschau 1999; L. E. Gorizontov: Paradoksy imperskoj politiki; Robert L. Przygrodzki: Russians in Warsaw. Imperialism and National Identities, 1863–1915, PhD Dissertation, DeKalb 2007; Katya Vladimirov: The World of Provincial Bureaucracy in Late 19th and 20th Century Russian Poland, Lewiston 2004; Theodore R. Weeks: Nation and State.

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Abb. 1: Staatsrepräsentanz und lokale Gesellschaft vor dem Warschauer Kopernikus-Denkmal. Photographie von Antoni Gürtler (1910)

So sind viele Fragen offen: In welches strukturelle Gefüge waren diese Repräsentanten Petersburger Herrschaft eingebunden? Welche Institutionen der imperialen Machtausübung etablierten die zarischen Autoritäten im Königreich nach der Niederschlagung des Aufstands von 1863–64? Welche entscheidenden Akteure lassen sich in diesem Verwaltungssystem identifizieren? Wie sahen ihre Einflussbereiche aus und wie gestaltete sich in diesen administrativen Apparaten die für das Zarenreich so kennzeichnende Konkurrenz der Kompetenzen? Und nicht zuletzt: Welche programmatischen Konzepte, Reichsbilder und Selbstzuschreibungen waren im mentalen Horizont dieser Beamten handlungsleitend? Dies sind die zentralen Aspekte, denen sich eine Geschichte des Strukturund Akteursgeflechts Petersburger Herrschaft im Weichselland nähern sollte.

| Teil II: Strukturen, Akteure und Felder imperialer Herrschaft im Königreich Polen

3 Die Etablierung Petersburger Herrschaft im geteilten Polen (1772–1863) In dem langen Jahrhundert Petersburger Herrschaft über die Teilungsgebiete der alten Polnisch-Litauischen Adelsrepublik markierte der Januaraufstand von 1863–64 eine klare Zäsur. Auf diese ultimative Herausforderung, die die erneute polnische Erhebung für die imperiale Hegemonie und die russländische Reichseinheit bedeutete, reagierten die zarischen Autoritäten nicht nur mit ausgesprochener Brutalität militärischer und strafgerichtlicher Repression. Sie implementierten auch ein umfassendes Bündel an Maßnahmen, die den polnischen Landstrich langfristig befrieden sollten. Der Katalog von Eingriffen in die innere Verfasstheit des Königreichs zielte auf eine nachhaltige Integration dieser Provinz in den Reichsverbund und auf eine Nivellierung all jener „lokalen Besonderheiten“, die das Grenzgebiet bisher ausgezeichnet hatten. Mit der Niederschlagung der Rebellion von 1863–64 wandelte sich der grundlegende Herrschaftsimperativ im Petersburger Zugriff auf Land und Leute in den polnischen Gouvernements. So tiefgreifend damit der Einschnitt dieser Nachaufstandsjahre war, so sehr waren die polnische Erhebung und die Reaktionen der Autoritäten von der langen Vorgeschichte Petersburger Präsenz in den Territorien der ehemaligen Rzeczpospolita geprägt. Die Motive der Aufständischen, das Ausmaß der Repression, aber auch viele der Konfliktlinien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind nur vor dem Hintergrund jenes zarischen Regiments zu verstehen, das in den „westlichen Gouvernements“ (zapadnye gubernii) seit 1772 und im Königreich seit 1815 etabliert worden war. Die Teilungen Polen-Litauens von 1772, 1793 und 1795 waren eine Konsequenz der negativen Polenpolitik, die das Russische Imperium gegenüber der Adelsrepublik im gesamten 18. Jahrhundert verfolgte und die auf eine fundamentale Schwächung des benachbarten „Erbfeindes“ abzielte.1 So wenig bei den ersten Gebietsabtrennungen von 1772 der Plan einer vollständigen Zerschlagung polnischer Staatlichkeit existierte, so sehr drängte die Dynamik der Teilungen doch in diese Richtung. Je mehr die politische Elite eines territorial reduzierten und existentiell bedrohten Polen zu inneren Reformen bereit war,

|| 1 Siehe v. a. Klaus Zernack: Negative Polenpolitik als Grundlage deutsch-russischer Diplomatie in der Mächtepolitik des 18. Jh.s, in: Uwe Liszkowski (Hrsg.): Rußland und Deutschland. Festschrift für Georg von Rauch, Stuttgart 1974; auch Michael G. Müller: Die Teilungen Polens 1772, 1793, 1795, München 1984.

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desto eher erschien den Teilungsmächten eine weitere Gebietsforderung als probates Mittel, um den Status polnischer Agonie aufrechtzuerhalten. Angesichts der „jakobinischen“ Herausforderung, die die Reformverfassung vom 3. Mai 1791 in den Augen Katharinas II. darstellte, war es bis zur zweiten Teilung von 1793 nur noch ein kleiner Schritt. Diese Westerweiterung des Russischen Reichs, die ein Jahr nach der Niederschlagung des Kościuszko-Aufstands von 1794 zur endgültigen Auflösung des polnischen Staats führte, folgte zugleich der tradierten Logik imperialer Expansion.2 Die Besetzung und Eingliederung der polnischen Gebiete war insofern für die Petersburger Machthaber kein Novum und sie griffen bei dem folgenden Aufbau imperialer Herrschaft auf bekannte Muster zurück. Ähnlich wie bei der Übernahme der Ostseeprovinzen erfolgte die Inkorporation der polnischen Provinzen zunächst als Kooptation des lokalen, loyalitätsbereiten Adels. Bereits Katharina implementierte diesen bewährten Integrationsmechanismus des vormodernen Vielvölkerreichs; Alexander I. forcierte dieses Prinzip.3 Dazu trug erheblich bei, dass mit dem Fürsten Adam Czartoryski ein Repräsentant der zarenloyalen polnischen Adelsfraktion zu dem engsten Freundesund Beraterkreis des jungen Kaisers gehörte. Czartoryski war seit 1804 Außenminister des Russischen Reichs und hatte maßgeblichen Anteil an den Konzeptionen zur Schaffung eines unabhängigen polnischen Königreichs, das mit dem Zarenhaus in Personalunion verbunden sein sollte.4 Eine derartige russische Regentschaft stellte für einen Teil der polnischen Adelsschicht keine unattraktive Option dar, nachdem sich die Hoffnungen auf die Wiederherstellung eines unabhängigen, vereinten Polen zerschlagen hatten. Jenes Gebilde dagegen, das Napoleon zwischenzeitlich auf den preußischen und österreichischen Teilungsgebieten geschaffen hatte, war weitgehend diskreditiert. So sehr der Kampf polnischer Legionen auf den Schlachtfeldern Europas zur Mythenbildung anregen mochte, so wenig war die prosaische Schöpfung des Herzogtums Warschau || 2 Vgl. zu diesem „conquest motif“ v. a. Richard Wortman: Ceremony and Empire in the Evolution of Russian Monarchy, in: Catherine Evtuhov et al. (Hrsg.): Kazan, Moscow, St. Petersburg: Multiple Faces of the Russian Empire, Moskau 1997, S. 23–39. 3 Vgl v. a. Jörg Ganzenmüller: Russische Staatsgewalt und polnischer Adel. Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772–1850), Köln 2013; Michael G. Müller: Der polnische Adel von 1750 bis 1863, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Europäischer Adel 1750–1950, Göttingen 1990, S. 217–242. 4 Vgl. u. a. Jan Kusber: Eliten- und Volksbildung im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Studien zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung, Stuttgart 2004, v. a. S. 375–381; David Saunders: Russia in the Age of Reaction and Reform, 1801–1881, London 1992, S. 19–25; W. H. Zawadzki: Russia and the Re-opening of the Polish Question, 1801–1814, in: The International History Review, 7/1 (1985), S. 19–44.

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für derartige Projektionen geeignet. Dieser Staat von Bonapartes Gnaden wurde zwar mit einigen der zeitgenössischen französischen Exportgüter wie Verfassung, Gewaltenteilung und Code civil ausgestattet, erfüllte aber doch zu offensichtlich die primäre Funktion einer Aufmarschbasis und Ressourcenreserve für die Grande Armée, die Napoleon für seinen Russlandfeldzug an der Weichsel sammelte. Allerdings waren einige der konstitutionellen und zivilrechtlichen Neuerungen, durch die sich das Herzogtum auszeichnete, auch für die spätere russische Oberherrschaft bedeutsam. So orientierte sich die Verfassung des Königreichs von 1815 in manchem an dem französischen Vorgänger und blieb das Napoleonische Gesetzbuch sogar bis 1915 in Kraft.5 Dennoch sorgte das französische Regiment im Herzogtum Warschau bei weiten Teilen des polnischen Adels rasch für eine Ernüchterung der Affinität zum Bündnispartner Napoleon. Nach dem Desaster des Russlandfeldzugs von 1812 wuchs in diesen Kreisen schnell die Bereitschaft, Verhandlungen mit Alexander I. aufzunehmen. Als der Zar im Jahr 1814 zum Wiener Kongress reiste, konnte er den Verhandlungspartnern ein ausformuliertes Projekt zur Gründung eines Königreichs Polens präsentieren, das nicht allein auf der Stärke der russischen Armee, sondern auch auf der Zustimmung einiger der wichtigsten polnischen Adelsfamilien basierte.6 In Wien vermochte Alexander es keinesfalls, seine Maximalvorstellungen durchzusetzen. Vielmehr wurde die Oberherrschaft Österreichs und Preußens über einen wesentlichen Teil der polnischen Gebiete vom Kongress bestätigt. Dennoch war die Einrichtung eines Königreichs Polen, das in Personalunion mit dem Petersburger Zaren verbunden sein sollte, ein diplomatischer Erfolg der russischen Verhandlungsführer. Das Territorium des neuen Staatsgebildes „Kongresspolen“ erstreckte sich erheblich weit nach Süden und Westen und umfasste auch die Städte Warschau, Kalisz, Lublin und Płock. Darüber hinaus implizierte der Kongressbeschluss in der Petersburger Wahrnehmung zweierlei: Zum einen war eine dauerhafte Subordinierung Polens gewährleistet; an der zukünftigen Petersburger Hegemonie in dem Königreich bestand kein Zweifel

|| 5 Siehe den Verfassungstext von 1807 in Karl Heinrich Ludwig Pölitz (Hrsg.): Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789 bis auf unsere heutige Zeit, Bd. 2, Leipzig 1833, S. 17–22; Nikolaj M. Rejnke: Očerk zakonodatel’stva Carstva Pol’skogo, St. Petersburg 1902, Kap. 1. Vgl. auch Jarosław Czubaty: Księstwo Warszawskie (1807–1815), Warschau 2011; Monika Senkowska-Gluck: Das Herzogtum Warschau, in: Heinz-Otto Sieburg (Hrsg.): Napoleon und Europa, Köln 1971, S. 221–230. 6 Vgl. dazu Ekkehard Völkl: Zar Alexander I. und die „polnische Frage“, in: Saeculum, 24 (1973), S. 112–132; Klaus Zernack: Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte, Berlin 1994, S. 313–314.

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mehr. Zum anderen waren die alten polnisch-litauischen Ostgebiete nun indirekt auch international als russische Provinz anerkannt. Denn von deren Verbindung mit dem Königreich war in Wien nie die Rede gewesen. In russischer Sicht waren die Verhältnisse damit klar: Kongresspolen repräsentierte das, was in der Tradition polnischer Staatlichkeit stand, die „Westgouvernements“ jedoch zählten zu jenem Kernbestand des Zarenreichs, der als genuin ur-russisch verstanden wurde. Die Schaffung eines Königreichs Polen trieb hier tatsächlich die Auseinanderentwicklung der Territorien schnell voran. Unabhängig davon, dass nun ein Großteil der alten Adelsrepublik unter dem Zepter des Zaren stand, vertieften die Unterschiede in den administrativen Praktiken die Differenz zwischen dem Königreich und den westlichen Gouvernements in den Folgejahren erheblich. Dazu trug auch bei, dass das Königreich mit weitreichenden Privilegien ausgestattet wurde, die für das innere Russland undenkbar schienen. Allen voran war es die von Czartoryski mitausgearbeitete Verfassung von 1815, die dem Königreich eine Sonderstellung garantierte und es zu einem Experimentierfeld für Alexanders konstitutionelle Reformen werden ließ. Die Verfassung gewährte Kongresspolen einen vom König eingesetzten Staatsrat als Regierung sowie einen Landtag, dessen Mitglieder zur Hälfte aus den Provinzial- und Kommunalkammern in eine Abgeordnetenkammer gewählt, zur Hälfte vom König in den Senat ernannt wurden. Zudem verfügte das Königreich über einen eigenständigen Obersten Gerichtshof und eine eigene Armee.7 Alexander gab sich darüber hinaus große Mühe, mit zahlreichen Versöhnungsgesten weite Teile der polnischen Adelsschicht für den neuen Staatsaufbau unter zarischer Oberherrschaft zu gewinnen. Die administrative Gliederung nahm die traditionellen Muster der polnischen Woiwodschaften auf und der Aufbau des Beamtenapparats erfolgte ausschließlich mit lokalen Kräften. 1815 wurde Fürst Józef Zajączek zum kaiserlichen Statthalter (namestnik) und damit zum Leiter des Verwaltungsrats, der eigentlichen Regierung Kongresspolens, bestimmt. Damit agierte ein Mann als offizieller Gesandter des Zaren im Königreich, der noch kurz zuvor als General an Napoleons Seite am Russlandfeldzug teilgenommen hatte.8

|| 7 Vgl. die Verfassung von 1815 in Karl Heinrich Ludwig Pölitz: Die europäischen Verfassungen, S. 24–33. 8 Siehe Charles Morley: Alexander I. and Czartoryski. The Polish Question from 1801–1813, in: Slavonic and East European Review, 25 (1946), S. 405–426; F. W. Thackeray: Antecedents of Revolution: Alexander I. and the Polish Kingdom 1815–1825, Boulder/Col. 1980; W. H. Zawadzki: A Man of Honour. Adam Czartoryski as a Statesman of Russia and Poland, 1795–1831, Oxford 1993, S. 259–280. Der Terminus namestnik wird im Deutschen sowohl als Statthalter wie auch als Vizekönig übersetzt. Diese Studie benutzt die beiden Bezeichnungen als Synonyme.

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Auch die Gründung der Universität Warschau im Jahr 1816 war in diesem Kontext bedeutsam. Petersburg signalisierte damit, dass die lokalen Belange und das polnische Bildungs- und Entwicklungsstreben eine hohe Priorität genossen. Alexander ehrte dementsprechend die neu eingerichtete Hochschule durch seine persönliche Anwesenheit bei der Inaugurationsfeier. Überhaupt zeugte die regelmäßige Präsenz des Zaren in der Weichselmetropole davon, wie bedeutend die polnischen Angelegenheiten für das imperiale Zentrum in dieser Phase waren.9 Generell ist der Stellenwert, den diese kurze Periode einer weitgehenden polnischen Selbstverwaltung für die kommende Entwicklung hatte, kaum zu unterschätzen. Denn die Jahre 1815–1830 stellten einen Referenzpunkt für alle folgenden Überlegungen dar, wie und ob eine tragfähige Lösung der „polnischen Frage“ innerhalb des Petersburger Reichsverbunds möglich sei. Dies galt ebenso für die Reformen Aleksander Wielopolskis aus den 1860er Jahren wie für die späteren Autonomieforderungen des gemäßigten polnischen Spektrums, aber auch für die konzessionsbereiten Milieus der zarischen Bürokratie und der russischen Öffentlichkeit. Letztlich hatte das Modell eines polnischen konstitutionellen Königreichs in Personalunion mit dem Zaren jedoch wenig Entwicklungsmöglichkeit. Denn das gegenseitige Misstrauen und die Unzufriedenheit mit dem status quo waren sowohl auf polnischer als auch auf russisch-imperialer Seite stark ausgeprägt. Im polnischen Adel bestand der alte Gegensatz zwischen dem „roten“ Lager der mittleren und niederen Szlachta und der „weißen“ hochadligen Fraktion fort. Nur Letztere waren bereit, langfristig mit den Teilungsmächten zu kooperieren, während Erstere immer stärker die paneuropäische Revolutionseuphorie des „Vormärz“ rezipierten. Die imperialen Autoritäten ihrerseits sahen mit Argwohn auf die Verselbständigungstendenzen in Kongresspolen. Gerade die Handlungen des kaiserlichen Kommissars Nikolaj Novosil’cev, der den polnischen Staatsrat und das kulturelle Leben des Königreichs überwachte, aber auch des Oberbefehlshabers der polnischen Armee, Großfürst Konstantin, provozierten in den 1820er Jahren zahlreiche Auseinandersetzungen. In dem sich entwickelnden Netz von polnischen Geheimbünden beförderte dies zunehmend die grundsätzliche Ablehnung russischer Oberhoheit. Ein Bündel an Entwicklungen und Einflüssen trug schnell zur Radikalisierung dieser Kreise bei. Die Verschärfung der Zensurmaßnahmen nach dem Dekabristenaufstand von 1825, die Verfolgung von Untergrundorganisationen aller Art, die sich häufenden Verstöße

|| 9 Vgl. Alexanders Eröffnungsrede vor dem Landtag von 1817, in: Karl Heinrich Ludwig Pölitz: Die europäischen Verfassungen, S. 33–36.

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imperialer Amtsträger gegen die Verfassung, die gleichzeitige Zurückdrängung des Polnischen als Unterrichtsprache und der polnischen Lehrinhalte im Wilnaer Bildungsdistrikt, die Novosil’cev als neuer Kurator betrieb, und nicht zuletzt die europaweite Revolutionsrhetorik – all dies waren Faktoren, die in einigen Geheimlogen die bewaffnete Erhebung gegen die russische Fremdherrschaft zu einer politischen Option werden ließen und den Novemberaufstand von 1830– 31 auslösten.10 Angesichts der schlechten, weitgehend schlicht fehlenden Planung der Revolte ist es eher überraschend, dass sich der Umsturzversuch einiger weniger Offiziersanwärter tatsächlich zu einem polnisch-russischen Krieg entwickelte, der zumindest zwischenzeitlich die Petersburger Herrschaft im Königreich ins Wanken brachte. Letztlich konnte aber auch die Mobilisierung eines fast 80.000 Mann starken Heeres nicht verhindern, dass die russische Armee die Rebellen zurückdrängte. Im September 1831 kapitulierte Warschau, im Oktober setzten sich die Reste der polnischen Truppen nach Preußen ab und ließen sich dort internieren.11 Der Novemberaufstand und seine Niederschlagung markierten einen tiefen Einschnitt in der Geschichte des Königreichs und der polnisch-russischen Beziehungen insgesamt. Die polnische Adels- und Bildungsgesellschaft wandelte sich durch die „Große Emigration“ grundlegend. Denn aus dem Kreis der circa 50.000 Exilanten, die im Herbst 1831 zum Verlassen des Landes gezwungen waren, entstand jene Diaspora, die die Entwicklung der polnischen Kultur und Öffentlichkeit in den folgenden Jahrzehnten stark beeinflusste. Hier wurde der Gedanke von Polen als „Christus der Völker“ entwickelt und die Vision eines polnischen Messianismus gepflegt. Hier wurde das revolutionäre Pathos kreiert, das auch auf die Teilungsgebiete zurückwirkte und die dortige Aufstandsmythologie und die Vereinigungsrhetorik belebte. Im Pariser Hôtel Lambert der Familie Czartoryski etablierte sich ein Zentrum der Emigration; Persönlichkeiten wie Frédéric Chopin, Zygmunt Krasiński, Juliusz Słowacki und vor allem Adam Mickiewicz gaben der Flüchtlingsgemeinde ihren wort- und klaggewaltigen

|| 10 Vgl. Norman Davies: Heart of Europe. The Past in Poland’s Present, Oxford 2001, S. 142– 146; James T. Flynn: The University Reform of Tsar Alexander I., 1802–1835, Washington 1988, S. 119–123. 11 Vgl. u. a. Arnon Gill: Freiheitskämpfe der Polen im 19. Jahrhundert. Erhebungen – Aufstände – Revolutionen, Frankfurt/Main 1997, S. 131–188; Stefan Kieniewicz/Andrzej Zahorski/ Władysław Zajewski: Trzy powstania narodowe: kościuszkowskie, listopadowe, styczniowe, Warschau 1994; Hans Roos: Die polnische Nationsgesellschaft und die Staatsgewalt der Teilungsmächte in der europäischen Geschichte (1795–1863), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 14/3 (1966), S. 388–399.

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Ausdruck. Aber auch in dem bis 1846 bestehenden eigenständigen Krakauer Stadtstaat und an der dortigen Jagiellonen-Universität versammelten sich Meinungsträger, die die Erinnerung an die polnische Staatlichkeit, ihre Ausdehnung in den Grenzen von 1772 und nicht zuletzt an ihre Reformierbarkeit im Sinne der Maiverfassung von 1791 wachhielten. Das Zeitalter der polnischen Romantik nach 1831 war damit mehr denn je von der fundamentalen Erfahrung des Verlustes der Eigenstaatlichkeit und dem Glauben an die Möglichkeit der revolutionären Revision der bestehenden Verhältnisse gekennzeichnet. Es war zugleich die Hochzeit einer polnischen Selbstverortung, in der man das Bild von sich in klarer Abgrenzung zum „moskowitischen Anderen“ entwarf und in der Polen und Russen als Repräsentanten zweier antagonistischer Geistesprinzipien gesehen wurden.12 Die Novembererhebung zeitigte zugleich Folgen für die russische Ideengeschichte. Es war die Geburtsstunde vom Topos des „undankbaren“ und „rebellischen“ Polen, der die imperiale Bürokratie und die russische Öffentlichkeit bis zum Ende des Zarenreichs beschäftigen sollte und für den Aleksandr Puškins wütendes Poem An die Verleumder Russlands (Klevetnikam Rossii) sinnbildlich steht. Zugleich beförderte die Auseinandersetzung mit der polnischen Rebellion jene Debatten, in denen die Zeitgenossen den Wesensgehalt des „Russischen“ verhandelten. Das Streitgespräch zwischen Westlern und Slawophilen in den 1830er Jahren wurde ganz entscheidend von der öffentlichen Empörung über die „polnische Meuterei“ angefacht.13 Nicht zuletzt wandelte sich nach 1831 die Gestalt imperialer Herrschaft im Königreich Polen. Die Verfassung Kongresspolens wurde nun suspendiert, der polnische Landtag abgeschafft und die eigenständige Armee aufgelöst. Zudem erklärte Nikolaus I. den Ausnahmezustand in dem rebellischen Landstrich für dauerhaft gültig. Damit war auch das 1832 erlassene Organische Statut als neues Verfassungsgesetz für das Königreich Makulatur, denn es blieb mit der Ausrufung des Kriegsrechts im Jahr 1833 bis zum Ableben des Kaisers 1855 außer Kraft. Stattdessen installierte der Zar den siegreichen Feldherrn Paskevič als Vizekönig in Warschau. Paskevič sollte bis zu seinem Tod 1856 kaiserlicher

|| 12 Vgl. Stanislaw Eile: Literature and Nationalism, v. a. S. 46–83; Alix Landgrebe: Nationalbewusstsein, v. a. S. 166–176; Hans-Christian Petersen: „Us“ and „Them“? Polish SelfDescriptions and Perceptions of the Russian Empire between Homogeneity and Diversity (1815– 1863), in: Ilya Gerasimov/Jan Kusber/Alexander Semyonov (Hrsg.): Empire Speaks Out. Languages of Rationalization and Self-Description in the Russian Empire, Leiden 2009, S. 89–120. 13 Vgl. Andreas Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München 1992, S. 199–201.

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Statthalter bleiben und maßgeblich für den repressiven Charakter dieser „Zeit der Gendarmen“ im Königreich verantwortlich sein.14 Die ersten Amtshandlungen Paskevič’ und der Petersburger Autoritäten nach der Niederschlagung der Revolte waren auf die Bestrafung der Aufständischen gerichtet. 80.000 Personen aus dem Königreich und den Westgebieten wurden nach Sibirien verbannt, Güter von Adeligen, die der Beteiligung oder der Unterstützung der Erhebung verdächtigt wurden, konfisziert und an NichtPolen, vorrangig Russen, übergeben. Zugleich wurden Polen nun aus den Leitungspositionen der lokalen Administration gedrängt. Allerdings blieb das Polnische weiterhin die lokale Verwaltungssprache. Überhaupt lässt sich keine Programmatik einer imperialen Politik nach 1831 erkennen, die über die Verhinderung weiterer Unruhen und die Verurteilung der Rebellen hinausgegangen wäre. Einerseits zeugen gewisse Verwaltungsmaßnahmen von dem Petersburger Vorhaben, das Königreich stärker an das Reich zu binden. Andererseits verweisen zahlreiche Praktiken und Direktiven darauf, dass die zarische Regierung die grundsätzliche Andersartigkeit Kongresspolens weiterhin akzeptierte. So führte zwar Paskevič als kaiserlicher Bevollmächtigter die Amtsgeschäfte vor Ort, dennoch bestand der Staatsrat bis 1841 fort und waren die Ministerien für Inneres, Justiz und Finanzen weiterhin als eigenständige Institutionen tätig. Einerseits wurde im Jahr 1847 das russische Strafrecht im Königreich eingeführt, andererseits jedoch kam der napoleonische Code civil unverändert zur Anwendung. Zwar wurde 1837 eine Gouvernementsstruktur verordnet, die sich am russischen Vorbild orientierte, und doch blieb gerade die Lokalverwaltung dem traditionellen Muster der Elitenkooperation verhaftet. Und selbst wenn Währung, Maße und Gewichte auf den innerrussischen Standard umgestellt wurden, änderte dies an einer selbstständigen Finanz- und Wirtschaftspolitik der polnischen Provinz relativ wenig. So sehr Petersburg daran gelegen war, die Kontrolle über den rebellischen Landstrich zu intensivieren, so blieb doch der Grundsatz der administrativen Sonderstellung des Königreichs unangetastet. Letztlich drückte dies auch das Organische Statut von 1832 aus: Mochte diese Quasi-Verfassung auch in der De-facto-Administrierung keine Rolle spielen, so symbolisierte sie doch, dass der polnische Rechtssonderbereich auch nach dem Novemberaufstand fortbestand. Das wird gerade im Kontrast zu den Maßnahmen deutlich, mit denen Petersburg in den westlichen Gouvernements auf die Erhebung reagierte. Denn hier, in diesen als russisch verstandenen Territorien, gingen die Direktiven zur Zurückdrängung aller lokalen Partikularität und Besonderheit sehr viel weiter als im Königreich. Das traditionelle Litauische Statut wurde aufgehoben und

|| 14 Siehe u. a. David Saunders: Age of Reaction and Reform, S. 176–179.

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durch die russische Rechtsverfassung ersetzt, das Verwaltungs-, Gerichts- und Bildungswesen auf den Gebrauch der russischen Sprache umgestellt. Das Schulsystem wurde zentralisiert und zugleich die Wilnaer Universität als vermeintlicher Hort polnischer Konspiration geschlossen. Vor allem die katholische und die unierte Kirche sowie der polnische oder polonisierte Adel wurden zur Zielscheibe einer staatlichen Repressionspolitik, die weit über die unmittelbaren Strafen in der Nachaufstandszeit hinausreichte. So wurden zahlreiche katholische Kirchen und Klöster geschlossen, vor allem aber die griechischunierte Religionsgemeinde bedrängt. 1839 beschloss Petersburg die vollständige Aufhebung der Unierten Kirche in den westlichen Gouvernements und ihre als „Rückführung“ verbrämte Zwangsvereinigung mit der russisch-orthodoxen Kirchenhierarchie. Zugleich trafen zahlreiche Bestimmungen vor allem den niederen und mittleren polnischen Adel hart. Nach 1836 verlangten die imperialen Behörden einen Nobilitätsnachweis für die Anerkennung des Adelsstands und strichen zahlreiche Kleinadelige in der Folgezeit aus den Adelsregistern.15 All diese Maßnahmen zielten auf eine stärkere Integration der russischen Teilungsgebiete aus den Jahren 1772–95 in den innerrussischen Reichszusammenhang. Sie verdeutlichen zugleich das Bestreben der Petersburger Autoritäten, die westlichen Gouvernements nachhaltig zu „depolonisieren“ und die kulturelle und soziale Dominanz der polnischen Szlachta zu brechen.16 Eine solche programmatische Ausrichtung verstärkte mittelfristig die Differenzen zwischen diesen Territorien und dem Königreich. Die polnischen Untertanen erlebten diese Periode als ausgesprochen drückend. Die Erinnerung an die Zeit der Selbstverwaltung nach 1815 war noch frisch. Zugleich belasteten die verschärften Zensurbestimmungen das öffentliche und kulturelle Leben im Königreich erheblich.17 Diese wurden flankiert von Maßnahmen, die das Bildungswesen als vermeintliche Brutstätte revolutionären Gedankenguts einer strengen staatlichen Kontrolle unterwerfen sollten. Die || 15 Vgl. Aleksandr L. Pogodin: Vilenskij učebnyj okrug 1803–1831 g., St. Petersburg 1901. Siehe auch Theodore R. Weeks: Religion and Russification: Russian Language in the Catholic Churches of the „Northwestern Provinces“ after 1863, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History, 2/1 (2001), S. 87–110, S. 92–94; Curt Woolhiser: Constructing National Identities in the Polish-Belarusian Borderlands, in: Ab Imperio, 1 (2003), S. 293–346, S. 303–304. 16 Vgl. auch Jörg Ganzenmüller: Zwischen Elitenkooptation und Staatsausbau. Der polnische Adel und die Widersprüche russischer Integrationspolitik in den Westgouvernements des Zarenreiches (1772–1850), in: Historische Zeitschrift, 291 (2010), S. 625–662. 17 Zur Tätigkeit der Zensurinstanzen in Warschau vgl. allg. die Archivbestände GARF, f.312, op.1, Varšavskij komitet po delam pečati (1896–1915) sowie AGAD, Warszawski Komitet Cenzury. Ebenso Maria Prussak (Hrsg.): Świat pod kontrolą. Wybór materiałów z archiwum cenzury rosyjskiej w Warszawie, Warschau 1994.

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Warschauer Universität wurde gänzlich geschlossen, da sie unter Verdacht stand, ein Zentrum klandestiner Vereinigungen zu sein. Aber auch die Disziplinaraufsicht über die regulären Volksschulen wurde 1839 an das Erziehungsministerium in St. Petersburg übergeben. Es herrschte eine beklemmende Atmosphäre der Überwachung und Repression. Insofern war es nur folgerichtig, wenn die zeitgenössische polnische Publizistik den Bau der mächtigen Warschauer Alexander-Zitadelle zum Sinnbild der Zeit erhob.18 Dieses repressive Regiment endete mit dem Tod des Monarchen und dem seines Warschauer Statthalters. 1855 starb Nikolaus I., nur ein Jahr später auch der „Fürst von Warschau“, Paskevič. So wie der Thronnachfolger Alexander II. die Notwendigkeit eines grundsätzlichen Staatsumbaus erkannte, so sah er auch den Revisionsbedarf der Petersburger Polenpolitik. Zunächst deutete bei der Ernennung Michail Gorčakovs zum neuen Statthalter noch wenig auf einen gewandelten Herrschaftsstil hin, hatte dieser doch in den 1840er Jahren unter Paskevič als Militärgouverneur von Warschau gedient. Aber erste Zeichen einer Petersburger Bereitschaft zu Konzessionen folgten rasch. Alexander II. nutzte bereits seine erste Reise in das Königreich im Mai 1856, bei der er die Huldigung als polnischer König entgegennahm, um Reformen zu versprechen und Versöhnung zu signalisieren. Der Empfang Alexanders durch die polnische Aristokratie war dementsprechend enthusiastisch, auch wenn der Zar mahnend daran erinnerte, dass „keine Träumereien“ angebracht seien.19 Tatsächlich gestaltete sich die bis 1861 währende Amtszeit des neuen Vizekönigs Gorčakov als Periode einer vorsichtigen Kursänderung des imperialen Regimes. 1857 wurde eine Amnestie für politische Gefangene verkündet und polnische Vereine und Organisationen in begrenztem Maße zugelassen. Hier kam vor allem der Agrargesellschaft (Towarzystwo Rolnicze), die mit ihrer großen Mitgliederzahl und ihren zahlreichen lokalen Dependenzen zu einem Zentrum der neuen polnischen Gesellschaftlichkeit wurde, eine wichtige Funktion zu. Da bei den Versammlungen dieser Institution nicht nur die Reform der Agrarverfassung auf der Tagesordnung stand, sondern auch grundsätzliche Debatten über die zukünftige Gestaltung des Königreichs geführt wurden, ist die Gesellschaft mit gutem Recht als „Ersatzparlament“ zu bezeichnen, die erheblich zur schrittweisen Politisierung der polnischen Öffentlichkeit beitrug. In der Agrargesellschaft zeichneten sich schnell zwei Lager ab, die unter-

|| 18 Siehe Stefan Król: Cytadela Warszawska, Warschau 1978; Aleksander Lupienko: Przestrzen publiczna Warszawy w pierwszej polowie XIX wieku, Warschau 2012, S. 154–156. 19 Vgl. Erazm I. Pil’c: Povorotnyj moment v našej istorii, in: Erazm I. Pil’c: Povorotnyj moment v russko-pol’skich otnošenijach. Tri stat’i Petra Varty (E. I. Pil’ca), St. Petersburg 1897, S. 6–9.

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schiedliche politische Konzepte vertraten. Es entwickelte sich hier ein Gegensatz zwischen dem konservativen Magnatenkreis, als dessen Sprecher der Vorsitzende der Gesellschaft Graf Andrzej Zamoyski fungierte, und jenen Befürwortern weitreichender Agrarreformen, die sich um Marquis Aleksander Wielopolski scharten. Wielopolski sollte zur Schlüsselfigur der kommenden Jahre werden. Aus pragmatischen Überlegungen heraus trat er für eine enge Zusammenarbeit mit den zarischen Autoritäten ein und strebte eine Inkraftsetzung des Organischen Statuts von 1832 an. Er blieb damit allerdings weit hinter den sich nun öffentlich artikulierenden Forderungen nach einer Rückkehr zum status quo von 1815 zurück. Das trug dazu bei, dass Wielopolski rasch in die Isolation geriet.20 Seit 1858 radikalisierten sich die politischen Debatten im Königreich. Der ältere, bereits 1831 sichtbare Konflikt zwischen dem konservativen aristokratischen Flügel der „Weißen“, der in der Tradition von Czartoryski stand, und einem sich radikal-demokratisch verstehenden Lager der „Roten“ meist kleinund mitteladeliger Provenienz kam nun offen zum Ausbruch. Letztere meinten im Kontext der Reformperiode weitgehende Zugeständnisse einer polnischen Autonomie erreichen zu können. Sie waren Vertreter einer jungen Generation, die von den literarischen Idealen der revolutionären Romantik eines Słowacki und Mickiewicz geprägt waren und die zugleich die europäischen Vereinigungsund Nationalbewegungen, vor allem in Italien und Rumänien, als Vorbild sahen. In der Studentenschaft der frisch eröffneten Kunst- und Medizinhochschule in Warschau formierten sich schnell Gruppierungen, die auf eine Konfrontation mit den zarischen Autoritäten drängten.21 Bereits 1861 kam es zu Zusammenstößen zwischen Polizeikräften und Truppenverbänden einerseits sowie Warschauer Demonstranten und Teilnehmern von national-religiösen Feiern andererseits. Im Februar 1861 forderten diese Konflikte die ersten Toten, im April kam es zu einem Massaker auf dem Schlossplatz, bei dem die Soldaten in die Menschenmenge feuerten und mehr als 100 Personen töteten. In diesem aufgeheizten Klima waren die Petersburger Repräsentanten zunächst noch zu weiteren Konzessionen bereit. Gorčakov er-

|| 20 Siehe Vladimir D. Spasovič: Žizn’ i politika markiza Velepol’skogo. Epizod iz istorii russkopol’skogo konflikta i voprosa, St. Petersburg 1882. 21 Vgl. u. a. Andrzej Chwalba: Historia Polski 1795–1918, Krakau 2001, S. 323–331; A. E. Getmanskij: Politika Rossii v pol’skom voprose (60-e gody XIX veka), in: Voprosy istorii, 5 (2004), S. 24–45, S. 24–25; demnächst Hans-Hennig Hahn/Joachim Tautz (Hrsg.): Der polnische Januaraufstand von 1863 – Verflechtungs- und Wahrnehmungsgeschichte, Oldenburg, in Vorbereitung. Vgl. auch die russischen Zeitzeugenberichte im Sammelband A. I. Podvysockij (Hrsg.): Zapiski očevidca o sobytijach v Varšave v 1861 i 1862 godach, St. Petersburg 1869.

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nannte im März 1861 Wielopolski zum Leiter des wieder eingerichteten Ministeriums für Religions- und Bildungsangelegenheiten. Im Mai 1862 bestimmte Alexander II. Wielopolski zudem zum Vorsitzenden der Zivilverwaltung und damit de facto zum Ministerpräsidenten im Königreich. Wielopolski konnte hier und in St. Petersburg eine erstaunliche Agenda an politischen Reformen durchsetzen. So wurde in den Jahren 1861–62 mit dem Staatsrat erneut ein Regierungsorgan installiert und die Konstituierung von lokalen polnischen Selbstverwaltungsinstanzen seitens der zarischen Autoritäten gestattet. In Warschau eröffnete die Hauptschule (Szkoła główna) ihre Tore, die in der Praxis als Volluniversität operierte, und seit 1862 betrieb Wielopolski eine schrittweise Repolonisierung der Beamtenschaft und damit letztlich eine Wiederherstellung der Verwaltungsautonomie. Ebenso veranlasste er das Gesetz zur rechtlichen Emanzipation der Juden und entwarf Projekte zu einer Landreform, bei der die Zahlung eines Mietzinses die Leibeigenschaft substituieren sollte. Aber diese zweifellos weitreichenden Maßnahmen, die der Marquis in den Jahren 1861–62 implementierte, trugen doch wenig zur Deeskalation der Situation im Königreich bei. Die politische Öffentlichkeit in Warschau hatte sich schnell so weit radikalisiert, dass Wielopolskis enge Kooperation mit den Staatsbehörden bereits als Verrat an der polnischen Sache gedeutet wurde. In dieser Konfrontation mit Wielopolskis politischem Kurs verlor sogar der Gegensatz zwischen „Weißen“ und „Roten“ seine Relevanz. Ihre Protagonisten konnten sich zunehmend auf einen gemeinsamen Forderungskatalog einigen, der die Wiederherstellung der Verfassung und der polnischen Armee sowie auch die Vereinigung des Königreichs mit den „Ostgebieten“ umfasste und damit weit über das hinausging, was von den Petersburger Autoritäten als verhandelbar angesehen wurde. Alle Gesprächsversuche des neuen Statthalters und Zarenbruders, des Großfürsten Konstantin Nikolaevič, mit dem Vertreter der polnischen Hocharistokratie, Andrzej Zamoyski, mussten daher scheitern. Seit dem Frühjahr 1861 war Warschau von einer Gewaltspirale erfasst, die in die Richtung eines erneuten Aufstands wies. Bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei- sowie Armeekräften kamen Menschen zu Tode, deren Beerdigungen zu erneuten patriotischen Manifestationen, Scharmützeln und weiterem Blutvergießen führten. Bereits im Oktober 1861 rief Konstantin in Warschau das Kriegsrecht aus, ohne damit die Situation wesentlich zu beruhigen. Die Adelsopposition sowohl des „roten“ wie des „weißen“ Lagers verließ den Boden der Legalität und gründete Geheimorganisationen, in denen schnell die Wortführer eines Aufstands die Oberhand gewannen. Ab dem Frühjahr 1862 bestand in Warschau ein „Zentrales Nationalkomitee“, das sich immer mehr als Gegenregierung zu Wielopolskis Administration verstand und sich auf eine bewaffnete Erhebung gegen die Petersburger Fremdherrschaft vorbereitete.

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Wielopolski dagegen bemühte sich, die radikalere „rote“ Fraktion zu isolieren. Seine intensivierten Reformaktivitäten im Sommer und Herbst 1862 waren auch Ausdruck des Versuchs, Teile der oppositionellen Bewegung in sein politisches Projekt zur Wiederherstellung einer begrenzten polnischen Autonomie einzubinden. Zugleich forcierte er ein repressives Vorgehen gegen die Vertreter der „Roten“, von denen er einige sogar öffentlich hinrichten ließ. Sein Vorhaben, den Radikalen die Basis zu entziehen, indem er im Winter 1862–63 vor allem Warschauer Jugendliche zur Wehrpflicht einziehen lassen wollte, führte jedoch zur Eskalation der Situation. Am 22. Januar 1863, kurz nach dem Beginn der Aushebungen, ernannte sich das Nationalkomitee zur „Provisorischen Nationalregierung“, erklärte St. Petersburg den Krieg und rief in einem Manifest zum allgemeinen Aufstand gegen die Zarenherrschaft auf. Die dritte polnische Revolte gegen das Petersburger Diktat hatte begonnen. Die Januarerhebung von 1863 hatte ihre Ursache nicht in der fehlenden Bereitschaft der imperialen Autoritäten, Reformen im Königreich zuzulassen. Die von den zarischen Amtsträgern geduldeten, zum Teil selbst implementierten Umstrukturierungen der Verwaltung und die Liberalisierungen im gesellschaftlichen Leben wiesen in die Richtung einer Wiederherstellung partieller polnischer Autonomie. Es war hier vielmehr der nachlassende Druck des Petersburger Machtapparats, der die Erwartungen der polnischen Öffentlichkeit permanent erhöhte und zur Eskalation zunächst der internen Auseinandersetzungen sowie schnell auch zur Konfrontation mit der imperialen Herrschaft beitrug. In einer Atmosphäre romantisch verklärter Revolutionsbegeisterung und der in der Emigration ebenso wie in Warschau gepflegten Vereinigungsrhetorik, die sich sowohl auf die preußischen und österreichischen Teilungsgebiete wie vor allem auf die polnischen Ostgebiete bezog, konnten die Petersburger Konzessionsangebote den sich steigernden Forderungen kaum genügen. Die Gewaltdynamik der Zusammenstöße auf den Straßen Warschaus in den Jahren 1861–62 spitzte die Krise erheblich zu und bestärkte einen Großteil der polnischen Adelsopposition in der Überzeugung, dass der bewaffnete Aufstand letztlich unausweichlich sei. Die Geschichte des Januaraufstands ist schnell erzählt. Militärisch war er ein Fiasko. Es gelang den Aufständischen nicht, auch nur eine der größeren Städte im Königreich einzunehmen. Zwar erwies sich die aus der militärischen Schwäche geborene Taktik des Guerillakriegs zwischenzeitlich als erfolgreich, da die russischen Truppen weite Teile des Königreichs räumten und der Aufstand sogar auf die litauischen Territorien übergriff. Aber mit der Absetzung Wielopolskis und der Ernennung des General-Feldmarschalls Fedor Berg zum neuen Staathalter im Sommer 1863 gewann die Zarenmacht schnell die Initiative zurück. Harte Repressionsmaßnahmen gegen die Aufständischen und ihre

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Unterstützer, flankiert durch das Projekt einer weitreichenden Landreform, entzogen den Rebellen die Unterstützung der Bevölkerung. Nach der Verhaftung des militärischen Führers der Revolte, des „Diktators“ Romuald Traugutt, im April 1864 brach der Aufstand schnell in sich zusammen.22 Der Misserfolg der Erhebung erklärt sich somit auch aus ihrer fehlenden Breitenwirksamkeit. Denn der Aufstand blieb im Wesentlichen eine Adelsbewegung, wenngleich in Warschau Teile der Stadtbürgerschaft erreicht und zum Teil sogar die konfessionellen Grenzen überschritten wurden. Dagegen gelang es kaum, die Bauernschaft im Königreich für die Ziele der Rebellion zu interessieren. Immerhin hatte es die „Provisorische Nationalregierung“ verstanden, die sozial heterogene und politisch zerstrittene Szlachta zu einem gemeinsamen Vorgehen zu bewegen, das sich territorial auf den gesamten Raum der PolnischLitauischen Republik in den Grenzen von 1772 erstreckte. Insofern stellte der Januaraufstand eine durchaus beeindruckende Mobilisierungsleistung der alten Eliten der Rzeczpospolita dar. Das Scheitern der Erhebung war damit aber ebenso eine klare Aussage darüber, wie chancenlos diese sozial-politische Standesgemeinschaft gegenüber den Machtapparaten des russischen Imperiums war. Die Erfahrung dieses Fiaskos hat den Abschied vom Zeitalter der Revolutionsromantik in weiten Teilen der polnischen Öffentlichkeit zweifellos erleichtert.

|| 22 Vgl. Stefan Kieniewicz: Warszawa w powstaniu stycziowym, Warschau 1965; Stefan Kieniewicz: Powstanie styczniowe, Warschau 1972; sowie demnächst Hans-Hennig Hahn/Joachim Tautz: Januaraufstand.

4 Vom Königreich zum Weichselland: Das imperiale Regime nach dem Januaraufstand (1863–1915) Der Januaraufstand und sein Scheitern markieren eine radikale Zäsur in der Geschichte des Königreichs. Nun waren nicht nur alle polnischen Illusionen einer Wiederauferstehung der alten Adelsnation endgültig zunichte gemacht, auch der Charakter der Petersburger Herrschaft änderte sich nach der Niederschlagung der Erhebung grundsätzlich. Und so verschoben die Ereignisse von 1863–64 den mentalen Horizont beider Konfliktparteien fundamental. Während in der polnischen Gesellschaft die Idee des romantischen Rebellionsheroismus beerdigt wurde, entwickelten die imperialen Amtsträger ebenso wie die breitere russische Öffentlichkeit eine tiefe Polonophobie, die für die Verwaltungspraxis der Nachaufstandsperiode handlungsleitend werden sollte. Die „polnische Meuterei“ wurde hier zu einem lieu de mémoire, der das Bild vom untreuen und verräterischen Polen wirkmächtig für die nächsten fünf Dekaden konservierte.1 Zudem verstärkten die zarischen Reaktionen auf die Rebellion die Unterschiede zwischen den drei polnischen Teilungsgebieten. Während das Königreich und die westlichen Gouvernements nach 1864 enger an das Petersburger Regiment gebunden wurden, gingen die polnischen Provinzen Österreichs und Preußens andere Wege. Mit der Deklaration der galizischen Verwaltungs- und Kulturautonomie nach 1867 und mit der Ausrufung des Deutschen Kaiserreichs 1871 verschärften sich die Differenzen der drei Großregionen der alten Adelsrepublik nochmals enorm.2 Aber auch innerhalb des Russischen Reichs entwickelten sich die ehemaligen Territorien Polen-Litauens auseinander. Denn die Petersburger Maßnahmen nach dem Januaraufstand unterschieden sich im Königreich und in den Westgebieten fundamental. Hatte diese grundlegende Unterscheidung sich in der imperialen Politik auch schon vor 1863 bemerkbar gemacht, so vertiefte sich der Graben nach der polnischen Erhebung zusätzlich.3 || 1 Vgl. Graf Leliva (Pseudonym von Anton Tyszkiewicz): Russko-pol’skie otnošenija, Leipzig 1895, S. 220–221; Nikolaj V. Berg: Zapiski N. V. Berga o pol’skich zagovorach i vozstanijch, Moskau 1873, S. 5–12. 2 Vgl. Christoph Augustynowicz: Individuum und Stadt an der galizischen Grenze: Dialog oder Monologe? Sandomierz und Jan Słomka als Grenzgänger, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 59/5 (2011), S. 405–420. 3 Die zapadnye gubernii umfassten die neun Gouvernements Kovno, Wilna, Vitebsk, Grodno, Minsk, Mogilev, Volyn’, Kiew und Podolia, die zum Großteil den Generalgouverneuren in Wilna und Kiew unterstellt waren. Vgl. Michail D. Dolbilov/Aleksej Miller: Zapadnye okrainy Rossijskoj imperii, Moskau 2006; John P. LeDonne: Frontier Governors General, 1772–1825. I: The Western

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Abb. 2: Karte des Königreichs Polen und der westlichen Gouvernements des Russischen Imperiums (1902)

|| Frontier, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 47/1 (1999), S. 57–81; Alexei Miller: The Ukrainian Question. The Russian Empire and Nationalism in the Nineteenth Century, Budapest 2003; Witold Rodkiewicz: Russian Nationality Policy in the Western Provinces of the Empire (1863–1905), Lublin 1998; Timothy Snyder: The Reconstruction of Nations. Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus, 1569–1999, New Haven 2003; Darius Staliunas: The Pole in the Policy of the Russian Government: Semantics and Praxis in the Mid-Nineteenth Century, in: Lithuanian Historical Studies, 5 (2000), S. 45–67; Ricarda Vulpius: Nationalisierung der Religion. Russifizierungspolitik und ukrainische Nationsbildung 1860–1920, Wiesbaden 2005; Theodore R. Weeks: Nation and State.

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Dieses Kapitel konzentriert sich auf die Entwicklungen im Königreich und beschreibt das Panorama der Petersburger Maßnahmen, mit denen die zarischen Autoritäten auf die Herausforderung des Januaraufstands reagierten. Denn mit der radikalen Umgestaltung der inneren Struktur des Königreichs in den Jahren nach der Erhebung wurde jenes neue administrative Regime etabliert, das bis zum Ersten Weltkrieg Bestand haben sollte. Die Amtsträger implementierten ein ganzes Bündel an Direktiven, die neben der unmittelbaren militärischen Niederschlagung der Revolte auf eine langfristige Befriedung des Landstrichs abzielten. Der entsprechende Katalog von Eingriffen in die innere Verfasstheit des Königreichs war lang und verdeutlicht die Tragweite der zarischen Reaktion auf den Aufstand.4 Dies sollte jedoch keinesfalls darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier weniger um die Umsetzung eines kohärenten politischen Programms als vielmehr um einen längeren Prozess der Umgestaltung handelte. Darauf deutet allein schon der Umstand hin, dass viele der Maßnahmen, mit denen Petersburg seine Herrschaft in den unruhigen Provinzen zu stärken versuchte, erst in den 1870er Jahren und damit mehr als zehn Jahre nach der Erhebung erfolgten.5 Der tiefgreifenden Wirkung vieler der nach 1863–64 getroffenen Maßnahmen tat dies keinen Abbruch. Bereits mit der Bestellung des neuen Statthalters Fedor Berg im Sommer 1863 war klar ersichtlich, dass Petersburg eine harte Linie verfolgte, die auf eine konsequente Bekämpfung der Aufständischen setzte. Ähnlich wie sein Wilnaer Amtskollege Michail Murav’ev forcierte Berg Repressalien gegen jene, deren Beteiligung an der Erhebung er für erwiesen hielt. In der Situation des Kriegszustands konnte er persönlich Todes- und Verbannungsurteile aussprechen oder die Konfiszierung von Besitztümern veranlassen.6 Insgesamt ließ er mehr als 400 Personen in Gerichtsverfahren hinrichten, Tausende in die Verbannung verschicken und 1.660 Güter polnischer Adeliger konfiszieren. Die letztere Strafmaßnahme verweist ebenso wie die vom polni|| 4 Vgl. Sbornik administrativnych postanovlenij Carstva Pol’skogo. Vedomstvo vnutrennych i duchovnych del, Bd. 1, Warschau 1866. GARF, f.102, op.254, d.1 [Obozrenie mer Pravitel’stva, prinjatych po Carstvu Pol’skomu posle 1863 goda, 1880]. 5 So argumentieren auch ganz grundsätzlich Gert von Pistohlkors: „Russifizierung“ in den baltischen Provinzen und in Finnland im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung, 33 (1984), S. 592–606, S. 596; Ronald Grigor Suny/Terry Martin: The Empire Strikes Out. Imperial Russia, „National“ Identity, and Theories of Empire, in: Ronald G. Suny/Terry Martin (Hrsg.): A State of Nations. Empire and Nation-Making in the Age of Lenin and Stalin, Oxford 2001, S. 23–66, S. 53–56. 6 Vgl. Sbornik cirkuljarov voenno-policejskogo upravlenija v Carstve Pol’skom 1863–1866 godov, Warschau 1867; Vladimir A. Istomin: Voennoe položenie v Carstve Pol’skom vo vremja mjateža 1863 goda, Moskau 1903.

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schen Adel erhobenen Sonderabgaben zum Unterhalt der russischen Armee darauf, dass Berg und die Petersburger Autoritäten vor allem die polnische Szlachta als Urheber des Aufstands identifizierten und deren gesellschaftliche Stellung entsprechend langfristig zu schwächen versuchten.7 In diese Richtung zielte auch die vom Zaren am 19. Februar 1864 und damit mitten im Aufstand dekretierte Emanzipation der Bauern im Königreich. Der von Nikolaj Miljutin ausgearbeiteten Bauernbefreiung war es zum einen ein Anliegen, der Aufstandsbewegung eine mögliche bäuerliche Unterstützung zu entziehen und die vom revolutionären Nationalkomitee bereits im Januar 1863 proklamierte Landreform zu konterkarieren, zum anderen sollte hier der polnische Adel aber auch auf lange Sicht marginalisiert werden. Gleichzeitig glaubte Miljutin, mit der durch die Reform begünstigten Bauernschaft eine Stütze zarischer Herrschaft im Königreich zu errichten. Der entsprechende Topos vom „treuen“ und „dankbaren“ polnischen Bauern sollte noch bis ins 20. Jahrhundert hinein durch die Berichte imperialer Beamter geistern.8 Die Hinrichtung des „Diktators“ der Rebellen, Romuald Traugutt, im Sommer 1864 markierte das definitive Ende der Erhebung. In den Folgejahren war Petersburg primär damit befasst, die Verwaltungsstruktur der polnischen Provinzen radikal neu zu gestalten. Nun vermieden die imperialen Instanzen die Bezeichnung „Königreich Polen“ in ihrer amtlichen Korrespondenz und degradierten das Gebiet zum „Weichselland“ (Privislinskij kraj / Kraj Nadwiślański), um die Erinnerung an eine polnische Eigenstaatlichkeit zu tilgen.9 Entsprechend wurde auch Warschau in seiner Titulatur herabgestuft. Die Stadt wurde fortan nur noch als gorod Varšava und nicht mehr als „Hauptstadt“ (miasta stołeczna Warszawa) bezeichnet.10

|| 7 Vgl. Andrew A. Gentes: Siberian Exile and the 1863 Polish Insurrectionists According to Russian Sources, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 51/4 (2003), S. 197–217, hier S. 197; Elżbieta Kaczyńska: Poljaki v Sibiri (1815–1914). Social’no-demografičeskij aspekt, in: Petr S. Romanov (Hrsg.): Sibir’ v istorii i kul’ture pol’skogo naroda, Moskau 2002, S. 265–277. 8 Siehe Nikolaj A. Miljutin: Issledovanija v Carstve Pol’skom, 5 Bd., St. Petersburg 1863–64; Nikolaj A. Miljutin: Poezdka po nekotorym mestnostam Carstva Pol’skogo v oktjabre 1863 goda, St. Petersburg 1863, in: Petr Batenev (Hrsg.): Devjatnadcatyj vek, Moskau 1872. APW, t.151, cz.3 (KGW), sygn.543, kart.3–6 [Bericht über gesellschaftliche Aktivitäten im Warschauer Gouvernement, 29.8.1897], hier v. a. kart.3–4. 9 Allerdings setzte sich die neue Titulatur nie vollständig durch. Selbst in der amtlichen Korrespondenz findet sich in den Jahrzehnten nach 1864 regelmäßig die Bezeichnung „Königreich Polen“. Auch der Zar führte weiterhin den Titel „Zar/König von Polen“ (Car Pol’skij). GARF, f.215, op.1, d.277, ll.16–20 [Brief des WGG Imeretinskij an den Innenminister Goremykin, 31.7.1897], hier l.17. 10 Vgl. dazu Ute Caumanns: Modernisierung unter den Bedingungen der Teilung. Überlegungen zur Frage strukturellen und kulturellen Wandels in Warschau am Beispiel öffentlicher

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Abb. 3: Karte des Weichsellands (1896)

|| Gesundheit, in: Carsten Goehrke/Bianka Pietrow-Ennker (Hrsg.): Städte im östlichen Europa. Zur Problematik von Modernisierung und Raum vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Zürich 2006, S. 365–391, S. 365.

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In dieser Phase der Transformation kam dem von Petersburg initiierten Gründungskomitee im Königreich Polen (Učreditel’nyj komitet v Carstve Pol’skom) eine zentrale Stellung zu. Zunächst konzipiert als Instanz, die sich der Agrarfrage annehmen sollte, entwickelte sich das 1864 bis 1871 tätige Komitee schnell zu einer organisatorischen Schaltzentrale der imperialen Herrschaft, die relativ eigenständig unter dem nominellen Vorsitz des kaiserlichen Statthalters operierte. Sie war mit profilierten Persönlichkeiten wie Nikolaj Miljutin und dem slawophilen Fürsten Vladimir Čerkasskij sowie Ja. A. Solov’ev besetzt. Da das Komitee unter anderem für weite Teile der Finanzverwaltung des Königreichs zuständig war, konnte es erheblich steuernd in die Entscheidungsprozesse eingreifen.11 Im Zuge der Verwaltungsreform löste St. Petersburg schrittweise alle Warschauer Institutionen auf, die das Königreich zuvor administriert hatten. So wurden 1867 der Staats- und der Verwaltungsrat abgeschafft und stattdessen Strukturen etabliert, die jener der „inneren Gebiete“ des Reichs glichen. Nun waren die einzelnen Organisationsfelder der Inneren, der Finanz-, Justiz- und Bildungsverwaltung direkt den jeweiligen Petersburger Ministerien unterstellt. Bereits 1866 war dieser Prozess der administrativen Restrukturierung weitgehend abgeschlossen. Das Weichselland war nun in zehn Gouvernements unterteilt, die durch einen vom Zaren ernannten Gouverneur und seine Gouverneursbehörde geleitet wurden.12 Ihnen stand zunächst der kaiserliche Statthalter in Warschau vor, dessen Posten nach dem Tod von General-Feldmarschall Berg im Jahr 1874 in das Amt des Warschauer Generalgouverneurs überführt wurde.13 Neben dieser fundamentalen Neugliederung der Verwaltung war es vor allem ihre Depolonisierung, auf die die Petersburger Instanzen abzielten. Die von Aleksander Wielopolski betriebene Besetzung der Administration durch ortsan-

|| 11 Zu der umfangreichen Tätigkeit des Komitees den Aktenbestand vgl. GARF, f.1141, op.1 [Učreditel’nyj komitet v Carstve Pol’skom, 1864–1871]. Siehe ebenso Nikolaj M. Rejnke: Očerk zakonodatel’stva Carstva Pol’skogo, St. Petersburg 1902, S. 114–116; Sergej S. Tatiščev: Imperator Aleksandr II. Ego žizn’ i carstvovanie, Bd. 1, St. Petersburg 1903, S. 499–510. Im Deutschen besteht keine einheitliche Nomenklatur für dieses Komitee. Rohr übersetzt es mit „Organisationskomitee“, unterschlägt damit aber die wichtige Konnotation des Adjektivs učreditel’nyj, die das semantische Feld von „begründend“, „konstituierend“ und sogar „verfassungsgebend“ (z. B. als učreditel’noe sobranie) umfasst. Vgl. Vladimir I. Dal’: Tolkovyj slovar’ živogo velikorusskogo jazyka, Bd. 2, Moskau 1865. 12 GARF, f.215, op.1, d.76, l.34 [Bericht des WGG Al’bedinskij an Alexander II., 27.12.1880]. Das Weichselland bestand aus den zehn Gouvernements Kalisz, Kielce, Łomża, Lublin, Piotrków, Płock, Radom, Siedlce, Suwałki, und Warschau. 13 Zu einer detaillierten Darstellung der administrativen Struktur vgl. das Kapitel Die Verwaltung des Weichsellands nach 1864.

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sässige Polen sollte revidiert werden. Vor allem die oberen Posten der zarischen Bürokratie waren einem nicht-katholischen Personal vorbehalten. Auch wenn es immer wieder Ausnahmen von dieser Regel gab,14 blieb diese Diskriminierung von Katholiken und damit der Polen ein wesentlicher Grundsatz der Verwaltungspolitik bis zum Ende des Zarenreichs. Dies war im Übrigen eine Benachteiligung, die als informelle Praxis betrieben wurde, ohne dass diese antipolnischen Sonderbestimmungen jemals gesetzlich verankert worden wären. Die Erfolge einer solchen Depolonisierungspolitik waren insgesamt eher bescheiden. Der Mangel an nicht-katholischem Personal zwang die zarischen Autoritäten dazu, auch nach 1864 katholische Polen in der Verwaltung zu beschäftigen. 1869 arbeiteten erst zwölf Prozent Orthodoxe im Verwaltungsapparat des Weichsellands und noch 1897 waren fast 60 Prozent der dort tätigen Staatsbeamten Katholiken, während der Anteil der Orthodoxen immerhin auf 23 Prozent gestiegen war.15 Dass die Petersburger Instanzen bemüht waren, Beamte aus dem Inneren des Reichs zur Karrieremigration in das Weichselland zu bewegen, änderte daran wenig. Mit zahlreichen Sonderzulagen und Privilegien sollte der Dienst an der fremden Peripherie attraktiv gestaltet werden. Das Königreich ist deshalb gelegentlich als „Beamtenkalifornien“ skizziert worden, in dem die Staatsdiener aufgrund von Zusatzzahlungen zum Grundgehalt sowie weiteren Vergünstigungen über ein deutlich besseres Auskommen verfügten als ihre Amtskollegen in den innerrussischen Provinzen. Da der Personalpolitik, die auf die Verdrängung der Polen abzielte, eine zentrale Stellung im Rüstzeug imperialer Herrschaft zukam, lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die materiellen Bedingungen des Staatsdienstes im Weichselland sowie auf die interne Einschätzung der aus Russland kommenden Beamtenschaft zu werfen.16

|| 14 So war beispielsweise der Pole und Katholik Kalikst Witkowski in den Jahren 1863–1875 Warschauer Stadtpräsident. Ebenso war Michail Jačevskij (Michaił Jaczewski) ein Pole. Jačevskij war 1905–1910 Leiter der Kanzlei des Generalgouverneurs und 1910–1915 Gouverneur von Piotrków. Und die Gouverneure Władimir Tchórzewski, Konstantin Stefanowicz, Michaił Arcimowicz und Denis Łabudziński waren nicht nur Polen, sondern auch getaufte Katholiken, die allerdings später zur Orthodoxie konvertierten. Vgl. zu Letzteren Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy w Królestwie Polskim 1863–1915. Szkic do portretu zbiorowego, Wrocław 1999, S. 73. 15 Die übrigen 17 % waren in der überwiegenden Mehrheit Lutheraner. Vgl. Andrzej Chwalba: Polacy w służbie Moskali, S. 40; Katya Vladimirov: Provincial Bureaucracy, S. 51–52. GARF, f.215, op.1, d.94, l.25 [Auszüge aus dem Bericht des WGG Imeretinskij, 12.1.1898]. 16 Dazu kamen weitere Privilegien für den Dienst im Königreich wie eine beschleunigte Beförderung und eine frühzeitige Pensionierung. Vgl. Rossijskoe zakonodatel’stvo X–XX vv., Bd. 6, Moskau 1985, S. 245–256.

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Abb. 4: Königliches Schloss in Warschau, Sitz der Generalgouverneure (um 1910)

Ohne Zweifel waren die obersten Posten der Verwaltungshierarchie im Königreich ausgesprochen gut dotiert. Der Generalgouverneur Skalon verbuchte 1908 ein Spitzengehalt von jährlich 36.000 Rubel, zu dem sich noch Zulagen in Höhe von circa 13.000 Rubel gesellten.17 Sein Kanzleichef verdiente im gleichen Jahr stolze 9.000 Rubel und der Vorsitzende des Warschauer Zensurkomitees im Jahr 1899 immerhin noch 5.700 Rubel.18 Die hohen Gehälter der Warschauer Spitzenbeamten wurden durch komfortable Dienst- und Wohnräume ergänzt. Die Generalgouverneure residierten im alten königlichen Schloss, der Warschauer Gouverneur und die Kanzlei des Warschauer Generalgouverneurs im ehemaligen Statthalterpalast am Krakowskie Przedmieście. Der Oberpolizeimeister und der Stadtpräsident hatten ihre Amtsstuben im repräsentativen Rathaus, der Stab des Warschauer Wehrbezirks sogar im ehemaligen königlichen Palast am Sächsischen Platz. Während sich Gouverneure || 17 AGAD, KGGW, sygn.9241, kart.1 [Monatliche Bezüge des WGG Skalon für Januar 1908. Zum Vergleich: Ein General verdiente in den Jahren 1906–1914 jährlich „nur“ 7.800 Rubel, ein ernanntes Mitglied des Oberhauses (Reichsrats) erhielt im Jahr 1909 zwischen 10.000 und 20.000 Rubel. 18 AGAD, KGGW, sygn.9241, kart.2 [Monatliche Bezüge des Leiters der Kanzlei des WGG 1908], AGAD, KGGW, sygn.8316, kart.1–2v [Schreiben des WGG Imeretinskij an Baron Aleksandr Ikskul’, 9.2.1899]. Zum Vergleich: Der frisch an die Warschauer Universität berufene Professor für russische Sprache Karskij verdiente 2.000 Rubel im Jahr 1893. APW, t.25, sygn.645, kart.6 [Unterlagen zu den Bezügen von Professor Karskij, 1893].

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im Inneren Russlands regelmäßig über den Zustand und die räumliche Enge der Gouverneurshäuser beklagten, verfügten zumindest die Behördenleiter in der Weichselmetropole über Räumlichkeiten, die den Repräsentanten der Reichsregierung standesgerecht erschienen.19 Das sah jedoch schon für die Provinzgouverneure und erst recht für die subalternen Beamten im Königreich deutlich anders aus. Der Gouverneur eines der zehn polnischen Verwaltungsbezirke verfügte in den Jahren 1870 bis 1890 immerhin über ein Jahresgehalt von 5.300 bis 7.600 Rubel. Staatsangestellte auf den unteren Rängen der Beamtenhierarchie erhielten dagegen nur ein Jahreseinkommen von 350 bis 1.000 Rubel.20 1886 war ein Zuschlag zum Grundgehalt der Beamten russischer Herkunft für ihren Dienst im Königreich festgelegt worden, seitdem allerdings nicht mehr an die örtliche Teuerungsrate angepasst worden. Zahlreiche Klagen der Generalgouverneure verwiesen darauf, dass die Inflation im Weichselland längst alle Zulagen nichtig gemacht habe und daher die Entlohnung in den polnischen Provinzen nicht mehr attraktiv sei.21 In vielen Fällen wandten sich vor allem untere Beamte mit der Schilderung ihrer finanziellen Notlage direkt an den Generalgouverneur, der nicht selten Einzelzahlungen zur zusätzlichen Unterstützung gewährte.22 Und spätestens dann, wenn Beamte in den Ruhestand gingen, mussten sie erhebliche finanzielle Einbußen hinnehmen. Das galt im Übrigen auch für Leitungsstellen. Wenngleich in diesen Fällen weniger Altersarmut drohte, so schien angesichts der steigenden Unterhaltskosten in Warschau zumindest in der Weichselmetropole eine standesgemäße Lebensführung kaum mehr möglich zu sein.23 Der Dienst im Weichselland bescherte den subalternen russischen Beamten also keinesfalls ein üppiges Einkommen. Dies mag auch erklären, warum die Anzahl von russisch-orthodoxen Amtsträgern über die Jahrzehnte zwar zunahm,

|| 19 Auch die bereitgestellten Wohnungen präsentierten sich dienstgradgerecht. AGAD, KGGW, sygn.9155, kart.1–49 [Dokumente zum Unterhalt und zur Renovierung des Wohnraums des WGG, 1906–07]. 20 Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy, S. 68. Zum Vergleich: Ein Lehrer konnte jährlich bis zu 540 Rubel verdienen, ein Facharbeiter im Königreich durchaus mehr als 300 Rubel. Provinzgouverneure in Polen verdienten damit deutlich weniger als die obersten Beamten eines russischen Gouvernements. In Russland war das Jahresgehalt von 10.000 Rubel die Norm. Vgl. Richard G. Robbins: The Tsar’s Viceroys: Russian Provincial Governors in the Last Years of the Empire, Ithaca 1987, S. 43. 21 GARF, f.215, op.1, d.94, l.26ob [Auszüge aus dem Bericht des WGG Imeretinskij, 12.1.1898]. 22 AGAD, KGGW, sygn.6381, kart.1–106 [Unterlagen zu Gehältern, 1912]; AGAD, KGGW, sygn.6399, kart.1 [Schreiben des Płocker Gouverneurs an den WGG Skalon, 4.1.1913]. 23 AGAD, KGGW, sygn.8316, kart.4–4v [Schreiben des WGG an den Innenminister Goremykin, 15.2.1899].

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sich aber doch wenig an der zahlenmäßigen Dominanz der polnisch-katholischen Beamten in der imperialen Verwaltung änderte. Die finanziellen Mittel des Staats waren für eine tiefergehende Personalpolitik zu begrenzt. Wie im gesamten Reich erlaubte auch im Königreich Polen das Staatsbudget nur eine sehr schmale personelle Ausstattung der Provinzverwaltungen. Zudem erwies sich das traditionelle Problem der zarischen Bürokratie, der Mangel an Fachkräften, als großes Hemmnis. Die Klagen der Warschauer Generalgouverneure über die geringe Eignung der aus Russland kommenden Beamtenschar rissen nicht ab. So charakterisierte der Generalgouverneur Al’bedinskij das „Kontingent der Russen“, das auf den subalternen Posten der Diensthierarchie beschäftigt war, folgendermaßen: „In Übertreibung der Idee, dass das russische Volk die erste Rolle spielen soll, und in Misstrauen gegen alles Fremde haben einige Regierungsbeamte sich nicht die vollständig richtigen Meinungen angeeignet, wie man hier der ‚russischen Sache‘ dienen soll. Mit ihrer Art des Handelns, die sich oft in harschen und schroffen Formen ausdrückt und die Gefühle des polnischen Volks durch Erinnerungen an die vergangenen Ereignisse verletzt, behindern sie gerade die angestrebte Annäherung der polnischen Gesellschaft an Russland.“24 Aber selbst denjenigen russischen Beamten, die die Ziele der Regierungspolitik nicht durch ihre offen zur Schau getragene Polenfeindlichkeit konterkarierten, attestierte der Generalgouverneur eine mehrheitlich „gleichgültige und rein formale Ausfüllung ihrer Dienstpflicht“. Es sei kein Wunder, dass die lokale Bevölkerung gegenüber dieser Art von Beamten kein Vertrauen entwickle.25 Das Grundproblem schlecht qualifizierter, wenig motivierter oder aggressiv antipolnisch agierender Beamten aus dem Inneren Russlands bestand auch um die Jahrhundertwende weiter fort. Und so klagte der Generalgouverneur Aleksandr Imeretinskij über die Schwierigkeit, geeignete Personen für den Staatsdienst im Königreich zu gewinnen. Sein Urteil über diejenigen, die sich tatsächlich zum Einsatz im Königreich meldeten, war dagegen vernichtend: „Viele der neuen russischen Beamten lassen einiges in Bezug auf Bildungsniveau, moralische Qualitäten, Dienststil und gewissenhafte Ausführung der Dienstpflichten zu wünschen übrig. Das trifft vor allem für die niedere Beamtenschaft zu, aber derartige Mängel finden sich auch in höheren Beamtenkreisen, was für die Regierung besonders schädlich ist. […] Schon vor dem Dienstantritt ist der halbgebildete und schlecht erzogene russische Beamte von seiner Natur her gutmütig, faul, einfach. Er bringt ein ganzes Arsenal von Vorurteilen mit, nach

|| 24 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.1–43 [Bericht des WGG Al’bedinskij an Alexander II., 27.12.1880], hier ll.4–4ob. 25 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.43–43ob.

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deren Leitlinie er hier regieren will. Der Privislinskij Kraj erscheint ihm als ein flammender Revolutionsherd, in jedem Polen erkennt er einen unterdrückten, aber bösartigen Feind der Regierung und seiner selbst. Sich selbst sieht er als Sieger und folgend dem Motto – über einen Sieger urteilt man nicht – wähnt er sich als frei von jeder Kontrolle, und dies nicht nur von Seiten der gesellschaftlichen Meinung, sondern auch vor seinem eigenen Gewissen. In sehr seltenen Einzelfällen werden diese Vorurteile, die er aus dem Inneren Russland mitbringt, bei seiner genaueren Bekanntschaft mit den Bedingungen des hiesigen Lebens ausgeglichen. Bei den meisten Beamten, die einige Jahre hier im Kraj dienen, verstärken sich aber ganz im Gegenteil die allerersten Ansichten, die durch den Geist der äußersten Intoleranz gegenüber allem Polnischen geprägt sind.“26 Die Folgen für das russisch-polnische Verhältnis, so Imeretinskij weiter, seien verheerend, die Beziehung zwischen russischen Beamten und der einheimischen Bevölkerung sei von tiefer Feindschaft gekennzeichnet, ihre Begegnungen glichen einem „ununterbrochenen Kampf auf jedem Schritt“.27 Es sei ein „trübseliges Bild“, das sich ihm als Behördenleiter präsentiere: „[...] unzufriedene russische Beamte und sich beklagende einheimische Polen.“ All dies sei höchst schädlich für die Regierung, da sich „die lokale Bevölkerung ein ganz falsches Bild [von den Absichten der Regierung] macht, das in den zahlreichen Konfrontationen mit einzelnen, vor allem niederen Regierungsorganen entsteht.“28 Imeretinskij forderte dementsprechend, nur Beamte aus den russischen Gebieten in das Königreich zu entsenden, die über ein hohes Bildungsniveau und damit über „einen kritischen Verstand und die Fähigkeit verfügten, sich auch in nicht vertrauter Umgebung schnell zu orientieren und außerdem zwischen Seiendem und Nichtseiendem zu unterscheiden. Mit solchen Fähigkeiten ausgerüstet, könnte ein russischer Beamter, der selbstverständlich aus dem Inneren Russland mit Vorurteilen kommt, sich auf der Grundlage seiner Erfahrung schnell über ihre Gegenstandslosigkeit klar werden.“29 Der Regierung müsse an einer solchen qualitativen Verbesserung der Beamtenschaft im Königreich unbedingt gelegen sein, wolle sie eine effiziente und weniger auf Konfrontation ausgerichtete Arbeit der Administration im Weichselland sicherstellen.30 || 26 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.25–27 [Auszüge aus den Aufzeichnungen des WGG Imeretinskij zum Jahr 1897, 12.1.1898], hier l.25ob–26. 27 GARF, f.215, op.1, d.94, l.26. 28 GARF, f.215, op.1, d.94, l.26. 29 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.25ob–26ob. 30 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.31–34ob [Auszüge aus den Aufzeichnungen des WGG Imeretinskij, 12.1.1898], hier ll.33ob–34.

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Dass eine solche kritische Einschätzung der Qualitäten russischer Beamter nicht allein den Ansichten eines betont reformorientierten Generalgouverneurs entsprang, zeigt sich darin, dass auch Imeretinskijs konservativer Nachfolger, Michail Čertkov, dieses Urteil grundsätzlich teilte. Čertkov entwarf gleichfalls ein ausgesprochen negatives Bild der in das Königreich kommenden russischen Beamten. Die Bedenken seines Amtsvorgängers bezüglich der „Unzuverlässigkeit“ der russischen Beamten hätten ihre volle Berechtigung. Das Problem werde dadurch verschärft, dass die „lokalen Angestellten“ – und hier meinte Čertkov die polnisch-katholischen Staatsbeamten – selbst auf den untersten Rängen „kulturell sehr entwickelt“ seien. Dagegen kämen aus Russland nur jene, denen es „dort nicht gelungen ist, ihr Leben zu gestalten“. Solche Kandidaten seien aber unter den besonders schwierigen Bedingungen im Weichselland vollkommen unbrauchbar und letztlich dafür verantwortlich, dass „alle russischen Angestellten eine schlechte Reputation“ im Königreich genössen.31 Nicht einmal auf die Mitarbeiter seiner Kanzlei konnte sich Čertkov voll verlassen. Auch in den Warschauer Amtstuben kritisierte er die Verschleppung von Angelegenheiten und beklagte den weitverbreiteten „Kanzleibürokratismus“, der das administrative Tagesgeschäft erheblich behindere.32 Die angestrebte Depolonisierung der imperialen Verwaltung erwies sich also als kaum durchführbar. Zumindest betonten die Generalgouverneure, dass ein forcierter Austausch polnischer Beamter durch russische Kandidaten bei der aktuellen Personallage eher nachteilige Folgen für die Petersburger Herrschaft zeitige. Es ist dann auch wenig verwunderlich, dass die meisten der obersten Behördenleiter im Weichselland keine Kampagnen initiierten, die auf eine intensivierte „Russifizierung“ der Amtsstuben in ihrem Verwaltungsbezirk abgezielt hätten. Letztlich wurden die katholischen Staatsdiener bald nach dem Januaraufstand nicht mehr als gravierendes Problem wahrgenommen, zumal diese vor allem in subalternen Positionen beschäftigt waren. Spätere Maßnahmen, einen höheren Prozentsatz russischstämmiger Staatsdiener durchzusetzen, richteten sich immer nur gegen die fortdauernde polnisch-katholische Dominanz in ausgewiesen sensiblen, vor allem militärstrategisch bedeutsamen Bereichen, wie etwa dem grenznahen Verkehrs-, Post- und Telegraphenwesen.33

|| 31 AGAD, KGGW, sygn.5076, kart.6–8 [Schreiben des WGG Čertkov an den Kriegsminister Kuropatkin, 15.2.1903]. 32 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.30–45 [Brief des WGG Čertkov an das Innenministerium, 12.3.1902], hier l.33ob. 33 AGAD, KGGW, sygn.5076, kart.1–3v [Schreiben des Innenministers an den WGG Skalon, 21.5.1914].

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Die Akzeptanz polnischer Staatsbeschäftigter fiel auch insofern leicht, als den imperialen Autoritäten ein anderes, nachhaltigeres Mittel zur Depolonisierung der lokalen Verwaltung zur Verfügung stand. Nach 1864 betrieben sie die konsequente Einführung des Russischen als Amtssprache. Ob in der internen Korrespondenz oder aber in der Kommunikation mit der Gesellschaft – nach dem Januaraufstand operierte die Verwaltung im Königreich ausschließlich auf Russisch. Wer immer mit dem Staat vor Ort Kontakt aufnehmen wollte oder musste, hatte sich nun der russischen Sprache zu bedienen. Seltene Abweichungen seitens einzelner Beamter von dieser linguistischen Russifizierung wurden sowohl von den Amtspersonen wie auch von der Gesellschaft als symbolische Akte gedeutet, die eine erhöhte Dialogbereitschaft signalisierten.34 Diese Oktroyierung des Russischen betraf ebenso das Bildungswesen. Neben der Verwaltungsstruktur gab es keinen anderen Bereich staatlicher Intervention, der nach 1864 derart tiefgreifend umgestaltet wurde wie das lokale Schulsystem. Ein zarisches Reskript vom 30. August 1864 eröffnete die fundamentale Umgestaltung. Zunächst wurde die flächendeckende Gründung von staatlichen Elementarschulen anvisiert. Ein weiterer Zarenerlass von 1869 beschränkte den Einfluss der lokalen Gesellschaft auf die Schulen und dekretierte die externe Ernennung des schulischen Leitungspersonals sowie des Lehrerkollegiums. Auch bei Curriculum und Unterrichtspraxis wurde ein Wandel erzwungen. So hatte der Unterricht an Gymnasien und Mittelschulen in allen Fächern, mit Ausnahme der religiösen Unterweisung, auf Russisch zu erfolgen. Polnisch konnte als „Fremdsprache“ in Gymnasien angeboten werden, die eine Sondergenehmigung des Innenministeriums erwirkt hatten. Unterrichtssprache hatte aber auch hier das Russische zu sein.35 Zudem erfolgte in den Fächern Geschichte, Literatur und Geographie eine konsequente Ausrichtung auf den Horizont des Russischen Reichs. Schüler der Mittel- und Oberstufen sollten nun primär in der Geschichte des russischen Zarentums unterrichtet werden und die Dichter des russischen Literaturkanons zur Lektüre aufgegeben bekommen. 1871 wurde diese Neuausrichtung partiell auch in den Grundschulen des Königreichs eingeführt und Russisch zum Pflichtfach erhoben.36

|| 34 Vgl. Sokrat Starynkevič: Projekt kanalizacii i vodoprovodov v gorode Varšave / Projekt Kanalizacyi i Wodociągu w mieśce Warszawie, Warschau 1879. 35 GARF, f.215, op.1, d.94, l.56ob [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898]. 36 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.16ob–20 [Bericht des WGG Al’bedinskij an Alexander II., 27.12.1880].

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Eine vergleichbare Transformation erlebte die einzige höhere Bildungseinrichtung in Warschau. Die 1862 gegründete „Hauptschule“ (Szkoła głòwna) war de facto eine polnische Universität gewesen, wenngleich sie den Titel einer Hochschule nicht hatte tragen dürfen. Im Jahr 1869 erhielt sie diese Titulatur und wurde doch zugleich ganz anders reformiert, als es sich die Polen erhofft hatten. Auch an der Kaiserlichen Universität Warschau wurde als allgemeine Sprache des Hörsaals das Russische eingeführt und sie erhielt vor allem in den geisteswissenschaftlichen Fächern eine stark russlandbezogene Orientierung mit Schwerpunkt auf russischer Geschichte, Literatur und Sprache. Kritische polnische Stimmen stigmatisierten die Einrichtung dementsprechend schon bald als „Russische Universität“.37 Um eine derartige inhaltliche Neuausrichtung wie auch linguistische Russifizierung des Schul- und Universitätsbetriebs umsetzen zu können, bemühte sich die Bildungsbehörde, Professoren und Lehrer aus dem Reichsinneren in das Weichselland zu importieren. Pädagogen „russischer Herkunft“ erhielten Gehaltszuschläge und andere Privilegien. Sie sollten an die Stelle jener polnischen Lehrkräfte treten, die während der „Säuberungen“ der 1860er Jahre in großer Zahl entlassen worden waren. Parallel zum staatlichen Bildungssystem bestand im Königreich eine ganze Reihe von Privatschulen. Diese Institutionen waren dem Zugriff durch staatliche Instanzen weniger unmittelbar ausgesetzt. Dennoch mussten auch sie, wollten sie eine Genehmigung durch das Petersburger Bildungs- und Innenministerium erhalten, den neuen Bildungsprinzipien folgen. Das Curriculum wurde von staatlichen Akkreditierungsinstanzen auf seinen Russlandbezug hin geprüft und regelmäßig begutachtet; ebenso wurde die strikte Verwendung von Russisch als Unterrichtssprache überwacht.38 Datierten die bisher genannten Maßnahmen in die erste Dekade nach dem Aufstand, so entfaltete die Umgestaltung des Bildungswesens mit dem Amtsantritt von Aleksandr Apuchtin als Kurator des Warschauer Bildungsbezirks im Jahr 1879 erst seine volle Wirkung. Apuchtin erhob das Russische auch an Grundschulen zur Unterrichtssprache, wobei nur die Fächer Religiöse Unterweisung und Polnische Grammatik von der Regelung ausgenommen blieben. Der neue Kurator machte es sich zudem zum Anliegen, die Präsenz der Orthodoxie im Schulraum zu stärken. Unter seiner Ägide wurden zahlreiche orthodoxe Schulkapellen und Gebetsräume eingerichtet.

|| 37 Vgl. z. B. diese Charakterisierung bei Szymon Askenazy: Uniwersytet Warszawski, Warschau 1905. 38 Zu der staatlichen Kontrolle der Privatschulen vgl. Eitel Karl Rohr: Russifizierungspolitik im Königreich Polen nach dem Januaraufstand 1863/64, Berlin 2003, S. 59–64.

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Zugleich versuchte Apuchtin, die Rolle katholischer Priester im Religionsunterricht zurückzudrängen. Und nicht zuletzt griff Apuchtin in die Bildung des katholischen Klerus persönlich massiv ein, indem er in den 1880er Jahren Russisch zur Unterrichtssprache und zum Pflichtfach an geistlichen Seminaren erhob. Die offene und aggressive Polonophobie des Kurators brachte seiner fast zwei Dekaden dauernden Amtszeit auf polnischer Seite die Charakterisierung als „Apuchtin’sche Nacht“ ein.39 Es war eine Bezeichnung, die zugleich auch die chronische Misere eines stark unterfinanzierten Bildungssektors brandmarkte. Langfristig zeitigte diese Vernachlässigung gravierende Folgen. Der Zensus von 1897 ermittelte die hohe Analphabetenrate von 69,5 Prozent der Gesamtbevölkerung im Weichselland.40 Die Aggressivität, mit der Apuchtin in den 1880er Jahren den katholischen Klerus bekämpfte, hatte Tradition. Bereits die ersten Jahre nach dem Januaraufstand waren durch zahlreiche repressive Maßnahmen gegen die katholische Kirche gekennzeichnet gewesen. In der Perspektive zarischer Beamter war der Klerus neben dem polnischen Adel die eigentliche Triebkraft hinter der Erhebung der Jahre 1863–64. Nikolaj Miljutin selbst hatte die Figur des katholischen Mönchs als hinterhältigen Meuterer heraufbeschworen, der „mit dem Kreuz in der einen und dem Säbel in der anderen Hand“ danach trachte, die russische Herrschaft zu stürzen.41 Schon die staatlichen Repressionen während des Aufstands hatten die katholische Kirche hart getroffen. Es kam zu zahlreichen Verhaftungen von Geistlichen, auch Hinrichtungen und Verbannungsurteilen. Ebenso wurden etliche Klöster geschlossen und umfangreicher Kirchenbesitz beschlagnahmt. Bereits im November 1864 übernahm Fürst Čerkasskij als Mitglied des Učreditel’nyj komitet die Verwaltungsleitung aller Angelegenheiten, die die katholische Geistlichkeit

|| 39 Aleksandr Apuchtin war von 1879 bis 1897 Kurator des Warschauer Lehrbezirks. Vgl. zu seiner Amtstätigkeit Varšavskij učebnyj okrug: Cirkuljary, Warschau 1867–1912. Zu einer Charakterisierung seiner langen Amtszeit als „Apuchtin’sche Nacht“ siehe die zeitgenössischen Publikationen Russkaja imperija. Pol’skij vzgljad na russkie gosudarstvennye voprosy, Autor anonym, Berlin 1882, S. 253–255; Aleksander Kraushar [Alkar]: Czasy szkolne za Apukhtina: kartka z pamiętnika (1879–1897), Warschau 1915. 40 Die Analphabetenquote war bei den polnischen Untertanen damit nicht entscheidend geringer als bei den russischen. Letztere waren zu ca. 76 % nicht lesefähig. In beiden Fällen bestanden allerdings extrem hohe regionale Unterschiede. Vgl. dazu Henning Bauer/Andreas Kappeler/Brigitte Roth: Die Nationalitäten des Russischen Reiches, S. 115–116. 41 Nikolaj A. Miljutin: Issledovanija v Carstve Pol’skom, Bd. 5, St. Petersburg 1864, S. 65. Vgl. auch M. Prudnikov: Pol’skij katichizism, St. Petersburg 1863.

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betrafen.42 Mit einem zarischen Ustav aus dem Jahr 1865 erhielt die katholische Kirche im Königreich und in den Westgebieten eine neue administrative Binnenstruktur. Sie verfügte im Weichselland nun nur noch über sieben Diözesen, deren Zahl zwei Jahre später noch einmal verringert wurde. Geistliche erhielten jetzt ihre Gehälter direkt aus der Staatskasse, 1866 verbot Petersburg den katholischen Bischöfen den Kontakt zum Vatikan und 1871 wurde die gesamte katholische Kirchenhierarchie im Russischen Reich direkt dem Katholischen Kollegium als Abteilung der Staatsbehörde des Geistlichen Kollegiums in St. Petersburg unterstellt. Da sich zahlreiche Bischöfe dieser Unterordnung verweigerten, antworteten die Autoritäten mit weiteren Verbannungsurteilen. Die vakant gewordenen Bischofsstühle wurden nicht neu besetzt, so dass 1871 nur noch in drei der 15 Diözesen im gesamten russischen Teilungsgebiet Bischöfe im Amt waren. Im unmittelbaren Anschluss an den Januaraufstand dominierte die Vorstellungswelt der imperialen Beamten das Bild eines aggressiv-missionarischen Katholizismus. Es galt vor allem, die einfache orthodoxe Bevölkerung vor dessen Missionseifer zu schützen.43 Damit wurde eines der wesentlichen Argumente bereitgestellt, mit denen in den 1870er Jahren die endgültige Auflösung der Unierten Kirche legitimiert wurde. Nachdem 1875 auch die Diözese Cholm / Chełm mit der orthodoxen Kirchenhierarchie zwangsvereinigt worden war, hatte die Griechisch-Unierte Kirche im Russischen Reich aufgehört zu existieren. Den zur Orthodoxie „Heimgekehrten“ war eine Konversion zum Katholizismus gesetzlich untersagt und die renitenten „hartnäckigen“ Gläubigen und Gemeinden, die sich der Zwangsunion widersetzten, wurden mit massiven Repressionen verfolgt.44 Aber nicht nur die staatliche Administration sowie die Bildungs- und Kirchenpolitik wurden von dem teils repressiven, teils unifizierenden Zugriff St. Petersburgs geprägt. Die dem Aufstand folgenden Maßnahmen erstreckten sich auch auf solche Bereiche wie die Justiz, das Gesundheitswesen oder die Wirtschaftsverfassung. Gerade die Reorganisation der medizinischen Verwaltung zeigt, dass sich der Petersburger Einfluss oft erst verzögert geltend machte und sich zudem durch eine intendierte oder unbewusste Vernachlässigungspolitik auszeichnete. So wurden die seit den 1830er Jahren bestehenden, polnisch do-

|| 42 Vgl. V. Novodvorskij: Carstvo Pol’skoe, in: Enciklopedičeskij slovar’, hrsg. von F. A. Brokgaus und I. A. Efron, Bd. 37А, St. Petersburg 1903. 43 Vgl. Sbornik dokumentov, ujasnjajuščich otnošenija latino-pol’skoj propagandy k russkoj vere i narodnosti, Bd. 1, Wilna 1865, Bd. 2, Wilna 1866; Fedor P. Elenev: Pol’skaja civilizacija i ee vlijanie na zapadnuju Rus’, St. Petersburg 1863. 44 Bis zum Dekret zur Religionsfreiheit vom 17.4.1905 war die (Re-)Konvertierung aus der Orthodoxie grundsätzlich gesetzlich untersagt. Vgl. GARF, f.215, op.1, d.97, l.31 [Brief des WGG Čertkov an das Innenministerium, 12.3.1902].

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minierten Institutionen des Hauptfürsorgeamts sowie des Medizinalrats, die für die Administration des Gesundheitswesens und der Krankenhäuser im Königreich zuständig waren, erst 1870 aufgelöst. Sie wurden nun in die Institutionen der Räte für Öffentliche Wohlfahrt überführt, die der Oberaufsicht des Innenministeriums unterstellt und damit in die imperiale Verwaltung integriert waren. Da diese auf Gouvernements- und Stadtebene operierenden Instanzen allerdings an chronischer Unterfinanzierung litten und gleichzeitig das private karitative Engagement zurückging, weil die Spender der Staatsverwaltung misstrauten, war das Gesundheitswesen des Königreichs vor allem für seine Defizite berüchtigt. Beispielsweise kamen in Warschau im Jahr 1902 pro Kopf deutlich weniger Krankenhausbetten auf die Stadtbewohner als in der Petersburger Hauptstadt.45 Eine solche Politik der Benachteiligung war in anderen gesellschaftlichen Organisationsfeldern zweifelsohne auch Produkt strategischer Entscheidungen. So bedeutete es eine eindeutige Diskriminierung des Weichsellands, als den zehn Gouvernements und seinen Städten die Einführung von Selbstverwaltungsorganen verweigert wurde. Mit Blick auf die weiterhin geltenden Ausnahmebestimmungen im Königreich wurde die Einrichtung der gewählten Zemstva und Stadtdumen der Jahre 1864 beziehungsweise 1870 dem Weichselland vorenthalten. Dies hatte für die Position der Verwaltungsbeamten vor Ort langfristig erhebliche Folgen: Einerseits mussten sie nicht mit den Selbstverwaltungsorganen einer lokalen Gesellschaft konkurrieren, andererseits entfiel aber die Möglichkeit, zumindest Teile der täglichen Administration an andere Instanzen abzutreten.46 Eine derartig diskriminierende Sonderbehandlung der polnischen Provinzen lässt sich auch in anderen Bereichen nachzeichnen. So wurde ein eigenes Zensurkomitee in Warschau betrieben, um eine besonders strenge Zensur des lokalen Publikations- und Meinungsmarktes sicherzustellen. Zugleich wurden die Verfahren für die Genehmigung von Vereins- und Assoziationsgründungen dadurch beträchtlich erschwert, dass sowohl das Petersburger Innenministerium wie auch der Warschauer Generalgouverneur ihr Votum abzugeben hatten.47 Ebenso machte sich im Justizwesen die Doppelbelastung aus unifizierendem Zugriff bei gleichzeitiger diskriminierender Apartheidspolitik bemerkbar. Wäh|| 45 Vgl. Ute Caumanns: Das Krankenhaus im Königreich Polen: zwischen Reform und staatlicher Intervention (1815–1914), in: Archiwum Historii i Filozofii Medycyny, 62/4 (1999), S. 429– 443, S. 432–436. 46 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.48–73ob [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898], hier l.59ob. 47 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.30–45 [Brief der Kanzlei des WGG Čertkov an das Innenministerium und den Innenminister Pleve, 12.3.1902].

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rend nach 1876 auch im Weichselland Gerichtsbezirke entsprechend der innerrussischen Systematik nach Gouvernements geschaffen, eine Gerichtskammer in Warschau eingerichtet sowie Russisch als die alleinige Sprache der Gerichte eingeführt wurde, blieben die Geschworenengerichte dem Königreich ebenso vorenthalten wie die Instanz des gewählten Friedensrichters.48 Als irritierend mag erscheinen, dass der 1808 nach Polen importierte Code Napoléon auch nach 1864 als bürgerliches Gesetzbuch in Kraft blieb, was in den Folgejahren, als sich die Verflechtung der polnischen Provinzen mit dem russischen Kernland intensivierte, eine ganze Reihe von komplexen Fragen zur Kompatibilität der Rechtssysteme produzierte.49 Dass sich die Beziehungen zwischen dem Weichselland und den Kerngebieten des Russischen Reichs in den Jahren nach 1864 tatsächlich verdichteten, war eine indirekte Folge der zarischen Wirtschaftspolitik. Diese hatte in der Nachaufstandsphase auch auf eine stärkere ökonomische Eingliederung der polnischen Provinzen gedrungen. So war bereits 1866 das Recht zur Erstellung und Bestätigung des Finanzbudgets der polnischen Provinzen an das Petersburger Komitee für die Angelegenheiten des Königreichs Polen übergeben worden. Allerdings bestand die Fiktion eines eigenständigen polnischen Haushaltes zunächst fort und auch die für ihre aktive Wirtschaftspolitik bekannte Polnische Bank konnte zwei Jahrzehnte lang weiter operieren. Erst 1886 wurde sie formal zu einer Filiale der zentralen Reichsbank degradiert.50 Die fortschreitende ökonomische Verflechtung der polnischen industriellen Produktionsstätten mit dem russischen Markt, die bereits seit der Abschaffung der Zollgrenzen im Jahr 1851 an Dynamik gewonnen hatte, wurde in den Jahrzehnten nach dem Aufstand erheblich beschleunigt. Dazu trug vor allem der Eisenbahnbau bei, der schnell eine stärkere logistische Vernetzung des Weichsellands mit dem russischen Kernland bewirkte.51 Auch wenn es sich hier nur partiell um eine intendierte Politik der imperialen Herrschaftssicherung handelte, so war die

|| 48 V. Novodvorskij: Carstvo Pol’skoe, in: Enciklopedičeskij slovar’, hrsg. von F. A. Brokgaus und I. A. Efron, Bd. 37А, St. Petersburg 1903; Nikolaj M. Rejnke: Očerk zakonodatel’stva Carstva Pol’skogo (1807–1881 g.), St. Petersburg 1902, v. a. S. 175–180. 49 Vgl. Nikolaj M. Rejnke: Kakim graždanskim zakonam podvedomy russkie urožency prebyvajuščie v Carstve Pol’skom?, Warschau 1884. Zum Erhalt des Code Napoléon nach 1863/64 vgl. Sobranie graždanskich zakonov gubernii Carstva Pol’skogo, St. Petersburg 1870. 50 Varšavskij statističeskij komitet (Hrsg.): Otčet za 1905 god: Ekonomičeskoe i kul’turnoe razvitie Carstva Pol’skogo za sorok let, 1864–1904. Trudy Varšavskogo statističeskogo komiteta, Bd. 22, Warschau 1906. 51 Siehe z. B. Jörg Gebhard: Lublin. Eine polnische Stadt im Hinterhof der Moderne (1815– 1914), Köln 2006, v. a. S. 176–200.

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intensivierte wirtschaftliche Anbindung Polens an Russland doch ein bedeutsamer Faktor in dem umfassenden Angleichungsprozess zwischen König- und Kaiserreich. Will man das ganze Panorama der postaufständischen Maßnahmen Petersburgs überblicken, so darf eine Skizze der Symbolpolitiken nicht fehlen. Für viele polnische Untertanen wurde gerade in diesen Akten die Unterwerfung unter die russische Herrschaft sichtbar und besonders schmerzlich erfahrbar. Straßen-, Laden- und Reklameschilder im Königreich mussten nun in kyrillischer Schrift ausgeführt werden. Neue Orts- und Straßenbezeichnungen stellten Bezüge zum Zarenhaus oder zum innerrussischen Raum her. Sogar einige Städte wurden umbenannt: Brześć mutierte zu Brest-Litovsk, Jędrzejów zu Andreev. Eine solche „Russifizierung“ der toponymischen Landschaft des Königreichs sollte nicht nur klarstellen, dass die polnischen Provinzen unwiderruflich zum Bestand des Russischen Reichs gehörten. Sie visualisierte gleichzeitig, dass die Zeiten der „polnischen Besonderheiten“ vorbei seien. Die imperialen Autoritäten führten hier symbolisch vor, dass sie jene Phase, in der noch zahlreiche Eigenarten das Königreich deutlich vom russischen Kernland abgesetzt hatten, für beendet erklärten. Ab jetzt sollte sich das Weichselland nicht mehr wesentlich von den Verwaltungseinheiten im russischen Reichsinnern unterscheiden.

4.1 Russifizierung, Depolonisierung oder innerer Staatsaufbau? Zum Handlungshorizont imperialer Autoritäten Der Katalog an Maßnahmen der Nachaufstandsperiode war also lang und sie veränderten die politische, ökonomische und kulturelle Verfasstheit der polnischen Provinzen ebenso grundlegend wie nachhaltig. In der älteren Forschung ist dies oft als Ausdruck eines kohärenten Russifizierungsprogramms der zarischen Instanzen gedeutet worden.52 Erst in jüngerer Zeit ist eine derartige Interpretation in Kritik geraten.53 Und in der Tat sind die Intentionen imperialer Politik || 52 Siehe z. B. Abraham Ascher: The Revolution of 1905. Russia in Disarray, Bd. 1, Stanford 1988, S. 41–42; K. J. Čeginskas: Die Russifizierung und ihre Folgen in Litauen unter zaristischer Herrschaft, Bonn 1959; Arnon Gill: Freiheitskämpfe der Polen; Eitel Karl Rohr: Russifizierungspolitik im Königreich Polen; Piotr S. Wandycz: The Lands of Partitioned Poland 1795–1918, Seattle 1974, S. 196. 53 Vgl. Mikhail Dolbilov: Russification and the Bureaucratic Mind in the Russian Empire’s Northwestern Region in the 1860 s, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History, 5/2 (2004), S. 245–272, v. a. S. 245–249; Andreas Kappeler: The Ambiguities of Russification, in:

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im Königreich nach dem Januaraufstand keinesfalls eindeutig. Stattdessen überlagerten sich verschiedene Optionen, Interessen und Leitbilder, die sich zum Teil gegenseitig verstärkten, zum Teil aber auch in Konflikt miteinander standen. Eine der dominanten Zielsetzungen imperialer Herrschaft nach den Erfahrungen von 1830–31 und 1863–64 war die effektive und langfristige Verhinderung weiterer Erhebungen in einer strategisch wichtigen Reichsprovinz. Die unmittelbare Repression der Aufständischen, die massive Stationierung von Truppeneinheiten, der Ausbau der Festungsanlagen oder die Expansion des Polizeiapparats waren Maßnahmen, die das Weichselland nachhaltig „befrieden“ sollten. Zugleich ging es den zarischen Autoritäten auch darum, die soziale und gesellschaftliche Basis jener Kräfte zu unterminieren, die man als Urheber der Aufstände identifizierte. Die diskriminierenden Maßnahmen gegen die polnische Szlachta und den katholischen Klerus trugen immer zugleich den Charakter einer Bestrafung für deren „Undankbarkeit“ wie auch den einer strategischen Schwächung dieser Milieus. Die Reetablierung der Petersburger Herrschaft im Königreich hatte gerade in den ersten Jahren nach dem Aufstand Züge einer „Siegerjustiz“, die auf die Abstrafung und Demütigung der Unterworfenen zielte. Insbesondere die Erlasse, die scheinbar eine „Russifizierung“ im öffentlichen Raum bewirkten, entsprangen diesem Drang zur Zurschaustellung der neuen Hegemonie der russischen Sieger. Alles vermeintlich Polnische sollte symbolisch in den Status der Subordination gezwungen werden. Es war eine Demonstration einschüchternder Machtfülle des Eroberers, der sich dagegen anfänglich der eigenen kulturellen Überlegenheit gar nicht sicher war. Erst in den Folgejahren entwickelte sich auf russisch-imperialer Seite ein Diskurs, der sich immer stärker auch der eigenen kulturellen Superiorität vergewisserte, indem die „romantische“ polnische Adelskultur als überholt, rückständig und dem Untergang geweiht charakterisiert wurde. Der ältere Topos der vermeintlichen polnischen Unfähigkeit zur

|| Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History, 5/2 (2004), S. 291–297; Alexey Miller: „Russifications“? In Search for Adequate Analytical Categories, in: Guido Hausmann/Angela Rustemeyer (Hrsg.): Imperienvergleich. Beispiele und Ansätze aus osteuropäischer Perspektive. Festschrift für Andreas Kappeler, Wiesbaden 2009, S. 123–144; Witold Rodkiewicz: Russian Nationality Policy, v. a. S. 29–43; Malte Rolf: Russifizierung, Depolonisierung oder innerer Staatsaufbau? Konzepte imperialer Herrschaft im Königreich Polen (1863–1915), in: Zaur Gasimov (Hrsg.): Kampf um Wort und Schrift: Russifizierung in Osteuropa im 19.– 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 51–88; Edward C. Thaden: Introduction, in: Edward C. Thaden (Hrsg.): Russification in the Baltic Provinces and Finland, 1855–1914, Princeton 1981, S. 3–14, v. a. S. 8–9; Theodore R. Weeks: Russification: Word and Practice 1863–1914, in: Proceedings of the American Philosophical Society, 148/4 (2004), S. 471–489.

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Staatlichkeit, der sich in der chaotischen Struktur der Adelsrepublik und ihrer politisch-militärischen Schwäche ausgedrückt habe, wurde hier schrittweise in eine koloniale Hierarchie der allgemeinen kulturellen Wertigkeit von Völkern überführt.54 Es besteht wenig Grund, daran zu zweifeln, dass eine Vielzahl der imperialen Beamten dieses selbstgesponnene Glaubenssystem eigener politisch-militärischer wie auch kultureller Überlegenheit graduell verinnerlichte. Wenn der neue Generalgouverneur Iosif Gurko in den 1880er Jahren auf den feierlichen Empfängen in seiner Warschauer Residenz die anwesenden polnischen Adligen dazu zwang, nicht mehr auf Französisch, sondern auf Russisch zu kommunizieren, dann war das einerseits zweifellos ein Akt der bewussten Demütigung; es war aber zugleich auch das Signal, dass der Generalgouverneur die polnischen Hochadeligen kaum mehr als gleichwertig betrachtete, sondern sie nach Jahren ihrer politischen Einflusslosigkeit und zunehmenden sozialen Marginalisierung als Untertanen zweiten Grades ansah. In ein solches Denkschema passte es durchaus, dass sich die imperialen Instanzen ernsthaft bemühten, die polnische Landbevölkerung in ihre vage Zukunftsvision vom Weichselland zu integrieren. Denn in das paternalistische Denken der Gutsbesitzermentalität, das besonders die oberen zarischen Beamten auszeichnete, ließ sich der Topos vom „dankbaren“ und daher „treuen“ Bauern problemlos einfügen. Hier spielte auch anders als in den Ostseeprovinzen und mit Blick auf die „kleinen“ baltischen Völker die langfristige Perspektive einer graduellen Russisch-Werdung der Landbevölkerung keine Rolle. Es ging nicht darum, aus polnisch-katholischen Bauern russisch-orthodoxe zu machen. Dass die Bürokratie eine orthodoxe Mission keinesfalls aktiv unterstützte, legt davon ein deutliches Zeichen ab.55 Vielmehr war die Annahme handlungsleitend, dass es vor allem der polnische Adel und der katholische Klerus seien, die den Hass gegen die russische Herrschaft schürten. Die Bauernemanzipation von 1864 und die Agrarpolitik der folgenden Jahre verschärften bewusst die Spannungen zwischen Landbesitzern und Bauern, um Letztere schrittweise dem vermeintlich verderblichen Einfluss der Szlachta zu entziehen. Auf den sich graduell verfestigenden Glauben an die eigene kulturelle Überlegenheit wirkte der Topos vom treuen polnischen Bauern sogar verstärkend: Denn in der Beziehung zwischen Bauern und Beamten war das sozio-kulturelle Gefälle nie in Frage gestellt. Das mag erklären, warum die Reichsbeamten derart hartnäckig an dieser idée fixe festhielten. Selbst nachdem die Revolution auf dem Land und die Gemeindebewegung von 1905–06 deutlich gezeigt hatten, dass es mit der Zaren-

|| 54 Ähnlich auch Theodore R. Weeks: Nation and State, S. 197. 55 Vgl. dazu L. E. Gorizontov: Paradoksy imperskoj politiki, S. 191–214.

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und Reichsloyalität der polnischen Bauern nicht sehr weit her war, findet sich der Topos vom „treuen Bauern“ in den Schriften der imperialen Verwaltung. Es war offensichtlich schwierig, sich von derart liebgewonnenen und den eigenen Status stützenden Glaubenssätzen zu verabschieden.56 Wie fragil dieses russisch-imperiale Hierarchiedenken in den frühen Jahren allerdings noch war, offenbart sich in jener Polonophobie, von der zahlreiche Amtsträger und vor allem auch Akteure der russischen Öffentlichkeit geleitet waren. Gerade in den frühen Reaktionen auf die Rebellion wird deutlich, dass die imperialen Autoritäten gebührenden Respekt vor den polnischen Kontrahenten hatten, denen man vor allem eine effektive Organisation von Untergrundarbeit zutraute. Dementsprechend drangen die imperialen Entscheidungsträger auf eine möglichst weitreichende Depolonisierung der Verwaltung. Diesem Bestreben waren, wie geschildert, durch die begrenzten finanziellen Mittel zur Umgestaltung der Administration Grenzen gesetzt, aber die grundsätzliche Intention war dennoch eindeutig. Es ging darum, vermeintlich illoyale und geheimbündlerisch tätige Polen zumindest von den strategischen Posten der Staatsorgane zu entfernen. Dass weniger eine „Russifizierung“ der Verwaltung als vielmehr ihre Depolonisierung das handlungsleitende Ziel war, zeigt sich daran, dass sich in den Jahrzehnten nach 1864 an der multiethnischen Zusammensetzung der imperialen Administration im Königreich wenig änderte. Von den zehn Statthaltern und Generalgouverneuren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren immerhin vier Amtsträger nicht-russischer Nationalität und das Geschlecht der Gurkos entstammt einer litauischen Magnatenfamilie. Ethnizität spielte weder bei der Bestellung dieses wichtigen Postens noch bei den politischen Präferenzen der jeweiligen Amtsinhaber, ja, nicht einmal bei deren Selbstverortung eine erhebliche Rolle. Was vermag das deutlicher zu machen als der Umstand, dass mit Statthalter General Fedor Berg (Friedrich Wilhelm Remberg von Berg) und dem Generalgouverneur General Pavel Kocebu (Paul Dimitrius von Kotzebue) zwei Deutsche die Geschicke im Weichselland in den ersten fünfzehn Jahren nach dem Januaraufstand leiteten.57 Es sollten also nicht primär Personen russischer Herkunft in die führenden Posten der imperialen Verwaltung befördert werden – es ging darum, Polen aus diesen Ämtern zu entfernen. Eine solche Politik, die auf die Verminderung des polnischen Einflusses abzielte, konnte sich der Zustimmung einer russischen Öffentlichkeit sicher sein.

|| 56 AGAD, PomGGW, sygn.1212, kart.75–75v [Gouverneur von Łomża an den WGG, 28.8.1910]. 57 Zu den Personen siehe im Detail den Abschnitt Die Statthalter und Generalgouverneure der Jahre 1864–1915.

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Der Januaraufstand hatte die Entwicklung eines gesellschaftlichen Meinungsund Publikationsmarktes in Russland erheblich beschleunigt. Verleger wie Michail Katkov oder Autoren wie Ivan Aksakov sahen sich durch die Rebellion der Polen zu teilweise wüsten antipolnischen Pamphleten motiviert.58 Es ist jedoch wenig wahrscheinlich, dass diese Stimmungsmache unmittelbar auf politische Entscheidungen Einfluss nahm. In den 1860er Jahren war das Prinzip der Entscheidungsautonomie staatlicher Instanzen noch eine unangetastete Selbstverständlichkeit. Mochte man auch die begleitenden antipolnischen Kampagnen der russischen Presse und Publizistik willkommen heißen, so ließ man sich als imperialer Amtsträger doch keinesfalls von einer „öffentlichen Meinung“ anleiten oder gar antreiben.59 Gerade die Kontrastierung der zeitgleichen öffentlichen Debatten um die Zukunft des Weichsellands und der politischen Maßnahmen der Petersburger Autoritäten vermag aufzuzeigen, warum der Begriff der „Russifizierung“ in diesem Kontext problematisch ist. Die „Meuterei der Polen“ entfachte nicht nur einen Sturm der Entrüstung in der russischen Publizistik, die „polnische Frage“ beförderte zugleich das verstärkte Nachdenken darüber, was denn das eigentlich Russische sei und welchen Stellenwert diesem im Reichszusammenhang zukommen sollte. In Abgrenzung vom „verräterischen“ polnischen Brudervolk erhielt vor allem die slawophile Bewegung seit den 1860er Jahren einen stark russozentrischen Zug. Zugleich mehrten sich die Stimmen in der Öffentlichkeit, die eine deutliche Privilegierung des Russischen im Imperium einforderten. Vieles von dem, was die Regentschaft Alexanders III. in den 1880er Jahren auszeichnen sollte, wurde hier schon infolge des Januaraufstands angedacht.60 Dementsprechend deutlich wurden in diesen Gesellschaftskreisen auch Ideen propagiert, die auf eine kulturelle Russifizierung der polnischen Randgebiete und zum Teil auch anderer Reichsperipherien abzielten. Die staatliche Politik sollte nach dieser Vorstellung nicht nur eine Verdrängung von Polen aus den Verwaltungsposten erzwingen, sondern auch die polnische Identität der Unter-

|| 58 Vgl. Ivan S. Aksakov: Pol’skij vopros i zapadno-russkoe delo, in: Sočinenija, Bd. 1, Moskau 1886; Michail N. Katkov: 1863 god. Sobranie statej po pol’skomu voprosu, Moskau 1887. 59 Vgl. auch Dietrich Geyer: Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang von innerer und auswärtiger Politik 1860–1914, Göttingen 1977, S. 46; ähnlich Dietrich Beyrau: Russische Orientpolitik und die Entstehung des deutschen Kaiserreiches 1866 bis 1870/71, Wiesbaden 1974, S. 23–24. 60 Vgl. Olga Maiorova: War as Peace. The Trope of War in Russian Nationalist Discourse during the Polish Uprising of 1863, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History, 6/3 (2000), S. 501–534; Andreas Renner: Russischer Nationalismus und Öffentlichkeit im Zarenreich 1855–1875, Köln 2000, v. a. S. 185–271.

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tanen zumindest partiell aufbrechen und damit das Tor für die Verbreitung der russischen Kultur öffnen.61 Derartige Forderungen waren jedoch kaum mit den Motiven der staatlichen Amtsträger in Einklang zu bringen, die für die Polenpolitik der Nachaufstandsjahre verantwortlich zeichneten. Denn nur bei einer oberflächlichen Betrachtung scheint der staatliche Maßnahmenkatalog in den 1860–70er Jahren auf eine „administrative Russifizierung“ des Weichsellands hinauszulaufen.62 Eine solche Begrifflichkeit verdeckt, dass sich hinter den Eingriffen in die innere Verfasstheit des Königreichs neben dem Drang zur „Befriedung“ der Provinzen vor allem der grundsätzliche Vereinheitlichungsimpetus verbarg, der Alexanders II. Reformwerk insgesamt auszeichnete. Gerade die administrative Reorganisation des Weichsellands ist nicht isoliert für die polnischen Gebiete, sondern im Kontext der Großen Reformen der 1860–70er Jahre zu betrachten.63 Die anleitende Vision dieser Reformen – die Schaffung und Aktivierung einer Bürgergesellschaft sowie ihre „Einladung“ zur begrenzten Partizipation an den Verwaltungsgeschäften des Imperiums – verlangte allerorts eine Angleichung der administrativen und rechtlichen Strukturen. Sollte das Vorbild eines nach innen vereinheitlichten und damit ebenso stabilisierten wie aktivierten Staats Wirklichkeit werden, dann musste die Vielheit der Verwaltungs- und Rechtssonderbereiche im Reich überwunden werden. Es galt jenen Flickenteppich stark divergierender Partikularsysteme, der ein Erbe des vormodernen Vielvölkerreichs und seiner als Kooptation von Gebieten, Eliten und ihrer Privilegien erfolgten Expansion war, zu einem einheitlichen Ganzen umzugestalten.64 Die Reorganisation des Verwaltungs- und Rechtssystems im Königreich Polen nach 1864 war daher eine „Normalisierung“ im Sinne des inneren Staatsaufbaus. Die Erhebung beschleunigte in den polnischen Provinzen einen Homogenisierungsprozess, der in späteren Jahren auch andere Reichsperipherien erfasste. Denn nach der Niederschlagung des Aufstands bestand keine Notwendigkeit mehr, auf überkommene Rechtstraditionen Rücksicht zu nehmen. Die Zentralregierung konnte nun eine Politik des radikalen Umbruchs betreiben, ohne auf die Stimmen der lokalen Bevölkerung und vor allem der indigenen

|| 61 Diese Überlegungen bezogen sich vor allem auf die nordwestlichen Gebiete und die dort lebenden nicht-polnischen Bevölkerungsgruppen. Vgl. Theodore R. Weeks: Religion and Russification, S. 102–103. 62 Vgl. Edward C. Thaden: Introduction, v. a. S. 8–9; Edward C. Thaden: The Russian Government, v. a. S. 33–53 und S. 76–87. 63 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.1–43 [Bericht des WGG Al’bedinskij an Alexander II., 27.12.1880], hier ll.1–3. 64 GARF, f.215, op.1, d.76, l.24ob [Bericht des WGG Al’bedinskij, 27.12.1880].

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Elite Rücksicht nehmen zu müssen. Die administrative Reorganisation des Weichsellands war somit eine Konsequenz der neuen Staatsräson: Im politischen Denken einflussreicher Amtsträger war die innere staatliche Vereinheitlichung zu einem Wert an sich geworden. Die Homologie der Staatsstrukturen in allen Reichsteilen versprach Moderne und Fortschritt; ihre Divergenz erinnerte an die Zersplitterung und Behäbigkeit des ancien régime in der Vor-ReformPeriode. Zweifellos blieb der Imperativ der Vereinheitlichung nur ein Faktor unter vielen und die zarischen Autoritäten verstießen selbst regelmäßig gegen die eigenen Maximen. Vor allem das nachhaltige Misstrauen gegen die polnischen Untertanen bewirkte, dass auch Jahre nach dem Aufstand Sonderbestimmungen für das Weichselland getroffen wurden, die grundsätzlich dem Einheitsgedanken zuwiderliefen. Das Amt des Generalgouverneurs, der Ausschluss Polens bei der Einführung der Selbstverwaltungsorgane und der Geschworenengerichte oder die „geistigen Zollschranken“, die das Warschauer Zensurkomitee sogar an der Ostgrenze des Weichsellands errichtete65 – all dies waren Institutionen oder Politiken, die die Sonderstellung des Weichsellands konservierten und den Unifizierungsimperativ der Alexander’schen Reformen letztlich konterkarierten. Die Autoritäten konnten sich sowohl bei den vereinheitlichenden wie auch den diskriminierenden Maßnahmen der Unterstützung der russischen Öffentlichkeit sicher sein. Und dennoch zielten die imperialen Beamten nicht primär auf eine „Russifizierung“ der polnischen Provinzen, wie sie manchen Scharfmachern der öffentlichen Debatte um die „polnische Frage“ vorschwebte. Den Staatsdienern ging es um die Anpassung an reichsweit durchzusetzende Standards, die eher als „imperial“ denn als „russisch“ zu bezeichnen sind. Deshalb ist auch die Begrifflichkeit der „administrativen Russifizierung“ irreführend, denn sie markiert etwas als „russisch“, was in seiner ursprünglichen Konnotation russländisch-imperial gedacht war.66 Viele der in die Peripherien exportierten Ordnungsprinzipien waren für das russische Kernland selbst ebenso neu, ebenso „fremd“ wie für die Reichsrandgebiete. Sie entsprangen der Logik einer imperialen Herrschaft, die in reichsweiten Zusammenhängen dachte, und nicht dem Imperativ, ein „russisches Modell“ überall zur Geltung zu bringen. Die „Russifizierung“ dieser Strukturen war vielmehr ein allmählicher Prozess, der in die Regierungszeit Alexanders III. datiert. Hier sahen sich einflussreiche Stimmen des öffentlichen Meinungsmarktes im zunehmenden Einklang mit einer Administration, die sich verstärkt als Vertreter des „Russischen“ verstand.

|| 65 Vladimir D. Spasovič: Zapiska v cenzurnyj komitet, in: Ateneum (1.9.1880), S. 1–2. 66 Edward C. Thaden: Introduction, S. 8–9.

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Was zuvor als imperial gedacht worden war, wurde nun immer mehr als russisch konnotiert.67 Aber diese spätere Nationalisierung des Imperiums war in den ersten Dekaden nach dem polnischen Januaraufstand noch keinesfalls handlungsleitend. Die administrativen und rechtlichen Reformen der 1860–70er Jahre als „Russifizierung“ zu bezeichnen, würde der ursprünglichen Motivlage der zarischen Autoritäten wenig gerecht. Nicht zuletzt bliebe damit auch der Blick auf den dynamischen Prozess einer späteren Deutungsverschiebung und einer aufkommenden Dominanz des Russischen versperrt. Das gilt partiell auch für jene Restrukturierung des Bildungssystems, die das Russische zur Unterrichtssprache und russische Geschichte, Literatur und Geographie zu Kernfächern des Curriculums erhob. Polen war nicht der einzige Fall, bei dem für die imperialen Beamten im Zuge des Großen Reformwerks eine Notwendigkeit offenkundig wurde, den einheitlichen Gebrauch der „Staatssprache“ in den Bereichen von Verwaltung, Recht und Bildung zu forcieren. Eine unifizierte Verwaltung schien nur effizient funktionieren zu können, wenn eine allen gemeinsame Amtssprache die Sprachenvielfalt überbrückte, deren Vermittlung wiederum eine der wesentlichen Aufgaben der Staatsschulen des Reichs zu sein hatte. Die Beamten verwiesen regelmäßig darauf, dass die Einführung des Russischen im Schulunterricht auf das Erlernen der „Staats-“ oder „Regierungssprache“ abziele.68 Sie unterschlugen zweifellos andere Intentionen, vor allem das Bestreben, eine polnische kulturelle Dominanz im öffentlichen Raum, zu dem auch die Bildungsinstitutionen gehörten, zu brechen. Und dennoch sollte diese Absichtserklärung in ihrer Handlungsrelevanz für die zarischen Akteure nicht unterschätzt werden. Sollte dem Projekt einer fundamentalen Reorganisation der Verwaltungsstrukturen im Weichselland jemals Erfolg beschieden sein, so musste man das Russische auch als Bildungssprache verankern. Dass die gesetzlichen Bestimmungen zur Schulverfassung den administrativen Maßnahmen nachfolgten, zeugt von dieser Logik.69 Gleichfalls ist diesbezüglich auf eine grundsätzliche Differenz zwischen den 1860er und 1880er Jahren zu verweisen. Denn die vom Kurator Apuchtin seit 1879 betriebene Bildungspolitik orientierte sich schon viel deutlicher an dem Fernziel einer kulturellen Russifizierung der Schüler im Weichselland. Die von ihm verfügte Umstellung auf die russische Sprache im Unterrichtsbetrieb der || 67 Vgl. Aleksei Miller: The Romanov Empire and Nationalism, S. 56–59. 68 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.45a–81 [Brief des Ministerkomitees an den WGG Al’bedinskij, 12.3.1881], hier l.51. 69 Vgl. auch Gert von Pistohlkors: Die Ostseeprovinzen unter russischer Herrschaft (1710/95– 1914), in: Gert von Pistohlkors (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Baltische Länder, Berlin 1994, S. 266–450, S. 408.

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Elementarschulen berührte die Grundfesten einer kulturellen Sozialisation. Selbst Apuchtin dürfte nie geglaubt haben, aus Polen Russen zu machen; aufgrund seiner antipolnischen Aversionen hielt er eine solche Vermischung wohl auch kaum für erstrebenswert. Aber sein berühmt-berüchtigter Ausspruch, dass er das Ziel seiner Bildungsarbeit darin sehe, dass polnische Kleinkinder russische Lieder sängen, macht doch deutlich, wie wenig es hier um das Erlernen einer Staatssprache und wie sehr es um die frühkindliche Internalisierung eines russischen Kulturkanons ging. Etliche der Maßnahmen der 1860er Jahre verfügten zweifellos über das Potential, als Russifizierungsintention gedeutet zu werden. Für viele der Betroffenen auf polnischer Seite waren die feinen Unterschiede einer staatlichen Politik ohnehin nie relevant oder überhaupt wahrnehmbar. Vor allem in einer Retrospektive, die in und nach den Jahren der „Doppelherrschaft“ von Generalgouverneur Gurko und Kurator Apuchtin auf die imperiale Herrschaft seit 1864 zurückblickte, erschienen die Petersburger Maßnahmen wie ein ebenso umfassendes wie durchdachtes Konzept einer „Russifizierungsoffensive“. Auf viele wirkten die Jahrzehnte nach der Januarerhebung als eine zeitliche und programmatische Einheit, während derer das russische Besatzungsregime nicht nur alle Symbole polnischer Staatlichkeit brutal verfolgt, sondern zugleich eine Auslöschung der polnischen kulturellen Identität betrieben hatte. Dass eine Differenz zwischen imperialen und russischen Bezugspunkten der zarischen Herrschaft bestand, war in einer solchen Deutung zweitrangig. Der reichsweite Kontext wurde in der Kritikführung weitgehend ausgeblendet und die Petersburger Direktiven vor allem als antipolnische Politik verstanden, die immer stärker die kulturellen Grundlagen des Polnischseins bedrohte.70 Der sich intensivierende Zu- und Eingriff des Zentrums im ehemaligen Königreich stieß zahlreiche Abgrenzungsprozesse an und brachte, wie in anderen Randgebieten des Imperiums auch, Widerstandsstrategien hervor, zu denen sich die imperialen Beamten verhalten mussten und die sie nicht selten überforderten. Das neue Regime, das Petersburg als Reaktion auf den Januaraufstand im Weichselland etabliert hatte, erwies sich aus imperialer Sicht allerdings als erfreulich tragfähig. Abgesehen von wenigen Modifikationen hatte es unverändert bis zum Ende der russischen Herrschaft in Polen Bestand.

|| 70 Vgl. Graf Leliva (Pseudonym von Anton Tyszkiewicz): Russko-pol’skie otnošenija. Očerk, Leipzig 1895, S. 38–63.

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4.2 Das System der Nachaufstandsperiode: Die Verwaltung des Weichsellands nach 1864 Eben dies erfordert einen systematischen Blick auf die nach 1864 eingeführten und bis 1915 bestehenden Verwaltungsstrukturen. Denn die Kontaktzonen und Konfliktlinien, deren sich diese Studie annimmt, sind nur vor dem Hintergrund der imperialen Ordnungsprinzipien zu verstehen, mit denen das Weichselland administriert wurde. Die zentrale Figur der imperialen Verwaltung war im Königreich ab 1864 der kaiserliche Statthalter. Er wurde direkt vom Zaren ernannt und war auch nur diesem berichtspflichtig. Der Statthalter residierte in Warschau, verfügte über eine eigene Kanzlei und stand der Verwaltung der zehn Gouvernements des Weichsellands vor. Zugleich war er Oberkommandierender der Armee im Warschauer Wehrbezirk und besaß vor allem in Phasen des Kriegsrechts und des Ausnahmezustands erhebliche Sonderbefugnisse.71 So konnte er „bindende Beschlüsse“ erlassen, um die staatliche und öffentliche Sicherheit zu garantieren. Verstöße gegen diese Bestimmungen wiederum waren vom Statthalter in administrativer Ordnung zu ahnden. Er hatte zudem die Vollmacht, Tatverdächtige in Fällen, die er als Gefährdung der Staatsordnung einschätzte, von Militärgerichten aburteilen zu lassen.72 Mit der Armee kontrollierte er ein mächtiges Herrschaftsinstrument. Immer dann, wenn sich die Konfrontationen im Königreich zu einer bedrohlichen Situation verdichteten, konnte der Statthalter auf Ausnahmebestimmungen zurückgreifen, die einen schnellen Einsatz von Truppenkontingenten auch in inneren Auseinandersetzungen ermöglichten. Reichsweit war die Stationierungsdichte von Soldaten in den polnischen Provinzen unübertroffen. Nirgendwo waren mehr Soldaten pro Einwohner disloziert als im Warschauer Militärbezirk.73 Insgesamt dienten regulär 240.000 Soldaten im Weichselland, allein in Warschau

|| 71 Vgl. dazu ausführlicher Christoph Gumb: Die Festung. Repräsentationen von Herrschaft und die Präsenz der Gewalt, Warschau (1904–1906), in: Jörg Baberowski/David Feest/ Christoph Gumb (Hrsg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt/Main 2008, S. 271–302; Christoph Gumb: Drohgebärden. Repräsentationen von Herrschaft im Wandel: Warschau, 1904–1907, Dissertation, Berlin 2013. 72 GARF, f.102, op.254, d.1, ll.1–12 [Obozrenie mer Pravitel’stva, prinjatych po Carstvu Pol’skomu posle 1863 goda, Bericht des Innenministeriums 1880]. Sbornik administrativnych postanovlenij Carstva Pol’skogo, Bd. 1, Warschau 1866. 73 Mit 43 Soldaten auf 1.000 Einwohner in den Jahren 1888–1890 wies der Warschauer Militärbezirk die höchste Truppendichte im gesamten Imperium auf. Vgl. Werner Benecke: Militär, Reform und Gesellschaft im Zarenreich. Die Wehrpflicht in Russland 1874 –1914, Paderborn 2006, S. 63 und S. 66–68.

4.2 Das System der Nachaufstandsperiode | 67

waren nach 1900 mehr als 40.000 Mann stationiert. In Krisenzeiten wie der Revolution von 1905–06 stieg deren Zahl sogar auf mehr als 300.000 im gesamten Königreich beziehungsweise 65.000 in der Weichselmetropole.74 Bis 1874 blieb der kaiserliche Statthalter Oberkommandierender dieser einschüchternden Streitmacht. Nach dem Tod von General-Feldmarschall Berg wurde das Amt jedoch nicht wieder besetzt; die meisten seiner Befugnisse gingen in das neu geschaffene Amt des Warschauer Generalgouverneurs über. Zweifellos stand ein Generalgouverneur in der symbolischen Ranghierarchie der imperialen Bürokratie deutlich unter dem Status eines kaiserlichen Statthalters und „Prinzen von Warschau“ und seine Vollmachten waren geringer.75 Dennoch änderte diese Amtsdegradierung wenig am administrativen Gesamtgefüge im Weichselland. Auch der Warschauer Generalgouverneur war sowohl Oberkommandierender des Warschauer Wehrbezirks wie auch oberster Beamter der Zivilverwaltung und damit die einflussreichste Instanz, wenn es um die konkrete Ausgestaltung imperialer Politik in den Provinzen ging. Auch er wurde direkt vom Zaren entsandt und war allein dem Kaiser zu Berichterstattung und Rechenschaft verpflichtet.76 Die zum Teil erstaunlich langen Dienstzeiten der Generalgouverneure beförderten hier, dass diese Warschauer Beamten tatsächlich nachhaltig die Entwicklungen vor Ort beeinflussen konnten.77 Das hieß nicht, dass die Machtfülle des regionalen Potentaten unbeschränkt oder unumstritten war. Wie zuvor der Statthalter, so musste sich auch || 74 Vgl. Abraham Ascher: The Revolution of 1905, S. 158; Marian Kamil Dziewanowski: The Polish Revolutionary Movement and Russia, 1904–1907, in: Hugh McLean/Martin E. Malia/ George Fischer (Hrsg.): Russian Thought and Politics, Cambridge 1957, S. 375–394, hier S. 392; Christoph Gumb: Warschau, 1904–1907. Das Regime achtete aus Misstrauen gegenüber der einheimischen Bevölkerung auf die Ortsfremdheit der Rekruten. Bereits 1902 kamen sämtliche im Weichselland dienenden Soldaten aus anderen, vor allem innerrussischen Wehrkreisen. Siehe Werner Benecke: Militär, S. 63 und S. 66–68. 75 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.30–45 [Brief der Kanzlei des WGG Čertkov an den Innenminister Pleve, 12.3.1902]. 76 Die Berichte des Generalgouverneurs über die Lage in der Provinz waren umfangreiche Darstellungen der politischen, ökonomischen und kulturellen Entwicklungen im Kraj und seinen Gouvernements. Sie wurden durch einen ausführlichen Anhang mit statistischen Daten ergänzt. Zudem erstellten der Generalgouverneur und seine Kanzlei regelmäßig sogenannte Auskünfte zu Detailfragen, mit denen sich das Petersburger Zentrum an den Warschauer Beamten wandte. Die otčety und ihre Anlagen finden sich fast vollständig in RGIA, Biblioteka (Lesesaal), op.1. 77 So amtierte der Statthalter Berg elf Jahre in Warschau, sein Nachfolger, der Generalgouverneur Kocebu, immerhin sechs Jahre. Die längste Dienstzeit hatte Generalgouverneur Gurko mit mehr als elf Jahren vorzuweisen, aber auch Skalon war noch mehr als neun Jahre als Generalgouverneur im Königreich tätig.

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der Warschauer Generalgouverneur mit Beamten der Kaiserlichen Kanzlei für die Angelegenheiten des Königreichs Polen (Sobstvennaja Ego Imperatorskogo Veličestva Kanceljarija po delam Carstva Pol’skogo) sowie des interministeriellen Komitees für die Angelegenheiten des Königreichs Polen (Komitet po delam Carstva Pol’skogo) auseinandersetzen. Letzterem gehörten außer dem Generalgouverneur auch Innen-, Kriegs-, Bildungs- und Wirtschaftsminister an; der Oberprokuror des Heiligen Synods nahm regelmäßig an den Sitzungen teil. Diese Instanz war durch einen Kaiserlichen Erlass vom 25. Februar 1864 ins Leben gerufen worden und sollte gewährleisten, dass die verschiedenen Ministerien eine einheitliche Politik in den polnischen Provinzen verfolgten.78 Wie so oft in der polykratischen zarischen Zentralverwaltung entwickelte sich dieses Komitee zu einem Ort, an dem die divergierenden Ressortinteressen ausgetragen und Problemfälle entsprechend langwierig verhandelt wurden. Das Komitee legte seine Beschlüsse dem Zaren zur Entscheidung vor, konnte aber in zahlreichen Konfliktsituationen die debattierten Reformvorhaben oder Verfahrensund Gesetzesentwürfe auch an die einzelnen Ministerialbehörden zur Überarbeitung zurückreichen.79 Der Statthalter beziehungsweise der Generalgouverneur musste sich regelmäßig mit diesem Gremium auseinandersetzen, da der Zar jene Vorschläge des Warschauer Beamten, die dieser an ihn direkt gerichtet hatte, selbst oftmals an das Komitee weiterleitete. Dies betraf vor allem die umfassenderen Reformprojekte, bei denen die Ressorts mehrerer Ministerien involviert waren. Eine Initiative wie die vom Generalgouverneur Al’bedinskij angeregte Einführung gewählter munizipaler Selbstverwaltungsorgane wurde ausgiebig in diesem Gremium verhandelt – um dann zwischen den widersprüchlichen Standpunkten der Komiteemitglieder zerrieben zu werden.80 Letztlich waren die Zuständigkeiten bei wichtigen Entscheidungen, die das Königreich betrafen, nicht eindeutig geregelt. Wer welche Direktiven erlassen konnte, hing stark von der Konstellation des Einzelfalls und der jeweiligen Akteursformation ab. Ein starker Minister oder ein einflussreicher Oberprokuror konnte das Komitee schnell zu einer Instanz werden lassen, die zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz für die Kompetenzen des Generalgouverneurs wuchs. Für den Generalgouverneur stellte das Komitee auch insofern einen ärgerlichen Widersacher dar, als sich der oberste Beamte im Weichselland durch dieses in

|| 78 RGIA, f.1270, op.1 [Komitee für die Angelegenheiten des Königreichs Polen]. 79 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.72–75ob [Beschlüsse des Komitees für die Angelegenheiten des Königreichs Polen, 12.3.1881]. 80 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.1–43 [Bericht des WGG Al’bedinskij an Alexander II., 27.12.1880].

4.2 Das System der Nachaufstandsperiode | 69

seinem Selbstverständnis als unmittelbarer Gesandter des Zaren beeinträchtigt sah.81 Diese internen Spannungen und Interessensgegensätze der beteiligten Akteure verwandelten das Komitee in eine Verhinderungsinstanz, die die von außen herangetragenen Reformprojekte blockierte. Eine eigene aktive Polenpolitik dagegen hat das Gremium kaum betrieben. Die Rolle eines Initiators von Maßnahmen größerer Tragweite kam ihm nur höchst selten zu. Die Auseinandersetzungen zwischen dem Generalgouverneur und den zentralen Instanzen prägten auch die direkte Kommunikation zwischen dem obersten Beamten an der Weichsel und den Ressortchefs der hauptstädtischen Ministerien. Die Korrespondenz zwischen dem Generalgouverneur und dem Kriegs-, dem Bildungs- und dem Wirtschaftsministerium zeugt von zahlreichen Konfliktlinien: Hier stießen ressortbedingte Interessen aufeinander, wenn sich beispielsweise das Kriegsministerium aus strategischen Gründen in infrastrukturelle Projekte im Weichselland einmischte oder aber Petersburger Minister Inspektionen veranlassten, um vermeintliche Wettbewerbsverstöße der polnischen Unternehmer aufzudecken.82 Zugleich ging es immer auch um Hoheitsfragen der Machtbereiche: So versuchte der Warschauer Generalgouverneur Imeretinskij im ausgehenden 19. Jahrhundert dem Wirtschaftsministerium die Kontrolle über die lokalen Handelsschulen zu entziehen, weil er darin einen Verstoß gegen die Weisungsbefugnis in „seinem“ Verwaltungsbezirk ausmachte.83 Die meisten Konflikte jedoch galt es mit dem Innenminister auszufechten. Dies hing damit zusammen, dass das Innenministerium regelmäßig Entscheidungen zu treffen hatte, die die Amtsführung des Generalgouverneurs unmittelbar betrafen. Schon die Anträge auf erweiterte Vollmachten in Krisenzeiten musste der Warschauer Beamte im Petersburger Innenministerium absegnen lassen, dem Innenminister waren zudem die Gouverneure der polnischen Provinzen unterstellt, ihm stand die Besetzung der Posten der lokalen Polizei- und Magistratsbehörden zu. Kein Verein konnte im Weichselland ohne die Genehmigung des Innenministers zugelassen, kein Verbannungsurteil des Generalgouverneurs ohne die Zustimmung der Zentralbehörde vollstreckt werden. Hier stand der Warschauer Generalgouverneur allerdings keinesfalls allein dar: Es war eine allgemeine Erfahrung der Gouverneure im Russischen Reich, dass ihr Einfluss in Petersburg und auch am zarischen Hof allmählich nachließ, wäh|| 81 GARF, f.215, op.1, d.277, ll.25–26 [Brief des WGG Imeretinskij an den Minister des Kaiserlichen Hofs Baron Frederiks, 30.7.1897]. 82 AGAD, KGGW, sygn.7031, kart.9 [Brief des Stadtpräsidenten an den WGG, 24.11.1911]; GARF, f.215, op.1, d.94, ll.58–59 [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898]. 83 GARF, f.215, op.1, d.89, ll.61–62 [Brief des WGG an den Finanzminister Vitte, 12.4.1898].

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rend die Innenminister und ab 1906 die Premierminister kontinuierlich an Bedeutung gewannen.84 Konflikte zwischen den Repräsentanten der Zentralregierung und der Lokalverwaltung waren also vorprogrammiert und dementsprechend zahlreich. Und dennoch gelang es dem Warschauer Generalgouverneur, die Bedeutung des Innenministers für die lokalen Geschicke im Königreich in Grenzen zu halten. In etlichen Fällen konnte der Generalgouverneur seine Position gegen den Widerstand des Ministers behaupten, in anderen die Petersburger Direktiven zumindest modifizieren, um sie mit den lokalen Gegebenheiten und seinen eigenen Prioritäten in Einklang zu bringen.85 Wenngleich eine politische und administrative Praxis im Weichselland nicht an den zentralen Institutionen vorbei erfolgen konnte und die Beispiele zahlreich sind, in denen sich Projekte der Generalgouverneure im Ämterdickicht der Hauptstadt verfingen und unausgeführt blieben, so bestand diese Abhängigkeit ebenso in umgekehrter Richtung: Auch die Petersburger Instanzen konnten nicht über den Kopf des Warschauer Generalgouverneurs hinweg agieren. In dem permanenten Aushandeln von Machtgefüge und -gefälle innerhalb des Verwaltungsapparats waren zumindest die starken Generalgouverneure in der Lage, sich einen erheblichen Entscheidungsspielraum in „ihren“ Provinzen zu erstreiten. Daran änderte überraschenderweise auch die absolute Entscheidungshoheit des Petersburger Autokraten wenig. Zweifellos war der Monarch die höchste Instanz. Er gestaltete mit seinen Dekreten und seiner Personalpolitik die Ausrichtung des Regimes im Weichselland. Der Zar entsandte persönlich die Generalgouverneure und Gouverneure in das Königreich, an ihn gingen deren jährliche Berichte und ihm rapportierten die zur Kontrolle der Lokalverwaltung ausgesandten Revisionen.86 Er delegierte Streitfälle an die zuständigen Minister, ihm wurden alle Kompromissformeln des Komitees für das Königreich vorgelegt und an ihn wandte sich der Generalgouverneur, wollte er Maßnahmen am Innenminister vorbei lancieren. Damit stand der Monarch ebenso im Zentrum eines Informations- und Entscheidungssystems, wie er zugleich als oberster Schiedsrichter auch die Konflikte der Verwaltungsinstanzen auflösen konnte, so er denn wollte. Und dennoch fällt es schwer – beim Kaiser ebenso wie beim innerministeriellen Komitee – von einer konsistenten Polenpolitik zu sprechen.

|| 84 Vgl. auch Richard G. Robbins: The Tsar’s Viceroys, v. a. S. 63–64, S. 71 und S. 85–90. 85 RGIA, f.1327, 1905–1915, op.2, d.21, ll.122–125 [Bericht des WGG Skalon, 22.3.1906]. 86 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.43a–43 g [Notizen des Kaisers zu dem Bericht des WGG Al’bedinskij, 6.1.1881].

4.2 Das System der Nachaufstandsperiode | 71

In begrenztem Maße verfolgte zumindest Alexander II. eine kohärente Linie, als dieser in der Nachaufstandsperiode die administrative Umgestaltung des Weichsellands vorantrieb und die Arbeit des Gründungskomitees im Königreich Polen überwachte. Davon zeugt auch, dass Alexander zusätzlich eine Kaiserliche Kanzlei für die Angelegenheiten des Königreichs Polen ins Leben rief und sich selbst ausgiebig der „polnischen Frage“ widmete.87 Aber bereits Alexander III. zeichnete sich durch eine deutlich zurückhaltendere Position in den das Königreich betreffenden Belangen aus. Seine wichtigste Entscheidung in diesem Zusammenhang war zweifellos die Ernennung von Iosif Gurko zum Generalgouverneur im Jahre 1883. Der Monarch hatte damit eine Person an der Spitze der Verwaltung installiert, die energisch eine Stärkung des „russischen Elements“ im Königreich betrieb und die insofern im Einklang mit den Ansichten des Autokraten agierte. Ansonsten jedoch fallen in die Zeit seiner Regentschaft keine nennenswerten Gesetzes- oder Restrukturierungsmaßnahmen aus monarchischer Feder, die speziell das Weichselland betroffen hätten. Das änderte sich nur insofern unter dem letzten Zaren, als Nikolaus II. den Thron mit einigen Reformversprechen bestieg, die ihre Auswirkungen in den polnischen Gebieten zeitigten. Auch hier korrespondierte der Herrscherwechsel mit der Etablierung eines neuen Personals der zarischen Verwaltung im Königreich. Es wäre jedoch diesbezüglich eine Übertreibung, von einer kohärenten Polenpolitik zu sprechen. Es waren vielmehr imperiumsweite Entscheidungen, die wie die Dekrete zu Religionspraktiken der Jahre 1897 bis 1905 unter anderem auch die polnischen Provinzen betrafen. Weiterführende Überlegungen, wie die stärkere Integration dieses konfliktintensiven Reichsgebiets gestaltet werden könnte, wurden weder vom Zaren noch von seiner Entourage angestellt. Als sich die Ereignisse im Rahmen der Revolution von 1905 gerade auch in der westlichsten Peripherie überschlugen, war Petersburg denkbar schlecht gerüstet. Nun ist zu Recht betont worden, dass der lavierende, reaktive Charakter ein generelles Signum imperialer Herrschaft im russischen Vielvölkerreich war. In der vorherrschenden Staatsräson war die Vision des interventionistischen Staats wenig ausgeprägt. Zweifellos bestand eine Petrinische Tradition des Reform-Zaren, der auch vor einer radikalen Transformation der inneren Verfasstheit seines Reichs nicht zurückschreckte. Mit Blick auf das Gefüge des Vielvölkerstaats war diese Handlungsmaxime aber weitaus geringer entwickelt. Hier konnten sich Elemente des althergebrachten Ansatzes, nach dem eroberte

|| 87 Vgl. V. Novodvorskij: Carstvo Pol’skoe, in: Enciklopedičeskij slovar’, hrsg. von F. A. Brokgaus und I. A. Efron, Bd. 37А, St. Petersburg 1903; Nikolaj M. Rejnke: Očerk zakonodatel’stva Carstva Pol’skogo, St. Petersburg 1902, S. 116–117.

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Randgebiete unter Wahrung ihrer sozialen und rechtlichen Eigenarten inkorporiert wurden, auch in der Phase der Selbstmodernisierung des Zarenreichs nach 1860 erhalten. Selbst die von Alexander II. angestrebte verwaltungsrechtliche Unifizierung des Reichs und die von seinen Nachfolgern in mehreren Peripherien versuchte Umsetzung einer solchen Homogenisierung blieben doch in vielem inkonsequent. So sehr es den Polen, Baltendeutschen oder Finnen als eine koordinierte Russifizierungspolitik erschienen sein mag, so sehr verharrten diese Maßnahmen doch auf der Ebene der Verwaltungs-, Rechts- und Bildungssysteme. Eine weiterführende Nationalitätenpolitik, die sich selbst als Form des social engineering verstanden hätte, war dagegen zu diesem Zeitpunkt noch keine Denkkategorie der imperialen Beamten. Es ist daher auch wenig verwunderlich, dass Maßnahmen einer Siedlungspolitik ebenso unterentwickelt blieben wie die Reflexion darüber, ob eine gezielte Wirtschaftslenkung für die Steuerung des Vielvölkerreichs einsetzbar sei.88 Diese relative Konzeptlosigkeit der zentralen Gremien und des autokratischen Monarchen bedeutete für die Verwaltungspraxis der Provinz konkret, dass die lokalen Entscheidungsträger einen erheblichen Gestaltungsspielraum gewannen. Zwar war auch für die Generalgouverneure das vormoderne Denken charakteristisch, in dem die staatlichen Instanzen sich primär auf die Sicherung von öffentlicher Ruhe und Ordnung zu konzentrieren hatten und im polnischen Fall zudem alle sezessionistischen Bestrebungen zu unterbinden waren. Dennoch verlangte das Tagesgeschäft der Administration das Eingreifen des obersten Beamten vor Ort in einer Vielzahl von Angelegenheiten. Auf eben diesem Einfluss auf die alltäglichen Praktiken der imperialen Verwaltung fußte die Machtfülle des Generalgouverneurs. Der Zar, seine Minister und das Polenkomitee waren auch an der Weichsel weit weg. Es waren der Generalgouverneur und seine politischen Präferenzen, die das Zusammenleben der Konfessionen und Völker im Königreich ganz erheblich bestimmten und die für mehr oder weniger Konfliktstoff in den lokalen Auseinandersetzungen sorgten.89

|| 88 Grundlegend dazu Theodore R. Weeks: Nation and State, S. 12–16 und S. 103. 89 Vgl. ähnlich zu den Westgebieten und Finnland Mikhail Dolbilov: Russian Nationalism and the Nineteenth-Century Policy of Russification in the Russian Empire’s Western Region, in: Kimitaka Matsuzato (Hrsg.): Imperiology: From Empirical Knowledge to Discussing the Russian Empire, Sapporo 2007, S. 141–158; Robert Schweitzer: Die „Baltische Parallele“: Gemeinsame Konzeption oder zufällige Koinzidenz in der russischen Finnland- und Baltikumspolitik des 19. Jahrhunderts?, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung, 33 (1984), S. 551–576, v. a. S. 575–576; Darius Staliunas: The Pole in the Policy of the Russian Government; Theodore R. Weeks: A National Triangle: Lithuanians, Poles and the Russian Imperial Government, in:

4.2 Das System der Nachaufstandsperiode | 73

Um zu verhindern, dass sich diese Selbstständigkeit der Lokalverwaltungen nicht zu einer unkontrollierten Eigenmächtigkeit ausweitete, bediente sich St. Petersburg der bewährten Instrumente der Inspektion und Revision. Hier entsandte das Zentrum Sonderbevollmächtigte, die Missstände in den Provinzen aufdecken sollten. Mit gutem Grund wurden diese Kontrollreisen in den Amtsstuben der Randgebiete als ernsthafte Bedrohung aufgenommen und lösten im Vorfeld entsprechend hektische Aktivitäten bei den Betroffenen aus.90 Solche großen Revisionsreisen wie jene, die der Senator Dmitrij Nejdgart 1910 in das Königreich unternahm, blieben dennoch wenig effiziente Mittel, um die lokalen Akteure wieder enger an die Petersburger Leine zu nehmen. Sie waren damit mittelbar zugleich ein Ausdruck des großen Gestaltungsspielraums, den sich die Generalgouverneure über die Jahre erarbeitet hatten. Auch 1910 hatte sich dabei an dem Grundzug der Revision als große Intrige wenig geändert. Die Kontrollreise des Senators in das Königreich hatte der Premierminister Pjotr Stolypin initiiert, da er im Konflikt mit dem Warschauer Generalgouverneur Georgij Skalon stand. Stolypin hatte dafür mit Senator Nejdgart seinen Schwager als Beauftragten ins Spiel gebracht, dem wohl zu Recht eigene Ambitionen auf den Posten des Generalgouverneurs nachgesagt wurden. Dementsprechend vernichtend fiel das Urteil des abschließenden Revisionsberichts aus: Er deckte zahlreiche Missstände der Provinzverwaltung auf, die allesamt in die Richtung einer von Petersburg abgekoppelten „Alleinherrschaft“ einer Reihe von Lokalbeamten wiesen.91 Aber der Versuch, den amtierenden Generalgouverneur zu diskreditieren und seine Abberufung zu veranlassen, misslang: Skalon konnte sich bis zu seinem Tod 1914 auf seinem Posten halten. In diesem Fall blieb die Revision eine eher stumpfe Waffe des Zentrums, um stärker in die Geschicke der eigenständig operierenden Lokalverwaltung einzugreifen. Die Revision produzierte einen äußerst umfangreichen Bericht, ohne dass je konkrete Maßnahmen gefolgt wären. || Catherine Evtuhov et al. (Hrsg.): Kazan, Moscow, St. Petersburg: Multiple Faces of the Russian Empire, Moskau 1997, S. 365–380. 90 AGAD, KGGW, sygn.9068, kart.156–156v [Brief Stolypins an den WGG Skalon, 19.6.1908]; GARF, f.215, op.1, d.156, l.15–15ob und l.28 [Schreiben des Vizedirektors der Kanzlei des WGG Charlamov, 1909–10]. 91 Siehe dazu Dmitrij B. Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet o proizvedennoj v 1910 godu po vysožajšemy poveleniju Gofmejsterom Dvora Ego Imperatorskogo Veličestva Senatorom Nejdgartom revizii pravitel’stvennych i obščestvennych ustanovlenij Privislinskogo kraja i Varšavskogo voennogo okruga, 2 Bände, St. Petersburg 1911. Zum Konflikt Skalon-Nejdgart siehe auch L. E. Gorizontov: Vybor nositelja „russkogo načala“ v pol’skoj politike Rossijskoj imperii. 1831– 1917, in: V. A. Chorev (Hrsg.): Poljaki i russkie v glazach drug druga, Moskau 2000, S. 107–116, S. 110–111.

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Dass der höchste zarische Beamte seine Macht vor Ort ausspielen konnte, lag auch an seinem Zugriff auf die Gouverneure der zehn Provinzen im Königreich. Diese waren zwar in die Struktur des Innenministeriums eingegliedert, scheinen in der großen Mehrheit aber auf den Generalgouverneur als die wichtigste Instanz ausgerichtet gewesen zu sein. Denn der Generalgouverneur hatte entscheidenden Einfluss auf die übliche Zirkulation der Beamten und ihre Versetzung in mehr oder weniger attraktive Verwaltungseinheiten.92 Nicht selten verliefen Beamtenkarrieren innerhalb der administrativen Grenzen des Königreichs, oft hatte der Generalgouverneur bereits maßgeblich zum Aufstieg einer Person in der Amts- und Ranghierarchie beigetragen. Dazu gesellte sich das bewährte Prinzip des absolutistischen Hofes, das die Gouverneure durch eine Melange aus wechselseitiger Konkurrenz, Intrigen und Denunziationen, der direkten Rapport- und Berichtspflicht sowie Einladungen zu Festempfängen und persönlichen Audienzen an die Person des Generalgouverneurs band.93 Von einem Wandel der Loyalitäten und einer stärkeren Ausrichtung an den Ministern der Zentralregierung ist jedenfalls bei den Aktivitäten der Gouverneure wenig zu sehen. Auch dies führte dazu, dass der direkte Einfluss des fernen Petersburger Innenministers in den polnischen Provinzen eher gering blieb. Die Gouverneure waren für die lokale Verwaltung im Königreich im Übrigen von zentraler Bedeutung. Diese Amtsträger seien daher in einem kurzen kollektiven Porträt vorgestellt, das neben den Funktionen ihrer Position und den Karrieremustern der Inhaber zugleich auch die Differenzen in der individuellen administrativen Praxis aufzeigt. Im Gegensatz zu den Generalgouverneuren verfügten die Provinzpotentaten nur in Ausnahmefällen über eine militärische Laufbahn; seit den 1880er Jahren dominierte dagegen eindeutig das Studium an einer der Universitäten des Reichs den Ausbildungshintergrund der Beamten.94 So wie der Warschauer Generalgouverneur seine Autonomie gegenüber Petersburg behauptete, so agierten auch die zehn Provinzgouverneure und ihre Kanzleien weitgehend selbstbestimmt in ihrem Gouvernement. Die relative

|| 92 GARF, f.215, op.1, d.87, ll.1–12 [Kommission zum Umbau des Gouvernements Kalisz beim WGG, 12.5.1893]. 93 Vgl. dazu Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy, S. 276–279. Siehe auch die Beschreibung im Tagebuch von Apollon A. Benkevič, dem Gehilfen des Staatsanwalts am Warschauer Bezirksgericht: GARF, f.1463, op.2, d.371, l.3, 1.1.1907. 94 1880 verfügten nur noch 1/10 der höheren Provinzbeamten über eine militärische Karriere. Dies galt vor allem für die ältere Generation, die vor 1820 geboren und die in den ersten Jahrzehnten nach der Niederschlagung des Januaraufstands ins Weichselland berufen worden war. Dagegen konnten 90 % der nach 1820 Geborenen einen Universitätsabschluss vorweisen. Vgl. Katya Vladimirov: Provincial Bureaucracy, S. 63–76.

4.2 Das System der Nachaufstandsperiode | 75

Selbstständigkeit galt vor allem für den Piotrkówer Gouverneur, der dieses wirtschaftlich hochentwickelte, aber zugleich politisch spannungsreiche Gebiet mit seinem Industriezentrum Lodz verwaltete. Weniger eindeutig war die Stellung des Warschauer Gouverneurs, der enger mit der übermächtigen Behörde des Generalgouverneurs sowie mit den Instanzen des einflussreichen Warschauer Oberpolizeimeisters und des Warschauer Stadtpräsidenten kooperieren musste. Die weiteren acht Provinzgouverneure waren in der Ämterhierarchie des Königreichs deutlich von diesen beiden herausragenden Positionen abgesetzt. Der langsame Aufstieg eines zarischen Beamten konnte über mehrere Gouverneursposten führen, ehe sich der Kandidat für die Ernennung zum Warschauer oder Piotrkówer Gouverneur als würdig oder fähig erwiesen hatte. Andererseits wurde man bereits mit einer kurzen Diensterfahrung als Vizegouverneur in Warschau für einen provinziellen Gouverneursposten für tauglich gehalten. Das Bedeutungsgefälle zwischen den Gebieten spiegelte sich auch in den Rangtiteln der Amtsinhaber wider. Warschauer oder Piotrkówer Gouverneure konnten in der Regel den Titel eines Geheimen Rats (Tajnyj sovetnik) und damit Stufe drei der zivilen Rangtabelle vorweisen; etliche von ihnen verfügten über keinen zivilen, sondern einen militärischen Rang. Bei den anderen Provinzgouverneuren war der niedrigere Rang vier des Wirklichen Staatsrats (Dejstvitel’nyj statskij sovetnik) deutlich öfter anzutreffen.95 Aber auch die provinziellen Gouvernements waren durch feine Unterschiede gekennzeichnet. So taten sich die Gouvernements Siedlce und Suwałki vor allem durch ihre multiethnische und -konfessionelle Gemengelage und die sich vor allem nach 1900 daraus ergebenden Konflikte hervor, während die Provinz Kalisz wegen ihrer exponierten West- und Grenzlage als strategisch brisantes Gebiet galt. Angesichts des beträchtlichen Einflusses, den der jeweilige Gouverneur auf die lokalen Belange hatte, hing es von dessen persönlichem Regiment ab, wie sich das Verhältnis zwischen zarischer Bürokratie und indigener Bevölkerung vor Ort gestaltete. Das Spektrum der Akteure und ihrer präferierten Amtsstile war groß. Es reichte von berüchtigten „Polenhassern“, die zum Teil bewusst den Konflikt mit der lokalen Gesellschaft suchten, bis hin zu Verfechtern eines modus vivendi, die sich mit ihrer Toleranz und ihrem Einsatz für die örtlichen Belange auch in der Region einen guten Ruf erwarben.96 || 95 Die Stufen der Rangtabelle (chin) waren verliehene Ehrentitel und entsprachen nicht exakt jenen des štat-Systems, mit dem das Innenministerium jede Amtstätigkeit einem entsprechenden „Rang“ zuordnete. In Letzterem war beispielsweise der Dienst als Provinzgouverneur automatisch mit dem Rang vier, der eines Vizegouverneurs mit Rang fünf verbunden. Vgl. V. A. Evreinov: Graždanskoe činovničestvo v Rossii, St. Petersburg 1888, S. 110–112. 96 Vgl. dazu Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy, S. 229–265.

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Der Einfluss der Provinzpotentaten wurde allerdings in seiner Nachhaltigkeit dadurch geschmälert, dass die polnischen Gouverneure ähnlich wie ihre innerrussischen Amtskollegen in der Regel nur für wenige Dienstjahre in einem Amtsbezirk verweilten, um dann im Rotationssystem der Staatsbürokratie weiterzuziehen.97 Die Zirkulation der imperialen Beamten schuf allerdings zugleich ausgewiesene „Polenexperten“ auf der Ebene der Gouverneure. Nicht wenige Gouverneure hatten nicht nur eine längere Dienstzeit im Weichselland auf anderen Posten vorzuweisen. Als erprobte Leiter einer der polnischen Provinzen galten sie dem Innenminister für die Leitung anderer Bezirke im Königreich prädestiniert. Es ist zumindest auffällig, dass sich etliche der Gouverneure auf ihren beruflichen Laufbahnen innerhalb der Grenzen des Weichsellands bewegten. Eine Einschätzung, dass die zarische Bürokratie vor allem von ortsfremden und -unkundigen Beamten geleitet worden sei, bedarf daher einer Revision: Wenngleich selbst keine gebürtigen „Weichselländer“, so verbrachten doch etliche dieser Administratoren einen Großteil ihrer Dienstkarriere und ihres Lebens in den polnischen Provinzen, über deren Verhältnisse sie nach zahlreichen Amtsjahren zweifellos gut informiert waren. Dass eine längere Karriere im Weichselland keinesfalls zu besonders großer Nähe zur einheimischen Bevölkerung führen musste, mag der Fall des Gouverneurs von Suwałki und Lublin, Vladimir Tchorževskij verdeutlichen. Tchorževskij entwickelte sich während seiner mehr als vierzigjährigen Dienstzeit im Königreich zum erklärten Gegner der Polen sowie der katholischen Kirche und betrieb vor allem in Lublin eine unversöhnliche Konfrontationspolitik selbst in Zeiten, in denen der Generalgouverneur Imeretinskij um Entspannung bemüht war.98 Tchorževskijs Polonophobie entbehrte insofern nicht einer gewissen Ironie, als der Gouverneur einer der wenigen Provinzverwalter war, der über einen polnisch-katholischen Familienhintergrund verfügte. Hier bestand für den zarischen Beamten wohl ein besonders starkes Abgrenzungsbedürfnis.99 Eine sehr enge Vertrautheit mit dem Königreich schützte also vor Feindschaft

|| 97 Es gab zahlreiche Beispiele für kurze Dienstzeiten von 2 oder 3 Jahren. So weilte der Warschauer Gouverneur Jewgenij Roznow nur 3 Jahre, von 1863 bis 1866, im Amt. Vor allem die Provinzgouverneure wechselten oft ihre Posten. 98 Vgl. auch Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy, S. 237–244. 99 Die polnische Schreibweise des Familienamens lautet Tchórzewski. Vgl. Andrzej Nowak: Walka o kresy, walka o przetrwanie: XIX-wieczne Imperium Rosyjskie wobec Polaków, Polacy wobec Imperium (przeglad historiograficzny) / Bor’ba za okrainy, bor’ba za vyživanie: Rossijskaja imperija XIX v. i poljaki, poljaki i imperija (obzor sovremennoj pol’skoj istoriografii), in: Michail D. Dolbilov/Aleksej Miller (Hrsg.): Zapadnye okrainy Rossijskoj imperii, Moskau 2006, S. 429–464, S. 449.

4.2 Das System der Nachaufstandsperiode | 77

nicht. Dennoch ist es nicht zufällig, dass der fast schon legendäre „Polenfeind“, der Płocker Gouverneur Leonid Čerkasov, von außen kam und fast seine gesamte Laufbahn in innerrussischen Provinzen verbracht hatte. Čerkasov war 1884 und damit in einer Hochphase des polnisch-russischen Antagonismus ins Königreich abkommandiert worden und benahm sich entsprechend, indem er jeden Kontakt zur lokalen Bevölkerung vermied.100 Es gab aber auch jene Beispiele, in denen Gouverneure in ihren langen Dienstjahren im Königreich eine ausgesprochene Affinität mit der polnischen Kultur und der lokalen Bevölkerung entwickelten. Der Gouverneur Michail Daragan, der von 1883 bis 1902 und damit für fast 20 Jahre das Gouvernement Kalisz leitete, galt als großer Fürsprecher der Belange der örtlichen Gesellschaft.101 Auch der langjährige Piotrkówer Gouverneur Konstantin Miller war um den Kontakt mit der polnischen Bevölkerung bemüht und beschäftigte eine ganze Reihe von katholischen Polen im engeren Zirkel seiner Administration.102 Insofern war das Spektrum der Amtsstile imperialer Beamter im Königreich groß. In einer Gesamtschau lässt sich dennoch von einem erstaunlich regen Kontakt der Provinzgouverneure mit der lokalen Gesellschaft sprechen. Neben Zwischenphasen der Konfrontation gab es doch immer wieder lange Perioden, in denen die meisten der imperialen Amtsträger einen Zustand der konfliktarmen Kohabitation mit der örtlichen Bevölkerung suchten.103 Waren der Generalgouverneur und seine Gouverneure die wesentlichen Stützen der zarischen Verwaltung im Königreich, so oblag die Sicherung der öffentlichen Ordnung den Strukturen des Polizeiapparats. Seit 1866 waren die polizeilichen Instanzen im Weichselland massiv ausgebaut worden. In der Weichselmetropole leitete nach hauptstädtischem Vorbild der einflussreiche Warschauer Oberpolizeimeister die polizeilichen Angelegenheiten. Seine Aufgabenbereiche waren vielfältig: Neben der Berichterstattung zur „Stimmung der Bevölkerung“ in den polnischen Provinzen referierte er in seinen jährlichen Berichten Daten über die Bevölkerungsentwicklung, die Wirtschaftslage, das Bildungswesen und allgemein das öffentliche Leben. Die Kri-

|| 100 Vgl. auch Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy, S. 230–236. 101 Siehe Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy, S. 249–265. 102 GARF, f.996, op.1 [Tagebuch Konstantin K. Millers, 1887–1910]. AGAD, KGGW, sygn.6481, kart.2–38v [Schreiben des Piotrkówer Gouverneurs Miller an den WGG Gurko, 14.11.1894]; AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.1–89v [Bericht des Piotrkówer Gouverneurs Miller an den WGG Čertkov, 15.4.1903]. 103 So auch Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy, S. 262–265; Katya Vladimirov: Provincial Bureaucracy, S. 75–76.

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Abb. 5: Straßenszene in Warschau mit Polizist (um 1900)

minalstatistiken waren nur ein Teil dieser umfassenden Erhebungen, die der Oberpolizeimeister und seine Kanzlei am Theaterplatz erstellten.104 Eine der zentralen Aufgaben dieser Rapporte war eine Beurteilung der politischen Strömungen in der polnischen Gesellschaft, vor allem aber auch eine Übersicht über die illegalen Aktivitäten verbotener Bewegungen und Parteien. Die Warschauer Oberpolizeimeister agierten als Leiter einer Behörde, die oft genug mit polizeilichen Willkürakten dafür sorgte, dass sie in der indigenen Bevölkerung zu den wohl meistgehassten Repräsentanten zarischer Herrschaft im Königreich avancierten. Die polizeiliche Willkür drückte sich vor allem in der Ausweisung von „unerwünschten Personen“ aus dem Königreich aus. Diese Praxis administrativer Verbannung, vor allem nach der Revolution von 1905

|| 104 GARF, f.102 (Department policii Ministerstva Vnutrennich Del, 1881–1914), op.255, d.1 [Berichte des Polizeidepartements zur Stimmung der Bevölkerung, 1880]. Die Jahresberichte des Warschauer Oberpolizeimeisters finden sich in RGIA, f.1276, op.17; f.1282, op.3; f.1284, op.223; f.1284, op.194. Siehe auch Halina Kiepurska/Zbigniew Pustuła: Raporty Warszawskich Oberpolicmajstrów (1892–1913), Warschau 1971.

4.2 Das System der Nachaufstandsperiode | 79

rigoros gehandhabt, wurde jeweils vom Polizeimeister initiiert und, nach Bewilligung durch den Generalgouverneur, auch in die Tat umgesetzt.105 Das institutionelle Netz der Polizeibehörde erstreckte sich bis in die polnischen Provinzen, in denen eigene Büros auf Gouvernements- und Kreisebene unterhalten wurden. Anders als in der zivilen Verwaltung waren die staatlichen Autoritäten sehr darauf bedacht, diesen sicherheitssensiblen Bereich weitgehend mit externen Amtsträgern zu bestücken.106 In den Landkreisen wurden sie zudem durch sogenannte „Landwachen“ unterstützt, die aus den niederen Rängen des Militärs rekrutiert und von Offizieren befehligt wurden.107 Parallel zur regulären Polizei bestanden auch im Königreich die Apparate des Gendarmenkorps und der Sicherheitsabteilung. Beide unterhielten in Warschau Dependancen, so dass die Weichselmetropole neben St. Petersburg und Moskau die einzige Stadt im Imperium mit einer eigenen Gendarmendivision sowie einem gesonderten Ochranabüro war. Sowohl Gendarmen wie auch Ochrana waren für Fragen der Staatssicherheit zuständig. Die Geheimpolizei betrieb im Königreich ein weitverzweigtes Agentennetzwerk und widmete sich den revolutionären Parteiungen und terroristischen Zellen.108 Trotz dieser institutionellen Parallelstruktur blieben die staatlichen Bemühungen, den Polizeiapparat im Weichselland auf ein stabiles und breites Fundament zu stellen, letztlich vergeblich. Denn der Ausbau der Behörde konnte nicht mit der Bevölkerungsexplosion in den polnischen Provinzen Schritt halten. Dazu kam, dass die Sonderzahlungen für die Beamten die erhebliche Teuerungsrate im Königreich kaum zu kompensieren vermochten, so dass der gefährliche und belastende Dienst im Weichselland wenig attraktiv blieb. Schon vor der Jahrhundertwende waren Klagen über die geringe Personalstärke der Polizeikräfte, ihre hohe Fluktuation sowie ihr niedriges professionelles und ethisches Niveau auch in den zarischen Amtsstuben allgegenwärtig.109 Die Polizeibehörde galt nicht ohne Grund als eine der korruptesten Institutionen, die || 105 AGAD, KGGW, sygn.3173, kart.1–49 [Schreiben des WOPM an den WGG Skalon (1907–10)]; AGAD, KGGW, sygn.3227, kart.1–7 [Schreiben des WOPM an den WGG (1907)]. 106 AGAD, KGGW, sygn.6481, kart.2–38v [Schreiben des Piotrkówer Gouverneurs Miller an den WGG Gurko, 14.11.1894], hier kart.11v–12. 107 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.26ob–27ob [Auszüge aus dem Bericht des WGG Imeretinskij, 12.1.1898]. 108 Vgl. u. a. Erinnerungen des Leiters der Warschauer Ochrana P. P. Zavarzin: Rabota tajnoj policii. Vospominanija, Paris 1924. 109 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.2–3 [Bericht über die Lage Warschaus, Kanzlei des Ministerkomitees, 1897]; GARF, f.215, op.1, d.94, ll.25–27 [Auszüge aus dem Bericht des WGG Imeretinskij, 12.1.1898]; AGAD, KGGW, sygn.140, kart.2 [Kommentar zur anonymen Denunziation, 16.4.1904].

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noch die legendäre Bestechlichkeit der subalternen Beamten der Staatsverwaltung in den Schatten stellte.110 Die Revolution von 1905 zeigte dann vollends, wie ineffizient und überfordert der Polizeiapparat in der Krisensituation war.111 Die Schwäche der Polizeistrukturen trug dazu bei, dass andere Instanzen der zarischen Administration den Alltag im Königreich weitaus stärker prägten. Das gilt vor allem für die Bildungsbehörde, die mit ihrer Schulpolitik unzählige Auseinandersetzungen mit der einheimischen Bevölkerung hervorrief. Aber auch die Tätigkeit der städtischen und ländlichen Lokalverwaltung sowie des Zensurkomitees hatte wesentlichen Einfluss auf das Mit- und Gegeneinander von indigener Gesellschaft und Petersburger Autoritäten. Eine wichtige Institution, die zur politischen Ruhigstellung des Königreichs beitragen sollte, war das Warschauer Zensurkomitee. Es musste alle im Königreich verlegten Publikationen sowie jegliche importierten Druckerzeugnisse genehmigen und prägte damit die Kulturlandschaft im Weichselland nachhaltig.112 Das galt ebenso für jene Behörde, die für die Bildungsinstitutionen im Königreich verantwortlich zeichnete. Deren leitender Beamter, der Kurator des Warschauer Lehrbezirks, unterstand dem Petersburger Bildungsminister und war für die organisatorischen, personellen und curricularen Fragen an den staatlichen Schulen und Hochschulen zuständig. Auch wenn Grundsatzentscheidungen des Bildungssystems auf höherer Ebene gefällt wurden, griffen die Direktiven des Kurators zur Schulpraxis sehr spürbar in den Lebensalltag der indigenen Bevölkerung ein. Ein Kurator wie Apuchtin war auch deshalb so verhasst, weil er nicht nur subalterner Erfüllungsgehilfe Petersburger Entscheidungen war, sondern als machtvoller Akteur auch eine eigenständige antipolnische Bildungspolitik im Königreich betrieb.113 Das galt besonders für Zeiten, in denen sich der Kurator und der Generalgouverneur im Einklang befanden. Dass

|| 110 AGAD, KGGW, sygn.3237, kart.1–15 [Unterlagen zur Untersuchung von Foltervorwürfen beim Warschauer Oberpolizeimeister in der amerikanischen Presse, 1907], v. a. kart.3–14 [Bericht des Gehilfen des WGG in Polizeiangelegenheiten Utgof an den WGG Skalon, 27.10.1907]. 111 Vgl. den Bericht des britischen Generalkonsuls Murray vom 13.7.1906: Dominic Lieven (Hrsg.): British Documents on Foreign Affairs: Reports and Papers from the Foreign Office Confidential Print. Part I, From the Mid-nineteenth Century to the First World War. Series A: Russia, 1859–1914, Bd. 4: Russia, 1906–1907, Bethesda 1983, S. 131 (Doc. 86). 112 Vgl. die Aktenbestände des Warschauer Komitees GARF, f.312, op.1, 6 ed. chr. (1896–1915) und AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.1–162. Siehe auch Malte Rolf: „Approved by the censor“: Tsarist censorship and the public sphere in Imperial Russia and the Kingdom of Poland (1860–1914), in: Jan C. Behrends/Thomas Lindenberger (Hrsg.): Underground Publishing and the Public Sphere. Transnational Perspectives, Wien 2014. 113 Vgl. z. B. Filip N. D’jačan: Ko dnju jubileja pjatidesjatiletnej služby A. L. Apuchtina, popečitelja Varšavskogo učebnogo okruga, Moskau 1890.

4.2 Das System der Nachaufstandsperiode | 81

sich auch eine eher ausgleichs- und eine reformorientierte Praxis gegenseitig verstärken konnten, vermag ein Beispiel der 1890er Jahre zu zeigen. Parallel zur Amtszeit des konzilianten Generalgouverneurs Aleksandr Imeretinskij stand Valerian Ligin dem Warschauer Lehrbezirk als Kurator vor. Seine Bildungspolitik nach 1897 zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass er bei der Neuausrichtung des Curriculums das Gespräch mit der polnischen Bevölkerung suchte. In all diesen Fällen wird grundsätzlich deutlich, welch prägenden Einfluss der Kurator auf den Bildungs- und Kulturalltag im Königreich ausübte. Da sich viele der Konflikte mit der lokalen Bevölkerung gerade um Schul- und Bildungsfragen verdichteten, war die personelle Besetzung dieses Verwaltungspostens von großer Tragweite für den inneren Frieden im Weichselland. Das Panorama zarischer Instanzen in den polnischen Provinzen wäre unvollständig, blieben die lokalen administrativen Strukturen unerwähnt. In den ländlichen Gebieten waren im Zuge der Emanzipationsgesetze von 1864 Selbstverwaltungsorgane auf der Ebene der Gemeinde eingerichtet worden. Die Gemeindeversammlungen wurden von einem gewählten Gemeindevorsteher geführt, der kleinere Polizei-, Verwaltungs- und Rechtsfunktionen im Gemeindekontext ausfüllte.114 Damit bestanden zumindest rudimentäre Selbstverwaltungsstrukturen in den Dörfern, die sich vor allem während der Gemeindebewegung in der Revolution von 1905–06 aktivieren ließen. In ruhigeren Zeiten jedoch waren die Handlungsmöglichkeiten der Gemeindevorsteher extrem eingegrenzt und einer strikten Kontrolle durch externe russische Beamte unterworfen. Den Städten im Weichselland dagegen wurde die Einrichtung gewählter Gremien gänzlich vorenthalten. Die urbanen Zentren wurden durch einen vom Innenminister ernannten Magistrat verwaltet. In den Provinzstädten unterstand der Magistrat dem lokalen Gouverneur, der sich regelmäßig und tiefgreifend in die Angelegenheiten der munizipalen Verwaltungsgeschäfte einmischte.115 Eine gewisse Ausnahme stellten der Magistrat und der Stadtpräsident in Warschau dar. Auch wenn hier eine formale Abhängigkeit gegenüber dem Innenministerium und dem Generalgouverneur bestand, zeichnete sich der Warschauer Magistrat doch durch eine größere Eigenständigkeit aus. In seiner Verfügungsgewalt stand ein stattliches und kontinuierlich wachsendes Budget116 und seine || 114 Siehe Gminnyj zakonnik. Uzakonenija, rasporjaženija i raz’jasnenija dlja rukovodstva dolžnostnych lic gminnogo upravlenija v gubernijach Carstva Pol’kogo, St. Petersburg 1896. 115 Vgl. zum Beispiel zu Lublin Jörg Gebhard: Lublin, S. 46–47. 116 Die städtischen Einnahmen hatten 1865 zunächst 1,6 Millionen Rubel betragen. 1878 waren diese auf 2 Millionen angestiegen, 1888 verfügte der Magistrat bereits über 3,9 Million und 1894 über 5,3 Millionen Rubel. Bis 1914 hatte sich das Budget auf 16,1 Millionen Rubel

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Entscheidungen zu städtischen Entwicklungsprojekten hatten große Tragweite.117 Einzelne Stadtpräsidenten der Weichselmetropole zeichneten sich dann auch durch eine sehr aktive Interpretation ihrer Amtsrolle aus. Dagegen änderte sich an dem staatlichen Ernennungscharakter der Munizipalverwaltung bis 1915 nichts: Alle Projekte zur Einführung städtischer Selbstverwaltungsorgane in den Provinzen des Weichsellands wurden zwischen den Interessen- und Konfliktparteien zerrieben. Die entsprechenden Gesetzesvorlagen kursierten nach 1911 derart lange zwischen den Instanzen Duma und Reichsrat sowie deren Sonderkommissionen, dass letztlich eine Notverordnung per Paragraph 87 notwendig wurde, um im März 1915 die Einführung eines restriktiven Modells der Stadtduma auch im Königreich zu diktieren. Diese Bestimmung sollte wegen der wenige Monate später erfolgenden Besetzung Warschaus durch deutsche Truppen jedoch keine praktische Bedeutung mehr haben.118 Insgesamt erwies sich das System, das in den beiden ersten Jahrzehnten nach der Erhebung schrittweise im Weichselland eingeführt worden war, als erstaunlich stabil. Die wenigen formalen Änderungen, wie die Substituierung des Statthalters durch den Generalgouverneur, hatten ebenso wenig Einfluss auf die Verwaltungspraxis wie die graduellen Machtverschiebungen, bei denen die zentralen Ministerien seit den 1890er Jahren gegenüber den lokalen Gouverneuren an Bedeutung gewannen. Die starke Stellung des Warschauer Generalgouverneurs federte eine solche Entwicklung erheblich ab. Dies galt auch für die Veränderungen von 1906, die die nach dem Oktobermanifest erlassenen Grundgesetze für das politische System des Zarenreichs bedeuteten. Da alle Projekte zur Einführung einer weiterreichenden kulturellen Autonomie ebenso wie die zur Etablierung von Selbstverwaltungsorganen gescheitert waren oder verschleppt wurden, blieb das Nachaufstandssystem bis zum Ende der russischen Herrschaft im Weichselland in seinen Grundfesten unangetastet. Das Ende dieser in den 1860–70er Jahren etablierten Strukturen kam von außen, es wurde erst 1915 durch den Krieg und den Einmarsch deutscher Truppen ausgelöst.

|| vervielfältigt. Vgl. im Detail Finansy goroda Varšavy za 22-letnyj period (1878–1899), hrsg. v. Statističeskij Otdel Magistrata goroda Varšavy, Warschau 1901, S. 14–17. Zu 1914 siehe Stephen D. Corrsin: Warsaw before the First World War. Poles and Jews in the Third City of the Russian Empire 1880–1914, Boulder/Col. 1989, S. 12–16. 117 AGAD, KGGW, sygn.5855, kart.8–8v [Schreiben des WGG Skalon an das Innenministerium, 11.5.1907]. Vgl. dazu Edward Strasburger: Gospodarka naszych wielkich miast. Warszawa, Łódź, Kraków, Lwów, Poznań, Krakau 1913, S. 28. 118 Vgl. dazu Theodore R. Weeks: Nation and State, S. 249–257.

5 Die imperiale Verwaltung und der „persönliche Faktor“: Die Statthalter und Generalgouverneure der Jahre 1864–1915 Im administrativen System der Nachaufstandsperiode war der Statthalter beziehungsweise der Generalgouverneur der starke Mann des Zaren im Weichselland. Wenngleich er in einer Kräftekonstellation agierte, in der Akteure im fernen Petersburg oder auch weitere Instanzen vor Ort eine gewichtige Stimme hatten, so prägten seine Überzeugungen zur zweckmäßigen Reichspolitik, seine Interpretation der eigenen Amtsaufgaben wie auch seine Präferenzen des politisch-kommunikativen Stils die Begegnungs- und Konfliktsituationen im Königreich maßgeblich. In einer Verwaltungsstruktur, die ganz erheblich auf die Person des Generalgouverneurs zugeschnitten war und diesem beachtlichen Handlungsspielraum eröffnete, war es von entscheidender Bedeutung, wen der Zar als seinen Stellvertreter an die Weichsel entsandte. Gerade auch deren erstaunlich lange Dienstzeiten von oft einer ganzen Dekade führten dazu, dass die Generalgouverneure der konkreten Ausgestaltung der Petersburger Herrschaft vor Ort nachhaltig ihren Stempel aufdrückten. Von ihnen hing in starkem Maße ab, welche Intensität die Konflikte zwischen der indigenen Gesellschaft und den imperialen Autoritäten gewannen und welche Reform- und Kooperationsoptionen sich auftaten. Es ist daher zu fragen, von welchen Konzeptionen imperialer Herrschaft, von welchen Vorstellungen vom Reichszusammenhang und somit von welchen politischen Denkkategorien die jeweiligen Generalgouverneure geleitet wurden.1

5.1 Fedor Fedorovič Berg und Pavel Evstafievič Kocebu Die erste lange Phase imperialer Herrschaft nach der Januarerhebung wurde vor allem durch den Statthalter Fedor Fedorovič Berg und den ihm nachfolgenden Generalgouverneur Pavel Evstafievič Kocebu geprägt. In die von 1863 bis 1874 und damit 11 Jahre währende Amtsperiode Bergs fielen die meisten jener bereits

|| 1 Viele der hier erwähnten Aspekte werden in den folgenden Abschnitten vertiefend behandelt. Sie seien im Rahmen der Gouverneursprofile insofern nur angerissen. Zum „persönlichen Faktor“ vgl. auch Malte Rolf: Imperiale Biographien. Lebenswege imperialer Akteure in Großund Kolonialreichen (1850–1918) – zur Einleitung, in: Geschichte und Gesellschaft, 40/1 (2014), S. 5–21; Matthias Stadelmann: Großfürst Konstantin Nikolaevič. Der persönliche Faktor und die Kultur des Wandels in der russischen Autokratie, Wiesbaden 2012, Einleitung.

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vorgestellten Bestimmungen, die die Verwaltungsstruktur der Nachaufstandsperiode im Königreich etablierten.2 Einige spätere Maßnahmen, die auf die Nivellierung polnischer „Besonderheiten“ abzielten, wurden vom Generalgouverneur Kocebu initiiert oder umgesetzt. In seine bis 1880 dauernde Amtszeit datiert beispielsweise die Auflösung der Griechisch-Unierte Diözese Chełm und damit das institutionelle Ende der Unierten Kirche im Russischen Reich. Ebenso war es Kocebu, der die Verwendung des Russischen „als Staatssprache“ auch in den Grundschulen des Weichsellands vorantrieb und die Einführung von gewählten Stadtoberhäuptern in den polnischen Provinzen verhinderte.3 Dennoch kündigte sich unter Kocebus Amtsleitung eine erste Entspannung der imperialen Politik an. Eine Dekade nach der Niederschlagung des Januaraufstands war die Petersburger Herrschaft gesichert genug, um dem öffentlichen Leben im Weichselland gewisse Zugeständnisse zu machen. Und so gestattete das Warschauer Zensurkomitee jene publizistischen Aktivitäten, mit denen eine junge Generation polnischer Positivisten ihre von Auguste Comte beeinflussten Positionen publik machte. Der Aufstieg dieses Warschauer Positivismus, der das intellektuelle Leben der Weichselmetropole in den 1870–80er Jahren bestimmte, reflektiert indirekt die Zurücknahme einer Staatspolitik, die primär auf Aufstandsrepression und administrative Angleichung der polnischen Provinzen ausgerichtet war. Denn erst in einem Klima, in dem die rus-

|| 2 Graf und General-Feldmarschall Fedor F. Berg (Friedrich Wilhelm Remberg von Berg; 1793– 1874) hatte sich übrigens schon zuvor als Generalgouverneur von Finnland in den 1850er Jahren einen Namen als rücksichtsloser Vertreter des Zentralinteresses gemacht. Alexander II. hatte ihn 1861 nach zahlreichen Konflikten mit der lokalen schwedischen und finnischen Gesellschaft abberufen. Berg spielte bereits während der Frühphase des Januaraufstands als Adlatus des Großfürsten Konstantin, des damaligen kaiserlichen Statthalters im Königreich, eine wichtige Rolle. 1866 wurde Berg zum Feldmarschall und zum Mitglied des Reichsrats ernannt, behielt aber die Statthalterschaft und seinen Sitz in Warschau. Er verstarb auf einer Reise nach Petersburg im Januar 1874. Zur Vita Bergs siehe Voennaja enciklopedia Sytina, hrsg. von Ivan D. Sytin, Bd. 4, St. Petersburg 1911. 3 Graf und General der Infanterie Pavel E. Kocebu (Paul Dimitrius von Kotzebue, 1801–1884) war Sohn des Schriftstellers August Friedrich Ferdinand von Kotzebue, wuchs allerdings in St. Petersburg auf. Auch er hatte militärische und administrative Erfahrung in Reichsrandgebieten vorzuweisen, bevor er nach Warschau beordert wurde. So war er bereits in den 1820er–40er Jahren mehrfach im Kaukasus eingesetzt worden und bei der Besetzung Warschaus im August 1831 beteiligt gewesen. Unter Alexander II. hatte er von 1862 bis 1874 das Amt des Generalgouverneurs von Novorossijsk und Bessarabien sowie des Oberkommandierenden des Wehrbezirks Odessa bekleidet. 1880 wurde Kocebu zum Mitglied des Reichsrats ernannt und nach Petersburg versetzt, um im Reichsrat als Experte zur Reform der lokalen Militärverwaltung beizutragen. Vgl. zu seiner Person GARF, f.215, op.1, d.76, l.20 und l.35 [Bericht des WGG Al’bedinskij an Alexander II., 27.12.1880].

5.2 Petr Pavlovič Al’bedinskij | 85

sische Herrschaft als weniger drückend empfunden wurde, konnte die positivistische Vorstellung von der „Arbeit an den Grundlagen“ an Attraktivität gewinnen. Deren Ausrichtung auf die Entwicklung der Nation in Kultur, Ökonomie und Technik konnte sich mit dem Zustand der Staatenlosigkeit arrangieren, aber sie bedurfte dennoch einer Situation der Stabilität, die nicht primär als Unterdrückung empfunden wurde, um sich entfalten zu können.4

5.2 Petr Pavlovič Al’bedinskij Was sich unter dem Generalgouverneur Kocebu vorsichtig ankündigte, bestätigte sich unter seinem Nachfolger Petr Pavlovič Al’bedinskij. Mit der Entsendung Al’bedinskijs 1880 in das Königreich begannen für die polnische Gesellschaft „Jahre der Hoffnung“.5 Al’bedinskij hatte sich ebenso wie seine Vorgänger bereits zuvor den Status eines Experten für die Reichsrandgebiete erworben. Von 1866 bis 1870 hatte er als Generalgouverneur Livlands, Estlands und Kurlands sowie anschließend in gleicher Funktion in den nordwestlichen Gouvernements amtiert. Die jüngere Forschung betont, dass Al’bedinskij zumindest in den Ostseeprovinzen eine provinzfreundliche Amtsführung forcierte.6 Es war ein politischer Stil, den der Generalgouverneur auch im Weichselland umzusetzen versuchen sollte. Bereits 1880 initiierte er ein umfassendes Reformprojekt für die polnischen Provinzen. Der Bericht, den der Generalgouverneur zur Begründung an den Kaiser verfasste, gibt einen klaren Einblick in seine Wahrnehmung der vordringlichen Probleme im Königreich, seine Einschätzung der polnischen Gesellschaft und ihrer Entwicklung sowie in die politischen Denkkategorien und Visionen des obersten zarischen Beamten. Es handelt sich

|| 4 Vgl. Stanislaus A. Blejwas: Realism in Polish Politics: Warsaw Positivism and National Survival in Nineteenth Century Poland, New Haven 1984, v. a. Kap. 4 und 5. 5 So die treffende Charakterisierung bei Stanisław Wiech: Rządy warszawskiego generałagubernatora Piotra Albiedynskiego – lata nadziei, lata złudzeń, in: Andrzej Szwarc/Paweł Piotr Wieczorkiewicz (Hrsg.): Unifikacja za wszelką cenę. Sprawy polskie w polityce rosyjskiej na przełomie XIX i XX wieku. Studia i materiały, Warschau 2002, S. 83–114. Schon Zeitgenossen urteilten so: Vgl. Erazm I. Pil’c: Russkaja politika v Pol’še. Očerk, Warschau 1909, S. 60–61. 6 Petr P. Al’bedinskij (1826–1883) hatte nach seiner Erziehung im Pagenkorps die militärische Laufbahn eingeschlagen und es bis zum General der Kavallerie gebracht. Die Ernennung zum Generalgouverneur in Warschau erfolgte in relativ jungem Alter: Al’bedinskij war zu dem Zeitpunkt nur 54 Jahre alt und damit mit Abstand der jüngste zarische Gesandte im Weichselland. Auch Al’bedinskij wurde kurz vor seinem frühen Tod 1883 zum Mitglied des Reichsrats ernannt. Zu seiner Person vgl. Russkij biografičeskij slovar’, hrsg. von Aleksandr A. Polovcov, Bd. 2, St. Petersburg 1900.

86 | 5 Die imperiale Verwaltung und der „persönliche Faktor“

Abb. 6: Petr Pavlovič Al’bedinskij (1826–1883). Generalgouverneur im Königreich Polen von 1880 bis 1883

um ein Schlüsseldokument für die Amtszeit und das Regiment Al’bedinskijs, das ausführlicher vorgestellt werden soll.7 Al’bedinskij führte aus, dass seit den „Großen Reformen“ des Jahres 1864 inzwischen 16 Jahre vergangen seien. In dieser Zeit habe sich das gesellschaftliche Leben im Königreich grundlegend verändert. Die Bauern seien aus der „patrimonialen Ordnung“ befreit und es sei ihnen auf Gemeindeebene die Selbstverwaltung gewährt worden. Die gesamte Bevölkerung habe öffentliche Gerichte und Schulen erhalten. Allgemein seien die Fortschritte im Land beachtlich: Nach vielen Jahren des „Fieberwahns“ sei in der polnischen Gesellschaft nun an die Stelle politischer Leidenschaft die intensive Arbeit in ökonomischen und intellektuellen Bereichen getreten. Das Weichselland konzentriere sich ganz auf die innere Entwicklung und werde von Jahr zu Jahr wohlhabender und geistig reifer. Vor allem für die Jugend gelte: Sie habe alten Verwirrungen abgeschworen und orientiere sich auf der Basis vorurteilsfreien Wissens ganz auf ein positives gesellschaftliches Wirken. Von einer solchen erfreulichen Entwicklung zeuge auch, dass es allgemein in den polnischen Provinzen keine regierungsfeindlichen Vorkommnisse zu berichten gäbe.8 Um eine Stärkung der grundsätzlich loyalen und kooperationsbereiten Kreise der indigenen Gesellschaft zu befördern, unterbreitete der Generalgouverneur dem Kaiser ein umfassendes Reformprogramm. Es reichte von Nachbesserungen

|| 7 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.1–43 [Bericht des WGG Al’bedinskij an Alexander II., 27.12.1880]. 8 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.3–5.

5.2 Petr Pavlovič Al’bedinskij | 87

bei der Landgesetzgebung zugunsten der Bauern über die Rücknahme von diskriminierenden Bestimmungen gegen ehemalige Unierte sowie von anderen benachteiligenden Gesetzen gegen Personen polnischer Herkunft bis hin zu Fragen der Bildungspolitik und Selbstverwaltungspraxis. Al’bedinskijs Vorschläge in den beiden letzten Bereichen gingen am weitesten und waren höchst kontrovers. Mit Blick auf das staatliche Schulwesen forderte der Generalgouverneur die Einbeziehung der Gesellschaft bei Fragen von Belang und vor allem bei dem Ausbau des Elementarschulwesens. Zu diesem Zweck sollten die örtlichen Gemeinden an der Lehrerwahl beteiligt und das Fach Religion von lokalen Geistlichen unterrichtet werden.9 Zudem sollte das Polnische wieder als Pflichtfach in den Grundschulen eingeführt sowie mit ausreichender Stundenzahl ausgestattet werden. Damit stellte sich Al’bedinskij deutlich gegen die Politik des Kurators Apuchtin, der erst 1879 den gesamten Unterrichtsbetrieb der Elementarschulen auf Russisch umgestellt hatte. Der Generalgouverneur bezeichnete dagegen die zahlreichen Klagen der einheimischen Bevölkerung als rechtmäßig und verwehrte sich mehrfach gegen eine „Verkehrung“ der Elementarschulen in ein „Instrument der Russifizierung der Bauern“.10 Auch in Bezug auf die Verfassung der munizipalen Verwaltung plädierte der Generalgouverneur für ein Umdenken. Nun, 16 Jahre nach dem Aufstand, sei das Stadtverwaltungsstatut von 1870 auch im Königreich zur Anwendung zu bringen. Es gelte aber unbedingt, die „lokalen Bedingungen“ zu berücksichtigen: Das Stadtoberhaupt solle endlich von der stimmberechtigten lokalen Bevölkerung ohne besondere Beschränkung des Wahlrechts gewählt werden.11 Zudem sei die Sprachenfrage bei den Amtsgeschäften, den Protokollen der Stadtverwaltung und den Sitzungen der Stadtduma zu regeln. Als Lösungsvorschlag präsentierte der Generalgouverneur einen Kompromiss: Da die wahlberechtigten Bürger und angerufenen Experten zum Großteil der russischen Sprache nicht mächtig seien, müsse man zumindest gestatten, dass die Versammlungen der Duma auch in polnischer Sprache geführt würden. Dagegen sollte für die Amtsgeschäfte und Beschlüsse der Stadtverwaltung „die Staatssprache“, also das Russische, verwendet werden. Eine Übersetzung der entsprechenden Dokumente und Sitzungsprotokolle ins Polnische müsse jedoch gewährleistet sein.12

|| 9 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.15–16. 10 GARF, f.215, op.1, d.76, l.16ob, l.20 und l.23ob. 11 GARF, f.215, op.1, d.76, l.35. 12 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.36ob–38ob.

88 | 5 Die imperiale Verwaltung und der „persönliche Faktor“

Al’bedinskij warb in seinem Bericht damit für brisante Reformen. Denn sie betrafen Felder, in denen die Konflikte zwischen Petersburger Autoritäten und lokaler Gesellschaft eine besondere Intensität angenommen hatten und damit zugleich auch Grundsatzfragen Petersburger Autorität verhandelt wurden.13 Ein Großteil der Vorschläge des Generalgouverneurs traf auf die Zustimmung des Kaisers, wenngleich Alexander II. die Fragen zur Beratung und Ausarbeitung konkreter Bestimmungen an das Komitee für die Angelegenheiten des Königreichs Polen weiterleiten ließ.14 Bereits hier stieß Al’bedinskij aber auf massiven Widerstand vor allem von Seiten des Bildungsministers Andrej Saburov und des frisch ernannten Oberprokurors des Heiligen Synods Konstantin Pobedonoscev. Nach längerer Debatte wurde entschieden, die meisten der Reformvorschläge zur „genaueren Ansicht“ an die zuständigen Ministerien weiterzuleiten.15 Die Ermordung Alexanders II. wenige Wochen später besiegelte das Schicksal auch dieses Reformprojekts. In der angespannten Lage nach dem Attentat am 1. März 1881 war an eine weitreichende Reformtätigkeit im Weichselland nicht zu denken. Al’bedinskijs Versuch aus dem Sommer 1881, die Maßnahmen zur städtischen Selbstverwaltung wieder aufzugreifen, scheiterten am Widerstand des frisch ernannten Innenministers Nikolaj Ignat’ev. Dieser argumentierte, dass es in einer „für Russland schweren Zeit“ unbedingt zu vermeiden sei, „gefährliche und schädliche Hoffnungen zu wecken.“ Denn: „Die Ereignisse, die dem Aufstand von 1863 vorausgingen, haben gezeigt, dass derartige Konzessionen, die Polen niemals befriedigen können.“16 Angesichts der Blockade der zentralen Behörden und der politischen Neuausrichtung, die Alexander III. betrieb, war Al’bedinskij schnell bewusst, dass weiterführende Reformen im Königreich nicht mehr umzusetzen waren. Dazu kam, dass die antijüdischen Pogrome, die am Weihnachtsfest 1881 vor allem Warschau erschütterten, die Lage im Weichselland erheblich destabilisierten.17

|| 13 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.5ob–6, l.35ob und l.36ob. 14 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.43a–43 g [Kopie der Kommentare und Beschlüsse des Kaisers, Brief Nr. 31, 6.1.1881]. 15 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.45a–81 [Sitzung des Komitees für die Angelegenheiten des Königreichs Polen, 10.2.1881]. 16 AGAD, KGGW, sygn.1767, kart.3–5v [Brief des Innenministers Ignat’ev an den WGG, 28.6.1881], hier kart.3–4. 17 Vgl. Frank Golczewski: Polnisch-jüdische Beziehungen 1881–1922. Eine Studie zum Antisemitismus in Osteuropa, Wiesbaden 1981, S. 41–51; Michael Ochs: Tsarist Officialdom and antiJewish Pogroms in Poland, in: John Doyle Klier/Shlomo Lambroza (Hrsg.): Pogroms: Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge 1992, S. 164–189.

5.3 Iosif Vladimirovič Romejko-Gurko | 89

Bis zu seinem frühen und überraschenden Tod 1883 hat sich Al’bedinskij nicht weiter um eine Neugestaltung imperialer Herrschaft in den polnischen Provinzen bemüht. Mit der Ernennung Iosif Vladimirovič Romejko-Gurkos zum Generalgouverneur wurde die liberale Phase im Königreich abrupt beendet.

5.3 Iosif Vladimirovič Romejko-Gurko So sehr die beiden Generalgouverneure Al’bedinskij und Gurko gewisse Karrieremuster der Laufbahn eines hohen Beamten im Zarenreich teilten, so sehr unterschieden sie sich in ihren Vorstellungen davon, welche Gestalt das Russische Reich anzunehmen habe und wie effektive imperiale Politik zu betreiben sei. Auch der 1828 geborene Gurko hatte eine beachtliche militärische Karriere vorzuweisen und den Titel des Generals der Kavallerie erworben. Gurko hatte eine Erziehung im Pagenkorps und im Gardehusarenregiment hinter sich, war am Krimkrieg beteiligt gewesen und wurde 1860 Flügeladjutant des Zaren Alexander II. Während der Niederschlagung des polnischen Januaraufstands und vor allem während des Russisch-Türkischen Kriegs 1877–78 hatte sich Gurko mehrfach ausgezeichnet.18 Den Kriegen folgte eine Beamtenkarriere in der Staatsverwaltung. 1879 wurde Gurko zum Generalgouverneur von Sankt Petersburg und 1882 von Odessa ernannt. Während seiner Amtszeit im Königreich von 1883 bis 1894 wurde Gurko 1886 zudem zum Mitglied im Reichsrat erhoben. Erst 1894 wurde er – offiziell wegen der Verschlechterung seines Gesundheitszustands – vom Posten des Warschauer Generalgouverneurs entbunden.19 Bereits in seinem ersten ausführlichen Bericht aus dem Weichselland machte Gurko klar, dass er einen radikalen Kurswechsel ansteuerte und viele der Maßnahmen seines verstorbenen Vorgängers für falsch hielt. Das Schreiben, das der Generalgouverneur 1883 an Alexander III. richtete, wirkt in der Retrospektive wie eine Ankündigung des politischen und administrativen Programms, das Gurko in den langen elf Jahren seiner Amtszeit in den polnischen Provinzen verfolgen sollte.20

|| 18 Vgl. H. Hinze: Gurko und Suleiman Pascha. Die russischen-türkischen Operationen in Bulgarien und Rumelien während des Kriegs 1877–78, Berlin 1880. 19 Gurko verstarb allerdings erst 1901. Vgl. zu weiten Teilen seiner Vita G. M. Ščebatov: Russkij gubernator v Pol’še, in: Russkaja starina, Nr. 42 (Juni 1884), S. 595–616 und Nr. 43 (August 1884), S. 399–410; Aleksej A. Sidorov: Russkie gosudari v Varšave, Warschau 1897. 20 AGAD, KGGW, sygn.1773, kart.19–53v [Bericht des WGG Gurko an Alexander III., 25.12.1883].

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Abb. 7: Iosif Vladimirovič Romejko-Gurko (1828–1901). Generalgouverneur im Königreich Polen von 1883 bis 1894. Photographie von Šejndel‘ und Vasilev (1874)

Gurko teilte keinesfalls die Einschätzung Al’bedinskijs, dass die offensichtliche Verbesserung der ökonomischen Bedingungen auch die wünschenswerten politischen Tendenzen im Weichselland bestärkt hätten. Im Gegenteil: Der Staat durchlebe aktuell eine Periode der sozialen sowie politischen Erschütterungen und vor allem sei die sozialistische Propaganda im Königreich sehr ernst zu nehmen. Zudem habe sich, so Gurko, bisher immer gezeigt, dass die Polen jene Rechte, die ihnen gewährt wurden, missbraucht und zum Schaden der Regierung eingesetzt hätten.21 Derzeit würden zwei konträre Bewegungen in der polnischen Gesellschaft vorherrschen. Die „vernünftige und ernsthafte polnische Minderheit“ habe sich von der Illusion der „Wiederauferstehung der Selbstständigkeit und eines unabhängigen Vaterlands“ verabschiedet. Angesichts dieser Lage und der generellen „Leichtgläubigkeit und Erregbarkeit, die dem polnischen Nationalcharakter zu eigen sind“, werde die Gewährung von ländlichen und städtischen Selbstverwaltungsrechten nur eine Vielzahl an Schwierigkeiten für die Regierung hervorrufen. Er könne als Generalgouverneur daher || 21 AGAD, KGGW, sygn.1773, kart.23v–25.

5.3 Iosif Vladimirovič Romejko-Gurko | 91

eine Einführung der Selbstverwaltungsorgane im Weichselland nur entschieden ablehnen. Wegen der bedrohten staatlichen Autorität sei es vordringlich, dass sich die Petersburger Herrschaft endlich wieder als feste und stabile Macht im Königreich präsentiere.22 Das in diesem Bericht aufscheinende Denken und die daraus abgeleiteten Konzeptionen imperialer Herrschaftspraxis sollten für die lange Dekade der Gurko’schen Amtsführung charakteristisch sein. Die Angst vor einer Erosion staatlicher Autorität sowie einer bedrohlichen Dynamik, die mögliche Reformen und Konzessionen im Königreich anstoßen würden, war handlungsleitend für die administrativen Optionen des Generalgouverneurs. Es war in diesem Sinn eine „negative Polenpolitik“, die Gurko praktizierte. Es ging ihm primär um die Stabilisierung Petersburger Oberhoheit im Weichselland, die er in beständiger Gefahr sah. Einer solchen Festungsmentalität verhaftet, sah er in einer auf die Integration der lokalen Bevölkerung setzenden Politik vor allem das Signal staatlicher Schwäche, das das polnische Gegenüber nur zu weiteren Forderungen einlüde. Der Staat müsse jedoch als monolithisches Bollwerk erscheinen und dürfe in seiner Außenwirkung keinesfalls den Eindruck von Wankelmut und Nachgiebigkeit erwecken. Es war dies zugleich auch ein Rückzug auf eine Position, die unter erfolgreicher Administration vor allem die Sicherung von öffentlicher Ordnung verstand.23 Alle darüber hinausgehenden Reformmaßnahmen betrachtete Gurko als unnötige, unter den besonderen Bedingungen des Weichsellands gar als staatsbedrohende Experimente. Zugleich gehörte zum Kern von Gurkos Amtsauslegung die Betonung eines grundsätzlichen Vorrangs des Russischen im Imperium. Wie Zar Alexander III. unterstrich auch der Generalgouverneur den russischen Charakter des Reichs. Vor allem die Sprachenfrage erhielt unter solchen Vorzeichen eine gesteigerte Symbolbedeutung: In der Durchsetzung der russischen Sprache im öffentlichen Leben manifestierte sich die Fähigkeit der Administration, auch im peripheren Weichselland das Russische zur Geltung zu bringen und ihm zur Dominanz zu verhelfen. Deshalb unterstrich auch Alexander III. bei seinem Besuch im Königreich, wie positiv ihm die Russischkenntnisse der polnischen Bevölkerung aufgefallen seien; deshalb bestand Gurko darauf, auf seinen festlichen Empfängen Russisch zu sprechen.24

|| 22 AGAD, KGGW, sygn.1773, kart.26v–27 und kart.31. 23 AGAD, KGGW, sygn.1773, kart.27ob. 24 Zu Alexanders III. Besuch GARF, f.215, op.1, d.915, l.4ob und ll.6ob–8 [Vortrag beim Festkomitee zum Besuch Alexanders III., ohne Datum].

92 | 5 Die imperiale Verwaltung und der „persönliche Faktor“

Hierzu passte es auch, dass der Generalgouverneur den Lektor für russische Sprache an der Warschauer Universität Platon Kulakovskij zum Chefredakteur des Varšavskij dnevnik, der lokalen Regierungszeitung, machte. Kulakovskij entwickelte sich in den Jahren seiner Redaktionstätigkeit von 1886 bis 1892 von einem Vertreter einer eher unspezifischen Privilegierung „alles Russischen“ zu einem pointierten Nationalisten, der sich der Parole „Russland den Russen“ verschrieb.25 Auch an der Kaiserlichen Universität in Warschau betrieb Gurko eine ähnlich Personalpolitik: Bereits 1883 hatte der Generalgouverneur die Ernennung Nikolaj Lavrovskijs zum Rektor der Hochschule befürwortet. Lavrovskijs bis 1890 dauernde Amtszeit zeichnete sich durch verstärkte Bemühungen aus, russische Professoren an die Weichsel zu berufen. Zudem betrieb der Sprach- und Literaturwissenschaftler den Ausbau der russischen Philologie an der Universität. In seinen zahlreichen Festreden wurde er nicht müde, die Bedeutung der russischen Kultur für die Slawengemeinschaft allgemein und für das Weichselland im Besonderen zu betonen.26 Und nicht zuletzt gehörte auch eine Verschärfung der Zensurpolitik gegenüber der polnischen Presse und Publizistik zu einer solchen programmatischen Ausrichtung der Gurko’schen Administration, die das öffentliche Leben der polnischen Gesellschaft höchst misstrauisch beäugte. Kennzeichnend für Gurko war das für die Zeit typische Zusammendenken „des Russischen“ und der orthodoxen Konfession. Die Privilegierung der Orthodoxie war zuallererst ein Mittel, um die Dominanz des Russischen im Königreich zu manifestieren. Die zahlreichen orthodoxen Kirchenbauten der Gurko’schen Amtsperiode zielten weniger auf eine rechtgläubige Missionierung der katholischen Bevölkerung, als dass sie die dauerhafte Präsenz der russischen Herrschaft in Polen signalisierten.27 Die Pläne zur Errichtung der pompösen Aleksandr-Nevskij-Kathedrale im Zentrum Warschaus, die Gurko zu seinem persönlichen Anliegen machte, waren dennoch dazu geeignet, die Entfremdung

|| 25 Vgl. Platon A. Kulakovskij: Poljaki i vopros ob avtonomii Pol’ši, St. Petersburg 1906; Platon A. Kulakovskij: Pol’skij vopros v prošlom i nostajaščem, St. Petersburg, 1907. Zu Kulakovskijs Vita vgl. Aleksandr A. Bašmakov: Pamjati Platona Andreeviča Kulakovskogo, Petrograd 1915. 26 Siehe Lavrovskijs Reden an der Warschauer Universität: Nikolaj A. Lavrovskij: Reč, proiznesennaja na toržestvennom akte Imperatorskogo Varšavskogo universiteta, in: Varšavskie universitetskie izvestija, Nr. 9 (1884), S. 3–8; Nr. 6 (1886), S. 3–12; Nr. 6 (1887), S. 3–4; Nr. 6 (1888), S. 1–5; und Nr. 6 (1890), S. 1–10. Vgl. auch Anton S. Budilovič: Pamjati N. A. Lavrovskogo, Jur’ev/Dorpat 1899; Konstantin Ja. Grot: N. A. Lavrovskij (nekrolog), St. Petersburg 1900. 27 Vgl. dazu auch L. E. Gorizontov: Paradoksy imperskoj politiki.

5.3 Iosif Vladimirovič Romejko-Gurko | 93

zwischen den zarischen Autoritäten und der polnischen Gesellschaft weiter zu vertiefen.28 Derartige Maßnahmen, Personalentscheidungen und Projekte riefen bei der indigenen Bevölkerung Verbitterung und Widerstand hervor. Zugleich sollte dennoch nicht übersehen werden, dass sich Gurkos Herrschaftspraxis keinesfalls zu einer Programmatik verdichtete, die zu einer aktiven Politikgestaltung gereicht hätte. Gerade auch im Gegensatz zum Geschehen in den Ostseeprovinzen, in denen sich zeitgleich eine systematische Politik zur administrativen Angleichung abzeichnete, oder gar im Kontrast zur preußischen Herrschaftspraxis in Posen, die Formen einer bewusst steuernden Boden- und Bevölkerungspolitik annahm, erscheint die Gurko-Zeit im Königreich als relativ behäbig und keinesfalls interventionistisch.29 Das, was an Integration des Königreichs in das Imperium in den 1860–70er Jahren erzwungen worden war, erfuhr hier keine weitere Vertiefung. Handlungsleitend für Gurkos Regiment war die Absicherung der russischen Herrschaft und damit eine passive Politikausrichtung hin auf die Maxime der Bewahrung von „Ruhe und Ordnung“ und die Verwaltung eines status quo. Eine solche grundsätzliche Präferenz für die passive Ausrichtung zarischer Administration führte sogar dazu, dass Gurko auch einer zu aktiven Russifizierungspolitik mit Skepsis begegnete. So kritisierte der Generalgouverneur die Apuchtin’sche Bildungspolitik überraschend scharf. Diese habe, so Gurko, dazu geführt, dass „an den staatlichen Schulen des Königreichs dem polnischen Kind [...] direkt feindlich begegnet werde. Man macht ihm seine polnische Herkunft zum Vorwurf, beleidigt seine nationalen Gefühle, seiner Religion begegnet man mit Vorbehalten, seine Muttersprache gibt man seinen Platz nur nach den ausländischen Sprachen – französisch und deutsch.“30 Gurko hatte hier vor allem die negativen Auswirkungen der Polonophobie von Schulleitung und Lehrerschaft vor Augen. „Kehrt es nach Hause, vermittelt das Schulkind seinen Eltern, die sich ohnehin nicht durch Liebe zur russischen Nation auszeichnen, diese

|| 28 Siehe dazu ausführlicher Malte Rolf: Russische Herrschaft in Warschau: Die AleksandrNevskij-Kathedrale im Konfliktraum politischer Kommunikation, in: Walter Sperling (Hrsg.): Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich 1800–1917, Frankfurt/Main 2008, S. 163–189. 29 Vgl. u. a. Michael H. Haltzel: Der Abbau der deutschen ständischen Selbstverwaltung in den Ostseeprovinzen Russlands. Ein Beitrag zur Geschichte der russischen Unifizierungspolitik 1855–1905, Marburg 1977, S. 70–82; Gert von Pistohlkors: Ostseeprovinzen, S. 390–402. Zur preußischen Politik vgl. Thomas Serrier: Provinz Posen, Ostmark, Wielkopolska. Eine Grenzregion zwischen Deutschen und Polen 1848–1914, Marburg 2005, S. 40–62, S. 78–84 und S. 236–243. 30 GARF, f.215, op.1, d.94, l.34 [Auszüge aus dem Bericht des WGG Imeretinskij, 12.1.1898].

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Beleidigungen, die es in der Schule erfährt. [...] Eine solche herzlose Einstellung zum Schüler führt natürlich genau zum gegenteiligen Resultat als dem, das sich die Regierung von diesen Schuleinrichtungen verspricht: Sie entwickeln beim Schüler nicht die Liebe zu Russland, sondern zwingen ihn im Gegenteil dazu, schon in jungen Jahren alles Russische zu hassen, das ihm in seinen besten Jahren soviel Beleidigungen und bittere Tränen zugefügt hat.“31 Diese scharfe Kritik macht zugleich deutlich, wie sehr die lange Dekade der Amtsleitung Gurkos durch zahlreiche Widersprüchlichkeiten gekennzeichnet war. Eine stärkere Betonung des Russischen und der Orthodoxie standen neben der Skepsis gegenüber einem interventionistischen Russifizierungskurs. Zudem ermöglichte der Generalgouverneur das Wirken expliziter Vertreter einer Ausgleichspolitik: Gurko ließ nicht nur Männern wie Apuchtin große Spielräume, er tolerierte ebenso das weitreichende Engagement des Warschauer Stadtpräsidenten Sokrat Starynkevič und ernannte mit Konstantin Miller persönlich einen Befürworter propolnischer Konzessionen zum einflussreichen Piotrkówer Gouverneur. Starynkevič wurde mit seiner weitsichtigen Modernisierungspolitik für die städtische Infrastruktur der Weichselmetropole und mit seiner bewussten Integration von Vertretern der lokalen Stadtgesellschaft in die Entscheidungsgremien des Magistrats zu dem zweifellos beliebtesten zarischen Beamten im Königreich. Hier erstaunt, dass der Stadtpräsident während seiner langen Amtsperiode kaum in Konflikt mit dem Generalgouverneur geriet, sondern Letzterer im Gegenteil bereit war, die Projekte von Starynkevič in Petersburg zu unterstützen.32 Ähnliches gilt für die Tätigkeit des Gouverneurs Miller, der sich bereits in seiner Zeit als Vizegouverneur im Kielcer Bezirk und dann vor allem als Płocker Gouverneur den Ruf eines Beamten erworben hatte, der das Gespräch mit der lokalen Gesellschaft suchte und somit die Politik seines ursprünglichen politischen Patrons Al’bedinskij nach dessen Tod fortsetzte. Gurko beförderte Miller nicht nur 1890 in die Schlüsselposition des Piotrkówer Gouverneurs, sondern unterstützte ihn auch maßgeblich, als Miller im Rahmen einer Denunziation unter Verdacht des Amtsmissbrauchs geriet.33 Eine ähnlich uneindeutige Perso-

|| 31 GARF, f.215, op.1, d.94, l.34. 32 Starynkevič war von 1875 bis 1892 Warschauer Stadtpräsident. Er selbst beschreibt die Unterstützung durch den Generalgouverneur in seinen Memoiren. Vgl. Sokrates Starynkiewicz: Mój Dziennik, in: Rocznik Warszawski, XXXI (2002), S. 191–222, v. a. S. 201–222; Sokrates Starynkiewicz: Dziennik 1887–1897, Warschau 2005. 33 Miller hatte seine Amtslaufbahn im Königreich unter Al’bedinskij begonnen, war 1885– 1887 Vizegouverneur in Kielce und 1887–1890 Gouverneur in Płock. Das Amt des Piotrkówer Gouverneurs übte er 1890 bis 1904 aus. Zur Denunziation vgl. AGAD, KGGW, sygn.6481, kart.2– 38v [Schreiben Millers an den an den WGG Gurko, 14.11.1894].

5.4 Pavel Andreevič Šuvalov und Aleksandr Konstantinovič Imeretinskij | 95

nalpolitik Gurkos lässt sich ebenso bei der Besetzung des Warschauer Gouverneurspostens – und damit wichtigsten im Königreich – nachzeichnen. Hatte Gurko den Warschauer Gouverneur Nikolaj Medem, ein enger Vertrauter der Generalgouverneure Kocebu und Al’bedinskij und Verfechter der Reformen Al’bedinskijs, anfänglich noch auf das Schärfste kritisiert, so war die nächste Dekade des nachbarschaftlichen Dienstes weitgehend von Konfliktlosigkeit gekennzeichnet.34 Allen solchen Ambivalenzen der Gurko’schen Amtszeit zum Trotz lässt sich diese lange Dekade kaum als Periode der Kooperation von zarischer Bürokratie und lokaler Gesellschaft charakterisieren. Selbst Vertreter des Warschauer Positivismus oder konservative Verfechter des Ausgleichs sahen sich von der schroffen Art des Generalgouverneurs abgestoßen. Kaum einer von ihnen dürfte betrübt gewesen sein, als Gurko 1894 nach der Abberufung durch den neuen Zaren den Sonderzug nach Petersburg bestieg.35

5.4 Pavel Andreevič Šuvalov und Aleksandr Konstantinovič Imeretinskij Wie bereits sein Vater, so nutzte auch Nikolaus II. seine Thronbesteigung, um wesentliche personelle Veränderungen im Königreich zu veranlassen. Die Ablösung Gurkos durch den als moderat geltenden Pavel Andreevič Šuvalov war nur eine der wichtigen Personalentscheidungen dieser Jahre, die Versetzung Apuchtins 1897 und die Ernennung des liberalen Mathematikprofessors Valerian Nikolaevič Ligin zum Kurator des Warschauer Lehrbezirks eine andere.36 Diese Veränderungen trugen dazu bei, dass sich für eine kurze Zeit die Hoffnung auf eine „Ära des Wandels“ bei der polnischen Öffentlichkeit auftat und es zu einer tatsächlich produktiven Zusammenarbeit von Teilen der lokalen Gesellschaft mit dem zarischen Verwaltungsapparat kam. Vor allem Šuvalovs Nachfolger Aleksandr Konstantinovič Bagration-Imeretinskij kam hier eine entscheidende Rolle zu. Šuvalov wurde wegen seiner angeschlagenen Gesund|| 34 AGAD, KGGW, sygn.1767, kart.3–5v [Brief des Innenministers Ignat’ev an den WGG Al’bedinskij, 28.6.1881], hier kart.4–4v. Siehe zu Medem auch Enciklopedičeskij slovar’, hrsg. von F. A. Brokgaus und I. A. Efron, Bd. 18 A, St. Petersburg 1896. 35 Vgl. auch Maria z Łubieńskich Górska: Gdybym mniej kochała: Dziennik lat 1889–1906 (I), S. 217–223. 36 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.25–27ob und ll.33ob–34 [Auszüge aus dem Bericht des WGG, 12.1.1898]. Vgl. Erazm I. Pil’c: Povorotnyj moment v russko-pol’skich otnošenijach, St. Petersburg 1897, bes. S. 5–12.

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Abb. 8: Aleksandr Konstantinovič Bagration-Imeretinskij (1837–1900). Generalgouverneur im Königreich Polen von 1896 bis 1900. Photographie von J. Mieczkowski

heit bereits nach zwei Jahren vom Generalgouverneursposten entbunden. Wenngleich Imeretinskij selbst das Amt auch nur vier Jahre lang ausübte, so fallen in die Periode von 1896 bis 1900 doch etliche Entscheidungen, die zwar nicht die Grundstruktur, aber doch den Stil imperialer Herrschaft im Weichselland merklich ändern sollten.37 Imeretinskij war ein georgischer Prinz und General der zarischen Armee, der bereits während der Niederschlagung des Januaraufstands seine ersten Erfahrungen in den polnischen Provinzen gesammelt hatte. Wie Gurko und Al’bedinskij wurde auch Imeretinskij im Pagenkorps erzogen, besuchte anschließend die Nikolaj-Generalstabsakademie und wurde in den 1850er Jahren

|| 37 Graf und General der Infanterie Pavel A. Šuvalov (1830–1908) hatte seine Erziehung ebenfalls im Pagenkorps erhalten und war während seiner militärischen Karriere im Krim- und dem Russisch-Türkischen Krieg zum Einsatz gekommen. Vor allem aber hatte er sich durch seine Diplomatentätigkeit in Berlin ausgezeichnet: Er hatte als russischer Botschafter in den 1890er Jahren zur Beilegung des „Zollkriegs“ sowie zum Abschluss des deutsch-russischen Vertrags von 1894 beigetragen. Auch Šuvalov wurde vom Kaiser zum Mitglied des Reichsrats ernannt. Siehe zu seiner Person Enciklopedičeskij slovar’, hrsg. von F. A. Brokgaus und I. A. Efron, Bd. 39 A, St. Petersburg 1903.

5.4 Pavel Andreevič Šuvalov und Aleksandr Konstantinovič Imeretinskij | 97

zu militärischen Einsätzen in den Kaukasus beordert. Während seiner Teilnahme an der Niederwerfung der polnischen Erhebung gewann er das Vertrauen des Statthalters Berg, der seine Ernennung zum Stabschef der Truppen in Warschau 1867 erwirkte. 1873 erfolgte Imeretinskijs Beförderung zum Stabschef des gesamten Warschauer Wehrbezirks. Er verbrachte damit mehr als eine Dekade seiner militärischen Karriere im unruhigen Weichselland. Während des Russisch-Türkischen Kriegs nahm Imeretinskij 1877 an der Belagerung von Plewna und dem Übergang über den Balkan teil. Alexander III. schließlich beförderte ihn 1881 zum Generalstaatsanwalt und zum Leiter der obersten Direktion der Militärjustiz – Ämter, die Imeretinskij bis 1891 ausübte. 1892 wurde er vom Kaiser zum Mitglied im Reichsrat ernannt. 1896 erfolgte seine Berufung als Warschauer Generalgouverneur.38 Trotz seiner Beteiligung an der Aufstandsniederschlagung und der militärischen Absicherung der Petersburger Herrschaft in den 1860–70er Jahren galt Imeretinskij schon zum Zeitpunkt seiner Ernennung zum Generalgouverneur als Verfechter eines russisch-polnischen Dialogs. Laut des Historikers Sergej Tatiščev formulierte Imeretinskij seine Mission mit folgenden Worten: „Wir wollen den Polen durch Taten beweisen, dass die russische Macht für ihre Bedürfnisse und Vorteile Sorge trägt und jederzeit bereit ist, dafür – soweit sie zuständig ist – nicht nur die materiellen Interessen, sondern auch ihre geistigen Belange zu schützen. Dies unter einer unabänderlichen Bedingung: dass sie zu treuen Untertanen des Kaisers des Russländischen Imperiums werden und sich selbst als Bürger des einen und unteilbaren russischen Zarenreichs erklären.“39 Damit waren die Grundsätze der Amtszeit Imeretinskijs benannt. Es ging dem neuen Generalgouverneur um die Intensivierung der Zusammenarbeit mit jenem Teil der polnischen Gesellschaft, der bereit war, den Tatbestand der endgültigen Inkorporation Polens in das Russische Reich zu akzeptieren. Denn grundsätzlich war Imeretinskij von der Einsicht geleitet, dass eine langfristige Stabilisierung der polnischen Provinzen nur möglich sein könne, wenn zumindest gewichtige Gruppen der lokalen Bevölkerung sich affirmativ zur Petersburger Herrschaft verhielten. Die vom Generalgouverneur initiierten Reformen und Konzessionen zielten in die Richtung einer Rückgewinnung des „Vertrauens“ seitens der Polen. Es ging weniger darum, den Aufbau der imperialen Verwal-

|| 38 Vgl. zur Vita von Prinz Bagration-Imeretinskij (1837–1900) Enciklopedičeskij slovar’, hrsg. von F. A. Brokgaus und I. A. Efron, Bd. 12 A, St. Petersburg 1894. 39 Zitiert nach Voennaja enciklopedia Sytina, hrsg. von Ivan D. Sytin, Bd. 10, St. Petersburg 1912.

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tung grundlegend zu ändern, als in den umkämpften Symbolfeldern Gesprächsund Kompromissbereitschaft anzudeuten. Imeretinskijs erster ausführlicher Bericht aus dem Königreich liest sich hier wie eine programmatische Schrift zu seinen Reformabsichten.40 Das zentrale Feld seiner Tätigkeit war die Bildungspolitik. Ob er die Abberufung Apuchtins anregte, bleibt ungeklärt. Dessen Abschied vom Weichselland 1897 nutzte Imeretinskij jedoch zu einer Generalabrechnung mit der Bildungsadministration des Kurators. Es gebe infolge der fehlgeleiteten Schulpolitik der letzten 18 Jahre zahlreiche Defizite an den niederen und mittleren Bildungsstätten. Vor allem die allgemeine polenfeindliche Einstellung in den Schulen müsse dringend geändert werden. Das Ziel sei die Schaffung einer neuen staatlichen Schule, die „durch ihre innere moralische Stärke und nicht durch die Unterdrückung von wehrlosen Kindern und ihren Eltern Einfluss nehmen will. [...] Nur eine solche Schule kann in Zukunft als wahres Verbindungsglied zwischen der polnische Okraina und dem Kerngebiet russischer Staatlichkeit dienen.“41 Daher solle die Schulerziehung eine der wichtigsten Sorgen der Regierung sein. „Weil hier ein Element der Vereinigung der Okraina mit dem Zentrum vorliegt, das nicht nur als System der Verbote oder in der rein materiellen Verbindung ökonomischer Interessen besteht, sondern auf dem Weg der inneren Einflussnahme auf das Bewusstsein, auf die Seele der polnischen Jugend wirkt.“42 Der Generalgouverneur hoffte also, mit der grundsätzlichen Respektierung gewisser „polnischer Besonderheiten“ und ihrer Berücksichtigung im Schulalltag zugleich eine engere Anbindung der polnischen Untertanen an das russische „Kernland“ zu bewirken. Aus diesen Grundsatzüberlegungen abgeleitet, strebte Imeretinskij vor allem die Aufwertung der polnischen Sprache in den Grund- und Mittelschulen an.43 Zugleich plante der Generalgouverneur eine staatlich kontrollierte Bildungsinitiative für breitere Kreise der lokalen Bevölkerung. Er plädierte für die Einrichtung von „Volksbibliotheken“, die zugleich den positiven Effekt haben sollten, die illegalen und ausländischen Schriften, die im Weichselland bei den lesekundigen Untertanen kursierten, zurückzudrängen. Und auch im Bereich der höheren Bildungseinrichtungen trat Imeretinskij für ein Umdenken ein. So

|| 40 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.7–38 [Auszüge aus dem Bericht des WGG Imeretinskij zum Jahr 1897, 12.1.1898]. 41 GARF, f.215, op.1, d.94, l.34ob. 42 GARF, f.215, op.1, d.94, l.11. 43 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.55ob–58ob [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898]; GARF, f.215, op.1, d.89, ll.1–65 [Akten zum Gesetz vom 25.6.1897, 1897–98].

5.4 Pavel Andreevič Šuvalov und Aleksandr Konstantinovič Imeretinskij | 99

protegierte er die polnische Forderung nach der Einrichtung eines Polytechnischen Instituts in Warschau.44 Sehr viel weniger Greifbares ergab sich aus Imeretinskijs Absichtserklärung, dass er eine Einführung der städtischen Selbstverwaltung nach den Statuten von 1892 im Königreich in Petersburg unterstützen werde. Zeitgenössische Verfechter des Projekts, auch in den Städten des Weichsellands eine Stadtduma und ein Stadtoberhaupt per Wahl zu bestimmen und diesen wichtige Bestandteile der urbanen Administration zu übergeben, begrüßten Imeretinskijs Ankündigung mit Begeisterung.45 Es sollte hier jedoch bei einer grundsätzlichen Befürwortung durch den Generalgouverneur bleiben. Anders als sein Vorgänger Al’bedinskij unternahm Imeretinskij keinen Versuch, einen konkreten Entwurf gegen den Widerstand der Petersburger Instanzen durchzusetzen. Für das größte Aufsehen sorgte der Gesandte des Zaren jedoch mit einem Akt der Symbolpolitik: Keine administrative Maßnahme des Generalgouverneurs beschäftigte die polnische Öffentlichkeit derart wie Imeretinskijs Genehmigung eines Adam-Mickiewicz-Denkmals in Warschau. Die 1897–98 gebaute und eingeweihte Statue durfte direkt im Zentrum Warschaus am Krakowskie Przedmieście ihren Standort nehmen. Sie war derart voluminös, dass ihre Errichtung einer kompletten Neugestaltung dieses wichtigen Straßenabschnitts gleichkam.46 Dass der Generalgouverneur seine Einwilligung zum Denkmal gab, war als symbolischer Akt der Versöhnung gedacht, mit dem das polnische Vertrauen in die imperialen Autoritäten befördert werden sollte. Wie schwierig ein solches Unterfangen war, zeigt jedoch der Tatbestand, dass die polnischen Honoratioren aus Protest gegen die Vorzensur ihrer Redemanuskripte die Statue in kollektivem Schweigen der Öffentlichkeit übergaben.47 Dennoch führte das Denkmal sichtbar vor Augen, dass nun im Königreich polnische Ansprüche zumindest auf kulturelle Repräsentationsinsignien im öffentlichen Raum umsetzbar waren. Dies motivierte nicht nur im Kontrast zur erst jüngst vergangenen „Doppelherrschaft“ von Gurko und Apuchtin etliche Meinungsträger der polnischen Gesellschaft dazu, an ein neues Zeitalter der Versöhnung und eine Ära des Wandels zu glauben. Auch mit Blick auf die Situation in den benachbarten Teilungsgebieten sah die Lage im Königreich in Imeretinskijs Zeiten hoffnungsvoll aus. || 44 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.11–14 [Auszüge aus dem Bericht des WGG, 12.1.1898]. 45 Vgl. Adol’f Suligovskij: Gorodskoe upravlenie v gubernijach Carstva Pol´skogo, in: Vestnik Evropy, 37:6 (1902), S. 675–697, hier S. 697. 46 APW, t.151, cz.3 (KGW), sygn.543, kart.24–29v [Bericht des Leiters des Warschauer Uezd Brinken, 10.11.1897]. 47 Vgl. dazu im Detail auch Patrice M. Dabrowski: Commemorations and the Shaping of Modern Poland, Bloomington 2004, S. 148–156.

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Dagegen schien nicht nur in Preußen der Druck einer Germanisierungspolitik immer mehr zuzunehmen, auch in den nordwestlichen Gebieten gewannen die antipolnischen Maßnahmen eher wieder an Vehemenz. Und auch die Nachrichten, die zeitgleich aus den Ostseeprovinzen und aus Finnland eintrafen, dürften polnische Zeitungsleser kaum ruhiger gestimmt haben. Während in Helsingfors 1899 der mit Sondervollmachten ausgestattete neue Generalgouverneur Nikolaj Bobrikov die finnische Verfassung aufhob, waren auch die Gouvernements Livland, Kurland und Estland von einer Intensivierung der Unifizierungspolitik und einer Forcierung des Russischen im Bildungsbereich gekennzeichnet.48 Angesichts solcher Entwicklungen in anderen, vergleichbaren Reichsrandgebieten vermochten die vorsichtigen Reformbemühungen des Warschauer Generalgouverneurs tatsächlich zunächst einen Teil der polnischen Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass zumindest im Königreich nun Zeiten des Wandels angebrochen seien. Es war dies die letzte Hochphase der Ugodowcy, der konservativen Vertreter einer Ausgleichspolitik, sowie der Propagandisten des Warschauer Positivismus, die sich vor allem beim Zarenbesuch von 1897 fast euphorisch entlud. Der viertägige Aufenthalt von Nikolaus II. im sommerlichen Warschau und seine wohlwollenden Äußerungen gegenüber Vertretern der polnischen Gesellschaft wurden von einigen Kommentatoren zum „Wendepunkt“ in den russisch-polnischen Beziehungen stilisiert.49 Hier artikulierte sich die Hoffnung, dass der junge Zar zusammen mit den reformbereiten lokalen Staatsbeamten einige der diskriminierenden Gesetze im Königreich zurücknehmen werde. Hatte Nikolaus nicht kurz nach seiner Thronbesteigung gesagt, dass ihm alle Untertanen gleich nahe stünden, egal welcher Herkunft und Glaubensrichtung sie seien?50 Wie brüchig ein derartiger Dialog jedoch war, zeigte sich schon daran, dass eine jüngere Generation von regimekritischen Aktivisten sich nicht von derart vagen Versprechen und Akten symbolischer Politik überzeugen ließ. Jene Akteure, die sich in den 1890er Jahren an der Formierung von zahlreichen Untergrundorganisationen und -parteien beteiligten, strebten eine grundsätzliche

|| 48 Vgl. u. a. Erich Donnert: Die Universität Dorpat-Jur’ev 1802–1918. Ein Beitrag zur Geschichte des Hochschulwesens in den Ostseeprovinzen des Russischen Reiches, Frankfurt/Main 2007. 49 Siehe Erazm I. Pil’c: Priezd’ Gosudarja Imperatora v Varšavu, in: Erazm I. Pil’c: Povorotnyj moment v russko-pol’skich otnošenijach, St. Petersburg 1897. Vgl. auch ausführlicher Malte Rolf: Der Zar an der Weichsel: Repräsentationen von Herrschaft und Imperium im fin de siècle, in: Jörg Baberowski/David Feest/Christoph Gumb (Hrsg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt/Main 2008, S. 145–171; Malte Rolf: Imperium w Królestwie. Władztwo carskie w Kraju Priwiślańskim, Warschau 2015. 50 Zitiert nach Varšavskij dnevnik, Nr. 221 (20.8.1897), S. 3.

5.5 Michail Ivanovič Čertkov und Georgij Antonovič Skalon | 101

Konfrontation mit den zarischen Autoritäten an und forderten eine gesellschaftliche Umgestaltung, die den Rahmen des Imperiums und der Monarchie überhaupt sprengte.51 Aber auch im Lager der kompromissbereiten Ugoda-Verfechter war der Glaube an Imeretinskijs Reformabsichten schnell aufgebraucht. Als 1899 Auszüge aus Imeretinskijs Berichten und ihrer Verhandlung in St. Petersburg ins Ausland geschmuggelt und in London publiziert wurden, erschütterten die Dokumente selbst das konservative Meinungsspektrum.52 Denn hier wurde das grundsätzliche Misstrauen des Generalgouverneurs gegenüber der polnischen Gesellschaft und seine allgegenwärtige Kontrollfixierung deutlich. Zugleich offenbarten die Schriftstücke, dass Imeretinskij an dem Projekt der weiteren „Zusammenführung“ der polnischen Provinzen mit dem russischen Kernland grundsätzlich festhielt und seine Reformen letztlich als Vehikel für diese intensivierte Einbindung betrachtete.53 Ob sich das Verhältnis bei einer längeren Amtszeit Imeretinskijs wieder entspannt hätte, bleibt spekulativ – bereits 1900 verstarb der Generalgouverneur. Dass das Pathos der „Ära des Wandels“ wiederbelebt worden wäre, erscheint allerdings wenig wahrscheinlich. Denn die Krise im Königreich spitzte sich in den Folgejahren schnell zu. Imeretinskijs Nachfolger waren nach der Jahrhundertwende dann auch eher darum bemüht, auf die schnelle Erosion staatlicher Autorität zu reagieren, als sich Gedanken über mögliche Reformprojekte zu machen.

5.5 Michail Ivanovič Čertkov und Georgij Antonovič Skalon Imeretinskijs unmittelbarer Amtsnachfolger, Michail Ivanovič Čertkov, übte die Leitungsfunktion im Königreich nur knappe fünf Jahre aus, bevor er 1905 verstarb.54 Seine Dienstzeit war durch den Versuch gekennzeichnet, die zunehmen-

|| 51 Es gab hier ein breites Spektrum an derartigen Bewegungen, die sich in den 1890er Jahren als Parteien institutionalisierten: z. B. die Polnische Sozialistische Partei (PPS) mit ihrem Pariser Programm von 1893, die Sozialdemokratie des Königreichs Polen (ab 1893 SDKP, ab 1900 Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen, SDKPiL), seit 1897 der Jüdische Bund und die sich erst 1899 offiziell als „Partei“ definierende Nationaldemokratie. 52 Tajny našej gosudarstvennoj politiki v Pol’še. Sbornik sekretnych dokumentov, hrsg. v. Russian Free Press Fund, London 1899. 53 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.7–8 [Auszüge aus dem Bericht des WGG Imeretinskij, 12.1.1898]. 54 Michail I. Čertkov (1829–1905) war General der Kavallerie und ebenfalls Mitglied im Reichsrat. Zu seiner Vita vgl. den knappen Eintrag in: Enciklopedičeskij slovar’, hrsg. von F. A. Brokgaus und I. A. Efron, Bd. 38 A, St. Petersburg 1903.

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den Konflikte zwischen sozialen und ethnischen Gruppen sowie die sich verschärfende Konfrontation zwischen Staatsmacht und weiten Teilen der Bevölkerung in den Griff zu bekommen. Zugleich trieb Čertkov angesichts der Verschärfung internationaler Spannungen seit 1903 eine Politik der „Russifizierung“ sensibler und grenznaher Verwaltungsbereiche voran, in denen er katholische Beamte durch russisch-orthodoxes Personal zu ersetzen beabsichtigte.55 Čertkov waren in keinem dieser Tätigkeitsfelder Erfolge beschieden. Vor allem dem schnellen Zerfall staatlicher Autorität sowie der Ausweitung von Protesten und bewaffneten Konflikten hatte er wenig entgegenzusetzen. Noch bevor die Ereignisse 1905 nach dem Petersburger Blutsonntag im gesamten Imperium eskalierten, hatte die Krise im Weichselland bereits revolutionäre Ausmaße erreicht.56 Daran änderten auch einige Kompromisssignale des zarischen Regimes wenig. Weder das kaiserliche Edikt vom 12. Dezember 1904, das die Aufhebung von diskriminierenden Sonderregelungen im Königreich ankündigte, noch das Edikt zur Religionsfreiheit und zur Revision weiterer antipolnischer Bestimmungen im April 1905 führten zu einer Beruhigung der Lage im Weichselland.57 Im Gegenteil: Der neue, im März 1905 berufene Generalgouverneur Konstantin Klavdievič Maksimovič sah sich mit einer Welle revolutionärer Erhebungen konfrontiert, die zeitweise zum Verlust staatlicher Kontrolle über weite Teile der polnischen Provinzen führte. Erst mit der Abberufung des als entscheidungsschwach geltenden Maksimovič’ im Sommer 1905 und der Ernennung Georgij Antonovič Skalons zum Generalgouverneur sowie der Ausrufung des Kriegszustands gewann das Regime im Königreich die Initiative zurück. Skalon blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1914 in Warschau im Amt.58 Sein Regiment war vor allem in der Frühphase durch harte Repressionen gegen den

|| 55 AGAD, KGGW, sygn.5076, kart.1–3v [Schreiben des Innenministers an den WGG, 21.5.1914], hier kart.1. 56 Siehe Halina Kiepurska: Warszawa w rewolucji 1905–1907, Warschau 1974, S. 60; auch Robert E. Blobaum: Rewoljucja. Russian Poland, 1904–1907, Ithaca 1995, S. 41–44. 57 Vgl. Po primeneiju 7-go punkta Vysočajšego Ukaza ot 12-go dekabrja 1904 g. k žiteljam gubernii Carstva Pol’skogo. Po ograničenijam v prave pol’zovatsja rodnym jazykom. Ograničenija po obučeniju i vospitaniju junošestva. Ograničenija po voennoj i graždanskoj službe, St. Petersburg 1905. 58 Georgij A. Skalon (1847–1914) war General der Kavallerie. Seine militärische Karriere umfasste nicht nur einen Einsatz im Russisch-Türkischen Krieg, sondern auch verschiedene Leitungspositionen im Königreich Polen zwischen 1893 und 1897. Unter anderem übte er die Funktion eines „Generals für besondere Angelegenheiten“ beim Kommandierenden des Warschauer Wehrbezirks aus und kommandierte das Leibgarde Ulanenregiment in Warschau. Nach vier Jahren Dienst unter Šuvalov und Imeretinskij wurde Skalon nach St. Petersburg beordert und dort einige Jahre später – nach einem Dienstintermezzo im Gouvernement

5.5 Michail Ivanovič Čertkov und Georgij Antonovič Skalon | 103

provinzweiten Aufstand gekennzeichnet. Zugleich jedoch betrieb Skalon eine Politik der begrenzten Kooperation mit jenen Teilen der polnischen Gesellschaft, die sich nach 1905 vom angestrebten gewaltsamen Sturz des Zarenreichs distanzierten. In den neun Jahren seiner Amtszeit bestand damit ein Spannungsbogen zwischen der Permanenz eines Ausnahmezustands und der schrittweisen „Normalisierung“ gesellschaftlichen Lebens. Die Sonderbestimmungen des Kriegsrechts und die Entfaltung einer politischen Öffentlichkeit waren ebenso zeitgleiche Phänomene wie zahlreiche neue antipolnische Maßnahmen und die Kontaktaufnahmen zwischen dem Generalgouverneur und dem ehemals feindlichen „nationalen Lager“. Es war eine Phase der Uneindeutigkeit, die zwar unter den Vorzeichen der nationalistischen Wende stand, die Stolypins Politik nach 1907 auszeichnete; sie war aber ebenso von einer mäßigenden Einflussnahme des Generalgouverneurs Skalon gekennzeichnet, dem an der Aufrechterhaltung von öffentlicher Ordnung und damit auch an einem tragfähigen modus vivendi im Königreich gelegen war. Dass es durchaus zu offenen Auseinandersetzungen zwischen dem Premierminister und dem Generalgouverneur kam, hat erheblich dazu beigetragen, dass Skalon zumindest von Teilen der polnischen Öffentlichkeit zunehmend positiver beurteilt wurde.59 Skalons Tod im Februar 1914 fiel bereits in die Zeit der unmittelbaren Vorbereitungen für den heraufziehenden militärischen Konflikt mit dem Deutschen Reich. Evakuierungspläne waren längst erarbeitet worden.60 Nun wurde mit General Jakov Grigorievič Žilinskij der Chef des Generalstabs der zarischen Armee als Generalgouverneur ins Weichselland und damit an den westlichsten Verteidigungsposten des Reichs geschickt. Als sich kurz darauf die Befürchtungen eines Kriegsausbruchs bewahrheiteten, übernahm Žilinskij auch das Kommando an der Nordwestfront. Er leitete den Vorstoß der Ersten und Zweiten Armee nach Ostpreußen und war damit für das militärische Desaster der russischen Streitkräfte in der „Schlacht bei Tannenberg“ im August 1914 mitverant|| Grodno – als einer der Berater des Zaren am Hofe Nikolaus’ II. tätig. Siehe zum Adelsgeschlecht der Skalons auch Enciklopedičeskij slovar’, hrsg. von F. A. Brokgaus und I. A. Efron, Bd. 30, St. Petersburg 1900. 59 Der Gegensatz zwischen Skalon und Stolypin spitzte sich im Rahmen der bereits erwähnten Senatorenrevision von Senator Nejdgart erheblich zu. Dazu kam, dass für die polnische Öffentlichkeit die zeitgleichen Ereignisse in Finnland viel Grund zur Beunruhigung gaben. Zwischen 1907 und 1910 initiierten Stolypin und der neue finnische Generalgouverneur N. N. Gerard eine Reihe von Maßnahmen, die die Autonomie Finnlands erheblich einschränkten. Vgl. dazu Abraham Ascher: P. A. Stolypin. The Search for Stability in Late Imperial Russia, Stanford 2001, S. 302–320. 60 GARF, f.215, op.1, d.119, ll.1–267 [Unterlagen zur Evakuierung von Beamten bei Kriegslage, 1912]; APW, t.25, sygn.324, kart.1–42 [Evakuierungspläne, 1912–1915].

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Abb. 9: Georgij Antonovič Skalon (1847– 1914, links stehend). Generalgouverneur im Königreich Polen von 1905 bis 1914

wortlich. Als erschütternde Details seines Versagens in Petersburg bekannt wurden, wurde er im Herbst 1914 des Kommandos enthoben und als Militärgesandter nach Frankreich versetzt.61 Im Königreich trat General Pavel Nikolaevič Engalyčev an seine Stelle, dessen Aufgabe die Evakuierung Warschaus im Folgejahr war. Im Sommer 1915 verließen die russischen Behörden und ein Großteil der russisch-orthodoxen Bewohner die Weichselmetropole, bevor im August auch die russischen Truppen zunächst aus der Stadt und dann bald aus weiten Teilen des Königreichs abgezogen wurden.62

|| 61 Jakov G. Žilinskij (1853–1918?) war ein General der Kavallerie. Er hatte seine militärische Ausbildung an der Generalstabsakademie erhalten und war im Russisch-Japanischen Krieg zum Stabschef des Statthalters im Fernen Osten, Admiral Evgenij Alekseev, befördert worden. Die Tätigkeit des Generalstabschefs der russischen Armee übte er von 1909 bis 1914 aus. Žilinskij starb im Bürgerkrieg und wurde wahrscheinlich von den Bolschewiki exekutiert. Siehe Encyclopædia Britannica, 12. Aufl., Bd. 32, London/Chicago 1922. 62 Prinz Pavel Nikolaevič Engalyčev (1864–1944) war um die Jahrhundertwende für mehrere Jahre russischer Militärattaché in Deutschland gewesen. Der Exodus der russisch-orthodoxen Stadtbevölkerung war nahezu komplett. Zählte Warschau 1914 noch 40.000 orthodoxe Einwohner, so lebten 1917 nur noch 3.961 Orthodoxe in der Stadt. Vgl. dazu Marta Polsakiewic: Das Gesicht einer Metropole im Krieg. Warschau 1914–1916, Magisterarbeit, Frankfurt an der Oder 2008, S. 38.

5.6 Zehn Gesandte des Zaren | 105

5.6 Zehn Gesandte des Zaren: Die Warschauer Generalgouverneure im Kollektivporträt Ein solches Porträt der Warschauer Generalgouverneure gibt nicht nur einen knappen Überblick über die Geschichte der Petersburger Herrschaft im Weichselland, es verdeutlicht zugleich einige Grundzüge, die diesen „imperial men“63 bei all ihren Differenzen gemeinsam waren. Sie alle teilten die Muster der Ausbildung und Diensterfahrung jener herrschenden Schicht, die die obersten Ämter der zarischen Verwaltungshierarchie monopolisierten. Und sie alle pflegten ein elitäres Selbstbild, in dem sie sich als tragende Säulen funktionierender Staatlichkeit und zugleich als Hüter sowie Multiplikatoren der europäischen Zivilisation im Reich betrachteten.64 Es war nicht nur die Gleichheit des Standes, sondern auch die von imperialen Lebensläufen und beruflichen Karrieren, die den Generalgouverneuren bei allen Divergenzen ähnliche Grundannahmen zur Funktionsweise eines wohlgeordneten Staats vermittelt hatten und für ihre Amtsführung im Königreich Polen handlungsleitend waren.65 Alle zehn Statthalter und Generalgouverneure in der Phase von 1863 bis 1915 waren nicht nur adliger, teilweise hochadliger Herkunft, sie alle hatten auch eine langjährige militärische Laufbahn hinter sich. So zahlreich Männer mit einer zumindest partiellen militärischen Ausbildung auch in der Gouvernementsverwaltung im Inneren Russlands präsent waren, so eindeutig fällt das Urteil für das Königreich aus: Alle hiesigen obersten Beamten waren Generäle der Infanterie oder Kavallerie. Berg trug sogar den Titel des General-Feldmarschalls.66 Dies war dem Tatbestand geschuldet, dass der Warschauer Generalgouverneur in Personalunion auch als Oberkommandierender des Warschauer Militärbezirks und damit eines der strategisch wichtigsten Wehrkreise fungierte. Zugleich verlangte die imperiale Perspektive auf den unruhigen polnischen Landstrich ebenso nach einer militärischen Führung der Provinzen.

|| 63 Auch David Lambert geht – mit Blick auf das Britische Empire – davon aus, dass diese Art von „Männern des Imperiums“ aufgrund ihrer sehr ähnlichen sozialen und bildungsmäßigen Hintergründe sowie der homologen Karrieremuster eine verwandte imperiale Identität entwickelte. Vgl. David Lambert/Alan Lester: Imperial Spaces, Imperial Subjects, S. 17–31. 64 Vgl. Jörg Baberowski: Auf der Suche nach Eindeutigkeit, v. a. S. 482–483 und S. 489–490; Dominic Lieven: Russia’s Rulers, S. 151–152. 65 Zu weiterführenden Überlegungen zu dem Erkenntniswert solcher „imperialer Biographien“ für die Erforschung der Vielvölkerreiche des 19. Jahrhunderts Malte Rolf: Imperiale Biographien. Einleitung; sowie demnächst Tim Buchen/Malte Rolf: Imperiale Karrieren. 66 Vgl. dazu Richard G. Robbins: The Tsar’s Viceroys, S. 32–37.

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Die Ähnlichkeiten in den militärischen Karrieren der Generalgouverneure begannen im frühen Alter. Zur standesgemäßen Ausbildung gehört der Besuch einer der beiden wichtigsten Kaderschmieden in St. Petersburg, des Pagenkorps oder der Nikolajevskoe Kavallerieschule. Von den Warschauer Generalgouverneuren verfügten Al’bedinskij, Gurko, Šuvalov und Imeretinskij über einen Offiziersabschluss im Pagenkorps. Gelegentlich, wie bei Imeretinskij und Žilinskij, schloss sich daran die weiterführende Ausbildung an der Nikolaj-Generalstabsakademie an. Der Dienst in einem der Garderegimenter war ebenfalls ein zentraler Baustein einer erfolgreichen Offizierslaufbahn.67 Zur militärischen Karriere gehörte der Einsatz an Konflikt- und Kriegsschauplätzen. Die Logik eines Imperiums mit unruhigen Randgebieten bedingte es, dass die Warschauer Generalgouverneure über Erfahrungen nicht nur aus dem Krim- beziehungsweise dem Russisch-Türkischen Krieg verfügten, sondern auch zu reichsinneren „Befriedungsmaßnahmen“ abkommandiert worden waren. Etliche von ihnen hatten an Kämpfen im Kaukasus, vor allem aber auch in Polen selbst teilgenommen. Bis zum Generalgouverneur Imeretinskij, dessen Amtszeit erst 1900 endete, verfügten die meisten dieser Beamten über Kenntnisse der Aufstandsniederschlagung in den Reichsrandgebieten aus erster Hand. Ihr Wissen zu den Peripherien des Imperiums erschöpfte sich jedoch keinesfalls darin. Die enge Verquickung von Zivil- und Militäradministration, die in Randprovinzen besonders ausgeprägt war, bedingte, dass in der Regel Offiziere dortige Posten besetzten. Das Rotationssystem der zarischen Verwaltung wiederum sorgte dafür, dass ein Staatsbeamter zu einem geographisch ausgesprochen vielfältigen curriculum vitae kam. Bei den Warschauer Generalgouverneuren waren die Reichsrandgebiete sehr prominent vertreten. Sie verfügten über Diensteinsätze im Kaukasus, in Finnland, den Ostseeprovinzen oder auch in den nord- und südwestlichen Gouvernements. Auch wenn die Petersburger Personalpolitik von einer Vielzahl von Faktoren bestimmt war, die wenig mit der fachlichen Eignung von Beförderungskandidaten zu tun hatten, so wurden in die verantwortungsvollen Posten der sensiblen Reichsrandgebiete doch nur Personen mit ausgewiesener Okraina-Erfahrung berufen.68 Die Karrierelaufbahnen der Generalgouverneure geben zugleich Aufschluss zur Wertigkeit, die dem Warschauer Amt in der Weltsicht der Staatsbürokratie zuteil wurde. Der Posten des Generalgouverneurs im Weichselland war zweifel|| 67 Vgl. u. a. Vladimir Lapin: St. Petersburg – Hauptstadt der Militärs, in: Karl Schlögel/Frithjof Benjamin Schenk/Markus Ackeret (Hrsg.): Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte, Frankfurt/Main 2007, S. 317–330, S. 327–329. 68 Siehe Dominic Lieven: Russia’s Rulers, S. 133–136. Zur Provinzverwaltung vgl. Katya Vladimirov: Provincial Bureaucracy, S. 72–73.

5.6 Zehn Gesandte des Zaren | 107

los sehr weit oben in der administrativen Hierarchie angesiedelt. Es war eine Position, für die man sich durch jahrelangen Dienst in anderen Gouvernements erst qualifizieren musste. Dies dokumentierte sich in dem hohen Durchschnittsalter der Amtsinhaber im Weichselland. Die Generalgouverneure waren bei Bezug des Warschauer Königsschlosses im Durchschnitt älter als 62 Jahre. Petr Al’bedinskij, der mit nur 54 Jahren zum Generalgouverneur berufen wurde, und Pavel Kocebu, der zu diesem Zeitpunkt bereits 73 Jahre zählte, stellen die jeweils äußersten Pole des Altersspektrums. In der Gerontokratie des zarischen Verwaltungssystems war ein derart fortgeschrittenes Alter durchaus ein Ausweis für den hohen Rangstatus des Amtes. Dafür spricht auch, dass die meisten der Spitzenbeamten in Warschau das Ende ihrer dienstlichen Karriere erreichten und die dortige Amtszeit zudem von erstaunlich langer Dauer war. Zwar lag die durchschnittliche Anzahl der Dienstjahre in Warschau mit 5,2 Jahren für die Generalgouverneure nur leicht über jener, die für die Gouverneure im inneren Russland üblich war,69 hier machte sich aber bemerkbar, dass in der Phase der Revolution und des Weltkriegs die Generalgouverneure sehr schnell ihren Posten verlieren konnten.70 Demgegenüber standen die langen Amtsperioden des Statthalters Berg oder der Generalgouverneure Kocebu, Gurko und Skalon.71 Wer immer als Generalgouverneur nach Warschau entsandt wurde, verblieb in der Regel auf diesem Posten bis zu seinem Ableben. Petersburg war hier offensichtlich an einer personellen Stabilität vor Ort gelegen. Zugleich war der weitere Aufstieg eines ehemaligen Warschauer Generalgouverneurs in der Ämterhierarchie nur noch begrenzt möglich. Ein möglicher Schritt, der solchen hohen Verwaltungsposten im Zarenreich folgen konnte und der in der bürokratischen Logik der Zeit nicht als dienstliche Demütigung empfunden wurde, war die Berufung in den Reichsrat. Bis 1905 wurden alle Warschauer Generalgouverneure vom Kaiser in dieses Gremium berufen, ohne allerdings ihr Amt im Königreich aufzugeben. Das bedeutete, dass die Ernennung zum Mitglied des

|| 69 In vielen innerrussischen Gouvernements verweilten die Gouverneure im Durchschnitt weniger als drei Jahre an ihren Amtssitzen. Vgl. dazu Jörg Baberowski: Vertrauen durch Anwesenheit. Vormoderne Herrschaft im späten Zarenreich, in: Jörg Baberowski/David Feest/Christoph Gumb (Hrsg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt/Main 2008, S. 17–37, S. 36–37; Richard G. Robbins: The Tsar’s Viceroys, S. 43. 70 So konnten sich Maksimovič und Žilinskij jeweils nur weniger als ein Jahr auf ihren Posten halten. Auch Al’bedinskijs kurze, durch seinen frühen Tod beendete Dienstzeit von nur drei Jahren senkt den Durchschnitt. 71 Auch die Generalgouverneure Imeretinskij und Čertkov waren immerhin noch jeweils fünf Jahre im Amt.

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Reichsrats bei den Generalgouverneuren keine Form der „Wegbeförderung“ in ein honoriges, aber einflussloses Gremium darstellte, wie es sich in der Altersstruktur des zarischen Verwaltungsapparats, der keine geregelte Pensionierung kannte, so oft ereignete.72 Eine Ernennung zum Reichsratsmitglied bei gleichzeitigem Verbleib im Amt war dagegen eine deutliche symbolische Auszeichnung des betreffenden obersten Beamten im Königreich. Er wurde vom Kaiser persönlich in diesen elitären Kreis aufgenommen. Damit wurde zugleich das Amt selbst symbolisch überhöht. Denn indem tatsächlich bis zur Umgestaltung dieses Gremiums nach dem Oktobermanifest jeder Generalgouverneur vom Zaren derart ausgezeichnet wurde, erfolgte auch eine indirekte Distinguierung des administrativen Postens. Es wurde mit der Zeit zur Selbstverständlichkeit, dass ein Warschauer Generalgouverneur zugleich auch Mitglied des Reichsrats sein sollte.73 Dass die Generalgouverneure mit dem entsprechenden Bewusstsein, eines der höchsten Ämter der Regionalverwaltung des Kaiserreichs auszuüben, auch gegenüber den zentralen Ministerien auftraten, ist bereits geschildert worden. Das Prestige des Amtes und die Würde der bestallten Personen verstärkten sich gegenseitig. Der Posten des Warschauer Generalgouverneurs war für den Prinzen Imeretinskij ein standesgemäßer Dienst und zugleich erhöhte sein hochnobler Status sowie der seiner Vorgänger die symbolische Wertigkeit des Amtes, das sie bekleideten. Immer dann, wenn es galt, Maßnahmen gegen Widerstände in den zentralen Ministerien durchzusetzen, verwiesen die Generalgouverneure gerne auf die Distinguiertheit ihrer Amtsvorgänger. Sie versuchten damit, den herausgehobenen Rang ihres Amtes in der Wertehierarchie des zarischen Verwaltungsapparats zu markieren und ihren Projekten so mehr Gewicht zu verleihen.74 Aber nicht allein ein derartiges strategisches Denken beförderte, dass sich das Korps der Generalgouverneure als amtsgenealogische Einheit verstand. Allen zumindest intern deutlich formulierten inhaltlichen Divergenzen zum || 72 Der Reichsrat war bis 1906 die oberste Verwaltungsbehörde im Russischen Reich und verfügte über mehrere Sachdepartements. Das Gremium hatte allerdings kein Initiativrecht bei Gesetzesvorlagen und konnte es nicht mit der Bedeutung des Ministerkomitees aufnehmen. Vgl. Manfred Hagen: Die Entfaltung politischer Öffentlichkeit in Rußland 1906–1914, Wiesbaden 1982, S. 337–340; Heide W. Whelan: Alexander III and the State Council. Bureaucracy and Counter-Reform in Late Imperial Russia, New Brunswick 1982. 73 Nach 1906 änderte sich die Funktion des Gremiums. Der Reichsrat mutierte nach Einrichtung der Duma zum Oberhaus mit gesetzgebender Kompetenz. Fortan wurde nur noch die Hälfte seiner Mitglieder vom Kaiser ernannt, die andere aus Institutionen gewählt. Siehe V. A. Demin: Verchnjaja palata Rossijskoj imperii 1906–1917, Moskau 2006, S. 86–112. 74 GARF, f.215, op.1, d.277, ll.25–26 [Brief des WGG Imeretinskij an den Minister des Kaiserlichen Hofs Frederiks, 30.7.1897].

5.6 Zehn Gesandte des Zaren | 109

Trotz prägte die meisten der zehn Beamten das Bewusstsein, in einer langen und illustren Tradition von Warschauer Generalgouverneuren zu stehen. Dies war einerseits in der Logik ihres Verwaltungspostens begründet, dessen Aufgabenbereiche sich über das halbe Jahrhundert kaum änderten. Dazu gesellten sich aber ebenso die Standessolidarität hochnobler Staatsdiener und eine Wesensverwandtheit des Denkens, die in den Erfahrungsräumen sehr ähnlicher Karrieren gewachsen war. Ein Konservativismus des Amts, des Standes, der beruflichen Sozialisation und nicht zuletzt des hohen Alters beim Dienstantritt stabilisierten einen gemeinsamen Satz an Reichsvorstellungen, Denkkategorien und Problemwahrnehmungen sowie an entsprechenden administrativen Handlungsmaximen. Er prägte die Bilder, die diese imperialen Beamten von sich selbst und von dem Charakter sowie der Funktion ihres Amtes entwarfen. Ihre Ausgestaltung imperialer Herrschaftspraxis, ihre Begegnung mit der einheimischen Bevölkerung und ihre Kommunikation mit den zentralen Instanzen bewegten sich innerhalb dieses mentalen Horizonts.

6 Dienst in einem fremden Land: Selbstverortungen imperialer Beamter im Königreich Polen In einem solchen Spektrum von Glaubenssätzen, in dem die zarischen Beamten ihr administratives Handeln verorteten, lassen sich einige Leitmotive benennen. Im Zentrum der Orientierungshierarchie der Generalgouverneure stand eindeutig die Direktive der Wahrung von „gesellschaftlich-öffentlicher Ordnung und Ruhe“. An diesem traditionellen politischen Auftrag russischer Gouverneure hatte sich auch im ausgehenden 19. Jahrhundert wenig geändert.1 Für das Königreich Polen galt allerdings, dass mit der Sicherstellung öffentlicher Ordnung zugleich immer auch die Absicherung Petersburger Herrschaft in den polnischen Provinzen gemeint war. Die „Ruhe des Landstrichs“ als Handlungsmaxime bedeutete also beides: Die Gewährleistung eines friedlichen gesellschaftlichen Zustands und die Verhinderung aller politischen Tendenzen, die das imperiale Diktat in Frage stellen konnten.2 Zugleich wurden die Generalgouverneure nicht müde, darauf zu verweisen, dass sie ihren Auftrag unmittelbar vom Autokraten erhalten hatten. Das Motiv des „Gesandten des Zaren“ spielte in der Selbstwahrnehmung der obersten Beamten im Weichselland eine zentrale Rolle. Und so betonte der Generalgouverneur Gurko, dass „der zarische Wille mich zur Regierung in diesen Kraj entsandt hat.“3 Und auch sein Amtsnachfolger Imeretinskij bezeichnete sich selbst als den „Umsetzer des monarchischen Willens“.4 Eine solche Selbstverortung diente besonders in den internen Auseinandersetzungen mit den zentralen Behörden als bewusste Strategie, die eigene Verhandlungsposition gegenüber den Minis-

|| 1 Siehe Susanne Schattenberg: Weder Despot noch Bürokrat: Der russische Gouverneur in der Vorreformzeit, in: Jörg Baberowski/David Feest/Christoph Gumb (Hrsg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt/Main 2008, S. 81–101, S. 83–87. 2 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.1–43 [Bericht des WGG Al’bedinskij an Alexander II., 27.12.1880], hier l.14ob; AGAD, KGGW, sygn.1773, kart.19–53v [Bericht des WGG Gurko an Alexander III., 25.12.1883], hier l.27v.; GARF, f.215, op.1, d.89, l.30–33 [Brief des WGG Imeretinskij an den Bildungsminister Delyanov, 28.9.1897], hier l.31ob; AGAD, KGGW, sygn.7031, kart.72–73 [Schreiben des WGG Skalon an den Innenminister Maklakov, 5.4.1913]. 3 AGAD, KGGW, sygn.1773, kart.19–53v [Bericht des WGG Gurko, 25.12.1883], hier kart.19. 4 GARF, f.215, op.1, d.89, l.30–33 [Brief des WGG an den Bildungsminister Delyanov, 28.9.1897].

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tern zu stärken.5 Dennoch sollte dieses Bild vom zarischen Gesandten für die Beamtenidentität der Generalgouverneure und ihre Handlungslogik nicht unterschätzt werden: Sie verlieh den Akteuren das Gefühl, sie seien berechtigt, einen eigenen Herrschaftsstil in der ihnen unterstellten Provinz zu etablieren, für den sie sich nur gegenüber dem Monarchen zu verantworten hatten. Die Sondersituation der polnischen Provinzen stand für alle Generalgouverneure außer Frage. Es war ein durchgängiger Topos, die Fremdheit des ihnen anvertrauten Landstriches zu betonen. Indirekt vermittelt sich in diesen Selbstbildern auch ein Einblick in die übergeordneten Reichsvorstellungen der Generalgouverneure. Am deutlichsten formulierte es der Generalgouverneur Čertkov, als er in einem Brief an das Innenministerium die grundsätzliche „Ausnahmesituation“ der Provinz feststellte. Denn „der Kraj ist ein Teil des historischen Polens“. Die Petersburger Beamten seien hier zum Dienst „in einem fremden Land“ („v čužoj strane“) abkommandiert.6 Aber selbst dort, wo die Wortwahl nicht derart eindeutig auf die Eigenständigkeit eines anderen „Landes“ (strana) verwies, sondern eher die ambivalente Bezeichnung „(Grenz-)Gebiet“ (kraj oder okraina) verwandte, ließen die Beamten an den „Besonderheiten“ des Landstrichs keinen Zweifel. Diese osobennosti oder osoblennosti waren in der Behördenkorrespondenz eine von allen Beteiligten akzeptierte Grundannahme.7 In der Selbststilisierung der imperialen Beamten dominierte zugleich das Bild der eigenen Fremdheit in diesem Grenzgebiet. So porträtierte sich Al’bedinskij selbst als „Ortsfremder“, der die ersten Jahre seiner Amtszeit damit verbracht habe, das innere Leben und die lokalen Besonderheiten dieses „fremden Krajs“ zu studieren.8 Und auch sein Nachfolger Gurko schrieb rückblickend, dass ihm ein Landstrich unterstellt worden sei, dessen „inneres Leben und spezifische Besonderheiten nur wenig bekannt waren“.9 Etwas plakativ und

|| 5 GARF, f.215, op.1, d.277, ll.25–26 [Brief des WGG Imeretinskij an den Minister des Kaiserlichen Hofs Frederiks, 30.7.1897]. 6 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.30–45 [Brief des WGG Čertkov an das Innenministerium, 12.3.1902], hier l.32ob; ähnlich APW, t.151, cz.3 (KGW), sygn.543, kart.3–6 [Bericht des Leiters des Warschauer Uezd Brinken, 29.8.1897], hier kart.3. 7 AGAD, KGGW, sygn.1767, kart.3–5v [Brief des Innenministers Ignat’ev an den WGG Al’bedinskij, 28.6.1881]; GARF, f.215, op.1, d.76, ll.1–43 [Bericht des WGG Al’bedinskij an Alexander II., 27.12.1880], hier l.5ob; GARF, f.215, op.1, d.94, l.58 [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898]. 8 GARF, f.215, op.1, d.76, l.1–43 [Bericht des WGG Al’bedinskij an Alexander II., 27.12.1880], hier l.2. 9 AGAD, KGGW, sygn.1773, kart.19–53v [Bericht des WGG Gurko an Alexander III., 25.12.1883], hier kart.19.

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vermeintlich publikumswirksam verwies Gurko knapp zehn Jahre später auf die gravierenden Folgen dieser grundlegenden Fremdheit imperialer Beamter im Königreich. Einen Spendenaufruf, mit dem der Generalgouverneur in Russland zusätzliche Mittel zum Bau der Aleksandr-Nevskij-Kathedrale zu akquirieren hoffte, eröffnete er mit einem „Gruß aus einem fremden Land“. Die Notwendigkeit des kostspieligen Kirchenbaus begründete Gurko damit, dass die Lage der russischen Menschen in diesem „fremdgläubigen und fernen Kraj“ sehr schwierig sei. Nur in einem orthodoxen Gotteshaus könnten sie sich der Heimat und „Mutter Russland“ näher fühlen und von der „Schwere des Dienstes im entfernten Grenzgebiet“ innerlich erholen.10 Mochten solche Bilder der Ferne und Fremdheit in Gurkos Aufruf auch werbestrategisch überzeichnet sein, so sehr dominierten diese Vorstellungen auch in anderen Kommunikationssituationen die interne Korrespondenz der imperialen Verwaltung.11 Sein Amtsnachfolger Imeretinskij charakterisierte die polnischen Provinzen folgendermaßen: Hier handle es sich um „ein Land, das Sprache, Sitten und Gebräuchen nach fremd, aber das mit dem Imperium vereint ist und das eine bedeutende Rolle bei der zukünftigen Entwicklung des Reichs haben kann.“12 Der spätere Generalgouverneur Čertkov führte zu diesem Thema aus, dass der Umstand von Fremd- und Andersartigkeit „dem Russen“ besonders schwerfalle. Denn dieser arbeite „doch am liebsten in der Heimat“ und tausche diese ungern gegen „eine fremde Gegend“. Mochte das Königreich Teil des Russischen Imperiums sein, als „Heimat“ wurde es keinesfalls gesehen.13 Zur Identifizierung der „Besonderheiten“ und der „Fremdheit“ der Provinz gehörte immer auch das Bild vom katholischen Polen als „dem Anderen“.14 Der Blick imperialer Beamter auf Land und Leute im Königreich changierte zwischen Hochachtung vor der polnischen Zugehörigkeit zur abendländischen, westeuropäischen Zivilisation und Verachtung gegenüber der vermeintlich mittelalterlichen Rückständigkeit der polnischen Staatstradition sowie deren politischer

|| 10 AGAD, KGGW, sygn.6469, kart.13–25 [Spendenaufruf des WGG Gurko, 1893], hier kart.13–14. 11 AGAD, KGGW, sygn.6469, kart.77–78v [Brief des WGG Gurko an das Moskauer Stadtoberhaupt Konstantin Rukavišnikov, 1.5.1893], hier kart.77ob. 12 GARF, f.215, op.1, d.94, l.43 [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898]. 13 AGAD, KGGW, sygn.5076, kart.6–8 [Schreiben des WGG Čertkov an den Kriegsminister Kuropatkin, 15.2.1903], hier kart.7ob. Ganz ähnlich Wladimir A. Suchomlinow: Erinnerungen, Berlin 1924, S. 16. 14 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.7–8 [Auszüge aus dem Bericht des WGG Imeretinskij, 12.1.1898]; AGAD, KGGW, sygn.5076, kart.6–8 [Schreiben des WGG Čertkov an den Kriegsminister Kuropatkin, 15.2.1903], hier kart.7.

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Kultur. Auf jeden Fall wirkten sich das Misstrauen und die offene Feindschaft der Polen nachteilig auf die Amtsträger in diesem „fernen Grenzgebiet“ aus. Und so beklagte der Generalgouverneur Imeretinskij, dass der Dienst der Verwaltungsbeamten im Königreich ausgesprochen schwer sei, da die polnische Gesellschaft von einem „tiefen Misstrauen“ („glubokoe nedoverie“) gegenüber allen Staatsbediensteten gekennzeichnet sei. Damit nehme jede administrative Angelegenheit im Königreich automatisch einen politischen Charakter an, was das Verwaltungsgeschäft im Kraj im Gegensatz zu den „anderen Teilen des Imperiums“ enorm verkompliziere.15 Eine solche Betonung der Andersartigkeit des Weichsellands fußte zweifellos auf einer administrativen Logik, die sich die Generalgouverneure zunutze machten. Denn jede Akzentuierung des polnischen Sonderstatus erhöhte auch die Bedeutung der Amtsperson, die für diesen Verwaltungsdistrikt verantwortlich zeichnete. Die Wahrnehmung einer fundamentalen Distinktion zwischen polnischen und russischen Gebieten war allerdings zeitgenössisch weit verbreitet. Beschreibungen in Reiseführern, essayistische Notizen zum Königreich und Skizzen zu dessen ökonomischer Potenz vermittelten ein Bild der markanten Fremdheit dieses Landstriches.16 Dahinter stand die Vorstellung von einem räumlich strikt hierarchisierten Imperium, das sich in ein (russisches) Zentrum und einen (nichtrussischen) Grenzsaum untergliederte. In einem solchen Denken wurde nicht die unteilbare Einheit des Imperiums in Frage gestellt, aber doch ein Dualismus aus Okraina und „russischem Kernland“ („korennaja russkaja zemlja“) beziehungsweise einem „Hauptkern der russischen Staatlichkeit“ („osnovnoe jadro russkoj gosudarstvennosti“) als inneres Strukturmerkmal des Reichs akzeptiert.17 An der Sonderstellung des Königreichs bestand für die imperialen Beamten also kein Zweifel. Die Frage, die sich daraus ableitete, war, wie mit dieser Differenz umzugehen sei. Es standen dafür im zeitgenössischen Beamtendiskurs drei || 15 GARF, f.215, op.1, d.94, l.59ob [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898]. 16 Vgl. z. B. A. N. Družinin/A. I. Točinckij: „Carstvo Pol’skoe“ na russkom rynke. Opyt podčeta tovarnogo obmena okrainy s centrom v svjazi s ee proizvoditel’ymi silami, Warschau 1900; Grigorij G. Moskvič: Putevoditel’ po Varšave, St. Petersburg 1907, S. 1–2. 17 AGAD, KGGW, sygn.6469, kart.77–78v [Brief des WGG Gurko an das Moskauer Stadtoberhaupt Rukavišnikov, 1.5.1893], hier kart.77ob; GARF, f.215, op.1, d.94, l.58 [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898]. Vgl. ebenso Anton S. Budilovič: Vopros ob okrainach Rossii, v zvjazi s teoriej samoopredelenija narodnostej i trebovanijami gosudarstvennnogo edinstva, St. Petersburg 1906. Ebenso Grigorij A. Evreinov: Nacional’nye voprosy na inorodčeskich okrainach Rossii, St. Petersburg 1908; D. T. Privislinec/A. N. Družinin: Rossija i ee okraina, Kiew 1903.

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unterschiedliche Begrifflichkeiten zur Verfügung. Es konnte eine „Verschmelzung“ (slijanie) der polnischen Provinzen mit dem russischen Kernland angemahnt werden, man konnte für ihre schrittweise „Annäherung“ (sbliženie) plädieren oder sich letztlich mit der staatlichen „Vereinigung“ (obedinenie) der Territorien zufrieden geben. So unterschiedlich die Implikationen dieser Termini waren, so wenig verdichteten sie sich zu einer Nomenklatur klar ausformulierter, sich gegenseitig ausschließender Konzepte. Im Gegenteil, der Gebrauch der jeweiligen Begriffe wurde außerordentlich flexibel gehandhabt und sie wurden keinesfalls als Stellvertreter für sich widersprechende Optionen verstanden. Es waren oft nur punktuelle Akzentsetzungen, die sich hinter dem jeweiligen Sprachgebrauch verbargen. Der Wunsch, eine stärkere Zusammenführung der polnischen Provinzen mit dem Imperium zu erwirken, findet sich bei allen Generalgouverneuren artikuliert. So schrieb Al’bedinskij, dass das Ziel der imperialen Politik vor Ort sei, für das lokale gesellschaftliche Leben eine „Annäherung an die russische Sphäre“ („sbliženie c russkoj sferoj“) zu bewirken.18 Und sein Nachfolger Gurko erklärte, dass das Ziel der Umstrukturierungen im Königreich nach 1864 „dessen Vereinigung mit dem Imperium“ („obedinenie ego s Imperii“) gewesen sei. Seitdem sei es die Hauptaufgabe der Innenpolitik der Regierung, die „Fusion“ („slijanie“) des Krajs zu einem „harmonischen Ganzen“ mit den übrigen Teilen des Staats voranzubringen.19 Gurko selbst stellte die rhetorische Frage, welche Maßnahmen nötig seien, um die angestrebte „Zusammenführung“ („obedinenie“) voranzubringen. Grundsätzlich hielt er hier fest, dass „die bürgerliche Freiheit und die Gleichheit der Rechte und Pflichten, die unabhängig von der Religion der Bevölkerung besteht, die Einheit der gesellschaftlichen Interessen und folgend die politische Einheit der Bevölkerung stiftet.“ Daher müssten die Gesetze, die in Russland gelten, auch auf das Königreich übertragen werden. Allerdings würden die sozialen und politischen Spannungen kurz nach der Ermordung Alexanders II. eine derartige Vereinigungspolitik nicht zulassen.20 Es ist erstaunlich genug, dass dieser oft als „Russifizierer“ gescholtene Generalgouverneur grundsätzlich die Idee eines einheitlichen Rechtsraums propagierte. Hier zeigt sich, dass auch Gurko ein Kind des politischen Horizonts der Großen Reformen war. Und es wird ebenso deutlich, dass mit dem Begriff der || 18 GARF, f.215, op.1, d.76, 1–43 [Bericht des WGG Al’bedinskij an Alexander II., 27.12.1880], hier ll.4–4ob. 19 AGAD, KGGW, sygn.1773, kart.19–53v [Bericht des WGG Gurko an Alexander III., 25.12.1883], hier kart.20v–21. 20 AGAD, KGGW, sygn.1773, kart.23.

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„Verschmelzung“ keinesfalls automatisch Vorstellungen von einer kulturellen Fusion der Völkerschaften verknüpft waren. Dies lag daran, dass der Begriff der slijanie seinen Ursprung im Staatsbürgerdiskurs der Reformzeit hatte. So sprach Alexander II. bei seinem Besuch in Warschau im Mai 1856 die Erwartung aus, dass es zu einer „vollkommenen Verschmelzung“ („polnoe slijanie“) des polnischen Volkes mit den anderen Völkern des Reichs kommen werde.21 Mit einer solchen Vorstellung war nicht die Übernahme einer russischen Leitkultur verknüpft. Hier artikulierte sich zunächst nur die Hoffnung auf die Genese eines imperialen Staatsbürgers. Diese Konnotationen erlaubten es auch Gurkos Nachfolger, dem Generalgouverneur Imeretinskij, den Begriff der slijanie zu verwenden, obwohl er gerade für die stärkere Respektierung einiger Eigenarten der polnischen Provinzen eintrat. Grundsätzlich sah Imeretinskij keinen Widerspruch in der Wahrung der anderen Sprache, der Sitten und der Gebräuche in diesem „fremden Land“ und einer Intensivierung der Vereinigung mit dem Imperium.22 Denn die „Verschmelzung“ („slijanie“) mit der „russischen Staatlichkeit“ („russkaja gosudarstvennost’“) zu einem „unzertrennlichen Ganzen“ („nerazryvnoe celoe“) unter dem Zepter des Zaren erlaube eben beides. An der Unteilbarkeit des imperialen Ganzen bestand selbstverständlich nicht der leiseste Zweifel. Und so antwortete der Generalgouverneur auf alle scheinbaren Tendenzen zum polnischen Separatismus mit der Macht des staatlichen Repressionsapparats.23 Im zeitgenössischen Diskurs einer russischen öffentlichen Meinung waren dagegen mit diesen Begriffen zum Teil deutlich andere Konnotationen verknüpft. Nicht selten wurde mit „Verschmelzung“ eine anzustrebende, auch kulturelle Fusion der „slawischen Bruderstämme“ bezeichnet. Hier war viel öfter von einer „geistigen Vereinigung“ (duchovnoe slijanie) oder einer „geistigen Einheit“ der Völker als der Staatsterritorien die Rede.24 Das waren höchst vage Formulierungen, die letztlich offen ließen, wie genau die Verschmelzung der Völker aussehen und wie mit einem polnischen Beharren auf sprachlich-kultureller Eigenständigkeit umgegangen werden sollte. Dennoch wurden damit grundlegende kultu-

|| 21 Die Rede Alexanders II. ist zitiert bei Sergej Tatiščev: Imperator Aleksandr Vtoroj, Bd. 1, Moskau 1996 [Erstveröffentlichung 1911], S. 233–234. 22 GARF, f.215, op.1, d.94, l.43 [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898]. 23 GARF, f.215, op.1, d.277, ll.16–20 [Brief des WGG Imeretinskij an den Innenminister Goremykin, 31.7.1897], hier l.19. Ganz ähnlich GARF, f.215, op.1, d.97, ll.30–45 [Brief des WGG Čertkov an das Innenministerium, 12.3.1902], hier l.30–33. 24 Vgl. z. B. Novosti, zititert nach Varšavskij dnevnik, Nr. 222 (21.8.1897), S. 2.

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relle Dimensionen eines Vereinigungsprozesses propagiert, die weit über die staatsbürgerlichen Konzepte der imperialen Beamtenschaft hinausgingen. Deutlich zeigt sich dies auch in einem Abgrenzungsdiskurs, den die Staatsbeamten gegenüber dem Vorwurf der „Russifizierung“ führten. Traditionell artikulierte die Untergrund- und Auslandspresse regelmäßig diese Anklage und stigmatisierte zarische Amtsträger als „Russifizierer“ (obrusiteli). Nach den Pressegesetzen von 1905–06 erhob auch eine legale Öffentlichkeit im Russischen Reich die Anschuldigung, die Petersburger Regierung betreibe eine Politik der „Russifizierung“ (obrusenie) im Weichselland.25 „Russifizierung“ war also ein präsenter zeitgenössischer Kampfbegriff, zu dem sich die imperiale Bürokratie verhalten musste. Die Positionierung der zarischen Verwaltungselite war diesbezüglich eindeutig: „Russifizierung“ war auch in diesen Beamtenkreisen negativ konnotiert – der Begriff repräsentierte eine politische Praxis, von der man sich deutlich abzugrenzen suchte. Im Gegensatz zu den traditionellen Begriffen obrusevanie oder obrusěnie (обрусѢние, mit jat’) bezeichneten obrusenie (обрусение) beziehungsweise das Verb obrusit’ eine absichtsvolle, forcierte und tendenziell auf weitgehende Akkulturation abzielende Maßnahme des „Russisch-Machens“.26 Dies war eine Titulatur, die aus der Sichtweise der Staatsbeamten als höchst problematisch erschien. Und so unternahm bereits der Generalgouverneur Al’bedinskij einen Versuch der Distanzierung. Ein Anliegen seiner Reformprojekte sei es, so Al’bedinskij, „der lokalen Bevölkerung zu zeigen, dass die Regierung weit von der Absicht entfernt ist, ihre Nationalität mit den Füßen zu treten (popirat’ nacional’nost’) und Zwangsmittel zu nutzen, um in der Zukunft ihre Verschmelzung mit der Nationalität der Russen (slijanije s nacional’nostju russkogo) zu erwirken, […] und wie fremd der Regierung alle Mittel sind, die auf Repression und Russifizierung abzielen oder einen Zwangscharakter haben.“27 In dem Beschluss des Komitees für die Angelegenheiten des Königreichs Polen, in dem zwar die meisten der Al’bedinskij’schen Vorschläge abschlägig oder hinhaltend beurteilt wurden, wurde diese Grundeinschätzung des Generalgouver-

|| 25 Vgl. Russkaja imperija. Pol’skij vzgljad na russkie gosudarstvennye voprosy, Autor anonym, Berlin 1882, S. 190–255, v. a. S. 253–255; Političeskie itogi. Russkaja politika v Pol’še. Očerk Varšavskogo publicista, anonym publiziert, Leipzig 1896, S. 13 und S. 23; Vopros o „russo-pol’skom primirenii“ i pol’skie zadači, St. Petersburg 1903, S. 5. 26 Vgl. Vladimir I. Dal’: Tolkovyj slovar’ živogo velikorusskogo jazyka, Moskau 1865, S. 1259. Siehe auch Alexei Miller: The Empire and the Nation in the Imagination of Russian Nationalism, in: Alexei Miller/Alfred J. Rieber (Hrsg.): Imperial Rule, Budapest 2004, S. 9–45, S. 50. 27 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.45–81 [Brief von Michail Gorlov an den WGG Al’bedinskij, 12.3.1881], hier l.79.

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neurs jedoch explizit bekräftigt. Hier hieß es im Protokoll, auch die Gesetze nach 1864 hätten nie darauf abgezielt, die Bevölkerung des Weichsellands „zwanghaft zu russifizieren“ („nasil’stvenno obrusit’“).28 Fast zwei Dekaden später sprach sich auch der Generalgouverneur Imeretinskij in einer Anhörung vor dem Ministerkomitee vehement gegen eine Politik der „zwanghaften Russifizierung“ aus. „Bei der Durchführung dieser Vereinigung war die Regierung aber niemals von dem unerfüllbaren Gedanken einer Russifizierung der lokalen Bevölkerung in dem Sinne ihrer Verwandlung/Bekehrung in eine russische geleitet (ob obrusenii mestnogo naselenie v smysle obraščenie ego v russkoe).“ Einer solchen missgeleiteten Politik stellte Imeretinskij das staatsbürgerliche Projekt diametral entgegen: „Das Ziel des politischen Programms der staatlichen Schulen muss es sein, bei jedem das Bewusstsein zu verstärken, dass er zuallererst ein russischer Untertan (russkij poddannyj) und dann erst ein Pole ist.“29 Mochte Imeretinskij im Ministerkomitee bei seinen konkreten Reformvorschlägen zum Ausbau des Polnischen als Unterrichtsfach auf Widerstand stoßen, so waren sich doch auch seine Kontrahenten einig, dass es keinesfalls um eine „Russifizierung“ der polnischen Bevölkerung gehen dürfe. Sowohl der Bildungsminister Nikolaj Bogolepov wie auch der Oberprokuror des Heiligen Synods Konstantin Pobedonoscev betonten, dass eine „russifizierende Tendenz“ („obrusitel’naja tendencija“) nicht die Absicht der Schulen im Weichselland sei oder sein dürfe.30 Und der Oberprokuror ergänzte kritisch, „das Wort ‚obrusenie‘ könne in so vielfacher Weise gedeutet werden, dass es günstiger ist, dieses Wort überhaupt zu vermeiden, um keine Missverständnisse zu produzieren.“31 Mochten die Amtsträger also auch eine Politik im Königreich befürworten, die auf eine kulturelle Hegemonie des Russischen hinauslief und bereits Grundschulkindern das Russische als Unterrichtssprache aufzwang, mochten sie damit schon weitaus mehr als nur die Verbreitung der „Staats-“ oder „Regierungssprache“ beabsichtigen und auch explizit für eine „Durchdringung“ („proniknovenie“) der Untertanen mit „dem Geist und den Ideen des russischen Volkes“ plädieren32 – so war dies in ihrem Selbstverständnis doch alles andere als eine „Russifizierung“. Denn dies war ein Projekt, dass man zwar gegenüber den „klei|| 28 GARF, f.215, op.1, d.76, l.54 und l.79. Vgl. auch AGAD, KGGW, sygn.1767, kart.10–12 [Rundbrief des Warschauer Gouverneurs Medem, 16.7.1880]. 29 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.55ob–58ob [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898], hier l.55ob–56. 30 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.56–57. 31 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.57. 32 Auch dieses Plädoyer stammte von Pobedonoscev. GARF, f.215, op.1, d.94, l.57ob.

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nen Völkern“ verfolgen konnte, nicht jedoch gegenüber der polnischen Nation, die man doch als Mitglied der abendländischen Zivilisationsgemeinschaft betrachtete. Es war zudem ein Unternehmen, zu dem Pobedonoscev sehr nüchtern feststellte, dass es „völlig unausführbar“ sei.33 Ganz in diesem Sinne lautete es dann auch in einem Beschluss des Ministerkomitees aus dem Jahr 1904 explizit: Die Regierung „kann nicht anstreben, die Polen zu russifizieren und sie zu denationalisieren“ („ne možet vchodit’ stremlenie obrusit’ poljakov i denacionalizirovat’ ich“).34 Dagegen erklärten sich die obersten zarischen Gesandten im Weichselland durchgängig zu Verteidigern der „russischen Sache“ (russkoe delo). Diese markierte im deutlichen Gegensatz zum Begriff der obrusenie eine positive Bezugsgröße im imperialen Beamtendiskurs. Kein Generalgouverneur im Königreich wurde müde zu betonen, dass es gelte, ein russkoe delo in der westlichen Reichsperipherie zu schützen. Wenig überraschend tat sich hier besonders Gurko hervor, der bereits kurz nach seinem Dienstantritt emphatisch deklarierte, durch sein „tiefes Pflichtgefühl und die vorbehaltlose Ergebenheit zur russischen Sache“ in seiner Amtsführung geleitet zu sein.35 Aber auch die reformorientierten Generalgouverneure Al’bedinskij und Imeretinskij ließen keinen Zweifel daran, dass der Dienst an der „russischen Sache“ Kernbestand ihres Regierungsauftrages im Weichselland sei.36 Imeretinskij erklärte es beispielsweise zu seiner Aufgabe, „wahre Pioniere der russischen Sache in den Randgebieten des Staats“ zu gewinnen.37 Die Generalgouverneure erklärten sich mit diesem Selbstbekenntnis jedoch keinesfalls zu den Sachwaltern eines ethnisch verengten Nationalismus. Auch wenn gelegentlich von „den Russen“ als „herrschendem Volk“ (gospodstvujuščaja narodnost’) gesprochen wurde, dem daher ein Vorrang gebühre,38 so verstanden die hohen Beamten unter der „russischen Sache“ viel eher die Angelegenheiten der imperialen Staatlichkeit denn eine russisch-nationale Engfüh|| 33 GARF, f.215, op.1, d.94, l.57. 34 RGIA, f.1327, 1905–1915, op.2, d.21, ll.122–125, hier l.123 [Bericht des WGG Skalon, 22.3.1906]. 35 AGAD, KGGW, sygn.1773, kart.19–53v [Bericht des WGG Gurko an Alexander III., 25.12.1883], hier kart.19. 36 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.1–43 [Bericht des WGG Al’bedinskij an Alexander II, 27.12.1880], hier l.4ob. 37 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.25–27 [Bericht des WGG Imeretinskij, 12.1.1898], hier 26ob. So auch bei Čertkov: GARF, f.215, op.1, d.97, ll.30–45 [Brief des WGG an das Innenministerium, 12.3.1902], hier ll.32ob–34. 38 So Pobedonoscev in einer Sitzung des Ministerkomitees. GARF, f.215, op.1, d.94, l.57 [Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898].

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rung des Begriffs. Russkoe delo wurde synonym mit „russischer Macht“ (russkaja vlast’) oder „russischer Staatlichkeit“ (russkaja gosudarstvennost’) genutzt und stand für die „Regierungsmacht vor Ort“.39 Russkaja vlast’ war damit eine Umschreibung der imperialen Herrschaft und zielte nicht auf eine Ethnisierung des Reichs und seiner Zentralregierung. Dagegen war die Skepsis gegenüber dem aufkommenden national-ethnischen Denken groß.40 Eine Forcierung der Differenz der Nationalitäten war ebenso wenig Bestandteil der politischen Agenda der Staatsbeamten wie eine Nationalisierung von Politik überhaupt. Die „russischen Interessen“ und die „russische Sache“, denen sich die hohen Beamten in ihren Selbstverpflichtungen verschrieben hatten, markierten demgegenüber vielmehr die ethnisch neutralen Regierungsinteressen der Petersburger Hauptstadt in der westlichen Reichsperipherie. Generalgouverneure verstanden sich als Repräsentanten des Imperiums und Gesandte des Zaren, nicht als Beauftragte des russischen Ethnos.41 Wenn ein Generalgouverneur wie Gurko tatsächlich einmal das ethnisch oder konfessionell bestimmte „russische Volk“ vor Augen hatte, unternahm er eine feine, aber bezeichnende Differenzierung. Er schrieb dann explizit von einer „Sache des russischen Volkes“ („russkoe narodnoe delo“).42 Der sonst allgegenwärtige Staatsbezug der imperialen Beamtenschaft geriet nach der Jahrhundertwende vermehrt in die Kritik von Meinungsvertretern, die sich als Förderer einer national verengten „russischen Sache“ stilisierten. In einer immer stärker von russischen Nationalisten geprägten Öffentlichkeit wurde die Supra-Nationalität der imperialen Staatsvertreter und ihres Selbstverständnisses zum Problem. Eine Organisation wie die nationalistische Russische Gesellschaft in Warschau (Russkoe obščestvo v g. Varšavy) trat beispielsweise 1905 selbstbewusst gegenüber dem Generalgouverneur auf und forderte vehement den „Schutz der nationalen und kulturellen Interessen des russischen Volkes“ im Weichselland. In einer solchen Perspektive bedeutete die „Stärkung der russischen Staatlichkeit im Kraj“ vor allem „den Kampf zum

|| 39 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.30–45 [Brief des WGG Čertkov an das Innenministerium, 12.3.1902], hier ll.32ob–34. 40 RGIA, f.1284, 1898, op.185, d.55, l.8 [Schreiben des WGG Imeretinskij an den Innenminister Goremykin, 4.1.1899]. 41 AGAD, KGGW, sygn.6469, kart.77–78v [Brief des WGG Gurko an das Moskauer Stadtoberhaupt Rukavišnikov, 1.5.1893], hier kart.77v; GARF, f.215, op.1, d.277, ll.1–54 [Unterlagen zum Besuch Nikolaus’ II., 1897], hier ll.16–20 [Brief des WGG Imeretinskij an den Innenminister Goremykin, 31.7.1897]. 42 AGAD, KGGW, sygn.6469, kart.13–25 [Spendenaufruf des WGG Gurko, 1893], hier kart.17v. Kursivsetzung vom Verfasser.

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Wohle Russlands und für sein großes Volk“ („bor’ba na blago Rossii i ee velikogo naroda“).43 Russland wurde damit letztlich auf die Russen verkürzt, so wie es auch im Parteiprogramm der Russischen Gesellschaft verkündet wurde. Die russische Staatlichkeit solle dafür Sorge tragen, dass „die nationalen Interessen der Russen ebenso wie die Träger dieser Idee auf dem ganzen Gebiet des Imperiums die Führung“ innehaben. Die Verfasser postulierten hier eine radikale Nationalisierung des Imperiums, die wenig mit jenem Verständnis vom russkoe delo zu tun hatte, das die hohe Beamtenschaft im 19. Jahrhundert ausgezeichnet hatte.44 Derartige nationalistische Aktivisten in Warschau erfreuten sich während der Amtszeit des Premierministers Pjotr Stolypin durchaus der Unterstützung aus dem Zentrum.45 Angesichts dieser fortschreitenden Ethnisierung der Herrschaftshierarchien gerieten auch jene Beamten stärker in Kritik, die sich nicht in diese Weltsicht fügten. Nun wurde der alte Topos der „russischen Sache“ gegen die Amtsträger verwendet, die nicht „russischer Herkunft“ waren. War das traditionelle Leitbild der Verteidigung des russkoe delo selbstverständlich auch von Nichtrussen wie Kocebu oder Imeretinskij getragen worden, weil dieses eben eine etatistische und keine ethnische Kategorie darstellte, wurden nach 1900 nichtrussische Staatsbeamte wie Skalon oder Miller zu Zielscheiben von nationalistischen Angriffen. So wurde Skalon in einer Denunziation, die 1908 den Innenminister erreichte, des Verrats an der „russischen Sache“ im Weichselland bezichtigt. Die sich als „Russen aus Warschau“ stilisierenden Autoren warfen ihm ein Versagen dabei vor, den „russischen Namen hochzuhalten“ („podnjat’ russkoe imja“) und die „nationalen Interessen an der Weichsel“ angemessen zu schützen. Stattdessen sei das Königreich inzwischen „fest in den Händen der Feinde Russlands“.46 Während die Schmähschrift keinen Zweifel daran ließ, dass unter diesen „Feinden Russlands“ vor allem die Polen zu verstehen seien, deutete der Text gleichfalls an, dass Skalons Versagen mit seiner nichtrussischen Herkunft zusammenhänge. Wer immer jedoch bereit sei, für die „russische Sache“ zu kämpfen, der werde im Weichselland als „Russifizierer“ („obrusiteli“) stigmatisiert. Daher sei die Lage der „russischen Gemeinde“ („russkoe obščestvo“) im || 43 AGAD, KGGW, sygn.2606 (1906–1910), kart.8–9v [Schreiben der „Russkoe obščestvo v Varšave“ an den WGG Skalon, 3.2.1906], hier kart.9. 44 AGAD, KGGW, sygn.9012, kart.110b [Programm der Russkoe obščestvo v Varšave]; auch AGAD, KGGW, sygn.2606, kart.8 [Statuten der Russkoe obščestvo v Varšave, 17.10.1905]. 45 AGAD, KGGW, sygn.9012, kart.101 [Depesche des Innenministers Stolypin, 13.9.1907]. 46 GARF, f.215, op.1, d.156, ll.25–27 [Auskunft zu anonymem Brief an den Innenminister, 26.7.1908], hier l.25.

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Königreich verzweifelt und man wende sich an den Minister mit der Bitte, sich der „sterbenden russischen Sache in Polen“ („gibnuščee russkoe delo v Pol’še“) anzunehmen. Dieser müsse die von der Skalon’schen Verwaltung vorgenommenen „rücksichtslosen Maßnahmen (bezzastenčivye mery) gegen jene vielen kleinen Beamten, die nicht meinen, dass die von den Russen im Kraj gehaltenen Positionen den Feinden Russlands abgetreten werden dürfen (ustupat’ zanjatye russkimi v krae pozicii vragam Rossii), zurücknehmen.“47 Ganz ähnliche Anschuldigungen des „Verrats an der russischen Sache“ musste sich auch der Piotrkówer Gouverneur Konstantin Miller gefallen lassen.48 Ihm wurde nicht nur seine deutsche Herkunft zum Vorwurf gemacht, sondern eine Schmähschrift behauptete sogar, er ziele auf den „Schaden der russischen Sache“ („vred russkomu delu“) ab, weil er mit einer Katholikin verheiratet sei. Dass dies eine Kritikführung war, die man keinesfalls nur in anonym verfassten Denunziationen zu artikulieren wagte, zeigt der Revisionsbericht des Senators Nejdgart aus dem Jahr 1910. Auch hier warf der Senator dem Generalgouverneur Skalon zumindest indirekt vor, die „russische Sache“ im Weichselland zu vernachlässigen. Dass Nejdgart vor allem auf Skalons Unterlassung beim Bau eines „Russischen Volkshauses“ („Russkij narodnyj dom“) in Warschau verwies, verdeutlicht, wie sehr sich der Senator bereits die Argumentation der lokalen russischen Nationalisten zu eigen gemacht hatte. Der Bau eines solchen „Volkshauses“ war das zentrale Projekt, das die nationalistische „Russische Gesellschaft in Warschau“ seit mehreren Jahren energisch, aber vergeblich verfolgte.49 Nejdgart übernahm damit zugleich die Kernforderung der Nationalisten, die lokale Verwaltungspolitik auf die Förderung der Russen zu konzentrieren, und ethnisierte das russkoe delo insofern in ganz ähnlicher Weise.50 An einen expliziten Vorwurf gegen Skalons Deutschsein war – im Gegen-

|| 47 GARF, f.215, op.1, d.156, l.25–27. 48 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.1–89v [Schreiben des Piotrkówer Gouverneurs Miller an den WGG Čertkov, 15.4.1903], hier l.68ob. 49 AGAD, KGGW, sygn.2606, kart.8–9v [Schreiben der Russkoe obščestvo v Varšave an den WGG Skalon, 3.2.1906]; und allgemein den Aktenbestand AGAD, KGGW, sygn.7031, kart.1–97 [Unterlagen zum Projekt des Baus eines Russischen Volkshauses in Warschau, 1909–1913]. 50 Dmitrij B. Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, St. Petersburg 1911, zum russkij dom S. 73–94. In zeitgenössischen russischen Publikationen finden sich zahlreiche Beispiele für ein solches ethnisches Verständnis des russkoe delo. Vgl. z. B. Vladimir A. Istomin: Svoi i čužie vragi pravoslavno-russkogo dela v gubernijach Privislinskogo kraja, Moskau 1907; F. F. Orlov: Russkoe delo na Visle (1795–1895), St. Petersburg 1898; Vladimir G. Smorodinov: Popečitel’ Varšavskogo učebnogo okruga Aleksandr L’vovič Apuchtin, St. Petersburg 1912, S. 12–13. Vgl. auch ausführlicher Malte Rolf: Die Revolution von 1905 und der Wandel der Nationsbilder im Russischen

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satz zu antipolnischen und -jüdischen Tiraden gegen zahlreiche Warschauer Unternehmer – in einem Senatorenrevisionsbericht 1910 jedoch noch nicht zu denken. Wie sehr aber die Wahrnehmung von nationalisierten Zeitgenossen dies bereits mehrere Jahre vor dem Krieg gegen das Deutsche Reich als Problem sah, mögen die Aufzeichnungen Aleksej Brusilovs zeigen. Als dieser 1911 als Gehilfe des Oberkommandierenden des Warschauer Wehrbezirks in die Weichselmetropole abkommandiert wurde, kritisierte er die deutschen Seilschaften, die der Generalgouverneur Skalon um sich geschart habe und die die höchsten Posten der Lokalverwaltung monopolisierten.51 Angesichts einer solchen zunehmend nationalen, gelegentlich nationalistischen Engführung des Topos vom russkoe delo nach 1900 mag es kaum überraschen, dass dieses Leitbild in der Selbstverortung des Generalgouverneurs Skalon nunmehr fehlte. Hatte die nichtrussische Herkunft für Berg, Kocebu oder Imeretinskij weder in ihrer Loyalität noch in ihren Karrieremustern eine Rolle gespielt und war damit der multinationale Charakter der Verwaltungselite des Russischen Reichs eindrucksvoll demonstriert worden, so wurde die Frage der ethnischen Abstammung nach der Jahrhundertwende eine, zu der sich nicht nur polnisch-katholische Amtsträger verhalten mussten. Im Zeitalter der Kriegserwartung und mit dem Aufstieg solcher national gesinnten Figuren wie Brusilov gerieten zumindest „die Deutschen“ unter den imperialen Beamten immer mehr in die Defensive. Der Tatbestand, dass sich Skalon trotz aller nationalistischen Anfeindungen bis zu seinem Tod 1914 auf dem Posten des Generalgouverneurs halten konnte, verdeutlicht zwar, dass die Ethnisierung des Verwaltungsapparats keinesfalls abrupt erfolgte. An der schleichenden Reduktion des Russländischen auf das Russische änderte dies wenig. Der graduelle Wandel der Semantik des russkoe delo im Weichselland mag dafür als Indikator dienen. Dieser Prozess der Bedeutungsverschiebung zeigt zugleich auf, dass die hohen imperialen Beamten in ihrer Selbstverortung keinesfalls isoliert operierten. Auch die Generalgouverneure standen vielmehr in permanenter Wechselbeziehung mit einer breiteren Öffentlichkeit, die andere, zum Teil konkurrierende Bilder vom Verwaltungsapparat, seinen Akteuren und ihren Aufgaben entwarf. Hier wurden Zuschreibungen, Erwartungen und Anfeindungen formuliert, die auf den Beamtenjargon zurückwirkten. Zugleich mussten sich die Handlungsmaximen, von denen sich die Generalgouverneure bei ihrer Politik-

|| Reich, in: Ewald Frie/Friedrich Lenger/Ute Planert (Hrsg.): Revolution, Krieg und die Geburt von Staat und Nation. Europa in der Welt des langen 19. Jahrhunderts, Tübingen 2015. 51 Aleksej A. Brusilov: Moi vospominanija, Minsk 2003, S. 50–53.

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implementierung leiten ließen, in der Auseinandersetzung mit der indigenen Gesellschaft bewähren. Auch hier hatten sich die obersten zarischen Beamten den Bedingungen der örtlichen Gemenge- und Konfliktlagen sowie den Reaktionen der einheimischen Bevölkerung zu stellen. Imperiale Politik fand nicht im kontextlosen Raum statt, sondern nahm erst in der Wechselwirkung mit den lokalen Akteuren ihre konkrete Gestalt an. Kaum ein Machtmittel imperialer Herrschaft vermag dieses Wechselspiel der Kräfte, die Opposition und Interaktion von staatlichen Entscheidungsträgern und Akteuren der lokalen Gesellschaft markanter aufzeigen als der Zensurapparat.

7 Geistige Zollschranken und grenzüberschreitende Kommunikation: Zarische Zensur und polnische Öffentlichkeit Die Petersburger Herrschaft im Königreich fußte auf den Gewehren und Bajonetten der zarischen Armee. Wann immer sich das Regime von seinen Gegnern herausgefordert fühlte, stand das Militär bereit, um Rebellionen, Erhebungen oder Streiks niederzuwerfen. In den Krisenphasen der Jahre 1830–31, 1863–64 und 1905–06 zeigte sich, dass der Einsatz von Truppen die ultimative Machtressource der imperialen Autoritäten im Weichselland darstellte. Letztlich scheiterten alle Versuche, die Petersburger Herrschaft abzuschütteln, an eben dieser Machtinstanz. Die zahlenstarke Armee mit ihren nicht-polnischen Soldaten stellte die wesentliche Petersburger Machtsäule im Ausnahmezustand dar. Die langen Phasen geringerer Konfliktintensität dagegen wurden weitaus maßgeblicher von anderen Techniken und Institutionen imperialer Herrschaft geprägt. Einen zentralen Bereich der Auseinandersetzungen in den Jahren zwischen 1864 und 1915 markierte die staatliche Zensurtätigkeit. Sie war ein Machtinstrument imperialer Herrschaft, das zugleich auf die Horizonte jener Konfliktgemeinschaft verweist, in der sich die Petersburger Repräsentanten und ihre einheimischen Gesprächspartner sowie Gegner gleichermaßen wiederfanden. In der Wechselbeziehung von Machtpraktiken, den sie implementierenden Apparaten sowie von diesen ausgelösten lokalen Reaktionen entsteht das komplexe Bild einer konfrontationsreichen Normalität in dem westlichen Randgebiet des Imperiums. „Von der Zensur genehmigt“ – das war der Stempel, den jede Publikation im Russischen Reich bis 1905 tragen musste. Auch die liberaleren Pressegesetze, die nach der Revolution von 1905 erlassen wurden, sahen vor, dass die Zensoren Bücher und Zeitungen kontrollieren und gegebenenfalls konfiszieren konnten.1 Die zarische Zensur stellte somit einen langlebigen Einflussfaktor in der Arena einer wachsenden Öffentlichkeit dar. Sie trug dafür Verantwortung, Grenzen des Sag- und Schreibbaren zu markieren. Sie formulierte politische Inhalte sowie soziale und moralische Werte, die die Literatur thematisieren durfte (und sollte), und sie tabuisierte Themen, Begriffe und Personen. Die zari-

|| 1 Für die Provinzpresse blieb auch mit den Gesetzen von 1905/06 die Vorzensur unangetastet. Siehe Caspar Ferenczi: Funktion und Bedeutung der Presse in Russland vor 1914, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 30/1 (1980), S. 362–398, S. 367.

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sche Zensur war als mächtiger Akteur beteiligt am Kommunikationskreislauf und bedingte Formen und Foren von öffentlicher Meinung im Russischen Reich.2 Die Tätigkeit der Zensur im Königreich Polen war von besonderem Stellenwert für die zarische Administration. Sie sollte die Kontrolle über das lokale Publikationswesen sicherstellen. Damit nahm sie zugleich auch einen tiefen Eingriff in die Schreibtätigkeit der indigenen Gesellschaft vor. Insofern war die Zensur im Königreich eine der Schnittstellen, an denen sich die mit ortsfremden Kräften besetzte Bürokratie und die einheimische Bevölkerung begegneten. Hier waren die in der Regel russischen Beamten des Zensurkomitees und die polnischen oder jüdischen Schriftsteller, Publizisten und Verleger zur wechselseitigen Kommunikation und oftmals zum Konflikt gezwungen. Die zarische Zensur und ihr prägender Einfluss auf die Ausbildung einer spezifischen Öffentlichkeitslandschaft im Weichselland sind Gegenstand des folgenden Kapitels. Es werden die Institutionen und Akteure der Administration sowie die internen Gegensätze herausgearbeitet. Zugleich ist nach der formativen Dimension zu fragen, die die von den Zensoren gesetzten geistigen Zollschranken bei der Entwicklung der polnischen und russischen Öffentlichkeit im Königreich Polen 1863–1915 gehabt haben. Es wird aber auch darum gehen, welche Formen der grenzüberschreitenden Kommunikation trotz oder gerade wegen der Zensur bestanden.

|| 2 Siehe z. B. Ulla Otto: Die literarische Zensur als Problem der Soziologie der Politik, Stuttgart 1968, bes. S. 8 und S. 109. Zu Russland hier ähnlich Andreas Renner: Russischer Nationalismus, S. 160–162; Walter Sperling: Vom Randbegriff zum Kampfbegriff: Semantiken des Politischen im ausgehenden Zarenreich (1850–1917), in: Willibald Steinmetz (Hrsg.): „Politik“. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit, Frankfurt/Main 2007, S. 248–288, S. 255–256. Jüngere Forschung betont den formativen Charakter von Zensur, die aktiv und gestaltend in den Kommunikationskreislauf eingreift und nicht nur Meinungen verhindert. Vgl. z. B. Roger Chartier: The Cultural Use of Print in Early Modern France, Princeton 1987, S. 145–180; Robert Darnton: The Literary Underground of the Old Regime, Cambridge 1982, v. a. S. 193–199; auch Gábor T. Rittersporn/Malte Rolf/Jan C. Behrends: Open Spaces and Public Realm: Thoughts on the Public Sphere in Soviet-Type Systems, in: Gábor T. Rittersporn/Malte Rolf/Jan C. Behrends (Hrsg.): Zwischen partei-staatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten: Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs / Between the Great Show of the PartyState and Religious Counter-Cultures: Public Spheres in Soviet-Type Societies, Frankfurt/Main 2003, S. 423–452.

7.1 Die zarische Zensur im Königreich Polen | 127

7.1 Die zarische Zensur im Königreich Polen: Gesetze und Institutionen, Konflikte und Mentalitäten Im russisch besetzten Teil der alten polnisch-litauischen Adelsrepublik galten auch für die Zensur besondere Bedingungen. 1843 wurde für Polen ein eigener Zensur-Ustav erlassen und ein gesondertes Warschauer Zensurkomitee geschaffen. Die Zensurinstanz an der Weichsel war eine der größten im Zarenreich überhaupt und beschäftigte ebenso viele professionelle Zensoren wie das Komitee in St. Petersburg.3 Die letzte Entscheidungsgewalt in Zensurfragen behielt zunächst der Vizekönig. Nach dem Januaraufstand von 1863 wurde eine gesonderte Kontrollinstanz, die Abteilung für Periodika (Otdel periodičeskoj pečati), eingerichtet, deren Leitung zunächst N. I. Pavliščev übernahm. Sie sollte vor allem die inund ausländische Presse überwachen, aber auch Deklarationen und Liedgut kontrollieren. Diese eigenständige Zensurinstitution bestand bis 1869.4 Erst im Folgejahr – und damit fünf Jahre später als in den anderen Territorien des Russischen Reichs – wurde das Warschauer Zensurkomitee formell dem Innenministerium in St. Petersburg unterstellt. Auch weiterhin blieb das Komitee an der Weichsel eine außergewöhnlich große Institution. Nicht einmal die Kanzlei der Zensurbehörde in der Hauptstadt und damit die zentrale Schaltstelle des Apparats verfügte über mehr permanente Mitarbeiter. Von 46 professionellen Zensoren, die im Jahr 1882 vom Staat insgesamt im Dienst standen, waren zehn allein in Warschau beschäftigt. Bis zum Ersten Weltkrieg stieg deren Zahl auf zwölf an und machte das Warschauer Komitee zum größten im Reichsverbund. Allein in dieser außergewöhnlichen personellen Ausstattung der Behörde drückte sich der hohe Stellenwert aus, den die zarischen Autoritäten der Zensurtätigkeit als Instanz imperialer Herrschaft in den polnischen Provinzen zumaßen.5 Die Erwartungen an den Vorsitzenden des Warschauer Zensurkomitees waren hochgesteckt. Bei einer anstehenden Neubesetzung im Jahr 1899 machte der Warschauer Generalgouverneur Imeretinskij gegenüber St. Petersburg seine Anforderungen an den zukünftigen Amtsinhaber explizit. Er pochte darauf, || 3 Zur Tätigkeit der Zensurinstanzen in Warschau vgl. allg. die Archivbestände GARF, f.312, op.1, Varšavskij komitet po delam pečati (1896–1915) sowie AGAD, Warszawski Komitet Cenzury. Ebenso Maria Prussak: Wybór materiałów z archiwum cenzury rosyjskiej w Warszawie. Siehe ausführlicher auch Malte Rolf: Tsarist censorship. 4 A. V. Kaupuž: O carskom cenzurnom „šlagbaume“ v Varšave vtoroj poloviny XIX v. Vzaimosvjazi slavjanskoj literatury, Leningrad 1966, S. 152–155, S. 152–153. 5 Vgl. die Sitzungsprotokolle des Zensurkomitees AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.35 [Protokolle, 1879]; sygn.36 [Protokolle, 1885]; sygn.42 [Protokolle, 1897]; sygn.11 [Protokolle, 1911].

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dass der neue Vorsitzende unbedingt „genaueste Kenntnis der Bedingungen des hiesigen gesellschaftlichen Lebens“ vorweisen und selbstverständlich über sehr gute Kenntnisse der polnischen Sprache verfügen müsse.6 Der Generalgouverneur unterstrich zudem die Bedeutung, die das Warschauer Zensurkomitee in der Perspektive der zarischen Autoritäten für die Stabilisierung der imperialen Herrschaft im Königreich hatte. Es dürfe kein Zweifel darüber bestehen, dass das Amt „als Posten zu verstehen ist, mit dem eine hohe Verantwortung verbunden ist und der eine der wichtigsten Stützen der russischen Regierungsmacht darstellt.“7 Dass die Behördenleitung des Warschauer Komitees ein begehrtes Amt war, lässt sich beispielhaft an der Vita eines der Bewerber ablesen. Aleksandr A. Pelikan, der sich 1899 um den Vorsitz bemühte, hatte eine glänzende elfjährige Laufbahn in der Petersburger Zensurzentrale vorzuweisen.8 Und dennoch lehnte Imeretinskij diese Bewerbung mit dem Hinweis auf die Ortsfremdheit Pelikans ab. In einem Schreiben an den Bewerber legte Imeretinskij dar, welche Funktionen er der Zensurtätigkeit im Königreich zuschrieb und welche Probleme ihm vordringlich erschienen. Die exzellente Kenntnis des Polnischen – ein Kriterium, das Pelikan nicht erfüllte – sei deshalb notwendig, weil „die polnische Presse nach jahrelanger Aufsicht durch die Vorzensur hier ein besonderes Gepräge angenommen hat, das jemandem, der das Polnische nicht fließend versteht, entgehen muss.“ Denn „die Warschauer Presse ist gefüllt mit Zweideutigkeiten, unklaren Allegorien, scheinbar naiven Vergleichen in kleinen, aber keinesfalls unwichtigen Dingen.“ Zugleich könne nur ein Ortskundiger „die Vielfältigkeit der polnischen Gesellschaft verstehen, [...] die vollständig isoliert von den hier dienenden russischen Menschen besteht, so dass es [für einen externen Beamten] noch viel schwieriger ist, sich mit der polnischen Gesellschaft und ihrem Sprachrohr – der polnischen Presse – vertraut zu machen.“9 Imeretinskij konnte sich mit seinem Anliegen in Petersburg Gehör verschaffen: Zum neuen Komiteeleiter wurde Christof Emmausskij ernannt, der bereits seit 1879 hauptamtlich im Warschauer Zensurkomitee arbeitete und damit mehr als zwanzig Jahre Diensterfahrung im Weichselland vorweisen konnte.10 Imeretinskij drückte hier zugleich seine Wertschätzung der lokalen, wenngleich nicht indigenen Beamtenkohorte aus, deren jahrelange Diensterfahrun|| 6 AGAD, KGGW, sygn.8316, kart.1–2v [Schreiben des WGG Imeretinskij an Baron Aleksandr Ikskul’, 9.2.1899]. 7 AGAD, KGGW, sygn.8316, kart.2v. 8 AGAD, KGGW, sygn.8316, kart.6 [Personalunterlagen Aleksandr Aleksandrovič Pelikans]. 9 AGAD, KGGW, sygn.8316, kart.7–8 [Schreiben des WGG Imeretinskij an Pelikan, 3.3.1899]. 10 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.35 [Sitzungsprotokolle, 1879].

7.1 Die zarische Zensur im Königreich Polen | 129

gen im Weichselland sie zu „Experten des Fremden“ oder genauer zu „Experten des Polnischen“ gemacht hatte. Die Befürchtung einer vermeintlichen „Indigenisierung“ dieser Kandidaten und einer möglichen Uneindeutigkeit ihrer Loyalitäten trat deutlich hinter den Überlegungen zurück, dass nur ein Ortskundiger die zentrale Staatsaufgabe der Zensur im unübersichtlichen Gelände der polnischen Kulturlandschaft bewerkstelligen könne.11 Aus Imeretinskijs Beschreibung spricht damit ebenso die Furcht wie implizit auch der Respekt vor der Undurchdringlichkeit polnischer Öffentlichkeit. Gleich den Beamten der Zensurbehörde stand auch der Generalgouverneur in permanenter Erwartung von „regierungsfeindlichen“ Notizen und Kritiken, die sich, in Äsop’schem Stil gekleidet, in jeder Zeile polnischer Publikationen verbergen konnten und der Wachsamkeit des Kontrollgremiums nicht entgehen durften. Eine solche Sicht auf das Amt der in Warschau tätigen Zensoren trug zur hohen personellen Kontinuität in diesem Gremium bei. Emmausskij war nicht der einzige Beamte, der mehrere Jahrzehnte lang im Warschauer Zensurkomitee tätig war. Diese Stabilität des kleinen Kreises von Amtsträgern beförderte dann ihrerseits, dass sich die Tätigkeit der staatlichen Zensoren bis zur Revolution von 1905 und den folgenden Pressegesetzen kaum änderte. Die Sitzungsprotokolle der Institution zeugen von einer über Jahrzehnte eingespielten Routine, die selbst durch das Aufkommen der modernen Massenpresse in den 1890er Jahren wenig irritiert wurde. Erst die Aufhebung der Vorzensur im Jahr 1906 sowie das uneingeschränkte Inkrafttreten dieser Bestimmungen im Königreich nach dem Aussetzen des Kriegsrechts 1909 bedeuteten eine tiefe Zäsur für die Amtsgeschäfte der zarischen Zensoren. Dies ist an späterer Stelle zu diskutieren. Es soll zunächst darum gehen, einen Einblick in den vorrevolutionären Arbeitsalltag der Zensurinstitution zu geben sowie die Entscheidungskriterien der Zensoren und somit ihre wesentlichen Bedrohungs- und Feindbilder zu bestimmen. Die acht bis zwölf Mitglieder des Zensurkomitees kamen seit den 1870er Jahren im wöchentlichen Turnus zu einer gemeinsamen Sitzung zusammen. Geleitet vom Vorsitzenden referierten die einzelnen Zensoren über verdächtige Funde und schlugen Zensurmaßnahmen wie die Streichung von „problematischen“ Passagen oder das Publikationsverbot eines ganzen Werkes vor.12 Das Komitee teilte sich die wachsende Last der Kontrolllektüre, wobei die Zuständigkeiten der einzelnen Beamten regelmäßig wechselten. Es lassen sich vier

|| 11 Zur „Indigenisierung“ vgl. Robert L. Przygrodzki: Russians in Warsaw, S. 4–5 und S. 21–23. 12 Zu Folgendem vgl. die Sitzungsprotokolle des Zensurkomitees: AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.35, kart.1–286 [Protokolle, 1879]; sygn.36, kart.1–209 [Protokolle, 1885]; sygn.41, kart.1–102 [Protokolle, 1891]; sygn.21, kart.1–28 [Protokolle, 1901–1902]; sygn.11 [Protokolle, 1911].

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Schwerpunktbereiche benennen, die zugleich die Berichtführung der Protokolle strukturierten. Zum einen befasste sich das Komitee mit ausländischen Publikationen, zu denen auch polnischsprachige Werke aus dem nahen Ausland und vor allem aus Galizien gerechnet wurden. Hier befand die Zensurinstanz darüber, ob ein Import der Bücher in das Königreich gestattet werden könne. In gleicher Weise wurde mit Werken verfahren, die bereits im Inneren Russlands publiziert worden waren. Auch diesbezüglich hatte die Institution zu beurteilen, ob das betreffende Werk für die besondere politische Situation im Weichselland unbedenklich war. Der wesentliche Teil der zu leistenden Vorzensur jedoch galt jenen Manuskripten, die Autoren aus dem Königreich dem Komitee zur Genehmigung vorzulegen hatten. Alle zur Publikation bestimmten Druckformate mussten in standardisierter Form bei der Zensurbehörde eingereicht werden: Literarische Texte ebenso wie wissenschaftliche Publikationen, Schulbücher, Kalenderblätter, Liedsammlungen oder Statistiken. Auch Illustrationen, Postkartensammlungen und andere Abbildungen mussten vor der Drucklegung eine Unverdächtigkeitserklärung der Zensoren einholen. Auf den wöchentlichen Sitzungen wurden in den 1880er Jahren jeweils um die zwanzig polnischsprachige Manuskripte eingehender besprochen und aus diesem engeren Kreis in der Regel zwei bis drei Texte ganz oder in großen Teilen zensiert. Über die Jahrzehnte erhöhte sich in diesem Bereich die Arbeitslast der Zensoren spürbar. Bereits 1897 musste das Komitee die doppelte Anzahl an eingereichten Druckvorlagen bewältigen, in den letzten vorrevolutionären Jahren 1901–02 nahm diese Zahl noch weiter zu. Ein dritter wesentlicher Bereich der Kontrolltätigkeit betraf Aufführungen aller Art. Galt hier die Aufmerksamkeit in den frühen Jahrzehnten vor allem den Theatern sowie Opern- und Konzertsälen, so gesellten sich seit den 1890er Jahren auch Kino- und andere öffentliche Massenveranstaltungen wie etwa Sportereignisse hinzu. Mit der Belebung der Vereinslandschaft in Warschau im ausgehenden 19. Jahrhundert galt es zudem, auch Vortragsabende und andere Versammlungsformen zu überwachen. Das Komitee war zum einen beauftragt, das Repertoire zu genehmigen und die jeweiligen Theaterstücke, Opern oder Vortragsmanuskripte auf kritische Passagen hin zu sichten; es war aber ebenso befugt, die tatsächlichen Inszenierungen zu kontrollieren. Gerade Letzteres scheint allerdings nur sporadisch erfolgt zu sein. Zumindest bezogen sich jene Fälle, in denen einzelnen Zensoren mangelnde Wachsamkeit vorgeworfen wurde, vor allem auf die Umsetzungen im Bühnenbild oder in der Ausstattung der Schauspieler und Opernsänger. Nachdem im Großen Theater bei der Opernaufführung von Wanda sogar polnische Flaggen und andere „patriotische“ Symbole zum Bühneneinsatz gekommen waren, dekretierte der Generalgouverneur

7.1 Die zarische Zensur im Königreich Polen | 131

schließlich, dass ein Mitglied des Komitees zwingend bereits bei der Generalprobe zugegen sein sollte.13 Verlangte diese Kontrolle der performativen Kultur im Königreich schon erheblichen Arbeitseinsatz, so sollte sich der Bereich der Periodika immer mehr zur Hauptlast und auch zum gravierendsten Problemfeld entwickeln. Im Königreich bestand anders als in den größeren innerrussischen Städten auch bei Zeitungen und Zeitschriften der Zwang zur Vorzensur. Bis in die 1890er Jahre hatte sich die Kontrolllektüre noch im überschaubaren Rahmen gehalten, was sich unter anderem darin widerspiegelte, dass problematisch erscheinende Zeitungsartikel oft kollektiv in den Komiteesitzungen diskutiert wurden. Dies änderte sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, als die schnell wachsende Leselast eine Spezialisierung der Beamten notwendig machte und nun einzelne Zensoren sich der Vorablektüre der Presse widmeten. Der schleichende Kontrollverlust, der durch die schiere Menge an zu sichtendem Material bedingt war, kündigte sich hier bereits schrittweise an. Nach Aufhebung des Kriegsrechts 1909 war es dann vor allem dieser Bereich, in dem die Überwachungsfunktion des Komitees für Druckangelegenheiten von der rasanten Entwicklung des Zeitungsmarktes schlicht überrollt wurde. Das Komitee behandelte die kritischen Fälle in diesen vier Schwerpunktbereichen kollektiv in den gemeinsamen Sitzungen. Die Sitzungsprotokolle zeugen dennoch nicht von einer ausgeprägten Diskussionskultur. Im Gegenteil, zumindest diese Ebene der behördeninternen Dokumentation reflektiert keinerlei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedern. In der Regel wurden die von den einzelnen Beamten vorgeschlagenen Zensurmaßnahmen ohne weitere Vertiefung angenommen und vom jeweiligen dienstältesten Zensor gegengezeichnet. In vielen Fällen bedurfte es offensichtlich nicht einmal einer ausführlicheren Darlegung, was denn an einem Werk als problematisch eingestuft wurde. Die Etikettierung einer Textstelle als „polnisch-patriotisch“ durch einen individuellen Zensor reichte vollkommen aus, um eine Zensurmaßnahme zu erwirken. Weiter begründen musste der Beamte nicht, warum ihm eine Passage verdächtig erschienen war. Brisanter war dagegen, dass die Zensoren für jene Manuskripte und Bücher persönlich verantwortlich waren, die sie zur Drucklegung beziehungsweise für den Handel freigegeben hatten. Gleiches galt auch für die verschiedenen Aufführungen und Veranstaltungen im Königreich. In den Unterlagen des Komitees wurden die geprüften Werke und performativen Akte namentlich den Beamten

|| 13 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.77, kart.105–105v [Schreiben des WGG an das Komitee für Druckangelegenheiten, 6.3.1908].

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zugeordnet, so dass sich nachträglich jede Form von Unachtsamkeit identifizieren ließ. Hier kam es dann auch immer wieder zu Abmahnungen wegen „Nachlässigkeit“. Die administrativen Maßnahmen gegen ungenügend wachsame Beamte waren wenig zimperlich. In Extremfällen wurden die Beschuldigten zu Arrest verurteilt oder ihres Amts enthoben. Zu Letzterem kam es in einem tatsächlich schwerwiegenden Fall der Vernachlässigung der Dienstpflicht, der gleichzeitig auch einen Einblick in die Spielräume von Öffentlichkeit im Weichselland gibt. Hier hatte der Beamte 1908 eine Filmvorführung in Warschau genehmigt, in der das Leben einer revolutionären Kampfgruppe positiv darstellt wurde. Konfrontiert mit diesem Vorwurf, rechtfertigte sich der Zensor mit dem Hinweis, dass bei seinem Besuch des Filmes die Beleuchtung zu schlecht gewesen sei, um etwas auf der Leinwand zu erkennen. Diese Begründung sagt nicht nur viel über den Stand der kinematographischen Technik aus, sondern auch etwas zur „oberflächlichen Beziehung der verantwortlichen Person zu ihrer Aufgabe“, wie es in der wütenden Anklage des informierten Generalgouverneurs Skalon hieß. Skalon ordnete eine Relegation des nachlässigen Beamten an.14 Dominierte die Gewohnheit eines seit den 1870er Jahren fest etablierten Arbeitsprozederes den Alltag der Zensoren, so lässt sich auch bei den Kriterien, die über Zensurmaßnahmen entschieden, wenig Wandel ausmachen. Zwar nahm der Befund, ein Werk würde die „Arbeiterfrage“ thematisieren oder aber zur „Feindschaft zwischen den Klassen“ anstiften, seit den 1890er Jahren zu.15 Er vermochte jedoch nicht die Hegemonie der alten Feindbilder zu erschüttern. Die meisten und weitestreichenden Fälle von Zensur betrafen jene Textpassagen oder Aufführungen, in denen „Kritik an den Regierungsorganen“ geäußert wurde16 oder aber die Zensoren eine „polnisch-patriotische Tendenz“ auszumachen meinten. Der Vorwurf einer solchen „polnischen Propaganda“ war zweifellos das ultimative Argument in den Zensorenkreisen. Hier reichte der nebulöse Hinweis auf einen „allgemein tendenziösen Charakter des Artikels“, um eine Druckgenehmigung zu verhindern.17 Vor allem historische Themen

|| 14 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.77, kart.257–257v [Brief des WGG an das Komitee für Druckangelegenheiten, 2.11.1908]. GARF, f.215, op.1, d.310, l.6 [Telegramm M. Jačevskijs (Beamter für besondere Aufgaben) an Ivan Jankul’, 13.12.1897]. 15 Manfred Hagen: Entfaltung politischer Öffentlichkeit, S. 103–104. 16 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.42, kart.1–4 [Protokoll Nr. 1, 7.1.1897]; sygn.162, ohne Blattangaben [Schreiben des Staatsanwalts der Warschauer Gerichtskammer an das Komitee für Druckangelegenheiten, 3.6.1911]. 17 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.36, kart.15–18 [Protokoll Nr. 5, 31.1.1885]; kart.158–161 [Protokoll Nr. 40, 26.9.1885]; sygn.36, kart.209–217 [Protokoll Nr. 31, 12.8.1897];

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erschienen den Beamten brisant. Selbstverständlich galt dies für jeden Bezug auf die polnischen Aufstände. Erinnerungen an 1830–31 oder 1863–64 waren unter den Bedingungen der Vorzensur nicht legal zu veröffentlichen.18 Aber auch sonst stellten historische Stoffe ein problematisches Feld dar, da die Zensoren schnell einen unerwünschten Verweis auf die Vergangenheit polnischer Eigenstaatlichkeit und Größe zu erkennen glaubten. So wurde das Drama König Jagiełło wegen seiner vermeintlich „zwangsläufigen Darstellung der Vereinigung Polens und Litauens“ zensiert.19 Und überhaupt berührte allein die Erwähnung historischer polnischer Spuren in den westlichen Gouvernements ein Tabu, das rigorose Zensurmaßnahmen provozierte.20 Ein weiterer zentraler Vorwurf der Zensoren bezog sich auf Werke, die „zur Spaltung zwischen Russen und Polen“ beitrügen. Ein polnischer Autor, der in einem Text persönliche Kontakte zu Russen für „falsch“ und eine Reise nach Russland zum „Verrat an der vaterländischen Pflicht“ erklärte, durfte nicht auf eine Druckgenehmigung hoffen. Aber auch schon allgemeinere Berichte, etwa über Alkoholismus in Russland, waren nicht publikationsfähig. Alles, was in der Einschätzung der Beamten „die Feindschaft“ zu Russland oder gar auch „den Hass auf das Russische“ propagierte, fiel der Zensur zum Opfer.21 Gleiches galt auch für die Kritik an der Orthodoxie. Wenn beispielsweise Zweifel an dem „herrschenden Charakter“ der Orthodoxie „in diesem Land“ artikuliert wurden, strich der Zensor die betreffenden Passagen. Dagegen waren antikatholische Werke unproblematisch.22 Ambivalenter verhielt sich das Zensurkomitee gegenüber antijüdischen Publikationen. Sollte sich die Institution nach der Revolution von 1905 gerade in diesem Bereich weitgehend desinteressiert zeigen und entsprechende Texte nur im Extremfall konfiszieren sowie ein Gerichtsverfahren anstreben, so wurde in der Mitte der 1880er Jahre noch die Broschüre „Wie und warum schlägt man die Juden“ verboten. Hier erfolgte die Zensurmaßnahme im Übrigen auf direkte Anweisung des Warschauer General|| sygn.77, kart.105–105v [Schreiben des WGG an das Komitee für Druckangelegenheiten, 6.3.1908]. 18 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.36, kart.179–193 [Protokoll Nr. 27, 15.7.1897]; sygn.77, kart.340–364v [Brief des WGG an das Komitee für Druckangelegenheiten, 13.11.1909]; sygn.78, kart.113–114v [Urteil der Warschauer Gerichtskammer, 11.11.1910]. 19 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.36, kart.24–27 [Protokoll Nr. 7, 14.2.1885]. 20 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.41, kart.89–102 [Protokoll Nr. 14, 8.4.1891]. 21 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.36, kart.42–45 [Protokoll Nr. 12, 20.3.1885]; sygn.42, kart.1–4 [Protokoll Nr. 1, 7.1.1897]; kart.5–12v [Protokoll Nr. 2, 14.1.1897]; sygn.77, kart.5 [Beschluss des WGG, 31.10.1907]; sygn.78, kart.116–117v [Urteil der Warschauer Gerichtskammer, 16.10.1910]. 22 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.42, kart.5–12v [Protokoll Nr. 2, 14.1.1897].

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gouverneurs, der nur vier Jahre nach dem „Weihnachtspogrom“ in Warschau antijüdische Hetze als Gefährdung der öffentlichen Ordnung klassifizierte.23 In den 1890er Jahren gesellte sich zu diesem Katalog an Nichtsagbarkeiten schließlich der Klassenantagonismus. Allein die Thematisierung der „Arbeits-“ oder „sozialen Frage“ wurde nur in seltenen Fällen zur Publikation freigegeben.24 Spätestens dort, wo die Beamten ein Evozieren von „Gegensätzen der Klassen“ oder gar „ein Schüren von Feindschaft der Arbeiter gegenüber Unternehmern, Kapitalisten und überhaupt den besitzenden Klassen“ erkannten, kam die rote Zensorentinte zum Einsatz.25 Natürlich waren sich die Amtsträger bewusst, dass auch ihr Gegenüber – die polnischen und jüdischen Autoren – den Kriterienkatalog der Zensurbehörde kannte. Und gelegentlich überrascht, welch offene Kritikführung an der Regierung und an den imperialen Repräsentanten vor Ort dennoch der Instanz zur Genehmigung vorgelegt wurde. Offensichtlich hofften die unverfrorenen Verfasser hier auf eine allgemeine Unachtsamkeit der Zensoren, die derart explizit anklagende Passagen überlesen könnten. Verbreiteter war zweifellos die Praxis, die Kritik an den herrschenden Zuständen in die Sprache von Anspielungen, Ironie und verdeckten Zweideutigkeiten zu kleiden. Die Sitzungsprotokolle der Zensurbehörde reflektieren die Angst und auch den Respekt der Beamten vor einem solchen Äsop’schen Stil. Das Misstrauen galt vor allem jeder Form von ironischer Darstellung. Und so forderte das Zensurkomitee grundsätzlich „die strengste Zensur bei allen humoristischen Veröffentlichungen, da hier die Möglichkeit von Zweideutigkeiten besteht.“ Zugleich hielt es im Protokoll fest, dass der jeweilige Verleger solche Zeilen detailliert zu erklären habe, bevor eine Druckgenehmigung erfolgen könne. Das Zeitalter der Vorzensur war eine recht freudlose Periode.26 Aus diesem Zitat spricht aber zugleich die Hilflosigkeit, mit der die Zensoren der Kunst der Verschleierung gegenüberstanden. Sie mussten in ihrer gesellschaftlichen Isolation der Genese von neuen Signifikanten in der polnischen Öffentlichkeit fast zwangsläufig hinterherhinken. Welches Wort oder welche Formulierung einen kritischen Gehalt transportierte, kam den Zensoren in der Regel wohl nur dann zur Kenntnis, wenn der Gebrauch bereits ubiquitär war. Zu diesem Zeitpunkt waren die Produzenten einer verschlüsselten Begriffsmatrix längst weitergezogen und hatten neue Symbole, Metaphern oder Analogien auf || 23 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.36, kart.187–191v [Protokoll Nr. 47, 14.11.1885]. 24 Vgl. Adolf Suligowski: Kwestya Mieszkań, Warschau 1889. 25 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.78, kart.121 [Urteil der Warschauer Gerichtskammer, 11.11.1910]. 26 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.36, kart.117–122 [Protokoll Nr. 30, 17.7.1885].

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dem Publikationsmarkt in Umlauf gebracht. Dem Zensurkomitee verblieb damit die unbefriedigende Aufgabe, nur jene Spitzen eines kritischen Diskurses zur imperialen Herrschaft, zur Dominanz des Russischen und zur Benachteiligung der Polen kappen zu können, die den Beamten überhaupt sichtbar wurden. Allerdings hatte sich die Zensurbehörde keinesfalls nur mit solchen politischen Angelegenheiten zu befassen. Wie im Inneren Russlands gehörte auch im Weichselland die moralische Zensur zu ihren Amtsgeschäften. Angeleitet von der traditionell paternalistischen Vorstellung der Zensur als pokrovitel’stvo – Schirmherrschaft – investierten die Zensoren erhebliche Aufmerksamkeit in Fragen der Sittlichkeit und bei den Milieus, in denen diese besonders gefährdet schien.27 Dieses Konzept hatte auch in Warschau seine Gültigkeit. Seit der Expansion des Buchmarktes in den 1890er Jahren nahmen jene Fälle, in denen die Zensoren sich als moralische Schutzinstanz aufgerufen sahen, erheblich zu. Solche Verdikte wie „nicht für Kinder geeignet“ oder „in Bezug auf Schüler moralisch verwerflich“ wurden dementsprechend oft gefällt. Die Zensoren sahen sich immer dann besonders gefordert, wenn sich Texte an „einfache Menschen“ richteten, denen sie kein eigenständiges Urteil zutrauten. Gerade auch der Bereich der Sexualität erschien hier als problematisch. So wurden in Theaterstücken Textstellen gestrichen, wenn sie das Thema von sexueller Gewalt anzudeuten schienen, und Ratgeber zu Geschlechtserkrankungen auf den Index gesetzt.28 Der Erhalt von öffentlicher Ordnung, den die Beamten als ihre oberste Pflicht sahen, umfasste eben auch die Fragen von Anstand, Moral und Sittlichkeit. Es ist auffällig, dass die Zensoren nicht vorschnell Werke in ihrer Gesamtheit der Öffentlichkeit vorenthielten. In einer Vielzahl von Fällen waren die Verbote eher selektiv, indem nur einzelne Textpassagen gestrichen oder zum Teil vom Zensor sogar persönlich Korrekturen vorgenommen wurden. Und so kann es als typisch gelten, dass eine zunächst beanstandete Ballettinszenierung in Warschau dennoch zur Aufführung kam, als jene Kostüme umgeschneidert waren, die zuvor angeblich an die polnische Armee der 1830er Jahre erinnert hätten.29

|| 27 Vgl. Daniel Balmuth: The Origins of the Tsarist Epoch of Censorship Terror, in: American Slavic and East European Review, 19/4 (1960), S. 497–520, S. 498; Jeffrey Brooks: When Russia Learned to Read. Literacy and Popular Literature, 1861–1917, Princeton 1985, S. 109–164; Richard Pipes: Russia under the Old Regime, New York 1995, S. 292; Gennadij V. Žirkov: Istorija cenzury v Rossii XIX–X vv. Učebnoe posobie dlja studentov vysšich učebnych zavedenij, Moskau 2001, S. 130–135. 28 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.36, kart.19–22 [Protokoll Nr. 6, 7.2.1885]; kart.187–191v [Protokoll Nr. 47, 14.11.1885]; sygn.36, kart.179–193 [Protokoll Nr. 27, 15.7.1897]. 29 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.36, kart.117–122 [Protokoll Nr. 30, 17.7.1885], hier kart.175.

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Insgesamt waren die Zensoren bei ihrem Versuch, Einfluss auf die Öffentlichkeit im Königreich zu nehmen, zumindest bis zur Zäsur von 1906 durchaus erfolgreich. Auch mit Blick auf das Königreich Polen lässt sich bis zu diesem Zeitpunkt von einer starken Prägekraft der Zensur sprechen: Sie trug entscheidend zu einer spezifischen Ausformung von öffentlichen Debatten und ihren Inhalten im Weichselland bei. Gerade im Vergleich zur innerrussischen Situation wird deutlich, wie groß der Einfluss der Zensoren in den polnischen Provinzen im 19. Jahrhundert war.30 Das hatte mehrere Gründe. Zum ersten war die Zensur im Königreich schlicht sehr viel strenger, als es im Reich allgemein der Fall war. Das hing vor allem mit dem durch die polnischen Aufstände gespeisten Misstrauen der imperialen Bürokraten gegenüber der polnischen gebildeten Gesellschaft zusammen.31 Nicht ohne Grund wurden vor allem die romantisch geprägten Schriften der Aufstandszeit für die Eskalation von 1863 verantwortlich gemacht. Entsprechend nachhaltig war das Bestreben zarischer Zensoren, das Nachhallen des romantisch-aufrührerischen Denkens in polnische Publikationen hineinzulesen und zu zensieren. Die Vorzensur wurde so in Warschau anders als in Moskau oder St. Petersburg im 19. Jahrhundert nie aufgehoben. Und selbst die liberalen Pressegesetze von 1905–06 griffen im Weichselland zunächst nicht; unter den Bedingungen des während der Revolution erklärten Ausnahmezustands bestand die Vorzensur bis 1909 ungebrochen fort.32 Die Schärfe der Zensur im Königreich resultierte ebenso aus der Parallelexistenz von staatlichen Instanzen, die allesamt ein Mitsprachrecht bei Zensurentscheidungen hatten. Die Quellen sprechen hier von einer nur bedingt harmonischen Kohabitation dieser Institutionen und Akteure. Vor allem zwischen dem Generalgouverneur und dem Petersburger Innenminister kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen, da Kompetenzfragen und Einflussbe-

|| 30 Siehe Daniel Balmuth: Censorship in Russia 1865–1905, Washington D.C. 1979; Marianna Tax Choldin: A Fence around the Empire. Russian Censorship of Western Ideas under the Tsars, Durham 1985; Benjamin Rigberg: The Efficacy of Tsarist Censorship Operations, 1894–1917, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 14 (1966), S. 327–346; Charles Ruud: Fighting Words: Imperial Censorship and the Russian Press, 1804–1906, Toronto 1982; Gennadij V. Žirkov: Istorija cenzury. 31 Vgl. A. I. Podvysockij (Hrsg.): Zapiski očevidca o sobytijach v Varšave v 1861 i 1862 godach, St. Petersburg 1869; Vladimir A. Istomin: Voennoe položenie v Carstve Pol’skom, Moskau 1903. 32 AGAD, KGGW, sygn.703, kart.32–32v [Schreiben des Wilnaer Gouverneurs Kršiviskij an den WGG Skalon, 5.7.1908]. Siehe auch Janusz Kostecki/Małgorzata Rowicka: Cenzura rosyjska wobec twórczości Adama Mickiewicza w latach 1865–1904, in: Rocznik Biblioteki Narodowej, XXXV (2003), S. 283–294.

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reiche auch bei der Zensurpraxis ausgehandelt werden mussten.33 So forderte beispielsweise der Warschauer Generalgouverneur Čertkov 1902 das Recht ein, die Statuten von in Warschau gegründeten Vereinen selbst sichten und gegebenenfalls zensieren zu dürfen, ohne die Entscheidung des Innenministers abwarten zu müssen.34 Auch die Positionen des Generalgouverneurs und des Kurators des Warschauer Bildungsbezirks waren in Zensurfragen keineswegs immer im Einklang.35 So waren dem Kurator im Bildungsbereich 1869 Zensurkompetenzen zugesprochen worden, die die reformorientierten Generalgouverneure in den 1890er Jahren zu beschneiden versuchten. Beispielsweise hintertrieb Imeretinskij das Vorhaben des Kurators, den Lesebeständen der geplanten Volksbibliotheken eine stärker russische Prägung zu geben. Der Kurator Valerian Ligin befürwortete hier eine verschärfte Zensur des Katalogs polnischer Bücher bei gleichzeitiger Aufstockung der russischsprachigen Titel. Imeretinskij verwies dagegen auf die negative Wirkung, die eine solche „russifizierende“ Maßnahme bei der polnischen Öffentlichkeit haben werde, und versuchte den Anteil polnischer Publikationen im Bibliotheksangebot hoch zu halten.36 Der Generalgouverneur konnte sich in diesem Disput mit Hilfe kaiserlicher Unterstützung letztlich durchsetzen.37 All diese behördeninternen Konflikte machten die Zensur im Königreich nicht nur streng, sondern auch unberechenbar. Da es kein eindeutiges Zentrum gab, das über die Grenzen des Sagbaren entschied, waren die Richtlinien der Zensur uneinheitlich und für Außenstehende schwer kalkulierbar. Und so konnten Zensurakte auch renommierte, scheinbar etablierte Zeitungsorgane treffen, und das weitgehend unabhängig vom allgemeinen politischen Klima. So wurde 1897 der Vertrieb der Zeitung Gazeta Polska auf Antrag des Generalgouverneurs vom Innenminister für sechs Monate unterbunden, nachdem hier ein Artikel zu sozial-moralischen Problemen erschienen war. Dies ist insofern bemerkenswert,

|| 33 Vgl. Vsepoddanejšaja zapiska Varšavskogo General’-Gubernatora za 1897 g. s pometkami Nikolaja II., in: Tajny našej gosudarstvennoj politiki v Pol’še. Sbornik sekretnych dokumentov, hrsg. vom Russian Free Press Fund, London 1899, S. 5–6. 34 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.30–45 [Brief der Kanzlei des WGG Čertkov an den Innenminister Pleve, 12.3.1902]. 35 Siehe Stanislaus A. Blejwas: Realism in Polish Politics, S. 51–57; Stephen D. Corrsin: Warsaw before the First World War, S. 10–12. 36 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.13–14 und 28–30 [Auszug aus dem Bericht des WGG Imeretinskij aus dem Jahr 1897, 12.1.1898]. 37 GARF, f.215, op.1, d.94, l.47 [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 10.2.1898].

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als 1897 durchaus noch das Klima der allgemeinen Entspannung vorherrschte, das die frühen Regierungsjahre Nikolaus’ II. charakterisierte. Der Zensurakt war damit ein Beispiel dafür, dass auch im proklamierten „Zeitalter des Vertrauens und der Versöhnung“ keine Verlässlichkeit der Toleranzgrenzen bestand.38 Zugleich demonstrierte die Zensurmaßnahme aber auch, welcher interne Druck auf den Zensoren lastete. Der Generalgouverneur argumentierte in seiner Begründung zur Suspendierung der Zeitung, dass unter den Bedingungen der Vorzensur jeder nicht zensierte Artikel von der Öffentlichkeit als eine versteckte Proklamation der Regierungsabsichten verstanden werden würde. Ein unachtsam zur Veröffentlichung freigegebener Beitrag würde als ein Signal für einen allgemeinen Kurswechsel der zarischen Behörden gelesen. Jede nicht zensierte Schrift war gleichbedeutend mit einer explizit genehmigten Aussage und hatte insofern programmatischen Charakter. Kein Wunder, dass der Generalgouverneur eine deutliche Bestrafung jenes Zensors veranlasste, der es unterlassen hatte, den kritischen Artikel in der Gazeta Polska zu beanstanden. Der Zensor wurde für fünf Tage unter Arrest auf der Warschauer Hauptwache gestellt.39 Die russischen Beamten und Zensoren sahen sich also permanent von einer polnischen Öffentlichkeit beobachtet. Die zarischen Administratoren waren sich sehr bewusst, dass auch scheinbar zweitrangige Detailfragen schnell mit der Debatte der „polnischen Frage“ verknüpft werden könnten und kleinere Konzessionen als Signale für den grundsätzlichen Wandel der Regierungspolitik im Königreich gedeutet würden. Die Autorität der Staatsmacht war aus der Perspektive der zarischen Beamten permanent gefährdet und bedurfte daher der dauerhaften und demonstrativen Zurschaustellung von Stärke und Unbeugsamkeit.40 Eine solche Selbstbeobachtung der Beamten hatte unmittelbare Folgewirkungen für ihre Reformbereitschaft. Reformen wurden in dieser Sicht nicht primär als inhaltlich begründete Maßnahmen wahrgenommen. Vielmehr deutete man sie als Akte mit Verweischarakter auf die Grundlagen imperialer Herrschaft.41 Es ging also primär um die grundsätzliche Signalwirkung von Maß-

|| 38 GARF, f.215, op.1, d.310, ll.2–6 [Telegramm des WGG Imeretinskij an den Innenminister Goremykin, 4.12.1897]. 39 GARF, f.215, op.1, d.310, l.6 [Telegramm M. Jačevskijs an Ivan K. Jankul’, 13.12.1897]. 40 Siehe z. B. die behördeninternen Überlegungen in Osobyj žurnal’ Komiteta Ministrov, 10.2.1898, in: Tajny našej gosudarstvennoj politiki v Pol’še. Sbornik sekretnych dokumentov, hrsg. vom Russian Free Press Fund, London 1899, S. 52. 41 Vgl. z. B. GARF, f.215, op.1, d.76, ll.23–23ob [Bericht des WGG Al’bedinskij an Alexander II., 27.12.1880] und GARF, f.215, op.1, d.76, ll.45–81 [Beschlüsse des Komitees für die Angelegenheiten des Königreichs Polen, 1880–81].

7.2 Eine polnische Gegenöffentlichkeit? | 139

nahmen, ihre Sichtbarkeit und ihre Rezeption durch eine angenommene „öffentliche Meinung“ von Seiten der Polen. Der symbolische Gehalt von Politik war auch in den Apparaten der Autokratie hoch reflektiert. Die Relevanz der Zensur erklärt sich aus dieser wahrgenommenen Frontstellung gegenüber einer polnischen Öffentlichkeit, die die zarischen Beamten dazu veranlasste, sich nur sehr vorsichtig im unübersichtlichen Warschauer Konfliktfeld zu bewegen. Im Zweifelsfall verwendeten sie lieber zu viel der roten Zensorentinte als zu wenig.

7.2 Eine polnische Gegenöffentlichkeit? Untergrundaktivitäten und grenzüberschreitende Kommunikation Wie aber sah diese polnische Gegenöffentlichkeit aus? Wie prägte die zarische Zensur ihre Foren und Formen? Die scharfe, von Zeitgenossen als willkürlich empfundene Zensur hatte nachhaltige Auswirkungen auf die Akteure einer polnischen Meinungslandschaft. Zahlreiche von ihnen suchten nach Ausweichstrategien. Die zarische Zensur konnte auf vielen Pfaden umgangen werden. Vor allem die nationalen und sozialistischen Bewegungen optierten für die Illegalität. Sie errichteten engmaschige Netzwerke geheimer Bildungseinrichtungen, Lesezirkel, Druckorte und Textzirkulation. So konnte die Nationale Liga, ihre Gesellschaft für Nationale Bildung (Towarzystwo Oświaty Narodowej, TON) oder auch der Verband der Polnischen Jugend (Związek Młodzieży Polskiej, „Zet“), der zunehmend unter dem Einfluss der Liga stand, ein weitverbreitetes System von Bildungs- und Parteizirkeln im Königreich etablieren.42 Józef Piłsudskis Polnische Sozialistische Partei, der jüdische sozialistische Bund und der Ableger der Sozialdemokratischen Partei im Königreich waren nicht weniger aktiv.43 Zusätzlich waren vor allem in der nordöstlichen Provinz Suwałki Aktivisten der litaui-

|| 42 Siehe Laura A. Crago: The „Polishness“ of Production: Factory Politics and the Reinvention of Working-Class National and Political Identities in Russian Poland’s Textile Industry, 1880– 1910, in: Slavic Review, 59/1 (2000), S. 16–41, S. 29–41; Brian A. Porter: When Nationalism Began to Hate. Imagining Modern Politics in Nineteenth-Century Poland, Oxford 2000, S. 119–127. 43 Siehe Robert E. Blobaum: Feliks Dzierżyński and the SDKPiL. A Study of the Origins of Polish Communism, New York 1984; Norman M. Naimark: The History of the „Proletariat“: The Emergence of Marxism in the Kingdom of Poland, 1870–1887, Boulder/Col. 1979; Gertrud Pickhan: „Gegen den Strom“. Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund „Bund“ in Polen 1918– 1939, Stuttgart 2001, S. 34–69; Joshua D. Zimmermann: Poles, Jews, and the Politics of Nationality. The Bund and the Polish Socialist Party in Late Tsarist Russia, 1892–1914, Madison 2004, S. 72–74 und S. 85–98.

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schen Nationalbewegung damit beschäftigt, litauische Lehr- und Lernkreise zu betreiben.44 Die Fliegende Universität (Uniwersytet Latający) oder die Untergrundschulen und -gesellschaften des Polnischen Schulverein (Polska Macierz Szkolna) und der Warschauer Wissenschaftsgesellschaft (Towarzystwo Naukowe Warszawskie) füllten die Leerstellen, die ein russifiziertes Bildungssystem im Königreich hinterließ.45 All diese Institutionen und Aktivitäten zeugen davon, dass Strategien der Illegalität ihre Breitenwirksamkeit hatten. Auch wenn es der zarischen Polizei um die Jahrhundertwende gelang, einige der Untergrundorganisationen auszuheben, so war sie doch niemals in der Lage, jene Öffentlichkeit, die sich jenseits der von der Zensur tolerierten Räume entfaltete, zu unterbinden. Die Revolution von 1905 demonstrierte endgültig, wie wenig die zarischen Behörden im Stande waren, die lokale Bevölkerung zu kontrollieren und eine Gegenöffentlichkeit zu verhindern. Dies hatte auch damit zu tun, dass ein räumliches Umgehen der Zensur möglich war. Denn es bestand die Möglichkeit, mit Publikationen, die in Preußen und Galizien veröffentlicht worden waren, auf die Debatten im Königreich einzuwirken. Die Infrastruktur des Bücherschmuggels war entsprechend gut ausgebildet.46 Vor allem das kulturautonome Galizien gewährte der polnischen grenzüberschreitenden Öffentlichkeit einen Schutzraum und beherbergte zahlreiche Emigranten aus den russischen Gebieten. Wenngleich Wien die lokalen Autoritäten beständig daran erinnerte, dass öffentliche Kritik am Zarenreich zu unterbinden sei, taten die galizischen Zensoren, die in der Regel selbst polnischer || 44 Siehe Miroslav Hroch: Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Entwicklung der patriotischen Gruppen, Prag 1968; Theodore R. Weeks: Lithuanians, Poles. 45 Vgl. Jan Piskurewicz/Leszek Zasztowt: Towarzystwo Naukowe Warszawskie, in: Rocznik TNW, XLIX (1986), S. 35–103; Leszek Zasztowt: Popularyzacja nauki w Królestwie Polskim 1864–1905, in: Stanisław Brzozowski/Bogdan Suchodolski (Hrsg.): Historia nauki polskiej, Bd. IV, Wrocław 1987, S. 599–633; Leszek Zasztowt: Popularyzacja nauki w Królestwie Polskim 1864–1905, Wrocław 1989. 46 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.176–183 [Bericht über Ereignisse von politischer Bedeutung, 22.10.1903], hier kart.181–182; AGAD, KGGW, sygn.703, kart.32–32v [Schreiben des Wilnaer Gouverneurs Kršiviskij an den WGG Skalon, 5.7.1908]. Siehe auch John Michael Bates: Poland, in: Derek Jones (Hrsg.): Censorship. A World Encyclopedia, Bd. 3, Chicago 2001, S. 1882–1895, S. 1889; Grzegorz Kucharczyk: Cenzura Pruska w Wielkopolsce w czasach zaborow 1815–1914, Posen 2001; Grzegorz Kucharczyk: W obronie „zaprzyjaźnionego mocarstwa“. Miejsce i rola pruskiej cenzury w stosunkach prusko-rosyjskich w pierwszej połowie XIX wieku, in: Kwartalnik Historyczny, 108/3 (2001), S. 3–27; Marek Rajch: Preußische Zensurpolitik und Zensurpraxis in der Provinz Posen 1848/49 bis 1918, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, 56 (2002), S. 1–77; Mariola Szydłowask: Cenzura teatralna w Galicji w dobie autonomicznej, 1860–1918, Krakau 1998.

7.2 Eine polnische Gegenöffentlichkeit? | 141

Nationalität waren, wenig, um die Aktivitäten der Emigranten aus RussischPolen einzuschränken.47 Neben anderen Institutionen spielten vor allem die Universitäten in Lemberg und Krakau und die Polnische Akademie in Krakau eine herausragende Rolle für Bildungsemigranten aus Russisch-Polen, und Krakau diente zugleich als zentraler Druckort für Publikationen, die für das Königreich bestimmt waren.48 Damit fand eine weitgehend ungehinderte grenzüberschreitende Kommunikation statt. Und so bestand im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die polnische Öffentlichkeit durchgängig als ein einheitlicher Diskursraum, der von Lemberg über Krakau bis nach Warschau und in die preußischen Teilungsgebiete reichte. Es war unter anderem dieser grenzüberschreitende Austausch von Schriften und Ideen, der die Vorstellung des einen, ungeteilten Polens lebendig hielt und bei der Lektüre von im Ausland gedruckten Texten auch erfahrbar werden ließ. Der zarischen Zensur im Königreich gelang es, Teile des polnischen Literatur- und Ideenbetriebs ins Ausland abzudrängen, aber sie trug damit selbst dazu bei, dass die ehemalige Rzeczpospolita als Kommunikationsraum überdauerte.49 Daran hatte im Übrigen auch das russische Presse- und Publikationswesen im Königreich seinen Anteil. In einer Kommunikation im Konflikt, in der sich russische Autoren permanent von polnischen Widerstreitern abzugrenzen und ihre eigene Interpretation der Dinge zur Deutungshoheit zu bringen versuchten, pflegten diese eine Zitationskultur, die mit Referenzen auf die auslandspolnische Presse operierte.50 Mit dem expliziten Verweis auf die polnischen Werke hielt man zugleich aber auch die Gegenseite im Kommunikationsumlauf. Zeitgenossen spotteten, dass die hohen Abonnementzahlen des semioffiziellen Zeitungsorgans Varšavskij dnevnik vor allem darauf zurückzuführen seien, dass sich nirgendwo sonst so treffende Zusammenfassungen der polnischen Aus|| 47 Christoph Mick: Nationalisierung in einer multiethnischen Stadt. Interethnische Konflikte in Lemberg 1890–1920, in: Archiv für Sozialgeschichte, 40 (2000), S. 113–146, S. 118–119. 48 Vgl. Szymon Azkenazy: Sto lat zarządu w Królestwie Polskiem, Lemberg 1903; Jan Baudouin de Courtenay: W sprawie „antysemityzmu postepowego“, Krakau 1911; S. Krzemiński: Dwadzieścia pięć lat Rosji w Polsce, Lemberg 1892; Leon Wasilewski: Rosya „konstytucyjna“ wobec Polaków, Krakau 1913. 49 APW, t.24 (WWO), sygn.104, kart.1 [Artikelübersetzung aus der Zeitschrift Unser Leben]; AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.142–149 [Brief des Warschauer Gouverneurs an den WGG Čertkov, 8.8.1903]. 50 Siehe z. B. Aleksandr A. Bašmakov: Izbiratel’naja reforma v Avstrii i vybory v rejchsrat, St. Petersburg 1907; Petr A. Lavrovskij: Izvestie o sostojanii uniatskoj cerkvi u russkich v Galicii, Charkov 1862; Grigorij F. Simonenko: Sravnitel’naja statistika Carstva Pol’skogo i drugich evropejskich stran, Warschau 1879.

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landspresse finden ließen.51 Ein solcher polnisch-russischer Wettstreit trug zu einer transnationalen Zirkulation von Ideen und Meinungen entscheidend bei. Eine weitere Ausweichstrategie, die ebenfalls eine grenzüberschreitende Kommunikation wählte, um die Warschauer Zensur zu umgehen, optierte für die russischen Hauptstädte als Publikationsort. Vor allem die Vertreter einer Programmatik, die auf „Versöhnung“ und die Loyalität gegenüber dem russischen Monarchen abzielte, entschieden sich für St. Petersburg als Veröffentlichungsbasis ihres 1882 gegründeten Zentralorgans Kraj und ihrer zahlreichen Schriften. Erazm Piltz, Aleksander Lednicki oder Włodzimierz Spasowicz, um nur die bekanntesten Vertreter der großen polnischen Diaspora in St. Petersburg zu nennen, versuchten mit ihren Publikationen auf die Debatten zur polnischen Frage im Königreich und im Imperium gleichermaßen einzuwirken. Es gibt wohl keinen sinnfälligeren Beleg für das Intensitätsgefälle der Zensur als diesen Tatbestand: Polnische Publikationen konnten problemloser in der Reichshauptstadt als an der Weichsel erscheinen.52 Grenzüberschreitend waren auch diese Publikationen, da sie die administrative Grenze zum Königreich vom Osten her passieren mussten. Dass diese Grenze mehr war als eine reine Verwaltungsmarkierung, wurde den Zeitgenossen in verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Feldern permanent vor Augen geführt, denn es gab kaum einen Bereich, für den im Königreich Polen nicht andere Gesetze gegolten hätten als im Reichsinneren.53 Auch die Warschauer Zensur vollzog eine Grenzziehung zwischen dem Weichselland und dem übrigen Reich. Und so war es häufige Praxis, dass die Zensoren an der Weichsel Schriften, die im Reichsinneren zugelassen waren, dennoch die Publikation und Distribution im Königreich verweigerten.54 Selbst kaiserlichen Erlassen wurde zum Teil eine öffentliche Bekanntmachung in der lokalen polnischen Presse untersagt, obwohl die hauptstädtischen Medien die Dekrete längst diskutierten.55 Dass diese Form der zweiten Zensur nicht nur für polnische, sondern

|| 51 A. V. Kaupuž: O carskom cenzurnom „šlagbaume“, S. 154. 52 Vgl. allg. Erazm I. Pil’c: Prussija i Poljaki, St. Petersburg 1891; Erazm I. Pil’c: Povorotnyj moment v russko-pol’skich otnošenijach, St. Petersburg 1897; Vladimir D. Spasovič: Pol’skaja fantazija na slavjanofil’skuju temu (1872), in: Sočinenija, Bd. 4, St. Petersburg 1891, S. 259–287. 53 Vgl. Nikolaj M. Rejnke: Kakim graždanskim zakonam podvedomy russkie urožency prebyvajuščie v Carstve Pol’skom?, Warschau 1884; Nikolaj M. Rejnke: Očerk zakonodatel’stva Carstva Pol’skogo, St. Petersburg 1902. 54 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.15, kart.35 [Protokoll des Zensurkomitees, 17.10.1884]; AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.36, kart.5–12v [Protokoll Nr. 2, 14.1.1897]. 55 GARF, f.215, op.1, d.89, l.21 [Telegramm des Kanzleiführers des Bildungsministeriums an den WGG Imeretinskij, 24.9.1897] und l.23–26 [Antwortschreiben des WGG, 26.9.1897].

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auch für russische Texte galt, hat Włodzimierz Spasowicz in einem Aufsatz scharf gebrandmarkt: Die „geistigen Zollschranken“ – so Spasowicz – würden die polnischen Zeitgenossen sogar von der Ideenentwicklung innerhalb des Reichs abschneiden. Das Königreich sah sich aufgrund der Zensuraktivitäten der Warschauer Behörden selbst innerhalb des Reichsverbundes isoliert.56 Die Zensur wirkte also formierend auf Öffentlichkeitsbildung im Königreich ein. Denn die Präsenz und Strenge zarischer Zensur führten vor allem zu einer Verlagerung von Foren der Öffentlichkeit. Nicht die Presse oder das Buch waren die Medien, die entscheidend zur politischen Meinungsbildung beitrugen, sondern es waren Begegnungsräume wie die kawiarnia, die berühmten Warschauer Kaffeehäuser, oder die Oper und das Theater,57 vor allem auch die Gerichte, die als Aktionsräume und Schaubühnen einer Ersatzöffentlichkeit dienten.58 Und es wurden andere Themenfelder entwickelt, in denen sich offener über programmatische Entwürfe zur Stellung Polens im Reichsverbund diskutieren ließ. So waren beispielsweise das Projekt der dritten Weichselbrücke, der Wohnungsbau in Warschau oder die Aufstellung von Gaslaternen in Płock Streitobjekte einer Öffentlichkeit, bei denen sich politische Meinungsbildung an technische Probleme und infrastrukturelle Fragen knüpfte. Ebenso eröffneten die Debatten um religiöse Belange im Königreich ein Forum, in dem grundsätzliche Regeln des Zusammenlebens verhandelt wurden. Als sich nach Aufhebung des Ausnahmezustands 1909 in weiten Teilen des Königreichs zuvor ungekannte Räume für eine politische Öffentlichkeit auftaten, bedeutete dies nicht das Ende des prägenden Einflusses zarischer Zensur. Denn die Zensur ermöglichte es gewissen Debatten, deren Existenz sie nun duldete, zu prosperieren, während andere Themenfelder weiterhin unantastbar blieben. Der polnisch-jüdische Konflikt, der vor allem im Zusammenhang mit der vierten Dumawahl 1912 entbrannte und der zu einem Boykott jüdischer Geschäfte und Betriebe führte, konnte auch deshalb seine Sprengkraft entfal|| 56 Vladimir D. Spasovič: Zapiska v cenzurnyj komitet, in: Ateneum (1.9.1880), S. 1–2. 57 Vgl. Heidi Hein: Polnisches Theater in Warschau, Krakau, Posen als Ort polnischer nationaler Bewußtseins- und Identitätsbildung (1815–1846/48), in: Zeitschrift für OstmitteleuropaForschung, 45 (1996), S. 192–220; Stefan Kieniewicz: Historia Polski 1795–1918, Warschau 1975, S. 356–357; Denis Sdvižkov: Das Zeitalter der Intelligenz. Zur vergleichenden Geschichte der Gebildeten in Europa bis zum Ersten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 122–123; Anna Veronika Wendland/Andreas R. Hofmann: Stadt und Öffentlichkeit: Auf der Suche nach einem neuen Konzept in der Geschichte Ostmitteleuropas. Eine Einführung, in: Andreas R. Hofmann/Anna Veronika Wendland (Hrsg.): Stadt und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa 1900–1939, Stuttgart 2002, S. 9–25, S. 16–22. 58 Siehe z. B. Vladimir D. Spasovič: Sočinenija, Bd. 5, St. Petersburg 1893; Vladimir D. Spasovič: Zastol’nye reči (1873–1901), Leipzig 1903.

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ten, da die Zensurbehörde den antijüdischen Tiraden zunächst kaum Grenzen setzte.59 Hier verhalf der Zensurapparat einer spezifischen Kampagnenform zur Dominanz in der polnischen politischen Kultur, zu der sich weitaus breitere politische Kreise als die Aktivisten der Nationaldemokraten um Roman Dmowski verhalten mussten. Die vorurteilsbehafteten Zensurbehörden trugen damit ihren Teil dazu bei, dass der Antisemitismus zu einer zentralen Figur in der politischen Kultur in Warschau am Vorabend des Ersten Weltkriegs werden konnte.60 Die zarische Zensur bewirkte zugleich, dass Symbolhandlungen aller Art eine politische Konnotation erhielten. Symbolische Subversionen waren hier die Waffen der einer politischen Öffentlichkeit beraubten Schwachen. Und so konnte noch der stürmische Applaus bei einer Aufführung von Nikolaj Gogols Revisor als subtile Kritik an den „russischen Zuständen“ im Königreich genutzt werden.61 Oder man bekundete durch das öffentliche Tragen von Trauerkleidung seinen Unmut über die politischen Verhältnisse und bezeugte in der Verweigerung von Gottesdiensten und Gebeten anlässlich der offiziellen Feiertage seine Ablehnung der Fremdbestimmung. Wichtige Orte und Momente der Verdichtung symbolischen Widerstands waren die Schauplätze und Daten, die mit den polnischen Aufständen gegen die Teilungsmächte verbunden waren. Oft konnte sich eine Huldigung gegenüber den „Märtyrern“ der Aufstandszeit in einem Spaziergang zum örtlichen Friedhof und im Besuch der Gräber bestatteter Aufständischer ausdrücken.62 Eine herausragende Bedeutung hatten hier die Gedenktage, an denen die Patrioten an die staatliche Souveränität Polens vor den Teilungen erinnerten. Wichtigster Festtag war zweifellos der 3. Mai, an dem die Verfassung von 1791 kommemoriert wurde. Im ausgehenden 19. Jahrhundert versuchten die Träger

|| 59 Siehe auch Theodore R. Weeks: From Assimilation to Antisemitism. The „Jewish Question“ in Poland, 1850–1914, DeKalb 2006, S. 165–169. 60 Siehe dazu Iosif A. Klejnman: Meždu molotom i nakoval’nej (pol’sko-evrejskij krizis), St. Petersburg 1910. Vgl. auch Robert E. Blobaum: The Politics of Antisemitism in Fin-de-Siecle Warsaw, in: The Journal of Modern History, 73/2 (2001), S. 275–306; Frank Golczewski: Polnisch-jüdische Beziehungen, S. 115–117; Theodore R. Weeks: From Assimilation to Antisemitism, S. 149–169. 61 Vgl. A. V. Kaupuž: O carskom cenzurnom „šlagbaume“, S. 155. Siehe ebenso Bogna LorenceKot: Konspiracja: Probing the Topography of Women’s Underground Activities. The Kingdom of Poland in the Second Half of the Nineteenth Century, in: Rudolph Jaworski/Bianka PietrowEnnker (Hrsg.): Women in Polish History, New York 1992, S. 31–51; Ju. I. Štakel’berg: Ob emblematike pol’skogo vosstanija 1863 g., in: V. A. D’jakov/I. S. Miller (Hrsg.): Svjazi revoljucionerov Rossii i Pol’ši XIX – načala XX v., Moskau 1968, S. 81–95. 62 Vgl. Klaus Kindler: Die Cholmer Frage 1905–1918, Frankfurt/Main 1990, S. 162–164.

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einer polnischen Nationalbewegung verstärkt, die Verfassungsjubiläen auch im öffentlichen Raum zu begehen. Es kam mehrfach zu Auseinandersetzungen zwischen Gendarmen und Gedenkaktivisten.63 Ihr zeremonielles Zentrum hatte die Gedächtniskultur einer polnisch-nationalen Bewegung jedoch jenseits der russischen Staatsgrenze in Krakau. Hier fand im liberalen Klima der galizischen Kulturautonomie die Umbettung von Adam Mickiewicz statt (1890) und hier konnten Jubiläen wie die Einhundertjahrfeier der Mai-Verfassung (1891), der fünfhundertste Jahrestag der Wiedereröffnung der Jagiełłonen-Universität (1900) und sogar das Zentenarium des Kościuszko-Aufstands (1894) als große, öffentliche Veranstaltungen organisiert werden.64 Der vorgestellte Raum einer gemeinsamen polnischen Fest- und Ritualkultur war ähnlich grenzüberschreitend wie die Zirkulation von polnischen Publikationen. Zu den Festanlässen entwickelte sich ein reger Reiseverkehr über die russisch-österreichische Grenze hinweg.65 Die russische Seite war sich solcher Strategien der symbolischen Kritikäußerung durchaus bewusst. Zum Teil reagierten die zarischen Beamten daher in ihrer permanenten Suche nach polnischer Subversion auch bei Details mit schärfsten Restriktionen.66 Und so erschien in den Augen der Zensoren schon allein der Vorschlag einer Warschauer Delegation, die zum Zarenbesuch von 1897 Brot und Salz nicht auf einem Tablett, sondern in einer Schale darbieten wollte, als symbolischer Akt der polnischen Abgrenzung. Denn welche andere Intention konnte hinter dem Vorschlag stehen, wo doch die Gaben ansonsten überall im Russischen Reich auf einem Tablett gereicht würden? Die Zensoren setzten hier ein reichsweites Standardservice durch und unterbanden den symbolischen Sonderweg der Polen kategorisch.67 Ebenso wurde das Anliegen der polnischen Delegierten, ein Geschenk der Stadt

|| 63 Vgl. Czeslaw Brzoza: Aus der Geschichte des 3. Mai-Gedenktages in Polen, in: Emil Brix/Hannes Stekl (Hrsg.): Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Wien 1997, S. 217–230, S. 221–223; Stanislaw Grodziski: Nationalfeiertage und öffentliche Gedenktage Polens im 19. und 20. Jahrhundert, in: Emil Brix/Hannes Stekl (Hrsg.): Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Wien 1997, S. 205–215, S. 209–211. 64 Vgl. Christoph Mick: Nationale Festkultur in Lemberg vor dem Ersten Weltkrieg, in: Ralph Schattkowsky/Michael G. Müller (Hrsg.): Identitätenwandel und nationale Mobilisierung in Regionen ethnischer Diversität. Ein regionaler Vergleich zwischen Westpreußen und Galizien am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, Marburg 2004, S. 113–132, S. 115; Piotr S. Wandycz: Partitioned Poland, S. 377. 65 Stanislaw Grodziski: Nationalfeiertage, S. 209. 66 GARF, f.215, op.1, d.97, l.31 [Brief des WGG Čertkov an das Innenministerium, 12.3.1902]. 67 GARF, f.215, op.1, d.277, ll.6–7ob [Brief des WGG Imeretinskij an den Innenminister Goremykin, 27.5.1897].

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Abb. 10: Begrüßungskomitee Warschauer Bürger beim Besuch Nikolaus II. 1897

Warschau an den Zaren mit einer Inschrift in polnischer Sprache zu versehen, als subtile Geste verstanden, mit der die Polen auf die Eigenständigkeit des Gebietes verweisen wollten. Der Vorschlag wurde dementsprechend scharf zurückgewiesen und dem Sprecher der polnischen Gesandtschaft die deutliche Anweisung erteilt, seine Ansprache nur auf Russisch zu halten.68 Symbolhandlungen und Formulierungen aller Art wurden von den zarischen Zensoren somit permanent mit der grundsätzlichen Debatte um die „polnische Frage“ verknüpft. In einem solchen Misstrauensklima war der Spielraum für öffentliche Artikulation von Meinungen erheblich eingeschränkt. Politisches und kritisches Räsonieren musste sich somit andere Medien als das gedruckte Wort suchen. Weder die Warschauer Presse noch der lokale Literaturbetrieb konnten unter den Bedingungen der Vorzensur zu Akkumulationspunkten polnischer Urteilsbildung werden. Das drückte sich auch in der geringen Entfaltung Warschaus als Schriftzentrum aus. Obwohl die Weichselmetropole die drittgrößte Stadt des Russischen Reichs war, gehörte sie vor 1900 doch nicht zu den zehn wichtigsten Druck- und Verlagsorten des Imperiums. Die meisten polnischsprachigen Periodika, die im Romanow-Imperium erschienen, wurden

|| 68 GARF, f.215, op.1, d.277, ll.6–7ob, ll.16–20 [Briefe des WGG Imeretinskij an den Innenminister Goremykin, 27.5. und 31.7.1897] und ll.21–23 [Antwortschreiben des Innenministers, 8.8.1897].

7.2 Eine polnische Gegenöffentlichkeit? | 147

nicht in Warschau gedruckt.69 Selbst die Auswahl an Buchläden war in der Stadt stark begrenzt und überschritt bis 1875 nicht die Gesamtzahl von 35.70 Noch schlimmer stand es um die Provinz des Königreichs. Die polnische Presse fristete hier aufgrund der scharfen Zensur nur ein Schattendasein.71 Zwar veränderte sich in den 1890er Jahren die Situation in den polnischen Provinzen, da nun auch hier die Technik und Logistik der modernen Massenpresse Einzug hielten und diese Neuerungen vor allem in Warschau sowohl die Auflagenstärke der Periodika wie deren Gesamtzahl erhöhten.72 Aber die Akten des Zensurkomitees bezeugen, dass die Behörde weiterhin in der Lage war, auch den sich rasch ausweitenden Zeitungs- und Meinungsmarkt zu kontrollieren: So war zwar die Leselast der Zensoren im Jahr 1897 erheblich. Die traditionell penible Bearbeitung und Dokumentation aller Zensurfälle durch die Komiteemitarbeiter verweist jedoch darauf, wie gering letztlich die Zahl der Konfliktfälle um die Jahrhundertwende blieb. Den Luxus der Pedanterie konnte sich eine mit acht bis zehn hauptamtlichen Zensoren besetzte Instanz nur unter den Bedingungen eines eher gemächlichen, zumindest wenig konfrontativen Presse- und Publikationsmarktes erlauben.73 Offenbar war den Akteuren auf der polnischen Seite bewusst, dass sich die Grenzen des Sag- und Schreibbaren selbst in liberaleren Zeiten des Generalgouverneurs Imeretinskij kaum verschoben hatten. Die Unterlagen der Zensurinstanz dokumentieren zumindest kein flächendeckendes Austesten neuer Spielräume, und entsprechende Auseinandersetzungen zwischen Zensoren und gesellschaftlichen Meinungsträgern blieben in den 1890er Jahren zunächst aus.74 || 69 Benjamin Rigberg: Tsarist Censorship Operations, S. 334–335. 70 Helena K. Kaminski: Poland: The Powers. Russia, Prussia, and Austria in Poland, 1773– 1918, in: Derek Jones (Hrsg.): Censorship. A World Encyclopedia, Bd. 3, Chicago 2001, S. 1895– 1900, S. 1899. 71 Henryk Bałabuch: Nie tylko cenzura. Prasa prowincjonalna Królestwa Polskiego w rosyjskim systemie prasowym w latach 1865–1915, Lublin 2001. 72 So verzeichnete der Kurjer Warszawski um die Jahrhundertwende 30.000 Abonnenten; in Warschau wurden zwischenzeitlich mehr Zeitungen als in Riga herausgegeben. Vgl. dazu Stephen D. Corrsin: Warsaw. Poles and Jews in a Conquered City, in: Michael F. Hamm (Hrsg.): The City in Late Imperial Russia, Bloomington 1986, S. 123–151, S. 144–145; Zenon Kmiecik: Prasa warszawska w latach 1886–1904, Wrocław 1989. 73 Siehe AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.42, kart.1–365 [Protokolle des Zensurkomitees, 1897]. 1897 umfassten die Sitzungsprotokolle bereits doppelt so viele Seiten wie 1885. AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.36, kart.1–209 [Protokolle, 1885]. 74 Vgl. z. B. Andrzej Szwarc: Manewry polityczne wokól odslonięcia pomnika Mickiewicza w Warszawie. Raport General-Gubernatora Królestwa Polskiego Alexandra Imeretyńskiego do Mikolaja II z stycznia 1899, in: Michal Kopczyński/Antoni Mączak (Hrsg.): Gospodarka. Ludzie. Władza, Warschau 1998, S. 265–276.

148 | 7 Geistige Zollschranken und grenzüberschreitende Kommunikation

Erst der zwischenzeitliche Zusammenbruch staatlicher Autorität während der Revolution von 1905, die „Tage der Freiheit“ nach Verkündung des Oktobermanifests sowie die neuen Pressebestimmungen von 1906 brachten deutlich Bewegung in diese Konstellation. Im Weichselland geriet das traditionelle Gefüge vollends durcheinander, als 1909 das Kriegsrecht aufgehoben wurde. Nun expandierte auch in Warschau der Zeitungsmarkt rasant. Die Protokolle des Zensurkomitees nach 1909 weisen auf den Kontrollverlust einer Institution hin, die bei einem kaum vergrößerten Personalbestand mit einer Flut von Zeitungen, Zeitschriften und anderen Publikationen sowie einer rasch steigenden Zahl an öffentlichen Veranstaltungen und Versammlungen konfrontiert wurde: Bereits 1908 registrierte das Komitee für Druckangelegenheiten eine Gesamtzahl von beinahe 100 in Warschau erscheinenden Periodika.75 Und allein im Jahr 1912 mussten sich die zehn bis zwölf Mitarbeiter der Behörde mit mehr als 3.400 Veröffentlichungen nur in Zeitungen oder Zeitschriften befassen.76 Angesichts dieser Materialschwemme konnte auch der in diesen Jahren vom Warschauer Generalgouverneur eingesetzte Sonderbeauftragte für die Überwachung der Presse kaum Abhilfe leisten.77 Es war nicht nur die schiere Anzahl an Publikationen, die die zarischen Autoritäten überforderte, auch die neue rechtliche Situation erschwerte die Zensur erheblich. Nach dem Wegfall der administrativen Befugnisse, die dem Generalgouverneur im Kriegsrecht noch zur Verfügung gestanden hatten, mussten die Beschlagnahmungen von beanstandeten Presse- oder Publikationsmaterialien vor Gericht vertreten und ein Verstoß gegen die allgemeinen Strafgesetze dokumentiert werden. Hier erwiesen sich nicht nur die Richter als unzuverlässige Volltrecker administrativer Anordnungen, gelegentlich sah sich sogar der Staatsanwalt genötigt, das Komitee für Druckangelegenheiten an das „Fehlen ungesetzlicher Passagen“ in den beschlagnahmten Werken zu erinnern und eine Auslieferung der durch einstweilige Verfügung aus dem Verkehr gezogenen Schriften zu veranlassen.78 So sehr die neue Situation eine tiefe Erschütterung für die Autorität der Zensurinstanzen bedeutete, so wenig änderte sich an dem Gefälle einer freien

|| 75 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.77, kart.77–70v [Bericht des Komitees für Druckangelegenheiten an den WGG, 1.1.1908]. 76 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.21, kart.512–514v [Bericht über den Zustand der polnischen Presse im Jahr 1912, ohne Datum]. 77 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.77, kart.205–205v [Schreiben des WGG an das Komitee für Druckangelegenheiten, 3.9.1908]. 78 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.78, kart.41 [Schreiben des Staatsanwalts der Warschauer Gerichtskammer an das Komitee für Druckangelegenheiten, 16.7.1910].

7.3 Zarische Zensur und russische Öffentlichkeit in Warschau | 149

Entfaltung von Öffentlichkeit, das zwischen Warschau und den russischen Metropolen bestand. Denn die angespannte politische Situation im Weichselland ließ die zarischen Instanzen auch in den letzten Vorkriegsjahren den lokalen Meinungsmarkt sehr viel aufmerksamer verfolgen, als es in Petersburg oder Moskau der Fall war. Das erklärt, warum noch nach 1909 Publikationen im Königreich nicht toleriert wurden, die in den innerrussischen Buchläden unbeanstandet zum Verkauf auslagen. So ließ das Warschauer Komitee für Druckangelegenheiten im April 1911 das Werk des polnischen Dumaabgeordneten Lubomir Dymsza beschlagnahmen, in dem der Autor kritisch zu der Gründung eines separaten Gouvernements Cholm Stellung bezog.79 Wer Dymszas Abhandlung zur „Cholmer Frage“ legal erwerben wollte, hätte sich zum Kauf an die Newa aufmachen müssen: Hier war das Buch bereits seit einem Jahr frei im Handel.80 Auch 1911 trug das Komitee für Druckangelegenheiten noch seinen Teil dazu bei, dass das Weichselland einen gesonderten Zensurraum darstellte, in dem eigene Regeln galten und der durch geistige Zollschranken nach außen abgeschirmt war. Diese Sonderzensur trug damit unbeabsichtigt dazu bei, die Eigenart der polnischen Provinzen zu betonen. Die zarische Zensur fügte sich hier ein in einen Satz an Techniken imperialer Herrschaft, die die Differenz zwischen Königreich und Kaiserreich alltäglich erfahrbar hielten und die Kontrastwahrnehmung permanent bestärkten. Die Zollbestimmungen der Zensoren verfestigten so für die lange Dauer von fünf Dekaden die Abgrenzung der polnischen Okraina vom Rest des Russischen Reichs.

7.3 Zarische Zensur und russische Öffentlichkeit in Warschau Die zarische Zensur wirkte aber nicht nur formativ auf die Entfaltung einer polnischen Öffentlichkeit, sie prägte vor allem auch die Gestalt eines russischen Meinungsmarktes, der sich im Königreich entfaltete. Denn nicht nur im Reichsinneren stieß die „polnische Frage“ die Entstehung einer russisch-nationalen bis -nationalistischen Öffentlichkeit an. Eine noch junge politische Presse aus russischer Feder verstand es, sich mit antipolnischen Topoi zu etablieren. Von besonderer Relevanz für eine Geschichte der Zensur ist zweifellos Michail Kat|| 79 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.78, kart.177 und kart.182–182v [Schreiben des Staatsanwalts der Warschauer Gerichtskammer an das Komitee für Druckangelegenheiten, 15.4.1911]; sygn.21, kart.512–514v [Bericht über den Zustand der polnischen Presse im Jahr 1911, ohne Datum]. 80 Ljubomir Dymša: Cholmskij vopros, St. Petersburg 1910.

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kov, der sich mit Tiraden gegen die „polnische Meuterei“ profilierte, bevor er als mächtigster Pressemann Russlands in den 1880er Jahren die Ausrichtung der Zensur maßgeblich bestimmte.81 Der herausragende Stellenwert der „polnischen Frage“ eröffnete aber auch im Königreich selbst den russischen Akteuren ungeahnte Spielräume. Unter anderem wird dies an der institutionellen Privilegierung, aber auch an der nachhaltigen und umfangreichen Finanzierung des schon zitierten Varšavskij dnevnik deutlich. Die Zeitung stellte ein semioffizielles Publikationsorgan der imperialen Administration an der Weichsel dar, versuchte aber durchaus mehr als Verlautbarungen von Regierungsverordnungen zu bieten und sich als vollwertige Lokalzeitung zu präsentieren.82 Die zarischen Autoritäten garantierten dem Varšavskij dnevnik in mehrfacher Weise eine exklusive Stellung. Zum einen sicherte das Zensurkomitee dessen Monopolstellung bei der Bekanntmachung von amtlichen Beschlüssen. In einer Grundsatzerklärung hatte der Vorsitzende 1885 die Komiteemitarbeiter angewiesen, alle auch nur indirekten Hinweise auf Beschlüsse oder Handlungen des Generalgouverneurs in der konkurrierenden polnischen Presse zu unterbinden. Wer etwas über die Beschlüsse der imperialen Autoritäten in Warschau erfahren wollte, war also auf den Varšavskij dnevnik angewiesen.83 Dessen Herausgeber und Journalisten konnten sich zudem auf pekuniäre Unterstützung von Seiten der Behörde verlassen. Sei es durch finanzielle Mittel, sei es durch zahlreiche Begünstigungen – wie die kostenlose Zustellung an Abonnenten per Post. Im reichsweiten Vergleich war der Varšavskij dnevnik mit 5.000 Rubel pro Jahr die am zweithöchsten subventionierte Tageszeitung: Nur der semioffizielle Vilenskij Vestnik – das Pendant zum Varšavskij dnevnik in Wilna – erhielt mit 6.000 Rubel pro Jahr größere Aufwendungen.84 Zugleich waren auch in der polnischen Reichsprovinz Journalismus und Zensur eng miteinander verquickt: Der verantwortliche Redakteur des Varšavskij dnevnik agierte in den ersten Jahren nach dem Januaraufstand zugleich als Leiter des Otdel periodičeskoj pečati als Zensor für die lokale und ausländische Presse, aber auch für Dramen und Opern.85 Grundsätzlich war eine enge Verbindung von Redakteur und Zensor, möglichst gestützt auf persönliche Be-

|| 81 AGAD, KGGW, sygn.1773, kart.20–20v [Bericht des WGG Gurko an Alexander III., 25.12.1883]. 82 Vgl. auch Vladimir V. Esipov: „Varšavskij dnevnik“ za 50 let, Warschau 1914; I. Ljubarskij: Varšavskij dnevnik i pervyj ego redaktor, in: Istoričeskij vestnik, Nr. 54 (1893), S. 148–159; Aleksej A. Sidorov: Istoričeskij očerk russkoj pečati v Privislinskom krae, Warschau 1896. 83 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.36, kart.117–122 [Protokoll Nr. 30, 17.7.1885], hier kart.175–176v. 84 Die Zahlen gelten für das Jahr 1895. Gennadij V. Žirkov: Istorija cenzury, S. 175. 85 Vgl. dazu A. V. Kaupuž: O carskom cenzurnom „šlagbaume“, S. 152.

7.3 Zarische Zensur und russische Öffentlichkeit in Warschau | 151

kanntschaft, eine der wichtigsten Arbeitsvoraussetzungen in einem Zensursystem, das oft von individuellen Ad-hoc-Entscheidungen eines Amtsträgers abhing.86 Die Herausgeber und Journalisten des Varšavskij dnevnik hatten zweifellos den kürzesten Draht zur Administration in Warschau.87 Aber diese enge Beziehung russischer Autoren zu den Behörden ging weit über dieses semioffizielle Presseorgan hinaus. Die wahrgenommene Konfrontation der russischen Gemeinde mit einem polnischen Gegenüber in Warschau schuf hier günstige Voraussetzungen für eine nationale und nationalistische Schriftproduktion russischer Provenienz. Warschau war einer der zentralen Publikationsorte für Texte dieser Art, die sich mit den Fragen befassten, was das Russische ausmache, welchen Stellenwert es im Reichsgefüge allgemein und in der westlichen Provinz im Besonderen haben solle. Diese Veröffentlichungen beteiligten sich an den Debatten, die in Moskau und St. Petersburg geführt wurden. Und sie konnten mit dem Verweis auf die Warschauer Fronterfahrung besonderes Expertenwissen proklamieren und damit gesteigerte Autorität einfordern.88 In ihrer Kommunikation im Konflikt arbeiteten sich diese Schriften an einem polnischen Gegenüber ab. Es war eine polnische Gegenöffentlichkeit, auf die hier permanent Bezug genommen wurde und die als Referenzpunkt sowohl für die imperialen Bürokraten wie auch für die nicht staatsbediensteten Schriftführer der russischen Gemeinde von zentraler Bedeutung war.89 In der Warschauer Konfliktsituation überlappten sich die Interessen der lokalen Staatsrepräsentanten und der als „russisches Element“ bezeichneten Vertreter der Zensusgesellschaft.90 Die für das Russische Reich sonst so typische Dichotomie || 86 GARF, f.215, op.1, d.89, ll.63–65 [Brief der Redaktion des Kurjer Warszawski an den WGG, 15.10.1897]. 87 GARF, f.215, op.1, d.89, ll.4–4ob [Instruktion des Kanzleiführers des Kurators für den Warschauer Bildungsbezirk, 11.8.1897]. Siehe ebenso Varšavskij dnevnik, Nr. 248 (17.9.1897), S. 1. 88 Platon A. Kulakovskij: Pol’skij vopros v prošlom i nostajaščem, St. Petersburg, 1907; Platon A. Kulakovskij: Russkii russkim. Značenie „pol’skoj škol’noj maticy“ i ee zakrytie, St. Petersburg 1908. 89 Das wird besonders deutlich bei den Debatten um einen Autonomiestatus des Königreichs. Vgl. dazu A. B. O.: Druz’ja li nam pol’jaki? (k voproso o pol’skoj avtonomii), St. Petersburg 1907; K voprosu ob avtonomii Carstva Pol’skogo. Zajavlenie členov „Russkogo Sobranija“ v Varšave, Warschau 1905; Ob avtonomii Pol’ši, Izdanie Sojuza 17-go oktjabrja, Moskau 1906; Ivan A. Boduen-de-Kurtene: Proekt osnovnych položenii dlja rešenija pol’skogo voprosa, St. Petersburg 1906; Grigorij A. Evreinov: Avtonomija Carstva Pol’skogo, St. Petersburg 1906; Ivan P. Filevič: Pol’ša i pol’skij vopros, Moskau 1894; K. L. Lichtanskij: Osnovanija naučnych gosudarstvennych stroenij i pol’skij vopros, St. Petersburg 1883. 90 Als „russisches Element“ titulierten die Beamten einerseits alle russisch-orthodoxen Bewohner des Königreichs, andererseits markierten sie damit aber auch die Welt außerhalb der Staatsbürokratie und damit die Vertreter der Gesellschaft. Vgl. GARF, f.215, op.1, d.76, ll.1–114,

152 | 7 Geistige Zollschranken und grenzüberschreitende Kommunikation

von Staat und Gesellschaft und ihre folgenschweren Zerwürfnisse waren an der Reichsperipherie abgeschwächt. Angesichts der Konfrontationsstellung zu der umgebenden fremden und feindlichen Welt der Polen verstanden sich die Repräsentanten der Administration und die Aktivisten der russischen Gemeinde viel stärker als eine Schicksalsgemeinschaft, als es im Reichsinneren möglich gewesen wäre. Die von den meisten Russen in Warschau geteilte Xenophobie schweißte sie zusammen. Das Gefühl, einer kleinen, isolierten russischen Diaspora an der Weichsel anzugehören, half hier offensichtlich, Interessengegensätze zu überwinden. Eine solche geringe Distanz zwischen staatlichen Instanzen und gesellschaftlichen Institutionen hatte zugleich Auswirkungen auf die Tätigkeit der lokalen Zensoren und reduzierte deren Misstrauen bei russischsprachigen Publikationen und Meinungsäußerungen. So verfügten Vertreter der russischen Zensusgesellschaft in Warschau wie die Mitglieder der Russkoe sobranie v Varšave (Warschauer Ableger der Russischen Versammlung), der Russkoe obščestvo v g. Varšave (Warschauer Ableger der Russischen Gesellschaft) oder auch der Russkoe blagotvoritel’noe obščestvo (Russischer Wohltätigkeitsgesellschaft) über einen von der Zensur privilegierten Zugang zu den Foren von Öffentlichkeit. Gerade diese insuläre Interessenkonkordanz von russischen Amtsträgern und gesellschaftlichen Wort- und Schriftführern eröffnete Diskursräume, in denen eine Nationalisierung des Imperiums angedacht werden konnte. Zahlreiche Warschauer Autoren reflektierten hier explizit das Primat des Russischen innerhalb des Russländischen Imperiums beziehungsweise die Wege, um eine solche Dominanz herzustellen und zu festigen. Vor allem die Akademiker der Kaiserlichen Warschauer Universität erwiesen sich als Scharfmacher der Debatte und vertraten als nationalistische Bilderstürmer radikale Ansichten mit erheblicher Sprengkraft für die Integration eines Vielvölkerreichs. Diese Stimmen der radikalen Nationalisierung des Imperiums stellten letztlich die Grundfesten des Reichsgefüges in Frage, da sie eine konsequente Bevorzugung des Russischen in allen politischen und kulturellen Belangen einforderten und eine supranationale Reichsloyalität ablehnten. Derartige Positionen konnten ungeachtet ihres explosiven Gehalts in Warschau unbehelligt artikuliert werden. Die Beamten der Zensurbehörde intervenierten hier kaum. Zu unverdächtig schien ihnen eine Rhetorik, die vorgab, die Interessen des „staatstragenden Volks“ zu formulieren. In der kleinen Welt der russischsprachigen Bewohner der Weichselmetropole waren es zudem nicht selten die guten Bekannten aus dem örtlichen Russi-

|| hier l.3 [Bericht des WGG und Schriftverkehr dazu, 1880–81]; f.215, op.1, d.94, ll.7–8 [Bericht des WGG Imeretinskij, 12.1.1898].

7.3 Zarische Zensur und russische Öffentlichkeit in Warschau | 153

schen Klub und dem Redaktionsbüro der Okrainy Rossii, die solche Ansichten vertraten und zur Publikation brachten.91 Die spezifische Konfliktlage im Königreich Polen, der dauerhafte imperialpolnische Antagonismus und die entsprechende Ausrichtung der Wahrnehmung zarischer Zensoren begünstigten, dass dieses russisch-nationalistische Milieu in der Weichselmetropole prosperierte. Und da diesbezüglich keine geistigen Zollschranken das Grenzgebiet von der innerrussischen Öffentlichkeit abgrenzten, konnten die Warschauer Autoren ihre Meinungen in den russischen Ideenmarkt nahezu ungehindert einspeisen. Sie haben zweifellos erheblich zur fortschreitenden Radikalisierung der Debatte um die Zukunft des Russischen Reichs beigetragen. In einer solchen Perspektive erscheint die Zensur nicht nur als ein Unterdrückungsorgan der zarischen Bürokratie. Sie war vielmehr auch ein Ermöglichungsapparat, der eine spezifische Ausgestaltung von Öffentlichkeit produzierte. In ihrem permanenten Abwehrkampf gegen eine vorgestellte polnische Gegenöffentlichkeit begünstigte die Zensur eine Struktur von öffentlichen Meinungsforen und -themen, die den radikalen nationalen und nationalistischen Konzepten der russischen Gemeinde in Warschau eine geschützte Nische gewährte. Eine vergleichbare Dynamik lässt sich auch im Bereich einer imperialen Konfessionspolitik und ihrer Hierarchisierung von Glaubensgemeinschaften nachzeichnen.

|| 91 Varšavskij Universitet i byvšaja Varšavskaja Glavnaja Škola, St. Petersburg 1908; Konstantin Ja. Grot: N. A. Lavrovskij (nekrolog), St. Petersburg 1900, S. 15; Vladimir A. Istomin: Nacional’no-patriotičeskie školy, Moskau 1907, S. 5; I. V. Skvorcov: Russkaja škola v Privisljan’e s 1879 po 1897 god, Warschau 1897; N. A. Veckij: K voprosu o Varšavskom Universitete, Warschau 1906, S. 11–12.

8 „Im Kampf mit dem Lateinertum“: Die Politisierung der Religion und die Konfessionalisierung der Politik Politik und Religion, Kirche und Herrscher standen im Zarenreich traditionell in einem besonders engen Zusammenhang.1 Noch das 19. Jahrhundert war durch die weitgehende Gleichsetzung von Autokratie und Orthodoxie geprägt. Die in der Uvarov’schen Trinität aufgehobene Symbiose von Kirche und Kaiser konservierte die Vorstellung, dass der Zar der eigentliche Beschützer der Orthodoxie sei, und charakterisierte zugleich die Monarchie als rechtgläubige Herrschaft.2 Religion war zentraler Gegenstandsbereich der Politik, aber politisches Handeln wurde oft ebenso religiös konnotiert. Dieses grundlegende Deutungsmuster prägte die Formen und Foren, in denen im ausgehenden Zarenreich Politik repräsentiert und praktiziert wurde.3 Das Ineinandergreifen der Sphären des Politischen und der Religion betraf in besonderem Maße das Königreich Polen. Denn hier hatten die politischen Auseinandersetzungen, die sich um den öffentlichen Raum und seine Besetzung durch verschiedene Konfessionen entspannen, eine gesteigerte Intensität. Die Politisierung der Religion war ebenso weit fortgeschritten wie die Konfessionalisierung der Politik. Da sich imperiale, nationale und religiöse Fremd- und Selbstzuschreibungen im Königreich überlagerten, nahmen Debatten zu religiösen Fragen fast zwangsläufig politischen Charakter an. In dem unübersichtlichen Begegnungs- und Konfliktraum des multikonfessionellen Weichsellands

|| 1 Vgl. grundsätzlich Stephen Baehr: From History to National Myth: Translatio Imperii in Eighteenth-Century Russia, in: Russian Review, 37/1 (1978), S. 1–13, S. 2–13; Jurij Lotman/Boris A. Uspenskij: Binary Models in the Dynamics of Russian Culture (to the End of the Eighteenth Century), in: Alexander D. Nakhimovsky/Alice Stone Nakhimovsky (Hrsg.): The Semiotics of Russian Culture, Ithaca 1985, S. 30–66; Hildegard Schäder: Moskau das dritte Rom. Studien zur Geschichte der Politischen Theorien in der Slawischen Welt, Darmstadt 1957; Boris A. Uspenskij: Zar und Gott. Semiotische Aspekte der Sakralisierung des Monarchen in Russland, in: Boris A. Uspenskij (Hrsg.): Semiotik der Geschichte, Wien 1991, S. 131–266. 2 Vgl. W. Bruce Lincoln: Nicholas I. Emperor and Autocrat of All the Russias, DeKalb 1989, S. 239–262; Nicholas V. Riasanovsky: Nicholas I. and Official Nationality in Russia, 1825–1855, Berkeley 1961, S. 73–183; Theodore R. Weeks: Official and Popular Nationalism: Imperial Russia 1863–1914, in: Ulrike von Hirschhausen/Jörn Leonhard (Hrsg.): Nationalismen in Europa. Westund Osteuropa im Vergleich, Göttingen 2001, S. 411–432. 3 Siehe Richard Wortman: Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy. From Alexander II to the Abdication of Nicholas II, Bd. 2, Princeton 2000, S. 235–270.

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standen die Glaubensbekenntnisse, ihre politischen Schirmherren und deren kirchliche Protegés in permanenter Konfrontation. Diese dauerhafte Konkurrenz der Konfessionen dominierte die Wahrnehmung der Akteure im umstrittenen Grenzraum. Bei den Auseinandersetzungen wurden immer auch die grundsätzlichen Regeln des Zusammenlebens im Königreich und im Russischen Imperium ausgehandelt, Hierarchien konstruiert und damit Machtverhältnisse stabilisiert beziehungsweise in Frage gestellt. Vor allem betrafen die konfessionellen Dispute die Koexistenz der Völker, da nationale und religiöse Gemeinschaftskonstruktionen weitgehend zusammenfielen. Insofern hatten Bestimmungen, die den religiösen Diskurs und die Glaubenspraxis der verschiedenen Kongregationen berührten, unmittelbare Implikationen für die ethnische Kohabitation im Königreich. Nicht zuletzt war Religion ein wesentlicher Gegenstandsbereich der Politik der imperialen Obrigkeit an den multikonfessionellen Reichsrändern. Im Königreich sahen sich viele der russisch-orthodoxen Beamten an der vordersten Front „im Kampf mit dem Lateinertum“4.

8.1 Nation und Religion im Zeitalter des konfessionellen Paradigmas Dass religiöse Belange zu einem der am stärksten umstrittenen Sujets politischer Auseinandersetzungen werden konnten, lag vor allem daran, dass das konfessionelle Paradigma bei der Klassifizierung von Gesellschaft in Russland eine lange Tradition hatte und bis zum Ende des Zarenreichs wirkmächtig blieb. Neben der Stratifikation der Untertanen im Ständestaat nach sozialen Gruppen und Berufskorporationen waren es die Glaubensgemeinschaften, über die noch im ausgehenden 19. Jahrhundert die Zuordnung der Menschen erfolgte.5 So

|| 4 Vom „Kampf mit dem Lateinertum“ („bor’ba s latinstvom“) war in den internen Dokumenten der Staatsbürokratie immer wieder die Rede. GARF, f.215, op.1, d.94, l.7 [Bericht des WGG Imeretinskij vom 12.1.1898]. 5 Vgl. Chris J. Chulos: Converging Worlds. Religion and Community in Peasant Russia 1861– 1917, DeKalb 2003, S. 21–27; J. Eugene Clay: Orthodox Missionaries and „Orthodox Heretics“ in Russia, 1886–1917, in: Robert P. Geraci/Michael Khodarkovsky (Hrsg.): Of Religion and Empire. Missions, Conversion, and Tolerance in Tsarist Russia, Ithaca 2001, S. 38–69; Irina Korovushkina Paert: Regulating Old Believers Marriage: Ritual, Legality, and Conversion in Nicholas I’s Russia, in: Slavic Review, 3 (2001), S. 555–576; Peter Waldron: Religious Toleration in Late Imperial Russia, in: Olga Crisp/Linda Edmondson (Hrsg.): Civil Rights in Imperial Russia, Oxford 1989, S. 103–119; Paul W. Werth: Orthodoxy as Ascription (and Beyond): Religious Identity

8.1 Nation und Religion im Zeitalter des konfessionellen Paradigmas | 157

markierte die religiöse Zugehörigkeit eines der Schlüsselkriterien für die zahlreichen Statistiken, die die imperialen Beamten erstellten. Selbst bei der reichsweiten Volkszählung von 1897 bestimmte die Religion noch ganz maßgeblich die Einteilung des Untertanenverbandes, auch wenn sich zur Jahrhundertwende schon solche ethnisch-kulturellen Bestimmungsmerkmale wie die Muttersprache auf die Fragebögen der Statistiker drängten.6 Eine explizite Thematisierung der nationalen Selbstzuschreibung lehnte die Mehrheit der an der Volkszählung beteiligten Bevölkerungswissenschaftler dagegen entschieden ab. Das Gegenargument lautete hier, dass die meisten Untertanen nicht in der Lage seien, ihre nationale Zugehörigkeit eindeutig zu benennen. Die „richtige“ Nationalität der Befragten glaubten die Experten ihrerseits bestimmen zu können, indem sie die Angaben zu Muttersprache und Konfession kompilierten. Hier manifestierte sich die Grundannahme, dass die Konfession das eindeutige Bestimmungsmerkmal der Untertanen sei, während deren Nationalität weiterhin eine Entität im Fluss war.7 Religion und Nation überlagerten sich also in der statistischen Ordnung der Dinge bis zum Ende des Zarenreichs und sie taten es ebenso in der Weltsicht imperialer Beamter wie ihrer Untertanen. Im Königreich Polen und in den Westgebieten war das Zusammendenken dieser beiden Differenzmarkierungen besonders ausgeprägt. Auch hier sprechen die lokalen Statistiken eine eindeutige Sprache. Weder die Erhebungen der Gouverneure noch die der Oberpolizeimeister operierten mit einer Kategorie „Nationalität“.8 Auch das staatliche Komitee || on the Edges of the Orthodox Community, 1740–1917, in: Valerie A. Kivelson/Robert H. Greene (Hrsg.): Orthodox Russia. Belief and Practice under the Tsars, University Park/Penn. 2003, S. 239–251, S. 240–249. 6 Vgl. Brigitte Roth: Dokumentation: Religionen/Konfessionen, in: Henning Bauer/Andreas Kappeler/Brigitte Roth (Hrsg.): Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897, Bd. A, Stuttgart 1991, S. 285–323; Darius Staliunas: Nationality Statistics and Russian Politics in the Mid-Nineteenth Century, in: Lithuanian Historical Studies, 8/(2003), S. 95–122; Darius Staliunas: Making Russians. Meaning and Practices of Russification in Lithuania and Belarus after 1863, Amsterdam 2007, S. 105–120; Hans-Jakob Tebarth: Geschichte der Volkszählung, in: Henning Bauer/Andreas Kappeler/Brigitte Roth (Hrsg.): Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897, Bd. A, Stuttgart 1991, S. 27–87, S. 54–85. 7 Vgl. Juliette Cadiot: Searching for Nationality: Statistics and National Categories at the End of the Russian Empire (1897–1917), in: Russian Review, 64/3 (2005), S. 440–455, S. 441–446; David W. Darrow: Census as a Technology of Empire, in: Ab Imperio, 4 (2002), S. 145–177; Charles Steinwedel: To Make a Difference. The Category of Ethnicity in Late Imperial Russian Politics, 1861–1917, in: David L. Hoffmann/Yanni Kotsonis (Hrsg.): Russian Modernity. Politics, Knowledge, Practices, Houndmills 2000, S. 67–86. 8 Obzory Varšavskoj gubnerii und Obzory gorody Varšavy. RGIA, Biblioteka (Lesesaal), op.1, d.10, d.129 und d.130; RGIA, f.1276, op.17, d.316, ll.211–250; f.1284, op.194, d.85–86, d.89 und d.93.

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für Statistik in Warschau und die statistische Abteilung der Munizipalbehörde der Weichselmetropole bestimmten Bevölkerungsgruppen sowie deren Entwicklung bis 1905 ausschließlich entlang den konfessionellen Trennlinien.9 Gleiches galt für die Erfassung der Studenten der Kaiserlichen Universität in Warschau.10 Selbst als sich nach 1905 erste Anzeichnen einer Erosion dieses Diktats zeigten, verweigerten sich etliche Statistiken einer nationalen Zuordnung. In einem Bericht des staatlichen Statistikamtes in Warschau aus dem Jahr 1906 wurden zwar Litauer bereits als eigene nationale Gruppe geführt, Polen und Russen jedoch als „Slawen“ zusammengefasst.11 Als einer der führenden Statistiker des Weichsellands, Professor Vladimir Esipov, sich in einer eigenständigen Publikation im Folgejahr tatsächlich für den Tabellenschlüssel der Nationalität entschied, legte er, wie er in seiner Einleitung ausführte, schlicht das statistische Material zu den Konfessionsgruppen zu Grunde. Selbst für einen professionellen Statistiker war noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die direkte Überführung der Kategorie Religion in die der Nation vollkommen unproblematisch.12 Aber nicht nur die Welt der Statistiker war von der Hegemonie der konfessionellen Sichtweise geprägt, auch andere Bereiche folgten dieser Logik. So war das einzig verlässliche Kriterium, mit dem die Behörden im Jahr 1907 bestimmten, wer in der neu geschaffenen „russischen“ Wahlkurie stimmberechtigt sei, die Religion. Wer „Russe“ war, entschied sich im Wahlgang zur III. Duma durch die Zugehörigkeit zur Orthodoxie. Jene irritierenden Grenzfälle von Wahlberechtigten, die sich als Russen zur Wahl gemeldet hatten, aber nicht zur Gemeinde der Rechtgläubigen gehörten, wurden vom Generalgouverneur individuell geprüft und in der Mehrheit der zweiten, „allgemeinen“ Wahlkurie zugeschlagen, in der Katholiken, Protestanten und Juden zu wählen hatten.13

|| 9 Vgl. z. B. Varšavskij magistrat. Stat. otdel: Naselenie g. Varšavy v gg. 1908–1913, Warschau 1909–1914; Naselenie g. Varšava, 3 Bd., Warschau 1909–1914. Ebenso Dviženie naselenija v desjati gubernijach Carstva Pol’skogo, Warschau 1892; Statistika dviženija naselenija v desjati gubernijach kraja, Warschau 1895/96. 10 Studenty Imperatorskogo Varšavskogo Universiteta, Charkov 1895; „Kratkij otčet o sostojanii i dejatel’nosti Imperatorskogo Varšavskogo Universiteta za 1905–1906 akademičeskij god“, in: Varšavskie universitetskie izvestija, Nr. 5–6 (1906), S. 1–68; „Kratkij otčet o sostojanii i dejatel’nosti Imperatorskogo Varšavskogo Universiteta za 1911–1912 akademičeskij god“, in: Varšavskie universitetskie izvestija, Nr. 6 (1912), S. 1–186. 11 Siehe Ekonomičeskoe i kul’turnoe razvitie Carstva Pol’skogo za sorok let, 1864–1904, Warschau 1906. 12 Vladimir V. Esipov: Privislinskij kraj, Warschau 1907. S. 6–12. 13 AGAD, KGGW, sygn.9012, kart.1–2 [Schreiben des Stadtpräsidenten Litvinskij an den WGG, 12.6.1907]; AGAD, KGGW, sygn.9012, kart.24–25v [Schreiben des WGG Skalon an Litvinskij, 10.8.1907].

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Hier wird zugleich deutlich, wie eindeutig die Konnotationen waren, die die Bürokratie mit der Religionszugehörigkeit verband. Es war eine konfessionalisierte Anordnung der Wirklichkeit, mit der die zarischen Amtsträger ihre Untertanen klassifizierten und hierarchisierten, ihnen moralische oder politische Wesenszüge zuschrieben und sie in „loyale“ und „illoyale“ Gruppen unterteilten. Letztere wurde vor allem durch den Polak-Katolik, den „Polen-Katholiken“, repräsentiert.14 Bei den Petersburger Gesandten herrschte die Vorstellung, dass die polnische Nationalbewegung und die römisch-katholische Geistlichkeit in ihrem Kampf gegen die russische Herrschaft vereint agierten. Sie beide seien, wie der Generalgouverneur Imeretinskij in einem Bericht aus dem Jahr 1898 schrieb, „fest verbunden in ihren Antipathien gegenüber der russischen Regierung, dem russischen Volk und der russischen Kultur.“15 Und nur ein Jahr später, und damit fast vierzig Jahre nach dem Januaraufstand, notierte der Oberprokuror des Heiligen Synods, Konstantin Pobedonoscev, dass der Katholizismus die Hauptbedrohung der Autokratie darstelle.16 Auch bei dem späteren Vorhaben, den Anteil von „Polen-Katholiken“ bei den Angestellten der Eisenbahn- sowie Post- und Telegraphenverwaltung des Weichsellands zu reduzieren, argumentierten die Autoritäten mit dem Dreischritt aus Katholik gleich Pole gleich unzuverlässig. Als vertrauenswürdig, so teilte das Innenministerium mit, könnten den Behörden nur die „Russen/Orthodoxen“ gelten, nicht aber die „KatholikenBeamten“.17 Dafür, dass die Amtsträger der zarischen Verwaltung im Umkehrschluss die Zugehörigkeit zur Orthodoxie als einen ultimativen Beweis der Vertrauenswürdigkeit deuteten, finden sich zahlreiche Belege. Als beispielsweise der Piotrkówer Gouverneur Konstantin Miller versuchte, seinen Vertrauten P. Chrža-

|| 14 Vgl. auch Juliette Cadiot: Statistics and National Categories, S. 444–446; Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy, S. 70–71; Michail D. Dolbilov: Konfessional’naja identičnost’ i politika pamjati v Rossijskoj imperii: Slučaj katolicizma v Zapadnom krae posle Janvarskogo vosstanija 1863 g., unveröffentlichter Konferenzbeitrag: Historical Memory and Russian Imperial and Soviet Society (1860–1939), St. Petersburg 2007; Darius Staliunas: The Pole in the Policy of the Russian Government; Theodore R. Weeks: Defining Us and Them: Poles and Russians in the „Western Provinces“, 1863–1914, in: Slavic Review, 53/1 (1994), S. 26–40; Theodore R. Weeks: Religion and Russification, S. 90. 15 Siehe GARF, f.215, op.1, d.94, ll.9–10 [Bericht des WGG Imeretinskij, 12.1.1898]. 16 Zitiert nach Ralph Tuchtenhagen: Religion als minderer Status. Die Reform der Gesetzgebung gegenüber religiösen Minderheiten in der verfassten Gesellschaft des Russischen Reiches 1905–1917, Frankfurt/Main 1994, S. 153. Siehe auch Konstantin P. Pobedonoscev: Korrespondenty, Bd. 1, Moskau 2003, S. 243. 17 AGAD, KGGW, sygn.5076, kart.1–3v [Schreiben des Innenministeriums an den WGG Žilinskij, 21.5.1914].

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novskij (Krzanowski) für den wichtigen Posten des Oberpolizeimeisters in Lodz ins Spiel zu bringen, galt es den Makel eines polnischen Nachnamens zu tilgen. Miller verwies auch hier auf die Konfession Chržanovskijs als Beleg für seine Verlässlichkeit. Da seine Mutter Russin und Orthodoxe gewesen sei, sei er orthodox getauft worden. An seiner Loyalität bestehe somit kein Zweifel.18 Und als im Gouvernement Kielce gegen den Grenzbeamten Mel’nikov eine strafrechtliche Untersuchung lief, stellte der Gouverneur das Verfahren kurz darauf ein. Die Ermittlungen hätten ergeben, dass Mel’nikov seinem Dienst gewissenhaft nachgehe und keinesfalls in Schmuggelgeschäfte verwickelt sei. Zudem sei, so vergaß der Gouverneur keinesfalls zu ergänzen, Mel’nikov orthodox. Ein plausibleres Argument für die Vertrauenswürdigkeit des Beamten ließ sich nicht finden. Rechtgläubigkeit und Rechtschaffenheit wurden hier als Synonyme präsentiert.19 Nicht weniger wirkmächtig war die administrative Wahrnehmung der jüdischen Bevölkerungsgruppe in Kongresspolen, bei der die nationale und religiöse Zuschreibung zur Deckung kamen: Die Bezeichnung „Jude“ war zugleich ein Verweis auf das mosaische Glaubensbekenntnis wie auf die Zugehörigkeit zu einer eigenständigen Nationalität.20 Die Klassifizierung verdichtete sich verstärkt zu einer primordialen und unveränderlichen Merkmalsbestimmung. Vor allem nach der Pogromwelle von 1881 hielten die Behörden eine Assimilation der jüdischen Untertanen für kaum mehr möglich und auch immer weniger für wünschenswert. Der zarische Staat betrieb im Folgenden vielmehr eine systematische Entrechtung und gesellschaftliche Ausgrenzung dieser ethnischreligiös bestimmten Bevölkerungsgruppe.21

|| 18 AGAD, KGGW, sygn.6481, kart.2–38v [Schreiben des Piotrkówer Gouverneurs Miller an den WGG Gurko, 14.11.1894], hier kart.11v–12. 19 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.169 [Schreiben des Gouverneurs von Kielce an die Kanzlei des WGG, 16.11.1903]. 20 Vgl. Stephen D. Corrsin: Literacy Rates and Questions of Language, Faith and Ethnic Identities in Population Censuses in the Partitioned Polish Lands and Interwar Poland (1880 s– 1930 s), in: The Polish Review, 43/2 (1998), S. 131–160; John Doyle Klier: State Policies and the Conversion of Jews in Imperial Russia, in: Robert P. Geraci/Michael Khodarkovsky (Hrsg.): Of Religion and Empire. Missions, Conversion, and Tolerance in Tsarist Russia, Ithaca 2001, S. 92– 112; Darius Staliunas: Making Russians, S. 120–129; Theodore R. Weeks: Poles, Jews, and Russians, 1863–1914: The Death of the Ideal of Assimilation in the Kingdom of Poland, in: Polin, 12 (1999), S. 242–256. 21 Vgl. Manfred Hildermeier: Die jüdische Frage im Zarenreich. Zum Problem der unterbliebenen Emanzipation, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 32 (1984), S. 321–357, S. 346–347; John Doyle Klier: Imperial Russia’s Jewish Question, 1855–1881, Cambridge 1995; Theodore R. Weeks: From Assimilation to Antisemitism, S. 71–86.

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Auch der Blick der Beamten auf die wachsenden innerkatholischen Spannungen zwischen Polen und Litauern verdeutlicht, wie nachhaltig der konfessionelle Horizont die Weltwahrnehmung der Amtsträger prägte. Es dauerte lange, bis zarische Beamte den sich in den Nordwestgebieten zuspitzenden Streit zwischen Polen und Litauern überhaupt registrierten. Es fehlte ihnen zunächst das begriffliche und konzeptionelle Instrumentarium, um diesen innerkonfessionellen Konflikt zu erfassen. Als Katholiken wurden Litauer als dem polnischkatholischen Kosmos zugehörig verstanden. Eine Differenzierung erfolgte in den Jahren nach dem Januaraufstand primär nach ständischen Kriterien. Hier wurde der Bauernstand generell gegenüber dem als illoyal geltenden Adel und Klerus und den aufrührerischen Stadtbewohnern privilegiert.22 Die Überlegungen, die eine nach dem Aufstand ins Leben gerufene Westrussische Assoziation zur gezielten Förderung der litauischen Bevölkerungsgruppe als antipolnisches Gegengewicht anstellte, konnten sich angesichts der Dominanz des konfessionell-ständischen Denkens zunächst nicht durchsetzen. Und so blieb beispielsweise der Vorschlag, die katholische Liturgie ins Litauische zu übersetzen und damit die Glaubensgemeinschaft entlang ethnischen Grenzen zu spalten, unverwirklicht.23 Ebenso betraf der nach dem Januaraufstand in den Westgebieten eingeführte numerus clausus, der der polnischen Jugend den Weg zu höheren Bildungsanstalten versperren sollte, Polen und Litauer gleichermaßen als Katholiken. Denn auch hier wurde nach Konfession klassifiziert.24 Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann die Wahrnehmung der litauischen Katholiken als eigenständiger „Volksstamm“ und eigene Nationalität auch das Denken zarischer Beamter zu erreichen, die immer mehr erkannten, welche Möglichkeiten und Handlungsoptionen für sie mit dem innerkatholischen Konflikt verbunden waren. Wenngleich eine Konzeption des „Teile und Herrsche“ nie konsequent Eingang in die Programmatik der Reichsbeamten fand, so erodierte das konfessionelle Paradigma doch zunehmend.25 Es lebte || 22 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.1–114, hier ll.2ob–14 [Bericht des WGG und Schriftverkehr dazu, 1880–81]. 23 Vgl. dazu Darius Staliunas: Making Russians, S. 52–55 und S. 180; Theodore R. Weeks: Religion and Russification, S. 92 und S. 110. 24 Siehe Darius Staliunas: Making Russians, S. 100–105; ebenso Michail D. Dolbilov: Russkij kraj, čužaja vera. Etnokonfessional’naja politika imperii v Litve i Belorussii pri Aleksandre II., St. Petersburg 2010. 25 Vgl. Juliette Cadiot: Statistics and National Categories, S. 444–446; Darius Staliunas: Between Russification and Divide and Rule: Russian Nationality Policy in the Western Borderlands in the mid-19th Century, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 55/3 (2007), S. 357– 373; Theodore R. Weeks: Lithuanians, Poles; Theodore R. Weeks: Official Russia and the Lithuanians, 1863–1905, in: Lithuanian Historical Studies, 5 (2000), S. 68–84; Theodore R. Weeks:

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aber in derart eigentümlichen Gebilden wie der Klassifizierung des Litauischen als eigenständiges „Glaubensbekenntnis“ bis ins 20. Jahrhundert fort: Auch 1908 erschien es dem anonymen Autor einer Streitschrift offensichtlich nur dann plausibel, auf den nicht-polnischen Charakter der Litauer zu verweisen, wenn man ihnen zugleich eine eigenständige Glaubensrichtung zuweisen konnte.26 Eine ähnliche Problematik zeigte sich beim Umgang der Behörden mit anderen nicht-polnischen Katholiken. Die Vorherrschaft einer konfessionellen Weltsicht schränkte den Bewegungsraum der Behörden erheblich ein. Und so scheiterten in den 1880er Jahren auch die Versuche, (weiß)russische Katholiken nach nationalen Kriterien zu differenzieren und orientiert an ethno-linguistischen Bestimmungsmerkmalen neu zu verorten. Dieses vor allem von Michail Katkov und dem Wilnaer Generalgouverneur Ivan Kachanov, aber auch vom Warschauer Professor Platon Kulakovskij popularisierte Projekt konnte sich innerhalb des Staatsapparats nicht gegen das traditionelle, von den meisten Regierungsvertretern geteilte Denken durchsetzen, in dem nationale und religiöse Gemeinschaft zusammenfiel. Die Vorstellung, dass es einen katholischen Russen geben könnte, war noch weitgehend undenkbar. Dieses Verständnis von Nationalität korrespondierte zudem ebenso wenig mit den Selbstzuschreibungen der Bevölkerung, die sich primär über ihre konfessionelle Zugehörigkeit definierte.27 Gerade Letzteres verweist auf die Breitenwirkung, mit der das konfessionelle Paradigma die Weltdeutungen der Menschen im ausgehenden Zarenreich bestimmte. Die religiösen Differenzkategorien stellten einen breiten gesellschaftlichen Konsens dar. Professoren an der Kaiserlichen Universität in Warschau, die sich an der Produktion von Statistiken, Enzyklopädien und Karten beteiligten, übernahmen die konfessionelle Sichtweise für die Katalogisierung von Land und Leuten.28 Die wenigen Studien zur polnischen Geschichte, die die zarischen Zensoren in Warschau zum Druck genehmigten, befassten sich wie

|| Russification and the Lithuanians, 1863–1905, in: Slavic Review, 60/1 (2001), S. 96–114; Vilma Žaltauskaite: Catholizism and Nationalism in the Views of the Younger Generation of Lithuanian Clergy in the Late-Nineteenth and Early-Twentieth Centuries, in: Lithuanian Historical Studies, 5 (2000), S. 113–130. 26 Varšavskij Universitet i byvšaja Varšavskaja Glavnaja Škola, St. Petersburg 1908, S. 10. 27 Siehe D. A. Kocjubinskij: Russkij nacionalizm v načale XX stoletija, Moskau 2001, S. 102– 104; Alexei Miller: The Empire and the Nation, S. 17; Theodore R. Weeks: Religion and Russification; Curt Woolhiser: Constructing National Identities, S. 307–309. 28 Vgl. Vladimir A. Francev: Karty russkogo i pravoslavnogo naselenija Cholmskoj Rusi, Warschau 1909.

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selbstverständlich mit der polnischen Kirchengeschichte.29 Kaum ein Reiseführer für das Königreich kam ohne die Angaben zu Konfessionsgruppen und ihren Kirchengebäuden aus30 und antipolnische Polemiken in den Debatten um die „polnische Frage“ verwiesen immer wieder auf die aggressive religiöse Propaganda, die den Katholizismus der Polen auszeichnete.31 Auch in Erinnerungen an die eigenen Dienstjahre im Weichselland waren die Erfahrungen einer konfessionellen Einheit die intensivsten Gemeinschaftserlebnisse.32 Religion und Konfession waren zentrale Kategorien, nach denen sehr unterschiedliche Wissensbestände geordnet und Entscheidungen in ganz verschiedenen Lebensbereichen getroffen wurden. Auch in den Selbstkonstruktionen der Untertanen im Königreich zeitigte die nach den Glaubensbekenntnissen differenzierende und diskriminierende Regierungspolitik nachhaltige Wirkung. So dominierte der Topos „Pole-Katholik“ die polnischen Vorstellungen von dem, was das Polnische ausmache, ebenso stark wie das Denken der imperialen Beamten.33 Dieses Zusammenspiel aus Glaube, nationaler Identität und einem damit verknüpften Vaterlandsbewusstsein konnte in sehr verschiedenen sozialen Schichten prägenden Einfluss erzielen. So beförderte beispielsweise in den galizischen Dörfern gerade die katholische Konfession sowie ihre Rituale und Feste das Entstehen einer nationalen Identität in der Bauernschaft.34

|| 29 Vgl. z. B. die Übersetzung von Feofil’ fon Frice: Istorija pol’skoj cerkvi ot načala christianstva v Pol’še do našich vremen, Warschau 1895. 30 Vgl. Putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostja s adresnym otdelom i planom goroda, hrsg. v. V. Z., Warschau 1893, S. 61–75; N. F. Akaemov: Putevoditel’ po Varšave, Warschau 1907; K. Moskvin: Pol’nyj putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostjam, Warschau 1902. 31 So z. B. Michail O. Kojalovič: Mistifikacija papskich vozglasov protiv Rossii, S. 11–20, Wilna 1864; M. Prudnikov: Pol’skij katichizis, St. Petersburg 1863; N. A. Veckij: K voprosu o Varšavskom Universitete, Warschau 1906, S. 12. 32 Z.B. Vladimir G. Smorodinov: Popečitel’ Varšavskogo učebnogo okruga Aleksandr L’vovič Apuchtin, St. Petersburg 1912, S. 4. 33 Siehe Ewa Jabłońska-Deptuła: Samoobronny model „Polaka-katolika“ i jego wplywy na stosunek do mniejszości narodowych, in: Jan Lewandowski (Hrsg.): Trudna toźsamość. Problemy narodowościowe i religijne w Europie Środkowo-Wschodniej w XIX i XX wieku. Materiały z międzynarodowej konferencji „Samoidentyfikacja narodowa i religijna a sprawa mniejszości narodowych i religijnych w Europie Środkowo-Wschodniej“, Lublin 1993, S. 62–67; Zygmunt Zieliński: Mit „Polak-Katolik“, in: Wojciech Wrzesiński (Hrsg.): Polskie mity polityczne XIX i XX wieku, Bd. 9, Wrocław 1994, S. 107–118. 34 Vgl. dazu Patrice M. Dabrowski: Folk, Faith and Fatherland: Defining the Polish Nation in 1883, in: Nationalities Papers, 28/3 (2001), S. 397–416; Keely Stauter-Halsted: The Nation in the Village. The Genesis of Peasant National Identity in Austrian Poland, 1848–1914, Ithaca 2001, S. 47–49.

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Eine zunehmende Nationalisierung der Wahrnehmung schloss keinesfalls die religiöse Dimension der kollektiven Selbstbeschreibung aus. Im Gegenteil stellten gerade jene Träger einer Nationalbewegung, die sich am stärksten mit dem distinguierten polnischen „Nationalcharakter“ befassten, die konfessionelle Komponente der eigenen Nationalität in den Mittelpunkt der Identitätskonstruktion. Sie trieb um, was der katholische Historiosoph und erklärte Antisemit Feliks Koneczny nachträglich so formulierte: „Polen wird entweder katholisch sein oder es wird nicht sein. [...] Das Schicksal der Kirche ist in Polen mit dem Schicksal dieser Zivilisation verbunden.“35 Die Nationaldemokraten um Roman Dmowski traten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als die vehementesten Verfechter eines Diskurses auf, der Nicht-Katholiken und damit vor allem die Juden aus der Gemeinschaft der Polen ausschloss.36 Auf der anderen Seite bewirkte die Fixierung auf die Konfession, dass sich viele Polen lange Zeit gegen die Akzeptanz einer eigenständigen litauischen Nationalität sträubten. „Litauisch“ wurde hier in der Tradition Adam Mickiewicz’ eher als regionales Kolorit einer katholisch-polnischen Identität verstanden und Wilna galt als Wilno selbstverständlich als urpolnische Stadt. Es dauerte bis zur Jahrhundertwende, bis das „eigenständige Auftreten neuer Elemente, die bis vor kurzem lediglich ethnographisches Material waren (wie vor allem die Litauer)“, als Tatsache wahr- und hingenommen wurde.37

|| 35 Feliks Koneczny: Polen zwischen Ost und West (Auszug), in: Andrzej Chwalba (Hrsg.): Polen und der Osten. Texte zu einem spannungsreichen Verhältnis, Frankfurt/Main 1994, S. 133–138. 36 Siehe Peter Brock: Polish Nationalism, in: Peter F. Sugar/Ivo John Lederer (Hrsg.): Nationalism in Eastern Europe, Seattle 1971, S. 310–372, S. 342–343; Brian A. Porter: Nationalism, S. 176–182, S. 189–193, S. 200–207 und S. 227–232; Malte Rolf: Nationsbilder im Russischen Reich; Theodore R. Weeks: From Assimilation to Antisemitism, S. 111–116. 37 Roman Dmowski: Deutschland, Rußland und die polnische Frage (Auszüge), in: Andrzej Chwalba (Hrsg.): Polen und der Osten. Texte zu einem spannungsreichen Verhältnis, Frankfurt/Main 1994, S. 111–128, S. 127. Vgl. auch Timothy Snyder: The Reconstruction of Nations, S. 31–51; Darius Staliunas: Die litauische Nationalidentität und die polnischsprachige Literatur, in: Yrjö Varpio/Mardia Zadencka (Hrsg.): Literatur und nationale Identität II. Themen des literarischen Nationalismus und der nationalen Literatur im Ostseeraum, Tampere 1999, S. 201–216; Darius Staliunas: Wilno czy Kowno? Problem centrum narodowego Litwinów na poczatku XX wieku, in: B. Linek/K. Struve (Hrsg.): Nacjonalizm a tozsamosc narodowa w Europie SrodkowoWschodniej w XIX i XX w. / Nationalismus und nationale Identität in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, Opole/Marburg 2000, S. 259–267; Anna Veronika Wendland: Region ohne Nationalität, Kapitale ohne Volk: Das Wilna-Gebiet als Gegenstand polnischer und litauischer nationaler Integrationsprojekte (1900–1940), in: Peter Haslinger/Daniel Mollenhauer (Hrsg.): „Arbeit am nationalen Raum“. Deutsche und polnische Rand- und Grenzregionen im Nationalisierungsprozess, Leipzig 2005, S. 77–100.

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Aber es war keinesfalls nur die antisemitische Endecja, die die konfessionelle Segregation der Gesellschaft vorantrieb. Wie weit die Selbstabschließung von konfessionellen Milieus schon fortgeschritten war, wurde gerade in den Jahren nach 1906 deutlich, als die zarischen Grundgesetze eine größere gesellschaftliche Selbstorganisation in vielerlei Bereichen ermöglichten. Das in der Folgezeit blühende Gemeinschaftswesen gestaltete sich im Königreich weitgehend monokonfessionell. Parallelgründungen von Vereinen und anderen Zusammenschlüssen entlang den Grenzziehungen der Glaubensgemeinschaften waren hier nicht die Ausnahme, sondern die Regel.38 Die Breitenwirkung des konfessionellen Paradigmas, das maßgeblich von einer klaren Hierarchisierung religiöser Zuordnungen geprägt war, könnte deutlicher nicht sein. Diese Auffassung, in der man sich und die Anderen im Spiegel der Konfession identifizierte, beförderte zweifellos jene Politisierung von Religion, die für das Königreich Polen nach dem Januaraufstand von 1863 kennzeichnend war. Religion musste in diesem Spannungs- und Kräftefeld zu einem der zentralen Objekte des Konflikts, aber auch zum wesentlichen Modus der Vermittlung werden, bei denen die Regeln des Zusammenlebens formuliert, ausgehandelt und verändert wurden.39 Dies erzeugte eine Vielzahl von Auseinandersetzungen im lokalen Alltag. So weigerte sich ein katholischer Priester im Gouvernement Kielce, eine Taufe vorzunehmen, da eine Taufzeugin mit einem Orthodoxen verheiratet war.40 Im gleichen Jahr entbrannte ein Streit zwischen einem orthodoxen Geistlichen und dem polnischen Uezd-Leiter im Warschauer Gouvernement, weil Letzterer die lautstarke Reinigung der Straße vor der orthodoxen Kirche während des Gottesdienstes angeordnet hatte. 41 Und als Schüler in einer Realschule im Warschauer Gouvernement ihren Protest gegen die staatliche Schulpolitik artikulierten, kritisierten sie vor allem die Ungleichbehandlung von katholischen und orthodoxen Feiertagen. Sie boykottierten die Nachmittagsstunden an einem katholischen Festtag mit der Begründung, dass an den || 38 François Guesnet: „Die beiden Bekenntnisse leben weit entfernt voneinander, sie kennen und schätzen sich gegenseitig nicht.“ Das Verhältnis von Juden und Deutschen im Spiegel ihrer Organisationen im Lodz des 19. Jahrhunderts, in: Jürgen Hensel (Hrsg.): Polen, Deutsche, Juden in Lodz 1820–1939. Eine schwierige Nachbarschaft, Wiesbaden 1999, S. 139–170. Vgl. auch Stephen D. Corrsin: Warsaw before the First World War, S. 29–33. 39 Vgl. Ricarda Vulpius: Ukrainische Nation und zwei Konfessionen. Der Klerus und die ukrainische Frage, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 49/2 (2000), S. 240–256; Ricarda Vulpius: Nationalisierung der Religion, bes. S. 193–197. 40 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.176–183 [Bericht über Vorkommnisse von gesellschaftlicher Bedeutung, 22.10.1903]. 41 AGAD, PomGGW, sygn.727, kart.1–2v [Brief des Leiters der Polizeibehörde des Warschauer Gouvernements an den WGG, 5.2.1903].

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Hochtagen des orthodoxen Kirchenkalenders der Unterricht sogar ganztägig ausfalle.42 In diesem Zusammendenken von politischer und religiöser Sphäre machte es auch Sinn, dass Vertreter der polnischen Öffentlichkeit, wie geschildert, zum Boykott der Feierlichkeiten aufriefen, als 1913 die dritte Weichselbrücke durch einen orthodoxen Priester geweiht werden sollte. Hier wurde die übergeordnete Debatte darüber, wer denn die eigentlich tragende Kraft der Modernisierung der Weichselmetropole sei und wer daraus Dominanzansprüche ableiten könne, konfessionalisiert.43 Noch im letzten Vorkriegsjahr war der russischpolnische Konflikt einer, der sich vor allem in religiösen Formen zum Ausdruck brachte. Deshalb wurden auch nach der Jahrhundertwende oft genug die katholischen Kirchen als Orte genutzt, an denen man Protest gegen das imperiale Regime artikulieren konnte. Sei es das Nichtabhalten von katholischen Gottesdiensten an orthodoxen Feiertagen, das Auslassen von Gedenk- oder Trauergottesdiensten an den Namens- oder Todestagen der Zaren oder ein demonstratives Nicht-Erheben der Gemeinde bei der Zarenhymne – die Behörden registrierten solche symbolischen Renitenzen in katholischen Gotteshäusern sehr genau und sahen sich in ihrer auf den Katholizismus ausgerichteten Bedrohungsszenerie bestätigt.44 Das konfessionelle Paradigma wirkte sich damit auch auf die Selbstbeschreibung der imperialen Elite im Dienste des Zaren aus. Denn für diese war ihre Religion und damit die Orthodoxie die eigentlich verbindende Kraft. So multiethnisch die obere Kohorte der Verwaltungsbeamten im Königreich war, so einheitlich gehörte sie der orthodoxen Konfession an. Auch die nichtrussischen – oftmals baltendeutschen – Vizekönige, Generalgouverneure oder Gouverneure waren bis auf wenige tolerierte Sonderfälle Rechtgläubige. Von 74 Generalgouverneuren und Gouverneuren des Zeitraums 1863–1915 gehörten 69 Amtsinhaber der orthodoxen Kirche an, fünf waren lutherischen Bekenntnisses.45 Polen im Weichselland blieb der Aufstieg in diese höchsten Ämter versperrt, solange sie am katholischen Glauben festhielten. Dass im Zeitraum von

|| 42 AGAD, PomGGW, sygn.730, kart.65–66 [Schreiben des Leiters der Polizeibehörde des Warschauer Gouvernements an den WGG, 5.5.1903]. 43 APW, t.24 (WWO), sygn.263, kart.5v [Bericht zu Tätigkeiten politischer Organisationen in Warschau, 1.12.1913–1.1.1914]. 44 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.34v–35 [Schreiben des Gouverneurs von Piotrków an den WGG, 15.4.1903]; kart.104–111v [Bericht über Vorkommnisse von gesellschaftlicher Bedeutung, 9.5.1903]. 45 Der Vizekönig Berg und der Generalgouverneur Skalon waren beispielsweise Protestanten. Vgl. Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy, S. 70–71.

8.1 Nation und Religion im Zeitalter des konfessionellen Paradigmas | 167

über fünfzig Jahren nur ein einziger Katholik den Beförderungssprung in das Amt eines Vizegouverneurs schaffte, bestätigt die Stabilität des konfessionellen Auswahlrasters im bürokratischen Apparat.46 Die konfessionelle Diskriminierung führte sogar dazu, dass die Religionszugehörigkeit der Ehefrauen bei den Karriereverläufen der Beamten eine Rolle spielte. In der Beamtenschaft waren orthodox-katholische Mischehen eine durchaus häufige Erscheinung, da die jungen und ledigen russischen Beamten oftmals erst während ihrer Dienstjahre in Polen heirateten, unverheiratete orthodoxe Frauen in der Provinz aber kaum zu finden waren. Eine Gattin, die am katholischen Bekenntnis festhielt, konnte jedoch ein Hindernis bei der Beförderungspatronage in der Beamtenhierarchie darstellen und damit den Dienst- und Rangaufstieg ihres Mannes erschweren.47 In den besonders sensiblen Bereichen des imperialen Apparats wurde in den Personalakten die Konfession der Ehefrau penibel dokumentiert. Und tatsächlich fand sich unter den Ehegattinnen der höheren Offiziere der Warschauer Gendarmeriedivision keine einzige Katholikin.48 Die Orthodoxie der höheren Staatsbeamten war dagegen Gegenstand regelmäßiger öffentlicher Inszenierungen. Beim Antritt eines neuen Provinzstatthalters erfolgte der Besuch des örtlichen orthodoxen Gotteshauses, noch bevor die Gouverneursresidenz und die Diensträume in Augenschein genommen wurden und die Audienzen der lokalen Honoratioren begannen.49 Selbstverständlich gab es keinen bedeutenden religiösen Festtag des an Feiertagen reichlich bestückten orthodoxen Kirchenkalenders, der nicht unter demonstrativer Beteiligung der obersten Beamtenschaft bei Gottesdienst, öffentlichem Gebet oder Kreuzgang begangen wurde. Den Stellenwert dieser Manifestationen von Rechtgläubigkeit unterstreicht die Tatsache, dass sich selbst der lutherische Generalgouverneur Skalon an den öffentlichen orthodoxen Ritualen beteiligte.50 Diese symbolischen Handlungen verweisen darauf, dass der öffentliche Raum eine der wichtigsten Sphären war, in denen sich die Repräsentationen von Religiosität ereigneten, aber auch eine konfessionell konnotierte, politische Kommunikation stattfand. Denn im Zeitalter der Repräsentation ging es darum, Hegemonialansprüche öffentlich zu machen und Hierarchien visuell zu markie|| 46 Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy, S. 70–71. 47 Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy, S. 70–87; L. E. Gorizontov: Paradoksy imperskoj politiki, S. 157–185; Katya Vladimirov: Provincial Bureaucracy, S. 54–61 und S. 107–112. 48 GARF, f.726, op.1, d.21, ll.173–186ob [Personalakten der Warschauer Gendarmeriedivision, 1.11.1912]. 49 Richard G. Robbins: The Tsar’s Viceroys, S. 2. 50 Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy, S. 295–304.

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ren.51 Für die orthodoxe Beamtengemeinde im Weichselland bestand damit die Notwendigkeit, ihre eigene Konfession in einem katholisch-jüdisch dominierten Warschau und Königreich sicht- und hörbar zu machen. Der öffentliche Raum im Weichselland bot eine Vielzahl an Möglichkeiten, das Machtgefälle der Glaubensbekenntnisse darzustellen und damit zugleich auch politische Dominanzverhältnisse zu schaffen. So betonte Alexander III. bei seinem Aufenthalt in Warschau im Jahr 1884 mit zahlreichen Besuchen und Gebeten in rechtgläubigen Kirchen die privilegierte Stellung der Orthodoxie im Kraj.52 Auch noch bei der Warschaureise von Nikolaus II. von 1897 geriet die konfessionelle Komponente zu einem der zentralen Inszenierungselemente. Vom orthodoxen Morgengebet über die Begegnungen mit orthodoxen Würdenträgern und Schulkindern bis zu den Besuchen von Gotteshäusern sowie Wohlfahrts- und Bildungseinrichtungen – das Programm des Aufenthaltes Nikolaus’ II. präsentierte immer wieder die Konkordanz von Autokratie und Orthodoxie.53 Dieses harmonische Zusammenspiel bedeutete zugleich aber eine Deklassierung der anderen Bekenntnisse. So reservierte die zeremonielle Ordnung des Zarenbesuchs dem orthodoxen Bischof den Vorrang vor seinem katholischen Amtskollegen, indem er als erster der geistlichen Würdenträger den Monarchen in der Stadt begrüßen durfte.54 Wie weit die Konfessionalisierung der Politik vorangeschritten war, zeigt keine Auseinandersetzung so deutlich wie der Streit um orthodoxe Kirchenbauten. Die Amtsträger im Königreich unterstrichen selbst die politische Dimension der Errichtung neuer Gotteshäuser. Die orthodoxen Kirchen wurden als Bollwerke gegen ein aggressives katholisches Umfeld verstanden, deren Errichtung unmittelbar in den Kompetenzbereich der staatlichen Behörden gehörte.55 Ganz allgemein waren derartige Bauten ein zentrales Medium der Repräsentation von konfessioneller und damit auch politischer Dominanz in den westlichen Peripherien des Reichs. Die Bauaktivitäten erfassten daher Städte wie Wilna, Kovno, Riga, Reval, Helsingfors, Lodz und Warschau. Es handelte sich um einen

|| 51 Vgl. grundsätzlich Johannes Paulmann: Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, München 2000; ebenso Jörg Baberowski/ David Feest/Christoph Gumb: Imperiale Herrschaft. 52 Zu 1884 siehe GARF, f.215, op.1, d.915, ll.2–8ob [Festkomitee zum Besuch Alexanders III., ohne Datum] und l.101 [Brief des WGG Imeretinskij an den Minister des Kaiserlichen Hofs Frederiks, 3.8.1897]. 53 GARF, f.215, op.1, d.916, ll.10–11 [Programm des Besuchs Nikolaus’ II. in Warschau, 28.6.1897]. 54 Vgl. GARF, f.215, op.1, d.277, l.32ob [Brief des WGG Imeretinskij an den Innenminister Goremykin, 4.8.1897]. 55 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.7–8 [Bericht des WGG Imeretinskij, 12.1.1898].

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Versuch der symbolischen Inkorporation dieser Territorien und um eine Visualisierung des Petersburger Machtanspruchs im Grenzraum.56 Unter allen Bauprojekten hob sich besonders die Aleksandr-Nevskij-Kathedrale in Warschau hervor. Denn diese orthodoxe Kathedrale an der Weichsel war mit Abstand der größte und pompöseste der Sakralbauten in den Randgebieten. Sie war zugleich der teuerste und benötigte eine Bauzeit von fast zwanzig Jahren (1894–1912). Vor allem aber stellte die Basilika eine der umstrittensten Kirchen im gesamten Imperium dar. Allein die Wahl des Standortes und des architektonischen Stils der Nevskij-Kathedrale war eine Machtdemonstration und zugleich eine Provokation für die lokale polnische Gesellschaft. Der Bau von Leontij Benua (Leonty Benois) wurde im Herzen Warschaus, am Plac Saski und damit an einem der wichtigsten Plätze der Stadt errichtet. Die Kathedrale überragte nicht nur in seinen Ausmaßen alles Dagewesene, sie hob sich auch in der Fassadengestaltung markant von ihrer Umgebung ab. Die goldenen Kuppeln, der orientalisch anmutende Fassadenschmuck und der über siebzig Meter hohe Glockenturm kamen einer architektonischen Landnahme fremder Eroberer gleich.57 Das Gotteshaus sollte in der Sichtweise der zarischen Beamten die Dauerhaftigkeit russischer Vorrangstellung im Königreich manifestieren. Die Amtsträger taten einiges, um die Symbolkraft des entstehenden Gebäudes im konfessionellen Wettstreit entsprechend zur Geltung zu bringen. Und sie trugen Sorge, dass die Nevskij-Kathedrale zum sakralen und zeremoniellen Zentrum der russisch-orthodoxen Diaspora in Warschau wurde. 58 Ein wichtiges Ereignis in diesem Kontext war der Besuch Nikolaus’ II. auf der Baustelle des Gotteshauses, der im Rahmen seiner Warschaureise von 1897 stattfand.59 Aber auch die

|| 56 So auch Alexei Miller: The Empire and the Nation, S. 14 und S. 21; Richard Wortman: The „Russian Style“ in Church Architecture as Imperial Symbol after 1881, in: James Cracraft/Daniel Rowland (Hrsg.): Architectures of Russian Identity. 1500 to the Present, Ithaca 2003, S. 101–116. 57 Vgl. zur Aleksandr-Nevskij-Kathedrale ausführlicher Piotr Paszkiewicz: Pod berłem Romanowów. Sztuka rosyjska w Warszawie 1815–1915, Warschau 1991, S. 114–137; Piotr Paszkiewicz: W służbie Imperium Rosyjskiego 1721–1917. Funkcje i treści ideowe rosyjskiej architektury sakralnej na zachodnich rubieżach Cesarstwa i poza jego granicami, Warschau 1999; Paweł Przeciszewski: Warszawa. Prawosławie i rosyjskie dziedzictwo, Warschau 2012, S. 121–144; Robert L. Przygrodzki: Russians in Warsaw, S. 206–230; Malte Rolf: Aleksandr-Nevskij-Kathedrale; Malte Rolf: Imperium w Królestwie. 58 AGAD, KGGW, sygn.1773, kart.19–53v [Bericht des WGG Gurko, 25. Dezember 1883], hier kart.19; AGAD, KGGW, sygn.6469, kart.13–25 [Spendenaufruf des WGG Gurko, 1893], hier kart.13v. Ähnlich bei A. K.: „Pravoslavnyj Sobor v Varšave“, in: Cholmsko-Varšavskij eparchial’nyj vestnik, Nr. 11 (1893), S. 1. 59 „Prebyvanie Ich Imperatorskich Veličestv v Varšave“, in: Varšavskij dnevnik, Nr. 222 (21.8.1897), S. 1.

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Abb. 11: Die Aleksandr-Nevskij-Kathedrale in Warschau. Photographie um 1913

Terzennienfeiern der Romanowdynastie im Jahr 1913 gaben Anlass, die Kathedrale als Mittelpunkt der russisch-orthodoxen Gemeinde zu präsentieren. Denn das Gotteshaus war rechtzeitig zum großen Jubiläum der Zarenfamilie fertiggestellt worden. Die Festredner unterstrichen hier die unmittelbare Verbindung von Gotteshaus und Herrschaftsrepräsentation und verknüpften ihre Ansprüche russischer Dominanz mit antipolnischen Bedrohungsszenarien.60 Die Kathedrale war somit als russisch-orthodoxe Machtdemonstration angelegt und als solche wurde sie von der polnischen Gesellschaft empfunden. Die polnische Öffentlichkeit kritisierte über die Auslandspresse den Sakralbau in Warschau scharf. Eine monumentale orthodoxe Kathedrale im Zentrum der Stadt wurde als Symbol der fortdauernden russisch-orthodoxen Fremdherrschaft, aber auch als Ausdruck der anhaltenden Unterdrückung der katholischen Kirche gedeutet. Der „Moskowiter“ Stil und die in der Kathedrale exponierten Heiligen lasen sich als Signal und ließen sie als ein Instrument zur kulturellen und konfessionellen Kolonisierung des Königreichs erscheinen. Vor allem die Darstellung von Kyrillos und Methodios kam in diesem Kontext einem || 60 „Prazdnovanie 300-letija carstvovanija Doma Romanovych“, in: Varšavskij eparchial’nyj listok, Nr. 5 (1913). „Slovo v den’ prazdnovanija 300-letija carstvovanija Doma Romanovych“, in: Varšavskij eparchial’nyj listok, Nr. 5 (1913), S. 1.

8.2 Von Schulgebeten und Marienbildern | 171

Affront gleich, da hier bewusst auf deren Tätigkeit der Slawenmission rekurriert wurde. Ihre Präsenz in der Kathedrale schien den konfessionellen und kulturellen Auftrag zu markieren, den die zarischen Behörden dem Gotteshaus beimaßen. Die polnische Schreckensvision der ethnischen und kulturellen Russifizierung wurde im konfessionellen Zeitalter von der Erwartung einer orthodoxen Missionstätigkeit begleitet. Damit zeigt sich zugleich, wie sehr das Zusammendenken der Sphären der Religion und der Politik der gemeinsame Nenner einer russischen und polnischen Wahrnehmung war – so groß die Differenzen in der Bewertung der Nevskij-Kathedrale sonst auch sein mochten. 61

8.2 Von Schulgebeten und Marienbildern: Stolpersteine einer Religionspolitik im multikonfessionellen Imperium Die politischen Auseinandersetzungen um religiöse Fragen und konfessionelle Bekundungen betrafen im Königreich aber nicht nur derart exponierte Streitobjekte wie die Aleksandr-Nevskij-Kathedrale. Es waren oft die weniger sichtbaren, aber alltäglichen Konflikte konkurrierender religiöser Praktiken, die die Politisierung von Religion vorantrieben. Ein Gegenstand langjähriger Diskussionen und Anlass für anhaltende Klagen von Seiten der polnischen Gesellschaft waren beispielsweise die Bestimmungen, mit denen der Kurator des Warschauer Lehrbezirks 1870 das allmorgendliche Schulgebet im Weichselland radikal neu geordnet hatte. Denn seit den Verfügungen des Kurators bestand im Königreich die Pflicht für alle Schulgänger, unabhängig von ihrer Konfession ein gemeinsames orthodoxes Morgengebet in russischer Sprache zu sprechen.62 1897 sollte diese Praxis revidiert werden. Die Debatten, die sich im Kontext der Reform entfalteten, zeugen davon, wie sehr die alltägliche Zwangsvereini-

|| 61 Das verdeutlicht auch der Epilog der kurzen Geschichte der Nevskij-Kathedrale im wiedervereinigten unabhängigen Polen. Bereits 1921 wurde mit dem Abriss der Kathedrale begonnen, da diese nicht primär als Gotteshaus, sondern als Symbol der abgeschüttelten russischen Fremdherrschaft erschien. Vgl. Werner Benecke: Zur Lage der russisch-orthodoxen Kirche in der Zweiten Polnischen Republik 1918–1939, in: Hans-Christian Maner/Martin Schulze Wessel (Hrsg.): Religion im Nationalstaat zwischen den Weltkriegen 1918–1939. Polen – Tschechoslowakei – Ungarn – Rumänien, Stuttgart 2002, S. 125–126; M. Papierszyńska-Turek: Między tradycją a rzeczywistością. Państwo i kościół prawosławny w Polsce w latach 1918–1939, Warschau 1986, S. 353–355; Piotr Paszkiewicz: Pod berłem Romanowów, S. 188–200. 62 GARF, f.215, op.1, d.89, l.28 [Brief des Bildungsministers Ivan Deljanov an den WGG Imeretinskij, 24.9.1897]; f.215, op.1, d.89, l.30ob [Brief des WGG Imeretinskij an den Bildungsminister, 28.9.1897].

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gung der Glaubensgemeinschaften zu einem dauerhaften, ebenso religiös wie politisch motivierten Konfliktherd geworden waren. Zugleich demonstrieren die behördeninternen Streitigkeiten, wie viele Akteure an der religionspolitischen Entscheidungsfindung partizipierten und wie sehr sie von unterschiedlichen Konzepten und Interessen geleitet waren. Anlass der Auseinandersetzungen, die letztlich zu beträchtlichen Spannungen im Königreich führten, war ein Kaiserlicher Beschluss. Nikolaus II. hatte am 25. Juni 1897 kundgetan, dass der Pflichtbesuch orthodoxer Gottesdienste für andersgläubige Schüler in Bildungsanstalten landesweit einzustellen und das gemeinsame Gebet durch getrennte Schulgebete der Glaubensrichtungen zu ersetzen sei.63 Damit sollte im Königreich die Praxis der zwangsvereinigten Morgengebete beendet werden, die seit den Bestimmungen der Bildungsbehörde Bestand hatte. Der Erlass war eine sichtbare Konzession an die Belange nicht-orthodoxer Glaubensbekenntnisse und unterstrich das Diktum der religiösen Toleranz und Versöhnung, mit dem der junge Zar anfänglich versuchte, seine Herrschaft in Abgrenzung zu der seines Vaters als Reformzeit zu repräsentieren.64 Die konkrete Umsetzung des monarchischen Willens gestaltete sich im Königreich aber schwierig und stieß seitens der imperialen Administration auf unerwartete Hindernisse und zähe Widerstände. Vor allem der Kurator des Warschauer Bildungsbezirks Valerian Ligin versuchte, die Reformmaßnahmen zu konterkarieren. In einem Entscheid vom August 1897 legte Ligin für die Schulen im Königreich fest, dass bei der kommenden Einführung des getrennten Schulgebets das Russische als die Gebetssprache für alle Schüler zu gelten habe. Die Katholiken sollten also ihr Gebet nunmehr unter sich und nach ihrem Ritus, aber weiterhin auf Russisch abhalten.65 In der Wahrnehmung der polnischen Bevölkerung kam diese Bestimmung einer grundsätzlichen Verfälschung der ursprünglichen kaiserlichen Intention gleich. Sie schien auf das Bestreben der lokalen Machthaber zu verweisen, die Versöhnungsgeste des Zaren zu hintertreiben. Entsprechend kam es zu massiven Protesten der Öffentlichkeit.66 Die Anweisungen des Kurators wurden als Willkürakt kritisiert, mit dem die hege-

|| 63 GARF, f.215, op.1, d.89, ll.1–1ob [Bekanntmachung des Kurators des Warschauer Lehrbezirks, 11.8.1897]. 64 Vgl. Političeskie itogi. Russkaja politika v Pol’še, Autor anonym, Leipzig 1896, S. 1. 65 GARF, f.215, op.1, d.89, l.1ob [Bekanntmachung des Kurators des Warschauer Lehrbezirks, 11.8.1897]. 66 GARF, f.215, op.1, d.89, ll.5–7ob [Brief des WGG Imeretinskij an den Bildungsminister Deljanov, 18.9.1897]; GARF, f.215, op.1, d.89, l.20 [Telegramm des WGG Imeretinskij an die Gouverneure im Königreich, 24.9.1897].

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moniale Stellung der Orthodoxie sichergestellt und die übrigen Konfessionen degradiert werden sollten.67 Diese Kritikführung von Seiten der Polen machte deutlich, wie sehr sich die lokale Administration in den Augen der einheimischen Bevölkerung oft als das größte Übel erwies, während man den zentralen Institutionen einen gewissen Reformwillen zuschrieb. Wie auch bei den Fragen der Zensur schien es ein Intensitätsgefälle von Erniedrigung und Unterdrückung zu geben. Die Warschauer Beamtenschaft wurde hier als die eigentliche Quelle der politischen, konfessionellen und kulturellen Repression und Fremdbestimmung ausgemacht.68 Was für die Außenstehenden, hier die polnische Gesellschaft, wie ein politischer Vorstoß in die Sphäre der Religion erschien, den die lokale Administration in großer Einhelligkeit betrieb, war in der Tat das Resultat scharfer interner Auseinandersetzungen. Denn über die Frage des schulischen Gottesdienstes entbrannte ein erbitterter Streit zwischen dem Warschauer Generalgouverneur Imeretinskij auf der einen Seite und dem Kurator Ligin und dem Bildungsminister Ivan Deljanov auf der anderen. Der Konflikt verdeutlicht, wie sehr sich die Politisierung der Religion in einem Kräftefeld entwickelte, in dem unterschiedliche Akteure konkurrierten und um Deutungshoheit kämpften. Aus der internen Korrespondenz geht deutlich hervor, dass der Warschauer Generalgouverneur die treibende Kraft für die Umsetzung des Kaiserlichen Erlasses im Königreich war. Mit Blick auf die wachsenden Spannungen im Kraj versuchte er, die nach Konfessionen getrennten Gottesdienste in seinem Verwaltungsbezirk zügig zu realisieren. Er stieß aber auf den hartnäckigen Widerstand der Bildungsbehörde, zu deren Amtsbereich auch die Aufsicht der Schulen im Weichselland gehörte. Der Kurator und der Bildungsminister argumentierten einhellig, dass der konfessionellen Trennung der Betgemeinschaften vor allem die ungeklärte Frage der Gebetssprache im Kraj entgegenstünde und zugleich Bestimmungen fehlten, welcher Gebetstext der jeweiligen Glaubensrichtung zu verwenden sei.69 Die Praxis des gemeinsamen orthodoxen Gebets habe sich außerdem in den letzten 27 Jahren bewährt und es gebe keinen Grund, diese nun zu ändern. Der Gebrauch eines orthodoxen Gebets in den Schulen berühre nicht die Liturgie einer Konfession und die Unzufriedenheit in der polnischen Gesellschaft mit der bestehenden Ordnung sei allein auf deren || 67 GARF, f.215, op.1, d.89, ll.25–25ob [Brief des WGG Imeretinskij an das Innenministerium, 26.9.1897]. 68 Vgl. Političeskie itogi. Russkaja politika v Pol’še, Leipzig 1896, S. 2–3 und S. 8–9. Vgl. auch Katya Vladimirov: Provincial Bureaucracy, S. 103–107. 69 GARF, f.215, op.1, d.89, ll.28–29 [Brief des Bildungsministers Deljanov an den WGG, 24.9.1897].

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„Hass gegen die russische Sprache“ und vor allem auf den „rasenden Fanatismus der Intoleranz“ der Katholiken zurückzuführen, die sich außer Stande sähen, zusammen mit anderen Glaubensrichtungen ihr Gebet an Gott zu richten. Alle vorbereitenden Maßnahmen, die der Generalgouverneur zur Änderung der Gebetsrituale in den Schulen des Warschauer Lehrbezirks schon eingeleitet habe, seien daher zurückzunehmen.70 Hier offenbarten sich erhebliche Friktionen hinter der scheinbar monolithischen Fassade der zarischen Bürokratie. In einem scharf formulierten Antwortschreiben verwies Imeretinskij den Bildungsminister Deljanov darauf, dass mit den Erlassen vom 25. Juni 1897 eine völlig neue Grundlage für die Gebetsordnung im Kraj bestehe und damit die Bestimmungen von 1870 endgültig abgeschafft seien. Es sei seine „Amtspflicht“, die Ursachen jener „Beunruhigungen“, die in der Provinz wegen der verschleppten Umsetzung der kaiserlichen Dekrete zu beobachten seien, umgehend zu beseitigen.71 In den behördeninternen Kompetenz- und Richtlinienkämpfen konnte sich der Generalgouverneur in diesem Fall gegenüber dem Bildungsminister durchsetzen. In einem wenig später folgenden Schreiben reichte Deljanov eine behördliche Direktive zur konfessionell getrennten und verschiedensprachigen Durchführung des Schulgebetes nach. In Zukunft sollten die orthodoxen Schüler auf Russisch, die katholischen auf Polnisch oder Litauisch und die Protestanten auf Russisch oder Deutsch beten.72 Welche Gebetstexte zu verwenden seien, müsse der Kurator des Lehrbezirks in Übereinstimmung mit den Oberhäuptern der jeweiligen Glaubensbekenntnisse festlegen – eine Entscheidung, die noch im November des gleichen Jahres erfolgte und damit endgültig den Weg für getrennte Gebete in mehreren Sprachen im Königreich freigab.73 Die Komplikationen, die mit der Einführung von nach Konfessionen getrennten Gebeten auftraten, betrafen aber nicht nur die Gebetssprache. Auch die Rangfolge der Gebetsgemeinschaften und die Kompatibilität von orthodoxen Ikonen und katholischen Marienbildern musste neu geregelt werden. Die Behörden bestimmten zunächst einhellig, dass an Schulen, in denen nur eine Räumlichkeit für Ritualpraktiken zur Verfügung stand, die Konfessionen nacheinander zum Gebet geführt würden und hierbei selbstverständlich die orthodoxe Glaubensgemeinschaft den Vortritt haben solle. Sie unterstrichen damit || 70 GARF, f.215, op.1, d.89, ll.28–29 [Brief des Bildungsministers an den WGG, 24.9.1897]. 71 GARF, f.215, op.1, d.89, ll.30–31 [Brief des WGG an den Bildungsminister, 28.9.1897]. 72 GARF, f.215, op.1, d.89, ll.35–36ob [Brief des Bildungsministers an den WGG, 2.10.1897]. 73 GARF, f.215, op.1, d.89, ll.42–43 [Brief des Kurators Ligin an den WGG, 6.10.1897]; GARF, f.215, op.1, d.89, ll.52–52ob [Brief des WGG an den Kurator, 7.11.1897]; GARF, f.215, op.1, d.89, ll.50–51 und l.53 [Briefe des Kurators an den WGG, 6.11. und 9.11.1897].

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das grundsätzliche Primat, das die Orthodoxie in der konfessionellen Hierarchie des Imperiums genoss.74 Umstrittener dagegen war die Frage, wie man mit den Forderungen der polnischen Gesellschaft umzugehen habe, auch Marienbilder in den Gebetsräumen aufzuhängen. Wieder gab es diesbezüglich Widerstände von Seiten des Bildungsministeriums, das darauf verwies, dass die Erlöser- und Gottesmutterikonen, die üblicherweise in den Schuleinrichtungen hingen, doch wohl allen christlichen Glaubensrichtungen heilig sein sollten.75 Auch hier konnte sich der Generalgouverneur durchsetzen, indem er auf den möglichen Protest der katholischen Priester verwies. Es wurde behördenintern beschlossen, das Aufhängen katholischer Marienbilder in den Gebetsräumen zu gestatten.76 Konfliktentschärfend wirkte, dass die sakralen Topographien der beiden Konfessionen nicht kollidierten. Da orthodoxe Ikonen ihren sakralen Platz in der Ikonenecke haben, Marienbilder aber in der Regel mittig an der Wand angebracht werden, fiel es den Beamten nicht schwer, diesen Symbolort im Klassenzimmer freizugeben.77 Die sechsmonatige Odyssee, die der Kaiserliche Erlass seit seiner Verkündung im Juni bis zu seiner lokalen Implementierung im November 1897 zwischen den Klippen der verschiedenen Behörden zurücklegen musste, verdeutlicht, wie sehr Entscheidungen im Königreich nicht als einfache Weiterleitung von Direktiven aus dem Zentrum funktionierten. Die allgemeine Willensbekundung des Zaren verästelte sich bei der konkreten Umsetzung in der komplizierten konfessionell-nationalen Gemengelage im Königreich in zahlreiche Folgekomplexe. Es entstand ungeahnter Klärungsbedarf bei konsekutiven Problemen, deren Lösung in den Auseinandersetzungen vor Ort ausgehandelt werden musste. Insofern gewährt der konfessionelle Konflikt um die Frage nach der rechten Gebetsordnung Einblicke in die Mechanismen politischen Handelns in Polen und im Imperium. Das grundsätzliche Muster, das sich in diesem wie in zahlreichen anderen Konfliktfällen erkennen lässt, ist die Diskrepanz zwischen den ausgesprochen vage gehaltenen Vorgaben des unantastbaren monarchischen Willens und dem Kleinkrieg der Instanzen bei der Überführung der großen herrscherlichen Geste in konkrete Maßnahmen vor Ort. Denn die praktische Ausarbeitung von detaillierten Bestimmungen für den lokalen Kontext geriet regelmäßig zwischen die Fronten der verschiedenen zuständigen Ressorts und damit in den || 74 GARF, f.215, op.1, d.89, ll.36–36ob [Brief des Bildungsministers an den WGG, 2.10.1897]; f.215, op.1, d.89, l.42 [Brief des Kurators an den WGG, 7.10.1897]. 75 GARF, f.215, op.1, d.89, l.45 [Brief des Bildungsministers an den WGG, 2.10.1897]. 76 GARF, f.215, op.1, d.89, l.49 [Brief des Bildungsministers an den WGG, 18.10.1897]. 77 GARF, f.215, op.1, d.89, l.47ob [Brief des Kurators an den WGG, 7.10.1897].

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fortdauernden Aushandlungsprozess von Kompetenzbereichen und Entscheidungshoheiten. Die jeweiligen Behördenvorstände achteten akribisch darauf, an den Entscheidungen, die in irgendeiner Weise ihr Zuständigkeitsfeld berührten, beteiligt zu sein. Angesichts der Verschränkung von Hoheitsgebieten führte dies zu permanenten Auseinandersetzungen zwischen den Ressorts, aber auch zwischen dem Zentrum und den lokalen Machthabern. Ähnlich wie bei Zensurfragen überschnitten sich im vorliegenden Fall der Regulierung von religiösen Praktiken die Kompetenzen des Generalgouverneurs, des Kurators sowie des Bildungsministers. Zudem waren noch andere Instanzen an diesem Kompetenzgerangel beteiligt, was nicht nur die Entscheidungsfindung erschwerte, sondern auch die flächendeckende Umsetzung von Beschlüssen blockieren konnte. So sträubte sich das Finanzministerium, die konfessionsseparierten Gebete auch in den ihm unterstehenden Bildungseinrichtungen im Königreich zu veranlassen. Noch im April 1898 musste der Warschauer Generalgouverneur den Finanzminister Sergej Vitte drängen, die Kaiserlichen Erlasse des Vorjahres zu befolgen.78 Das spannungsgeladene Konkurrenzverhältnis dieser Institutionen und der Amtsinhaber fußte allerdings nicht nur auf dem Problem von Statusfragen. Hier kamen gerade auch bei politischen Entscheidungen, die die alltägliche, nicht öffentliche Sphäre der Religion betrafen, grundlegende konzeptionelle Differenzen zum Tragen. Während nämlich eine große Mehrheit der Generalgouverneure zumindest in diesem Bereich für eine Berücksichtigung der Bedürfnisse der polnisch-katholischen Gesellschaft plädierte, verfolgte das Bildungsministerium fast durchgängig einen Konfrontationskurs. Das lag daran, dass das Ministerium für Bildung eine Institution darstellte, die traditionell aktiv zur Betonung des Russischen und Orthodoxen im Königreich drängte.79 Die zentralen und lokalen Instanzen der Bildungsbehörde und ihre Amtsträger waren einer pädagogischen Utopie verhaftet, die sie zu der Annahme verleitete, der Schlüssel zur Schaffung loyaler Untertanen im Königreich läge in einer auf Russland fixierten Bildung. Die russischsprachigen staatlichen Schulen waren eine Einrichtung von großer Bedeutung.80 Dort hoffte man die Zöglinge dem schädlichen antirussischen Wirken ihrer polnischen Eltern entziehen zu können.81 Hier manifestierte sich der nachhaltige Einfluss des Oberprokurors des Heiligen Synods Pobedonoscev auf das Bildungsministeri|| 78 GARF, f.215, op.1, d.89, ll.61–62 [Brief des WGG an den Finanzminister, 12.4.1898]. 79 Vgl. dazu Aleksander Kraushar [Alkar]: Czasy szkolne za Apukhtina: kartka z pamiętnika, Warschau 1915. 80 Siehe Ustavy srednich učebnych zavedenij v Carstve Pol’skom, St. Petersburg 1866. 81 GARF, f.215, op.1, d.76, l.3 [Bericht des WGG zur Lage in der Provinz, 27.12.1880].

8.2 Von Schulgebeten und Marienbildern | 177

um. Dieser kam unter anderem darin zum Ausdruck, dass neben der forcierten Orientierung der Schulbildung an einer russischen Leitkultur auch die Orthodoxie als zentrales Bildungs- und Kulturgut galt, das den Schülern zu vermitteln war. Auch wenn die Staatsschulen im Weichselland entgegen mancher polnischen Kritik keine Institutionen der aktiven orthodoxen Mission wurden, so waren sie doch der Ort, an dem nicht nur politisch loyale Schüler herangezogen werden sollten, sondern ihnen auch der orthodoxe Glauben als überlegene Religion präsentiert wurde. Das Bildungsministerium verfolgte insofern eine ideologische Linie: Es galt an der kulturellen Front die polnische Hegemonie zu brechen und auch die katholische Konfession zu marginalisieren. In einer solchen Perspektive bekamen religiöse Angelegenheiten zwangsläufig einen (bildungs-)politischen Gehalt.82 Dagegen bewirkte bei den Generalgouverneuren die funktionale Ausrichtung ihrer Amtsführung eine ganze andere Prioritätensetzung. Ihr politisches Primat galt den stabilisierenden Maßnahmen im Königreich und zielte vordringlich auf die Verhinderung von Aufständen und öffentlicher Unruhe, nicht aber auf die kulturelle Russifizierung oder orthodoxe Missionierung der Polen. Eine solche Prämisse hatte Konsequenzen für jene Grenzziehungen, mit denen die Generalgouverneure die Sphäre des Politischen bestimmten. Die alltäglichen Praktiken der Religionsausübung und die schulischen Räume für die Ausübung der Glaubensbekenntnisse gehörten hier nicht in das Feld politischen Handlungsbedarfs. Aus Sicht der Mehrheit der Warschauer Generalgouverneure stand nämlich bei den konfessionellen Fragen des All- und Schultags nicht die staatspolitische Autorität zu Disposition. Anders als im Fall des Baus der Nevskij-Kathedrale und auch der konfessionell-zeremoniellen Ordnung des öffentlichen Raumes anlässlich des Zarenbesuchs ging es für sie bei den Schulgebeten nicht primär um die Repräsentation von imperialer Herrschaft. Hier wurden keine politischen Dominanzverhältnisse ausgetestet, so dass beispielsweise der Generalgouverneur Imeretinskij allem Misstrauen gegenüber den „Lateinern“ zum Trotz bereit war, in der Gebetsfrage den staatstragenden Grundsatz der Toleranz gegenüber anerkannten Religionsgemeinschaften zu befolgen.83 Ob religiöse Fragen in der Wahrnehmung der Beamten politischen Gehalt hatten oder eher in die „Sphäre der religiösen Überzeugungen der Menschen“84 gehörten, war also keinesfalls ausgemacht. Die Debatten um die Schulgebete

|| 82 GARF, f.215, op.1, d.76, l.55 [Beschluss des Komitees für die Angelegenheiten des Königreichs Polen, ohne Datum, 1881]. 83 GARF, f.215, op.1, d.94, l.7 [Auszug aus dem Bericht des WGG vom 12.1.1898]. 84 GARF, f.215, op.1, d.89, ll.5–7ob [Brief des WGG an den Bildungsminister, 18.9.1897].

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sind eher ein Beleg dafür, dass es aus der Perspektive des Generalgouverneurs durchaus möglich und sogar wünschenswert war, diesen religiösen Teilbereich zu entpolitisieren und in die abgesonderte Sphäre einer rein konfessionellen Angelegenheit zu transferieren.85 Ein solches Bestreben hatte zweifellos mit dem geringeren Öffentlichkeitsgrad zu tun, den die allmorgendlichen religiösen Gebetshandlungen in Schulanstalten im Vergleich zu solchen Repräsentationsschauspielen wie der Nevskij-Kathedrale auszeichneten. Dafür spricht auch, dass sich schon der Generalgouverneur Al’bedinskij in den frühen 1880er Jahren zu Konzessionen gegenüber der katholischen Bevölkerung bereit fand, die die Frage des Religionsunterrichts an den Schulen berührten.86 Durch einen Beschluss Al’bedinskijs wurden römisch-katholische Priester zum Religionsunterricht an den Gemeindegrundschulen zugelassen – wenn auch unter strenger staatlicher Aufsicht. Angesichts des allgegenwärtigen Misstrauens der Beamten gegenüber dem katholischen Klerus war dies ein weitreichender Schritt.87 Selbst der Generalgouverneur Gurko, der bezüglich der obligatorischen russischen Unterrichtssprache eine kompromisslose Position einnahm, sah sich 1890 zu dem Zugeständnis in der Lage, die schulische „Unterbreitung der Gesetze Gottes“ durch römisch-katholische Priester zu gestatten. Ein Gesetz vom 16. Mai 1892 legte dann endgültig fest, dass die Schulleitungen selbst entscheiden könnten, ob ein katholischer Priester zum Unterricht zugelassen werden solle.88 Insofern bestand schon vor dem Kaiserlichen Erlass aus dem Jahr 1897 eine längere Tradition der Regierungsorgane, die religiösen Belange innerhalb der Schulmauern pragmatisch zu behandeln und nicht zum Gegenstand politisierter Debatten zu machen. Die Grenzen des Politischen waren also fließend und ein politisch motivierter Handlungsbedarf der Beamten konnte unterschiedlich stark die Sphäre betreffen, die die Zeitgenossen als eine religiöse wahrnahmen. Letztlich bestand aber ein breiter Konsens aller beteiligten Akteure, dass Religion generell Gegenstand staatlichen Reglements sein müsse. Ebenso wenig wurde die Notwendigkeit der religiösen Rituale in öffentlichen Einrichtungen angezweifelt. Religion, egal welcher Konfession, galt als Garant der gesellschaftlichen Ordnung und als Stütze von Moral und Sittlichkeit. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert meinten die zarischen Behörden einen zunehmenden sittlichen Verfall beobachten || 85 GARF, f.215, op.1, d.94, l.55ob [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898]. 86 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.18–19 [Bericht des WGG zur Lage im Königreich, 27.12.1880]. 87 GARF, f.215, op.1, d.76, l.17 [Bericht des WGG Al’bedinskij, 27.12.1880]. 88 GARF, f.215, op.1, d.94, l.57 [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898].

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zu können, den sie für zahlreiche neuere Phänomene wie unter anderem auch für die sozialistische Bedrohung verantwortlich machten.89 Die Religion und ihre Praktiken erhielten hier eine ganz neue Bedeutung, da sie als stabilisierender Faktor einer ins Wanken kommenden Moralordnung erschienen. Sie bedurften daher auch der intensivierten Pflege und des gesteigerten Schutzes von Seiten der Regierung. Von einem solchem Grundverständnis, das Religion als staatliches Anliegen betrachtete, profitierten alle Konfessionen. Wenngleich auch nach 1900 noch die hartnäckige Überzeugung zu finden ist, dass katholische „Propaganda“ staatsgefährdend sei,90 so deutete sich doch hier schon an, was die Revolution von 1905 zur endgültigen Gewissheit machte: dass es nicht die „katholische Gefahr“ war, die das politische System bedrohte, sondern der soziale Aufruhr der pauperisierten Massen. Die zarischen Beamten hatten in dieser bedrohlichen Phase des eigenen Machtverlusts aufmerksam registriert, dass sich die konservative katholische Kirchenobrigkeit ablehnend gegenüber den revolutionären Umtrieben verhalten hatte und der katholische Klerus kein aktiver Träger der Protestwellen gewesen war.91 Nicht mehr der katholische Mönch „mit dem Kreuz in der einen und dem Säbel in der anderen Hand“92 war nun das primäre Feindbild, sondern der polnische Revolutionär mit der Pistole unter der Lederjacke. Dies eröffnete neue Handlungsmöglichkeiten für die imperialen Machtinstanzen auf ihrer Suche nach Verbündeten und ermöglichte auch einen gewandelten Blick auf den Katholizismus. Vor allem der Generalgouverneur Skalon zeichnete sich nach der militärischen Befriedung des Krajs durch einen pragmatischen Kurs aus, bei dem er die Kooperation mit jenen Kreisen der polnischen Gesellschaft suchte, die bereit waren, den grundsätzlichen Tatbestand russischer Oberherrschaft zu akzeptieren, und Modifikationen innerhalb dieses Paradigmas anstrebten. Die katholische Kirchenleitung im Königreich war einer der Ansprechpartner.93

|| 89 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.9–11 [Aufzeichnungen des Staatsanwalts der Warschauer Gerichtskammer, 4.1.1900]; GARF, f.215, op.1, d.97, l.12 und ll.14–17ob [Brief des WGG Imeretinskij an das Innenministerium, 16.1.1900]. 90 GARF, f.215, op.1, d.97, l.31 [Brief des WGG Čertkov an das Innenministerium, 12.3.1902]. 91 Siehe Robert E. Blobaum: Rewoljucja, S. 234–259. 92 Nikolaj A. Miljutin: Issledovanija v Carstve Pol’skom, St. Petersburg 1864, S. 65. 93 Vgl. Christoph Gumb: Festung; Malte Rolf: A Continuum of Crisis? The Kingdom of Poland in the Shadow of Revolution (1905–1915), in: Felicitas Fischer v. Weikersthal et al. (Hrsg.): The Russian Revolution of 1905 in Transcultural Perspective. Identities, Peripheries, and the Flow of Ideas, Bloomington 2013, S. 159–174.

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Zugleich verdeutlichen einige der konfessionellen Konflikte, wie stark die polnische Gesellschaft und ihre Forderungen auf die administrativen Apparate zurückwirken konnten. Auch eine Bürokratie, die sich als autonome Entscheidungsinstanz verstand, war zur Interaktion mit den polnischen Streitpartnern genötigt. Bereits in den Konfliktfeldern von Zensur und Religionspolitik sowie in den sich anschließenden öffentlichen Debatten offenbarten sich die Verflechtungen und Interdependenzen von staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren. Dieses Gewebe einer „Konfliktgemeinschaft“ wird gerade dann in seinen Strukturen sichtbar, wenn man sich den Alltäglichkeiten imperialer Administration zuwendet. An kaum einem anderen Beziehungsgeflecht lässt sich ein solches Spannungsverhältnis aus wechselseitiger Kommunikation, Konfrontation wie auch Kooperation derart dicht beschreiben wie an der imperialen Herrschaft im städtischen Raum und ihren alltäglichen Herausforderungen.

| Teil III: Das Imperium und die Metropole – Das Beispiel Warschau

9 Die zarische Bürokratie und der städtische Raum: Modernisierung ohne Selbstverwaltung. Warschau 1880–1915 Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Geburtsphase der modernen europäischen Metropole. Städte wie London, Paris, Barcelona, Berlin, Budapest oder Wien wandelten in dieser Epoche rapider Verstädterung, technischstädtischer Modernisierung und kultureller Urbanisierung grundlegend Gestalt und Charakter. Auch im Russischen Zarenreich brach nach 1870 die „Zeit der Metropolen“ an.1 In St. Petersburg, Riga oder Odessa vervielfachte sich nicht nur die Bevölkerung in rasantem Tempo, hier wurden auch die städtischen Zentren nach den Maßstäben der urbanen Moderne radikal neu ausgerichtet. Von der Jugendstilarchitektur bis zur elektrischen Straßenbahn, vom Boulevard bis zur Kanalisation wurden paneuropäische Trends aufgegriffen und an die lokalen Bedingungen angepasst. Die ältere duale Grundstruktur russischer Städte wurde so verstärkt und der Unterschied zwischen modernisierten städtischen Kernbereichen und den unterprivilegierten Vorstädten zunehmend akzentuiert.2 Warschau stellte in diesem Zusammenhang keine Ausnahme dar. Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wandelte sich das Verwaltungszentrum des Königreichs Polen zur bevölkerungsstarken und modernen Metropole, die sich selbst das Etikett „Paris des Ostens“ anheften sollte. Auch hier kam es zur Herausbildung eines städtischen Doppelcharakters: Bürgerliche || 1 Clemens Zimmermann: Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung, Frankfurt/Main 1996. Vgl. zu Russland u.a. Joseph Bradley: Muzhik and Muscovite. Urbanisation in Late Imperial Russia, Berkeley 1985 S. 141–193; Daniel R. Brower: The Russian City between Tradition and Modernity, 1850–1900, Berkeley 1990; Michael F. Hamm (Hrsg.): The City in Russian History, Kentucky 1976; Michael F. Hamm (Hrsg.): The City in Late Imperial Russia, Bloomington 1986; Guido Hausmann: Stadt und Gesellschaft im ausgehenden Zarenreich, in: Guido Hausmann (Hrsg.): Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Selbstverwaltung, Assoziierung und Geselligkeit in den Städten des ausgehenden Zarenreiches, Göttingen 2002, S. 13–166; Manfred Hildermeier: Bürgertum und Stadt in Russland 1760–1870, Köln 1986; Ulrike von Hirschhausen: Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860–1914, Göttingen 2006; Roshanna P. Sylvester: Tales of Old Odessa. Crime and Civility in a City of Thieves, DeKalb 2005; Robert W. Thurston: Liberal City, Conservative State: Moscow and Russia’s Urban Crisis, 1906–1914, New York 1987. 2 Zum dualen Charakter russischer Städte vgl. grundsätzlich Daniel R. Brower: The Russian City, v.a. S. 22–23 und S. 30–31; auch Joan Neuberger: Hooliganism: Crime, Culture, and Power in St. Petersburg, 1900–1914, Berkeley 1993, S. 216–274.

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Vorzeigeviertel standen im schroffen Gegensatz zu städtischen Armenquartieren. Die Genese des modernen Warschau vollzog sich allerdings unter anderen Vorzeichen als die ihrer Metropolenschwestern in Westeuropa oder Russland. Denn der urbane Wandel der Stadt an der Weichsel ereignete sich unter den Bedingungen einer russischen Herrschaft, die eine externe Beamtenschaft zur munizipalen Verwaltung ernannte und die Behördenleiter aus Sankt Petersburg entsandte. Alle Versuche, auch im Königreich Polen Formen städtischer Selbstverwaltung einzuführen, scheiterten am Petersburger Widerstand. Warschau verfügte in den Zeiten der forcierten städtischen Modernisierung nicht über ein gewähltes Selbstverwaltungsgremium und die indigene Bevölkerung war von den administrativen Entscheidungsprozessen weitgehend ausgeschlossen. Der Warschauer Magistrat und der ihm vorstehende Stadtpräsident blieben bis 1915 direkt dem Innenminister unterstellt und waren damit selbst integraler Bestandteil der zarischen Staatsverwaltung. Dieses Kapitel befasst sich mit der Rolle, die eben diese zarischen Beamten bei der städtischen Umgestaltung Warschaus im fin de siècle spielten. Da die Stadtverwaltung in den Händen der Bürokratie lag, stellten die imperialen Eliten einen entscheidenden Akteur der urbanen Modernisierung. Es soll die Interaktion der verschiedenen Instanzen innerhalb der zarischen Administration herausgearbeitet und damit das bürokratische Geflecht von unterschiedlichen, teils kooperierenden, teils konkurrierenden Handlungsträgern beleuchtet werden. Generalgouverneure, Leiter der Polizeibehörde und Leiter des städtischen Magistrats werden in ihrem Einfluss auf die städtische Transformation profiliert. Die zarische Beamtenschaft war jedoch kein gänzlich abgeschlossenes Milieu, sondern stand in Beziehung zu jenem urbanen Umfeld, in dem sie sich zu bewegen genötigt war. Es werden daher die Interaktionen der imperialen Elite mit jenen Teilen der Warschauer Gesellschaft nachgezeichnet, die an der Modernisierung der Weichselmetropole partizipierten. Die Selbstentwürfe der zarischen Amtsträger, ihre Bilder vom Reichszusammenhang und ihre Wahrnehmung der Weichselmetropole entstanden und wandelten sich im Kontakt mit der polnisch-katholischen und jüdischen Stadtbevölkerung. In der Konfrontation mit Initiativen und Widerständen, Forderungen und Kritiken einer Gesellschaft im Aufbruch änderten sich die Vorstellungen und Praktiken, die für die Staatsverwaltung in städtischen Angelegenheiten maßgeblich waren. Warschau war der Ballungsraum der imperialen Elite im Königreich Polen. In der Metropole an der Weichsel lebte der Großteil der Gemeinde von Reichsrepräsentanten, dort entfaltete sie ein eigenständiges kulturelles Leben und dort fällte der Generalgouverneur die wichtigen politischen Entscheidungen. In Warschau waren damit die Austauschbeziehungen zwischen Beamten und

9.1 Warschau um 1900 | 185

indigener Bevölkerung besonders intensiv. Die alltäglichen und schwierigen Geschäfte einer Administration der Warschauer Großstadt konstituierten Begegnungsräume, in denen die imperiale Elite und die Warschauer Stadtgesellschaft permanent zur Interaktion gezwungen waren. Anhand exemplarisch vorgestellter Fälle, bei denen sich die Kommunikation dieser Konfliktgemeinschaft verdichtete, werden im Folgenden die grundlegenden Muster und Themen der Auseinandersetzungen, aber auch die Formen von Kooperation und Konsens zwischen zarischer Beamtenschaft und den verschiedenen – ethnischen, sozialen und konfessionellen – Milieus der Warschauer Stadtbevölkerung nachgezeichnet. Es werden die mentalen Welten der Akteure wie ebenso die Normen und Zwänge bürokratischer Apparate rekonstruiert. Grundsätzlich wird auch in diesem Kapitel die formative Dimension der langen russischen Herrschaft für den lokalen Kontext evident. Die Geschichte der imperialen Elite ist mit Blick auf den Wandel Warschaus zur Metropole nicht als Verhinderungsgeschichte zu schreiben. Vielmehr gilt es, die russische Oberherrschaft als Kontextsetzung zu begreifen, die spezifische Entwicklungen anstieß oder privilegierte, andere unterband oder behinderte. Sie war damit ein ebenso wichtiger wie produktiver Faktor in dem Geflecht von städtischen Interaktionsebenen und Modernisierungsakteuren und ihrem Kräftespiel.3

9.1 Warschau um 1900: Verfall einer okkupierten Stadt oder Genese einer europäischen Metropole? Das Warschau des ausgehenden 19. Jahrhunderts war eine dynamische Stadt. Allein das Bevölkerungswachstum der ehemaligen polnischen Hauptstadt nahm seit den 1880er Jahren ein rasantes Tempo an. Von circa 380.000 Einwohnern im Jahr 1882 sprang die Bevölkerung in nur 15 Jahren auf über 680.000 (1897) und kletterte bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs um ein weiteres Viertel auf 884.584 Einwohner (1914).4 Damit hatte sich in einer Zeitspanne von ungefähr 30 Jahren die Stadtbevölkerung deutlich mehr als verdoppelt und steuerte auf die Million zu. Warschau war zur drittgrößten Stadt des Russischen

|| 3 Siehe dazu auch Il’ja V. Gerasimov et al.: Homo Imperii Revisits the „Biographic Turn“, in: Ab Imperio, 1 (2009), S. 17–21, hier S. 18–19. 4 Otčet o dviženii naselenija goroda Varšavy za 1907 god/Sprawozdanie o ruchu ludnošči miasta Warszawy za rok 1907, Warschau 1908; Naselenie g. Varšava/Ludnošč m. Warszawy, Trudy statističeskogo Otdela Varšavskogo magistrata, 3 Bd., Warschau 1909–1914.

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Abb. 12: Stadtplan Warschaus von 1879. Erstellt unter der Leitung von Alfons Grotowski

Reichs avanciert, stellte mit Abstand die größte polnische Stadt dar und nahm immerhin auch den Rang der achtgrößten Metropole Europas ein.5 Was sich in den Wachstumszahlen paradigmatisch verdichtet, ist der rapide und grundlegende Wandel Warschaus zu einer modernen Metropole. Wie aber verliefen diese Prozesse der Metropolenbildung und die damit einhergehende urbane Modernisierung? Welche Rolle spielten die zarischen Behörden? Mit

|| 5 Andrzej Sołtan: Kształtowanie się wielkomiejskiego oblicza Warszawy, in: Muzeum Historyczne M. St. Warszawy (Hrsg.): Sankt Petersburg i Warszawa na przełomie XIX i XX wieku. Początki nowoczesnej infrastruktury miejskiej / Sankt-Peterburg i Varšava na rubeže XIX i XX vekov. Načalo sovremennoj gorodskoj infrastruktury, Warschau 2000, S. 79–86, hier S. 79; Michael F. Hamm: Introduction, in: Michael F. Hamm (Hrsg.): The City in Late Imperial Russia, Bloomington 1986, S. 1–8, S. 3; Thomas Stanley Fedor: Patterns of Urban Growth in the Russian Empire, Chicago 1975, S. 183–214.

9.1 Warschau um 1900 | 187

Blick auf das Königreich Polen und die Entwicklung Warschaus wird die Zarenherrschaft oft primär als Verhinderung von Modernisierung geschildert. Für den urbanen Wandel in Warschau scheint dies auf den ersten Blick auch zuzutreffen. Es gibt hier zahlreiche Beispiele, bei denen die zarische Bürokratie städtische Modernisierungsbemühungen blockierte. So wurden weder die unhygienischen Zustände in weiten Teilen der Altstadt angegangen noch der chronische Mangel an städtischer Infrastruktur behoben. Vor allem aber tat die Verwaltung nichts, um die katastrophale Wohnsituation der überbevölkerten Stadt abzumildern.6 Da die Zarenmacht sich bis kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs weigerte, die Siedlungsbeschränkungen, die ein dichter Festungsgürtel um Warschau diktierte, aufzuheben, wuchs die Stadt „nach innen“.7 Der stete Zustrom ländlicher Migranten musste auf einem eng begrenzten Stadtgebiet aufgefangen werden. Wie wenig aufgrund dieser Beschränkungen die Anbindung von Vorortgemeinden erfolgen konnte, demonstriert das Projekt der Einrichtung von elektrischen Vorortzügen, das eine Aktiengesellschaft beim Generalgouverneur beantragte: Noch 1913 existierten Verbindungslinien derartiger Züge allein auf der Ostseite der Weichsel.8 In weiten Teilen der Innenstadt betrug die Bevölkerungsdichte vor dem Ersten Weltkrieg 100.000 Personen pro Quadratkilometer.9 Eine extreme Überbelegung von Wohnraum war damit in Warschau die Regel für Unterschichtsquartiere. Bezogen auf die ganze Stadt schwankte kurz vor der Jahrhundertwende die Durchschnittszahl der Bewohner eines Zimmers zwischen vier und fünf Personen. Ein übliches Phänomen waren nicht nur zahlreiche Untermieter in einer Wohnung, sondern auch die sogenannten „Schlafgänger“ – Personen, die nicht über ein eigenes Bett verfügten und sich den Schlafplatz bei fremden Menschen anmieten mussten.10 Die große Mehrheit der Wohnungen waren zudem Einzim-

|| 6 Ute Caumanns: Miasto i zdrowie a perspektywa porównawcza. Uwagi metodyczne na przykladzie reform sanitarnych w XIX-wiecznej Warszawie, in: Medycyna Nowozytna, 7/1 (2000), S. 45–62; Ute Caumanns: Modernisierung, v.a. S. 377–384; Stephen D. Corrsin: Warsaw before the First World War, S. 40–41; Theodore R. Weeks: A City of Three Nations: Fin-De-Siècle Warsaw, in: The Polish Review, 49/2 (2004), S. 747–766, v.a. S. 749–753. 7 Vgl. Stanisław Herbst: Ulica Marszałkowska, Warschau 1978, S. 117; Stefan Król: Cytadela Warszawska, S. 16. 8 AGAD, KGGW, sygn.5514, kart.1 und kart.28 [Brief der Aktiengesellschaft der Warschauer Vorortzüge an den WGG Skalon, 21.1.1913]. 9 Werner Huber: Warschau. Phönix aus der Asche. Ein architektonischer Stadtführer, Köln 2005, S. 28. 10 Zu Warschau vgl. Anna Żarnowska: Veränderungen der Wohnkultur im Prozess der Adaption von Zuwanderern an das großstädtische Leben an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert am Beispiel von Warschau und Lodz, in: Alena Janatková/Hanna Kozińska-Witt (Hrsg.): Woh-

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Abb. 13: Stadtplan Warschaus von 1896. Erstellt unter der Leitung von William H. Lindley, überarbeitet von H. Lichtweiss

merwohnungen, die oft im Keller oder in den Dachstuben lokalisiert waren. So stellten 1891 Einzimmerwohnungen, in denen circa 41 Prozent der städtischen Gesamtbevölkerung lebte, 45–47 Prozent aller Wohnungen in Warschau.11 Der hygienische Zustand eines Großteils dieser Behausungen war miserabel, die Sterblichkeitsziffer der Bewohner erschreckend hoch.12 Die große Chole-

|| nen in der Großstadt 1900–1939. Wohnsituation und Modernisierung im europäischen Vergleich, Stuttgart 2006, S. 41–54, S. 44–45. Zu Lodz vgl. Andreas R. Hofmann: Von der Spekulation zur Intervention. Formen des Arbeiterwohnungsbaus in Lodz und Brünn vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Alena Janatková/Hanna Kozińska-Witt (Hrsg.): Wohnen in der Großstadt 1900–1939. Wohnsituation und Modernisierung im europäischen Vergleich, Stuttgart 2006, S. 225–247, S. 231–233. 11 Itogi sanitarnoj perepisi gor. Varšavy, hrsg. v. Varšavskij postojannyj sanitarnyj komitet, 2 Bde., Warschau 1891–1893. 12 Vgl. Putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostjam, hrsg. v. V. Z., Warschau 1893, S. 61–63; Otčet Varšavskogo gigieničeskogo obščestva za 1898 g., Warschau 1899; Otčet Varšavskogo

9.1 Warschau um 1900 | 189

raepidemie von 1867 hatte zwar auch bei den Verantwortlichen im Warschauer Magistrat die Wahrnehmung dafür geschärft, dass die Schaffung von hygienischen Zuständen und die Seuchenvermeidung ein vordringliches Thema der wachsenden Stadt war. Dieser Import von Einsichten der paneuropäischen Hygienebewegung führte jedoch zunächst nur zu einer stärker systematisierten Datenerhebung der Missstände.13 Zu einem robusten Mandat einer Hygieneaufsicht, die eklatante Verstöße gegen Vorschriften hätte ahnden können, konnte sich die zarische Verwaltung jedoch nicht durchringen. Auch wurden keine Schritte ergriffen, die anhaltende Verweigerungshaltung vieler Hausbesitzer gegenüber Modernisierungsmaßnahmen, die für sie mit Ausgaben verbunden waren, zu durchbrechen. Der zunehmenden Verelendung weiter Teile der Innenstadt sahen die Behörden ebenso tatenlos zu, wie sie die unerträglichen Wohnverhältnisse in den neu entstehenden Arbeiterrandbezirken duldeten.14 Auch in anderen Bereichen schien die zarische Herrschaft eine städtische Entwicklung auszubremsen. Nicht zuletzt drückte sich das in der chronischen Unterfinanzierung des städtischen Budgets und in der Verhinderung von gewählten städtischen Repräsentations- und Verwaltungsorganen aus. Die drittgrößte Metropole des Imperiums blieb bis zum Ende der russischen Herrschaft in Polen ohne eine munizipale Selbstverwaltung.15 Die ernannte Magistratsbehörde stand in hoher Abhängigkeit von den ihr übergeordneten Instanzen. So hatte seit 1892 der Generalgouverneur das Recht, alle Beschlüsse des Magistrats auszusetzen.16 Das betraf auch die alltäglichen Finanzfragen der städtischen Administration. Schon ab einer Summe von 5.000 Rubel war der Generalgouverneur die entscheidende Autorität, bei Investitionsvolumen von mehr als 10.000 Rubel musste der Innenminister in St. Petersburg unmittelbar zustimmen.17 Zudem bestand bei zahlreichen Projekten zum Ausbau der städtischen Infrastruktur die grundsätzliche Genehmigungspflicht durch das Innenministe|| gigieničeskogo obščestva/Sprawozdanie Warszawskiego towarzystwa hygienicznego, 7 Bd., Warschau 1899–1905. 13 Vgl. G. Malek: Cholernaja epidemija v Varšave v 1867 godu. Otčet s priloženiem sanitarnoj karty goroda i raznych tablic, Warschau 1868. 14 Bolesław Prus: Kroniki, Bd. III, Warschau 1954, S. 132–133; Putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostjam, hrsg. v. V. Z., Warschau 1893, S. 61–62. 15 Vgl. Stephen D. Corrsin: Warsaw before the First World War, S. 140–141; Theodore R. Weeks: Nation and State, S. 152–171. 16 Hanna Kozińska-Witt: Stadträte und polnische Presse: Die Fälle Warschau und Krakau 1900–1939. Ein Versuch, in: Andreas R. Hofmann/Anna Veronika Wendland (Hrsg.): Stadt und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa 1900–1939, Stuttgart 2002, S. 281–298, S. 283. 17 Edward Strasburger: Gospodarka naszych wielkich miast. Warszawa, Łódź, Kraków, Lwów, Poznań, Krakau 1913, S. 28.

190 | 9 Die zarische Bürokratie und der städtische Raum

rium.18 Dementsprechend intensiv gestaltete sich die Kommunikation zwischen der Magistratsbehörde, der Kanzlei des Generalgouverneurs und dem Innenministerium.19 Oft genug intervenierten in St. Petersburg zudem auch die Verkehrs- oder Verteidigungsministerien sowie das interministerielle Komitee für die Angelegenheiten des Königreichs Polen. Viele städtische Modernisierungsprojekte kamen spätestens hier, in der konkurrenzträchtigen und konfliktgeladenen Interaktion der Zentralbehörden, zum Stillstand.20 Insofern bestehen gute Gründe, die zarische Bürokratie vor allem als fremden Beherrschungs- und auch Unterdrückungsapparat zu charakterisieren, der wenig für die Warschauer Belange tat. Eine solche Einschätzung entwickelte sich schnell zu einem festen Topos in der polnischen Wahrnehmung der Munizipalverwaltung der Autokratie. Und so schrieb Stefan Żeromski 1925 rückblickend: „Warschau gehörte zu dem Typus der Städte, die enterbt wurden, die man von der Entwicklungslinie heruntergeschoben hat. In ihrem Wachstum und Aufblühen, in ihrer Monumentalität und Schönheit merkt man die Geschichte ihres Sklaventums. [...] Und so sieht die befreite Hauptstadt eines freien Landes in ihrer äußerlichen Gestalt immer noch wie eine provinzielle Grenzfeste der kaiserlichen Satrapie aus.“21 Andererseits stellt ein solches Urteil bereits eine Perspektivenentscheidung dar. Denn es ist abhängig vom Vergleichspunkt, ob man zu einer derart negativen Einschätzung städtischer Entwicklung an der Weichsel kommt. Wenn man Warschau mit Paris, Berlin oder auch Wien und Budapest vergleicht, dann fallen die Hemmnisse einer städtischen Modernisierung deutlich ins Auge. Während andere europäische Metropolen sich im fin de siècle die Neuerungen der technischen und ästhetischen Moderne zu eigen machten, schien das okkupierte und fremdbestimmte Warschau in seiner Entwicklung zurückzubleiben.22

|| 18 GARF, f.215, op.1, d.155, l.2 [Rundschreiben des Innenministeriums, 16.12.1909]. 19 Da die Akten des Warschauer Magistrats während des Warschauer Aufstands komplett zerstört worden sind, ist diese Korrespondenz der einzige Zugang, um die Tätigkeit des Rathauses zu rekonstruieren. 20 Vgl. Stefan Dziewulski/Henryk Radziszewski: Warszawa, Bd. 2: Gospodarstwo miejskie, Warschau 1915. 21 Zitiert nach Marian Marek Drozdowski: Warszawiacy i ich miasto w latach drugiej Rzeczypospolitej, Warschau 1973, S. 12. 22 Vgl. zu Paris, Wien oder Budapest z.B. Thomas Bender/Carl E. Schorske: Budapest and New York Compared. Introduction, in: Thomas Bender/Carl E. Schorske (Hrsg.): Budapest and New York. Studies in Metropolitan Transformation, New York 1998, S. 1–28; Judit Bodnár: Fin-deMillénaire Budapest. Metamorphoses of Urban Life, Minneapolis 2001; Péter Hanák: Urbanization and Civilization: Vienna and Budapest in the Nineteenth Century, in: Péter Hanák (Hrsg.): The Garden and the Workshop. Essays on the Cultural History of Vienna and Budapest, Prince-

9.1 Warschau um 1900 | 191

Diese Vergleichsfolie war bei der zeitgenössischen polnischen Kritik an der zarischen Stadtverwaltung immer präsent und sie war zugleich auch Ausdruck des eigenen Zugehörigkeitsgefühls zum abendländischen Europa. Der für das polnische Selbstverständnis so wichtige antemurale-Mythos, nach dem man sich selbst als das christlich-katholische und später zivilisatorische Bollwerk gegen die asiatischen Bedrohungen verstand, spiegelte sich auch in dieser mentalen Verortung Warschaus wider. Indem die Weichselmetropole als Teil der europäischen Metropolengemeinschaft gewertet und Anspruch auf den Titel „Paris des Ostens“ erhoben wurde, verdeutlichte man zugleich die barbarische Dimension der russischen Besatzung wie auch die Rückständigkeit der zarischen munizipalen Administration.23 Diese Wahrnehmung wurde noch geschärft durch den direkten Vergleich Warschaus mit den polnischen Städten im nahen Habsburger Teilungsgebiet. Die alte Königsstadt Krakau und das moderne Verwaltungszentrum Lemberg hatten sich im Kontext der galizischen Kulturautonomie zu einer Insel polnischer Gelehrsamkeit und Kultur, aber auch der urbanen Moderne entwickelt. Die Städte im galizischen Kronland waren dementsprechend in der polnischen Wahrnehmung äußerst positiv konnotierte Orte. Im direkten Vergleich standen vor allem die galizischen Statutarstädte wie Lemberg und Krakau besonders gut da. Denn hier hatte sich seit 1871 eine Kommunalverwaltung etablieren können, die auf dem Gebiet der Stadt die Befugnisse einer staatlichen Bezirksverwaltung besaß; hier verfügte ein gewählter Stadtrat über legislative wie exekutive Gewalt in stadtrelevanten Fragen. Die Magistrate, denen ein machtvoller Stadtpräsident vorstand und die zugleich über eine professionelle Beamtenschaft verfügten, waren in der Donaumonarchie eine Institution, die selbstständig stadtplanerisch tätig werden konnte und in vielem als „Surrogat der Staatsbürokratie“ wirkte.24 Vor allem war es Lemberg, das sich zum architektonischen Symbol einer polnisch-urbanen Moderne wandelte, indem hier mondäne Boulevards, elektrische Straßenbahnen und repräsentative Opern- und Konzertgebäude die Gestalt der Innenstadt radikal veränderten.25 In greifbarer Nähe, aber

|| ton 1998, S. 3–43; David Jordan: Die Neuerschaffung von Paris. Baron G. E. Haussmann und seine Stadt, Frankfurt/Main 1996; John Lukacs: Budapest 1900. A Historical Portrait of a City and its Culture, New York 1988; Donald J. Olsen: The City as a Work of Art. London – Paris – Vienna, New Haven 1986, S. 151–156. 23 Vgl. Alix Landgrebe: Nationalbewusstsein, S. 124–166. 24 Hanna Kozińska-Witt: Krakau in Warschaus langem Schatten. Konkurrenzkämpfe in der polnischen Städtelandschaft 1900–1939, Stuttgart 2008, S. 124, vgl. auch S. 37–40. 25 Vgl. Heidi Hein-Kircher: Die Entwicklung der Lemberger Selbstverwaltung im Rahmen der habsburgischen Gemeindeordnung von der Revolution 1848 bis zur Verabschiedung des Sta-

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jenseits der russisch-österreichischen Grenze sahen die Warschauer Kommentatoren und Kritiker einer russischen Stadtverwaltung das Vorbild städtischer Erneuerung und das Potential polnischer Urbanität. Erfahrungshorizont und Wertemaßstab der aus Russland kommenden Beamten dagegen waren ganz anders. Sie verfügten über eine innerrussische Vergleichsperspektive und waren auch deshalb immun gegenüber den Klagen der Warschauer Gesellschaft. Denn im Kontrast zu den Zuständen in russischen Städten, selbst zu denen in der Hauptstadt an der Newa, nahm sich Warschau als Ort des europäisch-urbanen Fortschritts aus. Während selbst das allerorts gelobte Vorbild städtischer Verwaltung Riga erst 1894 mit dem Bau eines Abwassersystems begann und Petersburg in weitesten Teilen der Stadt sogar bis 1917 nicht über eine moderne unterirdische Kanalisation verfügte, konnte sich Warschau seit 1881 mit einem der modernsten Abwassersysteme Europas brüsten.26 Und während zahlreiche russische Zeitgenossen den „asiatischen Charakter“ der Städte Russlands bemängelten, war Warschau als der westliche Vorposten des Reichs ein eindeutig mit „Europa“ assoziiertes Terrain.27 Vladimir Michnevič beschrieb die Weichselmetropole in seinen „Beobachtungen“ aus dem Jahr 1881 beispielsweise als attraktive Stadt mit westlichem Charakter.28 Und der Professor der Kaiserlichen Universität Vladimir Esipov notierte 1907, dass Warschau, bezogen auf Lebenserwartung und hygienische Zustände, sich durch ein höheres Niveau auszeichne als Petersburg oder Moskau.29 Für Ivan Šumilin, der in Warschau groß wurde, glich die Stadt, die vor allem durch ihre Sauberkeit hervor-

|| tuts 1870, in: Markus Krzoska/Isabel Röskau-Rydel (Hrsg.): Stadtleben und Nationalität. Ausgewählte Beiträge zur Stadtgeschichtsforschung in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, S. 83–106; Anna Veronika Wendland: „Europa“ zivilisiert den „Osten“: Stadthygienische Interventionen, Wohnen und Konsum in Wilna und Lemberg 1900–1930, in: Alena Janatková/Hanna Kozińska-Witt (Hrsg.): Wohnen in der Großstadt 1900–1939. Wohnsituation und Modernisierung im europäischen Vergleich, Stuttgart 2006, S. 271–296, S. 273–274 und S. 287–289. 26 Vgl. Sergej Glezerov: Peterburg serebrjanogo veka. Byt i nravy, Moskau 2007, S. 136–143; Anders Henriksson: Riga. Growth, Conflict and the Limitations of Good Government, 1850–1914, in: Michael F. Hamm (Hrsg.): The City in Late Imperial Russia, Bloomington 1986, S. 177–207, S. 186. 27 AGAD, KGGW, sygn.6469, kart.13–16 [Spendenaufruf des WGG Gurko, 1893]; RGIA, f.1284, op.223, 1898, d.60-lit.B.P., l.6ob [Kommentar Nikolaus’ II. zum Bericht des WOPM, 1898]. 28 Vladimir Michnevič: Varšava i Varšavjane. Nabljudenija i zametki Vl. Michneviča, St. Petersburg 1881. Ganz ähnlich Wladimir A. Suchomlinow: Erinnerungen, Berlin 1924, S. 15. 29 Vladimir V. Esipov: Varšava i Lodz’, ich prošloe i nostajaščee, Warschau 1907, S. 9; Vladimir V. Esipov: Privislinskij kraj. Naselenie, Promyšlennost’, Prosveščenie, Nravstvennost’. Dochody i raschody i proč, Warschau 1907, S. 15.

9.1 Warschau um 1900 | 193

stach, gar einem Paris en miniature.30 Vergleichbar entwickelt wie Warschau erschienen im Russischen Reich nur das prosperierende Riga und mit Abstrichen das mondäne Odessa.31 Ob man die städtische Entwicklung in Warschau eher als „rückständig“ oder als Ausdruck europäischer Modernität wahrnahm, hing also von der grundsätzlichen Wahl der Vergleichsperspektive ab. Aber auch jenseits solcher individuellen Ausrichtungen der mentalen Horizonte spricht einiges dafür, die Missstände in der Weichselmetropole nicht vorschnell allein dem repressiven Charakter russischer Herrschaft zuzuschreiben. So war zum Beispiel der Tatbestand, dass staatliche Investitionen im Bereich der drängenden Wohnungsnot fast vollständig ausblieben, bei weitem kein Warschauer Spezifikum. Ähnliches galt für die innerrussischen Metropolen, aber auch für die Städte in der Habsburger Monarchie.32 Nach dem noch weiterhin vorherrschenden Verständnis war es nicht die Aufgabe des Staats beziehungsweise der Stadtverwaltung, steuernd in den Mietmarkt einzugreifen und massiv im Feld des Wohnungsbaus zu investieren. In weiten Teilen der Administration herrschte noch die traditionelle Vorstellung einer „Ordnungsverwaltung“, die primär auf die Sicherung von Ruhe und Ordnung im öffentlichen Raum ausgerichtet und dementsprechend reaktiv auf konkrete Ordnungsbedrohungen eingestellt war. Vor allem in Ostmitteleuropa bildete sich die interventionistische urbane „Leistungsverwaltung“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erst allmählich und keineswegs flächendeckend aus.33 Das Bild von der zarischen Herrschaft über Warschau als Phase der verhinderten urbanen Modernisierung wird zudem durch die rasante städtische Entwicklung der Weichselmetropole im ausgehenden 19. Jahrhundert irritiert. Denn im fin de siècle brach auch für Warschau eine neue Epoche an. Die für

|| 30 Vgl. die autobiographischen Notizen I. Šumilin: Staraja Varšava und Varšava v načale 20 stoletija, zitiert nach Robert L. Przygrodzki: Russians in Warsaw, S. 167. 31 Zu Riga vgl. Anders Henriksson: Riga; Ulrike von Hirschhausen: Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Riga 1860–1914; Erwin Oberländer/Kristine Wohlfahrt (Hrsg.): Riga. Portrait einer Vielvölkerstadt am Rande des Zarenreiches 1857-1914, Paderborn 2004. Zu Odessa siehe Patricia Herlihy: Odessa: A History, 1794–1914, Cambridge 1986; Frederick W. Skinner: Odessa and the Problem of Urban Modernization, in: Michael F. Hamm (Hrsg.): The City in Late Imperial Russia, Bloomington 1986, S. 209–248; Roshanna P. Sylvester: Odessa. 32 Siehe Adolf Suligowski: Kwestya Mieszkań, Warschau 1889. Vgl. z.B. zu Brünn Andreas R. Hofmann: Arbeiterwohnungsbau, S. 229–231 und S. 239–241. 33 Vgl. zur Genese der urbanen „Leistungsverwaltung“ grundsätzlich Dieter Langewiesche: „Staat“ und Kommune. Zum Wandel der Staatsaufgaben in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, 248 (1989), S. 621–635; Daniel T. Rodgers: Atlantiküberquerungen. Die Politik der Sozialreform, 1870–1945, Stuttgart 2010, v.a. S. 132–176; Anna Veronika Wendland: Stadthygienische Interventionen, S. 271–273.

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Abb. 14: Ulica Marszałkowska. Photographie um 1910

Ostmitteleuropa typische nachholende Städtewanderung ließ Warschau nicht nur demographisch zur Metropole werden.34 Sie führte ebenso zu einer Neugestaltung weiter Stadtteile, zu einer sozialen Ausdifferenzierung seiner Bewohnerschaft und zur Entstehung von moderner Urbanität als städtische Lebenspraxis. Wie in anderen europäischen Metropolen auch zergliederte sich der Warschauer Stadtraum immer stärker in das elegante Viertel der neuen „City“ und die Unterschichtsquartiere an den städtischen Rändern und in der nördlichen Altstadt. In Warschau verdichtete sich die City mit ihren modernen Verwaltungs-, Geschäfts-, Kauf- und Wohnhäusern im südlichen Teil des Innenstadtbezirks Śródmiescie. Hier entstanden neue Prachtbauten, begrünte Boulevards und weitläufige Platz- und Parkanlagen. Vor allem bei der repräsentativen Marszałkowska als begrünte Geschäfts- und Flaniermeile war der Pariser Boulevard als Vorbild unschwer zu erkennen. Diese Alleen boten Repräsentationsflächen für moderne Architektur. An der Marszałkowska und den anliegenden Straßen, wie der Mokotowska, Koszykowa und Piękna, entwarfen die Warschauer Architekten um die Jahrhundertwende

|| 34 Siehe u.a. Anna Żarnowska: Wohnkultur, hier S. 41–42.

9.1 Warschau um 1900 | 195

Abb. 15: Ulica Marszałkowska. Postkarte um 1910

prächtige Jugendstilfassaden.35 Angesichts der raren und extrem teuren Grundstücke entstanden in diesem gutbürgerlichen Quartier technisch anspruchsvolle Baukonstruktionen mit Geschosszahlen, die im Russischen Reich, aber auch in den meisten europäischen Metropolen unerreicht blieben. Die üblichen acht bis zehn Stockwerke der Apartmenthäuser wurden gelegentlich noch von höheren Wohn- und Bürotürmen überragt.36 Zum Ausbau der Wohn- und Geschäftsgebäude gesellte sich die Erneuerung des städtischen Verkehrs. Die neu eingerichteten Eisenbahnlinien und ihre Kopfbahnhöfe veränderten auch die betroffenen Stadtbezirke grundlegend. So entwickelte sich nach der Eröffnung des Warschau-Wien-Bahnhofs die Aleje Jerozolimskie zu einer der zentralen Verkehrsachsen.37 Der Betrieb von Pferdebahnen und seit 1909 von elektrischen Straßenbahnen erhöhte die innerstädtische Personenmobilität erheblich. Mit ihnen entstanden neue Kreuzungen und Knotenpunkte des Verkehrs, an denen sich das beschleunigte städtische Leben bündelte.

|| 35 Vgl. z.B. Putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostjam, hrsg. v. V. Z., Warschau 1893, S. 61. 36 Vgl. Jerzy S. Majewski: Warszawa nieodbudowana. Metropolia belle époque, Warschau 2003, S. 197; Stanisław Herbst: Ulica Marszałkowska, S. 114–117. 37 Vgl. Jerzy S. Majewski: Warszawa nieodbudowana, S. 31–35.

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Zugleich vertrieb auch in Warschau das verdichtete System öffentlicher Beleuchtungen die nächtliche Dunkelheit aus den urbanen Kernbezirken, während die Asphaltierung der Straßen die alljährliche Plage von Tauwetterschlamm und Sommerstaub aus der Innenstadt verbannte. Zeitgleich wurden hier mit Philharmonie, Theatern, Museen, Galerien, Kinos und Cafés neue Orte der Urbanität eröffnet, die die städtische Kulturlandschaft grundlegend wandelten.38 Die neuen urbanen Lebensweisen entsprachen dem Repräsentations- und Konsumbedürfnis einer erstarkenden, zunehmend finanzkräftigen Bürgergesellschaft. Sie war auch in Warschau zugleich der Motor für die weitere soziale Ausdifferenzierung der Stadtbevölkerung und die Etablierung einer wachsenden Schicht von freiberuflich tätigen Angehörigen der urbanen Intelligenz, für die die Metropole nicht nur den kulturellen Kosmos bildete, sondern auch das Einkommen sicherte. Am Ende des 19. Jahrhunderts waren diese „neuen Menschen“ aus dem städtischen Leben der Weichselmetropole nicht mehr wegzudenken.39 Während die Warschauer Innenstadt unter dem Einfluss von Kapital und Kulturkonsum radikal umgestaltet wurde, revolutionierte sich seit den 1880er Jahren ebenso die Gestalt und Struktur der städtischen Randbezirke. Die rapide voranschreitende Industrialisierung im Königreich Polen verwandelte Warschau in eine Industriemetropole. Warschau profitierte vor allem vom Eisenbahnbau und von der Metallverarbeitung für den innerrussischen Markt und gehörte im langen 19. Jahrhundert zu einem der fünf großen Industriezentren im Russischen Reich. Die Basisprozesse der Zuwanderung aus den Gouvernements des Königreichs und den ehemaligen polnischen Ostgebieten füllten die Unterschichtsquartiere schnell mit Arbeitssuchenden und Landflüchtigen. Sie sorgten für die demographische Explosion Warschaus und ließen in den Arbeitersiedlungen abgeschottete, eigenständige Formen städtischen Lebens entstehen.40 Warschau veränderte sein Gesicht in den Jahren 1880–1914 damit ebenso radikal, wie sich die urbanen Lebensformen nach den neuen Maßstäben der europäischen Moderne ausrichteten. In welcher Beziehung aber standen diese

|| 38 Vgl. dazu Zygmunt Kamiński: Dzieje Życia w pogoni za sztuką, Warschau 1975, v.a. S. 200–208. 39 Vgl. dazu u.a. Nora Koestler: Intelligenzschicht und höhere Bildung im geteilten Polen, in: Werner Conze/Jürgen Kocka (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1, Stuttgart 1985, S. 186–206, hier S. 200–206; Jerzy Jedlicki: A Suburb of Europe: Nineteenth-Century Polish Approaches to Western Civilization, Budapest 1999, S. 178; Magdalena Micińska: Inteligencja na rozdrożach (1865–1918), Warschau 2008. 40 Vgl. Anna Zarnowska: Arbeiterkultur zwischen Volkskultur und Bürgertum? Das Beispiel Polen, in: Jürgen Kocka/Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.): Arbeiter und Bürger im 19. Jahrhundert. Varianten ihres Verhältnisses im europäischen Vergleich, München 1986, S. 113–134; Clemens Zimmermann: Die Zeit der Metropolen, S. 19.

9.2 „Doppelherrschaft“ in Warschau | 197

Abb. 16: Plac Warecki. Photographie um 1910

Veränderungen mit der zarischen Herrschaft sowie ihren lokalen Bevollmächtigten? Es gilt herauszuarbeiten, wie die verschiedenen Akteure der imperialen Verwaltung im Zusammenspiel von administrativer Beschränkung, Duldung und Privilegierung in die Wandlungsprozesse vor Ort eingriffen.

9.2 „Doppelherrschaft“ in Warschau: Stadtpräsident und Oberpolizeimeister und die munizipale Administration Die zarische Bürokratie war kein Monolith. Vielmehr hatte sie eine komplexe, ebenso vielschichtige wie heterogene Struktur, in der Menschen mit sehr divergenten Konzeptionen zum Prozess und zur Steuerung von städtischer Modernisierung beitrugen. Und es existierten zum Teil grundsätzlich unterschiedliche Vorstellungen von dem, was „Modernität“ zu bedeuten habe und wer an ihr teilhaben durfte. Gerade auch mit Blick auf Warschau bestanden innerhalb der Verwaltung deutliche Unterschiede zwischen Befürwortern, Skeptikern oder auch Gegnern einer forcierten Transformation der Weichselmetropole. Dabei treten deutliche Differenzen, auch Konflikte innerhalb der Administration zu Tage. Mit dem Stadtpräsidenten und dem Oberpolizeimeister stehen zunächst die Protagonisten jener „Doppelherrschaft“ im Mittelpunkt, die schon die Zeit-

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genossen als einen dauerhaften Konfliktherd städtischer Administration identifizierten. Die Aktivkraft städtischer Belange innerhalb der zarischen Verwaltung war ohne Zweifel der Warschauer Magistrat und der ihm vorstehende Stadtpräsident. Innerhalb dieser Behörde monopolisierte der Stadtpräsident alle wichtigen Entscheidungen, verfügte aber über einen Mitarbeiterstab, der in zahlreichen Unterkommissionen Datenerhebung sowie Expertisenerstellung betrieb und Kontakte zu den betroffenen Vertretern der städtischen Gesellschaft unterhielt. Soweit sich die Tätigkeit der Behörde rekonstruieren lässt, entsteht der Eindruck, dass in verschiedenen Kompetenzfeldern wie der Magistratskanzlei, der Bau- und Hygieneaufsicht oder der Wirtschafts-, Finanz- und Rechtsabteilung professionalisierte Beamte tätig waren, die sich selbst als Fachexperten verstanden und einen ausgesprochen technokratischen Diskurs pflegten.41 Es machte sich hier deutlich bemerkbar, dass die klassische Honoratiorengemeinschaft, die in den Gremien der selbstverwalteten Magistrate eine so wichtige Rolle spielte, in Warschau fehlte.42 Der Habitus des munizipalen Verwaltungsbeamten an der Weichsel war ein ganz anderer. Nicht der paternalistische Stadtvater mit schwerer Ratskette, sondern der fortschrittsorientierte Technokrat stellte das kulturelle Leitbild. Der militärische Hintergrund einiger der Stadtpräsidenten mag zur Präferenz dieser Form von Selbstrepräsentation beigetragen haben. Zweifellos spielte die Präsenz von Ingenieuren in zahlreichen verantwortungsvollen Posten des Magistrats eine wichtige Rolle. Das Selbstverständnis als moderne Leistungsbehörde drückte sich auch darin aus, dass der Warschauer Magistrat ein eigenes statistisches Büro betrieb, das Datenmaterial für die alljährlich für Petersburg verfassten Stadtberichte bereitstellte und sich durch eine rege eigenständige Publikationstätigkeit auszeichnete.43 Die Erhebung von Daten, das Zählen der Bevölkerung und die Vermes|| 41 AGAD, KGGW, sygn.7031, kart.1–97 [Schriftwechsel zwischen Warschauer Magistrat, Generalgouverneur und Innenministerium, 1911–1913]. Eine detaillierte Rekonstruktion der inneren Struktur und der internen Machtbeziehungen dieser Behörde ist leider aufgrund des fast vollständigen kriegsbedingten Verlustes der Akten des Magistrats nicht möglich. 42 Vgl. auch Lutz Häfner: Stadtdumawahlen und soziale Eliten in Kazan 1870 bis 1913: Zur rechtlichen Lage und politischen Praxis der lokalen Selbstverwaltung, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 44/2 (1996), S. 217–249; Lutz Häfner: „Leben sie im Graben, fressen sie die Raben“. Politische Partizipation und sozialpolitischer Diskurs im Spiegel der städtischen Peripherie und Städteassanierung in Saratov 1860–1914, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 48/1 (2000), S. 184–209; Guido Hausmann: Die wohlhabenden Odessaer Kaufleute und Unternehmer. Zur Herausbildung bürgerlicher Identitäten im ausgehenden Zarenreich, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 48/1 (2000), S. 41–65, v.a. S. 58–65. 43 Trudy statističeskogo Otdela Varšavskogo magistrata, Warschau 1902–1914.

9.2 „Doppelherrschaft“ in Warschau | 199

Abb. 17: Warschauer Rathaus um 1880. Photographie von Konrad Brandel

sung des städtischen Raumes waren Formen der Aggregierung modernen Verwaltungswissens, das in den zunehmend verrechtlichten Auseinandersetzungen um Grund und Boden im 19. Jahrhundert eine zentrale Wissens- und Machtressource darstellte.44 Es war nicht zufällig die Magistratsbehörde, an die sich auch der Warschauer Generalgouverneur hilfesuchend wandte, wenn er Fragen bezüglich der Eigentumsverhältnisse oder der Baugrundnutzung geklärt wissen wollte.45 Der Sitz des Magistrats im repräsentativen Jabłonowski-Palais reflektierte den hohen Stellenwert der Behörde. Das Warschauer Rathaus war noch in den 1860er Jahren deutlich erweitert worden und wurde auch später mehrfach ausgebaut. Es befand sich vis-à-vis zum Opernhaus und damit sowohl im topographischen wie im symbolischen Zentrum der Stadt.46 Hier, im Rathaus am Theaterplatz, wurden Ansätze umfassender Stadtplanung entwickelt. Das hing auch damit zusammen, dass die Leiter der Munizi-

|| 44 Vgl. dazu auch die vom statistischen Büro des Magistrats herausgegebenen Erhebungen und Berichte: Z.B. Trudy statističeskogo Otdela Varšavskogo magistrata, Warschau 1914. 45 AGAD, KGGW, sygn.6442, kart.2 [Anfrage des WGG beim Stadtpräsidenten zur Klärung von Eigentumsverhältnissen, 28.8.1913]. 46 AGAD, KGGW, sygn.5855, kart.8–9 [Brief des WGG Skalon an das Innenministerium, 11.5.1907].

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palbehörde erstaunlich lange Amtszeiten vorzuweisen hatten. Im Kontrast zu den Generalgouverneuren waren die Warschauer Stadtpräsidenten nach dem Januaraufstand in der Mehrheit länger als eine Dekade auf ihrem Posten tätig.47 Damit brachten sie einerseits personelle Stabilität in die Stadtverwaltung ein, machten andererseits über den langen Zeitraum ihres Dienstes aber auch die Anliegen der Stadt zu ihren eigenen. Aus fremden, entsandten Beamten wurden über die Jahre in vielen Fällen Lokalpatrioten, die sich mit der Stadt identifizierten und stolz auf das Erreichte waren.48 Das städteplanerische Handeln des Stadtpräsidenten wurde zudem dadurch erleichtert, dass sich das Budget des Magistrats seit den 1880er Jahren kontinuierlich und deutlich steigerte. Hatten die munzipalen Einnahmen 1865 nur 1,6 Millionen Rubel betragen und waren bis 1878 nur auf 2 Millionen angestiegen, so verfügte der Magistrat 1888 bereits über 3,9 Million und 1894 über 5,3 Millionen Rubel. Bis 1914 hatte sich das Budget auf 16,1 Millionen Rubel vervielfacht.49 Das städtische Prokopfeinkommen lag kurz vor dem Ersten Weltkrieg bei circa 18 Rubel.50 Mehr Geld bedeutete größere Handlungsspielräume, wenngleich die Klagen der Magistratsbehörde über knappe Kassen nie abrissen.51 De jure setzten zwar die außerordentlichen Machtbefugnisse des Generalgouverneurs dem Engagement des Magistrats Grenzen, de facto jedoch gelang es den Stadtpräsidenten und ihrer Behörde, nachhaltige Aktivitäten im Bereich der städtischen Verwaltung und Modernisierung zu entfalten. So engagierte sich der Magistrat seit den 1870er Jahren, die gesellschaftliche Wohlfahrt in || 47 Kalikst Witkowski amtierte 12 Jahre (von 1863 bis 1875) als Stadtpräsident, Sokrat Starynkevič sogar 17 Jahre (von 1875 bis 1892), Nikolaj Bibikov 14 Jahre (von 1892 bis 1906), Viktor Litvinskij allerdings nur 3 Jahre (von 1906 bis 1909). Aleksandr Millers Amtszeit erstreckte sich über 6 Jahre (von 1909 bis 1915). 48 Als Ausnahme sind hier Aleksandr Miller und Viktor Litvinskij zu nennen. Millers Amtszeit endete mit der Besetzung Warschaus durch die deutschen Truppen. Litvinskij schied 1909 zwar offiziell aus gesundheitlichen Gründen aus seinem Amt, war aber wegen schwerer Korruptionsvorwürfe zum Rücktritt gedrängt worden. GARF, f.215, op.1, d.1005, l.3 [Brief des Stadtpräsidenten an den WGG Skalon, 4.3.1909] und l.6 [Brief des Stadtpräsidenten an Nikolaus II, 4.3.1909]. 49 Zum Vergleich der Jahre 1878, 1888 und 1894 vgl. im Detail Finansy goroda Varšavy za 22letnyj period (1878–1899), hrsg. v. Statističeskij Otdel Magistrata goroda Varšavy, Warschau 1901, S. 14–17. 50 Damit stand Warschau im imperiumsweiten Vergleich relativ gut da und konnte mit dem deutlichen Anstieg der Einnahmen der Moskauer Stadtverwaltung nach 1900 mithalten. Vgl. Stephen D. Corrsin: Warsaw, S. 136; zu Moskau Robert W. Thurston: Moscow, S. 50 und S. 204. 51 Ein Beispiel für die regelmäßigen Klagen des Magistrats über die Begrenztheit der zur Verfügung stehenden Mittel stammt aus dem Jahr 1908. AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.14–14v [Brief des Stadtpräsidenten an die Kanzlei des WGG, 23.8.1908].

9.2 „Doppelherrschaft“ in Warschau | 201

Warschau zu reformieren, und bemühte sich vergleichsweise erfolgreich um einen ausgeglichenen Haushalt.52 Die Stadtpräsidenten initiierten eine Reihe von städtischen Bauprojekten und sorgten für die Verbesserungen der Infrastruktur im Bereich Verkehr, Wasserversorgung und Straßenbeleuchtung, bemühten sich aber zugleich um eine Steigerung von Ausgaben für Krankenhäuser und Bildungseinrichtungen. Insgesamt zeichnete sich der Warschauer Magistrat im imperiumsweiten Vergleich als recht investitionsfreudig aus. So stiegen die Ausgaben der Munizipalverwaltung von 10,2 Millionen Rubel im Jahr 1910 auf 14,9 Millionen Rubel im Jahr 1913. Damit nahm Warschau bezüglich der Prokopfinvestition im Reich einen der vorderen Plätze ein: 1904 beliefen sich die städtischen Ausgaben auf 25,5 Rubel pro Kopf und lagen damit deutlich vor den vergleichbaren Zahlen für Moskau, Odessa oder Kiew.53 Vor allem der von 1875 bis 1892 und damit beinahe zwei Jahrzehnte amtierende Stadtpräsident Sokrat Ivanovič Starynkevič stach in seinem Engagement und seiner Fähigkeit hervor, bei knappen Mitteln und Machtbefugnissen ambitionierte Projekte zu realisieren. Der einstige Artillerieingenieur und Generalleutnant der russischen Armee ist einer der wenigen Vertreter der Bürokratie, dem in der polnischen Überlieferung eine positive Einschätzung zuteil und der hier als engagierter Verfechter lokaler Belange beschrieben wird.54 Dass solche Symbole der Moderne wie Telefonleitungen und Straßenbahnlinien schon zu Beginn der 1880er Jahre Warschau erreichten, hatte die Stadt diesem zarischen Beamten und seiner Behörde zu verdanken. In seiner Amtszeit datieren die Umgestaltung der Ulica Marszałkowska und der Aleje Jerozolimskie zu mondänen Boulevards und der Bau der Gaswerke im Stadtteil Wola sowie die deutliche Erweiterung des öffentlichen Beleuchtungssystems.55 Starynkevič initiierte zudem die Einrichtung des Ujazdowski-Parks, eines neuen städtischen

|| 52 Otčet o sostojanii obščestvennogo prizrenija v gorode Varšave za 1871 god, Warschau 1873; Finansy goroda Varšavy za 22-letnyj period (1878–1899), hrsg. v. Statističeskij Otdel Magistrata goroda Varšavy, Warschau 1901. 53 Vgl. Goroda Rossii v 1910, St. Petersburg 1914, S. 774–883. 54 Stanisław Konarski: Generał Sokrates Starynkiewicz, Prezydent Warszawy, in: Rocznik Warszawski, XXXI (2002), S. 223–230; Anna Słoniowa: Sokrates Starynkiewicz, Warschau 1981. Starynkevič war im Übrigen trotz seines polnisch klingenden Namens ein 1820 in Taganrog geborener orthodoxer Russe. Vgl. auch Malte Rolf: Bureaucracy and Mobility in Late Imperial Russia. Reflections on Elite Careering and Imperial Biographies in a Multiethnic Empire, in: Moskauer Vorträge zum 18. und 19. Jahrhundert, 16 (2013), S. 1–17. 55 Stanisław Herbst: Ulica Marszałkowska, S. 112–128; Anna Słoniowa: Starynkiewicz, S. 56– 100.

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Abb. 18: Sokrat Ivanovič Starynkevič (1820–1902). Stadtpräsident von Warschau von 1875 bis 1892. Photographie von J. Mieczkowski

Bürgerparks in zentraler Lage, der schnell zur beliebtesten Parkanlage der Warschauer Flaneure wurde.56 Das Prunkstück der Starynkevič’schen Projektliste war aber zweifellos die grundlegende Erneuerung der Trinkwasserver- und Abwasserentsorgung der Metropole. Die ersten Schritte zu deren Modernisierung hatte schon sein Vorgänger, der Pole Kalikst Witkowski, getan. Für Starynkevič wurden die geschlossenen Trink- und Abwassersysteme und der damit korrespondierende Aufbau moderner Filteranlagen zur Lebensaufgabe.57 Der Stadtpräsident drängte unmittelbar nach seinem Amtsantritt auf die konkrete Projektierung dieser Maßnahme. Eine seiner frühesten Amtshandlungen war die Einrichtung einer Kanalisationsverwaltung beim Magistrat. Als Legitimation für die extrem teure infrastrukturelle Erneuerung der Kanalisierung verwies Starynkevič einerseits auf die in Europa allgemein geführte Debatte um den hygienischen Nutzen von Trinkwasserfiltern und geschlossenen Abwasserröhren, andererseits rekurrierte er auf die Ergebnisse einer medizinischen Kommission, die die Ursachen der

|| 56 Vgl. dazu im Detail Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 7–56. Ebenso Andrzej Wyrobisz: Stadtplanung in polnischen Gebieten 1815–1914, in: Hans-Jürgen Teuteberg (Hrsg.): Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Historische und geographische Aspekte, Köln 1983, S. 475– 497, S. 489–491. 57 Sokrates Starynkiewicz: Mój Dziennik, in: Rocznik Warszawski, XXXI (2002), S. 191–222; Sokrates Starynkiewicz: Dziennik 1887–1897, Warschau 2005.

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Choleraepidemie in Warschau von 1867 untersucht hatte.58 Es gelang ihm tatsächlich, 1879 die Mittelfreigabe für das Abwassersystem zu erwirken, so dass 1881 die Kanalarbeiten in Warschau in Angriff genommen werden konnten.59 Engagiert wurde dafür einer der bekanntesten Spezialisten für Abwassersysteme in Europa: Der britische Ingenieur William Lindley, der zuvor die Kanalisation in Hamburg, Düsseldorf und Frankfurt gebaut hatte. Unter Lindleys Anleitung erhielt Warschau in den 1880er Jahren eines der modernsten Systeme aus Trinkwasserfilteranlagen und Abwasserentsorgung auf dem Kontinent.60 Damit konnte nicht nur die hygienische Situation der wachsenden Großstadt deutlich verbessert,61 sondern auch die ästhetische Urbanisierung Warschaus vorangetrieben werden: Denn mit der Schließung der offenen Rinnsale wurde überhaupt erst die Grundlage für die Ausgestaltung von großstädtischen Boulevards mit breiten Trottoirs, Pflasterung und Baumbepflanzung geschaffen.62 Es bleibt in diesem Zusammenhang eine offene Frage, ob eine klassische Honoratioren-Ratsversammlung, wie sie vielerorts in den russischen Städten mit Selbstverwaltungsrechten vorzufinden war, bereit gewesen wäre, die enormen Kosten dieser Investition zu tragen. Der Warschauer Magistrat musste zwar die finanzielle Rückendeckung der zentralen Petersburger Instanzen einholen, mit den Widerständen einer betroffenen, da Steuern zahlenden Bürgergesellschaft musste er sich jedoch nicht auseinandersetzen. Dass das Rathaus am Theaterplatz dennoch eben diesen Kontakt zur lokalen Öffentlichkeit suchte, zeugt von dem bürgernahen Amtsstil, den Starynkevič pflegte. Auf seine Initiative hin lud der Warschauer Magistrat Bürgervertreter in beratender Funktion zu den Sitzungen der Planungskommissionen, ermöglichte 1880 öffentliche Anhörungen zum Kanalprojekt und ermunterte die lokale Presse, strittige Fragen zu erörtern. Gleichzeitig bemühte sich Starynkevič um eine öffentliche Bekannt-

|| 58 Vgl. Projekt kanalizacii i vodoprovodov v gorode Varšave / Projekt Kanalizacyi i Wodociągu w mieśce Warszawie, Warschau 1879, S. 1–15. Zur Epidemie von 1867 vgl. G. Malek: Cholernaja epidemija v Varšave v 1867 godu, Warschau 1868. 59 Sokrates Starynkiewicz: Dziennik; Sokrates Starynkiewicz: Dziennik 1887–1897. 60 Alfons Grotowski et al. (Hrsg.): Kanalizacya, wodociągi i pomiary miasta Warszawy wykonane podług projektu i pod głownem kierownictwem inżyniera W. H. Lindleyá, Warschau 1911. AGAD, KGGW, sygn.6036, kart.67 [Brief des Direktors der Kanzlei des WGG an William Heerlein Lindley, 2.8.1908]. 61 Dies betont vor allem Vladimir V. Esipov: Varšava i Lodz’, ich prošloe i nostajaščee, Warschau 1907, S. 9. 62 AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.154–155 [Bericht der ärztlichen Abteilung des WOPM an den WGG Skalon, 24 2.1910]. Putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostjam, hrsg. v. V. Z., Warschau 1893, S. 61–63.

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machung und Begründung der weitreichenden infrastrukturellen Maßnahme.63 Hier wie auch bei anderen Magistratsentscheidungen suchte der von Petersburg eingesetzte russische Beamte ein erstaunlich intensives Gespräch mit der lokalen Bevölkerung und etablierte zugleich für einen zarischen Bürokraten höchst ungewöhnliche Formen von Öffentlichkeit und Foren gesellschaftlicher Partizipation.64 Der Starynkevič unterstehende Magistrat kommunizierte hier mit der einheimischen Bevölkerung bewusst auch öffentlich auf Polnisch.65 All dies trug dazu bei, dass der Stadtpräsident Sokrat Starynkevič – anders als die meisten Vertreter der zarischen Bürokratie – die Isolation der russischen Gemeinde in Warschau durchbrach. Starynkevič fand Aufnahme in Kreisen der polnischen Gesellschaft, unterhielt freundschaftliche Kontakte zu Warschauer Großbürgern und wurde zu deren Fest- und Kulturveranstaltungen eingeladen.66 Nachdem sich Starynkevič im Jahr 1892 aus Altersgründen hatte pensionieren lassen, behielt er seinen Wohnsitz in Warschau und lebte bis zu seinem Tod in der Weichselmetropole. Seine Beerdigung im August 1902 geriet zu einer feierlichen Massendemonstration, bei der Hunderttausende Warschauer der Überführung des Leichnams auf den orthodoxen Friedhof in Wola beiwohnten.67 Diese guten, nie verheimlichten Kontakte zur polnischen Gesellschaft taten Starynkevič’ Ansehen bei den russischen Instanzen andererseits keinen Abbruch. Auch auf Seiten der imperialen Bürokratie war er ein geschätzter und geachteter Beamter. Dies wird unter anderem an der exzeptionell hohen Pension deutlich, die dem ehemaligen Stadtpräsidenten nach seiner Amtsniederlegung zugesprochen wurde. Die 3.000 Rubel, die Starynkevič jährlich erhielt, waren ein außergewöhnliches Privileg und damit eine besondere Auszeichnung, die nach ihm keinem anderen Stadtpräsidenten mehr zuteil werden sollte.68 Es war allerdings nicht allein das persönliche Verdienst Starynkevič’, dass sich das Rathaus im Jabłonowski-Palais zu einer intensiven russisch-polnischen Kontaktzone entwickelte. Denn hier waren weitaus stärker als in anderen staatlichen Behörden polnische Angestellte tätig, die aus Warschau stammten. Zwar gilt generell, dass die imperiale Verwaltung auf den subalternen Posten mehr-

|| 63 Vgl. dazu Ute Caumanns: Modernisierung, S. 373; Anna Słoniowa: Starynkiewicz, S. 100–111. 64 Hanna Kozińska-Witt: Stadträte und polnische Presse, S. 283. 65 GARF, f.215, op.1, d.76, l.36ob [Bericht des WGG Al’bedinskij, 27.12.1880]. 66 Sokrates Starynkiewicz: Dziennik 1887–1897, z.B. S. 162–163. 67 Barbara Petrozolin-Skowrońska (Hrsg.): Encyklopedia Warszawy z suplementem, Warschau 1994, S. 807–808. 68 AGAD, KGGW, sygn.5857, kart.5 [Brief des Warschauer Stadtpräsidenten Litvinskij an den WGG, 4.4.1907].

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Abb. 19: Letzte Sitzung des Warschauer Magistrats unter der Leitung von Sokrat Starynkevič. Photographie von Konrad Brandel (18. September 1892)

heitlich von polnisch-katholischen Beschäftigten gestellt wurde.69 In der Stadtverwaltung Warschaus hatten sich aber zudem auch in den mittleren Posten viele Beamte aus der Zeit Zygmunt Wielopolskis und Kalikst Witkowskis gehalten, die in der Nachfolgezeit vor allem durch polnische Fachexperten mit Ingenieurausbildung ergänzt wurden. In der Fremdwahrnehmung der russischen Gemeinde in Warschau galt der Magistrat daher als „polnische Bastion“ oder als Ort „polnischer Kungelei“ und es wurde wiederholt zum Sturm auf diese Festung aufgerufen. Die Erfolge von verschiedenen Russifizierungskampagnen hielten sich jedoch in Grenzen: An der hohen Konzentration von polnisch-katholischen Magistratsmitarbeitern änderte sich auch im beginnenden 20. Jahrhundert nichts.70

|| 69 Vgl. dazu Andrzej Chwalba: Polacy w służbie Moskali; Katya Vladimirov: Provincial Bureaucracy, bes, S. 39–61. 70 AGAD, KGGW, sygn.5076, kart.1–14 [2.–24.6.1914].

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Nicht nur Sokrat Starynkevič war ein intimer Kenner der polnischen Warschauer Gesellschaft. Auch seine weniger prominenten Nachfolger pflegten gute Kontakte zu Stadtbürgern. So schätzte der Generalgouverneur generell die Vermittlerrolle, die die obersten Magistratsbeamten zwischen der russischen Administration und der polnischen städtischen Elite einnahmen, und kontaktierte diese, wenn er das Gespräch und die Kooperation mit Warschauer Bürgern suchte.71 Der Stadtpräsident scheint allgemein eine Brückenfunktion in der Kommunikation übernommen zu haben. Ebenso wenig monopolisiert Starynkevič die Rolle des engagierten Förderers städtischer Modernisierung. Auch seine Amtsnachfolger standen diesbezüglich für Kontinuität und zeichneten sich durch ihre Bereitschaft aus, Innovationen im urbanen Raum voranzubringen. Die folgenden Stadtpräsidenten Nikolaj Bibikov, Viktor Litvinskij und Aleksandr Miller erwiesen sich ebenso als energische Fürsprecher für die Belange der wachsenden Großstadt. Und sie taten sich immer wieder mit einer hohen, risikobehafteten Investitionsbereitschaft im Bereich städtischer Infrastruktur hervor.72 So initiierte Nikolaj Bibikov den Bau von großen städtischen Markthallen, die die Versorgung Warschaus mit Lebensmitteln gewährleisten sollten. In der Reihe dieser modernen Großmärkte waren die von 1899 bis 1901 gebauten Hale Mirowskie zweifellos das Prachtstück, da sich hier das Konstrukteursteam auf die früheren Pläne des berühmten Warschauer Architekten Stefan Szyller stützen konnte.73 Aber auch der Baubeginn der dritten Weichselbrücke und damit die Umsetzung des größten Investitionsvorhabens des Magistrats seit der Einführung der Kanalisation fiel in seine Amtsperiode. Bibikovs Nachfolger Viktor Litvinskij forcierte neben der Installation zusätzlicher Telefonleitungen vor allem die Elektrifizierung von Straßenbeleuchtung und -bahnen.74 Gleichzeitig betrieb er einen Umbau der unter staatlicher Leitung befindlichen Gebäude. Seit 1908 wurden beispielsweise umfangreiche Modernisierungsmaßnahmen an den Staatstheatern vorgenommen. Nicht nur die Fassade wurde aufwändig saniert, auch die Einrichtung mit einer eigenen

|| 71 GARF, f.215, op.1, d.915, l.35–36 [Brief des Leiters der Kanzlei des WGG an den Stadtpräsidenten Bibikov, 25.7.1897]. 72 Vgl. Vladimir D. Spasovič/Erazm I. Pil’c: Gorodskoe chozjaistvo v gubernijach Carstva Pol’skogo, in: Vladimir D. Spasovič/Erazm I. Pil’c: Očerednye voprosy v Carstve pol’skom, Bd. 1, St. Petersburg 1902, S. 1–30. 73 Vgl. Jerzy S. Majewski: Warszawa nieodbudowana, S. 268–271. 74 Katarzyna Beylin: W Warszawie w latach 1900–1914, Warschau 1972, S. 274–277; Anna Słoniowa: Początki nowoczesnej infrastruktury Warszawy, Warschau 1978; Andrzej Sołtan: Kształtowanie się wielkomiejskiego oblicza Warszawy, S. 84–85.

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Elektrostation mit entsprechender Elektrotechnik, einem System an Wasserklosetts und einem internen Telefonnetz versorgt.75 Mit diesen Investitionen verschob sich im Übrigen auch das Ausgabeprofil des städtischen Magistrats erheblich. Hatten unter Starynkevič die Ausgaben im Bereich Wasser und Kanalisation noch etwas mehr als 20 Prozent des Haushalts ausgemacht, sanken die Ausgaben hier bis 1914 deutlich ab. Im Gegenteil: Nachdem große Teile des kostenintensiven Rohrsystems verlegt worden waren, nahmen die städtischen Wasserwerke nach der Jahrhundertwende zwei Millionen Rubel jährlich ein. Dafür stiegen die Investitionen für den Bau und Erhalt des Straßennetzes und markierten im Jahr 1914 mit mehr als 24 Prozent den größten Ausgabenposten des städtischen Budgets überhaupt. Ein deutliches Wachstum verzeichnete auch das städtische Engagement in den Feldern Wohltätigkeit und Betrieb von Krankenhäusern. Waren 1883 nur 3,2 Prozent des Budgets hier investiert worden, gab der Magistrat 1914 bereits 16,6 Prozent in diesem Bereich aus.76 Ein solches investitionsfreudiges Engagement für die infrastrukturelle Erneuerung der Metropole verlangte nicht nur ein ausgeprägtes, auch risikobereites stadtentwicklerisches Denken, das sich an den lokalen Interessen orientierte. Es erforderte angesichts der prekären Finanzlage des kommunalen Budgets auf Seiten der Stadtpräsidenten ebenso große Beharrlichkeit. Das zeigt sich unter anderem daran, dass oft genug städtische Interessen gegen die Interventionen des Generalgouverneurs oder der Petersburger Ministerien zu vertreten waren. Sprechendes Beispiel für eine solche Konfliktlage ist der energische Einsatz, mit dem der Stadtpräsident Aleksandr Miller für die Belange der Warschauer Bevölkerung stritt. In seiner Amtszeit ging es mehrfach darum, Begehrlichkeiten auf die wenigen städtischen Grünflächen abzuwehren. In Verteidigung der Parkanlagen gegen Bauvorhaben war er bereit, sich sowohl gegen den Generalgouverneur als auch gegen den Innenminister zu stellen. Schon bei dem Plan, ein russisches „Volkshaus“ (Narodnyj dom) in Warschau zu bauen, meldeten die lokalen Befürworter und Petersburger Schirmherren seit 1906 Anspruch auf einen Abschnitt des Ujazdowski-Parks an. Die großdimensionierte Begegnungsund Tagungsstätte mit Bibliothek und eigenem Aufführungssaal sollte auf Antrag der Russischen Gesellschaft in Warschau in der Nordwestecke des Parkge-

|| 75 AGAD, Upravlenie Varšavskich Pravitel’stvennych Teatrov/Dyrekcja Warszawskich Teatrów Rządowych, sygn.1, kart.9–15 [Auflistung der Maßnahmen der Staatstheaterverwaltung, 10.3.1910]. 76 Vgl. allg. Varšavskij magistrat: Otdelenie obščestvennogo prizrenija. Otčet o sostojanii obščestvennogo prizrenija v gorode Varšave, 7 Bd., Warschau 1873–1914.

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Abb. 20: Wettbewerbsentwurf für das Russische Volkshaus von B. J. Botkin und V. I. Romanov (1905–06)

ländes und damit an einem der repräsentativsten Orte der neuen City errichtet werden.77 Der Magistrat lehnte diese Pläne ab, die ihrerseits mit dem Generalgouverneur Georgij Skalon und dem Ministerpräsidenten Petr Stolypin mächtige Fürsprecher hatten.78 Die Auseinandersetzungen zogen sich von 1906 bis 1913 hin und letztlich setzte sich das Rathaus durch. Die Russische Gesellschaft musste sich mit einem anderen Baugrund zufriedengeben. Der Magistrat hatte sich bei der Verteidigung städtischer Interessen gegen starke Gegner in Warschau und auch in St. Petersburg behauptet. Für das „russische Haus“ bedeutete diese Entscheidung das vorzeitige Aus: Ehe die Planung auf der bereitgestellten, aber ungeliebten Immobilie wieder aufgenommen werden konnte, beendete der Krieg das ambitionierte Vorhaben.79

|| 77 AGAD, KGGW, sygn.2606, kart.8 [Brief der „Russischen Gesellschaft in Warschau“ an den WGG Skalon, 3.2.1906]; AGAD, KGGW, sygn.7031, kart.1–4 [Beratung beim Warschauer Generalgouverneur, Sitzungsprotokoll, 20.8.1911]. 78 AGAD, KGGW, sygn.2606, kart.35–35 [Brief des Innenministeriums an den WGG, 13.6.1912]; kart.54 [Telegramm des Innenministeriums an den WGG, 28.3.1913]. 79 AGAD, KGGW, sygn.7031, kart.96–96v [Brief des Innenministeriums an den WGG, 8.11.1913].

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Dass die hier demonstrierte Durchsetzungsfähigkeit des Magistrats kein Einzelfall war, verdeutlicht ein parallel verlaufener Konflikt um den Neubau des orthodoxen geistlichen Seminars in Warschau. Die Konfliktkonstellation war hier eine ähnliche, nur dass mit dem orthodoxen Bischof der Warschauer Eparchie und dem Heiligen Synod in Petersburg weitere tatkräftige und einflussreiche Akteure an dem zähen Ringen um das adäquate Grundstück beteiligt waren. Nach den Erfahrungen mit der Errichtung der Aleksandr-Nevskij-Kathedrale, für die ein großer Teil des Sächsischen Platzes verbaut worden war, war anzunehmen, dass das vom Bischof präferierte Gelände im Stadtteil Praga schnell für das Bauvorhaben zur Verfügung gestellt werden würde.80 Aber auch hier war der Widerstand des Magistrats energisch und wiederum erfolgreich. Der Stadtpräsident und seine Behördenvertreter pochten darauf, dass der anvisierte Platz laut kaiserlichem Erlass von 1867 in städtisches Eigentum übergegangen und für einen Stadtgarten reserviert worden sei.81 Zudem wurde die stadthygienische Bedeutung der Grünanlage herausgestellt. In Warschau sei eine Verringerung der Grünflächen definitiv nicht wünschenswert: Gerade im dicht besiedelten Arbeitervorort Praga sei eine solche Reduktion für die einheimische Bevölkerung überaus schädlich, da es hier kaum unbebaute Plätze gebe.82 Wirtschaftliches, hygienisches und – mit Abstrichen – auch sozialpolitisches Denken überschnitten sich im Denken der munizipalen Sachwalter, die trotz der scheinbar übermächtigen Gegnerschaft mit großem Selbstbewusstsein auftraten. So erstaunlich es erscheinen mag, aber auch im Fall des orthodoxen geistlichen Seminars konnte sich der Warschauer Magistrat gegen die vereinte Phalanx aus orthodoxer Kirchenhierarchie, Generalgouverneur und Petersburger Innenminister behaupten. Da sich die erbitterte Diskussion um die Verfügungshoheit über den öffentlichen Platz bis in den Sommer 1914 hinzog,83 erledigte sich diese Streitfrage mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Das Geistliche Seminar sollte nie gebaut werden. Auch hier zeigte sich, dass sich der Stadtpräsident primär als Vertreter lokaler Warschauer Belange wahrnahm und keinesfalls als Erfüllungsgehilfe eines imperial-russisch-orthodoxen Zugriffs auf die Metropole. Offensichtlich bedingte das Amt des Stadtpräsidenten einen eigenen Blick auf die Stadt und ihre Bedürfnisse. Das drückte sich auch darin aus, dass diese Behördenleiter ein extrem positives Selbstbild als Motoren städtischer Transformation entwickelten. In den Publikationen des magistratseigenen Statisti|| 80 AGAD, KGGW, sygn.6442, kart.1 [Brief des Innenministeriums an den WGG, 5.7.1913] 81 AGAD, KGGW, sygn.6442, kart.9–16 [Protokoll und Beschluss des Warschauer Magistrats, 18.2.1914]. 82 AGAD, KGGW, sygn.6442, kart.15 [Beschluss des Warschauer Magistrats, 18.2.1914]. 83 AGAD, KGGW, sygn.6442, kart.47 [Brief des Innenministeriums an den WGG, 17.6.1914].

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schen Komitees zur Entwicklung Warschaus findet sich diese Stilisierung einer Institution, die sich als den wesentlichen Träger der Modernisierung darstellte.84 Diesen zarischen Beamten ging es zugleich um Regional- und Stadtentwicklung, bei der warschauzentrierte Bedürfnisse, zumindest in ihrer Ausdeutung durch den jeweiligen Amtsinhaber, im Vordergrund standen. Das war bei anderen Staatsbeamten, deren Amtsgeschäfte in den Bereich der städtischen Administration hineinreichten, weniger eindeutig. Stärker als beim Stadtpräsidenten spielten auf vielen Ebenen der Bürokratie grundsätzliche Fragen von imperialer Herrschaft eine entscheidende Rolle, die auch die jeweiligen Präferenzen bei anstehenden stadtplanerischen Entscheidungen bestimmten. Wie eng die Dimensionen der munizipalen Steuerung und der imperialen Ordnungs- und Machtsicherung ineinandergriffen, lässt sich deutlich an den Aktivitäten der zarischen Polizeibehörde und ihrer jeweiligen Leiter, der Warschauer Oberpolizeimeister, aufzeigen. Der Oberpolizeimeister unterstand direkt dem Innenministerium und war damit eine weitgehend eigenständig operierende Instanz an der Weichsel.85 Seine Amtsaufgabe, „Recht und Ordnung“ im öffentlichen Raum sicherzustellen, verweist auf den Doppelcharakter seiner Tätigkeit. Einerseits war es seine Aufgabe, Kriminaldelikte zu verhindern beziehungsweise aufzuklären, andererseits zeichnete er aber auch für die „politische Sicherheit“ der unruhigen polnischen Provinzen verantwortlich.86 Zugleich war seine Behörde für die städtische Bau-, Gewerbe- sowie Hygieneaufsicht zuständig. Damit reflektierten die Kompetenzen des Leiters der Polizeibehörde eine grundsätzliche Ambivalenz. Allgemeine imperiale Herrschaftspraktiken fielen ebenso in seinen Aufgabenbereich wie die Beschäftigung mit sehr konkreten lokalen Problemen, die im administrativen Alltag einer Metropole auftraten. Um es zugespitzt auszudrücken: Der Oberpolizeimeister musste sich sowohl um den Zusammenhalt und die Stabilität des Imperiums kümmern als sich auch mit verunreinigten Abwasserkanälen im Stadtteil Praga befassen.87 Für das urbane Leben Warschaus waren beide Seiten dieser Amtstätigkeiten von spürbarer Relevanz. Denn die Autorität des Oberpolizeimeisters griff einer-

|| 84 Vgl. dazu u.a Varšavskij magistrat. Stat. otdel: Dviženie naselenija goroda Varšavy za dvadcatiletnij period (1882–1901), Warschau 1902. 85 Die Berichte des Warschauer Oberpolizeimeisters finden sich im RGIA, f.1276, op.17; f.1282, op.3; f.1284, op.223; f.1284, op.194. Siehe auch Halina Kiepurska/Zbigniew Pustuła: Raporty Warszawskich Oberpolicmajstrów. 86 Parallel zur regulären Polizei bestanden allerdings auch im Königreich die Apparate des Gendarmenkorpus und der Sicherheitsabteilung. Vgl. u.a. P. P. Zavarzin: Rabota tajnoj policii. Vospominanija, Paris 1924. 87 AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.154–155 [Schreiben des WOPM an den WGG, 24.2.1910].

9.2 „Doppelherrschaft“ in Warschau | 211

seits stark in das kulturelle Leben der Weichselmetropole ein, war aber ebenso im Bereich von Bautätigkeit und Wohnraumvermietung, Gewerbebetrieb und Handel allgegenwärtig. Wie eng der Oberpolizeimeister hier im Kontakt mit der lokalen Warschauer Bevölkerung stand, drückte sich unter anderem darin aus, dass seine amtlichen Bestimmungen regelmäßig in einem eigenen zweisprachigen Publikationsorgan, der Varšavskaja policejskaja gazeta (Warschauer Polizeizeitung), veröffentlicht wurden.88 Die Einwohnerschaft ihrerseits war in ihren öffentlich-gesellschaftlichen Aktivitäten auf den Leiter der Polizeibehörde angewiesen. Denn ohne seine Genehmigung durfte bis 1906 keine Versammlung stattfinden, kein Konzert veranstaltet, kein Ball organisiert, keine Vorlesung gehalten, kein Verein gegründet werden.89 Dass sich dennoch in Warschau ein breit gefächertes Spektrum an urbanen Lebensstilen herausbildete, zahlreiche Theater, Lesecafés und Lichtspielhäuser nebeneinander bestanden, Vereinsgründungen in die Hunderte gingen und Vorstellungsankündigungen die Anzeigenseiten Warschauer Zeitungen füllten, zeugt davon, dass die Überwachungstätigkeit der Polizeibehörde keineswegs die Verhinderung metropoler Kultur bedeutete. Gleichwohl griff der Oberpolizeimeister formativ in die kulturelle Großstadtlandschaft ein, indem er beispielsweise die Aktivitäten, bei denen er eine Verbindung zu den verbotenen Parteien vermutete, untersagte und damit vor allem die Entwicklungsmöglichkeiten von (Selbst-)Hilfeorganisationen, die sich mit der sozialen Frage befassten, erheblich einschränkte.90 Für das städtische Zusammenleben war aber wichtiger, dass der Oberpolizeimeister die behördliche Aufsicht über eine ganze Reihe von baulichen und gewerblichen Interaktionsbereichen innehatte. So oblag ihm die Pflicht, die Einhaltung von Bau- und vor allem Brandschutzbestimmungen zu überprüfen. Und er war zugleich für die Gewerbe- und Hygieneaufsicht nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch in den Groß- und Kleinbetrieben zuständig.91 Grundsätzlich bestand in vielen Aufgabenfeldern das Problem der „Doppelherrschaft“

|| 88 AGAD, KGGW, sygn.279, kart.1 [Schreiben des WOPM an den WGG, 17.8.1904]. 89 AGAD, KGGW, sygn.139, kart.3 [Schreiben des WOPM an die Kanzlei des WGG: Theateraufführungen, 28.1.1904]; AGAD, KGGW, sygn.184, kart.5 [Schreiben des WOPM an den WGG: Spendensammlungen, 8.5.1904]. 90 AGAD, KGGW, sygn.949, kart.6–7 [Schreiben des WOPM an den WGG, 31.5.1908]; APW, t.151, cz.3 (KGW), sygn.567, kart.14 [Schreiben des Warschauer Gouverneurs Baron fon Korf, 10.10.1909]. 91 AGAD, KGGW, sygn.7244, kart.10–10v [Schreiben des WOPM an die Kanzlei des WGG: Theater „Jardin d`hiver“, 20.7.1907]; AGAD, KGGW, sygn.7381, kart.9–9v [Schreiben des WOPM an die Kanzlei des WGG: Philharmonie, 4.6.1908].

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von Magistrat und Polizeibehörde, da die Kompetenzbereiche dieser Institutionen nicht immer eindeutig voneinander getrennt waren. Das trug dazu bei, dass die Kommunikation zwischen Stadtverwaltung und Oberpolizeiamt kompliziert und konfliktträchtig war. Die oft beklagte „Doppelherrschaft“ der zwei konkurrierenden Instanzen machte auch die Regelung von kleineren städtischen Alltagsproblemen zu einem schwierigen Unterfangen. Ein sprechendes Beispiel dafür ist der Zusammenbruch der Schneeabfuhr in Warschau im Winter 1906–07. Die Schneemengen in diesem Winter waren außergewöhnlich hoch. Es gelang den Behörden nicht, den vereisten Schnee aus der Stadt zu befördern, und weite Teile Warschaus wurden nach dem Jahreswechsel unpassierbar. Im Januar 1907 wandte sich Oberpolizeimeister Mejer in einer Beschwerdeschrift an den Generalgouverneur Skalon, in der er auf die Verfehlungen des Magistrats bei der Straßenreinigung hinwies. Die Straßenreinigung, die inklusive der winterlichen Schneebeseitigung dem Magistrat obliege, werde von diesem aus ökonomischen Gründen vernachlässigt.92 Ein Erklärungsschreiben des Stadtpräsidenten stellte den Sachverhalt erwartungsgemäß anders dar: Nicht der Geiz des Magistrats, sondern der ungewöhnlich starke Schneefall und die überhöhten Preise für das Anmieten von Fuhrwerken seien schuld an der akuten Misere.93 Die vom Generalgouverneur im Folgenden eingesetzte Sonderkommission kam dagegen zu einem grundsätzlichen Problembefund. Die zentrale Ursache für das dramatische Versagen der Stadtbehörden sei die vielfach beklagte „Doppelherrschaft“ von Magistrat und Polizeibehörde auch in diesem Bereich.94 Denn der Stadtpräsident handle wie der „Hausherr“, der die Mittel für die Straßenreinigung bereitstelle, während Letztere wie derjenige auftrete, der für die Reinigungsmaßnahmen verantwortlich sei. So habe der Leiter des städtischen Fuhrparks als das wesentliche ausführende Organ von beiden Institutionen sich widersprechende Anweisungen erhalten. Zur Verbesserung der Straßenreinigung bedürfe es daher einer grundlegenden Reform.95 Letztlich konnte das Problem der Schneeentsorgung nur durch eine Adhoc-Maßnahme des Generalgouverneurs gelöst werden: Per administrativer Anordnung kommandierte er weitere Fuhrwerke zur Schneeabräumung ab.96 Die

|| 92 AGAD, KGGW, sygn.5820, kart.1–1v [Brief des WOPM Mejer an den WGG, 13.1.1907]. 93 AGAD, KGGW, sygn.5820, kart.22–23 [Brief des Stadtpräsidenten an den WGG, 5.2.1907]. 94 AGAD, KGGW, sygn.5820, kart.91–92v [Brief des WOPM an den Stadtpräsidenten Miller, 22.11.1909]. 95 AGAD, KGGW, sygn.5820, kart.47–55 [Kommissionsbericht des Sonderbeauftragten G. Gjunter, 1.12.1907]. 96 AGAD, KGGW, sygn.5820, kart.91–92v [Brief des WOPM an den Stadtpräsidenten Miller, 22.11.1909].

9.2 „Doppelherrschaft“ in Warschau | 213

grundsätzlichen Fragen waren damit aber nicht gelöst und noch im Winter 1909– 10 tagte eine Sonderkommission zur Verwaltungsreform, ohne sich auf eine einheitliche Strategie einigen zu können.97 Dieses kleine Beispiel zeigt, wie komplex sich konkrete Verwaltungsmaßnahmen angesichts des Kompetenzwirrwarrs der Behörden gestalteten und wie schwerfällig sich Reformen in dem verbitterten Klima von gegenseitigem Misstrauen und Besitzstandswahrung durchsetzen ließen. Es wird aber indirekt auch deutlich, wie stark der Oberpolizeimeister in den Warschauer Alltag der munizipalen Administration involviert war. Stadtverwaltung war eben keine Angelegenheit, die der Magistrat monopolisierte. Allerdings ist eine Gegenüberstellung von „polenfreundlichem“, gemeindeorientiertem Magistrat und polonophobem Oberpolizeimeister als verlängertem Arm der Fontanka zu vereinfacht.98 Dies mag der Fall eines sich über Jahre hinziehenden Streits verdeutlichen, der zwischen den beiden Behörden wegen des desolaten Kanalsystems im SzmulikQuartier im Stadtteil Praga entstand. Angestoßen durch eine Beschwerde von Anwohnern inspizierte der Oberpolizeimeister Mejer zusammen mit dem medizinischen Inspektor seiner Behörde im September 1908 das Gebiet im Ostteil Warschaus. Ihr Befund war erschreckend: Die in diesem Viertel ansässigen Kleingewerbe, die vor allem Salzherstellung betrieben, verpesteten durch hohe Abgasemissionen die Luft. Schlimmer aber noch waren die Miasmen, die die offenen Abwasserkanäle absonderten. Als die dafür entscheidende Ursache machte die polizeiliche Hygieneinspektion das nicht ausreichende Gefälle der Kanäle sowie die zu geringe Zufuhr von Klärwasser verantwortlich. Der Inspektionsbericht forderte die Magistratsbehörde zu schneller und grundlegender Renovation des Abwassersystems im betreffenden Quartier auf.99 Dazu war der Magistrat aber keinesfalls bereit. Mit Hinblick auf den in Kürze anstehenden Beginn der Arbeiten an einem geschlossenen Kanalisationssystem auch im Stadtteil Praga sei eine derartige kostspielige Investition nicht zu rechtfertigen. Schuld an der Misere, so Vertreter der Magistratsbehörde, seien zudem die Immobilienbesitzer des Bezirks, die das ihnen obliegende Ausfegen der Rinnsteine

|| 97 AGAD, KGGW, sygn.5820, kart.95–96 [Brief des Stadtpräsidenten an die Kanzlei des WGG, 18.2.1910]. 98 Die Fontanka war ein Synonym für das St. Petersburger Polizeidepartement, das seinen Sitz am Fontanka-Kanal hatte. Vgl. dazu Kirsten Bönker: Die starke Hand des Zaren: Innenministerium und Polizeidepartement an der Fontanka, in: Karl Schlögel/Frithjof Benjamin Schenk/Markus Ackeret (Hrsg.): Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte, Frankfurt/Main 2007, S. 305–315. 99 AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.154–155 [Bericht der ärztlichen Abteilung des WOPM an den WGG Skalon, 24.2.1910]; kart.169–170 [Brief des WOPM an den WGG, 24.1.1911].

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vernachlässigt hätten.100 Der Magistrat weigerte sich, eine größere Investition in dem von ihm grundsätzlich vernachlässigten Stadtteil Praga zu tätigen. Noch 1911 waren die Missstände nicht behoben und die Beschwerden von Anwohnern sowie die verbitterte Korrespondenz zwischen den Behörden stapelten sich auf dem Schreibtisch des Generalgouverneurs.101 Die Warschauer Stadtverwaltung erwies sich – zweifellos aus finanziellen Überlegungen heraus – als renitent, aber die vom Oberpolizeimeister für die notwendigen Maßnahmen veranschlagte Summe von knapp 2.000 Rubel hätte wohl kaum das städtische Budget gesprengt – ein Umstand, den der Polizeimeister selbst süffisant anmerkte.102 Es machte sich hier die Magistratsarroganz und die strukturelle Benachteiligung der Unterschichtenvororte bemerkbar, die wie in anderen europäischen Metropolen auch einherging mit einer auf die bürgerlichen Stadteliten bezogenen Raumplanung und Innovationspolitik. Der Oberpolizeimeister stilisierte sich selbst in diesem Zusammenhang als der eigentliche Hüter städtischer Ordnung und würzte seine Klage über das Versagen des Magistrats unter anderem mit sozialpolitischen Implikationen über die Vernachlässigung des Stadtteils Praga durch die „Herren“ im Rathaus.103 Hinter dieser Selbstgefälligkeit eines Beamten, der sich zum vermeintlichen Sprachrohr der vox populi deklarierte, scheint zugleich ein sehr grundsätzlicher Interessenkonflikt der beteiligten Behörden auf. Denn der Oberpolizeimeister war in Warschau qua Amt die zentrale Instanz, die präventive Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung vorzunehmen und ihre Durchführung zu überwachen hatte. Und so waren die Missstände in Praga auch während der großen CholeraHysterie von 1908 gemeldet und observiert worden.104 Es ist kein Zufall, dass es der Oberpolizeimeister war, der sehr viel stärker als der Magistrat in gesamtstädtischen Zusammenhängen dachte. Während der Magistrat Stadtplanung immer auch in Form von sozial-räumlicher Segregation betrieb und den Ausbau der elektrischen Straßenbahn im repräsentativen Teil der südlichen Innenstadt der Kanalisation in Praga gegenüber bevorzugte, mussten sich der Oberpolizeimeister und die von ihm beschäftigten Hygieneexperten mit der hohen Ansteckungsgefahr der Cholerabakterien befassen, die nicht an Stadtteilgrenzen

|| 100 AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.156 [Schreiben der Bauabteilung des Magistrats an den WOPM, 4.10.1909]; kart.166 [Schreiben des Stadtpräsidenten an den WGG Skalon, 21.9.1910]. 101 AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.171–171v [Beschwerdeschrift der Anwohner an den WGG, ohne Datum]. 102 AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.176–177 [Schreiben des WOPM an den WGG, 17.8.1911]. 103 AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.154–155 [Bericht der ärztlichen Abteilung des WOPM an den WGG Skalon, 24.2.1910]. 104 AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.148 [Bericht des WGG an das Innenministerium, 10.1.1909].

9.3 Generalgouverneure und Petersburger Minister | 215

Halt machten.105 In manchen Fällen – wie eben der Seuchenbekämpfung – war es primär der Oberpolizeimeister, der im gesamtstädtischen Maßstab dachte und somit – gewollt oder nicht – zu einem starken Fürsprecher für urbane Modernisierungsmaßnahmen wurde. Ein solches Profil der „Doppelherrschaft“ von Magistrat und Polizeibehörde illustriert zugleich, wie stark die städtische Entwicklung von diesen Instanzen beeinflusst und gesteuert wurde. Die Verwaltung Warschaus oblag diesen Institutionen der zarischen Administration und sie haben den Wandel der Stadt entscheidend mitgeprägt. Ihre Repräsentanten mussten einen imperialen Herrschaftsauftrag mit den Lenkungsmaßnahmen im lokalen Kontext in Einklang bringen. Beide Institutionen waren jedoch keineswegs in einem Machtvakuum tätig, sondern mussten sich selbst innerhalb der Entscheidungshierarchie zarischer Bürokratie positionieren. Denn nicht selten wurden die Probleme, die die munizipale Administration in Warschau beschäftigten, weder in der Polizeibehörde noch im Rathaus am Theaterplatz entschieden. Vielmehr meldeten sich mit dem Generalgouverneur im Warschauer Königsschloss und den fernen Petersburger Ministerien machtvolle und entscheidungsfreudige Instanzen zu Wort, die regelmäßig in die Geschäfte der Stadtverwaltung eingriffen.

9.3 Generalgouverneure und Petersburger Minister: Warschau als Reichsstadt. Imperiale Perspektiven auf einen lokalen Kontext Der Generalgouverneur war der starke Mann an der Weichsel und er war direkt in die lokalen städtischen Alltagsprobleme eingebunden. Auch er konnte sich den Fragen nicht verschließen, die der rapide städtische Wandel Warschaus regelmäßig auf die Tagesordnung brachte. Denn der Generalgouverneur war die Instanz, an die sich der munizipale Magistrat zunächst zu wenden hatte, wenn es um Entscheidungen ging, die die Finanzen, die Infrastruktur, aber auch die Stadtkultur betrafen. Und so konnte keine Straße erweitert, kein Brückenpfeiler ausgetauscht, kein Kanalrohr verlegt, kein Jahrmarkt begonnen und kein Kino eröffnet werden, ohne dass auch der Warschauer Generalgouverneur seine

|| 105 AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.1–4 [Bericht des Warschauer Oberpolizeimeister an den WGG, 31.1.1908].

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Zustimmung gegeben hätte.106 In den zahlreichen Kommissionen, die sich mit den brennenden Fragen urbaner Verwaltungspraxis befassen mussten, übernahm entsprechend ein Sonderbeauftragter des Generalgouverneurs regelmäßig den Vorsitz.107 Zudem machte sich bemerkbar, dass in vielen Konflikten, die die munizipale „Doppelherrschaft“ von Magistrat und Oberpolizeimeister produzierte, alle beteiligten Akteure sich an den Generalgouverneur als schlichtende Instanz wandten. Ob er wollte oder nicht, die städtischen Angelegenheiten machten einen beträchtlichen Teil seiner Korrespondenz und der seiner Kanzlei aus. Warschau war somit viel mehr einem Triumvirat als einer „Doppelherrschaft“ unterworfen.108 Grundsätzlich ist festzuhalten, dass sich die Alltagsfragen einer Stadtverwaltung weitgehend konfliktfrei zwischen den Behörden des Generalgouverneurs und des Stadtpräsidenten lösen ließen. Und so gehen die standardisierten Zustimmungen des Generalgouverneurs zu Anträgen des Magistrats in die Tausende.109 Dennoch lassen sich signifikante Unterschiede zwischen den Stadtpräsidenten einerseits und den Generalgouverneuren andererseits im Zugang zur Administration Warschaus ausmachen. Hier traten in Handlungsoptionen und Wertmaßstäben grundsätzlich andere Prioritäten offen zu Tage. So ließen sich die Generalgouverneure kaum zu einem längerfristigen städteplanerischen Handeln oder zu weitreichenden infrastrukturellen Maßnahmen bewegen. Die Vorstellung einer interventionistischen Staatsverwaltung war ihnen weitgehend fremd. Und so gab es eine Reihe von Problemfeldern – wie Fragen der Stadterweiterung und des Wohnungsbaus –, in denen der Stadtpräsident den Generalgouverneur zu keinem Engagement zu bewegen vermochte.110 Dazu kam verstärkend, dass in der Kommunikation zwischen Magistrat und Generalgouverneur unterschiedliche Konzeptionen bestanden von dem, was städtischer Raum bedeutete und was er zu leisten habe. Die Generalgouverneu|| 106 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.75–91 [Bericht der Kanzlei des WGG über den Zustand der Straßen, 1897]; AGAD, KGGW, sygn.6338, kart.1–11 [Schreiben des Stadtpräsidenten an den WGG, 1908–09]; AGAD, KGGW, sygn.5822, kart.1–1v [Schreiben des Stadtpräsidenten an den WGG, 23.1.1907]. 107 AGAD, KGGW, sygn.5820, kart.47–55 [Kommissionsbericht des Sonderbeauftragten Gjunter, 1.12.1907]. 108 AGAD, KGGW, sygn.7381, kart.1 [Brief des Warschauer Gouverneurs an den WGG: Ausbau der Philharmonie, 23.11.1907]. 109 AGAD, KGGW, sygn.6116, kart.1–1v [Stadtpräsident an den WGG: Genehmigung eines Pachtvertrages in der ul. Starynkiewicza 17.4.1908]; AGAD, KGGW, sygn.5836, kart.1–1v [Stadtpräsident an den WGG: Genehmigung eines Jahrmarkts, 18.2.1907]. 110 AGAD, KGGW, sygn.6481, kart.4–6 [Schreiben des Piotrkowsker Gouverneurs Millers an den WGG Gurko, 14.11.1894].

9.3 Generalgouverneure und Petersburger Minister | 217

re waren von einer herrschaftsrepräsentativen Rauminterpretation geleitet, die dem Leitmotiv eines modern-technisierten urbanen Raums, das der Stadtpräsident präferierte, konträr gegenüberstand. Nicht nur bei den Generalgouverneuren, die sich – wie beispielsweise Iosif Gurko – durch eine ausgesprochen polenfeindliche Politik auszeichneten, dominierte die Deutung des Warschauer Stadtraums als Repräsentationsfläche russischer Herrschaft. Es ging auch bei seinen polenfreundlicheren Amtsvorgängern und -nachfolgern vorrangig um die Visualisierung russischer Dominanz an der westlichen Peripherie des Imperiums. Der städtische öffentliche Raum war dementsprechend vor allem das Exerzierfeld militärischer Paraden und anderer herrscherlicher Ritualhandlungen. Er war ebenso der Ort für symbolische Inszenierungen russischer Hegemonie durch Straßenbenennungen, Errichtung von Denkmälern und Bevorzugung von Architekturstilen mit Reichs- und Zarenbezug oder durch militärische Befestigungsanlagen und Machtdemonstrationen.111 Da zudem die Orthodoxie in Warschau als weitgehend deckungsgleich mit der zarischen Autorität wahrgenommen wurde, konnten auch orthodoxe Kirchen die Funktion von Imperiumsrepräsentation übernehmen. Der Reichsbezug wurde durch die Wahl eines neomoskowitischen Architekturstils unterstrichen. Schon die in Praga errichtete Maria-Magdalena-Kirche wurde mit neomoskowitischen Fassadenelementen versehen und zitierte so schon früh diesen neuen Eklektizismus vermeintlich genuin russischer Provenienz.112 Das sicherlich bekannteste Beispiel für den Versuch, die Warschauer Topographie mit sichtbaren Symbolen russischer Hegemonie neu zu ordnen, stellte die monumentale Aleksandr-Nevskij-Kathedrale im Zentrum der Stadt dar. Das Bauprojekt am Sächsischen Platz stand unter der direkten Schirmherrschaft der Generalgouverneure, die sich energisch für seine Realisierung und damit auch für eine zumindest partielle Russifizierung des Raums einsetzten.113 Oft spielten darüber hinaus militärische Sachzwänge eine wichtige Rolle bei den Grenzziehungen, mit denen der Generalgouverneur das Wachstum Warschaus behinderte. Die Strategie, die Warschau als wichtigen Verteidigungsposten gegenüber Preußen und dem Deutschen Reich definierte und die dazu führte, dass der Befestigungsring um Warschau seit den 1890er Jahren massiv ausgebaut || 111 Vgl. Putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostjam, hrsg. v. M. M., Warschau 1873, S. 27–31, S. 36–38 und S. 68–71; N. F. Akaemov: Putevoditel’ po Varšave, Warschau 1907, S. 19–22. 112 Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy, S. 48–49. 113 Siehe Piotr Paszkiewicz: The Russian Orthodox Cathedral of Saint Alexander Nevsky in Warsaw. From the History of Polish-Russian Relations, in: Polish Art Studies, 14 (1992), S. 64– 71; Robert L. Przygrodzki: Russians in Warsaw, S. 206–229; Malte Rolf: Aleksandr-NevskijKathedrale.

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wurde, war in den Zentren militärischer Entscheidungskompetenz in Petersburg entworfen worden.114 Hier war der Generalgouverneur in seiner Position als Oberkommandierender des Warschauer Wehrkreises seinerseits nur Ausführender einer in der Hauptstadt zementierten Militärstrategie. Dass der Festungsring damit bis 1911 die räumliche Expansion Warschaus blockierte und indirekt für eine Reihe von schwerwiegenden Folgeproblemen, wie die Überbelegung von Wohnraum, die damit verbundenen Konsequenzen für die hygienischen Zustände der Unterkünfte und die damit einhergehende erhöhte Seuchengefahr, ursächlich war, blieb auch dem Generalgouverneur nicht verborgen. Alle Anträge des Stadtpräsidenten, zumindest teilweise auf Brachland in der Nähe von Verteidigungsforts zugreifen zu dürfen, wurden beziehungsweise mussten dennoch von ihm regelmäßig abgelehnt werden.115 Trotz all dieser Begrenzungen, mit denen sich der Generalgouverneur der Stadtmodernisierung Warschaus in den Weg stellte, lässt sich nicht von einer generellen Ignoranz gegenüber der lokalen Entwicklung sprechen. Davon zeugen die Berichte, die der Generalgouverneur alljährlich nach Petersburg sandte, um über den Zustand der ihm unterstellten Verwaltungseinheit Rechenschaft abzulegen.116 Diese Landesreportagen dokumentieren vielmehr, wie stark das allgemeine Entwicklungsdenken auch die Wahrnehmung des Generalgouverneurs prägte. Zentraler Gegenstand der Berichte war neben der Wahrung von Ruhe und Ordnung im Landstrich vor allem dessen wachsende Prosperität.117 Auch in der behördeninternen Korrespondenz markierte die ökonomische und kulturelle Entwicklung des Königreichs sowie seines administrativen Zentrums ein ganz wesentliches Argument, wenn es um Kompetenzerweiterungen oder Statusfragen innerhalb der Bürokratie ging.118 Die hiesigen Generalgouverneure verwiesen regelmäßig stolz darauf, dass „ihr“ Warschau die drittgrößte Metropole des Imperiums darstelle und wirtschaftlich prosperiere. Sie teilten damit jenes Entwicklungsnarrativ, in dem die „stabile russische Herrschaft“ seit 1864 || 114 Vgl. dazu Stefan Król: Cytadela Warszawska; David Alan Rich: The Tsar’s Colonels: Professionalism, Strategy and Subversions in Late Imperial Russia, Cambridge 1998, S. 165–172. 115 AGAD, KGGW, sygn.7031, kart.9 [Brief des Stadtpräsidenten an den WGG: Nutzung von Grundstücken, die für die Fortifikation vorgesehen waren, 24.11.1911]. 116 Vsepoddannejšie otčety o sostojanii Varšavskogo General-Gubernatorstva, RGIA, Biblioteka, op.1, d.9, ll.1–24ob (1884), ll.63–80 (1897), ll.96–111 (1899), ll.112–119ob (1899), op.1, d.10, l.5 (1903). 117 Vgl. u.a. Desjat’ gubernij Carstva Pol’skogo v cifrach. Trudy Varšavskogo statističeskogo komiteta, Bd. 35, Warschau 1908. Insgesamt erschienen über 40 Bände in dieser Reihe. 118 GARF, f.215, op.1, d.94, l.59ob [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898]; GARF, f.215, op.1, d.97, ll.30–45 [Brief der Kanzlei des WGG Čertkov an den Innenminister Plehve, 12.3.1902].

9.3 Generalgouverneure und Petersburger Minister | 219

als Leitmotiv diente und deren Erfolgsnachweis gerade auch durch die Blüte der Städte im Weichselland erbracht wurde.119 Angesichts der Machtfülle, über die der Generalgouverneur verfügte, mussten die individuellen Präferenzen der einzelnen Amtsinhaber großen Einfluss auf die städtische Entwicklung haben. Und so verwundert es nicht, dass es deutliche Abweichungen bei so ungleichen Generalgouverneuren wie Petr Al’bedinskij, Iosif Gurko, Aleksandr Imeretinskij oder Georgij Skalon und ihren jeweiligen politischen Stilen und Entscheidungen gab. Ihre Haltung zur Einführung einer städtischen Selbstverwaltung wäre hier ein Beispiel, um derartige Unterschiede feiner zu konturieren. Während Al’bedinskij die Einführung eines gewählten Stadtrates im Königreich Polen angestoßen hatte, war Gurko ein entschiedener Gegner dieses Projekts.120 Es ist aber zugleich auffällig, dass sich die politischen Optionen mit Blick auf den Gang städtischer Modernisierung im Übrigen nicht grundsätzlich unterschieden. Anders als bei der Bildungs-, Sprach- oder Religionspolitik bedeutete der Amtsantritt eines Generalgouverneurs hier kaum einen spürbaren Bruch. Das Entwicklungsdenken im städtischen Kontext wurde von allen Amtsinhabern geteilt. Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf verwiesen, dass es die „dunklen Jahre“ der Gurko’schen Dienstzeit waren, in denen Warschau sein vorbildliches Kanalisationssystem erhielt. In der Wahrnehmung der Generalgouverneure war die Großstadt allerdings immer Teil des größeren Reichszusammenhanges. Diesbezüglich unterschied sich ein Generalgouverneur wie Iosif Gurko nicht wesentlich von seinen Amtsnachfolgern Aleksandr Imeretinskij oder Georgij Skalon. Dieser imperiumsweite Horizont lässt sich deutlich am Umgang mit der wiederholten Bedrohung der Stadt durch Choleraepidemien nachvollziehen. Anders als der Oberpolizeimeister, der vor allem bemüht war, der stadtweiten Ausbreitung der Krankheit vorzubeugen oder sie einzudämmen, spricht aus den Akten der Kanzlei, wie sehr die Generalgouverneure in gesamtimperialen Zusammenhängen dachten und wie stark sie die transregionale, auch grenzüberschreitende Mobilität der Krankheit betonten.121 Indem sie die Wanderung der Choleraerreger von Astrachan oder Zarizyn nach Warschau als Gefahrenquelle ausmachten, offenbarten sie nicht nur, dass sie das medizinische Wissen um Krankheitsursache und Seuchenbekämpfung internalisiert hatten. Sie demonstrierten auch, wie sehr || 119 Varšavskij dnevnik, Nr. 221 (20.8.1897), S. 3. 120 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.33ob–36 und ll.72–75ob [Bericht des WGG Al’bedinskij an Alexander II., 27.12.1880]; AGAD, KGGW, sygn.1773, kart.25–28 [Bericht des WGG Gurko zur politischen Lage des Königreichs, 1884]. 121 AGAD, KGGW, sygn.6072, kart.1–2 [Gesuch von Fischhändlern an WGG, 30.1.1908]; AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.10 [Rundbrief des Innenministeriums an alle Gouverneure, 19.3.1879].

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sie qua Amt dazu gezwungen waren, Warschauer Probleme als Teil des imperialen Kontextes zu sehen. Dass dieser Reichszusammenhang insgesamt und weniger die spezifische Entwicklung vor Ort für die Generalgouverneure handlungsleitend war, manifestiert sich in den von ihnen verfassten Berichten. Hier betonten sie die reichsweite Relevanz von Projekten wie Eisenbahn- oder Brückenbau. Nicht das Königreich oder Warschau standen im Mittelpunkt, sondern deren Entwicklung im Rahmen der Machtentfaltung des Imperiums und seines Prestigegewinns. Es bestand insofern auch eine deutliche Differenz zwischen dem auf das lokale Gemeinwesen orientierten Stadtpräsidenten und dem Generalgouverneur als Repräsentanten einer imperialen Bürokratie. Sie erklärt viele der Unterschiede bei den Akzentsetzungen, mit denen diese Amtsträger die städtische Modernisierung vorantrieben. Eine solche imperiale Schwerpunktsetzung galt um so mehr für jene Instanzen, die in der Petersburger Hauptstadt über größere Investitionen zu entscheiden hatten. Das Komitee für die Angelegenheiten des Königreichs Polen und die hauptstädtischen Ministerien, vor allem das Innen- und das Finanzministerium, waren für alle Grundsatzentscheidungen im Königreich und damit auch bei der Modernisierung Warschaus zuständig.122 Gerade bei der Kreditvergabe für größere Bauvorhaben musste sich der Warschauer Magistrat an diese Institutionen wenden. Das Innen- und das Finanzministerium verfügten damit über ein Steuerungsmittel, mit dem sie nachhaltig den Gang der Dinge in der Weichselmetropole beeinflussen konnten. So bewirkte der große Kredit in Höhe von 33 Millionen Rubel, der dem Warschauer Magistrat 1903 gewährt wurde, einen kurzfristigen Bauboom und ein überhitztes Investitionsklima an der Weichsel, das den Absturz durch den kriegsbedingten Einbruch der Industrieproduktion nach Beginn der russisch-japanischen Kampfhandlungen 1904 umso tiefer erscheinen ließ.123 Die Petersburger Bürokratie war also ein lokal bedeutsamer Akteur. Aber auch hier ergibt sich kein eindeutiges Bild der zarischen Verwaltung. Die hauptstädtischen Beamten und Minister bewegten sich zwischen den Extremen einer starren Verhinderung von Veränderungen einerseits und der aktiven Initiierung von Wandel andererseits. Mit Blick auf die lokalen Warschauer Belange war das „Sündenregister“ Petersburgs lang. Die chronische Unterfinanzierung des städtischen Budgets, die Abhängigkeit, in der der Magistrat durch die Verweigerung aller Formen munizipaler Selbstverwaltung gehalten wurde, oder die Behinde-

|| 122 Edward Strasburger: Gospodarka naszych wielkich miast. Warszawa, Łódź, Kraków, Lwów, Poznań, Krakau 1913, S. 28. 123 Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 25.

9.3 Generalgouverneure und Petersburger Minister | 221

rungen städtebaulicher Entwicklung durch den sakrosankten Festungsring sind einige eindringliche Beispiele, die den negativen Einfluss politischer Grundsatzentscheidungen im imperialen Zentrum auf die Entwicklungen an der Weichsel verdeutlichen. Es kamen weitere Belastungen hinzu, wenn beispielsweise die hohen Kosten für die Einquartierung der zahlenstarken Truppen in Warschau teilweise auf das städtische Budget abgewälzt wurden.124 Auch die Weigerung der Petersburger Militärs, den Ausbau der Eisenbahnverbindungen nach Westen zuzulassen, benachteiligte Warschau als Industriestandort und schränkte den Post- und Reiseverkehr zwischen Warschau und Berlin erheblich ein.125 Zudem intervenierten gerade das Innenministerium und der Premierminister auch direkt bei Streitfragen, die zwischen den Interessengruppen der Warschauer Stadtbewohner ausgetragen wurden. Vor allem die russische Gemeinde in Warschau sah in der Petersburger Instanz weniger einen neutralen Schiedsrichter als einen entschiedenen Fürsprecher für die „russische Sache“, die sie an der Weichsel zu verteidigen meinten.126 In der Person Petr Stolypins fanden diese Stimmen einen Ansprechpartner, der bereit war, seinen Einfluss zugunsten dieser kleinen Teilgruppe der Warschauer Gesamtbevölkerung geltend zu machen.127 Die Korrespondenz zwischen dem Warschauer Generalgouverneur und dem Ministerpräsidenten zeugt davon, wie stark Stolypin in den Alltag und das Zusammenleben der Warschauer intervenierte und wie eindeutig er die Partei „der Russen“ ergriff. In Warschau wurde dies von der polnischen Bevölkerung als intrigante, parteiische und unangemessene Einmischung von außen wahrgenommen und kritisiert.128 Aber mit einer solchen Charakterisierung des Petersburger Einflusses auf die örtlichen Belange wäre das Bild keinesfalls vollständig. Es lassen sich eine Reihe von Maßnahmen anführen, die Entwicklungen vor Ort anstießen und die auch von polnischen Zeitgenossen positiv beurteilt wurden. Ein wichtiges Beispiel ist hier die Eröffnung des Polytechnischen Instituts. Die Einrichtung des

|| 124 Vgl. Werner Benecke: Militär, S. 75–92; Dietrich Beyrau: Militär und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland, Köln 1984, S. 328–334. 125 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.58–59 [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898]. Siehe auch Obščestvo Varšavsko-Venskoj železnoj dorogi. Čerteža i zapiska, Warschau 1903. 126 AGAD, KGGW, sygn.7031, kart.36–38v [Memorandum der Russischen Gesellschaft in Warschau an das Innenministerium, Mai 1912]. 127 AGAD, KGGW, sygn.9012, kart.10–12v [Brief Stolypin an den WGG, 17.7.1907]; kart.101 [Chiffrierte Depesche Stolypins an Skalon, 13.9.1907]. 128 AGAD, KGGW, sygn.7739, kart.21–22 [Polnisches Flugblatt zur Schließung polnischer Privatschulen, 3.10.1908].

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Abb. 21: Polytechnisches Institut in Warschau. Postkarte um 1910

Polytechnikums war durch die Technische Sektion der Warschauer Gesellschaft zur Förderung von Handel und Industrie angeregt worden und hatte mit dem Generalgouverneur Imeretinskij einen gewichtigen Fürsprecher gefunden. Für die tatsächliche Gründung des Instituts war aber das Petersburger Ministerkomitee zuständig. Nachdem Zar Nikolaus II. das Projekt befürwortet hatte, beschloss das Ministerkomitee im Februar 1898 die Einrichtung der Lehranstalt, die ihren Betrieb schon im September des gleichen Jahres aufnahm.129 Das Polytechnische Institut war die zweite Hochschule im Königreich überhaupt und spielte in den folgenden Jahren bei der Ausbildung von Modernisierungsträgern und einer lokalen technischen Elite eine wichtige Rolle.130 Hier wurde eine Kohorte von Ingenieuren und Spezialisten ausgebildet, die im Zarenreich und später auch in der Zweiten Polnischen Republik der Zwischenkriegszeit eine zentrale Rolle bei Modernisierungsvorhaben einnehmen sollte. Die Eröffnung des Polytechnikums wurde schon von den polnischen Zeitgenossen

|| 129 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.11–13, ll.31–32 [Auszüge aus dem Memorandum des WGG Imeretinskij, 12.1.1898]; f.215, op.1, d.94, l.47 [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 10.2.1898]. 130 Siehe allg. Józef Miąso: Szkolnictwo zawodowe w Królestwie Polskim w latach 1815–1915, Wrocław 1966; Leszek Zasztowt: Popularyzacja nauki w Królestwie Polskim.

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begeistert aufgenommen.131 Die Bedeutung, die die lokale Gesellschaft dem Institut zumaß, manifestierte sich beispielsweise darin, dass engagierte Bürger zunächst provisorische Räume an der repräsentativen Ul. Marszałkowska (Nr. 81) für die Bildungsstätte bereitstellten. Derweilen schritt der Neubau eines groß angelegten, vom Warschauer Stararchitekten Stefan Szyller im Stil der Neorenaissance entworfenen Gebäudekomplexes schnell voran. Die imposante, ebenfalls von Szyller gestaltete Große Aula war eine Stilmischung aus Königsburg, die an den Krakauer Wawel erinnerte, und schwindelerregendem Kirchenschiff, welches das Polytechnikum als „Tempel der Wissenschaft“ auswies. Damit wurde architektonisch überhöht ausgedrückt, welche Erwartungen weite Teile der polnischen Gesellschaft mit dieser Institution verbanden.132 Nur war die Perspektive der Petersburger Instanzen eine ganz andere. Den zentralen Behörden ging es bei der Eröffnung des Polytechnikums in Warschau nicht primär um Regionalförderung. Sie stand vielmehr im Kontext einer ganzen Reihe von derartigen Institutsgründungen im Russischen Reich. Zu der erheblichen staatlichen Investition in derartige Fachhochschulen hatte die Einsicht geführt, dass die bisherige technische Ausbildung im Rahmen von elitären Adelsinstitutionen die Nachfrage nach technischem Personal, die im sich rapide industrialisierenden Land beständig wuchs, nicht decken konnte.133 Das Warschauer Polytechnische Institut stellte somit einen Baustein in dem größeren imperialen Projekt dar, eine indigene technische Spezialistengruppe im Russischen Reich heranzubilden. Dass es viele ortsansässige Polen waren, die am Polytechnikum in Warschau studierten, nahm man eher in Kauf, als dass dies ein erklärtes Bildungsziel gewesen wäre. Das wiederum stand im expliziten Gegensatz zur Wahrnehmung der zarischen Amtsträger vor Ort. Der Generalgouverneur benannte die jahrelange, auch durch den Mangel an Bildungsinstitutionen bedingte Abwanderung der polnischen Intelligenz ins Ausland als schwerwiegendes Problem für seinen Amtsbezirk. Er betonte den Stellenwert einer solchen Bildungsstätte auch für die „innere Beeinflussung“ der ortsansässigen Jugend, denn die ablehnende Haltung junger Polen gegenüber der zarischen Herrschaft entstünde beim Auslands- oder Untergrundstudium oder werde dort verstärkt. Dem sei nur mit

|| 131 Vgl. Katarzyna Beylin: W Warszawie w latach 1900–1914, S. 28–39. 132 Vgl. Stefan Szyller: O attykach polskich i polskich dachach wklesliych, Warschau 1909; Stefan Szyller: Czy mamy polską architecturę?, Warschau 1916. 133 Vgl. dazu Gregory Guroff: The Legacy of Pre–Revolutionary Economic Education. St. Petersburg Polytechnic Institute, in: Russian Review, 31 (1972), S. 272–281, S. 274–276.

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einer legalen höheren Bildungseinrichtung im Weichselland entgegenzuwirken.134 Wie sehr die Petersburger Instanzen von einer imperialen Handlungslogik bestimmt waren, verdeutlicht das Beispiel der nach 1900 errichteten und nach Nikolaus II. benannten Weichselbrücke.135 Diese infrastrukturelle Maßnahme hatte enorme Bedeutung für Warschau, denn die „Dritte Brücke“, wie sie in der zeitgenössischen Presse betitelt wurde, eröffnete auf der Höhe der neuen City eine neue Verkehrsader für den Personen- und Warenverkehr zwischen den west- und ostufrigen Stadtteilen sowie zwischen den westlichen und östlichen Bahnhöfen. Sie führte zudem im Zuge der umfangreichen Bautätigkeit zur Neugestaltung des Stadtviertels Powiśle in der Weichselniederung und bot die Möglichkeit zur Erschließung der brachliegenden Saska Kępa auf der Ostseite des Flusses. Damit war auch die Perspektive auf eine deutliche Stadterweiterung verbunden, die den Bevölkerungsdruck in den überfüllten Innenstadtbezirken zu verringern versprach.136 Der Brückenbau, der sich von 1904 bis 1914 hinzog, wurde erst mit der Bewilligung eines größeren Kredits durch die St. Petersburger Zentralinstanzen ermöglicht, bei dem eine beträchtliche Summe für den Brückenbau fixiert wurde.137 Doch die amtliche Genehmigung durch die Petersburger Ministerien erfolgte weniger aus der Motivation heraus, aktive Regionalförderung zu betreiben. Vielmehr stand sie im Zusammenhang mit reichsweiten ökonomischen und vor allem militärstrategischen Überlegungen.138 Hier verdichtete sich die Andersartigkeit der Blickwinkel, die bei zahlreichen zeitgenössischen Diskussionen um städtische Modernisierungsvorhaben Quelle von Missverständnissen und Konflikten war. In der lokalen Perspektive stellte die Brücke eine infrastrukturelle Maßnahme dar, die das West- und das Ostufer der Weichsel miteinander verband. In imperialer Perspektive jedoch war die Brücke primär eine Einrichtung, die Truppenbewegungen erleichterte und damit zur Verteidigung der Westgrenze des Russischen Reichs beitrug. Im Fall der Weichselbrücke,

|| 134 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.11–12 [Auszüge aus dem Memorandum des WGG Imeretinskij, 12.1.1898]. 135 Die offizielle Bezeichnung der Brücke vor 1915 lautete Most Našego Milost. Gosurdarja, Car Nikolaj II. Nach Ende der russischen Herrschaft in Warschau wurde sie in Most Poniatowskiego umbenannt. 136 Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 24–32 (Sooruženie tretego mosta čerez r. Visly). 137 Von dem der Stadt Warschau 1903 gewährten Kredit in Höhe von 33 Millionen Rubel waren 4,5 Millionen Rubel für den Brückenbau vorgesehen. Vgl. Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 25. 138 Barbara Petrozolin-Skowrońska: Encyklopedia Warszawy, S. 511.

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berührten sich die Interessensphären einer imperialen und lokalen Orientierung. Oft genug jedoch, wie bei dem Warschauer Festungsring, den Truppenstationierungen oder dem zögerlichen Eisenbahnausbau, schlossen sich diese Logiken gegenseitig aus und führten zu einer Blockade der lokalen Entwicklungspolitik. Grundsätzlich fand der Wandel Warschaus zur modernen Metropole nicht abseits dieser Strukturen und Akteure statt, sondern ereignete sich in dem Möglichkeitsraum, den sie schufen. Das Imperium in Gestalt seiner Entscheidungsträger setzte die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich eine städtische Transformation ereignen konnte. Ein solcher konfliktreicher, durch imperiale Verwaltungsstrukturen hervorgerufener Kontext städtischer Entwicklung war selbstverständlich kein Spezifikum Warschaus. Auch am Beispiel Moskaus lassen sich die scharfen Auseinandersetzungen aufzeigen, die zwischen der gewählten munizipalen Selbstverwaltung und ihrer Exekutive, den Staatsbeamten in der Stadt und den Petersburger Ministern stattfanden.139 In Warschau bestand allerdings die Sondersituation, dass angesichts der fehlenden städtischen Selbstverwaltung alle Entscheidungskompetenzen in den Händen von ortsfremden Staatsbeamten lagen. Denn selbst der engagierteste Stadtpräsident blieb ein ernannter, also nicht gewählter Bürokrat, der von außen kam und seinem Vorgesetzten, dem Petersburger Innenminister, weisungsgebunden war. Das Machtmonopol einer externen Bürokratie verfestigte bei der lokalen Gesellschaft das Gefühl, von den Segnungen der europäischen Modernität durch die russische Fremdherrschaft willentlich abgeschnitten zu werden. Aber auch eine von außen eingesetzte Administration konnte nicht im bezuglosen Raum agieren. Sie war zur Kommunikation mit der lokalen Gesellschaft gezwungen und – teilweise – auch zur gesprächsbereiten Kontaktaufnahme fähig.

|| 139 Robert W. Thurston: Moscow, v.a. S. 85–99; Felix Schnell: Ordnungshüter auf Abwegen? Herrschaft und illegitime Gewalt in Moskau 1905–1914, Wiesbaden 2006, S. 82–102; I. S. Rozental’: Moskva na pereput’e. Vlast’ i obščestvo v 1905–1914gg, Moskau 2004, S. 42–81.

10 Die Moderne als urbanes Projekt: Warschau im Wandel und Kontaktzonen einer Konfliktgemeinschaft 10.1 Positivisten und Philanthropen: Die Warschauer Gesellschaft und die imperiale Bürokratie im Prozess städtischer Modernisierung So schnell sich Warschau als Stadt wandelte, so grundlegend veränderte sich auch die städtische Gesellschaft. Die Warschauer Stadtbevölkerung differenzierte sich mit der massiven Zuwanderung aus dem Umland und weiter östlich gelegenen Gebieten, mit den sozialen und kulturellen Wandlungsprozessen und dem Aufkommen neuer politischer Bewegungen rasch aus. Von „der Warschauer Gesellschaft“ zu sprechen, ist unmöglich, wenn man die verschiedenen kulturellen Prägungen und Erfahrungshorizonte von altaristokratischen Eliten, von „neuen Menschen“ aus selbstständigen Professionen und von landflüchtigen Unterschichten kontrastiert oder auch die unterschiedlichen Lebensmilieus dieser Stadt der „drei Nationen“ mit ihren katholischen, jüdischen und orthodoxen Wertegemeinden, Parallelnetzwerken und Stadtvierteln gegenüberstellt.1 Die Heterogenität der Einwohnerschaft war enorm und Warschau schien in verschiedene Gemeinschaften zu zerfallen, die wenig, nur punktuell oder gar nicht miteinander kommunizierten. All diese Gruppen und Milieus pflegten unterschiedliche Kontaktformen zur zarischen Administration und ihren Vertretern. Einige bemühten sich um einen Modus der Zusammenarbeit, andere versuchten jegliche Berührungsmomente zu vermeiden und sich in abgeschotteten katholischen oder jüdischen Welten von der russischen Herrschaft fern zu halten, wieder andere attackierten imperiale Würdenträger mit Bombe und Pistole. Dieses Kapitel widmet sich der ersten Gruppe und fragt nach jenen gewichtigen Akteuren, die bewusst die durchaus spannungsvolle, aber gewaltfreie Interaktion mit den zarischen Beamten suchten. Es sind die Kreise in der Warschauer Gesellschaft zu identifizieren, die das Gespräch mit der staatlichen Administration aufnahmen, und es ist nach den Formen des Dialogs sowie den Themen, um die sich diese Kommunikation verdichtete, zu fragen. Damit tritt die bürgerliche Gesellschaft in den Mittelpunkt

|| 1 Theodore R. Weeks: Fin-De-Siècle Warsaw.

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der Betrachtungen – jene der Warschauer Honoratioren, die, wenn auch oft mit aristokratischen Wurzeln, das Stadtbürgertum an der Weichsel konstituierten. Sie waren zur Zusammenarbeit mit den lokalen Repräsentanten der Petersburger Herrschaft bereit und fanden zumindest phasenweise oder partiell Gehör bei den zarischen Beamten. Ihre Bemühungen zur Kontaktaufnahme unterstreichen ein weiteres Mal den heterogenen Charakter der Staatsbürokratie. Anhand dieses Austausches lässt sich zugleich demonstrieren, wie sehr die zarischen Beamten in beständiger Kommunikation und Begegnung mit der polnischen Gesellschaft standen – wenngleich diese Kommunikation nicht unbedingt gegenseitiges Einvernehmen bedeutete, sondern oft genug konfliktreich verlief. Nach den entmutigenden Erfahrungen der gescheiterten Aufstände, der brutalen russischen Repression der Folgejahre und der nach 1864 fest etablierten administrativen Allmacht zarischer Beamter setzte sich in Teilen der polnischen Gesellschaft die Einsicht durch, dass eine Kooperation mit den imperialen Behörden unabdingbar sowohl für die lokalen Belange als auch für die polnischen Interessen war. Vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts machte man sich auf die Suche nach Ansprechpartnern in der übermächtigen Bürokratie. Es waren einerseits die Anhänger einer Bewegung, die auf den „Ausgleich“ (ugoda) mit der russischen Herrschaft und vor allem mit der Person des Herrschers ausgerichtet war, andererseits die Vertreter des sogenannten „Warschauer Positivismus“, die die Kommunikation mit den zarischen Amtsinhabern besonders forcierten. Diese Strömungen der polnischen Gesellschaft seien daher im Folgenden porträtiert. Die Ugoda-Verfechter entstammten einem konservativ-aristokratischen Milieu von Grundbesitzern und standen, ohne dies zu explizit zu machen, in der Tradition von Aleksander Wielopolskis politischem Konzept eines Wandels der Verhältnisse in Polen, der nur in enger Anlehnung an Russland erfolgen könne.2 Die Ugodowcy, die sich 1882 zu einer eigenständigen politischen Gruppierung formierten und 1905 in der Partei der Realpolitik (Stronnictwo Polityki Realnej) aufgingen, betonten die Loyalität gegenüber dem Monarchen als Grundlage ihres Handelns.3 Da die schärferen Zensurbestimmungen in Warschau den öffentlichen Debatten um die eigene Programmatik enge Grenzen setzten, entwickelte sich in Petersburg das eigentliche Pressezentrum der Bewegung. Die an

|| 2 Siehe beispielsweise Russkaja imperija. Pol’skij vzgljad na russkie gosudarstvennye voprosy, Berlin 1882, S. 11–15. 3 APW, t.24 (WWO), sygn.261, kart.1–32 [Bericht des Gehilfen des WGG Utgof zur politischen Stimmung im Königreich Polen, 1913]. Vgl. auch Stronnictwo Polityki Realnej i jego myśli przewodnie, Warschau 1906.

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der Newa erscheinende, polnischsprachige Zeitschrift Kraj wurde zum Zentralorgan der Ausgleich-Vertreter im Russischen Reich, wurde aber auch im Königreich breit rezipiert.4 Hier waren so einflussreiche Ugoda-Anhänger wie der Chefredakteur Erazm Piltz oder der Herausgeber und Jurist Włodzimierz Spasowicz tätig.5 Wenngleich die Ugodowcy als politische Organisation schwach blieben, so formulierten sie doch einige programmatische Grundannahmen, die, wie beispielsweise die antideutsche Ausrichtung, die polnische Ideengeschichte stark beeinflussten.6 Die zarischen Behörden, deren Kontakt die „Ausgleichler“ suchten, waren sich der relativen Isoliertheit der Gruppierung in der polnischen Gesellschaft im Übrigen sehr bewusst.7 Dennoch stellte der UgodaKreis einen wichtigen Ansprechpartner für die imperiale Administration dar, da sie hier zumindest auf grundsätzliche, wenn auch keinesfalls bedingungslose Gesprächsbereitschaft stieß.8 Gleiches galt für die Vertreter jener gesellschaftlichen Strömung, die unter der Bezeichnung „Warschauer Positivismus“ Karriere gemacht hat. Diese polnische Adaption des Positivismus bildete eine ausgesprochen einflussreiche Bewegung innerhalb der polnischen Gesellschaft in den 1880–90er Jahren, die oft als die „Ära des Positivismus“ bezeichnet werden.9 Von Auguste Comte beeinflusst, entwickelten die Warschauer Positivisten einen gesellschaftspolitischen Pragmatismus, der bewusst mit dem Pathos der romantischen Aufstandsperiode brach.10 Nicht die Forderungen nach Unabhängigkeit und Wiedervereinigung Polens, sondern höchstens nach einer ausgeweiteten Autonomie und partiellen || 4 Siehe Peter Salden: Puškin und Polen 1899: Die Petersburger Feier der polnischen Zeitung „Kraj“ zu Puškins 100. Geburtstag, in: Zeitschrift für Slawistik, 53/3 (2008), S. 281–304; ebenso auch Malte Rolf: Tsarist censorship. 5 Erazm I. Pil’c: Povorotnyj moment v russko-pol’skich otnošenijach, St. Petersburg 1897; Vladimir D. Spasovič/Erazm I. Pil’c: Očerednye voprosy v Carstve pol’skom, Bd. 1, St. Petersburg 1902. 6 Vgl. Erazm I. Pil’c: Prussija i Poljaki, St. Petersburg 1891. 7 APW, t.24 (WWO), sygn.263, kart.1–6 [Bericht über gesellschaftliche und politische Entwicklungen in Warschau, 1.12.1913–1.1.1914, 14.1.1914]; APW, t.24 (WWO), sygn.261, kart.9–11 [Bericht des Gehilfen des WGG Utgof, 1913]. 8 GARF, f.215, op.1, d.916, ll.38–39 [Telegramm des Ministers des Kaiserlichen Hofs Frederiks an den WGG Imeretinskij, 28.6.1897]. 9 Vgl. z. B. Stanislaus A. Blejwas: Warsaw Positivism – Patriotism Misunderstood, in: The Polish Review, 27/1–2 (1982), S. 47–54; Denis Sdvižkov: Das Zeitalter der Intelligenz, S. 120–123; Tadeusz Stegner: Polskie partie liberalne na mapie politycznej Królestwa Polskiego na początku XX wieku, in: Roman Benedykciuk/et al. (Hrsg.): Tradycje liberalne w Polsce. Sympozjum historyczne, Warschau 2004, S. 49–67. 10 Vgl. Alix Landgrebe: Nationalbewusstsein; Bronislaw Swiderski: Myth and Scholarship. University Students and Political Development in XIX Century Poland, Kopenhagen 1987.

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Selbstverwaltung standen auf der Agenda der Positivisten.11 Das von ihnen propagierte Konzept der „organischen Arbeit“ versprach, mit einer „Arbeit an den Grundlagen“ in den Bereichen der Ökonomie, Bildung und Wissenschaft das Überleben einer Nation ohne Staat sicherstellen zu können.12 In ihrem erklärten anti-aristokratischen Habitus unterschieden sie sich deutlich von den konservativen (hoch-)adligen Vertretern der Ugoda-Konzeption. Wenngleich es punktuell programmatische und auch realpolitische Überschneidungen zwischen beiden Lagern gab, existierten dennoch grundlegende Differenzen.13 Denn die Positivisten propagierten eindeutig den „Fortschritt“ im Sinn einer ebenso technisch-industriellen wie sozial-kulturellen Modernisierung des Landes, der Städte und der Bevölkerung. Hier stand die Entwicklung von Bildung, Wissenschaft und Wirtschaft im Vordergrund und wurde zur patriotischen Tat überhöht. Die Eliten entdeckten „das Volk“, das sie durch zahlreiche Bildungsinitiativen aufzuklären versuchten. Das angestrebte Ziel war, aus Bauern Polen zu machen. Auch Bildung war eben ein patriotischer Akt, da es um die Stiftung eines Nationalbewusstseins bei der breiten Masse der Bevölkerung ging.14 Die Verklärung von „organischer Arbeit“ verknüpfte sich zudem mit Vorstellungen von Modernität und Nation, die stark von einem technischwissenschaftlichen Diskurs geprägt waren. Eine solche Erneuerung versprach, die polnische Nation auf eine moderne und damit auch ohne eigenen Staat lebensfähige Grundlage zu stellen. Es gab zahlreiche einflussreiche Vertreter eines solchen positivistischen Pragmatismus, die sich in politischen, öffentlichkeitsbildenden oder kulturellen Sphären engagierten. Viele von ihnen hatten an der Warschauer Hauptschule studiert, die sich in der kurzen Zeit ihrer Existenz zu einer Kaderschmiede des Positivismus entwickelt hatte.15 Allen voran sind hier der Anwalt, Rechtswissenschaftler und Publizist Adolf Suligowski sowie der Schriftsteller, Historiker und Chefredakteur der Wochenschrift Prawda Aleksander Świętochowski zu nen-

|| 11 Političeskie itogi. Russkaja politika v Pol’še. Očerk Varšavskogo publicista, anonym publiziert, Leipzig 1896, S. 33–41. 12 Vgl. Piotr S. Wandycz: Partitioned Poland, S. 260–272. 13 Vgl. Andrzej Jaszczuk: Spór pozytywistów z konserwatystami o przyszłość Polski 1870–1903, Warschau 1986. 14 Siehe dazu Brian A. Porter: Nationalism, S. 104–128; Jan Piskurewicz/Leszek Zasztowt: The Warsaw Scientific Society, in: Annals of the Warsaw Scientific Society, XLIX (1986), S. 25–71. 15 Die Warschauer Hauptschule bestand von 1862 bis 1869. Siehe I. P. Ščelkov: Očerk istorii vysšich učebnych zavedenii v Varšave do otkrytija Imperatorskogo Varšavskogo Universiteta, in: Varšavskie universitetskie izvestija, Nr. 9 (1893), S. 33–63.

10.1 Positivisten und Philanthropen | 231

nen.16 Es war dieses Milieu der Rechtsanwälte, Publizisten, Schriftsteller und Wissenschaftler, das sich für positivistische Positionen stark machte und solche schreib- und tatkräftigen Persönlichkeiten wie Bolesław Prus, Henryk Sienkiewicz oder Jan Baudouin de Courtenay umfasste.17 Gerade Bolesław Prus’ journalistische Beiträge in Presseorganen wie dem Kurier Warszawski oder Nowiny wurden von den Zeitgenossen als richtungsweisende positivistische Pamphlete gelesen.18 Sie alle strebten eine kulturelle, wissenschaftliche und ökonomische Entwicklung des Königreichs unter politisch-pragmatischen Vorzeichen an. Der rapide städtische Wandel Warschaus in Form der „Wohnungsfrage“ und des sozialen, moralischen und hygienischen Elends städtischer Unterschichten markierte ein zentrales Themenfeld der positivistischen Agenda.19 Hier tat sich besonders Adolf Suligowski hervor, der schon 1889 in einer Denkschrift auf die Brisanz der Wohnungsfrage verwiesen und die Knappheit an Wohnraum mit den miserablen hygienischen Zuständen, den hohen Sterblichkeitsziffern sowie der latenten Seuchengefahr verknüpft hatte.20 Wie sich hier andeutet, war auch in Warschau die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Hochzeit der Hygienebewegung ebenso wie der Medikalisierung allgemein-gesellschaftlicher Diskurse.21 Die sich formierende positivistisch beeinflusste Bürgergesellschaft fand in der lokalen Hygienegesellschaft eine der zentralen Institutionen ihrer Selbstorganisation. Die Warschauer Hygienegesellschaft (Warszawskie Towarzystwa Higieniczne) verfügte mit der Zeitschrift Zrodwie über ein eigenes Presseorgan und nahm in zahlreichen Publikationen regen Anteil an den Debatten um Probleme || 16 Siehe Aleksander Świętochowski: Wspomnenia, Wrocław 1966. Zu Świętochowski siehe Tadeusz Stegner: Przyczynek do ewolucji ideowo-politycznej Aleksandra Świętochowskiego, in: Dzieje Najnowsze, 17 (1985), S. 27–40. 17 Jan Ignacy Niecislaw Baudouin de Courtenay war ein russlandweit bekannter streitbarer Akademiker. Vgl. z. B. Ivan A. Boduen-de-Kurtene: Proekt osnovnych položenii dlja rešenija pol’skogo voprosa, St. Petersburg 1906. Zu de Courtenay vgl. Joachim Mugdan: Jan Baudouin de Courtenay (1845–1929). Leben und Werk, München 1984; sowie demnächst Theodore R. Weeks: Jan Baudouin de Courtenay: The Linguist as Anti-Nationalist and Imperial Citizen, in: Tim Buchen/Malte Rolf (Hrsg.): Imperiale Biographien: Lebensläufe, Karrieremuster und Selbstbilder der Reichseliten in der Romanow- und der Habsburger Monarchie, Berlin 2015. 18 Vgl. Bolesław Prus: Kroniki: wybór, Warschau 1987. 19 Vgl. Ute Caumanns: Mietskasernen und „Gläserne Häuser“: Soziales Wohnen in Warschau zwischen Philanthropie und Genossenschaft 1900–1939, in: Alena Janatková/Hanna KozińskaWitt (Hrsg.): Wohnen in der Großstadt 1900–1939. Wohnsituation und Modernisierung im europäischen Vergleich, Stuttgart 2006, S. 205–224, S. 205–208. 20 Siehe Adolf Suligowski: Kwestya Mieszkań, Warschau 1889; Adolf Suligowski: Kwestje miejskie, in: Adolf Suligowski: Pisma, Bd. 2, Warschau 1916. 21 Vgl. Doklad o Varšavskoj gigieničeskoj vystavke, Warschau 1901.

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des rapiden Städtewachstums, die Gestaltung hygienischer Lebens- und Wohnbedingungen und die neuen Prinzipien der Körperpflege.22 Mit zwei großen Ausstellungen von 1887 und 1896 wurde Warschau zum Vorreiter der Hygienebewegung im Russischen Reich. Die überaus erfolgreichen Veranstaltungen fanden im Ujazdowski Park und damit an einem symbolischen Ort der Stadtassanierung statt. Den Angaben der Organisatoren zufolge besuchten die Hygieneausstellung von 1887 bis zu 100.000 Menschen; die von 1896 konnte sogar 140.000 zahlende Gäste und zusätzlich 100.000 nichtzahlende Besucher aufweisen.23 All diese Aktivitäten einer sich formierenden und artikulierenden Bürgergesellschaft waren jedoch nur in den Freiräumen möglich, die die zarische Administration gewährte. Wollte man nicht den Weg in die Illegalität beschreiten, war man an die rechtlichen Rahmenbedingungen von Vereinsanmeldungen und Veranstaltungsgenehmigungen gebunden. Die beständige Kontaktaufnahme zu den entscheidungsbefugten Instanzen der zarischen Verwaltung gehörte damit zur alltäglichen Routine einer gesellschaftlichen Selbstorganisation. Daher kam es in den Hochzeiten der Ausgleichs-Fraktion und des Positivismus im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem erstaunlich regen Austausch zwischen Ugodowcy sowie Positivisten einerseits und den Staatsbeamten an der Weichsel andererseits – wenngleich zum Teil sehr unterschiedliche Berührungspunkte bestanden und auch verschiedene Deutungen aufeinander trafen. Die Kommunikation zwischen dem russischen Generalgouverneur und den Aktivisten der Ugoda- oder der positivistischen Bewegung verlief auch in Fragen der städtischen Verwaltung keinesfalls konfliktlos. Das hing damit zusammen, dass selbst konkrete Aspekte der Administration Warschaus und soziale Probleme im städtischen Raum schnell mit den „großen Fragen“ wie der Stellung Polens im Imperium oder der gesellschaftlichen Partizipation bei staatlichen Amtsgeschäften verknüpft wurden. Insgesamt zeichnet sich hier eine sehr wechselhafte Geschichte von Kooperation und Konflikt ab, bei der beides oft dicht beieinander lag. Immer wieder scheinen die Grenzen der Zusammenarbeit zwischen imperialen Amtsträgern und Repräsentanten der polnischen Gesellschaft auf. Das gilt besonders für die frühen Jahre nach dem niedergeschlagenen polnischen Aufstand von 1863. Unter dem Vizekönig Fedor Berg und dem Generalgouverneur Pavel Kocebu herrschte eine strikte Trennung zwischen den Petersburger Sie|| 22 AGAD, KGGW, sygn.284, kart.1–5 [Korrespondenz des Innenministeriums mit dem Warschauer Generalgouverneur, 1904]. 23 Otčet o Varšavskoj gigieničeskoj vystavke, Warschau 1901; Aleksandr I. Skidnevskij: Vtoraja Varšavskaja gigieničnaja vystavka, Warschau 1896. Vgl. zu den Hygieneausstellungen auch Ute Caumanns: Modernisierung, S. 374–380.

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gern und den Warschauer Besiegten, die wenig Kommunikation über die Gräben hinweg erlaubte.24 Größere Entspannung und Gesprächsbereitschaft stellten sich erst unter dem liberalen Generalgouverneur Petr Al’bedinskij ein, der vor allem bei seinen Reformbemühungen im Bereich der städtischen Selbstverwaltung große Unterstützung auf polnischer Seite fand.25 Dagegen machte Gurko, der von 1883 bis 1894 den Generalgouverneursposten innehatte, keinen Hehl aus seiner Verachtung auch jenes Teils der polnischen Gesellschaft, der zur Kooperation mit den imperialen Institutionen grundsätzlich bereit war.26 Die von Gurko bestimmte Dekade gilt zu Recht als eine der schwierigsten Phasen der russisch-polnischen Beziehungen zwischen 1864 und 1914 auf dieser höchsten Verwaltungsebene im Königreich.27 Dass die 1880er Jahre dennoch eine Hochphase des Warschauer Positivismus waren, verweist auf die Stärke dieser Bewegung, die auch unter den Bedingungen des Gurko’schen Diktats grundsätzlich die Notwendigkeit der Kommunikation mit der imperialen Bürokratie anerkannte. Bei dieser Einsicht handelte es sich keinesfalls um eine Kapitulation vor den Russen, wie es den Positivisten ihre zeitgenössischen Gegner vorwarfen, sondern um eine durchaus selbstbewusste Formulierung eigener Positionen, die unter gewissen Bedingungen eine Zusammenarbeit mit den amtlichen Stellen erlaubten. Und es ist dann auch nicht zufällig, dass sich die Kommunikation auf der Ebene der Stadtverwaltung besonders intensiv gestaltete, da sich der Magistrat dieser Jahre unter der Leitung von Sokrat Starynkevič offen dafür zeigte, die polnische Partizipation an gewissen Entscheidungen von städtischem Belang zu akzeptieren.28 Aber auch nach der Abberufung Gurkos blieb die Kommunikation zwischen zarischen Beamten und Vertretern lokaler Belange prekär. So unterband Imeretinskij mehrfach die öffentlichen Auftritte so einflussreicher polnischer Protagonisten wie Adolf Suligowski, Aleksander Świętochowski oder Marquis Zygmunt Wielopolski, weil diese in ihren Ansprachen oder Vorträgen die „polnische Eigenart“ zu sehr betont hätten und damit die Differenz zwischen dem Königreich und dem Imperium hätten unterstreichen wollen.29 Wann immer dieser brisante

|| 24 Dazu Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy, v. a. S. 173–182. 25 GARF, f.215, op.1, d.76, ll.33ob–36 und ll.72–75ob [Bericht des WGG Al’bedinskij an Alexander II., 27.12.1880]. 26 AGAD, KGGW, sygn.1773, kart.25 [Bericht des WGG Gurko, 1884]. 27 Vgl. Aleksander Kraushar [Alkar]: Czasy szkolne za Apukhtina: kartka z pamiętnika (1879– 1897), Warschau 1915. 28 Vgl. auch Anna Słoniowa: Starynkiewicz, S. 100–111. 29 GARF, f.215, op.1, d.277, ll.16–20 [Brief des WGG Imeretinskij an den Innenminister Goremykin, 31.7.1897].

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Topos berührt schien, war es mit der Toleranz der Generalgouverneure vorbei. So eskalierte auch 1908 noch eine Feier zu Ehren der vierzigjährigen Tätigkeit des Gelehrten, Poeten, Publizisten und bekennenden Positivisten Aleksander Świętochowski, als die Organisatoren durch die Einladung von Bauerndelegierten die Einheit des polnischen Volkes und seine besonderen nationalen Eigenarten zu zelebrieren schienen. Der Generalgouverneur sprach unter Verweis auf die geplante Manifestation „polnischer Andersartigkeit“ ein generelles Verbot der Feiern aus.30 Die Toleranzgrenzen der Generalgouverneure gegenüber den Aktivitäten einer positivistischen Bewegung waren eng gezogen. Dies hing einerseits mit der konkreten politischen Konstellation und den jeweiligen strittigen Fragen zusammen. Aber hinter den Zerwürfnissen im polnisch-russischen Gespräch standen weit tiefer gehende Gründe als ein brisantes Thema, das eine einzelne Ansprache zu berühren drohte. Grundsätzlich sprengten etliche der Modernisierungsprojekte, die die polnischen Positivisten gerade auch mit Blick auf die Stadtverwaltung artikulierten, den Handlungsrahmen der Staatsbeamten. Denn bei aller Entwicklungsrhetorik war das Hauptaugenmerk des Generalgouverneurs doch darauf gerichtet, die öffentliche Ruhe und Ordnung, den inneren Frieden und damit den status quo zu wahren.31 Radikale Modernisierungskonzepte bedrohten dagegen die bestehende gesellschaftliche Balance. So stellte beispielsweise die breitere gesellschaftliche Beteiligung an Entscheidungsprozessen, wie sie von den Positivisten eingefordert wurde, die tradierten und weiterhin starren Standesgrenzen des Russischen Reichs in Frage. Auch verlangten positivistische Forderungen wie beispielsweise die aktive „Lösung“ der „Wohnungsfrage“ durch staatliche Institutionen eine ganz andere Form der Staatsräson, als es der Vorstellung und dem Selbstverständnis der zarischen Beamten entsprochen hätte.32 Allen solchen Gesprächsbarrieren zum Trotz bestanden aber doch immer wieder Phasen oder Situationen, in denen die imperialen Amtsträger dem Engagement der polnischen Bürgergesellschaft nicht den Weg versperrten. Gelegentlich kam es auch zu Momenten, in denen die ungleichen Partner dieser Konfliktund Interaktionsgemeinschaft intensiv und produktiv zusammenarbeiteten. || 30 AGAD, KGGW, sygn.949, kart.35 [Brief des WOPM an den WGG, 25.9.1908]; AGAD, KGGW, sygn.949, kart.42–43 [Kanzlei des WGG an das Innenministerium, 5.10.1908]. 31 Vgl. z. B. GARF, f.215, op.1, d.89, l.7ob [Brief des WGG Imeretinskij an den Bildungsminister Deljanov, 18.9.1897]. 32 Vladimir D. Spasovič/Erazm I. Pil’c: Očerednye voprosy v Carstve pol’skom, Bd. 1, St. Petersburg 1902, S. 1–31. Vgl. auch Anna Veronika Wendland: Stadthygienische Interventionen, S. 271–273.

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Abb. 22: Einweihung des Adam-Mickiewicz-Denkmals. Photographie von Stanisław Bogacki (24. Dezember 1898)

Beispiele für den Entfaltungsraum stadtbürgerlicher Initiativen gibt es zahlreiche. Die von polnischen Honoratioren initiierte und vom Generalgouverneur geduldete Errichtung eines pompösen Adam-Mickiewicz-Denkmals ist hier sicherlich das bekannteste. Die 1897–98 gebaute und eingeweihte Statue fand ihren prominenten Platz direkt am Krakowskie Przedmieście und damit einen Steinwurf von den Residenzen des Warschauer Gouverneurs und des Generalgouverneurs entfernt.33 Als nach der Jahrhundertwende ein erstes Chopin-Denkmal im UjazdowskiPark errichtet wurde, ging eine derartige, vom Generalgouverneur gewährte Entfaltungsmöglichkeit polnischer Denkmalskultur einigen Vertretern der russischen Gesellschaft deutlich zu weit. In einem Beschwerdebrief an den Innenminister beklagten diese, dass die polnische Gesellschaft ihr „nationales Ansin-

|| 33 APW, t.151, cz.3 (KGW), sygn.543, kart.24–29v [Bericht des Leiters des Warschauer Uezd Brinken, 10.11.1897]. Siehe auch Zygmunt Wasilewski: Pomnik Mickiewicza w Warszawie 1897– 1898, Warschau 1899, S. 11–16.

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nen“ frei im öffentlichen Raum umsetzen könne und auf staatlichem Boden „ihr Denkmal an den polnischen nationalen Musiker Chopin“ errichten dürfe.34 Der Generalgouverneur zeigte sich jedoch von diesem Protest unbeeindruckt und die Denkmalseinweihung fand wie geplant statt. Auch andere Beispiele zeugen davon, dass polnische Bürgervertreter recht erfolgreich Projekte zur städtischen Kulturpflege, zum Bildungsausbau oder auch zu urbanen Sozial- und Hygienemaßnahmen anstoßen konnten, die von dem jeweiligen Generalgouverneur unterstützt oder zumindest nicht behindert wurden. Vor allem in den 1890er Jahren zeigten zahlreiche Initiativen begüterter und einflussreicher Warschauer ihre Wirkung. Es wurden Handelsschulen und mechanisch-technische Ausbildungsstätten eingerichtet, Museen der Industrie, der Landwirtschaft oder des Handwerks eröffnet, öffentliche Krankenhäuser und Bibliotheken gestiftet oder kostengünstige Volksbäder in Betrieb genommen. Oft waren diese Einrichtungen ausschließlich aus privaten Mitteln finanziert und belegen die erstaunliche Wirkungsmacht bürgerlicher Philanthropie.35 Gerade Bildungsinstitutionen standen im Mittelpunkt bürgerlichen Engagements. So waren bei der Gründung des Polytechnischen Instituts die Vertreter der Warschauer Bürgerschaft eine treibende Kraft. Kazimierz Obrębowicz, Direktor der Technischen Sektion der Warschauer Gesellschaft zur Förderung von Handel und Industrie, hatte die Einrichtung des Instituts initiiert und der Unternehmer und Bankier Stanisław Rotwand eine landesweite Spendenaktion, die insgesamt eine Summe von mehr als einer Million Rubel erbrachte, koordiniert.36 Auch nachdem die positive Entscheidung Petersburgs zur Einrichtung des Instituts vorlag, war es ganz wesentlich die Warschauer Bürgergesellschaft, die die schnelle Aufnahme des Lehrbetriebs ermöglichte, indem unter anderem der „König der polnischen Eisenbahn“, Jan Bloch, ein provisorisches Gebäude für die Bildungsstätte bereitstellte.37 Wie wichtig der Ausbau von Bildungseinrichtungen den polnischen Eliten war, wurde den zarischen Behörden überraschend klar, als sie im Zuge der Revolution die Zulassungspraxis von Schulgründungen vorübergehend liberali-

|| 34 AGAD, KGGW, sygn.7031, kart.38–39 [Innenministerium, Senator Makarov an den WGG Skalon, 13.6.1912]. 35 AGAD, KGGW, sygn.55, kart.1–1v [Brief Maria Cevlovskaja an das Warschauer Zensurkomitee, 8.9.1897]; GARF, f.215, op.1, d.94, ll.120–137 [Bericht der Ärztekommission der Kanzlei des WGG, 1897]. 36 GARF, f.215, op.1, d.277, ll.1–3ob [Brief des WGG Imeretinskij an den Marquis Zygmunt A. Wielopolski, 17.5.1897]. 37 AGAD, KGGW, sygn.6519, kart.2 [Schreiben des WGG an das Innenministerium, 25.1.1900].

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siert hatten. Die polnische Gesellschaft entfaltete hier schnell und effizient die Organisation eines eigenständigen und vielfältigen Netzes von Privatschulen und höheren Lernstätten. Nicht nur der bekannte, von den Nationaldemokraten dominierte Polnische Schulverein (Polska Macierz Szkolna), die von der sozialistischen Konkurrenz organisierte Universität für Alle (Uniwersytet dla Wszystkich) oder die parteipolitisch neutralere, bereits 1881 gegründete Józef-MianowskiStiftung (Kasa im. Józefa Mianowskiego) sind hier zu nennen, sondern es gab eine Vielzahl von weniger prominenten Einzelinitiativen für privaten Schulbetrieb in den Jahren nach 1905.38 Auch wenn viele dieser Bildungseinrichtungen durch Erlasse des Generalgouverneurs bald wieder geschlossen wurden, so ist doch nicht zu erkennen, dass die zarischen Behörden beabsichtigten, zu einer generellen Verbotspolitik zurückzukehren.39 Im Gegenteil, die vorübergehende Schließung von polnischen Mittelschulen wurde von den Amtsträgern selbst als „äußerste Maßnahme der administrativen Repression“ bezeichnet und mit Verweis auf den anhaltenden Boykott von Regierungsschulen und auf die sich häufenden gewalttätigen Übergriffe auf deren Zöglinge begründet.40 Als sich die polnische Presse öffentlich von diesen Gewaltakten distanzierte, reagierte der Generalgouverneur Skalon mit einer Wiedereröffnung von zuvor geschlossenen Schuleinrichtungen. Von einer grundsätzlichen Verhinderung dieses so zentralen Bereichs gesellschaftlichen Engagements durch den Generalgouverneur ist also keinesfalls zu sprechen.41 Aber auch in anderen Bereichen lässt sich eine derartige amtliche Duldungspolitik gegenüber lokalen Initiativen feststellen. So wurde gesellschaftliches Engagement zur Linderung der chronischen, sich seit den 1880er verschärfenden Wohnungsnot in Warschau unbehelligt toleriert. Der Generalgouverneur ermöglichte privat getragene Einzelprojekte, die der eigenständigen Initiative von philanthropisch aktiven Stadtbürgern geschuldet waren. So durfte der Unternehmer und Finanzier Stanisław Rotwand 1897 in mehreren von ihm erworbenen Häusern billige Wohnungen für Arbeiter zur Verfügung stellen und gleichzeitig kostenlose Kinderbetreuung sowie Bäder für arme Kinder einrichten.42 Derartige Versuche, die sich dramatisch verschlechternde Wohnsituation

|| 38 AGAD, KGGW, sygn.2940, kart.25 [Gesuch Maevskijs an den WGG, 21.4.1907]. 39 AGAD, KGGW, sygn.4391, kart.1–87 [Schriftverkehr des WGG zur Schließung der Universität für Alle, 1908–12]. 40 AGAD, KGGW, sygn.7739, kart.48–49 [Brief des WGG an den Kurator, 14.10.1908]. 41 Siehe die öffentliche Bekanntmachung Skalons in: Varšavskij dnevnik, Nr. 292 (21.10.1908), S. 2. AGAD, KGGW, sygn.7739, kart.65–65v [Brief Skalons an Stolypin, 21.10.1908]. 42 AGAD, KGGW, sygn.6519, kart.2–5 [Schreiben des WGG Imeretinskij an das Innenministerium, 25.1.1900].

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in der wachsenden Metropole zumindest geringfügig zu verbessern, gab es mehrere. Als einzige größere Wohnanlage konnte jedoch nur die Siedlung Wawelberg im Industrie- und Arbeiterbezirk Wola fertiggestellt werden.43 Die Wawelberg-Siedlung – finanziert durch das Bankiersehepaar Hipolit und Ludwika Wawelberg – bot einen bescheidenen Wohnkomfort für 330 Familien und wurde 1900 zum Bezug freigegeben.44 Dieses Projekt war eine Privatinitiative. So sehr sich die staatlichen Instanzen bei der Finanzierung zurückhielten, so sehr zeichneten sie sich doch dadurch aus, dass sie die benötigte administrative Genehmigung des Vorhabens umstandslos und schnell bereitstellten. Der Generalgouverneur Imeretinskij bekundete sogar öffentlich sein „persönliches Interesse“ an der Wawelberg-Siedlung und drückte damit die hochamtliche ideelle Unterstützung für diese philanthropische Initiative aus.45 Ein ganz ähnliches Muster lässt sich auch beim bürgerlich-karitativen Engagement im Bereich der Kranken-, Waisen- und Altenversorgung beobachten. Auch hier duldete beziehungsweise ermöglichte der Generalgouverneur die Räume, in denen sich die philanthropische Tätigkeit der Warschauer Gesellschaft entfalten konnte.46 Dabei ist die Bedeutung philanthropischer Investitions- und Handlungsbereitschaft für die Stadtentwicklung im langen 19. Jahrhundert allgemein in Europa gar nicht zu unterschätzen. Dies trifft ebenso auf Warschau zu. Angesichts der prekären Finanzlage der Magistratskassen kam ihr hier jedoch eine noch größere Relevanz zu. Der bürgerliche Anspruch, über Stiftungen und Spenden das urbane Leben eigenständig mitzugestalten, prägt die städtische Kulturlandschaft in der Weichselmetropole ebenso nachhaltig wie das architektonische Erscheinungsbild der Stadt. Und so gab es zahlreiche Gebäude in Warschau, die dieses bürgerliche Selbstverständnis, Schirmherr von städtischer und polnischer Hochkultur zugleich zu sein, eindrucksvoll repräsentierten. Die bekanntesten Beispiele sind hier sicherlich das imposante Ausstellungs- und Veranstaltungsgebäude der Zachęta am Sächsischen Platz und der Prachtbau der Warschauer Philharmonie. Die Gesellschaft der Schönen Künste in Warschau (Towarzystwo Zachęty Sztuk Pięknych w Warszawie) datierte noch aus der Zeit vor dem Januaraufstand. Die Notwendigkeit eines eigenen, größeren Gebäudes

|| 43 Zum Folgenden vgl. Ute Caumanns: Soziales Wohnen in Warschau, S. 208–212; Stephen D. Corrsin: Warsaw before the First World War, S. 48. 44 J. Szokalski: Institucja tanich mieszkań im. Hipolita i Ludwiki małż Wawelbergòw, Warschau 1904. 45 Siehe Ute Caumanns: Soziales Wohnen in Warschau, S. 209. 46 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.120–137 [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898]; AGAD, KGGW, sygn.7722, kart.9 [Schreiben des Stadtpräsidenten an den WGG, 13.10.1908].

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wurde den Vereinsträgern aber erst Ende des 19. Jahrhunderts bewusst. Pünktlich zur Jahrhundertwende wurde der in Warschau omnipräsente Architekt Stefan Szyller beauftragt, den Neubau mit Räumen für Ausstellungen und kulturelle Veranstaltungen zu entwerfen. Die im Stil der Neorenaissance gestaltete Zachęta wurde 1903 für den Kulturbetrieb eröffnet und entwickelte sich schnell zu einem der wichtigsten kulturellen Zentren der Metropole.47 Fast zeitgleich manifestierte das Warschauer Bürgertum mit der Eröffnung der „National“Philharmonie sein Selbst- und Sendungsbewusstsein als Träger der Hochkultur. Der Pianist und Komponist Ignacy Jan Paderewski sowie der Finanzier und Mäzen Leopold Kronenberg gingen bei der Gründung der als Aktiengesellschaft organisierten Philharmonie eine sehr erfolgreiche Symbiose aus Kunst und Kapital ein. Das repräsentative Konzerthaus für die Philharmonie wurde in den Jahren 1900–01 in der neuen eleganten Warschauer City fertiggestellt.48 Die Motive der Warschauer Bürgerschaft, sich im Feld der Philanthropie hervorzutun, waren vielfältig. Unter anderem handelte es sich im Königreich Polen um eine bürgerliche Rezeption des adlig-karitativen Habitus. Ganz zweifellos war dieses Engagement aber ebenso stark von der positivistischen Denktradition einer Arbeit an den Grundlagen der Gesellschaft beeinflusst. Philanthropie wurde in diesen Kreisen als patriotischer Akt verstanden und als solcher inszeniert.49 Das galt im Übrigen auch für den kleinen Kreis assimilierter Warschauer Juden. Warschauer Unternehmer- und Bankiersfamilien jüdischer Konfession wie die Blochs, Kronenbergs, Natansons oder Wawelbergs bemühten sich, mit besonderem Einsatz im Bereich der Wohlfahrt und der Wissenschaftspflege ihre polnisch-patriotische Haltung kundzutun und sich als selbstverständlicher Teil der Warschauer Bürgerschaft zu präsentieren. Es ging um die Demonstration eines Polnischseins mosaischen Glaubens, die an die kurze Phase katholisch-jüdischer Kooperation während des Januaraufstands von 1863–64 || 47 Vgl. Janina Wiercińska: Towarzystwo Zachęty Sztuk Pięknych w Warszawie: zarys działalności, Warschau 1968. Zachęta bedeutet auch „Ansporn“ und der fortgeführte Name der Institution hatte bewusst weitreichendere Implikationen als die reine Kunstförderung. 48 AGAD, KGGW, sygn.7381, kart.1 [Brief des Warschauer Gouverneurs an den WGG, 23.11.1907]. Vgl. auch Katarzyna Beylin: W Warszawie w latach 1900–1914, S. 7–36. 49 Vgl. Jörg Gebhard: Elitenbildung in multiethnischer Spannungslage. Die Unternehmer Lublins im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Jörg Gebhard/Rainer Lindner/Bianka PietrowEnnker (Hrsg.): Unternehmer im Russischen Reich. Sozialprofil, Symbolwelten, Integrationsstrategien im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Osnabrück 2006, S. 179–212, S. 206; Elżbieta Kaczyńska: Unternehmer als Wohltäter. Staat, Unternehmertum und Sozialpolitik im Königreich Polen 1815–1914, in: Jörg Gebhard/Rainer Lindner/Bianka Pietrow-Ennker (Hrsg.): Unternehmer im Russischen Reich. Sozialprofil, Symbolwelten, Integrationsstrategien im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Osnabrück 2006, S. 77–90.

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anknüpfte. Nun sollte das gemeinsame Engagement für die polnische Nation und Kultur mit den friedlichen Mitteln der Philanthropie fortgeführt werden.50 Diese öffentlichen Manifestationen jüdisch-patriotischer Gesinnung gewannen gerade auch um die Jahrhundertwende an Bedeutung, als politische Meinungsträger wie Roman Dmowski oder Feliks Koneczny lautstark einen konfessionell und ethnisch verengten polnischen Nationalismus propagierten, der Polnischsein mit Katholischsein gleichsetzte und immer stärker antisemitische Züge trug.51 Eine zunehmend antisemitische Orientierung war jedoch keinesfalls ein Monopol des diffusen Milieus der „Nationaldemokratie“. Vielmehr machte sich auch in Kreisen des polnischen Positivismus und Liberalismus Unmut gegen die scheinbare Assimilationsverweigerung eines großen Teils der jüdischen Bevölkerung breit. Auch liberale Publizisten wie Aleksander Świętochowski oder der Herausgeber der Zeitschrift Myśl Niepodległa Andrzej Niemojewski äußerten sich höchst abfällig gegenüber den in Polen lebenden Juden und sahen allein in der Assimilation die Grundlage für die Gewährung gleicher Rechte.52 Jüdisch-philanthropisches Handeln leistete diesen aggressiven Monopolansprüchen auf die Definition, was polnisch und patriotisch sei, Gegenwehr und war sichtbarer Ausdruck eines konfessionell offenen Verständnisses von Nation und Nationalität. Nicht zuletzt verband sich damit die Hoffnung, sich einen Platz in der Mitte der „guten Gesellschaft“ im Königreich Polen zu erkämpfen. Philanthropische Projekte wie die Wawelberg-Siedlung waren immer auch ein Versuch, jüdische Ansprüche auf Zugehörigkeit zur Stadtgemeinschaft zu artikulieren. Es sollten die engen Grenzen des isolierten jüdischen Siedlungsquartiers um die Nalewki-Straße überwunden und auf die urbane Allgegenwart eines großen jüdischen Bevölkerungsanteils verwiesen werden.53

|| 50 Brian A. Porter: Nationalism, S. 37–42; ebenso Antony Polonsky: Warsaw, in: YIVO Institute for Jewish Research (Hrsg.): The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, Yale 1986. 51 Vgl. Pascal Trees: Wahlen im Weichselland. Die Nationaldemokraten in Russisch-Polen und die Dumawahlen 1905–1912, Stuttgart 2007, v. a. S. 81–83; Theodore R. Weeks: From Assimilation to Antisemitism, S. 111–116 und S. 163–165. 52 Vgl. Maciej Moszynski: Niemojewski, Andrzej, in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2: Personen, München 2009. Vgl. auch Adolf Suligowski: Projekt przyszłego samorządu miejskiego, Warschau 1911, v. a. S. 12–16. 53 Vgl. auch Bernard Singer: Moje Nalewki, Warschau 1993. 1882 machten Juden 33,4 % der Warschauer Einwohnerschaft aus, 1897 waren es 33,7 % und 1914 38,1 %. Vgl. Bronislaw Bloch: Urban Ecology of the Jewish Population of Warsaw, 1897–1939, in: Papers in Jewish Demography (1981), S. 381–399.

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Die zarische Bürokratie war auf der anderen Seite immer mehr bereit, derartige philanthropisch-motivierte Investitionen zuzulassen. Und sie erwiesen sich in ihrer Duldungspolitik als erstaunlich neutral gegenüber dem konfessionellen Ursprung solcher Initiativen. Die erhöhte Toleranz der Administration war darin begründet, dass sich die Staatsmacht seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vor die zunehmend schwieriger werdende Aufgabe gestellt sah, den wachsenden urbanen Moloch Warschau zu regieren. Sie musste die sozialen und hygienischen Zustände auf erträglichem Niveau halten und war selbst in ihren Handlungsspielräumen durch knappe Budgets stark eingeschränkt. Die zarischen Behördenleiter ermöglichten hier eine direkte Beteiligung der Warschauer Gesellschaft an den Arbeiten der einberufenen Sonderkommissionen ebenso wie bei der Umsetzung der Beschlüsse. So wurden in die Ad-hocKommission, die sich 1907–08 mit dem Problem der Schneeabfuhr befassen sollte, drei Vertreter der Warschauer Hygienegesellschaft, mehrere Abgeordnete der Technikervereinigung, Repräsentanten der Warschauer Kreditgesellschaft und Adolf Suligowski als Abgesandter der Warschauer Gesellschaft der Hausbesitzer berufen. Von den insgesamt 33 Personen, die in der Kommissionsarbeit tätig waren, wurden nur 13 von den staatlichen Behörden gestellt.54 Gleiches galt für jene noch 1908 geschaffene ständige Magistratskommission, die die Säuberung von öffentlichen Räumen zu koordinieren und deren Durchführung zu beaufsichtigen hatte. Die Abgesandten von Vereinen sowie Berufs- und Interessenverbänden stellten mit 13 von 25 Mitgliedern auch hier die Mehrheit.55 Dass eine derart langfristige Einbindung gesellschaftlicher Kräfte in die bürokratischen Strukturen möglich war, erklärt sich auch in diesem Fall zumindest partiell aus der finanziellen Misere des städtischen Budgets.56 Deutlicher noch wird das Zusammenspiel von Krisensituation, knappen Finanzen des Magistrats und Partizipation von Gesellschaft im Falle der AntiCholera-Maßnahmen, die beim Auftreten der Seuche im Russischen Reich in regelmäßigen Abständen auch in Warschau notwendig wurden. Grundsätzlich stellte sich hier das Problem, dass die aufwändigen präventiven Vorkehrungen viel Geld kosteten. Immer wieder beklagten die Finanzverwaltungen der Kommunen die finanzielle Bürde, die die Einrichtung von Seuchenbaracken, Quarantänestationen in Krankenhäusern oder an Bahnhöfen sowie von Labors für bakteriologische Untersuchungen, aber auch der Erwerb von mobilen Desinfi-

|| 54 AGAD, KGGW, sygn.5820, kart.47–55 [Kommissionsbericht des Sonderbeauftragten G. Gjunter, 1.12.1907]. 55 AGAD, KGGW, sygn.5820, kart.54. 56 AGAD, KGGW, sygn.5820, kart.22–23 [Brief des Stadtpräsidenten an den WGG, 5.2.1907].

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zierungsvorrichtungen und die Bezahlung der zusätzlich beschäftigten Ärzte und Feldschere für die Budgets der jeweiligen Magistrate und Institutionen bedeutete.57 Angesichts der begrenzten Mittel, die den staatlichen und städtischen Behörden zur Verfügung standen, war die imperiale Bürokratie zwingend auf die Kooperation mit Teilen der städtischen Gesellschaft angewiesen. Und so wurden beispielsweise Freiwillige gesucht, die sich für die anfallenden Arbeiten zur Verfügung stellten. Studierende der Medizin, die sich für einen Einsatz bei den Anti-Cholera-Maßnahmen in Warschau oder in stärker von der Seuche betroffenen innerrussischen Gebieten meldeten, wurden vom Studium freigestellt. Sie durften Prüfungen nachholen und erhielten eine Aufwandsentschädigung für ihr freiwilliges Engagement.58 Selbst in Zeiten des politisch motivierten Ausnahmezustands waren diese Formen der gesellschaftlichen Partizipation erwünscht. 1908 und damit nur zwei kurze Jahre nach der Gewaltexplosion der Revolution stand wieder eine Choleraepidemie vor den Toren Warschaus. Aus St. Petersburg wurden bereits im August etliche Tote gemeldet, am 12. September gab es den ersten Todesfall in Warschau.59 Die finanzielle Notlage der städtischen Kassen war jedoch, auch in Folge der Revolution, dramatisch: Der Stadtpräsident hatte noch im August an den Generalgouverneur geschrieben, dass derzeit keine weiteren Mittel für seuchenvorbeugende Maßnahmen zur Verfügung ständen.60 In dieser prekären Situation erarbeitete das vom Generalgouverneur eingesetzte Komitee zur Cholerabekämpfung das Projekt der „Sanitären Pflegschaft“ (sanitarnoe popečitel’stvo). Die Mitglieder dieses Ausschusses sollten von der Warschauer Hygienegesellschaft vorgeschlagen werden. Die Aufgaben der sogenannten „Sanitärkuratoren“ (sanitarnye popečiteli) umfassten die hygienische Kontrolle der Stadtbezirke und damit die Überwachung von öffentlichen Räumen, Schulen, Fabriken und anderen gesellschaftlichen Einrichtungen. Sie sollten potentielle Gefahrenquellen identifizieren und bei der Stadtbevölkerung Überzeugungsarbeit für hygienische Verhaltensweisen und Körperpflege leisten. Darüber hinaus war aber auch vor-

|| 57 AGAD, KGGW, sygn.6486, kart.1–2 [Schreiben des Gouverneurs von Płock an den WGG, 25.8.1896]; APW, t.25, sygn.125, kart.16 [Schreiben des Bildungsministeriums an den Kurator des Warschauer Lehrbezirks, 10.7.1892]. 58 APW, t.25, sygn.125, kart.24 und kart.25 [Brief des WOPM an den Rektor der Kaiserlichen Universität, 28.7.1892]; kart.78 [Brief des Kurators des Warschauer Lehrbezirks an den Rektor der Kaiserlichen Universität, 6.4.1893]. 59 AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.35–40v [Brief des WOPM an den WGG, 12.9.1908]. 60 AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.14–14v [Brief des Stadtpräsidenten an die Kanzlei des WGG, 23.8.1908].

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gesehen, dass sich die Kuratoren an polizeilichen Kontrollmaßnahmen beteiligen würden. Damit sah das Partizipationsangebot an die Gesellschaft vor, die Akteure als Hilfspolizisten an die staatlichen Strukturen anzugliedern und so an einem hoch sensiblen Bereich staatlicher Autorität zumindest symbolisch teilhaben zu lassen.61 Zudem war der Generalgouverneur in diesem Krisenmoment auch bereit, die für imperiale Amtsträger üblichen Berührungsängste zur katholischen Kirche zu überwinden. So kontaktierte der Vorsitzende des Komitees zur Cholerabekämpfung mit Billigung des Generalgouverneurs Georgij Skalon die Geistlichen aller Religionsgemeinschaften in Warschau und eben auch den katholischen Klerus. Die geistlichen Würdenträger sollten alle Verdachtsfälle von Choleraerkrankungen umgehend den Behörden melden. Sie wurden zudem beauftragt, die Hygienehinweise in ihren Gemeinden zu popularisieren.62 Nicht unähnlich den Hamburger Stadtautoritäten, die bewusst die ansonsten verpönte Sozialdemokratie zur raschen und breitenwirksamen Kommunikation von seuchenvorbeugenden Maßnahmen instrumentalisierten, zeigten sich nun auch die zarischen Behörden bereit, die funktionierenden Parallelstrukturen der städtischen Gesellschaft zu nutzen.63 Knappe Kassen und eine drohende Seuche verhalfen damit dem Warschauer Generalgouverneur zur Einsicht, dass eine Einbindung der kirchlichen Netzwerke und der Warschauer Bevölkerung unvermeidlich war. Dass die Kommunikation zwischen Ugoda-Vertretern, Positivisten und philanthropisch engagierten Stadtbürgern unterschiedlicher Konfession einerseits und dem Generalgouverneur andererseits zumindest in Teilen funktionierte, hatte noch andere Gründe. Zweifellos spielte bei den Ugoda-Repräsentanten die adlige Standessolidarität eine Rolle. Denn der Generalgouverneur und einige der herausragenden Vertreter – wie der Marquis Wielopolski – waren durch ihre hochadlige Herkunft dem Stand nach verbunden. Gemeinsam war ihnen darüber hinaus das Interesse an öffentlicher Ordnung und Stabilität. Aber auch den Positivisten erschien eine allgemeine Stabilität als Bedingung wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritts. Philanthropisches Enga-

|| 61 AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.74 [Brief des Vorsitzenden des Komitees an den WGG, 510.1908]. Vgl. dazu ausführlicher Malte Rolf: Kooperation im Konflikt? Die zarische Verwaltung im Königreich Polen zwischen Staatsausbau und gesellschaftlicher Aktivierung (1863– 1914), in: Jörg Ganzenmüller/Tatjana Tönsmeyer (Hrsg.): Das Vorrücken des Staates in die Fläche im langen 19. Jahrhundert, Köln 2015. 62 AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.22–23 [Brief des Vorsitzenden des Komitees an den WGG, 31.8.1908]. 63 Zu Hamburg vgl. Richard J. Evans: Tod in Hamburg: Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830–1910, Reinbek bei Hamburg 1991.

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gement basierte gleichsam auf der Annahme, dass in sicheren Zeiten die kulturelle und soziale Entwicklung der Gesellschaft durch mäzenatische Großzügigkeit und karitative Milde gefördert werden könne. Die Suppenküchen für die städtischen Unterschichten und die Konzertsäle für die metropole Elite fügten sich solange harmonisch nebeneinander, wie die grundsätzliche Stabilität gesellschaftlich-sozialer Verhältnisse und Hierarchien gewährleistet war. Wenngleich große Unterschiede über die strategischen Fernziele und die Zukunftsvisionen der Reichsprovinz bestanden, so teilten doch alle hier genannten Akteure ein Entwicklungsdenken, in dem sich ökonomischer und kultureller Wandel in sehr graduellen Bahnen und ohne radikale Änderung des gesellschaftlichen status quo ereignen sollte. Gerade hier jedoch sahen sich der russische Generalgouverneur wie auch die etablierten polnischen Adels- und Bürgerkreise seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vor neue Herausforderungen gestellt. Denn in der jungen, radikalen und ungeduldigen Generation von Nationaldemokraten und Sozialisten erwuchs ihnen in den 1890er Jahren eine neue, unberechenbare Gegnerschaft.64 Die Revolution von 1905–07 erschütterte die Sicherheit der herrschenden und besitzenden Milieus russischer, polnischer und jüdischer Provenienz gleichermaßen. Die Erfahrung von revolutionärem Chaos und unkontrollierbarer Gewalt führte auch im Königreich dazu, dass selbst im vom Generalgouverneur Georgij Skalon ausgerufenen Ausnahmezustand Kontaktzonen zwischen der Warschauer Bürgergesellschaft und den zarischen Beamten fortbestanden, ja sogar intensiviert wurden. Damit löst sich auch das scheinbare Paradox auf, das zwischen den politischen Rahmenbedingungen des bis 1909 herrschenden Ausnahmezustands und einer zeitgleich gesteigerten gesellschaftlichen Partizipation an den Amtsgeschäften des Stadtmanagements besteht. Da nach den revolutionären Gewaltwellen das Bedürfnis nach innerer Befriedung der Provinz ein gemeinsames war, konnten sich Behördenvertreter und Abgesandte der Warschauer Bürgerschaft an Kommissionstischen zusammensetzen.65 Die Kommunikation zwischen bürgerlichen Repräsentanten der Warschauer Gesellschaft und den Generalgouverneuren war also durch eine grundsätzliche Ambivalenz gekennzeichnet. Kommunikationsformen von Kooperation und Konflikt lagen oft dicht beieinander. Konträr zu einem solchen Wechselbad der Interaktionsstile dominierte in der Kontaktzone von städtischer Gesellschaft und Warschauer Magistrat ein sehr viel konfliktärmerer Modus des langjährigen

|| 64 Vgl. u. a. Robert E. Blobaum: Feliks Dzierżyński; Brian A. Porter: Nationalism; Norman M. Naimark: History of the „Proletariat“; Joshua D. Zimmermann: Poles, Jews. 65 APW, t.24 (WWO), sygn.261, kart.9–11 [Bericht des Gehilfen des WGG Utgof, 1913].

10.2 Hausbesitzer und Spekulanten, Konzessionen und Korruption | 245

Miteinanders. Das Rathaus am Theaterplatz war zweifellos ein Zentrum russisch-polnischer Zusammenarbeit, hier bestand eine sehr dichte Verflechtung von polnischer Gesellschaft und Staatsbehörde, die sich in den guten, direkten Kontakten der meisten Stadtpräsidenten zur lokalen Bürgerelite symbolisch verdichtete. Das enge Verhältnis zwischen Magistratsbeamten und Warschauer Gesellschaft beruhte nicht nur darauf, dass in der munizipalen Administration katholische Polen besonders zahlreich beschäftigt waren. Vielmehr bestanden viel grundsätzlichere konzeptionelle Schnittstellen zwischen den Repräsentanten des Rathauses und einer indigenen Stadtelite. Denn die Annahme, dass eine urbane Modernisierung grundsätzlich unabdingbar und diese nur durch technische Neuerungen sowie entsprechende Investitionen zu bewerkstelligen sei, wurde von allen geteilt. Das bedeutete keinesfalls, dass die politischen Konnotationen die gleichen waren. Denn auch einem erklärten Sympathisanten der Warschauer Sache unter den zarischen Beamten wie Sokrat Starynkevič blieb die polnisch-patriotische Dimension eines solchen engagierten Handelns verschlossen. Dennoch konnten sich die beteiligten Akteure auf den gemeinsamen Nenner einer Notwendigkeit städtischer Modernisierungsmaßnahmen verständigen – nicht zuletzt deshalb, weil man gemeinsam an der städtischen Modernisierung verdienen konnte.

10.2 Hausbesitzer und Spekulanten, Konzessionen und Korruption: Modernisierung als Geschäft Die Transformation traditioneller Städte in moderne Metropolen war auch eine Angelegenheit des großen Geschäfts. Nicht nur trugen die industriellen Großbetriebe entscheidend zum rasanten Prozess der Verstädterung bei, auch der städtische Raum selbst, seine Immobilien, seine Infrastruktur und seine Dienstleistungen, wurde zu einem umkämpften Feld für Investitionen, Konzessionen und Renditen, auf dem Privatfinanciers, Bankhäuser und Aktiengesellschaften um Einfluss und Gewinnmaximierung rangen. In einer „Gesellschaft als staatliche Veranstaltung“66, wie sie sich unter den Bedingungen der russischen Autokratie entwickelte, war es kaum überraschend, dass sich das große Geld nur in enger Kooperation mit den staatlichen Behörden verdienen ließ. Kein Unternehmer

|| 66 Dietrich Geyer: „Gesellschaft“ als staatliche Veranstaltung. Bemerkungen zur Sozialgeschichte der russischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 14/1 (1966), S. 21–50.

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oder Bankier konnte es sich leisten, die Kontakte zu staatlichen Verwaltungsinstanzen und Entscheidungsträgern schleifen zu lassen. Ob ein „König der polnischen Eisenbahn“ wie Jan Bloch, ein Großbankier wie Leopold Kronenberg oder die „Könige von Lodz“, die Textilmagnaten Louis Geyer, Carl Scheibler und Izrael Poznański – sie alle pflegten intensive Kontakte zu den Repräsentanten imperialer Herrschaft vor Ort oder durch Mittelsmänner zu Schlüsselfiguren in den Petersburger Schaltstellen der Macht.67 Mochten sie sich in ihrem Selbstverständnis auch als polnische Patrioten verstehen und als solche vor einer polnischen Öffentlichkeit inszenieren, so sehr waren sie doch vom Wohlwollen zarischer Autoritäten abhängig. So stellten die zahlreichen Bemühungen, Adelstitel, Orden und Auszeichnungen zu erwerben, nicht nur den Versuch einer aufsteigenden Bourgeoisie dar, mit dem kulturell bewunderten Adel standesgemäß gleichzuziehen und die Privilegien, die mit der Nobilitierung verbunden waren, zu erlangen. Es ging auch immer um eine Absicherung des eigenen prekären geschäftlichen Status gegenüber den staatlichen Willkürinstanzen.68 Diese unmittelbare Abhängigkeit von staatlichen Behörden offenbarte sich ebenso im lokalen städtischen Raum. Der Genehmigungszwang, der zahlreiche geschäftliche Aktivitäten betraf, bewirkte, dass die Entscheidungskompetenz des Generalgouverneurs unmittelbar in Wirtschaftsangelegenheiten hineinreichte. Denn ohne die Lizenzierung des obersten zarischen Beamten waren weder Jahrmärkte noch Handelsfilialen noch gewerblich oder für Dienstleistungen genutzte Räume zu eröffnen. Genauso wenig konnten im kulturellen Bereich gewinnorientierte Aktivitäten aufgenommen werden. Für eine enge Interaktion von Geschäftswelt und staatlichen Instanzen gab es weitere Gründe. Vor allem eröffnete die Kooperation mit den Behörden gerade im Bereich der urbanen Transformation selbst hervorragende Geschäftsmöglichkeiten. Denn einerseits waren staatliche Aufträge und langfristige Pachten überaus lukrativ, andererseits dynamisierten viele der Modernisierungsmaßnahmen den Markt und eröffneten zuvor ungekannte Gewinnoptionen. Letzteres gilt vor allem für den Bereich der Immobilien und ihre enorme Wertsteigerung im Zuge der Metropolenbildung. Wohl keine europäische Metropole ist ohne das Phänomen der

|| 67 Vgl. u. a. Andrzej Chwalba: Imperium korupcji; ebenso Jörg Gebhard: Lublin, S. 127–160; Rainer Lindner: Unternehmer und Stadt in der Ukraine, 1860–1914. Industrialisierung und soziale Kommunikation im südlichen Zarenreich, Konstanz 2006, S. 237–260; Bianka PietrowEnnker: Auf dem Weg zur Bürgergesellschaft? Modernisierungsprozesse in Lodz (1820–1914), in: Jürgen Hensel (Hrsg.): Polen, Deutsche, Juden in Lodz 1820–1939. Eine schwierige Nachbarschaft, Osnabrück 1999, S. 103–130. 68 GARF, f.215, op.1, d.916, ll.38–39 [Telegramm Frederiks an den WGG Imeretinskij, 28.6.1897].

10.2 Hausbesitzer und Spekulanten, Konzessionen und Korruption | 247

Immobilienspekulation groß geworden. In Warschau aber war diese Problematik durch den Mangel an bebaubarem Boden zusätzlich verschärft. Gerade in den durch die Modernisierung aufgewerteten Vierteln explodierten die Bodenpreise. Zwischen 1901 und 1911 verdoppelten Wohnungen im Durchschnitt ihren Kaufwert.69 Die Knappheit des Bodens war allgemein dafür verantwortlich, dass die Überbauung sämtlicher Leerflächen, aber auch älterer Baustruktur in Warschau besonders schnell und umfassend verlief. 1914 waren achtzig Prozent des Hausbestands der Stadt weniger als 50 Jahre alt und bereits achtzig Prozent aller Gebäude aus Stein oder Ziegel errichtet. Von diesen verfügten 1914 mehr als sechzig Prozent über vier oder mehr Stockwerke.70 Ebenso beförderte diese Marktlage die hohen Zahlen von Hausbewohnern pro Mietshaus: 1910 lebten in Warschau im Durchschnitt 116 Menschen in einem Mietshaus; in St. Petersburg waren es dagegen nur 52, in Moskau sogar nur 38.71 Wollte man mit Immobilien spekulieren, war eine enge Tuchfühlung mit den staatlichen Autoritäten geboten. Denn die Wertsteigerung von Grundstücken hing ganz entscheidend von den Investitionen des Magistrats in Infrastruktur und Verkehr ab. Hier konnten Grundsatzentscheidungen entlegene Straßenwinkel förmlich über Nacht in Nadelöhre der neuen Verkehrsadern verwandeln. Als beispielsweise die zarischen Behörden abschließend bestimmten, dass die dritte Weichselbrücke in der Verlängerung der Aleje Jerozolimskie entstehen sollte, wurde aus der ehemaligen Sackgasse eine der teuersten Grundstückslagen der Stadt.72 Oft erforderten derartige stadtplanerische Aktivitäten, dass der Staat als Käufer an Grund- oder Immobilienbesitzer herantreten musste.73 Als beispielsweise 1907–08 ein Ausbau des Kanalisationsnetzes anstand und ein Grundstück für eine Kläranlage von der Stadt erworben werden musste, konnten die Immobilienbesitzer den horrenden Betrag von mehr als 120.000 Rubel für das Gelände verlangen.74 Ähnliches galt für die geplante Erweiterung der Pumpstation Nasosov, für die der Magistrat die benachbarte Im-

|| 69 Siehe den Bericht des Oberpolizeimeisters zu 1911, in: Halina Kiepurska/Zbigniew Pustuła: Raporty Warszawskich Oberpolicmajstrów, Dok. 19, S. 111. Vgl. auch Stanisław Herbst: Ulica Marszałkowska. 70 Jerzy Cegielski: Stosunki mieszkanowe w Warszawie w latach 1864–1964, Warschau 1968, S. 85. 71 Vgl. dazu Stephen D. Corrsin: Warsaw, S. 137. 72 AGAD, KGGW, sygn.5937, kart.1 [Schreiben des Stadtpräsidenten Litvinskij an den WGG, 3.9.1907]. 73 AGAD, KGGW, sygn.6036, kart.1–2 [Schreiben des Stadtpräsidenten an den WGG, 3.1.1908]; kart.94 [Schreiben des Stadtpräsidenten an den WGG, 23.6.1908]. 74 Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 33–34.

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mobilie für einen Preis von 56.000 Rubel erwerben wollte. In diesem Fall versagte der Generalgouverneur jedoch dem Kaufvorhaben seine Zustimmung. Das gleiche Grundstück sei erst im Vorjahr vom jetzigen Eigentümer für 18.500 Rubel gekauft worden. Da dieser jedoch von den städtischen Kaufabsichten erfahren habe, hätte er den Grundstückswert überhöht taxiert. Der Vorwurf der informellen Absprache und der unzulässigen Weitergabe von Informationen über Baupläne der Stadtverwaltung stand hier im Raum.75 Frühe Informationen aus den Entscheidungsgremien des Magistrats waren in diesem überhitzten Spekulationsklima also eine günstige Geschäftsgrundlage und ein entscheidender Vorteil gegenüber der Konkurrenz. Nicht immer, wie später zu diskutieren sein wird, waren diese Informationen kostenlos zu haben. Nach der Jahrhundertwende nahmen die staatlichen Instanzen die galoppierende Wertsteigerung von Immobilien im boomenden Warschau zunehmend als ernstes Problem für die städtische Entwicklung wahr, da sie den eigenen Handlungsspielraum empfindlich einschränkte. Mehrfach verwiesen vor allem Magistratsbeamte in internen Überlegungen zu einem möglichen staatlich-kommunalen Engagement darauf, dass angesichts der knappen Kassen und des Schuldenstands der Stadtverwaltung nicht an den käuflichen Erwerb von Immobilien zu denken sei.76 Als Maßnahme gegen die grassierende Bodenspekulation sollte daher eine Verordnung des Generalgouverneurs wirken, die einen einjährigen Zeitabstand zwischen Fertigstellung eines Gebäudes und seinem Bezug festschrieb.77 Wirksam waren derartige Reglementierungen letztlich nicht: Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs galt Warschau im Innenstadtbereich als eine der teuersten Städte des Imperiums.78 Verdienen konnte man an der starken Präsenz staatlicher Institutionen im Warschauer Verwaltungszentrum aber auch auf andere Weise. Nicht unerheblich war hier die Bedeutung des Staats als direkter Mieter von Wohnraum. Denn weder die Armee noch die zivilen Behörden verfügten annährend über genug Gebäuderessourcen, um den wachsenden Platzbedarf zu decken. So konnte der Kasernenbau in Warschau keinesfalls mit der Erhöhung des Truppenkontin-

|| 75 AGAD, KGGW, sygn.6036, kart.79–83 [Schreiben des WGG an den Stadtpräsidenten, 9.11.1908]; kart.74–77 [Bericht des Sonderbeauftragten an den WGG, 16.10.1908]. 76 AGAD, KGGW, sygn.7031, kart.31 [Schreiben des Stadtpräsidenten an die Kanzlei des WGG, 5.4.1912]; AGAD, KGGW, sygn.6036, kart.96–96v [Beschwerde des Bürgers Stempiński, 19.2.1908]. 77 Vgl. die Bekanntmachung in: Varšavskoe slovo, Nr. 65 (13.7.1910), S. 1–2. Ebenso AGAD, KGGW, sygn.5937, kart.95. 78 Stanisław Herbst: Ulica Marszałkowska.

10.2 Hausbesitzer und Spekulanten, Konzessionen und Korruption | 249

Abb. 23: Russische Soldaten auf dem Markt in Warschau um 1900

gents nach 1900 und während der Revolution von 1905 mithalten.79 Damit wurde die Einquartierung von Offizieren und Soldaten der zarischen Armee zu einem lukrativen Geschäft. Bei einer Vermietung von Wohnraum für 79 Soldaten kam beispielsweise eine Jahresmiete von 11.964 Rubel zusammen.80 Für die Unterbringung von 186 Soldaten waren die Behörden sogar bereit, deutlich höhere Mieten zu zahlen, als es der offizielle Mietspiegel vorsah. Man einigte sich mit dem Immobilienbesitzer Władysław Karszo-Siedlewski nach längeren Verhandlungen auf einen Mietzins von 23.000 Rubel im Jahr, was immerhin dem dreifachen Jahresgehalt eines zarischen Generals entsprach.81 Aber auch die zivilen Behörden waren ein wichtiger Akteur auf dem teuren Warschauer Mietmarkt. So musste 1907 die Ärztliche Abteilung des Magistrats neuen Mietraum finden, da sich die Räumlichkeiten des Rathauses für die wachsende Behörde als zu klein erwiesen. Die Angebote waren nicht günstig: Mit 4.000 Rubel Jahresmiete wurden die Kosten für Anmietung von Räumen an

|| 79 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.2–3 [Bericht zum Jahr 1897], hier l.2–2ob. 80 AGAD, KGGW, sygn.5227, kart.77–78v [Schreiben des Stadtpräsidenten an den WGG, 13.6.1906]. 81 AGAD, KGGW, sygn.5300, kart.9–11 [Schreiben des Stadtpräsidenten an den WGG, 1.2.1907].

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der Krakowskie Przedmieście veranschlagt.82 Im Februar 1913 musste dann der Oberpolizeimeister selbst auf Wohnungssuche gehen, als einer Abteilung seiner Behörde der Mietvertrag gekündigt worden war. Der oberste Polizeibeamte besichtigte höchstpersönlich eine Reihe von Angeboten und sah sich am Ende gezwungen, den stolzen jährlichen Mietpreis von 3.700 Rubel für die Diensträume in einem Haus an der Marszałkowska Nr. 56 zu zahlen.83 Es scheint für eine angeblich ungeliebte russische Verwaltung nicht grundsätzlich ein Problem gewesen zu sein, Mietraum zu finden. Die internen Dokumente der Behörden beklagen zwar das zu hohe Mietniveau, von einer Abneigung Warschauer Immobilienbesitzer, russische Behörden ins Haus zu lassen, berichten sie dagegen nicht.84 Und selbst dort, wo es zu Schwierigkeiten kam, waren es eher die nüchternen Streitfragen des alltäglichen Mieter-AnwohnerVerhältnisses als ein Grundkonflikt zwischen Staatsrepräsentanten und Gesellschaft. So beschwerten sich die Nachbarn der besagten neuen Mieträume der Polizeibehörde über den zu regen Publikumsverkehr, der täglich circa 800 Personen auf das Amt führe. Der Oberpolizeimeister reagierte pragmatisch und sorgte für die Anmietung weiterer Räume, so dass die Klagen im Folgenden verstummten. Nichts deutet darauf hin, dass es in diesem Konflikt um anderes ging als um die tatsächlich alltägliche Belastung durch die zahlreichen Behördengänger.85 Mehr noch als in Gestalt des Mieters war der Staat aber als Verpächter und Konzessionsgeber ein äußerst dynamischer Faktor der städtischen Ökonomie. Verpachten konnte der Magistrat vor allem seine Immobilien, Konzessionen erteilte er für eine große Bandbreite an städtischen Dienstleistungen und infrastrukturellen Maßnahmen. Langlaufende Konzessionen mit abgesichertem Monopol betrafen zentrale Bereiche wie die Gasversorgung oder den Betrieb der städtischen Pferde- und elektrischen Straßenbahnen. Aber auch andere Modernisierungsmaßnahmen wie der Austausch von Baumaterialien bei den städtischen Brücken und die Instandsetzung von Brückenpfeilern wurden über Konzessionsverträge geregelt.86 Nicht zuletzt bestimmten solche Vertragsabschlüsse auch die zunehmende Kommerzialisierung des öffentlichen Raums. Reklame-

|| 82 AGAD, KGGW, sygn.5855, kart.1–3 [Bericht des WOPM an den WGG, 2.4.1907]; kart.4–5v [Schreiben WOPM an den Stadtpräsidenten, 2.4.1907]. 83 AGAD, KGGW, sygn.6416, kart.1 [Schreiben des WOPM an den WGG, 6.2.1913]. 84 AGAD, KGGW, sygn.6416, kart.1 [Schreiben des WOPM an den WGG, 6.2.1913]. 85 AGAD, KGGW, sygn.6416, kart.2–4 [Schreiben des WOPM an den WGG, 8.3.1914]. 86 AGAD, KGGW, sygn.5822, kart.1–1v [Schreiben des Stadtpräsidenten an den WGG, 23.1.1907]; AGAD, KGGW, sygn.6176, kart.3–4 [Schreiben des Stadtpräsidenten an den WGG, 22.2.1909]. Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 16–24.

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aushänge oder auch Neuerungen wie „Eisensäulen“ für Anschläge wurden als Konzessionen an Privatunternehmer vergeben.87 Insgesamt waren derartige Konzessionsverträge ein überaus beliebtes Instrument zur Verzahnung von städtischen Modernisierungsmaßnahmen und privatwirtschaftlichen Investitionen sowie der Gewinnabschöpfung. Sie stellten allerdings keinesfalls ein unproblematisches Steuerungsmedium dar. Denn die lange Laufzeit von Konzessionen – oft genug für einen Zeitraum von 25 Jahren – behinderte nicht selten die Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung des Angebots. Sie brachte zudem die städtische Verwaltung auf lange Sicht um sich zum Teil rasant entwickelnde Einnahmequellen. Für das Konzessions- und Monopolmissmanagement gab es viele abschreckende Beispiele auch anderswo im Russischen Reich. So blieb in Kiew das Problem der flächendeckenden Wasserversorgung bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg ungelöst, da die städtische Selbstverwaltung die entsprechende Konzession an einen Privatunternehmer abgetreten hatte und somit für eine extreme Verteuerung des Trinkwassers verantwortlich war.88 Gleiches gilt für das Kiewer Straßenbahnnetz und die Elektrizitätswerke: Auch hier gab die Stadtverwaltung den Betrieb dieser Einrichtungen und damit auch die damit verbundenen hohen Einnahmen per Konzessionsvertrag aus der Hand.89 In Lublin verhinderte dagegen der Konzessionsbetreiber des lokalen Gaswerkes, der Unternehmer Anastazy Suligowski, überaus erfolgreich die Elektrifizierung eines Teils der städtischen Dienstleistungen, da diese gegen sein Monopolrecht verstießen. Was oft zunächst als Modernisierungssprung erschien, konnte durch die langfristigen Konzessionsverträge schnell zur Entwicklungsbremse der lokalen Gemeinde werden. Wie wenig in diesem Bereich die Nationalität der Akteure eine Rolle spielte, verdeutlicht das Beispiel Suligowski: Dieser erklärte polnische Patriot und Held des Januaraufstands war maßgeblich dafür verantwortlich, dass Lublin erst in der Zwischenkriegszeit ein Elektrizitätswerk erhielt.90 Auch in Warschau mangelte es nicht an derartigen Fällen von konzessionsbedingten Entwicklungsblockaden und Interessenkonflikten. Es konnten so wichtige Konzessionsbetriebe wie die für den schrittweisen Ausbau der Kanalisation zuständige Firma „Lindley und Söhne“ sehr selbstbewusst weitgehende Forderungen an die Stadtverwaltung stellen. Es verlangte beispielsweise die Firmenleitung, dass der Magistrat für die Erweiterung der Pumpstation Nasosov || 87 AGAD, KGGW, sygn.7274, kart.36–42 [Beschwerde des Bürgers Frederik Koepke beim WGG, 2.10.1907]. 88 Michael F. Hamm: Late Imperial Kiev, S. 90. 89 Michael F. Hamm: Kiev. A Portrait, 1800–1917, Princeton 1986, S. 41–43. 90 Jörg Gebhard: Lublin, S. 167–170.

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umgehend eine überaus kostspielige Privatimmobilie erwerben möge.91 Beständige Auseinandersetzungen gab es aber vor allem mit dem prominent besetzten Unternehmen der „Städtischen Straßenbahnverwaltung“, das als Konzessionär seit 1899 die städtischen Pferdebahnen und seit 1909 die elektrifizierten Straßenbahnen betrieb.92 So entspann sich beispielsweise 1908 ein Streit um die Zuständigkeiten bei der winterlichen Schneeräumung. Der Oberpolizeimeister drängte auf die Verhängung einer Strafe von 500 Rubel, da die Straßenbahnverwaltung ihrer Verpflichtung, den Schnee zu beseitigen, nicht nachkomme.93 Die Straßenbahnverwaltung sah den Sachverhalt dagegen anders und betonte, dass sie laut Konzessionsvertrag nur für die Reinigung der Schienenstränge zuständig sei.94 Letztlich mussten die munizipalen Behörden hier nachgeben und für die Schneebeseitigung selbst Sorge tragen.95 Folgenschwerer jedoch war, dass die Konzessionsbetreiber der Straßenbahnen auf ihrer Monopolstellung im Bereich der städtischen Personenbeförderung beharrten. Damit unterblieben die Ausdifferenzierung des städtischen Verkehrsangebots und eine damit verbundene Preissenkung. 1910 kostete eine Fahrt in der Ersten Klasse den überteuerten Fahrpreis von sieben Kopeken, in der Zweiten Klasse zahlte man fünf.96 Die Initiative, neben den Straßenbahnen auch ein System von Omnibuslinien im Warschauer Zentrum aufzubauen, scheiterte am energischen Widerstand der Straßenbahngesellschaft, die ihre Monopolstellung gefährdet sah.97 Auch alle Versuche, den Betreiber zu einer intensiveren Nutzung des Schienennetzes und zu einer stärkeren Reinvestition der Gewinne zu bewegen, waren erfolglos.98 Ohne Zweifel entging der Stadt durch die Vergabe der Konzession eine ganz erhebliche Einnahmequelle. Denn aufgrund der rasant wachsenden Nachfrage nach schnellen gesamtstädtischen

|| 91 AGAD, KGGW, sygn.6036, kart.60–61v [Schreiben des Stadtpräsidenten an den WGG, 25.7.1908]; kart.68–72 [Brief W. H. Lindley an den WGG, 14.9.1908]. Vgl. auch Ryszard Żelichowski: Firma Lindley i synowie, in: Rocznik Warszawski, XXXI (2002), S. 31–56. 92 Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 21. 93 AGAD, KGGW, sygn.5820, kart.62–62v [Schreiben des WOPM an den WGG, 21.2.1908]. 94 AGAD, KGGW, sygn.5820, kart.68–71 [Antwortschreiben der Verwaltung der städtischen Straßenbahnen an den Stadtpräsidenten Miller, 10./23.3.1908]. 95 AGAD, KGGW, sygn.5820, kart.91–92v [Schreiben des WOPM an den Stadtpräsidenten, 22.11.1909]. 96 Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 16. Vgl. auch Varšavskij russkij kalendar’ na 1904 god, Warschau 1903, Teil III, S. 88. 97 „Omnibusnoe soobščenie“, in: Varšavskoe slovo, Nr. 64 (12.7.1910), S. 1–2. Vgl. auch AGAD, KGGW, sygn.5937, kart.96. 98 Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 22. Vgl. auch Grigorij G. Moskvič: Putevoditel’ po Varšave, St. Petersburg 1907, S. 60.

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Verkehrsverbindungen entwickelten sich die Straßenbahnen in den europäischen Metropolen insgesamt zügig zu Massenverkehrsmitteln mit erheblichen Umsätzen. Die private Betreibergesellschaft in Warschau konnte bereits 1910 und damit im ersten Jahr nach der Elektrifizierung des Verkehrssystems einen Umsatz von 1,98 Millionen Rubel und einen Reingewinn von 653.891 Rubel verbuchen. Aus der Sicht des städtischen Budgets war eine schnelle Änderung der misslichen Lage kaum zu erwarten: Der Konzessionsvertrag für den Straßenbahnbetrieb lief noch bis 1922.99 Die Gründe für die leichtfertige Konzessionsvergabe durch Magistrate waren vielfältig. Oft sahen sich die finanziell schlecht ausgestatteten Stadtverwaltungen selbst nicht in der Lage, modernisierende Maßnahmen zu finanzieren, und verlagerten die Investitionsleistung daher auf Privatunternehmen. So war es in Warschau beispielsweise bei der Einrichtung der Pferde- und der elektrischen Straßenbahn.100 In den gewählten Stadträten spielte zudem auch die Selbstbedienungsmentalität mancher Mitglieder eine nicht unerhebliche Rolle, denn oft genug kamen die nutznießenden Konzessionäre selbst aus dem engen Kreis der städtischen Elite.101 In Warschau mit seiner extern ernannten Administration war die Situation zwar anders. Aber auch hier entschied oft genug die Intensität des Kontaktes, den einzelne Unternehmer zu Mitgliedern von Planungskommissionen im Magistrat hatten, darüber, ob sie die begehrten gewinnträchtigen Konzessionen erhielten. Nicht alle öffentlichen Ausschreibungen scheinen ohne Vorabsprachen stattgefunden zu haben. Im Fall der Versorgung des Warschauer Baukontors mit dem Baumaterial Granit gelang es beispielsweise dem unterlegenen Konkurrenten, eine Annullierung des Konzessionsvertrages zu bewirken. Die Rechtsanwälte des Unternehmens Kuksz i Liedtke konnten nämlich nachweisen, dass bei der Konzessionsvergabe an die Firma German Mejer gegen Anforderungen der Ausschreibung verstoßen worden war und der Mejer’sche Granit den Belastbarkeitsrichtlinien nicht entsprach.102 Die Auseinandersetzungen zwischen den Konkurrenten wurden noch in St. Petersburg verhandelt und erst durch den Beschluss des Regierungssenats, die Ausschreibung zu erneuern, beendet.103

|| 99 Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 16 und S. 22. 100 Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 16–17. 101 Vgl. z. B. Michael F. Hamm: Late Imperial Kiev, S. 89–90 und S. 99–102; Anders Henriksson: Riga, S. 184–190. 102 AGAD, KGGW, sygn.6176, kart.3–4 [Schreiben des Stadtpräsidenten an den WGG, 22.2.1909]; kart.8 [Gesuch der Firma Kuksz i Liedtke an den WGG, 19.2.1909]. 103 AGAD, KGGW, sygn.6176, kart.19–20 [Beschluss des Regierungssenats nach Anhörung des Innenministeriums, 26.1.1910].

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Dieser Fall verdeutlicht damit zugleich exemplarisch, wie wichtig die Verbindungen zwischen Geschäftswelt und Magistratsbehörde im Wettrennen um die Filetstücke der urbanen Modernisierung sein konnten. Dass dies nicht nur die Wachstumsbranchen von Verkehr und Technik betraf, lässt sich am Beispiel des städtischen Kulturbetriebes aufzeigen. Denn in Zeiten, in denen der metropole Vergnügungskonsum zu einem Massenphänomen anwuchs, wurde Kultur zu einer höchst umsatzstarken Ware. Kulturelles Engagement war daher nicht nur eine Sache von schöngeistig und patriotisch motivierten Mäzenen, sondern ein hartes Geschäft, in dem die enge Fühlung mit den Behörden nicht weniger überlebenswichtig war als in anderen Wirtschaftsbereichen auch. Ein sprechendes Beispiel hierfür ist die von Leopold Kronenberg und Ignacy Jan Paderewski ins Leben gerufene Philharmonie. Schon der reguläre Konzertbetrieb der als Aktiengesellschaft organisierten Philharmonie bedurfte der Feinabstimmung mit den staatlichen Instanzen. Dies hing nicht nur damit zusammen, dass der Generalgouverneur als oberster Beamter über jegliche kulturelle Aktivität wachte, sondern auch damit, dass er als Verantwortlicher für die Staatstheater zugleich argwöhnisch darauf achtete, dass diesen durch die privat betriebene Philharmonie keine unliebsame Konkurrenz erwuchs.104 Die Leitung der Philharmonie wählte den naheliegenden Weg einer direkten Kooperation mit den Staatstheatern, indem eine gemeinsame Abstimmung des Repertoires vereinbart wurde.105 Zunächst funktionierte diese Zusammenarbeit jedoch keinesfalls reibungslos. Und so war es unmöglich, die Zustimmung der staatlichen Autoritäten für einen Ausbau der Philharmonie zu erhalten. 1908 sprach die Leitung des Konzerthauses beim Generalgouverneur mit dem Anliegen vor, einen bisher nicht genutzten Seitenflügel zu einem Theatersaal umzubauen. In diesem sollten auf drei Etagen mehr als 700 Zuschauer ihren Platz finden.106 Hier jedoch verweigerten die staatlichen Behörden die Zustimmung und es waren wohl weniger die offiziell angegeben sicherheitstechnischen Bedenken, die zur Ablehnung des Gesuchs führten, als der schwelende Konkurrenzkampf zwischen den staatlichen und den privaten

|| 104 AGAD, KGGW, sygn.329, kart.1 [Schreiben des WGG an den WOPM, 17.9.1904]; AGAD, KGGW, sygn.7274, kart.10–10v [Vorschlag des WGG Čertkov zur Tätigkeit der Theaterkommission beim WGG, 31.12.1903]. 105 AGAD, KGGW, sygn.7274, kart.3–4v [Schreiben des Stadtpräsidenten an den WGG, 28.6.1907]; kart.18–25 [Vertrag zwischen AG „Philharmonie“ und der Leitung der Warschauer Staatstheater, 4.7.1907]. 106 AGAD, KGGW, sygn.7381, kart.6–7 [Gesuch der AG „Warschauer Philharmonie“ an den WGG, 9.4.1908].

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Akteuren auf dem expandierenden Warschauer Kulturmarkt.107 Langfristig arrangierten sich die Verwaltungen der Staatstheater und der Philharmonie. Bereits 1910 konnten die Betreiber der Philharmonie mit einer begrenzten finanziellen Unterstützung aus der Staatskasse rechnen. Die beteiligten Instanzen hatten sich die städtische Kulturlandschaft offensichtlich einvernehmlich aufgeteilt.108 Die Verdienstmöglichkeiten des urbanen Kulturgeschäfts führten auch dazu, dass die zarischen Behörden keine Bedenken gegen die Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes erhoben. Die zunehmende Allgegenwart von Werbung in Formen von Leuchtreklamen und Litfaßsäulen auf den öffentlichen Plätzen wurde als erfreuliche Einnahmequelle willkommen geheißen.109 Überhaupt lässt sich in gewissen Bereichen ein erstaunlicher Pragmatismus der zarischen Instanzen ausmachen. So wurde der Bau des eleganten Hotels Bristol am Krakowskie Przedmieście 1899 genehmigt, obwohl das Hotelgebäude den direkt angrenzenden alten Statthalterpalast wortwörtlich in den Schatten stellte. Denn das mit vornehmlich polnischem Kapital errichtete Bristol mit seinen 220 Zimmernummern und sieben Stockwerken überragte das benachbarte Palais bei weitem. Und so konnten Hotelgäste vom Balkon aus auf den ehrwürdigen Amtssitz der Kanzlei des Generalgouverneurs niederblicken.110 Weder die Sicherheitslage noch die implizite symbolische Diminuierung eines zentralen Ortes russischer Herrschaft ließen den Autoritäten den Bau des Hotels bedenklich erscheinen. Dass das Bristol in den Folgejahren zu den Spitzenzahlern der Immobiliensteuer in der Stadt gehörte, hat die Entscheidung sicherlich erleichtert.111 Wer an dem Wandel Warschaus im fin de siècle verdienen wollte, tat also gut daran, den direkten Kontakt zu den zarischen Entscheidungsinstanzen zu suchen. Diese Grundeinsicht zeitigte dynamische Folgen: Dementsprechend handelte eine Vielzahl von größeren und kleineren Geschäftsleuten, die mit || 107 AGAD, KGGW, sygn.7381, kart.1 [Schreiben des Warschauer Gouverneurs an den WGG, 23.11.1907]; kart.9–9v [Schreiben des WOPM an die Kanzlei des WGG, 4.6.1908]. 108 AGAD, Upravlenie Varšavskich Pravitel’stvennych Teatrov / Dyrekcja Warszawskich Teatrów Rządowych, sygn.1, kart.2–5 [Auflistung der Maßnahmen der Staatstheaterverwaltung, 10.3.1910]. 109 AGAD, KGGW, sygn.6406, kart.4–5v [Schreiben des Stadtpräsidenten Miller an die Kanzlei des WGG, 1.2.1913]. 110 N. F. Akaemov: Adres-Kalendar’ gor. Varšavy na 1904 god. V dvuch častjach, Warschau 1903, S. 78. AGAD, KGGW, sygn.6361, kart.3–6 [Amtliches Beschlussprotokoll des Warschauer Magistrats, Nr. 125, 17.4.1912]. 111 AGAD, KGGW, sygn.6361, kart.3–6 [Amtliches Beschlussprotokoll des Warschauer Magistrats, Nr. 125, 17.4.1912].

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Abb. 24: Hotel Bristol am Krakowskie Przedmieście (1900)

ihren Eingaben und Klagen die Schreibtische der Verwaltungsstellen fluteten. Gerade auch dann, wenn Interessenkonflikte zwischen Konkurrenten auftraten, waren es die zarischen Behörden, die als vermeintlich neutrale Schiedsrichter in die Auseinandersetzungen einbezogen wurden. Eine Konsequenz davon war, dass der Generalgouverneur sich auch mit Fragen wie der Festsetzung von Ladenmieten, der Erlaubnis für Fisch- oder Brothandel sowie der Installation von Abflussrohren in Privathäusern befassen musste. Ähnlich wie bei anderen Organisationsfragen städtischer Modernisierung sah sich der oberste Beamte des Zaren im Weichselland mit den Alltäglichkeiten des städtischen Geschäftslebens konfrontiert.112 Grundsätzlich konkurrierten hier zwei Prinzipien der Austragung von geschäftlichen Interessendivergenzen. Der zunehmenden Verrechtlichung der Verhältnisse stand das direkte Regiment des Generalgouverneurs gegenüber und nicht selten produzierten diese Ambivalenzen in der alltäglichen Streitschlichtung unauflösliche Widersprüche. Für die zunehmende Rechtssicherheit

|| 112 AGAD, KGGW, sygn.6302, kart.5–5v [Gesuch des Bürgers Bronisław Sobczak an den WGG, 5.11.1908]; AGAD, KGGW, sygn.6072, kart.1–2 [Gesuch der Warschauer Fischhändler an den WGG, 30.1.1908].

10.2 Hausbesitzer und Spekulanten, Konzessionen und Korruption | 257

im städtischen Wirtschaftsleben spricht, dass sich die staatlichen Instanzen seit dem Ende des ausgehenden 19. Jahrhunderts kaum mehr des Instruments der Zwangsenteignung bedienten, auch wenn Privatbesitz administratives Handeln erheblich behinderte. Weder Magistrat noch Generalgouverneur präferierten derartige erzwungene Verstaatlichungen, sondern bemühten sich, über komplizierte, langfristige und oft sehr kostspielige Kaufverhandlungen Privateigentümer zur Veräußerung von Grundstücken zu bewegen, wenn sie diese für infrastrukturelle Maßnahmen benötigten. Als der Warschauer Magistrat beispielsweise unter Druck des Innenministers daran ging, ein Baugelände für das „russische Volkshaus“ zu finden, versuchte er, durch den Tausch von Immobilien an der Aleje Jerozolimskie einen größeren zusammenhängenden Verbund von Grundstücken zu schaffen. Allerdings erwiesen sich der angesprochene Immobilienbesitzer A. Trenerowski sowie die Pächter Ron und Żeleński als uneinsichtig und verweigerten den vorgeschlagenen Grundstückstausch. Eine Zwangsausführung des Tausches unterblieb jedoch und das Projekt verlief dementsprechend im Sande.113 In diesem konkreten Fall ließe sich eine Verweigerungstaktik des Magistrats unterstellen, der das ungeliebte, von Petersburg forcierte Bauvorhaben indirekt sabotierte. Dies gilt für einen anderen Fall aber keinesfalls: Denn als das Rathaus in der Ul. Książęca den dringend benötigten Ausbau einer Straße plante, die die Innenstadt mit der Weichselniederung verbinden sollte, ging es um ein Primärinteresse der Stadtverwaltung. Aber auch hier erwies sich privater Immobilienbesitz als Projekthindernis, da die Eigentümer der betreffenden Grundstücke am Nowy Świat einen Kaufpreis von 500.000 Rubel verlangten – eine Summe, die die Stadt weder bereit noch in der Lage war zu zahlen. Aber selbst in diesem Fall vermied der Magistrat es, ein Enteignungsverfahren einzuleiten, sondern änderte die Planung für die Straßenführung.114 Und selbst in dem seltenen Fall, in dem der Stadtpräsident auf eine Zwangsräumung drängte, da er städtischen Boden durch einen Privatunternehmer usurpiert und zweckentfremdet sah, stellte sich das Petersburger Justizministerium quer und verlangte eine Klärung des Streitfalls vor Gericht.115 An die Willkürherrschaft einer Besatzungsbehörde oder auch an die rigorose Enteignungspraxis eines Barons Haussmann in Paris erinnert hier wenig. Vieles spricht dafür, dass sich die Entscheidungsträger im Magistrat bewusst || 113 AGAD, KGGW, sygn.7031, kart.42–44v [Amtliches Beschlussprotokoll des Magistrats, 23.10.1912]; kart.50 [Schreiben des Innenministeriums an den WGG, 21.1.1913]. 114 AGAD, KGGW, sygn.6036, kart.94 [Beschlussmitteilung des Stadtpräsidenten an den WGG, 23.6.1908]. 115 AGAD, KGGW, sygn.5937, kart.14–15v [Mitteilung des Innenministeriums an den WGG, 19.3.1908].

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waren, dass die städtische Transformation Warschaus nur zusammen mit den lokalen Immobilienbesitzern und nicht gegen diese durchzuführen sei. Offensichtlich verstand man sich zu sehr als Interessengemeinschaft, als dass man auf die administrative Zwangslösung von Besitz- und Interessenkonflikten zurückgegriffen hätte. Einer solchen Achtung rechtlicher Normen und des Privateigentums widersprach das Prinzip des direkten administrativen Zugriffs, für das vor allem der Generalgouverneur als Amtsträger stellvertretend stand. Denn der Gesandte des Zaren in Warschau repräsentierte das autokratische Prinzip des unmittelbaren Regiments insofern, als er sich mit seinen Sondervollmachten über das Eigentumsrecht hinwegsetzen konnte. Das hatte ganz alltagspragmatische Auswirkungen. Denn sie führten keinesfalls nur zur wütenden Kritik am Willkürsystem administrativer Entscheidungsgewalt, sondern produzierten eine sehr lebendige Kultur der Bittstellung auch im städtischen Wirtschaftsleben. Eine Vielzahl von Warschauern wandte sich mit ihren Geschäftsanliegen direkt an den Generalgouverneur. Sie alle hofften auf ein administratives Machtvotum, das die von ihnen empfundene Benachteiligung in Geschäftskonflikten korrigieren sollte. Nicht allein der Gang vor das Gericht erschien als probates Mittel, um Wirtschaftsstreitigkeiten zu lösen, sondern auch der Ruf nach dem direkten Regiment des zarischen Beamten.116 An dem regen Geschäft der direkten Bittstellung beim Generalgouverneur waren sowohl größere Unternehmen wie auch Einzelpersonen beteiligt, wurden Millionensummen ebenso wie Bagatellbeträge von unter hundert Rubel verhandelt.117 Gelegentlich waren die Akteure mit ihrem Anliegen erfolgreich und konnten Neuausschreibungen von öffentlichen Aufträgen erwirken.118 In der Regel jedoch scheinen derartige Eingaben nicht zur erwünschten Amtshandlung des Generalgouverneurs geführt zu haben. So wenig der zarische Beamte sich scheute, administrative Maßnahmen im Bereich des Kampfes gegen politische Bewegungen einzusetzen, so vorsichtig agierte er in dem schwierigen Feld der Interessenkonflikte Warschauer Wirtschaftsbürger. Auffällig ist dennoch, wie ernst die Kanzlei des Generalgouverneurs die jeweiligen Gesuche nahm. Und so produzierten die Eingaben ganze Ketten interner Korrespondenz, in

|| 116 AGAD, KGGW, sygn.5937, kart.38 [Innenministerium an den WGG, 23.5.1908]. 117 AGAD, KGGW, sygn.6302, kart.5–5v [Gesuch des Bürgers Bronisław Sobczak an den WGG, 5.11.1908]; AGAD, KGGW, sygn.6072, kart.1–2 [Gesuch der Warschauer Fischhändler an den WGG, 30.1.1908]. 118 AGAD, KGGW, sygn.6176, kart.8–9 [Beschwerden an den WGG, 3.6.1909]; kart.19–20 [Beschluss des Regierungssenats, 26.1.1910].

10.2 Hausbesitzer und Spekulanten, Konzessionen und Korruption | 259

denen die betroffenen Behörden wie der Magistrat oder der Oberpolizeimeister ausführlich zu den jeweiligen Sachverhalten Stellung beziehen mussten.119 An der grundsätzlichen Interventionsbereitschaft des Generalgouverneurs haben die Bittsteller folglich auch nie gezweifelt. Der Strom der Wirtschaftseingaben riss auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht ab. Der Glaube an das Potential des unmittelbaren Regiments des obersten Beamten war hier ungebrochen. Damit haben die vielen Bittsteller zugleich ihren eigenen Beitrag zum Erhalt des Prinzips administrativer Entscheidungshoheit geleistet, indem sie das rigide Durchgreifen der zarischen Behörden permanent selbst einforderten. Oft genug stand hinter den Bemühungen, den Generalgouverneur zur Parteinahme zu bewegen, die Intention, die zwischen Magistrat und Teilen der indigenen Wirtschaftselite bestehenden Netzwerke aufzubrechen. Denn die Petitionen an den Generalgouverneur folgten einer ähnlichen Logik wie die Gesuche an den Zaren: Es waren Versuche, durch den Eingriff einer höheren Instanz die als ungerecht empfundene Situation vor Ort zu verändern. In den zahlreichen Streitigkeiten von Warschauer Bürgern und Magistrat erschien der Generalgouverneur als der vermeintlich neutrale Schiedsrichter. Dies traf vor allem dann zu, wenn die Divergenzen zugleich auch eine Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Juden bedeuteten. Für die jüdischen Akteure erschien der Generalgouverneur als der Ansprechpartner, der einer polnisch-katholischen Allianz von Privatleuten und Magistratsbeamten distanziert gegenüberstand. Die orthodoxe Konfession des obersten Beamten spielte hier eine wichtige Rolle. So riefen derartige Eingaben oft genug nach einem Ombudsmann orthodoxer Konfession, den der Generalgouverneur zur Klärung der Streitfragen beauftragen möge.120 Als neutralere Instanz erschien der Generalgouverneur aber ebenso bei innerkatholischen Auseinandersetzungen. Auch hier bestand offensichtlich die Hoffnung, dass der Generalgouverneur nicht Glied in den eingespielten Seilschaften war, die zwischen Magistrat und Wirtschaftselite bestanden und die zu einer Übervorteilung der Konkurrenz bei der städtischen Auftragsvergabe führten. Insgesamt hat der Generalgouverneur die an ihn gerichteten Erwartungen nicht erfüllt. Denn von einem energischen Vorgehen des obersten Beamten gegen die Entscheidungen des Magistrats ist in den Quellen nichts zu lesen. In der Regel hielt der Generalgouverneur Rücksprache mit der Kanzlei des Stadt|| 119 AGAD, KGGW, sygn.6247, kart.1–141 [Unterlagen zur Untersuchung der Beschwerde Pietrusińskis, 1909–1910]; GARF, f.215, op.1, d.156, l.6–6ob und l.14 [Schreiben des WGG an den Innenminister Stolypin, Oktober 1909]. 120 AGAD, KGGW, sygn.6412, kart.3–3v [Anonyme Beschwerde eines Kleinhändlers an den WGG, 10.1.1913].

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präsidenten, um die Angelegenheit schnell und einvernehmlich zu den Akten zu legen. In der externen Korrespondenz mit den Bittstellern betonte er zugleich die regulären Zuständigkeiten der munizipalen Behörden.121 Die blühende Kultur der Bittstellung ist zugleich auch ein Beleg für die Kontaktintensität zwischen Teilen der städtischen Unternehmer und der Beamtenschaft. Denn die hier geäußerte Kritik richtete sich ja gerade oft gegen die vermeintlich zu engen Verbindungen zwischen den konkurrierenden Geschäftsleuten und ihren Ansprechpartnern in der Verwaltung. Und die Eingaben selbst zielten auf nichts anderes ab. Nur hoffte man, die Konkurrenz von den Trögen der öffentlichen Auftragsvergabe zu verdrängen. Wie eng diese Verflechtungen tatsächlich sein konnten, manifestierte sich in dem großen Korruptionsskandal, der Warschau in den Jahren 1908–11 erschütterte. Angestoßen wurde dieser durch eine Folge von Enthüllungsberichten in der Warschauer Tageszeitung Goniec. In diesem, den nationaldemokratischen Sezessionisten nahestehenden Presseorgan wurden Missmanagement des städtischen Magistrats, Veruntreuung von öffentlichen Geldern, Korruptionsfälle und erkaufte illegale Betriebsgenehmigungen in einer Reihe von Branchen angeprangert. Der Goniec hatte dafür investigativen Journalismus betrieben, Reporter zur Recherche in Skandalbetriebe und Problemzonen städtischen Managements entsandt und Kontakt zu Informanten in den Behörden aufgenommen.122 Motiviert waren die Enthüllungen zweifellos durch die Auseinandersetzungen innerhalb des Spektrums nationaldemokratischer Parteien, die sich in den Jahren nach 1908 zuspitzen. Der Goniec hatte bis 1907 als eines der zentralen Presseorgane der Endecja gedient. Die Redaktion verließ jedoch 1907 mit mehreren anderen Gruppierungen die Partei Dmowskis, da diese ihnen das politische Ziel einer polnischen Autonomie nicht energisch genug verfolgte. In der Wahrnehmung dieser Sezessionisten erschien der Warschauer Magistrat als enger Kooperationspartner der polnischen „Versöhnler“. Insofern war die Skandalisierung dieser Verbindung auch ein Schachzug im politischen Spiel der polnischen Parteien. Vor allem waren die Berichte aber eine willkommene Maßnahme zur Auflagesteigerung und dem entsprach ihr Tonfall, der sich nur wenig von den üblichen reißerischen Meldungen der Boulevard- und Massenpresse unterschied.123 || 121 AGAD, KGGW, sygn.1216, kart.14–15 [Schreiben des WGG an Elizaveta Naryškina, April 1909]. 122 AGAD, KGGW, sygn.6247, kart.30–38 [Bericht der Untersuchungskommission zu Amtsmissbrauch im Magistrat an den WGG, 21.12.1909]; GARF, f.215, op.1, d.156, l.6ob [Schreiben des WGG Skalon an den Innenminister Stolypin, Oktober 1909]; ll.8–13 [Korrespondenz zum Verdacht der Weitergabe von Dokumenten, Oktober 1909]. 123 Vgl. Pascal Trees: Wahlen im Weichselland, S. 347–350.

10.2 Hausbesitzer und Spekulanten, Konzessionen und Korruption | 261

Erstaunlich ist, dass der öffentliche Druck tatsächlich zu einer Untersuchung der Vorwürfe durch die staatlichen Instanzen führte. So setzte der Generalgouverneur 1909 eine eigene Kommission zur Untersuchung von Amtsmissbrauch im Warschauer Magistrat ein. Ebenso beteiligten sich der Oberpolizeimeister und die Staatsanwaltschaft an den Ermittlungen.124 Die im Folgenden von der Untersuchungskommission betriebenen Nachforschungen offenbarten ein gewaltiges Ausmaß der Geldflüsse und der Korruptionsnetzwerke, das bis zur Person des Stadtpräsidenten Litvinskij reichte. 1909 wurde der Druck auf den Stadtpräsidenten zu groß und er versuchte sich mit einem Rücktritt „wegen häuslicher Umstände“ aus der Affäre zu ziehen.125 Dennoch wurde wenig später gegen ihn und weitere Magistratsbeamte Anklage wegen der Veruntreuung von Geldern und der Annahme von Bestechungszahlungen erhoben.126 Der Maßstab dieser Affäre erwies sich als groß genug, um imperiumsweit Aufmerksamkeit zu erregen.127 Er gab auch den Anlass für eine Senatorenrevision, die zahlreiche weitere Ungereimtheiten in der Stadtverwaltung aufdeckte. Zweifellos hatte die Entsendung der Revisionsgruppe um Senator Nejdgart auch noch andere Hintergründe. So ging es ebenso um eine grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen dem amtierenden Generalgouverneur Skalon und dem Ministerpräsidenten Stolypin. Der entsandte Nejdgart war ein Schwager Stolypins, dem man Ambitionen auf den Posten des Generalgouverneurs nachsagte.128 So sehr die Befunde des Berichts daher mit Vorsicht zu genießen sind, so sehr decken sie sich doch in wesentlichen Punkten mit der Kritik der zeitgenössischen Presse und den Ergebnissen der vom Generalgouverneur eingesetzten Untersuchungskommission.129 Furore machte vor allem die Verschleppung des 1904 begonnenen Baus der dritten Weichselbrücke. Zum Zeitpunkt der Revision 1910 waren allerdings nicht einmal die Arbeiten am Viadukt der Brückenzufahrt fertiggestellt. Dennoch hatte der Bau statt der ursprünglich veranschlagten

|| 124 AGAD, KGGW, sygn.6247, kart.20 [Bericht des Vorsitzenden der „Kommission zur Untersuchung von Amtsmissbrauch im Warschauer Magistrat“ an den WGG, 27.8.1909];]; GARF, f.215, op.1, d.156, ll.6–6ob und l.14 [Schreiben des WGG Skalon an den Innenminister Stolypin, Oktober 1909]. 125 GARF, f.215, op.1, d.1005, l.6 [Brief des Stadtpräsidenten an Nikolaus II, 4.3.1909]; l.3 [Brief des Stadtpräsidenten an den WGG Skalon, 4.3.1909]. 126 Siehe Hanna Kozińska-Witt: Stadträte und polnische Presse. 127 AGAD, KGGW, sygn.5937, kart.115–116 [Beschwerdeschreiben an den WGG, 14.5.1911]. 128 Vgl. Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, St. Petersburg 1911. 129 AGAD, KGGW, sygn.6247, kart.20 [Bericht des Vorsitzenden der „Kommission zur Untersuchung von Amtsmissbrauch“ an den WGG, 27.8.1909].

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Abb. 25: Ingenieure und Magistratsbeamte besuchen die Baustelle der dritten Weichselbrücke. Photographie von Józef B. Ćwikiel (1912)

4,5 Millionen Rubel bereits mehr als 8 Millionen Rubel verschlungen. Es sollte fast vier weitere Jahre dauern, bis die für die Entwicklung Warschaus so dringend benötigte Brücke im Dezember 1913 zur Nutzung übergeben wurde.130 Dieser laute Skandal offenbarte nicht nur das Ausmaß der Korruption, sondern zugleich auch die enge Verflechtung von Beamten der Stadtverwaltung und Repräsentanten der Warschauer Geschäftswelt. Im Falle der Nikolaj-Brücke war es der polnische Ingenieur Mieczysław Marszewski, dem eine Schlüsselfunktion zukam. Der Magistrat hatte ihn als Mitglied des Baukomitees zugleich zum Vorsitzenden des weitgehend autonom arbeitenden Baukontors ernannt. Im Zuge dieser Ämterhäufung verfügte er über große Entscheidungsspielräume, da er sowohl die ursprüngliche Brücken- und Viaduktmodellierung und deren Kostenberechnung überwachte, die Projektausschreibung leitete wie auch für die Bauaufsicht verantwortlich war. Marszewski nutzte diese Monopolstellung nicht nur, um sein eigenes Brückenprojekt durchzusetzen, sondern auch, um Firmen mit Aufträgen zu versorgen, die ihn wiederum großzügig mit „Prämien“ bedachten. Insgesamt kassierte Marszewski eine Summe von 100.000 Rubel an Bestechungsgeldern. Dafür garantierte er den beteiligten Unternehmen be-

|| 130 APW, t.24 (WWO), sygn.263, kart.5 [Bericht über gesellschaftliche und politische Entwicklungen in Warschau, 14.1.1914].

10.2 Hausbesitzer und Spekulanten, Konzessionen und Korruption | 263

trächtliche Gewinne, indem er überhöhte Festpreise für die verwendeten Baumaterialien ansetzte und damit das städtische Budget erheblich belastete. Im Zuge der staatsanwaltlichen Ermittlungen wurde Marszewski entlassen und Anklage gegen ihn erhoben. Er wurde 1909–10 zu einer Gefängnisstrafe und einer Restitution der erhaltenen Prämien verurteilt.131 Die Untersuchungen der Jahre 1909–1910 dokumentierten aber auch in anderen Fällen den engen Kontakt zwischen zarischem Magistrat und Warschauer Geschäftswelt. Beamte und Unternehmer spielten sich bei der Auftragsvergabe städtischer Investitionsprojekte oft genug gegenseitig in die Hände. So war es bei der Konzessionsvergabe zum Betreiben der elektrischen Straßenbahn zu etlichen Unregelmäßigkeiten gekommen. Das Unternehmen Städtische Straßenbahnverwaltung hatte 1899 von der Stadt die Konzession zum Betrieb der Pferdebahn übernommen. Dieser Vertrag lief 1902 aus. Dessen Verlängerung war vom Innenminister Pleve nur unter der Bedingung genehmigt worden, dass sich die Stadt ein Rückkaufsrecht vertraglich sicherte. Beim erneuten Vertragsabschluss wurde aber nicht nur diese Auflage missachtet, sondern überhaupt eine zweite Vertragsvariante gewählt, die eine Konzession auf zwölf Jahre zu deutlich schlechteren Konditionen für die Stadt vorsah. Als wenig später die Elektrifizierung der Pferdebahnen angegangen wurde, überließ der Magistrat die Initiative allein der Betreibergesellschaft, die sich für eine technische Aufrüstung durch das Unternehmen Siemens-Schuckert entschied, obwohl das Angebot der amerikanischen Konkurrenzfirma Westinghouse deutlich günstiger war. Für eine solche Entscheidung dürfte der Umstand, dass der Vorsitzende der Städtischen Straßenbahnverwaltung, P. Spokorni, zugleich der lokale Vertreter von SiemensSchuckert war, nicht ganz unerheblich gewesen sein.132 All diese Unregelmäßigkeiten waren von einem Magistrat gedeckt worden, der durch die Vertragsabschlüsse in Kauf nahm, dass dem städtischen Budget jährlich ein Reingewinn von mehr als 650.000 Rubel entging.133 Letztlich ließ sich nicht ermitteln, ob hier ähnlich wie beim Brückenbau irreguläre Absprachen zwischen den Konzessionären und den Magistratsverantwortlichen bestanden hatten oder illegale Zahlungen erfolgt waren. Insgesamt liegt allerdings der Verdacht nahe, dass es bei der langjährigen Konzessionsvergabe unter Umgehung alternativer, günstigerer Angebote zu Wettbewerbsverstößen gekommen war.

|| 131 AGAD, KGGW, sygn.5937, kart.58 [Schreiben des Innenministeriums an den WGG, 26.9.1908]; kart.115–116 [Klage eines Hausbesitzers an den WGG, 14.5.1911]. 132 Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 16–24. GARF, f.215, op.1, d.155, l.2 [Rundschreiben des Innenministeriums, 16.12.1909]. 133 Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 22.

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Das gilt ebenso für die in den Jahren 1908–09 erfolgte Erweiterung des Kanalisationssystems. Auch hier deckten die Untersuchungen fragwürdige Tatbestände auf. In diesem Fall hatte der Warschauer Magistrat zum Ausbau der Kanalanlagen und zur Installation einer Kläranlage das „Kaskaden“-Grundstück in Weichselnähe erworben. Für den Kauf der Fläche war ein erstaunlich hoher Preis von 121.696 Rubel gezahlt worden. Die Ermittlungen, die die undurchsichtigen Geschäfte des Stadtpräsidenten Litvinskij durchleuchteten, brachten zu Tage, dass der oberste Magistratsbeamte Schulden von mehr als 3.000 Rubel bei einem der ehemaligen Immobilienbesitzer der „Kaskade“ gehabt hatte.134 Selbst wenn sich in diesem konkreten Fall keine weiteren Absprachen nachweisen ließen, deutet doch auch dieser Fall auf ein sehr ausgefeiltes System hin, in dem mit Prämienzahlungen und Kreditvergaben an Magistratsbeamte Entscheidungen über lukrative Aufträge der öffentlichen Hand beeinflusst oder überhöhte Festpreise für Immobilien und Baumaterialien gesichert wurden. Die einer städtischen Honoratiorenverwaltung oft zum Vorwurf gemachte Selbstbedienungsmentalität, die sicherstellte, dass zunächst die gewählten Stadtväter von den Modernisierungsmaßnahmen profitierten, zeigte sich also auch bei einer extern ernannten Administration. Ihre Interaktion mit der lokalen Wirtschaftselite war in manchen Bereichen derart intensiv, dass eine weitgehende Interessenkonkordanz bestand.

10.3 Technokratische Stadtvisionen: Die Ingenieure und die urbane Moderne Aber es wäre nicht nur vereinfachend, sondern auch irreführend, den gemeinsamen Nenner eines Engagements bei der städtischen Modernisierung auf das geteilte Profitstreben zu reduzieren. Es gab zahlreiche weitere Motivlagen, die eine pragmatische Zusammenarbeit über die trennenden Gräben zwischen Administration und Gesellschaft sowie zwischen den Nationalitäten und Konfessionen hinweg ermöglichten. Der zeitgenössisch omnipräsente Pathos der Modernität, der den Wandel Warschaus zur Metropole begleitete, schuf beispielsweise ein stabiles Fundament für Kommunikation und Kontakte. Es waren vor allem die Ingenieure, die mit ihren stark technokratisch geprägten Stadtvisionen eine

|| 134 Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 33–35.

10.3 Technokratische Stadtvisionen | 265

gemeinsame Sprache fanden und als Brückenbauer im ebenso wörtlichen wie übertragenen Sinne agierten.135 Ingenieure taten sich als Vermittler, aber auch als Konkretisierer allgemeiner Modernisierungsabsichten hervor. Bei ihnen erwies sich die Moderne als entscheidende kommunikative Klammer. Dabei besteht an der zentralen Bedeutung, die diesem Berufsstand in administrativen Institutionen, privatwirtschaftlichen Unternehmen, aber auch bei gesellschaftlichen Initiativen zukam, kein Zweifel. Manche Instanzen und Kommissionen, die über urbane Modernisierungsmaßnahmen entscheiden mussten, waren fest in der Hand von Ingenieuren. Sie spielten in der städtischen Erneuerung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine Schlüsselrolle. Im Königreich Polen waren viele dieser Ingenieure Staatsbedienstete. Die zarische Bürokratie beschäftigte eine große Zahl von Fachleuten wie Landvermesser, Techniker oder auch Ärzte, die fest in den administrativen Apparat eingebunden waren. Da es im Weichselland keine ländliche oder städtische Selbstverwaltung gab, ersetzten die von der staatlichen Bürokratie bezahlten Fachkräfte in gewisser Weise jenen „dritten Stand“, der sich im Zuge der Zemstvo-Entfaltung und städtischen Selbstverwaltung im inneren Russland entwickelte.136 Die Vertreter dieser Berufsgruppen waren im Königreich in der überwiegenden Mehrheit katholische Polen. Denn die diskriminierende Praxis, die Katholiken in den Leitungsposten der Bürokratie zu äußert seltenen Ausnahmen machte, galt für diese staatlich beschäftigten Experten nicht. Zusammen mit den subalternen Verwaltungsbeamten trug diese große Zahl an Professionsvertretern dazu bei, dass katholische Polen insgesamt Zweidrittel des Personals der zarischen Bürokratie vor Ort ausmachten. Dies begünstigte zweifellos die Brückenfunktion, die die Fachvertreter in einer Kommunikation zwischen Administration und Gesellschaft einnahmen.137 In ihrer sozialen Herkunft unterschieden sich die Berufsvertreter im Übrigen nicht wesentlich von der selbst|| 135 Vgl. allg. Martin Kohlrausch/Katrin Steffen/Stefan Wiederkehr: Expert Cultures in Central Eastern Europe. The Internationalization of Knowledge and the Transformation of Nation States since World War I – Introduction, in: Martin Kohlrausch/Katrin Steffen/Stefan Wiederkehr (Hrsg.): Expert Cultures in Central Eastern Europe. The Internationalization of Knowledge and the Transformation of Nation States since World War I, Osnabrück 2010, S. 9– 30, v. a. S. 14–19; Michael Salewski/Ilona Stölken-Fitschen (Hrsg.): Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994. 136 Vgl. u. a. Guido Hausmann: Stadt und Gesellschaft, S. 57–66; zuletzt Ilya Gerasimov: Redefining the Empire: Social Engineering in Late Imperial Russia, in: Ilya Gerasimov/Jan Kusber/Alexander Semyonov (Hrsg.): Empire Speaks Out. Languages of Rationalization and SelfDescription in the Russian Empire, Leiden 2009, S. 229–271. 137 Siehe auch Katya Vladimirov: Provincial Bureaucracy, S. 76–83.

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ständigen polnischen Intelligenz. Die überlieferten Personalakten weisen die Herkunft aus dem polnischen Adel als den verbreitetsten biographischen Hintergrund dieser Staatsangestellten aus. So misstrauisch die zarische Bürokratie gegenüber der polnischen Szlachta allgemein war, so wenig drückte sich dies etwa in einem konkreten Berufsverbot für Abkömmlinge des verarmten Kleinadels im Staatsdienst aus. Solange die standardisierte Anfrage beim Oberpolizeimeister zur politischen Verlässlichkeit einer Person keine problematisch erscheinenden Aktivitäten in der jeweiligen Biographie zu Tage förderte, waren Ausbildung und Berufserfahrung die entscheidenderen Kriterien für eine Einstellung.138 Unter diesen Fachkräften gehörten die Ingenieure zweifellos zu einer besonders einflussreichen Gruppe, auch wenn sie nicht die einzigen Fürsprecher eines gesellschaftlichen Umbaus nach den Normvorgaben der Moderne darstellten.139 Dies galt bereits für die Verwaltungsstrukturen, die dem Generalgouverneur, dem Oberpolizeimeister oder den Provinzgouverneuren unterstanden, ebenso wie für Teile der zentralen Ministerialbürokratie und partiell auch für die russische Armee.140 In diesen Institutionen nahmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Präsenz und der Stellenwert von Akteuren mit einem Ausbildungshintergrund im Ingenieursbereich deutlich zu. Eine Person wie der Ingenieur G. Gjunter wurde beispielsweise nach 1900 zu einer zentralen Figur im Dienst des Generalgouverneurs, der als Sonderbevollmächtigter zahlreichen Kommissionen vorstand.141 Eine besonders hohe Ingenieursdichte lässt sich vor allem bei der Munizipalverwaltung nachweisen. Nicht nur waren hier solche Gremien wie die Bauabteilung oder die Kanal- und Wasserwerke mehrheitlich mit Ingenieuren bestückt, sondern es stellte der Leitende Ingenieur des Magistrats eine Schlüsselfigur in zahlreichen Angelegenheiten dar.142 Denn auf seinem Schreibtisch bündelten || 138 AGAD, PomGGW, sygn.95, kart.1–14 [Akten zur Gründung des Verbands polnischer Ingenieure und Techniker im Königreich Polen, 1905]. 139 Vgl. z. B. zu Ärzte und Hygieniker Ute Caumanns: Das Krankenhaus im Königreich Polen, S. 437–438; Anna Veronika Wendland: Stadthygienische Interventionen, S. 271. 140 GARF, f.726, op.1, d.21, ll.1–286 [Akten der Warschauer Polizeidivision der Stadt Warschau, 1912]; AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.16–17 [Bericht der Leitung des Verkehrsministeriums im Warschauer Okrug an die Kanzlei des WGG, 18.8.1908]. 141 AGAD, KGGW, sygn.5820, kart.43–43v [Schreiben des Stadtpräsidenten an den WGG Skalon, 7.10.1907]; kart.49 und kart.54 [Kommissionsbericht des Sonderbeauftragten Gjunter, 1.12.1907]. 142 AGAD, KGGW, sygn.6247, kart.1–141 [Korrespondenz zwischen dem Leitenden Ingenieur und dem Stadtpräsidenten, 1909]; AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.156 [Korrespondenz zwischen der Bauabteilung des Magistrats und dem WOPM, 4.10.1909].

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sich so zentrale Kompetenzen wie die Aufsicht und Abnahme von diversen Baumaßnahmen, die Erteilung von Betriebsgenehmigungen oder die Überwachung von Regelvorschriften in sehr verschiedenen Bereichen der städtischen Wirtschaft und Versorgung. So bedurfte es der Supervision und des bejahenden Votums dieses städtischen Beamten bei dem Bezug von Neubauten, bei der Versicherungsschätzung von Gebäuden, der Abnahme von Wohnungssanierungen aus staatlichem oder städtischem Bestand, der Inbetriebnahme von Kanalisationssystemen oder der Öffnung von Veranstaltungsräumen für den Publikumsverkehr.143 Nicht selten agierten der Leitende Ingenieur und der Stadtpräsident zusammen, um die Anliegen der Munizipalverwaltung zu vertreten: Der technische Experte scheint in vielem die rechte Hand des obersten Behördenleiters gewesen zu sein. Dies gilt nicht nur für die Amtsperiode von Starynkevič, der im Rahmen seiner Armeekarriere selbst ein Ingenieurstudium absolviert hatte.144 Auch in späteren Jahren wurden leitende Ingenieure von den Stadtpräsidenten mit verantwortungsvollen Aufgaben beauftragt und gelegentlich sogar als Emissäre der Munizipalverwaltung zu Verhandlungen nach St. Petersburg entsandt.145 Ingenieure waren zudem in den zahlreichen Sonderkommissionen, die sich mit den alltäglichen Problemen des Stadtbetriebs befassten, ein dominantes Element. Ihre Präsenz wurde dadurch erhöht, dass in vielen Fällen auch jene Vertreter, die gesellschaftliche Institutionen und Warschauer Unternehmen in diese Gremien entsandten, Ingenieure waren.146 Symbolisch verdichtet, zeigte sich diese allgemeine Wertschätzung der Ingenieurprofession dann bei dem Empfang des Zaren bei seinem Warschaubesuch 1897. Zu der illustren Delegation, die den Herrscher am Bahnhof im Namen der Stadt begrüßen sollten, gehörten auch zwei Ingenieure.147 Und bereits ein Jahr später genehmigten die zarischen Behörden die Gründung einer eigenständigen Gesellschaft der Techniker

|| 143 AGAD, KGGW, sygn.1216, kart.6–13 [Verfahren zur Eröffnung des Kinotheaters Fenomen, 1909]; AGAD, KGGW, sygn.5937, kart.58 [Kommissionstätigkeit zum Bau der Weichselbrücke, 1906–1908]. 144 Sokrates Starynkiewicz: Mój Dziennik; Sokrates Starynkiewicz: Dziennik 1887–1897, z. B. S. 162–163. 145 AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.166 [Schreiben des Stadtpräsidenten und des Leitenden Ingenieurs des Magistrats an den WGG, 21.9.1910]; AGAD, KGGW, sygn.5937, kart.54 [Schreiben des WGG an den Stadtpräsidenten, 29.8.1908]. 146 AGAD, KGGW, sygn.5820, kart.47–55 [Kommissionsbericht an den WGG, 1.12.1907]. 147 GARF, f.215, op.1, d.916, ll.38–39 [Telegramm Frederiks an den WGG Imeretinskij, 28.6.1897].

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(Stowarzyszenie Techników), die 1903 zudem das Haus der Techniker als neue Niederlassung im Zentrum Warschaus bezog.148 Wie sehr diese Hochachtung von weiten Kreisen der Bürokratie und der Warschauer Gesellschaft geteilt wurde, manifestierte sich nicht zuletzt in der Bedeutung, die dem Ingenieur- und Bauwissenschaftlichen Fachbereich im soeben gestifteten Polytechnischen Institut in Warschau eingeräumt wurde, in dem nach 1897 eine neue Schar von polnischen Ingenieuren ausgebildet wurde. Ingenieure waren in den Geschäften einer städtischen Regulierung also allgegenwärtig. Sie stellten die wesentlichen Träger und zum Teil auch Gestalter des Modernisierungsgedankens und seiner Technokratisierung dar. Denn um die Jahrhundertwende trat eine neue Generation von Ingenieuren auf die Bühne, die sich durch eine verbesserte technisch-praktische Ausbildung, eine höhere Bereitschaft zur praktischen Arbeit, aber auch durch zunehmend technokratische Gesellschaftsvisionen auszeichnete. In ihren Selbstentwürfen stilisierten sie sich zu Vorkämpfern der Moderne.149 Nicht nur galt es, die Natur im Berg-, Brücken- oder Eisenbahnbau zu bezwingen. Viele der Ingenieure waren auch Anhänger sozial-moralischer Utopien, bei denen die massenstädtischen Unterschichten eine wachsende Bedeutung als Projektfläche einnahmen. Technik und Fortschritt wurden als Heilmittel auch für die soziale Frage verstanden und mythisch überhöht. In zeitgenössischen Romanen figurierte immer wieder der Ingenieur als der große Weltenveränderer und -retter.150 Dieser Typus von Ingenieur war auch im Königreich Polen eine übliche zeitgenössische Erscheinung. Als gewisse polnische Spezifik kann man hier allenfalls ausmachen, dass die polnischen Ingenieure die bereits im Positivismus angelegte Überhöhung von technischer Arbeit aufgriffen und sie erfolgreich zur Selbstheroisierung nutzen.151 Im Kontrast zu den zarischen Autoritäten, in deren Dienst sie nicht selten standen, waren sie Träger einer anderen Imperiumskonzeption und durch eine andere Wahrnehmung der polnischen || 148 Siehe Jerzy S. Majewski: Warszawa nieodbudowana, S. 78–82. 149 Vgl. allg. Peter Lundgreen: Das Bild des Ingenieurs im 19. Jahrhundert, in: Michael Salewski/Ilona Stölken-Fitschen (Hrsg.): Moderne Zeiten: Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 17–24; Joachim Radkau: Technik im Temporausch der Jahrhundertwende, in: Michael Salewski/Ilona Stölken-Fitschen (Hrsg.): Moderne Zeiten: Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 61–76, v. a. S. 72–75. 150 Vgl. Wolfgang Kaschuba: Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne, Frankfurt/Main 2004, S. 117–119; Michael Salewski: Technik als Vision der Zukunft um die Jahrhundertwende, in: Michael Salewski/Ilona Stölken-Fitschen (Hrsg.): Moderne Zeiten: Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 77–91, v. a. S. 81–89. 151 Vgl. auch Piotr S. Wandycz: Partitioned Poland, S. 208.

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Provinz geprägt. Das Weichselland erschien in Ingenieursperspektive oft als Laboratorium und Experimentierfeld. Es stellte eine Schnittstelle mit Westeuropa dar und war eine Durchgangsstation für Technologietransfers. Andererseits schärfte das Königreich immer auch die Wahrnehmung der eigenen Rückständigkeit, da es zum unmittelbaren westeuropäischen Vergleich zwang.152 Das Beispiel der Einführung der Gasbeleuchtung in der polnischen Provinzstadt Płock mag verdeutlichen, wie sich im Handeln und Denken des zuständigen Ingenieurs verschiedene Problemlinien kreuzten. Das von den Beamten der städtischen Verwaltung in Auftrag gegebene, aber von polnischen und russischen Ingenieuren verwirklichte Projekt wurde von den beteiligten Technikern in Sinne eines social engineering gedeutet. Denn, so schrieb ein Beteiligter in einer Denkschrift, mit der Gasbeleuchtung werde auch die Prostitution in dem kleinen Städtchen schlagartig zurückgehen.153 Aus diesem Memorandum sprach der feste Glaube an die Segnungen der Modernität: Allein die technische Neuerung und die damit verbundene Erhellung des öffentlichen Raums versprach, solche sozial-moralischen Probleme pauperisierter städtischer Unterschichten wie den Gang zur Prostituierten schnell und durchgreifend zu lösen.154 Verbunden damit war eine Vorstellung, in der das Imperium als modernisierender Faktor wahrgenommen wurde. Imperiale Herrschaft war hier nicht primär Fremdbestimmung oder Unterdrückung, vielmehr stellte das Russische Reich auch einen Möglichkeitsrahmen für Modernisierungsprojekte dar. Zum einen lag dies daran, dass für viele Ingenieure tatsächlich das ganze Imperium als Tätigkeitsfeld offenstand und diese oft über einen langjährigen Erfahrungshorizont von Ausbildungs- oder Arbeitszeiten in den Weiten Russlands verfügten. Ob beim Studium am berühmten Polytechnikum in Riga, beim innovativen Häuserbau in der Petersburger Hauptstadt oder bei Trassenlegung und Brückenkonstruktion für die Transsibirische Eisenbahn – oft stellte das Imperium in seiner Weite und Vielfalt den Aktionsradius für begabte und ambitionierte Ingenieure dar. Ihre polnische Herkunft war dagegen eher zweitrangig: Das bekannteste Beispiel ist vielleicht der Ingenieur Stanisław Kierbedź, der in den 1860er Jahren in Warschau die Alexander-Brücke – heute allgemein bekannt als

|| 152 Siehe Jörg Gebhard: Lublin, S. 180–195. 153 A. N. Družinin: Prostitucija v g. Płocke v 1910 g. (Eskiz o merach k presečeniju sovraščenija devušek v Płockoj gub.), Płock 1910, S. 12–15. 154 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.9–11 [Aufzeichnungen des Staatsanwalts der Warschauer Gerichtskammer, 4.1.1900]. Siehe ebenso Vladimir V. Esipov: Prestupnost’ i mery vozdejstvija, Warschau 1900.

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Kierbedź-Brücke – entworfen hatte und später zu einem Pionier im russischen Eisenbahn- und Brückenbau aufstieg.155 Darüber hinaus wurde die imperiale Herrschaft auch als entscheidender aktiver Akteur in dem internationalen Modernisierungswettlauf wahrgenommen. Es bestand hier ein allgemeiner Glaube an die Dringlichkeit staatlicher Förderung für die notwendigen Großprojekte. Ingenieure teilten eine Staatsorientierung, nach der die staatlichen Instanzen und Geldmittel als die entscheidenden Quellen für den Wandel durch Modernisierung betrachtet wurden. In den Augen der sozialplanerisch engagierten Ingenieure wurde die imperiale Staatsmacht durchaus in einer ethischen Pflicht zur Modernisierung gesehen, die aus einer moralischen Verantwortung gegenüber den eigenen Untertanen erwachse.156 Mit einem solchen etatistischen Denken, das in der Zarenmacht und seinen Apparaten zentrale Akteure für das Modernisierungsanliegen ausmachte, hing auch zusammen, dass die Stellung der Ingenieure innerhalb der polnischen Gesellschaft von einer gewissen Ambivalenz geprägt war. Denn die von ihnen propagierte fortschreitende Modernisierung des Königreichs bedeutete oft zugleich dessen intensivierte Einbindung in das Imperium, sei es in wirtschaftlicher, sei es in infrastruktureller Hinsicht. Die Ingenieure waren daher zumindest partiell immer auch Repräsentanten des Zentrums und Akteure, die der quasikolonialen Durchdringung des Königreichs Vorschub leisteten.157 Andererseits stellten die Ingenieure im Königreich die gesellschaftliche Gruppe dar, die konsequent die positivistischen Ideale umzusetzen und mit der Modernisierung Polens einen Beitrag zum Überleben der Nation ohne Staat zu leisten meinte. Das Engagement des Ingenieurs Kazimierz Obrębowicz bei der Gründung des Warschauer Polytechnischen Instituts mag hier als Beispiel dienen. Die Gründung einer Ingenieurschmiede an der Weichsel war nicht nur ein Anliegen der Zunft, sondern ebenso eines breiten positivistisch inspirierten Unterstützermilieus.158 Auch bei anderen gesellschaftlichen Initiativen agierten

|| 155 Vgl. Ludwik Bazylow: Polacy w Petersburgu, Wrocław 1984; Andrzej Chwalba: Polacy w służbie Moskali; Artur Kijas: Polacy w życiu społeczno-politycznym Moskwy na przełomie XIX/XX wieku, in: Piotr Kraszewski (Hrsg.): Cywilizacja Rosji imperialnej, Poznan 2002, S. 213– 226; Timothy Snyder: Ukrainians and Poles, in: Dominic Lieven (Hrsg.): The Cambridge History of Russia, Bd. 2: Imperial Russia, 1689–1917, Cambridge 2006, S. 165–183, S. 182–183. 156 A. N. Družinin: Prostitucija v g. Płocke v 1910 g. (Eskiz o merach k presečeniju sovraščenija devušek v Płockoj gub.), Płock 1910, S. 12–15. Vgl. auch Ivan I. Janžul’: Otčet I. I. Janžula po issledovaniju fabričnozavodskoj promyšlennosti v Carstve Pol’skom, St. Petersburg 1888. 157 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.16v–17 [Bericht des Gouverneurs Miller an den WGG, 15.4.1903]. 158 APW, t.25, sygn.267, kart.1–43 [Unterlagen zum Kierbedź-Stipendium, 1911–14].

10.3 Technokratische Stadtvisionen | 271

Ingenieure an prominenter Stelle. So waren sie maßgeblich an der Initiative beteiligt, öffentliche Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der literarischen und publizistischen Tätigkeit Aleksander Świętochowskis, des wichtigsten positivistischen Programmatikers in Warschau, zu organisieren.159 Sie spielten eine zentrale Rolle in der Warschauer Gesellschaft zur Förderung von Handel und Industrie und sie bemühten sich im Kontext der Revolution von 1905 um eine Gründung eines polnischen Verbandes von Ingenieuren.160 Insgesamt galten Ingenieure als wesentliche Stütze eines Positivismus, der sich als politisches und gesellschaftliches Programm verstand. Damit prägten die innerpolnischen Auseinandersetzungen um den richtigen Umgang mit dem Verlust der Staatlichkeit und der russischen Fremdherrschaft auch die Position, die die positivistisch motivierten Ingenieure innerhalb der polnischen Gesellschaft einnehmen konnten. Nichts kann das deutlicher veranschaulichen als die Zusammenstöße, die sich im Mai 1912 anlässlich der Beisetzung von Bolesław Prus zwischen Studenten des ingenieurwissenschaftlichen Fachbereichs des Polytechnikums und ihren Gegnern ereigneten. Die angehenden Ingenieure beriefen sich auf die Unterstützung, mit der Prus die Institution des PTI bedacht hatte, um einen privilegierten Platz bei der Beerdingung des Dichters einzufordern. In Absprache mit der Witwe waren sie es, die die Ehre hatten, Prus’ Sarg zum Trauergottesdienst zu tragen. Dies jedoch löste einen Proteststurm bei jenen Trauergästen aus, die auf eine Fortführung des Boykotts aller staatlichen Bildungseinrichtungen drängten und die die Ingenieurstudenten des Verrats an der polnischen Sache bezichtigten. Als Prus’ Sarg aus der Kirche zum Friedhof getragen werden sollte, verwehrten die Boykottaktivisten mit Hilfe einer Phalanx aus hemdsärmeligen Straßenbahnangestellten und Kellnern den Studenten den Gang im Trauerzug. Die Jungingenieure gaben sich allerdings nicht geschlagen: Sie überholten die Beerdigungsprozession über Nebenstraßen und stellten sich am Friedhofstor zum Spalier für den großen Warschauer Positivisten auf.161 In diesem symbolischen Scharmützel kam ein tieferliegender Konflikt zum Ausdruck. Hier geriet jenes kooperationsbereite Lager, in dem Ingenieure und Studenten des PTI den Ton angaben, an eine

|| 159 AGAD, KGGW, sygn.949, kart.1 [Gesuch von Warschauer Bürgern an den WGG Skalon, 3.5.1908]. 160 AGAD, PomGGW, sygn.95, kart.1–14 [Gründung des Verbandes polnischer Ingenieure und Techniker, Juni-August 1905]. 161 AGAD, PomGGW, sygn.378, kart.108–112 [Zusammenstellung der Agenturberichte zu Warschau, Bericht des Mitarbeiters „Poddubnyj“, 18.6.1912]; kart.123–125 [Zusammenstellung der Agenturberichte, Bericht des Mitarbeiters „Ogončik“, 9.5.1912].

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Widerstandsfraktion, die sich nicht weniger positivistisch verstand, aber weiterhin auf die Konfrontation mit dem Staat setzte. Der Anspruch dieser Ingenieure auf eine positivistische Alleinvertretung war innerhalb der polnischen Gesellschaft also keineswegs unumstritten. Aber im Gegensatz zur positivistischen Programmatik war die Profession des Ingenieurs auch für andere politische Lager unentbehrlich. Man konnte die „versöhnlerische Haltung“ des Positivismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufgeben und wieder stärker die Konfrontation mit der imperialen Herrschaft suchen; man konnte jedoch kaum leugnen, dass Ingenieure bei den kommenden Arbeiten zum Aufbau eines polnischen Staats von entscheidender Bedeutung sein würden. Ingenieure spielten daher auch für die revolutionären Parteiungen nationaler oder sozialistischer Provenienz eine große Rolle.162 So wichtig Ingenieure sowie ihren Bewegungen und Initiativen zur Selbstorganisation in der polnischen Gesellschaft waren, so sehr bestanden auch auf der Seite der zarischen Bürokratie Anknüpfungspunkte an die zeitgenössischen Wertehierarchien vieler Ingenieure. Denn technokratisches Denken war im ausgehenden 19. Jahrhundert zumindest in einigen Segmenten des Staatsapparats, allen voran der Munizipalverwaltung, angekommen. Und selbst jene konservativen Institutionen wie der Generalgouverneur und seine Administration konnten ihre Weltsichten letztlich mit dem technizistischen Etatismus vieler Ingenieure in Einklang bringen. Der damit verbundene Appell an die moralsittlichen Erneuerungsaspekte einer technischen Revolution war zumindest partiell kompatibel mit dem paternalistischen Selbstbild der obersten Amtsträger. Denn diese sahen sich als Vertreter einer orthodoxen Zarenmacht, die ihnen als Antipode zu einem staatsfernen Manchesterkapitalismus galt und die in ihrer Selbstwahrnehmung eben keine allein profitmaximierende amoralische Ausbeutung von Menschen betrieb.163 Ingenieure und ihre gesellschaftlichen Visionen von einer sozialen Harmonisierung durch Technik ließen sich in eine solche Weltsicht problemlos integrieren. Und so stellten Ingenieure auch eine wichtige Kohorte für jene Fabrikinspektionen, die eine staatliche Kontrolle von Industriebetrieben und der Einhaltung nicht nur technischer, sondern auch moralischer Standards in der Produktion vorsahen.164 So sehr diese paradoxe || 162 AGAD, KGGW, sygn.4391, kart.2–5 [Bericht des Leiters der Ochrana beim WGG, 16.10.1908]; kart.33 [Schreiben des WOPM an den WGG Skalon, 26.10.1908]. Vgl. auch Pascal Trees: Wahlen im Weichselland, S. 77–81. 163 Richard G. Robbins: The Tsar’s Viceroys, S. 202–211. 164 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.47–47ob [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 10.2.1898]. Siehe auch Ivan I. Janžul’: Iz vospominanij i perepiski Fabričnogo Inspektora pervogo prizyva, St. Petersburg 1907.

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Institution geprägt war von dem Grundwiderspruch, der zwischen dem paternalistischen Selbstbild zarischer Beamter und ihrer entschiedenen Gegnerschaft gegen alle Formen der Arbeiterselbstorganisation bestand, so sehr zeigt sich hier ein mögliches Handlungsfeld für Ingenieure im Staatsdienst. Auch hier propagierten sie technische Neuerungen in Bereichen von Hygiene, Arbeitssicherheit oder Leistungssteigerung als Schlüsselmaßnahmen zur gesellschaftlichen Harmonisierung. Eine derart moralisch aufgeladene Technisierung von Problemlösungen aller Art verlieh den Ingenieuren selbst innerhalb der imperialen Bürokratie eine erhebliche Deutungsmacht.165 Anders ist nicht zu erklären, warum Ingenieure als pressure group operieren konnten und Modernisierungsmaßnahmen sogar gegen gewisse Widerstände des Beamtenapparats durchzusetzen vermochten. Der korruptions- und skandalumwitterte Bau der dritten Weichselbrücke ist zugleich auch ein Beispiel für die gewichtige Stimme, die Ingenieure bei derart bedeutenden infrastrukturellen Fragen besaßen. Zweifellos bestand eine grundsätzliche Einigkeit über die dringende Notwendigkeit des Brückenbaus, die bis zu den Petersburger Instanzen reichte, in deren Händen die Genehmigung letztlich lag. Es war hier eher die konkrete Umsetzung des Bauprojekts, bei der die beteiligten Ingenieure ihren Einfluss geltend machten. Sie haben die Realisierung dieser gewaltigen infrastrukturellen Maßnahme maßgeblich geprägt. Es war der bekanntlich wenig skrupulöse Ingenieur Mieczysław Marszewski, der in seiner Funktion als Vorsitzender des Baukomitees über die Details der Brückenmodellierung, der Materialwahl und der ästhetischen Ausgestaltung entschied. Zusammen mit den Ingenieuren B. Plebiński und Wacław Paszkowski und dem omnipräsenten Warschauer Architekten Stefan Szyller entwarf Marszewski einen technisch wie ästhetisch extravaganten Brückenbau. Für die 506 Meter lange Brücke wurde das neue Material Stahlbeton verwendet, den vor allem Wacław Paszkowski als den Baustoff der Zukunft stilisierte. Das Projekt umfasste ein technisch anspruchsvolles Viadukt als Brückenöffnung und sah eine aufwändige Gestaltung des Brückendekors im Stil der Neorenaissance vor.166 Diese so ausdrucksstarke wie kostenintensive Lösung stieß allerdings nicht nur auf Widerstand von Seiten des Generalgouverneurs Čertkov, sondern auch auf Kritik aus Teilen der polnischen Gesellschaft. Der Unmut des zarischen Beam-

|| 165 Vgl. A. Ju. Volodin: Istorija fabričnoj inspekcii v Rossii 1882–1914 gg., Moskau 2009, v. a. S. 18–49. 166 AGAD, KGGW, sygn.5937, kart.58 [Schreiben des Innenministeriums an den WGG zum Beschluss der Brückenkommission, 26.9.1908]. Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 24–29.

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ten hing damit zusammen, dass die geplante Ausgestaltung der Brücke im Stile der Neorenaissance einen als polnisch-national konnotierten Architekturstil zur Schau stellte, der stark an die Galeria Zachęta erinnerte, die Stefan Szyller 1903 gestaltet hatte.167 Da sich die Zachęta zu einem der Zentren der polnischkulturellen Selbstvergewisserung entwickelt hatte, wurde sie von der russischen Verwaltung mit Argwohn betrachtet. Im Gegensatz zur privat betriebenen Zachęta war die Weichselbrücke jedoch ein zentrales imperiales Brückenprojekt und eine Ausgestaltung im vermeintlich polnischen Stil hatte problematische Implikationen.168 Die Kritik an dem Eklektizismus der Neorenaissance wurde aber auch von Teilen der polnischen Gesellschaft getragen – sei es aus ästhetischen Gesichtspunkten, sei es wegen der überhöhten Kosten des Prunkbaus.169 Dennoch gelang es den Architekten und Ingenieuren, die von ihnen favorisierte Variante der Brücke gegen solche Widerstände durchzusetzen.170 Der Leiter des Baukontors Marszewski konnte hier zeitweise eine erstaunliche Entscheidungsautonomie erlangen, die bekanntlich zu Missmanagement, Korruption und Auftragsmanipulation führte. Aber auch nach Marszewskis Amtsenthebung blieb der Spielraum seines Nachfolgers, des bekannten und im Brückenbau profilierten Ingenieurs Lubiski, weiterhin erheblich. Das von Marszewski präferierte Brückenmodell wurde von ihm ohne größere Korrekturen erfolgreich zu Ende geführt.171 Mit Blick auf die Rolle der Ingenieure verdeutlicht das Beispiel, dass die Vertreter dieser Berufsgruppe nicht nur Erfüllungsgehilfen administrativer Anweisungen waren, sondern selbst in den Prozess von Bautätigkeit und Modernisierung aktiv eingriffen. Sie waren als Spezialistengruppe vor allem dort einflussreich, wo es um die konkrete technische Ausgestaltung von Projekten ging. Sie waren aber ebenfalls daran beteiligt, ästhetische Ausformungen einer sich entwickelnden modernen Urbanität zu gestalten. Denn mit ihren Entscheidungen über Baumaterialien und -stile drückten sie den sichtbaren Oberflächen der entstehenden modernen Repräsentationsbauten ihren Stempel auf.

|| 167 Vgl. Janina Wiercińska: Towarzystwo Zachęty Sztuk Pięknych. 168 Vgl. die Kritik bei Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 27. 169 Vgl. auch Barbara Petrozolin-Skowrońska: Encyklopedia Warszawy, S. 511. 170 AGAD, KGGW, sygn.6784, kart.5–6v [Brief des Stadtpräsidenten Litvinskij an WGG, 1908]. 171 Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 32.

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Abb. 26: Die dritte Weichselbrücke. Photographie von Stanisław Nofok-Sowiński (1916)

Nicht zuletzt verschwamm hier der vermeintlich klare polnisch-russische Antagonismus. Zwar zeichneten sich russische Ingenieurskreise durch einen beständig wachsenden Nationalismus aus, da sie sich in harter Konkurrenz zu ausländischen Fachkräften sahen. Auf der anderen Seite aber gab es auch Versuche, einen rein polnischen Berufsverband zu institutionalisieren.172 Dennoch verhalf der technokratische Diskurs, Kommunikationsbrücken über den russischpolnischen Gegensatz hinweg zu schlagen. Indem sich Ingenieure als die wesentliche Modernisierungsinstanz stilisierten, kam es zu Interessenfusionen bei konkreten Projekten. Der Bau der dritten Weichselbrücke war dann auch ein Beispiel für ein geglücktes joint venture russischer und polnischer Ingenieure, bei der die Nationalität der Akteure eine geringere Rolle spielte als ihre gemeinsame Faszination von diesem technisch anspruchsvollen Bauvorhaben. So waren in der mit der Baudurchführung beauftragten Aktiengesellschaft K. Rudzki i Ska zahlreiche russische Ingenieure beschäftigt, was auch damit zusammenhing, dass die Firma zuvor vor allem beim Brückenbau im asiatischen Teil des Russischen Imperiums engagiert gewesen war.173 Der geteilte Nenner einer Heroisierung von Technik und Modernität, die sich in der Ingenieurleistung paradigmatisch zu bündeln schien, schuf hier einen gemeinsamen Diskurs- und || 172 AGAD, PomGGW, sygn.95, kart.1–14 [Gründung des Verbandes polnischer Ingenieure und Techniker, Juni–August 1905]. 173 Vgl. Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 26–27.

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Vorstellungsraum, in dem man sich gegenseitig verstand. Die fortschreitende Nationalisierung des Imperiums, die sich im Zusammenleben von Menschen und Gruppen im ausgehenden Zarenreich allerorts beobachten und die sich auch besonders im Königreich Polen und in Warschau nachzeichnen lässt, wurde hier durch einen elitären Expertendiskurs zumindest abgemildert. Eine Kooperation unter den Vorzeichen einer Fortschrittsutopie war durchaus über die trennenden Gräben von Konfession und Nationalität hinweg möglich.

10.4 Imperiale Herrschaft und städtische Modernisierung. Ein Fazit An dem Projekt der städtischen Erneuerung Warschaus im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert waren zahlreiche Akteursgruppen beteiligt. Diese hatten sehr unterschiedliche Vorstellungen von Modernität und von dem, was sie bewirken sollte. Zum Teil traten sie als bekennende Modernisierungsverfechter in Aktion, zum Teil bremsten sie die städtische Erneuerung als Skeptiker oder Verweigerer. An der Schwelle zur Moderne produzierten und popularisierten sie divergente, oft konkurrierende Bilder von Urbanität und differierende Funktionszuschreibungen an den öffentlichen Raum.174 Der Blick auf die Interaktionen dieser Gruppen zeigt, dass sich das Stigma der Zarenmacht als Modernisierungsverhinderer nicht aufrechterhalten lässt. Die zarische Bürokratie war kein Monolith, der sich geschlossen gegen die Sachzwänge und Herausforderungen der Moderne und der Genese der Großstadt stemmte. Vielmehr waren auch innerhalb dieser vielschichtigen Verwaltungsstruktur sehr unterschiedliche Kräfte am Werk – einige davon haben entscheidend dazu beigetragen, dass Warschau schon unter russischer Herrschaft eine zunehmend moderne Gestalt annahm. Ein solcher Befund bedeutet zweifellos nicht, dass man dem Selbstbild glauben sollte, mit dem einige Wortführer der imperialen Gemeinde diese selbst zum entscheidenden Initiator des Wandels stilisierten. Wenn russische Autoren aus Warschau wie Vladimir Esipov, Vladimir Smorodinov oder N. Veckij darauf verwiesen, dass im Weichselland allein die Zarenmacht der Träger von Moderni|| 174 Das Spektrum der beteiligten Akteure ist in diesem Abschnitt gleichwohl nur unvollständig porträtiert worden. Gerade auf polnischer und jüdischer Seite waren neben (groß) bürgerlichen Positivisten und Philanthropen, Geschäftsleuten und Ingenieuren noch eine ganze Reihe anderer Berufsgruppen und Personen – wie Juristen, Mediziner, Hygieniker, Lehrer oder Meinungsträger der urbanen Medienöffentlichkeit – an den beschriebenen Prozessen beteiligt.

10.4 Imperiale Herrschaft und städtische Modernisierung. Ein Fazit | 277

tät sei, der dem heruntergewirtschafteten polnischen Landstrich ökonomische und kulturelle Entwicklungshilfe leiste, blendete eine solche Perspektive die Tatkraft der lokalen Gesellschaft konsequent aus.175 Wie sehr es jedoch gerade indigene Kreise der Warschauer Bürgerschaft waren, die zahlreiche Entwicklungen in der Metropole anstießen und realisierten, hat dieses Kapitel gezeigt. Im Kontrast zu den vergeblichen Bemühungen der russischen Gemeinde, ähnlich Beachtliches zu vollbringen, manifestiert sich nicht nur die Schwäche der kleinen russischen Diaspora. Ihr Scheitern im Fall des Russischen Volkshauses macht zugleich deutlich, dass selbst mit tatkräftiger Unterstützung von Teilen der zarischen Administration das nicht gelingen wollte, was die Warschauer Bürgerschaft in dutzenden Fällen auf den Weg brachte. Es war hier unerheblich, ob die polnischen Akteure aus patriotischen oder unternehmerischen Motiven heraus handelten, ob es ihnen um das soziale Gemeinwohl, die polnische Kultur, die technisierte Moderne oder den eigenen Profit ging. Oft genug waren diese Interessenlagen gar nicht zu trennen. Und die Beispiele bezeugen allesamt, dass die Warschauer Gesellschaft über die Ressourcen verfügte, um weitreichende urbane Entwicklungen anzustoßen, wo es den staatlichen Stellen oft an Mitteln mangelte. Sei es beim Polytechnischen Institut, bei der Philharmonie oder Zachęta, sei es beim privat finanzierten, parallelen Bildungssystem oder dem spekulationsbefeuerten Mietshäuserbau, sei es bei der modernen Technisierung städtischen Lebens – überall wurde eindrücklich demonstriert, dass sich auch in Warschau der Aufbruch der Gesellschaft im zarischen Verordnungsstaat schon längst vollzogen hatte. Nicht zuletzt kollidierten damit unterschiedliche Vorstellungen von der Urheberschaft des Wandels. Nichts kann dies deutlicher zeigen als der eingangs geschilderte Konflikt, zu dem es bei der feierlichen Eröffnung der dritten Weichselbrücke zwischen den zarischen Amtsträgern und der polnischen Gesellschaft kam. Nach Ansicht der polnischen Meinungsträger stand nur einem katholischen Priester das Recht der zeremoniellen Weihung zu, da die neue Brücke allein aus städtischen Mitteln gebaut worden sei, die wiederum die polnischen Stadtbürger erbracht hätten. In dem Selbstverständnis dieser Kritiker waren die moderne Stadt und die in ihr erfolgten infrastrukturellen und technischen Neuerungen vor allem eine Leistung der indigenen Bevölkerung – die entscheidende Rolle der in St. Petersburg gewährten Kredite blieb hier unerwähnt. Den

|| 175 Siehe z. B. Vladimir V. Esipov: Materialy k istorii Imperatorskogo Varšavskogo Universiteta. Biografičeskie očerki, Bd. 1, Warschau 1913; I. V. Skvorcov: Russkaja škola v Privisljan’e s 1879 po 1897 god, Warschau 1897; Vladimir G. Smorodinov: Gody služby moej v Varšavskom učebnom okruge i epizody učebnogo byta, Petrograd 1914.

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Wandel Warschaus zur modernen Metropole hatten in dieser Sicht vor allem die Warschauer selbst gestaltet.176 Derartige Auseinandersetzungen um den Anspruch auf die Stadt und die Autorenschaft erfolgreicher Urbanisierung sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es erst das Geflecht von interagierenden staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen war, das die Modernisierung dieser Metropole ohne Selbstverwaltung ermöglichte.177 Um beim Beispiel der Weichselbrücke zu bleiben: Es war eben diese Interaktion von staatlicher Kreditvergabe und munizipaler Planung, von ministerialer Genehmigung und Engagement polnischer Ingenieure und Architekten, die dieses Kernstück der infrastrukturellen Erneuerung Warschaus hervorbrachte. Denn gesellschaftliches Engagement ohne administrative Duldung oder Befürwortung war ebenso wenig möglich, wie Unternehmungen einer imperialen Bürokratie ohne die Kooperation der indigenen Elite Aussicht auf Erfolg gehabt hätten. Eine Obrigkeit, die mehr als die Aufrechterhaltung militärischer und polizeilicher Kontrolle wollte, blieb auf die Zusammenarbeit mit Teilen der lokalen Gesellschaft angewiesen. Es war diese an Missverständnissen, Misstrauen und Verbitterungen reiche Interaktion einer Konfliktgemeinschaft, die den Wandel Warschaus vorantrieb. Die imperiale Perspektive, mit der die zarischen Beamten auf Warschau blickten, stand im Übrigen nicht im Widerspruch zu ihrem Engagement in lokalen Angelegenheiten: Man war eben auch an der Modernisierung Warschaus als Teil des Aufstiegs des Russischen Reichs interessiert. So sehr sich die Prioritäten von solchen Amtsträgern wie den Stadtpräsidenten und den Generalgouverneuren unterscheiden mochten, ihnen allen war doch das Zusammendenken der beiden Größen Warschau und Imperium gemeinsam. Das erleichterte die Kontaktaufnahme zur Stadtgesellschaft und stellte eine stabile Basis für die pragmatische Kommunikation jenseits aller politischen Differenzen bereit. In diesem langen Austauschprozess waren die imperialen Beamten längst Teil jener Stadt geworden, deren Beherrschung ihr eigentlicher Amtsauftrag war. Diese über Jahre erfolgte Indigenisierung war partiell und führte nie dazu, dass imperiale Perspektiven zugunsten von polnischen Positionen aufgegeben wurden. Selbst ein erklärter Sympathisant polnischer Anliegen wie Sokrat Starynkevič blieb ein imperialer Beamter, der kaum Verständnis für die vielzitierten „polnischen Träumereien“ von Autonomie oder gar Selbstständigkeit hatte.

|| 176 APW, t.24 (WWO), sygn.263, kart.1–6v [Bericht über gesellschaftliche und politische Entwicklungen in Warschau, 14.1.1914]. 177 AGAD, PomGGW, sygn.378, kart.123–125 [Zusammenstellung der Agenturberichte, Bericht des Mitarbeiters „Ogončik“, 9.5.1912].

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Und dennoch ist auffällig, dass die hier porträtierten Amtsträger sich als Teil des Stadtkörpers und nicht als fremde Besatzungsmacht verstanden. Denn anders als jene nationalistischen Scharfmacher in der russischen Gemeinde, die seit der Jahrhundertwende immer stärker auf die Nationalisierung des Imperiums drängten, sah die imperiale Beamtenschaft die Zukunft des Reichs nicht in Gestalt eines Apartheidregimes, in dem allen Nichtrussen nur noch in benachteiligten, segregierten und polizeilich überwachten Räumen ihr Dasein zu fristen hätten. Dass eine Vielzahl der zarischen Beamten selbst keine ethnischen Russen waren, hat diese Skepsis gegenüber dergleichen Forderungen des nationalistischen Lagers sicherlich verstärkt. Es war aber auch die jahrelange Erfahrung konkreter Zusammenarbeit mit der lokalen Gesellschaft, die den Horizont zahlreicher Amtsträger prägte. Das gemeinsame Projekt einer urbanen Moderne, das Generalgouverneure, Stadtpräsidenten, Ingenieure und Wirtschaftsbürger immer wieder an einen Tisch brachte, hat hier nachhaltige Wirkungen gezeigt und damit indirekt die Praxis imperialer Herrschaft modifiziert. Mit dem noch in der russischen Teilungsperiode popularisierten Topos von Warschau als „Paris des Ostens“ wurde in der Selbstbeschreibung der städtischen Öffentlichkeit die sich entfaltende Modernität der Weichselmetropole aufgegriffen. Die imperialen Beamten standen nicht abseits dieser Paris-Werdung Warschaus, sondern waren einer ihrer produktiven Faktoren. Ihr Anteil an Warschaus Wandel zur modernen europäischen Metropole verdeutlicht die grundsätzlich formative Dimension, die die imperiale Herrschaft im Königreich hatte. Petersburgs Hegemonie ist daher nicht einfach als Unterdrückung und Verhinderung zu beschreiben, sondern als Kontextsetzung zu verstehen, die die lokalen Entwicklungen nachhaltig prägte. Wenige davon wurden von den polnischen Zeitgenossen positiv beurteilt. Einer Interpretation imperialer Herrschaft als produktiver Faktor für politische, soziale und kulturelle Prozesse tut dies keinen Abbruch. Dass sich eine solche formative Dimension des Imperiums in vielen Handlungsfeldern niederschlug, zeigt sich ebenso an den Kommunikations- und Organisationsformen der russischen Gesellschaft in Warschau.

| Teil IV: Verfassungen imperialer Gesellschaft

11 Russkaja Varšava: Die Imperiale Gesellschaft in Warschau Mitten im Königreich Polen lebte im langen 19. Jahrhundert eine Gemeinschaft von Menschen, die sich als die auserwählten Vertreter des Imperiums vor Ort empfanden. Sie sahen sich als Angehörige einer Diaspora, die das Zentrum in der Peripherie repräsentierten. Dieser Kreis einer „imperialen Gesellschaft“ ging weit über den engen und exklusiven Zirkel der zarischen Bürokratie hinaus. Er war in seiner Zusammensetzung ein heterogenes Gebilde und umfasste ein breites Feld an Berufs-, Standes- und Statusgruppen. Nicht nur die Amtsträger der Petersburger Verwaltung und Machtapparate und die Offiziere der Armee, sondern auch Publizisten und Buchhändler, Universitätsprofessoren und Lehrer, Priester und Politiker, Unternehmer und Ingenieure, Anwälte und Mediziner lebten in dem Paralleluniversum der imperialen Gemeinde im Königreich. Manche von ihnen standen im Staatsdienst, ohne sich selbst als Beamte zu verstehen, andere waren als Geschäftsleute im Weichselland tätig. Dominant war bei ihnen ohne Zweifel die Zugehörigkeit zur russisch-orthodoxen Kirche. Die überwiegende Mehrheit dieser Gruppe hätte sich in einer Befragung zur Nationalität als „Russe“ klassifiziert. Allerdings gilt auch hier, dass Homogenität nur in begrenztem Maße bestand; auch Lutheraner, Georgisch-Orthodoxe, Baltendeutsche oder Armenier machten einen Teil dieser imperialen Sozial- und Kommunikationsgemeinschaft aus. Sie alle verband ihr Selbstverständnis, das Imperium an der Weichsel zu vertreten. Sie taten dies mit divergierendem Auftrag und Eifer, sie hatten abweichende Vorstellungen von dem, was das Empire ausmache, und sie pflegten einen unterschiedlichen Grad der Konflikt- beziehungsweise Kontaktintensität mit einer ihnen fremden polnischen und jüdischen Umwelt. Dennoch war das Gefühl von Gemeinsamkeit aufgrund der geteilten Wahrnehmung, Repräsentanten des Reichszusammenhanges in einem Randgebiet zu sein, stark ausgeprägt. In Abgrenzung zur indigenen Bevölkerung wie auch in Erwiderung auf deren Ausgrenzung waren diese Stellvertreter des Imperiums daher bereit, ihre sozialen und kulturellen Aktivitäten in die sich entwickelnden Strukturen und entstehenden Institutionen einer imperialen Gesellschaft einzubringen. Sie trugen damit zum Aufbau jener Lebenswelt bei, die von den Zeitgenossen oft als „Russkaja Varšava“, als „Russisch-Warschau“, bezeichnet wurde. Dies war ebenso Fremd- wie Selbstzuschreibung und benannte sowohl die räumliche Verdichtung wie auch zugleich ihre Hegemonie in Warschau. Dieses Kapitel schildert die Genese der russisch-imperialen Gemeinde in ihrem Ballungsraum, der Weichselmetropole. Denn in Warschau lebte der Großteil

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der imperialen Repräsentanten im Königreich, hier entfalteten sie ein reges soziales und kulturelles Leben und hier waren zugleich die Austauschbeziehungen und die Konfrontationen mit den polnischen und jüdischen Nachbarn am intensivsten.

11.1 Wohltätigkeitsverein, Männerklub und Buchhandlung: Anfänge einer Vergesellschaftung der russischimperialen Gemeinde in Warschau Oft genug wird mit Blick auf das Zarenreich „Gesellschaft“ als Antipode zur autokratischen Herrschaft dargestellt. Sie wird mit Prozessen wie der Emanzipation im Ordnungsstaat, dem „Aufbruch der Gesellschaft“ und der Herausbildung von zivilgesellschaftlichem Engagement assoziiert, die sich im Gegensatz und oft auch in Konfrontation zu den Staatsstrukturen entfalteten.1 Wollte man ein derartiges Verständnis von „Gesellschaft“ an die russische Gemeinde in Warschau herantragen, könnte man vor allem für die frühen Jahre nach dem Januaraufstand nur ihre Abwesenheit konstatieren. Eine russische „Gesellschaft“ jenseits der staatlichen Institutionen war im Weichselland nach 1864 nicht existent. Das „russische Element“ in Warschau und anderswo im Königreich wurde überwiegend durch die Funktionsträger der Bürokratie und der Armee gestellt. Noch 1881 beschreibt der bekannte Petersburger Reisejournalist und Feuilletonist Vladimir Michnevič die russische Gemeinde in Warschau als Veranstaltung von Menschen „im Dienst“. Die russische Gesellschaft war auch rund 15 Jahre nach der Niederschlagung des polnischen Aufstands vor allem eine staatliche Veranstaltung.2 Michnevič’ Charakterisierung der russischen Gemeinde scheinen auch die Statistiken der Zeit zu bestärken, denn sie dokumentieren die zahlenmäßige Schwäche von Angehörigen der Orthodoxie in Warschau. So lebten neben der großen Anzahl von Soldaten der zarischen Armee 1864 nur 691 Orthodoxe in einer Stadt, die sich im Kriegszustand befand.

|| 1 Vgl. z. B. Manfred Hagen: „Obshchestvennost’“: Formative Changes in Russian Society Before 1914, in: Manfred Hagen (Hrsg.): Die russische Freiheit. Wege in ein paradoxes Thema, Stuttgart 2002, S. 124–136; Heiko Haumann/Stefan Plaggenborg (Hrsg.): Aufbruch der Gesellschaft im verordneten Staat. Rußland in der Spätphase des Zarenreiches, Frankfurt/Main 1994; Manfred Hildermeier: Traditionen „aufgeklärter“ Politik in Russland, in: Historische Zeitschrift, 276 (2003), S. 75–94, v. a. S. 87–94. 2 Vladimir Michnevič: Varšava i Varšavjane. Nabljudenija i zametki Vl. Michneviča, St. Petersburg 1881, S. 1–2.

11.1 Wohltätigkeitsverein, Männerklub und Buchhandlung | 285

Aber auch nach der „Befriedung“ der polnischen Erhebung änderte sich daran zunächst wenig: Im Jahre 1866 fanden sich nur 721 Orthodoxe in Warschau.3 Und auch deren vermeintlich deutlicher Anstieg bis 1876 ist trügerisch. Denn von den in diesem Jahr erfassten 10.026 Orthodoxen stellten ehemalig Unierte deutlich die Mehrheit, da diese nach der Zwangsfusion der griechisch-unierten Kirche mit der russisch-orthodoxen Kirchenhierarchie, die 1875 auch in der Eparchie Cholm-Warschau vollzogen worden war, in den öffentlichen Statistiken dem orthodoxen Kontingent hinzugerechnet wurden.4 Und dennoch sprechen die Quellen auch für die ersten zwei Jahrzehnte nach dem Januaraufstand von einer sozialen und kulturellen Geschäftigkeit der russischen Gemeinde. Denn für zeitgenössische Beobachter bestand die vermeintlich klare Trennung zwischen Gesellschaft und Herrschaft keinesfalls. Ganz im Gegenteil, die Repräsentanten zarischer Staatlichkeit waren zugleich auch die wichtigsten Träger dessen, was als „gesellschaftliches Leben“ in Warschau bezeichnet wurde. Derartige Formen von Gesellschaftlichkeit hatten in der russischen Gemeinde durchaus Tradition. Bereits 1859 war eine Warschauer Versammlung (Varšavskoe obščestvennoe sobranie) gegründet worden. Sie verstand sich als Gegeninstitution zum polnischen Obywatelski Klub und strebte die Selbstbezeichnung „Russischer Klub“ an – eine Titulatur, die der Statthalter Prinz Michail Gorčakov ihr zunächst allerdings vorenthielt.5 Eine solche diplomatische Rücksichtnahme auf polnische Empfindlichkeiten erschien nach 1863 nicht mehr nötig und so konnte sich die Assoziation als Russkoe sobranie bereits im Jahr 1864 neu konstituieren. Dass sich die Russische Versammlung inmitten des Januaraufstands formierte, zeugt von der erstaunlichen Normalität gesellschaftlichen Lebens in einer umkämpften Stadt.6 Auch in den Folgejahren entwickelten sich solche Formen der institutionalisierten Vergemeinschaftung nicht jenseits der staatlichen Ordnungsstrukturen, sondern wurden ganz maßgeblich von diesen getragen. So war die große Mehrzahl der Mitglieder des Russischen Klubs im ehemaligen Pałac Zamoyskiego Staatsbeamte. In Warschau stationierte russische Offiziere waren gerngesehene Gäste und sogar den Statthalter sowie die ihm nachfolgenden Generalgouverneure konnte man in den Räumlichkeiten des Klubs antreffen.7 Laut

|| 3 Varšavskij magistrat. Stat. otdel: Dviženie naselenija goroda Varšavy, Warschau 1902. 4 Józef Konczyński: Ludność Warszawy, Warschau 1913, S. XXIV. 5 Aleksej A. Sidorov: Russkie i russkaja žizn’ v Varšave, Vypusk 2, Warschau 1899, S. 124. 6 Aleksej A. Sidorov: Russkie i russkaja žizn’ v Varšave, Vypusk 3, Warschau 1900, S. 148–149. 7 Putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostjam, hrsg. v. M. M., Warschau 1873, S. 36–37. Vgl. auch M. P. Ustimovič: Zagovory i pokušenie na žizn’ namestnika ego Imperatorskogo Veličestva

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Statut der Russkoe sobranie war dann auch der Statthalter automatisch der Kurator dieser Assoziation.8 Hier im Nowy Świat Nr. 67 standen den männlichen Klubmitgliedern neben einem Festsaal für Bälle und Konzerte auch Räume für Kartenspiel, Tabakrauchen sowie Billard zur Verfügung; hier konnte man die neuesten russischen und ausländischen Tages- und Wochenzeitungen lesen oder sich in der Klubbibliothek bedienen.9 All dies änderte jedoch wenig daran, dass es in der zeitgenössischen Wahrnehmung vor allem der jeweilige oberste Staatsbeamte war, der als wesentlicher Förderer des gesellschaftlichen Lebens in Warschau galt. Und so werden die vom Statthalter und den Generalgouverneuren im königlichen Schloss organisierten Bälle und Empfänge als Höhepunkte gesellschaftlicher Festlichkeit in der Stadt beschrieben.10 Sei es aus Anlass des Zarengeburtstags oder zum Neujahrsempfang – solche Abendgesellschaften stellten wichtige Momente der Selbstvergewisserung als kleine, aber herrschende Elite im fremden Weichselland dar. Wie sehr sich das russische Kulturleben dieser ersten Jahrzehnte nach dem Januaraufstand unter der unmittelbaren Kuratorenschaft der zarischen Administration entfaltete, zeigt sich aber auch an anderen Beispielen. So war die erste und lange Zeit einzige russischsprachige Tageszeitung zugleich das Regierungsorgan. Der Varšavskij dnevnik bestand aus einem offiziellen Teil, in dem die Erlasse des Zaren oder der Generalgouverneure bekannt gemacht wurden, und einigen Seiten, die sich den Tagesereignissen widmeten.11 Diese Zwitterstellung zwischen einem Presseorgan für Regierungsankündigungen und alltäglicher Berichterstattung galt auch für weitere Zeitungen, die in den Folgejahren mit Genehmigung des Generalgouverneurs gedruckt wurden. Auch die zweisprachig erscheinende Varšavskaja policejskaja gazeta (Warschauer Polizeizeitung), die seit 1866 erscheinende Gubernskie vedemosti (Gouvernementsmitteilungen) oder die in den 1880er Jahren ins Leben gerufene und auf eine bäuerliche Leser- oder Zuhörerschaft ausgerichtete Beseda (Gespräch) waren Publikationsmedien, in denen sich der Staat zu Gehör zu bringen versuchte und in denen zugleich Journalisten bemüht waren, Leserinteresse zu wecken. Letzteres machte sie für die kleine russischsprachige Gemeinde zu wichtigen kultu-

|| v Carstve Pol’skom i glavnokomandujuščego vojskami Varšakogo voennogo okruga General’Fel’dmaršala Grafa Berga 7 (19) sentjabrja 1863 goda, Warschau 1870. 8 Ustav russkogo sobranija v Varšave, Warschau 1900,S. 15, S. 9. 9 Ustav russkogo sobranija v Varšave, § 39, S. 24–25; § 42, S. 46. 10 Vgl. Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy, S. 277–279. 11 Aleksej A. Sidorov: Istoričeskij očerk russkoj pečati v Privislinskom krae, Warschau 1896, S. 20–21.

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rellen Instanzen, wollte man nicht nur die fernen Moskauer oder Petersburger Medien rezipieren.12 Gerade dem Chefredakteur des Varšavskij dnevnik kam für die russischsprachige Selbstverständigung vor Ort eine bedeutsame Rolle zu. Hier konnten umtriebige Redakteure wie der Poet Petr Vejnberg, der Feuilletonist V. I. Pisarev, der Slawist Nikolaj Berg oder der reichsweit bekannte Publizist Konstantin Leont’ev sowie später, in den 1890er Jahren, der Slawist Platon Kulakovskij und der Literat Vsevolod Krestovskij der überschaubaren russischen Kulturlandschaft an der Weichsel wichtige Impulse geben. Sie waren zweifellos maßgeblich daran beteiligt, dass sich die russische Gemeinde verstärkt über Foren der Vergesellschaftung Gedanken machte.13 Denn so sehr Staatsdiener und Armeeangehörige die russischsprachige Diaspora in Warschau dominierten, so sehr lassen sich doch Bestrebungen erkennen, die eigenen kulturellen Aktivitäten an explizit als „russisch“ definierten Versammlungsorten abseits der Dienstzimmer zu organisieren. In die erste Dekade nach dem Januaraufstand datieren die Vereinsgründungen der Russischen Musikalischen Gesellschaft (Russkoe muzykal’noe obščestvo) und der Warschauer Gebietsverwaltung der Russländischen Rote-Kreuz-Gesellschaft (Varšavskoe okružnoe upravlenie Rossijskogo obščestva Krasnogo Kresta).14 Zudem wurden einige kooperative Organisationen berufsbezogener Selbsthilfe initiiert.15 Vor allem aber war es die Russische Wohltätigkeitsgesellschaft (Russkoe blagotvoritel’noe obščestvo), die gesellschaftliches Leben und wohltätiges Engagement der Russen in Warschau zusammenbrachte. Sie war zweifellos die wichtigste und auch die begütertste russische Assoziation an der Weichsel. Zu ihren Kerntätigkeiten gehörte laut Statut von 1866 die Versorgung von Armen und Waisenkindern, sie betrieb das Mariinskij Prijut, ein großes Waisenhaus im Stadtzentrum, sie organisierte aber auch zahlreiche kulturelle Veranstaltungen oder Bildungsabende.16 Gerade an dieser Institution lässt sich die enge Verbindung von

|| 12 „Russkoe delo v Privislinskom krae“, in: Privislinskij kalendar’ na 1898 god, Warschau 1898, S. 17–19. 13 Vgl. Aleksej A. Sidorov: Istoričeskij očerk russkoj pečati v Privislinskom krae, Warschau 1896, S. 20–23. 14 Vgl. Nikolaj F. Akaemov: Adres-Kalendar’ gor. Varšavy na 1904 god, Warschau 1903, S. 365 und S. 404–405; Aleksej A. Sidorov: Russkie i russkaja žizn’ v Varšave, Vypusk 3, Warschau 1900, S. 172. 15 Vgl. Nikolaj F. Akaemov: Adres-Kalendar’ gor. Varšavy na 1904 god, Warschau 1903, S. 384– 400. 16 Siehe Ustav russkogo blagotvoritel’nogo obščestva v Carstvom Pol’skom, Warschau 1866; Russkoe blagotvoritel’noe obščestvo v Carstve Pol’skom: Otčety, Warschau 1867–1882.

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staatlichen Strukturen und gesellschaftlichem Assoziationswesen im Weichselland nachzeichnen. Denn der Generalgouverneur gehörte nicht nur zu den Ehrenmitgliedern des Vorstands der Gesellschaft, sondern er bezuschusste aus der Staatskasse die Wohltätigkeitsorganisation ganz erheblich.17 Das galt auch für ähnliche Einrichtungen wie die seit 1895 bestehende Gesellschaft für Obdachlosenheime und Suppenküchen (Obščestvo domov trudoljubija, nočležnych prijutov i deševych stolovych-čajnych v g. Varšavy), der der Warschauer Oberpolizeimeister vorstand und die er mit seinen Budgetmitteln förderte.18 Es war kaum mehr auszumachen, wo staatliche Initiative aufhörte und gesellschaftliches Engagement begann. Symbolisch wurde diese Allianz durch die Kuratorenrolle manifestiert, die in der Regel ein hoher Beamter übernahm. Zugleich engagierten sich die Ehefrauen der Generalgouverneure in zahlreichen lokalen Assoziationen.19 In der zeitgenössischen polnischen Wahrnehmung war dann die Russische Wohltätigkeitsgesellschaft auch eindeutig ein verlängerter Arm des Staats, der sich zudem unrühmlich bei der Russifizierung von Halbwaisen aus konfessionell gemischten Ehen hervortat.20 Die polnischen Kritiker übersahen jedoch, dass viele der Vereinigungen, die „russisch“ in der Titulatur führten, nicht einfach nur das staatlich gelenkte Gegenmodell zu den bestehenden polnischen Vereinen darstellten. Vielmehr waren sie zugleich auch in gewisser Weise ein Ausdruck der Distanznahme gegenüber einer Verwaltungshierarchie, die als zu wenig russisch und als zu sehr deutsch dominiert empfunden wurde. Die sich hier engagierenden Beamten waren oftmals zugleich auch die exponiertesten Kritiker der vermeintlich deutsch- und polenfreundlichen Amtsführung des Statthalters Friedrich Berg oder des Generalgouverneurs Pavel E. Kocebu.21 Eine solche russische Selbstorganisation des kulturellen Lebens stand aber in den 1860–70er Jahren noch auf schwachen Füßen. Das drückte sich unter anderem in der langen Liste von Organisationen aus, die eben nicht als regionale Ableger an der Weichsel institutionalisiert wurden. Auffällig ist beispielsweise das Fehlen einer Warschauer Abteilung der Russischen Geographischen Gesellschaft. Während die lokale Dependance der Gesellschaft in Kiew zu einer

|| 17 Putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostjam, hrsg. v. M. M., Warschau 1873, S. 68–71. 18 AGAD, KGGW, sygn.7221, kart.1–17 [Statuten der Gesellschaft für Obdachlosenheime, 1907– 11]; AGAD, KGGW, sygn.7221, kart.1 [Schreiben des WOPM an den WGG, 2.4.1907]. 19 Vgl. Aleksej A. Sidorov: Russkie i russkaja žizn’ v Varšave, Vypusk 3, Warschau 1900, S. 172. 20 AGAD, KGGW, sygn.7258, kart.1–1v [Brief der Russischen Wohltätigkeitsgesellschaft an den WGG, 6.6.1907]. 21 Vgl. Nikolaj F. Akaemov: Adres-Kalendar’ gor. Varšavy na 1904 god, Warschau 1903, S. 365– 375 und S. 400–411.

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treibenden Kraft in diesem Gelehrtennetzwerk aufstieg, blieb es in Warschau dagegen lange Zeit still. Das änderte sich erst, als im Zusammenhang mit der „Cholmer Frage“ eine geographisch-historische Expertise in den Deutungskämpfen um diesen Landstrich immer dringlicher erschien. Die nachholende Gründung eines Warschauer Ablegers der Gesellschaft ließ sich angesichts knapper Ressourcen dennoch nicht realisieren.22 Deutlicher noch wird die langanhaltende Schwäche der russischen Gemeinde in Warschau bei dem gescheiterten Versuch, eine erste privat betriebene russischsprachige Zeitschrift in Warschau zu etablieren. Ab dem 1. Januar 1878 gaben M. E. Terechov und der Universitätsprofessor V. A. Jakovlev die Tageszeitung Zapadnaja počta (Westliche Post) heraus.23 Anders als die polnischsprachige Konkurrenz, die trotz der schwierigen Bedingungen der Zensur eine recht vielfältige Journalistik in Warschau am Leben erhielt, erwies sich das Geschäftsmodell der Zapadnaja počta als nicht tragfähig.24 Bereits im Folgejahr, 1879, mussten die Initiatoren das Erscheinen der Zeitung einstellen. Für den Erfolg eines derartigen Versuchs, die russischsprachige Presselandschaft im Weichselland zu differenzieren und zu kommerzialisieren, fehlte es eben auch noch Ende der 1870er Jahre an einer breiten russischen Leserschaft.25 So ist es auch wenig erstaunlich, dass sich das kulturelle Leben der russischen Gemeinde vor allem an zwei etablierten Institutionen orientierte. Hier stellte zum einen die 1869 gegründete Kaiserliche Universität mit ihrer überwiegend russischen Professorenschaft eine wichtige Einrichtung dar, an der sich verschiedene Aktivitäten des gesellschaftlichen Lebens bündelten.26 Zum anderen war es die orthodoxe Kirche, die auch in den Zeiten einer zahlenschwachen russischen Vertretung kulturelle Selbstvergewisserung ermöglichte. Sei es beim Besuch von Konzerten der Synodal-Chöre, sei es durch die Lektüre des seit 1875 erscheinenden Cholmsko-Varšavskij eparchial’nyj vestnik (Bote der Eparchie || 22 Vgl. auch Mark Bassin: Imperial Visions. Nationalist Imagination and Geographical Expansion in the Russian Far East, 1840–1865, Cambridge 1999; Claudia Weiss: Wie Sibirien „unser“ wurde. Die Russische Geographische Gesellschaft und ihr Einfluss auf die Bilder und Vorstellungen von Sibirien im 19. Jahrhundert, Göttingen 2007. 23 Aleksej A. Sidorov: Istoričeskij očerk russkoj pečati v Privislinskom krae, Warschau 1896, S. 22. 24 Vgl. Vladimir Michnevič: Varšava i Varšavjane, St. Petersburg 1881, S. 170–211. 25 „Russkoe delo v Privislinskom krae“, in: Privislinskij kalendar’ na 1898 god, Warschau 1898, S. 17. 26 Z.B. die Publikationsorgane Varšavskie universitetskie izvestija sowie Russkij filologičeskij vestnik (Russischer philologischer Bote) oder die unter der Schirmherrschaft der Universität gegründete Gesellschaft für Geschichte, Philologie und Recht (Obščestvo istorii, filologii i prava). Vgl. zur Kaiserlichen Universität ausführlicher das Kapitel Nationalisierung der Bildung.

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Cholm-Warschau), sei es durch das Begehen der zahlreichen Feiertage oder durch das eigene Engagement in der kirchlichen Wohltätigkeits- und Bildungsarbeit – die Institution Kirche offerierte ein vielschichtiges Angebot für Betätigungen und Kulturkonsum, bei dem sich orthodoxe Russen im katholischjüdisch dominierten Warschau in ihrer Eigen- und Andersartigkeit erfahren konnten. Die Kirche trat zudem als gewichtiger Schirmherr von gesellschaftlichen Initiativen in Erscheinung. So wandten sich einige Bürger an den Erzbischof mit der Bitte, ihr Projekt der Gründung eines Warschauer Ablegers der Gesellschaft zur religiös-moralischen Aufklärung im Geiste der Orthodoxie (Varšavskoe obščestvo religiozno-nravstvennogo prosveščenija v duch Pravoslavnoj cerkvi) zu unterstützen.27 Vor allem aber waren die orthodoxen Gotteshäuser die primären Sammelpunkte der russischen Gemeinde in Warschau. Weder Tagebücher noch Memoiren, weder historische Rückblicke noch Petitionen an Amtsstellen kamen ohne den Verweis auf die zentrale Bedeutung dieser Orte und die spirituelle Kraft der orthodoxen Liturgie aus.28 Eine solche Kirchenfixierung hing zweifellos mit der fortdauernden Dominanz der Religion im russischen kulturellen Selbstverständnis insgesamt zusammen, war aber auch der Warschauer Ausnahmesituation geschuldet. Denn in einer Zeit, in der auch die nationale Selbstverortung ganz entscheidend durch konfessionelle Bestimmungsmerkmale erfolgte, mussten die „Nationalkonfession“ und ihre Repräsentanten als wesentliche nationale Kulturträger erscheinen. Es ist daher kaum verwunderlich, dass gerade die orthodoxen Gotteshäuser zu Symbolen russischen Lebens an der Weichsel aufstiegen. Der vom Generalgouverneur Gurko initiierte Bau der Aleksandr-Nevskij-Kathedrale stellte dann auch keinesfalls ein rein obrigkeitsstaatliches Projekt dar, sondern wurde bei der schwierigen Mittelakquirierung von einem breiten Engagement der lokalen russischen Gemeinde begleitet.29

|| 27 „Koncert Moskovskogo Sinodal’nogo chora v Varšave“, in: Varšavskij dnevnik (24.5.1911), S. 1. AGAD, KGGW, sygn.1927, kart.1 [Gesuch des Erzbischofs an den WGG um Bestätigung der Statuten, 29.4.1903]; AGAD, KGGW, sygn.1927, kart.3–8v [Entwurf der Statuten der Warschauer Gesellschaft zur Verbreitung religiöser Aufklärung im Geiste der Orthodoxie, 29.4.1903]. 28 Für die zentrale Bedeutung von Kirchgängen vgl. beispielsweise die Tagebucheinträge von Apollon Benkevič. GARF, f.1463, op.2, d.370–372, d.370, l.85 [Eintrag vom 24.12.1902: Besuch beim Allnächtlichen Gottesdienst]; l.87 [31.12.1902: Kirchgang]; d.371, l.4 [2.1.1907: Neujahrs-Gottesdienst]; l.59ob [17.4.1907: Allnächtlicher Gottesdienst zu Ostern]; l.60 [18.4.1907: Kirchgang mit der Tochter]; l.197ob [31.12.07: Gottesdienst in der Uspenskij-Kirche]; d.372, l.2 [1.1.1908: Kirchgang der Familie]. 29 GARF, f.215, op.1, d.94, ll.7–8 [Bericht des WGG Imeretinskij, 12.1.1898].

11.1 Wohltätigkeitsverein, Männerklub und Buchhandlung | 291

Der Staatsbezug wie auch der hohe Stellenwert der orthodoxen Kirche in der identitären Selbstbestimmung der Russen in Warschau wurde einerseits durch deren Antikatholizismus und -polonismus stabilisiert. Andererseits trug auch die Russophobie dazu bei, die für weite Kreise der polnischen Bevölkerung kennzeichnend war. Denn durch dieses spiegelbildliche Misstrauen und die gegenseitige Fremdheit, Verachtung und offene Feindschaft wurde nicht nur die Abschottung des russischen Milieus verstärkt, sondern auch ihre Fixierung auf staatliche und kirchliche Instanzen als Schutzmacht perpetuiert. Vladimir Michnevič beschreibt diese reziproke Antipathie in seinem Reisebericht von 1881 sehr anschaulich. Es begegneten sich die feindlichen Blicke eines polnischen Umfeldes und der missionarische Eifer von „Russifizierern“ und verstärkten sich permanent in ihren wechselseitigen Vorurteilen und Ablehnungen. Diejenigen Russen, die sich nicht der „Mission der Russifizierung“ verschrieben hätten, hielten es, so Michnevič, angesichts der allgegenwärtigen Ausgrenzungen durch die polnische Gesellschaft auch nicht lange im Weichselland aus. Zurück blieben nur die „Fanatiker“, die zwar willig in die Schlacht für die „russische Sache“ zögen, sich aber oft genug nur durch mangelhafte moralische Qualitäten auszeichneten. Eine gute Grundlage für eine assimilatorische Wirkung der russischen Gesellschaft auf das polnische Umfeld sei das nicht, wie Michnevič trocken anmerkte.30 Dagegen war auf russischer Seite die Sorge vor dem vermeintlich starken Akkulturationsdruck von der polnischen Seite und vor seinen verderblichen Wirkungen auf die lange im Weichselland lebenden Russen groß. Gerade hier erschien der Staat als Garant der eigenen kulturellen Identität, da er das kleine „russische Element“ vor einer Zwangsassimilation durch das vermeintlich übermächtige Polentum und den aggressiven Katholizismus bewahre.31 In dieser Belagerungsmentalität kam der Erinnerung an den polnischen Aufstand eine zentrale Funktion zu. Die „Meuterei“ und die „Verschwörungen“ der Polen markierten einige der wichtigsten lieux de mémoire der russischen Gemeinde in Warschau. Schon die ersten russischsprachigen Publikationen, die an der Weichsel gedruckt wurden, widmeten sich diesem Thema. So beschrieb Nikolaj Berg in einer Monographie die polnische Aufstandstradition als Folgeprodukt der „politischen Romantik“, die für die polnische Kultur kennzeich|| 30 Vladimir Michnevič: Varšava i Varšavjane, St. Petersburg 1881, S. 47–48. Ganz ähnlich Wladimir A. Suchomlinow: Erinnerungen, Berlin 1924, S. 16. 31 Vgl. N. A. Veckij: K voprosu o Varšavskom universitete, Warschau 1906, S. 24–26; Vladimir A. Istomin: Svoi i čužie vragi pravoslavno-russkogo dela v gubernijach Privislinskogo kraja, Moskau 1907; Aleksej A. Sidorov: Russkie i russkaja žizn’ v Varšave, Vypusk 3, Warschau 1900, S. 183–184.

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nend sei. Hier wurde der Topos des romantisch-heißblütigen, leicht erregbaren und fiebrig handelnden Polen entworfen, der vor geheimen und hinterhältigen Winkelzügen und auch Meuchelmord nicht zurückschreckt, grundsätzlich vom Hass auf „alles Russische“ getrieben ist und sich durch seine Untreue sowie Undankbarkeit gegenüber dem gnädigen Zaren auszeichnet.32 Befeuert wurden diese antipolnischen Stereotype durch die gewichtige Stimme Michail Katkovs, der in Moskau die russische Öffentlichkeit mit seinen antipolnischen Tiraden antrieb.33 Die Warschauer Rezeption des Katkov’schen Stammblatts, der Moskovskie Vedomosti, war intensiv, ebenso wie die Interaktion mit der russischen Öffentlichkeit in Wilna, deren Publikationstätigkeit sich in gleicher Weise durch eine ausgeprägte Polenfeindlichkeit auszeichnete.34 Derartige Publikationen gehörten daher zum Standardrepertoire der Warschauer Lesebibliothek für russische Leser (Varšavskaja biblioteka dlja čtenija).35 Es bestand hier zweifellos eine trans-regionale russische Öffentlichkeit, deren Teilnehmer sich in ihren Bildern vom heimtückischen und gefährlichen Polen gegenseitig bestärkten. Hatte nicht Aleksandr Puškin schon so treffend die verräterischen Polen als „Verleumder Russlands“ bezeichnet?36 „Pole“ war in diesen Zeiten ein gängiges Schimpfwort geworden, das man auch ganz abgelöst von der „polnischen Frage“ zur Denunziation von vermeintlichem Fehlverhalten nutzte. Diese durch die lokalen Bedrohungsgefühle gesteigerte Polonophobie beförderte die Selbstisolation der Warschauer Russen. Und so deuten bereits die frühen Formationen gesellschaftlichen Lebens darauf hin, dass die russische Gemeinde bestrebt war, ein Paralleluniversum zu schaffen, in dessen abgeschotteten Räumen sie ihre kulturelle Identität vor dem feindlichen Umfeld geschützt sah. Die meisten der gegründeten russischen Vereine spiegelten dann auch das polnische Vereinswesen wider. So wie in anderen Kontexten des Russischen Reichs entwickelte sich in Warschau eine Mehrfachstruktur von Assozi-

|| 32 Nikolaj V. Berg: Zapiski N. V. Berga o pol’skich zagovorach i vozstanijch, Moskau 1873, v. a. S. 5–12; M. P. Ustimovič: Zagovory i pokušenie na žizn’ namestnika ego Imperatorskogo Veličestva v Carstve Pol’skom, Warschau 1870. 33 Siehe Michail N. Katkov: 1863 god. Sobranie statej po pol’skomu voprosu, Moskau 1887. 34 Vgl. solche Schriften wie Michail V. Juzefovič: Vozmožen li mir s nami pol’skoj šljachty?, Wilna 1864, S. 1–10; Pavel D. Brjancev: Očerk sostojanie Pol’ši pod vladyčestvom russkich imperatorov posle padenija ee do 1830 goda, Wilna 1895. 35 Vgl. Katalog russkich knig Varšavskaja biblioteka dlja čtenie, Warschau 1896. Hier sind z. B. zu nennen M. Prudnikov: Čego že chočet Pol’ša?, St. Petersburg 1863; Sergej P. Šipov: Rodina, otečestvo, Moskau 1863. 36 Aleksandr Puškin: Klevetnikam Rossii, in: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 3, Moskau 1957.

11.2 Die „goldenen Jahre“ | 293

ationen, die streng nach national-konfessionellen Kriterien getrennt waren. Und so gab es in der Weichselmetropole vier große Wohltätigkeitsgesellschaften, drei Musikvereine und drei Fahrradklubs, in denen sich das gesellschaftliche Leben der russisch-orthodoxen, polnisch-katholischen, jüdischen und protestantischen Subgemeinden der Stadt organisierte.37 Die Russen in Warschau lebten, wie Michnevič beobachtete, in einer eigenen Kolonie, die sie möglichst autark zu gestalten versuchten.38 Da auf der polnischen Seite wenig Bedürfnis bestand, jenseits der notwendigen Kooperation mit den amtlichen Behörden einen engeren Kontakt zu den russischen Stadtbewohnern zu suchen, waren die Trennlinien in diesen frühen Jahren recht scharf.39 Insofern arbeiteten sowohl Polen als auch Russen in unausgesprochenem Einverständnis daran, dass die Milieus klar voneinander separiert blieben.

11.2 Die „goldenen Jahre“: Die russisch-imperiale Gemeinde im ausgehenden 19. Jahrhundert In den 1880–90er Jahren dynamisierte sich das russische Kulturleben in Warschau erheblich; nicht selten wird diese Periode auch als „die goldenen Jahre“ beschrieben.40 Denn unter der Schirmherrschaft von Generalgouverneur Gurko und Kurator Apuchtin verstärkte sich das „russische Element“ an der Weichsel beträchtlich. Allein die Zahl der orthodoxen beziehungsweise der russischsprachigen Stadtbürger stieg in dieser Zeit deutlich an. Zählten die Statistiken 1882 noch 12.655 Orthodoxe in Warschau, so vervierfachte sich deren Anteil in den folgenden zehn Jahren und stieg auf 49.997. Damit waren laut Volkszählung von 1897 mehr als sieben Prozent der Stadtbewohner russischsprachig.41 Ein Autor wie Aleksej Sidorov, der sich erklärtermaßen der „russischen Sache“ im Weichselland verpflichtet sah, konnte zufrieden auf die letzten zwei Dekaden zurückblicken. In seinem 1899 publizierten Überblick notierte er mit Genugtuung, dass der Anteil der Russen an der Stadtbevölkerung seit 1864 um mehr als 30 Prozent gestiegen und die Weichselmetropole inzwischen generell weitaus weniger „typisch polnisch“ sei: Gegenwärtig würden Polen nur noch wenig || 37 Siehe Varšavskij russkij kalendar’ na 1904 god, Warschau 1903, S. 411. 38 Vladimir Michnevič: Varšava i Varšavjane, St. Petersburg 1881, S. 46–48. 39 Vgl. Maria z Łubieńskich Górska: Gdybym mniej kochała: dziennik lat 1889–1906, Warschau 1997; Baronowa X.Y.Z.: List II: Rosjanie w Warszawie, in: Towarzystwo Warszawskie: List do przyjaciolki, Krakau 1888. 40 „Russkoe delo v Privislinskom krae“, in: Privislinskij kalendar’, Warschau 1898, S. 18. 41 Varšavskij magistrat. Stat. otdel: Dviženie naselenija goroda Varšavy, Warschau 1902.

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mehr als die Hälfte der Einwohner ausmachen. Sidorov ließ keinen Zweifel, dass er einen weiteren Rückgang „des Polnischen“ erwarte und begrüße.42 Auch für die Folgejahre gehen russische Quellen kontinuierlich von rund 40.000 Russen in Warschau aus, wobei ihr prozentualer Anteil nach 1900 zurückging, da ein Großteil der Migranten, die in die rasant wachsende Metropole zogen, aus dem polnischen Umland oder aber aus den polnisch-jüdisch besiedelten westlichen Gouvernements kam. Der Anteil der russischen Bevölkerung pendelte sich nun bei vier bis fünf Prozent der Stadtbevölkerung ein. Allerdings kamen zu diesen russischen Zivilisten noch die Angehörigen der Garnison hinzu, die um 1900 ebenfalls 40.000 Soldaten umfasste und die im Zusammenhang mit der Revolution von 1905 und der Kriegserwartung der Folgejahre sogar auf 65.000 Mann (1907) aufgestockt wurde. Die zum Großteil russischen Offiziere und unteren Mannschaftsränge haben zu der Sichtbarkeit des „russischen Elements“ in Warschau zweifellos beigetragen, auch wenn sie nur wenig am gesellschaftlichen Leben der russischen Gemeinde partizipierten.43 Das Wachstum der russischen Kolonie brachte eine spürbare Belebung ihres kulturellen Lebens mit sich. Das lag auch daran, dass sich seit den 1880er Jahren die Zusammensetzung der russischen Bevölkerung wandelte. Wenngleich die Dominanz von Staatsbeamten und Militärs auch in den späteren Jahren hoch blieb, so wuchs nun doch der Anteil an Russen, die als Unternehmer, Angestellte oder Freiberufler, weniger auch als Arbeiter in Warschau tätig und zumindest zeitweise sesshaft waren. Die Vitalisierung einer russischen Kulturlandschaft machte sich in vielen Bereichen bemerkbar. Zum einen verdichtete sich nun das Netz an sich dezidiert russisch definierenden Assoziationen, zum anderen intensivierten die bestehenden Organisationen ihre Aktivitäten. Zweifellos blieben derart staatsnahe Großereignisse wie die Empfänge des Generalgouverneurs, die Besuche des Monarchen oder anderer Mitglieder der Zarenfamilie und die Jubiläen des Romanow-Hauses von zentraler Bedeutung für das russische Milieu.44 Aber die Palette eines Kulturangebots jenseits der administrativen und autokratischen Initiativen fächerte sich doch merklich aus. So rief

|| 42 Aleksej A. Sidorov: Russkie i russkaja žizn’ v Varšave, Vypusk 3, Warschau 1900, S. 183. 43 Vgl. Bericht des britischen Generalkonsuls Murray vom 27.4.1905, in: Dominic Lieven (Hrsg.): British Documents on Foreign Affairs: Reports and Papers from the Foreign Office Confidential Print. Part I, From the Mid-nineteenth Century to the First World War. Series A: Russia, 1859–1914, Bd. 3: Russia, 1905–1906, Bethesda 1983, S. 110 (Doc. 85). 44 Vgl. die Tagebucheinträge von Apollon Benkevič: GARF, f.1463, op.2, d.371 (Tagebuch A. A. Benkevič), l.3 [1.1.1907: Neujahrsempfang beim Generalgouverneur im Schloss]; d.372, l.2 [1.1.1908: Neujahrsempfang beim Generalgouverneur].

11.2 Die „goldenen Jahre“ | 295

beispielsweise Nikolaj Lochov 1906 einen Russischen Kreis für Literatur und Wissenschaften (Russkij Varšavskij literaturno-naučyj kružok) ins Leben oder es trafen sich Schauspielbegeisterte im Russischen Musikalisch-Dramaturgischen Kreis (Russkaja muzikal’no-dramatičeskaja kružka) oder dem Russischen Kreis der Liebhaber der szenischen Kunst (Russkij kružok Ljubitelelej sceničeskogo iskusstvo).45 Auch im Sport- und Freizeitbereich formierten sich russische Verbände. Seit den 1890er Jahren bestanden in Warschau ein Russischer Fahrrad-, ein Pferde- sowie ein Jachtklub und seit 1909 eine Athletische Gesellschaft.46 Vor allem das demonstrativ im „russischen Stil“ umgestaltete Erste Jungengymnasium entwickelte sich im Folgenden zu einer Stätte russischer Kulturpflege. Die Schüler im ehemaligen Staszic-Palast wurden eine primäre Zielgruppe für die Bildungsaktivisten in der lokalen russischen Gemeinde, trugen aber auch selbst in Form von Aufführungen und Veranstaltungen zu einem russischen gesellschaftlichen Leben in Warschau bei.47 Die länger bestehenden Einrichtungen wie die Russische Versammlung, die Gesellschaft für Geschichte, Philologie und Recht oder die Russische Wohltätigkeitsgesellschaft intensivierten ihre Bildungs- und Kulturarbeit seit den 1880er Jahren erheblich.48 Vor allem die Russkoe sobranie bemühte sich in dieser Periode recht erfolgreich, die Schwächen des russischen gesellschaftlichen Lebens vor Ort durch den Kulturimport aus Moskau oder St. Petersburg zu kompensieren. So wurden Räume angemietet, um Ausstellungen russischer Kunst zu organisieren oder Konzertabende mit Gastsängern aus den Hauptstädten zu bestreiten. Es fand eine Ausstellung der Peredvižniki in Warschau statt und auch die Bühnen der Staatstheater wurden nun verstärkt genutzt, um Gastspiele von Schauspieltruppen, Musikern oder Orchestern aus dem russischen Kernland zu veranstalten. 1892 dirigierte sogar Petr Čajkovskij eigene Werke bei einem Konzert in Warschau. Solche Kulturveranstaltungen vermochten dann auch gelegentlich die trennenden Gräben zwischen der russischen und polnischen Gesellschaft zu überbrücken. Als beispielsweise der Kinderchor des Bol’šoj-Theaters 1895 am Warschauer Operntheater auftrat, waren sowohl russische Zuhörer wie

|| 45 AGAD, KGGW, sygn.2607, kart.10 [Statuten für den „Russischen Kreis für Literatur“, 1906]. Siehe auch Varšavskij dnevnik, Nr. 35 (5.2.1906), S. 1. 46 AGAD, KGGW, sygn.7895, kart.1–13 [Unterlagen zur „Warschauer Abteilung der athletischen Gesellschaft“, 1909–1911]. 47 Siehe auch Grigorij G. Moskvič: Putevoditel’ po Varšave, St. Petersburg 1907, S. 101–104. 48 Siehe Russkoe blagotvoritel’noe obščestvo v Carstve Pol’skom, Warschau 1867–1882. Vgl. auch Vladimir V. Esipov: Očerk žizni i byta privislinskogo kraja, Warschau 1909, S. 14–17.

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auch polnische Orchestermusiker begeistert. Letztere unterbrachen ihr Spiel und applaudierten dem Chor.49 Vor allem aber belebte sich der russischsprachige Buchmarkt im Warschauer fin de siècle erheblich.50 Nicht nur nahm die Zahl russischer Buchläden und Bibliotheken zu, auch das Angebot von russischen, in Warschau erschienenen Buchtiteln verbreiterte sich deutlich. Ein wichtiges Thema dieser Literaturproduktion um die Jahrhundertwende war die Genese des Russkaja Varšava. In der Selbstreflexion über die eigene Geschichte und in der Betonung ihrer langen Dauer von bereits beinahe einem Jahrhundert suchte die russische Gemeinde Bestätigung ihres zunehmend in Frage gestellten Status. Denn so sehr sich die lokalen russischen Meinungsträger mit dem eigenen zahlenmäßigen Zuwachs brüsten konnten, so wenig vermochten sie auszublenden, dass sich seit den 1890er Jahren in der polnischen Gesellschaft neue Strömungen bemerkbar machten, die die imperiale Herrschaft und damit auch die Präsenz der Russen im Königreich wieder grundlegend in Frage stellten. Insofern war es eine spiegelbildliche Entwicklung, wenn parallel zu den programmatischen Schriften aus den sozialistischen und nationaldemokratischen Kreisen und Parteiungen, welche Forderungen nach polnischer Souveränität artikulierten, auf der russischen Seite eine Literatur aufblühte, die die „polnische Frage“ und die Vorherrschaft des Russischen im Weichselland zum Gegenstand der Polemik machte. Man kann hier eine zum Teil sehr explizite Kommunikation zwischen den Kontrahenten einer Konfliktgemeinschaft erkennen, bei der das Zitat der gegnerischen Schriften zum Stilmittel der argumentativen Fehde gehörte.51 Auch diesbezüglich beschleunigten die Veränderungen, die das Grundgesetz von 1906 und die mit ihm verbundenen Presse- und Vereinsfreiheiten mit sich brachten, die Entwicklung. Entsprechend differenzierte sich die Verbandsstruktur der russischen Gemeinde weiter aus. Und so wurde im Jahr 1905 die Genehmigung einer Warschauer Abteilung der Russischen Versammlung (Varšavskoe

|| 49 AGAD, Upravlenie Varšavskich Pravitel’stvennych Teatrov, sygn.1, kart.1–33 [Katalog der Maßnahmen der Staatstheater 1900–1910, März 1910]; AGAD, KGGW, sygn.7031, kart.1–4 [Beratung über „Russisches Volkshaus“ beim WGG, Sitzungsprotokoll, 20.8.1911]. Siehe Nejdgart: Vsepoddannejšij otčet, S. 57–94. 50 Vgl. Putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostja s adresnym otdelom, hrsg. v. V. Z., Warschau 1893, S. 28. 51 Vgl. z. B. Ob avtonomii Pol’ši, Izdanie Sojuza 17-go oktjabrja, Moskau 1906; N. J. Drel’: Raznica meždu russkim osvoboditel’nym dviženiem i sovremennym pol’skim i avtonomija Pol’ši po dannym pol’skoj pressy, Warschau 1906; I. V. Skvorcov: Russkaja škola v Privisljan’e, Warschau 1897; Anton Graf Tyškievič (Tyszkiewicz): Russko-pol’skie otnošenija: Očerk, Leipzig 1895.

11.2 Die „goldenen Jahre“ | 297

otdelenie russkogo sobranija) in der Weichselmetropole beim Generalgouverneur beantragt und 1906 die nationalistische Russische Gesellschaft in Warschau auf der Grundlage des Oktobermanifests (Russkoe obščestvo v Varšave, osnovannogo na načalach 17 Oktobrja) als dezidierte Gegengründung zum alteingesessenen Russischen Klub ins Leben gerufen.52 Die schließlich vom Geschichtsprofessor der Kaiserlichen Universität Dmitrij Cvetaev eröffnete Dependenz der Russkoe sobranie entwickelte sich in den Folgejahren rasch zu einer der mitgliederstärksten russischen Assoziationen in Warschau und stellte mit fast 800 Mitgliedern im reichsweiten Vergleich die zweitgrößte lokale Niederlassung der Russkoe sobranie dar.53 Die zunehmenden programmatischen Konflikte innerhalb der russischen Gemeinde in Warschau spiegeln sich auch bei der Ausweitung des lokalen Angebotes russischer Tageszeitungen wider. Während das zwischen 1910 und 1912 erschienene Blatt Varšavskoe slovo eine liberale Position vertrat und mit den Kadetten sympathisierte, wurde 1906 mit dem Varšavskij vestnik das Sprachrohr des russisch-nationalistischen Lagers institutionalisiert.54 Die Dumawahlen der Jahre 1906–12 forcierten die Parteibildung auch im russischen Lager und trugen wesentlich zur Entstehung einer russischen politischen Öffentlichkeit bei. Vor allem die seit 1907 bestehende gesonderte Wahlkurie für die russische Bevölkerung in Warschau ermöglichte ein deutlich privilegiertes politisches Engagement: Von den zwei Abgeordneten, die die Metropole in die Duma entsandte, wurde einer allein durch die Wahl in dieser Kurie bestimmt. 55 Teilweise bildeten sich im Weichselland die politischen Formationen Innerrusslands ab, zum Teil entstanden ganz eigenständige Warschauer Gebilde, die nur vor dem Hintergrund der Sonderstellung der polnischen Provinzen zu erklären sind. So beschäftigte sich die nationalistische Russische Gesellschaft in Warschau (Russkoe obščestvo v Varšave) schon in ihrem Gründungsmanifest vordringlich mit spezifischen Problemen, die es in den polnischen Provinzen zu lösen galt. Die aggressive Polonophobie, die den Spitzenkandidaten der Fraktion, den Altphilologen Sergej Alekseev, auszeichnete, prägte aber auch im Folgenden die programmatischen Erklärungen, die die Partei in den Dumawahlgängen seit

|| 52 AGAD, KGGW, sygn.2548, kart.1 [Schreiben des Innenministers an den WGG, 20.1.1905]; kart.4–8v [Statuten der Warschauer Abteilung der Russischen Versammlung, 10.5.1905]; AGAD, KGGW, sygn.2606 (1906–1910), kart.1 [Gesuch um Genehmigung der Statuten der Russischen Gesellschaft in Warschau, 17.10.1905]. 53 Vgl. dazu Ju. I. Kir’janov: Russkoe Sobranie 1900–1917, Moskau 2003, S. 99. 54 AGAD, KGGW, sygn.9195, kart.27 [Genehmigung der Zeitung Varšavskij vestnik, 22.12.1906– 22.9.1907]. 55 Vgl. dazu ausführlicher den Abschnitt Ausnahmezustand und Krisenbewältigung.

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1907 produzierte. Die in den beiden letzten Wahlen siegreiche Partei war ein lokal spezifisches Phänomen, das in seiner Beschränkung auf den regionalen Horizont auch die extreme Selbstreferentialität der russischen Gemeinde in Warschau abbildete.56

11.3 Kulturelle Begegnungen und ethnische Selbstabschließungen: Russisch-imperialer Alltag in einer Vielvölkermetropole Insgesamt haben die sich seit den 1890er Jahren abzeichnenden Entwicklungen im gesellschaftlichen Leben wenig dazu beigetragen, dass sich an der Isolation des russischen Milieus in einer polnisch-jüdischen Stadt etwas änderte. Im Gegenteil: Gerade die Politisierung des öffentlichen Lebens in der Periode des Parlamentarismus hat die russisch-polnische Frontstellung auch im kulturellen Alltag noch verschärft. Zweifellos intensivierte sich der Kontakt zwischen der wachsenden russischen Bevölkerung und den indigenen Warschauern in vielen Bereichen. Etliche der Interaktionen bei der städtischen Modernisierung, die bereits beschrieben wurden, betrafen auch eine ganze Reihe von russischen Warschauern. Aber es gab auch vielfältige Überschneidungen im außergeschäftlichen Alltag. Manche Dokumente zeugen von einem regen Grenzverkehr zwischen den Welten der zugezogenen und der einheimischen Bewohner.57 Wer immer das kulturelle Angebot der Weichselmetropole wahrnehmen wollte, konnte sich der polnischen Hegemonie in diesem Bereich gar nicht entziehen. Ob Philharmonie, Theater oder Kino, all diese Institutionen wurden von Polen betrieben und sogar die Vorstellungen der Staatstheater fanden in der Mehrheit in polnischer Sprache statt. Nun war der Besuch eines Konzertes oder eines Filmes kaum zwingend eine direkte Kontaktnahme mit der polnischen Kultur, da hier ein europäisches Repertoire gespielt beziehungsweise gezeigt wurde und man sich sogar bei den Eintrittskarten an die auf Russisch bedruckte Seite halten konnte. Dennoch zeugt beispielsweise das Tagebuch von Apollon || 56 Vgl. zum Programm Predvybornye izvestija Russkogo obščestva v Varšave, Nr. 1 (30.8.1907), S. 1. Zu Alekseev siehe auch Predvybornye izvestija Russkogo obščestva v Varšave, Nr. 3 (14.9.1907), S. 2; Obzor dejatel’nosti Russkogo okrainnogo obščestva za 1910, St. Petersburg 1911, S. 33. 57 AGAD, KGGW, sygn.7722, kart.9–14v [Schreiben des Stadtpräsidenten an den WGG, 13.10.1908]. Sergej fon Derfel’den: Iz moich vospominanii o žizni v Varšave, in: Russkaja starina, Nr. 113 (Februar 1903), S. 329–334.

11.3 Kulturelle Begegnungen und ethnische Selbstabschließungen | 299

A. Benkevič von der Normalität dieses alltäglichen Umgangs mit einer polnischen Umgebung.58 Der Gehilfe des Staatsanwalts am Warschauer Bezirksgericht lebte und arbeitete mehrere Jahrzehnte lang in dieser Stadt. Sein Tagebuch ist ein Sammelsurium familiärer Erinnerungsstücke und persönlicher Skizzen des städtischen Lebens und damit eine Schatzgrube für Einblicke in den Alltag eines russisch-orthodoxen Beamten im Warschau kurz nach der Jahrhundertwende. Es waren vielfältige Begegnungen, die keinesfalls in eine besonders polenfreundliche Haltung mündeten, sehr wohl aber die tagtägliche konfliktfreie Interaktion manifestieren. Die Notizbücher, in denen Benkevič seine täglichen Eintragungen festhielt, sind zudem selbst eine Demonstration der kulturellen Überlagerung. Da Benkevič einen polnischsprachigen Bürokalender (Dziennik dla kantorów) für seine Eintragungen nutze, folgten die in den Heften vorgedruckten Datumsangaben und Feiertagsmarkierungen eigentlich dem gregorianischen Kalender. Der russisch-orthodoxe Benkevič jedoch orientierte sich in seiner Zeitwahrnehmung am Kalender „alten Stils“. Die Datumsangaben im Notizbuch verwendete er gemäß dieser julianischen Zählung und eröffnete den neuen Kalender jeweils am orthodoxen Neujahr. Da er gleichzeitig aber Ereignisse des „neuen Stils“ notierte, ergab sich ein allgemeiner Mischmasch der Datierung. Und so ergänzte er auf der ersten Kalenderseite zum 1. Januar 1902 den Eintrag „Neujahr“ mit dem Zusatz „nach altem Stil“ und notierte neben den Kalendervordruck „19. Dezember 1902“ handschriftlich „Neujahr – nach neuem Stil“, während er die polnischsprachigen Kalendervorgaben zum „Osterfest“ entweder ignorierte oder durchstrich.59 Dieses Durcheinander der Datumsangaben ist weit mehr als eine Spielerei in einem privaten Notizkalender. Denn die zeitliche Divergenz orthodoxer und katholischer Festtage führte dazu, dass sich ein orthodoxer Russe regelmäßig dem katholischen Rhythmus des städtischen Lebens unterwerfen musste. Und so hielt Benekvič am 11. Dezember 1907 fest, dass „heute Weihnachten nach neuem Stil (polnisch: vigilija) ist, für uns sind heute und die nächsten zwei Tage

|| 58 Tagebuch des Gehilfen des Staatsanwalts am Warschauer Bezirksgericht Apollon A. Benkevič, GARF, f.1463, op.2, d.371, l.186 [Eintrag vom 12.12.1907: Theaterbesuch seiner Ehefrau]; l.186ob [13.12.1907: Besuch des Theatre Illusion]; l.194ob [25.12.1907: Besuch des Theatre Illusion]; l.197 [30.12.1907: Besuch der Philharmonie, zusammen mit dem Staatsanwalt der Warschauer Gerichtskammer, Sergej Nabokov]; d.372, l.194 [26.12.1908: Besuch der Ehefrau mit Tochter des Theatre Illusion]. 59 GARF, f.1463, op.2, d.370, l.3 [1.1.1902]; l.84 [19.12.1902]; d.371, l.191ob [19.12.1907]; d.372, l.190ob [19.12.1908].

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ebenfalls keine Arbeitstage.“60 Und im Folgejahr notierte er zum 12. Dezember: „Heute ist Weihnachten nach neuem Stil. Alle Läden sind geschlossen, nicht einmal die Straßenbahnen fahren. [...] Die Stadt ist halbtot.“61 Sogar der 1. Mai als Demonstrationstag der sozialistischen Bewegungen zwang Benkevič in den Jahren nach der Revolution von 1905 eine polnische Ordnung der Zeit auf. Und so kommentierte er am 18. April 1907: „Heute ist der 1. Mai nach neuem Stil – der ‚Arbeiter-Feiertag‘. Es gab keine gewalttätigen Zusammenstöße, aber die Straßenbahnen und Kutscher fuhren nicht und ein Großteil der Läden war geschlossen.“62 Die Kalendersystematik und der städtische Rhythmus des polnisch-katholischen Warschau wirkten also unmittelbar in den Alltag des russischen Beamten hinein. Auch an anderen Stellen offenbaren Benkevič’ Notizen die zahlreichen Begegnungen mit dem polnischen gesellschaftlichen Umfeld. So standen Polen regelmäßig auf der Gästeliste, die Apollon Benkevič und seine Ehefrau Maria für ihre festen Empfangstage, die sogenannten „Dienstage“, führten. Andererseits war Apollon Benkevič selbst regelmäßig zu Visiten bei polnischen Kollegen und Mitbürgern eingeladen. Immer wieder würzte Benkevič seine Alltagsbeschreibungen mit polnischen Zitaten.63 Hier wie an anderen Stellen auch wird zugleich deutlich, wie sehr Apollon Benkevič „die Polen“ als „die Anderen“ wahrnahm, mit denen man aber im Alltag eben doch viel und in der Regel konfliktfrei zu tun hatte. Auch in seiner Wahrnehmung des städtischen Raums spiegelt sich eine solche Perspektive wider. Seiner Sammelleidenschaft für städtische Ansichtskarten und Photographien geschuldet, beleuchtet Benkevič’ persönliches Archiv den Katalog städtischer Orte, die er für sehenswürdig erachtete. Hier findet sich ein buntes Durcheinander von russisch-orthodoxen Symbolorten wie den rechtgläubigen Kirchen der Svjato-Troickij-Kathedrale und der LitovskijKirche oder der Kaiserlichen Universität einerseits und polnisch konnotierten Schauplätzen wie der Sigismundsäule sowie den Denkmälern für Kopernikus und Mickiewicz andererseits. Auch das jüdische Warschau erhielt zumindest in Gestalt der großen Synagoge an der Ul. Tłomacka Eingang in das photographische Privatarchiv.64 Nicht die klare Trennung von national-konfessionellen Sphären, sondern deren Gesamtschau kennzeichnet somit den Blick Benkevič’ auf Warschau. || 60 GARF, f.1463, op.2, d.371, l.185ob [11.12.1907]. 61 GARF, f.1463, op.2, d.372, l.187 [12.12. 1908]. 62 GARF, f.1463, op.2, d.371, l.60 [18.4. 1907]. 63 GARF, f.1463, op.2, d.371, l.82ob [14.12.1902]. 64 GARF, f.1463, op.2, d.371, ll.79–96ob und l.149 [1907: Photosammlung].

11.3 Kulturelle Begegnungen und ethnische Selbstabschließungen | 301

Benkevič’ Tagebuch ist eine seltene Ausnahme. Denn russische Beamte im Königreich Polen profilierten sich weder durch besonders reges Verfassen von Tagebüchern noch von Memoirenliteratur. Es ist allerdings zu vermuten, dass viele der russischen Beamten, die zum Teil erstaunlich lange Dienstzeiten im Weichselland und in Warschau vorweisen konnten, in einer ganz ähnlichen Alltagswelt der permanenten Interaktion mit dem polnischen – und deutlich weniger mit dem jüdischen – Umfeld gelebt haben. Allein der Tatbestand, dass nicht wenige russische Beamte mehr als zehn Jahre ihren Dienst im Königreich leisteten, mag bezeugen, dass sie sich in dieser Kontaktzone nicht ganz widerwillig eingerichtet hatten. Manche von ihnen waren im Weichselland derart heimisch geworden, dass sie die polnischen Provinzen auch zum Ort ihrer letzten Ruhestätte bestimmten. Nicht nur der Warschauer Stadtpräsident Sokrat Starynkevič ließ sich 1902 im Königreich bestatten, auch viele weniger bekannte Beamte taten es ihm gleich. Vor allem der orthodoxe Friedhof vor den Toren Warschaus entwickelte sich so über die Jahre zu einer Ahnengalerie der russischen Gemeinde.65 Dass der lange Verbleib von russischen Beamten in den polnischen Gouvernements nicht nur an den Sonderprivilegien lag, die mit dem Dienst zweifellos verbunden waren, ist bereits diskutiert worden: Die Prämienzahlungen waren keineswegs hoch genug, um die rasch steigenden Lebensunterhaltungskosten im Königreich und vor allem in der teuren Weichselmetropole aufzuwiegen.66 Es haben zweifellos noch andere Gründe dazu beigetragen, das Leben am westlichen Rand des Imperiums zumindest erträglich, wenn nicht gar attraktiv erscheinen zu lassen. Daneben waren auch familiäre Bindungen ein wichtiger Faktor, der die Repräsentanten Petersburger Herrschaft langfristig an ihren Dienstort band. Nicht wenige russische Beamte, die als Junggesellen zum Dienst ins Königreich reisten, heirateten in den Folgejahren eine Polin aus dem Weichselland. Solche Eheschließungen verweisen darauf, dass die Trennlinie, die zwischen dem russischen und polnischen Milieu bestand, übertreten wurde.67 Die Heirat mit einer katholischen Polin bewirkte zweifellos, dass sich die orthodoxen Ehemänner intensiver mit dem nicht-russischen gesellschaftlichen Umfeld auseinandersetzen mussten.68 Oft erfuhren sie Zurückweisungen und auch offene Diskriminie|| 65 Siehe Piotr Paszkiewicz/Michał Sandowicz: Cmentarz Prawosławny w Warszawie, Warschau 1992. 66 AGAD, KGGW, sygn.5076, kart.6–8 [Schreiben des WGG Čertkov an den Kriegsminister Kuropatkin, 15.2.1903]. 67 Vladimir Michnevič: Varšava i Varšavjane, St. Petersburg 1881, S. 48–52. 68 Katya Vladimirov: Provincial Bureaucracy, S. 54–61 und S. 107–112; Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy, S. 102–103.

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rungen von beiden konfessionellen Lagern. Beispielsweise litten der Gouverneur des Płocker und Piotrkówer Gouvernements Konstantin Miller und seine katholische Frau, die adelige Aleksandra z.d. Kancewicz, unter den Anfeindungen sowohl von katholischer wie auch von orthodoxer Seite. So musste Miller sich von orthodoxer Seite den Vorwurf gefallen lassen, er bevorzuge Katholiken in seiner Behörde und schade der „russischen Sache“.69 Von Seiten der katholischen Gesellschaft wiederum wurde Miller als Staatsbeamter ausgegrenzt und als „Polenschinder“ beschimpft. Das Ehepaar führte während seines fast 50 Jahre dauernden Dienstes im Königreich ein zunehmend abgeschiedenes Leben und mied den Umgang mit der Gesellschaft, gleich welcher Konfession.70 Das mag davon zeugen, wie schwierig ein familiäres Leben war, das den Schritt über die konfessionellen Trennlinien hinweg wagte. Die breite gesellschaftliche Ächtung von Grenzgängern nahm über die Jahre eher zu. So wandelte sich auch das Bild „der Polin“ bei den Meinungsmachern, die für eine abgeschirmte orthodoxe Welt eintraten. Während der Topos der „schönen Polin“ an zweite Stelle trat, erschien die polnische Ehefrau in einer Mischehe seit Ende des Jahrhunderts immer mehr als ernsthafte Gefahr für den russischen und orthodoxen Charakter der Familien. Vor allem die versteckte, vom Ehemann kaum bemerkte Polonisierung der gemeinsamen orthodoxen Kinder wurde zur Bedrohung stilisiert. Die polnische Mutter gebe hier ihren Kindern schon mit der Muttermilch den Hass auf alles Russische weiter.71 In Fällen, in denen der orthodoxe Vater frühzeitig starb, wurde gar die Zwangseinweisung der Halbwaisen in staatliche Heime gefordert, um die orthodoxen Kinder dem verderblichen Einfluss der polnischen Mutter zu entziehen.72 In diesen negativen Bildern der polnischen Gattin verschmolz der ältere Topos der polnischen Frau als glühende Patriotin mit der wachsenden Sorge vor der ungewollten Indigenisierung russischer Bewohner des Weichsellands. Angestrebt wurde von den Scharf|| 69 AGAD, KGGW, sygn.6481, kart.11v–13v und kart.22–25 [Schreiben Millers an den WGG Gurko, 14.11.1894]. 70 Miller war baltendeutscher Abstammung, aber orthodoxer Konfession. GARF, f.996, op.1: Dnevnik – Miller, Konstantin Konstantinovič. AGAD, KGGW, sygn.6481, kart.11v–13ob und kart.22 [Schreiben Millers an den WGG Gurko, 14.11.1894]. 71 N. A. Veckij: K voprosu o Varšavskom universitete, Warschau 1906, S. 24–26; Vladimir A. Istomin: Nacional’no-patriotičeskie školy, Moskau 1907, S. 12. Vgl. zur ambivalenten Figur der Grenzgänger auch Jörg Gebhard: Lublin, S. 225–230; Jörn Happel/Malte Rolf: Die Durchlässigkeit der Grenze: Einleitende Überlegungen zu Grenzgängern und ihren Lebenswelten in der späten Habsburger- und Romanow-Monarchie, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 59/5 (2011), S. 397–404. 72 I. V. Skvorcov: Russkaja škola v Privisljan’e s 1879 po 1897 god, Warschau 1897, S. 11–12; N. A. Veckij: K voprosu o Varšavskom Universitete, Warschau 1906, S. 12–13 und S. 25–26.

11.4 Städtebilder, Raumstrukturen und Kulturhierarchien | 303

machern des Abgrenzungsdiskurses eine klare Apartheid der konfessionellen und ethnischen Milieus, nicht deren Kontaktaufnahme oder gar Vermischung.73 Dass die Ächtung von religions- und nationsübergreifenden Verbindungen nach der Jahrhundertwende eher zunahm, verdeutlicht, wie weit die Abschottung eines großen Teils der russischen Gemeinde in Warschau vorangeschritten war. Das gilt selbstverständlich allen voran für die nationalistischen Kreise, die sich als „wahre Russen“ verstanden und alle Kontakte zu den Polen als Verrat an der „russischen Sache“ brandmarkten. In der nationalistischen Russkoe obščestvo wurde daher konsequent die Ethnizität als entscheidendes In- beziehungsweise Exklusionsmerkmal bereits in den Statuten festgeschrieben. Denn während die Gesellschaft laut Paragraph III, Artikel 5 Mitglieder „unabhängig von Geschlecht, Beruf oder Stand“ zuließ, konnten nur „vollberechtigte Russen“ („polnopravyj russkij“) die Mitgliedschaft beantragen.74 Hier ging es zugleich um einen demonstrativen Akt, mit dem die Initiatoren P. A. Feders’ und Sergej N. Alekseev bekundeten, wie sie das gesellschaftliche Leben im Weichselland generell zu organisieren gedachten: Es sollten klar nach Nationalität segregierte Räume mit privilegierter Stellung der Russen geschaffen werden. Aber auch jenseits dieses nationalistischen Milieus beschränkten sich viele Warschauer Russen lieber auf ihr eigenes Gemeindeleben, als dass sie einen intensiven Kontakt zur polnisch-jüdischen Mehrheitsbevölkerung der Stadt suchten. Das beträchtliche Wachstum, das die russische Kolonie seit den 1890er Jahren erlebt hatte, erleichterte diese Selbstreferentialität erheblich. Mit einer Zahlenstärke von knapp 40.000 Russen in der Stadt war es einfacher geworden, sich seinen Alltag in einem weitgehend homogen-russischen Raum einzurichten.

11.4 Städtebilder, Raumstrukturen und Kulturhierarchien: Zur Topographie von Russisch-Warschau Die neue Größendimension der russischen Kolonie am Ende des 19. Jahrhunderts belebte den russischsprachigen Kulturmarkt in Warschau erheblich. Seit der Jahrhundertwende erschien eine ganze Reihe von Buchpublikationen, Zeitschriften, Kalenderblättern und Reiseführern, die von ortsansässigen Rus|| 73 Siehe dazu Robert L. Przygrodzki: Tsar Vasilii Shuiskii, the Staszic Palace, and NineteenthCentury Russian Politics in Warsaw, in: David L. Ransel/Bozena Shallcross (Hrsg.): Polish Encounters, Russian Identity, Bloomington 2005, S. 144–159, S. 146–147; Theodore R. Weeks: Nation and State, S. 32–33. 74 AGAD, KGGW, sygn.2606, kart.5 [Projekt der Statuten der Russkoe obščestvo v Varšave, Mai 1906].

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sen verfasst oder herausgegeben wurden. Diese neuen Veröffentlichungen trugen selbst erheblich dazu bei, dass sich die Autoren und Leser über eine spezifisch russisch-orthodoxe Topographie der Stadt verständigten und den urbanen Raum der Weichselmetropole zunehmend hierarchisierten. Die Publikationen waren damit oft sprechende Zeugnisse der voranschreitenden ethnischen Selbstabschließung. Ein solches Dokument stellte beispielsweise der Varšavskij russkij kalendar’ dar.75 1903 präsentierten die Verleger dem lokalen Lesermarkt einen erklärtermaßen „russischen“ Kalender. Seine bunte Mischung aus Branchenbuch und programmatischen Texten zur russischen Präsenz im Weichselland durfte kaum auf Käuferschaft außerhalb des russischen Milieus hoffen. Er war somit zugleich ein Spiegel des ausdifferenzierten gesellschaftlichen Lebens des „russischen Elements“ wie auch ein Ausdruck der geistigen Selbstbestärkung dieser Kolonie. Denn hier wurden Adressenverzeichnisse russischer Assoziationen und Unternehmen direkt neben Beiträge zu den „Ereignissen des russischen Lebens“ oder zur „Belebung des russischen gesellschaftlichen Lebens in Warschau“ postiert.76 Kalender wie dieser waren Produkte und gleichzeitig verstärkende Medien des Selbstgesprächs einer sich isolierenden Diaspora. Sie unterschieden sich in ihrer gesteigerten Selbstreferentialität und latent aggressiven Programmatik dann auch erheblich von ihren Vorgängern. Denn russischsprachige Vorläufer, wie der „Warschauer Kalender“, hatten sich vor allem als Informationsbroschüre verstanden, ohne einen vermeintlich „russischen Charakter“ der Stadt oder des Landes postulieren zu wollen.77 Davon, dass man sich in dem gewachsenen und selbstbewusst werdenden Paralleluniversum des Russkaja Varšava durchaus kommod einrichten konnte, zeugten auch die zeitgenössischen russischsprachigen Reiseführer. Diese Anleitungen für den Stadtbesuch wurden auch in Warschau um die Jahrhundertwende vermehrt publiziert und bedienten die gesteigerte Nachfrage von Handlungs-, Bildungs- und Erholungsreisenden. Sie waren in der Mehrheit Publikationen von ansässigen Russen.78 Die Warschauer Reiseanleitungen entwarfen ein Porträt der Metropole, das die topographische Hierarchie von Russisch-Warschau wi-

|| 75 Varšavskij russkij kalendar’ na 1904 god, Warschau 1903. 76 „Obzor sobytij russkoj žizni“ und „Oživlenie russkoj obščestvennoj žizni v Varšave“, in: Varšavskij russkij kalendar’ na 1904 god, S. 6–15 bzw. S. 47–86. 77 Vgl. Adres-Kalendar’ s tabel’ju domov i planom g. Varšavy na 1893 god, Warschau 1893; Varšavskij kalendar’ na 1895 god s kartoj gubernii Privisljanskogo kraj, hrsg. v. A. A. Flegontov, Warschau 1894. 78 Der überaus produktive Warschauer Autor von Reiseführern, Nikolaj Akaemov, war seit 1867 Herausgeber der Varšavskaja policejskaja gazeta. Vgl. Aleksej A. Sidorov: Istoričeskij očerk russkoj pečati v Privislinskom krae, Warschau 1896, S. 25.

11.4 Städtebilder, Raumstrukturen und Kulturhierarchien | 305

Abb. 27: Botanischer Garten und Kirche des Litauischen Leibgarderegiments

derspiegelte und in dem der polnische Charakter der Stadt weitgehend, der jüdische Anteil fast vollständig ausgeblendet wurde. Dass das Panorama der vorgestellten Gebäude, Plätze oder Denkmäler in fast allen Ausgaben identisch war, zeugt davon, wie sehr es sich bei der russischen Topographie Warschaus bereits um eine stabile mental map handelte. Es waren vor allem die Gebäude der Staatsgewalt, orthodoxe Kirchen und russische Denkmäler, die dem Reisenden als besonders sehenswert präsentiert wurden. Das königliche Schloss als Residenz des Generalgouverneurs, der Statthalterpalast als Sitz seiner Kanzlei, die vom Stab des Warschauer Wehrbezirks in Besitz genommene Palastanlage am Sächsischen Platz, das Rathaus als Wirkstätte des Stadtpräsidenten und des Oberpolizeimeisters oder die vom Zaren genutzte Schlossanlage in Łazienki standen stellvertretend für die Zentren weltlicher Macht. Dazu gesellten sich Beschreibungen der orthodoxen Kirchen wie der Svjato-Troickij-Kathedrale, der im Bau befindlichen Aleksandr-NevskijKathedrale oder auch der Maria-Magdalena-Kirche auf der Praga-Seite. Ergänzt wurde dieses Panorama durch das Russische Jungengymnasium im Staszic-Palast, das in den frühen 1890er Jahren aufwändig im Moskowiter Stil restauriert worden war. Die zentralen Straßen, zu denen der städtische Flaneur geleitet wurde, waren geprägt von russischer Toponomie: Hier fand er die Vladimir-, Alexander-, Konstantin- oder Graf-Kotzebue-Straßen, die Alexander-Brücke oder den Aleksandrovskij sad, die nach Alexander I. benannten Gartenanlagen. Der Nowy Świat wurde vor allem wegen seiner russischen

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Buchläden und des Russischen Klubs gerühmt und überhaupt erinnere er an die innerrussische Heimat. Ein Reiseführer nannte ihn den „örtlichen Nevskij prospekt“.79 Auch die symbolische Topographie, die dem Besucher in den Stadtbeschreibungen präsentiert wurde, war russisch-imperial dominiert. So wurden vor allem das Denkmal des Fürsten Paskevič, des zarischen Generals und Statthalters, oder auch der Obelisk zu Ehren der 1830–31 in Treue zum Zaren gefallenen Weichselländer aufgeführt und die Büsten Katherinas II. und Alexanders I. als sehenswert erwähnt.80 Gleiches galt für die städtischen Friedhöfe. Der interessierte Stadtreisende wurde auf den winzigen orthodoxen Friedhof an der westlichen Peripherie Warschaus geleitet, während der katholische Cmentarz Powązkowski mit seinen prächtigen Familiengruften nur am Rande Erwähnung fand.81 Hier wurde der Katalog von Plätzen, Gebäuden und Denkmälern ausgebreitet, mit dem sich die russischen Autoren identifizierten. Daran änderte auch wenig, dass einige Orte in die Reiseführer aufgenommen wurden, die als „polnisch“ konnotiert waren. Während diese Literatur die große jüdische Bevölkerung fast vollständig ausblendete, waren einige polnische Kulturmarksteine in die Stadtporträts integrierbar. Vor allem die Altstadt um den Alten Markt, die Aleje Ujazdowskie, das Operntheater oder die Sigismundsäule, das Kopernikusdenkmal, nach 1897 auch die Statue von Adam Mickiewicz wurden als besuchswürdig beschrieben. Eine solche Aufreihung „polnischer“ Kulturorte in Warschau änderte an der grundsätzlichen topographischen Hierarchisierung aber wenig. Und so wurde beispielsweise in Nikolaj Akaemovs Reiseführer von 1902 die photographische Abbildung des städtischen Ujazdowskie-Parks ganz von den im altrussischen Stil gestalteten Kuppeln dominiert, die zu der angrenzenden orthodoxen Kirche des Litauischen Leibgarderegiments gehörten.82 Ebenso wurde eine Hierarchisierung in der Gegenüberstellung von „alten“ und „neuen“ Stadtteilen vorgenommen. So wurde das primär von Russen bewohnte Viertel zwischen Aleje Jerozolimskie und der ul. Mokotowska mit der Altstadt kontrastiert. Ersteres sei durch seine „breiten, geraden Straßen mit repräsentativen Gebäuden“ geprägt, „hier wohnen viele Russen, die Wert auf ordentliche || 79 Putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostjam, hrsg. v. V. Z., Warschau 1893, S. 57. 80 Putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostjam, hrsg. v. M. M., Warschau 1873, S. 27–31, S. 36– 38 und S. 68–71; Nikolaj F. Akaemov: Putevoditel’ po Varšave, Warschau 1907, S. 19–22; K. Moskvin: Pol’nyj putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostjam, Warschau 1902, S. 40, S. 58 und S. 70–83. 81 Putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostjam, hrsg. v. M. M., Warschau 1873, S. 188–189. 82 Nikolaj F. Akaemov: Putevoditel’ po Varšave, Warschau 1902, S. 59.

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Verhältnisse, gute Luft und Wohnkomfort legen.“83 Dagegen zeichne sich die Altstadt in der Gegend um den Stare miasto durch ihre „engen, verwinkelten Gassen“ aus. „Hier sind die Höfe dreckig, schädliche Miasmen, enge dunkle Korridore und überfüllte, von mehreren Familien bewohnte Wohnungen [bilden] die ungesunden Lebensbedingungen“84 dieses Viertels. Dies war die Welt der Anderen, der Katholiken und Juden, konnotiert mit Schmutz, Dreck und Gestank. Sprechend ist in diesem Zusammenhang auch, dass keiner der Reiseführer den eigentlichen Prachtboulevard des mondänen Warschau der Jahrhundertwende ausführlicher präsentierte. Die Marszałkowska passte nicht zu dem Bild eines Warschau, das wohl über eine polnische Geschichte verfügte, dessen Gegenwart aber von den Russen bestimmt war. Wie sehr es sich bei dieser Profilierung der Weichselmetropole um eine selbstgemachte Blickwinkelverengung der lokalen russischen Gemeinde handelte, wird bei einem Vergleich der in Warschau publizierten Reiseführer mit dem eines externen Stadtporträts deutlich. In dem 1907 publizierten russischen Baedeker zu Warschau präsentierte der bekannte Reisejournalist Grigorij Moskvič ein ganz anderes Bild von der Weichselmetropole.85 Die Routen der von ihm vorgeschlagenen Spaziergänge führten durch alle Viertel Warschaus. Moskvič beschrieb eine Vielzahl von polnisch oder jüdisch konnotierten Orten und Gebäuden der Stadt, ohne eine klare Hierarchisierung vorzunehmen. Im Gegenteil: Er betonte immer wieder, dass das Faszinierende an Warschau eben gerade der wenig russische, eher „europäische“ Charakter sei. In den Augen dieses ortsfremden, aus Pjatigorsk angereisten Journalisten zeichnete sich Warschau durch seine multiethnische und -konfessionelle Buntheit und sein „westliches“ Flair aus. Von der Dominanz des „russischen Elements“ blieb dagegen bei Moskvič wenig übrig.86 Für patriotisch gesinnte Polen war Moskvič’ Stadtporträt dennoch eine Provokation: Denn hier wurde Warschau trotz aller „Europäizität“ unhinterfragt als integraler Teil des Russischen Imperiums beschrieben.87 Im scharfen Kontrast dazu nahmen polnische Reiseführer der Zeit eine ganz andere Sichtweise ein. Hier wurde der alte Hauptstadtstatus der Stadt unterstrichen und das Wesen Warschaus vor allem in Epochen vor den Teilungen identifiziert. Dagegen blieben Bezüge auf den russisch-imperialen Kontext weitgehend ausgeblendet. So || 83 Putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostjam, hrsg. v. V. Z., Warschau 1893, S. 61. 84 Putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostjam, hrsg. v. V. Z., Warschau 1893, S. 61–62. 85 Grigorij G. Moskvič: Putevoditel’ po Varšave, St. Petersburg 1907; Grigorij G. Moskvič: Illjustrirovannyj praktičeskij putevoditel’ po Varšave, St. Petersburg 1913. 86 Grigorij G. Moskvič: Putevoditel’ po Varšave, St. Petersburg 1907, S. 1–2. 87 Vgl. Grigorij G. Moskvič: Putevoditel’ po Varšave, St. Petersburg 1907, S. I.

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behandelte Stanisław Thugutt beispielsweise in seinem Eintrag zum Sächsischen Platz vorwiegend die Geschichte des von August II. errichteten Palastes, während der 1912 publizierte Reiseführer die unmittelbar vor der Fertigstellung stehende Aleksandr-Nevskij-Kathedrale nicht einmal namentlich erwähnte.88 Insgesamt weiß dieser Reiseführer wenig Gutes über die Periode russischer Herrschaft zu berichten. Nur in den ersten Jahren des noch weitgehend autonomen Königreichs Polen seien Bauten errichtet worden, die „auf unserem Boden vielleicht etwas künstlich und steif wirken, denen man allerdings eine immanente Wucht und Monumentalität nicht absprechen kann.“89 Davon könne in der Zeit nach dem Januaraufstand leider keine Rede mehr sein. Nun würden „hässliche Häuser, banale öffentliche Bauten und farblose, nichtssagende Kirchen“ den Warschauer Stadtraum bestimmen.90 Das russisch beherrschte Warschau konnte in einer solchen Perspektive nur als Niedergangsgeschichte erzählt werden, der imperiale Kontext blieb unausgesprochen oder wurde allein in seiner negativen Wirkung thematisiert. Eine von Russen und Orthodoxen bevölkerte urbane Lebenswelt blieb in dieser Raumwahrnehmung schlicht ausgeblendet.91 Russkaja Varšava bestand als gelebter und vorgestellter Stadtraum allerdings weitgehend unabhängig davon, dass ein aus Russland kommender Reisereporter oder die ansässigen Polen die Dinge anders sahen. Für die lokale Gemeinde war das Universum eines russischen Warschau zweifellos real. Ihre weitgehende mentale Abschottung wurde durch die allgemein starke ethnischbeziehungsweise sozial-räumliche Segregation von Arbeits- und Wohnviertel erheblich erleichtert. Denn die meisten Russen lebten und arbeiteten in relativ klar umgrenzten Bezirken, in denen das „russische Element“ tatsächlich stärker vertreten war als anderswo. So konzentrierten sich die wesentlichen Staatsbehörden, in denen die meisten Russen tätig waren, auf einige Straßenzüge im Stadtzentrum.92 Hier hatte der Generalgouverneur seinen Amts- und Wohnsitz im alten Königsschloss, hier befanden sich die Warschauer Gerichtskammer und die SvjatoTroickij-Kathedrale. Unweit residierten im Rathaus der Oberpolizeimeister sowie der Stadtpräsident und hatte der Stab des Warschauer Wehrbezirks seine || 88 Stanisław Thugutt: Przewodnik po Warszawie z planem miasta, Warschau 1912, S. 55. 89 Stanisław Thugutt: Przewodnik po Warszawie z planem miasta, Warschau 1912, S. 49–50. 90 Stanisław Thugutt: Przewodnik po Warszawie z planem miasta, Warschau 1912, S. 49–50. 91 Ganz ähnlich auch Feliks Fryze/Ignacy Chodorowicz: Przewodnik po Warszawie i jej okolicach na rok 1873/4, Warschau 1873. 92 Vgl. Privislinskij kalendar’ na 1898 god, Warschau 1898, S. 50–54; Varšavskij russkij kalendar’ na 1904 god, Warschau 1903, v. a. S. 102–112.

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Diensträume am Sächsischen Platz, an dem auch die Aleksandr-NevskijKathedrale entstand. Auf gleicher Höhe auf dem Krakowskie Przedmieście waren die Kanzlei des Warschauer Generalgouverneurs und die Amtsstuben des Warschauer Gouverneurs im ehemaligen Statthalterpalast lokalisiert. Und nur wenig weiter südlich lag das Bildungszentrum von Russisch-Warschau mit der Kaiserlichen Universität, dem Amtssitz des Kurators und dem Ersten Jungengymnasium im Staszic-Palast. Damit befand sich die überwiegende Mehrheit aller imperialen Behörden auf einem Kerngebiet, das einem schmalen Streifen gleicht. Auf einer Fläche von wenig mehr als einem Kilometer Länge und nur 500 Metern Breite waren fast alle Amtsstuben angesiedelt, in denen die russischen Beamten ihren Dienst taten. Auch der Wohnraum der wohlhabenderen Russen war ähnlich verdichtet. Wie die Volkszählungen des Magistrats und die Wahlregister der Dumawahlen belegen, lebte die überwiegende Mehrheit von ihnen im Viertel südlich der Aleje Jerozolimskie. Zugleich offenbaren sie eine Binnenstruktur dieses Quartiers, die sich weniger an sozialen als vielmehr an ethnisch-konfessionellen Merkmalen orientierte. Die Marszałkowska galt als „Boulevard der Polen“ und wurde ebenso wie ihre Seitenstraßen von russischen Mietern gemieden. Diese suchten eher die Nähe zur orthodoxen Erzengel-Michael-Kirche des Litauischen Leibgarderegiments und waren vor allem in der Ul. Mokotowska und der Ul. Piękna stark vertreten.93 Die wachsende Zahl von russischen Arbeitern und kleinen Angestellten nahm Quartier dagegen im rechtsseitigen Praga, das nicht nur als Viertel der Diebe, sondern auch als Agglomeration russischer Unterschichten galt. In diesem abgelegenen, vernachlässigten Distrikt entwickelte sich ein durchaus reges russisches Gemeindeleben, das in der Maria-Magdalena-Kirche sein spirituelles und in dem „Volkstheater“ sein kulturelles Zentrum hatte. Die Distanz zur russischen imperialen Elite auf der anderen Seite des Flusses war trotz aller ethnischen Gemeinsamkeiten enorm, wenngleich einige politische Meinungsträger in Zeiten des Parlamentarismus versuchten, Brücken über die Standesgrenzen und damit auch räumlich über die Weichsel hinweg zu bauen.94 In doppelter Hinsicht isoliert waren dagegen die Kontingente der zarischen Armee, die im Stadtraum Warschaus stationiert waren. Nicht nur begrenzte das Reglement des Dienstalltags zumindest bei den einfachen Soldaten einen Kon-

|| 93 AGAD, KGGW, sygn.9012, kart.27–28 [Schreiben des Stadtpräsidenten an den Kanzleidirektor des WGG, 13.8.1907]. 94 AGAD, KGGW, sygn.7031, kart.1–4 [Beratung über „Russisches Volkshaus“ beim WGG, Sitzungsprotokoll, 20.8.1911].

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takt mit der Zivilbevölkerung. Darüber hinaus lebte der Großteil der rund 40.000 Männer der Garnison auch räumlich distanziert in abgeschotteten Kasernenanlagen im Norden und Süden der Stadt oder in einem der insgesamt 19 Forts an der städtischen Peripherie. Vor allem die Alexander-Zitadelle im Norden war eine Stadt in der Stadt, die über Kirche, Bäckerei, Theatersaal und selbstverständlich über ein eigenes Gefängnis verfügte.95 Auch die militärischen Anlagen beim Pole Mokotowskie stellten ein isoliertes Territorium am Rande Warschaus dar. Allerdings war die vollständige Kasernierung der Soldaten im Russischen Reich keinesfalls abgeschlossen und Truppenverlegungen bedeuteten oft, dass Soldaten bei Privatpersonen eingemietet wurden.96 Insgesamt forcierte die isolationistische Gestaltung von Lebens- und Wohnraum die Segregation der Stadtbevölkerung nach ethnischen Kriterien. Sie verwandelte Warschau zumindest aus der Perspektive der Russen in eine „duale Stadt“, in der die Apartheid der Nationen und Konfessionen zur tagtäglich erfahrenen Realität wurde. Die hier lebenden Russen legten damit ein Siedlungsmuster an den Tag, das mit jener Segregation in britischen oder französischen Kolonialstädten durchaus vergleichbar war.97 Die zahlreichen direkten Kontakte mit der indigenen Bevölkerung, zu denen die an der Weichsel residierenden Russen genötigt waren, haben dies nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Auch ein Benkevič war unhinterfragt in einer russisch-orthodoxen Lebenswelt heimisch, selbst wenn im Alltag Begegnungen mit Katholiken oder seltener mit Juden stattfanden. Die meisten Russen verstanden sich als „anders“ und orientierten sich an einem Gemeinschafts- und Wertehorizont, der sich deutlich von dem der jüdischen oder polnischen Warschauer unterschied. Das Zentrum ihrer kulturellen und symbolischen Landkarte befand sich in den imperialen Hauptstädten. Die russische Gemeinde in Warschau blieb auf die kulturellen Ereignisse fixiert, die sich in Moskau oder St. Petersburg abspielten. Auch in dieser Privilegierung kamen vorgestellte Kultur- und Raumhierarchen zum Ausdruck. Denn in der Ausrichtung auf die Reichsmetropolen und Innerrussland drückte sich eine Verweigerung aus, Warschau als kulturell relevanten Kontext zu akzeptieren. Die Anlässe gesellschaftlichen Lebens im fernen

|| 95 Grigorij G. Moskvič: Putevoditel’ po Varšave, St. Petersburg 1907, S. 98–100. 96 AGAD, KGGW, sygn.5105, kart.1–138 [Unterlagen zur Einquartierung von Soldaten, 1905– 09]; AGAD, KGGW, sygn.5227, kart.1–115 [Unterlagen zur Einquartierung von Soldaten, 1906– 09]. 97 Vgl. Graf C. von der Pahlen: Im Auftrag des Zaren in Turkestan, Frankfurt/Main 1964, S. 33– 39; ebenso Jeff Sahadeo: Russian Colonial Society in Tashkent, 1865–1923, Bloomington 2007, v. a. S. 6–46; Janet Abu-Lughod: Tale of Two Cities: The Origins of Modern Cairo, in: Comparative Studies in Society and History, 7/4 (1965), S. 429–457.

11.4 Städtebilder, Raumstrukturen und Kulturhierarchien | 311

Petersburg oder Moskau erschienen eben wichtiger als die Entwicklungen vor Ort. Das Puškin-Denkmal an der Newa wurde als „eigenes“ wahrgenommen, während das Warschauer Mickiewicz-Denkmal das der „Anderen“ und damit fremd blieb. Dementsprechend aktiv engagierten sich Teile der russischen Gemeinde bei kulturellen Veranstaltungen, die die enge Verbindung zwischen Diaspora und „russischem Kernland“ manifestierten. Allen voran standen hier die großen Feieranlässe, die der Monarch und sein Hof nach 1903 imperiumsweit aufwändig begehen ließen und die den Zusammenhalt von Krone, Reich und loyalen Untertanen stärken sollten. So wurden die Jubiläen der Gründung St. Petersburgs (1903), der Schlacht bei Poltawa (1909) und der bei Borodino (1912), sowie als Höhepunkt dieses Festzyklus, die Terzennienfeiern der Romanow-Dynastie (1913) auch in Warschau begangen.98 Ähnlich bedeutsam waren die Reisen der Zaren und der Mitglieder der Zarenfamilie ins Weichselland.99 Alexanders II. mehrfache Besuche in Warschau oder auch Alexanders III. Rundreise im Jahr 1884 waren nicht nur zentrale Anlässe für die lokale russisch-orthodoxe Gemeinde, um ihrer Monarchentreue Ausdruck zu geben. Wegen der symbolischen Privilegierungen, die das Begrüßungszeremoniell vornahm, dienten sie zugleich dazu, sich der eigenen herausgehobenen Stellung zu vergewissern.100 Gerade Letzteres wird beim Zarenbesuch von 1897 deutlich. Als Nikolaus II. im Sommer für vier Tage nach Warschau reiste, löste das hektische Vorbereitungen in der russischen Diaspora aus. Weil manche polnischen Kommentatoren die Ankunft des Zaren als „Wendepunkt“ für die Beziehungen zwischen Herrscher und Polen deuteten und von einer neuen „Ära der Versöhnung“ sprachen, galt es ihnen, das Ereignis zu einem Schauspiel russisch-orthodoxer Loyalität zu verwandeln. Auch 1897 war das Protokoll hilfreich, das den russisch-orthodoxen Beamten und Würdenträgern den ersten Platz in den Huldigungsritualen sicherte. Ob beim Kutschenritt des Zaren durch die Stadt, beim Empfang im königlichen Schloss Łazienki oder bei den zahlreichen Ortsbesichtigungen – die zeremonielle Anordnung privilegierte nicht nur die Vertreter der Regierungsbehörden, sondern auch die Repräsentanten der russisch-orthodoxen Gemeinschaft. Besonders die herrscherliche

|| 98 GARF, f.726, op.1, d.21, l.100–101 [Anweisungen des WGG anlässlich der Jubiläumsfeiern zur Schlacht bei Borodino, 25.7.1912]. 99 Vgl. zu den Herrscherreisen in das Königreich ausführlicher Malte Rolf: Der Zar an der Weichsel; Malte Rolf: Imperium w Królestwie. 100 GARF, f.215, op.1, d.915, l.4ob und ll.6ob–8 [Festkomitee zum Besuch Alexanders III., ohne Datum]. Vgl. Privislinskij kalendar’ na 1898 god (Kalendar’ Carstva Pol’skogo), Warschau 1898, S. 9–12; Aleksej A. Sidorov: Russkie i russkaja žizn’ v Varšave, Warschau 1899, S. 59–68; Aleksej A. Sidorov: Russkie gosudari v Varšave, Warschau 1897, S. 13–19.

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Inspektion der Baustelle der Aleksandr-Nevskij-Kathedrale sowie seine Visiten in orthodoxen Waisenhäusern wurden als Symbolakte verstanden, die das Primat des Russisch-Orthodoxen im Weichselland unterstrichen. Gleiches bezweckte die explizite Anweisung an den katholischen Erzbischof, der Fahrt des Zaren durch Warschau fernzubleiben. Auch hier sollte die protokollarische Rangordnung sichergestellt werden.101 Die unmittelbaren Monarchenbegegnungen waren somit Schlüsselereignisse, um die russisch-orthodoxe Hegemonie der westlichen Peripherie des Reiches zu demonstrieren. Und sie halfen der Diaspora dabei, sich selbst ihrer direkten Verbindung zum imperialen Zentrum zu vergewissern. Das gleiche Ziel verfolgte jenes Engagement, das bewusst auf das Kulturleben in den fernen hauptstädtischen Zentren Bezug nahm. Hier bemühten sich die Angehörigen der lokalen Gemeinde um Transferleistungen. Die Dinge, die die metropolen Öffentlichkeiten beschäftigten, sollten in ihren Ausläufern auch die periphere Weichselmetropole erreichen. Beispielsweise wurden Spendensammlungen organisiert, damit auch die Warschauer Diaspora ihren Beitrag zu den geplanten Puškin- und Mendeleev-Denkmälern in Petersburg leistete.102 Ihre Angehörigen verstanden sich als Träger einer russisch dominierten imperialen Kultur, deren Überlegenheit es vor Ort zu repräsentieren galt. Damit betrieben sie eine Konstruktion kultureller Hierarchien, die auf die polnische Bevölkerung abzielte. Indem man die „Größe“ solcher Literaten wie Puškin oder Wissenschaftler wie Mendeleev betonte, unterstrich man die Superiorität russischer Kultur und Wissenschaft. Die Botschaft war eindeutig: Russland und die Russen waren nicht nur in Hinsicht staatlicher Stärke und imperialer Großmachtentfaltung den Polen überlegen, sondern führten ebenso in zentralen Feldern der europäischen Hochkultur die Entwicklung an. Es ging hier um die eigene Positionierung in der Völkerhierarchie der europäischen Kulturgemeinschaft. Dass es ausschließlich innerrussische Kulturgrößen waren, denen eine derart identifikationsstiftende Bedeutung zugemessen wurde, drückte zugleich die relative Schwäche des „russischen Elements“ vor Ort aus. Denn die lokale Gemeinde brachte auch nicht einen „großen Sohn Russlands“ hervor. So sehr sich die Russen an der Weichsel einredeten, in einem überlegenen Universum zu leben, so sehr mussten sie im Alltag oft mit der Erfahrung des Gegenteils umgehen. Paradigmatisch zu Tage traten diese Defizite beim Scheitern des Projekts, || 101 GARF, f.215, op.1, d.277, l.34 [Telegramm des Innenministers an den WGG, 10.8.1897]; GARF, f.215, op.1, d.916, ll.41–44 [Festprogramm, 18.8.1897]; APW, t.151, cz.3 (KGW), sygn.543, kart.3–6 [Bericht des Leiters des Warschauer Uezd Brinken, 29.8.1897]. Varšavskij dnevnik, Nr. 223 (22.8.1897), S. 1; Varšavskij dnevnik, Nr. 224 (23.8.1897), S. 1. 102 Predvybornye izvestija Russkogo obščestva v Varšave, Nr. 3 (14.9.1907), S. 2.

11.5 Nationalisierung der Bildung | 313

ein „Russisches Volkshaus“ in Warschau zu errichten. In manchen Fällen überlagerte sich in den Niederungen des Alltags der Mangel an heimischen Kulturgrößen mit jener Unterentwicklung der lokalen Infrastruktur, über die die russische Gemeinde so oft Klage führte. Als sich der Russische Kreis für Literatur 1906 zusammenfand, um eine Lesung über Puškin zu hören, kollabierten mehrere Zuhörer wegen Sauerstoffmangels. Wegen des knappen Budgets hatte nämlich nur eine kleine Wohnung angemietet werden können.103 In Warschau mussten sich russische Puškin-Liebhaber somit noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem Hinterzimmer ihrer eigenen kulturellen Größe vergewissern. Eine der wenigen Institutionen, die den eigenen Anspruch auf Kulturträgerschaft auch in Warschau stolz und sichtbar zu manifestieren schien, war die Kaiserliche Universität. Es ist daher kaum verwunderlich, dass der „Russischen Universität“ und ihrer Professorenschaft im russischen Gemeindeleben eine zentrale Bedeutung zukam. Sie war zugleich der Ort, an dem sich die zunehmende Politisierung und Radikalisierung der russischen Diaspora nach der Revolution von 1905 am deutlichsten zeigte.

11.5 „Nationalisierung der Bildung“? Die Kaiserliche Universität in Warschau und die Politisierung der Professorenschaft Die Kaiserliche Universität wurde 1869 auf der Basis der Warschauer Hauptschule gegründet. Sie war die wichtigste Institution des offiziellen Bildungssystems im Königreich, da sie neben dem Polytechnischen Institut die einzige Einrichtung höherer Bildung im Weichselland darstellte. Die fachliche Ausrichtung der Warschauer Universität war zunächst nicht anders als an den übrigen Hochschulen des Reichs: Die großen Abteilungen der Warschauer alma mater waren die medizinische und die juristische Fakultät. Erst mit weitem Abstand folgten die natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen.104 In der Zusam|| 103 AGAD, KGGW, sygn.2607, kart.5–5v [Schreiben Dmitrij Cvetaevs an die Kanzlei des WGG, 31.1.1906]. 104 „Izvlečenie iz otčeta o sostojanii i dejatel’nosti Imperatorskogo Varšavskogo universiteta“, in: Varšavskie universitetskie izvestija, Nr. 6 (1895), S. 1–82. Vgl. zur Kaiserlichen Universität ausführlicher Ireneusz Ihnatowicz: Uniwersytet Warszawski w latach 1869–1899, in: Stefan Kieniewicz (Hrsg.): Dzieje Uniwersytetu Warszawskiego 1807–1915, Warschau 1981, S. 378–494; Halina Kiepurska: Uniwersytet Warszawski w latach 1899–1915, in: Stefan Kieniewicz (Hrsg.): Dzieje Uniwersytetu Warszawskiego 1807–1915, Warschau 1981, S. 495–564; Malte Rolf: Imperium w Królestwie.

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Abb. 28: Kaiserliche Universität in Warschau, Bibliothek

mensetzung ihrer Professoren- und Studentenschaft verfügte die Universität jedoch über ein sehr spezifisches Profil. Bei den eingeschriebenen Studenten waren die Katholiken bis 1905 in der Mehrheit.105 Erst infolge der Revolution von 1905–06 nahm ihr Anteil deutlich ab, was mit neu entstandenen Alternativen auf dem Warschauer Bildungsmarkt und mit der daraus resultierenden Abwanderung der polnischen Studenten zu tun hatte.106 Dagegen war die Professorenschaft seit Gründung der Hochschule russisch und orthodox dominiert. Das gilt vor allem für die Geisteswissenschaften, deren Vertreter es auch waren, die sich bei den publizistischen Debatten über die Aufgaben und Meriten der Universität hervortaten.107 In der polnischen Kritik und auch in der Selbstbezeichnung der Professoren firmierte die alma mater entsprechend eindeutig als „russische Universität“. Diese Titulatur verwies auf den besonderen Charakter der Hochschule, der sich in der russischen Unterrichtssprache, aber auch in der Privilegierung von Russ-

|| 105 Zwischen 1894 und 1905 waren 57–66 Prozent der Studenten katholischen, ca. 19 Prozent mosaischen und 17 Prozent orthodoxen Glaubens. Siehe Studenty Imperatorskogo Varšavskogo Universiteta, Charkov 1895; „Kratkij otčet o sostojanii i dejatel’nosti Imperatorskogo Varšavskogo Universiteta“, in: Varšavskie universitetskie izvestija, Nr. 5–6 (1906), S. 1–68, hier S. 4–7. 106 „Kratkij otčet o sostojanii i dejatel’nosti Imperatorskogo Varšavskogo Universiteta“, in: Varšavskie universitetskie izvestija, Nr. 6 (1912), S. 1–86, S. 3–5. 107 Vgl. L. P. Lapteva: V. A. Francev kak issledovatel’ russo-pol’skich naučnych svjazej v XIX v., in: Ja. N. Ščapov/S. M. Fal’kovic/N. I. Ščavelea (Hrsg.): Kul’turnye svjazi Rossii i Pol’ši XI–XX vv., Moskau 1998, S. 128–140.

11.5 Nationalisierung der Bildung | 315

land-bezogenen Themen im geisteswissenschaftlichen Curriculum ausdrückte. Schon der Aufbau der Historisch-Philologischen Fakultät spiegelte dies wider. Sie war intern in die Bereiche der „klassischen“, „historischen“ und „slawischrussischen“ Abteilung gegliedert. Letztere befasste sich nur nebenbei mit polnischer Literatur und Sprache.108 Primär berücksichtigte Unterrichtsgegenstände waren dagegen russische Geschichte, Literatur und Geographie. Oftmals wurden Seminare und Vorlesungen zu allgemein slawischen Themen wie Entwicklung und Ähnlichkeiten der slawischen Sprachen und Kulturen in den Lehrplan aufgenommen. Aber auch hier stand die Bedeutung des Russischen als Leitkultur im Vordergrund.109 All dies trug entscheidend zur Fremdheitswahrnehmung der Universität von Seiten der polnischen Gesellschaft bei. Obwohl mehrere tausend polnische Studenten die Universität besuchten und eine Vielzahl polnischer Ärzte und Juristen hier ausgebildet wurde, blieb die Hochschule eine ungeliebte Bildungsinstanz im Königreich.110 Die Forderungen nach einer stärkeren Gewichtung des Polnischen, sei es als Unterrichtssprache oder als Lehrgegenstand, tauchten regelmäßig auf. Und immer wieder entluden sich die Spannungen in studentischen Protesten, die gegen den „russischen Charakter“ der Universität, ihrer Leitung und der Professorenschaft revoltierten.111 Im turbulenten Revolutionsjahr von 1905 eskalierten die Auseinandersetzungen. Als das Postulat einer stärkeren Berücksichtigung der polnischen Sprache, Literatur und Geschichte auf Ablehnung durch die zarische Bürokratie stieß, kam es zu einem umfassenden studentischen Boykott der Lehreinrichtung und als Reaktion darauf zu ihrer mehrjährigen Schließung. Die Universität war damit endgültig zum Gegenstand der politischen Kontroverse einer nationalisierten Öffentlichkeit geworden. Die russische Professorenschaft hatte sich schon vor 1905 bemüht, die Auseinandersetzung mit einem polnischen Streitpartner zu befeuern. Ein Produkt dieses andauernden nationalen Konkurrenzverhältnisses und des empfundenen || 108 „Kratkij otčet o sostojanii i dejatel’nosti Imperatorskogo Varšavskogo Universiteta“, in: Varšavskie universitetskie izvestija, Nr. 6 (1909), S. 1–48, hier S. 1. 109 Vgl. „Programma prepodavanija v 1871/72 akademičeskom godu“, in: Varšavskie universitetskie izvestija, Nr. 2 (1872), S. 25–67; „Obozrenie prepodavanija predmetov“, in: Varšavskie universitetskie izvestija, Nr. 4 (1908), S. 1–23. 110 Vgl. „Sokraščennye protokoly zasedanii Soveta Imperatorskogo Varšavskogo Universiteta“, in: Varšavskie universitetskie izvestija, Nr. 7 (1897), S. 1–45. 111 Vor allem in den Jahren 1883, 1897 und 1903 wurde die Universität von schweren Tumulten erschüttert. APW, t.25, sygn.537, kart.6–9 [Bericht des Inspektors der Universität Popov an den Universitätsrektor, Februar 1883]; GARF, f.215, op.1, d.94, ll.11–12ob [Bericht des WGG Imeretinskij zu den studentischen Unruhen, 12.1.1898]; KGGW, sygn.2137, kart.3–3v [Bericht des Gehilfen des WGG, 15.11.1903].

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Rechtfertigungsdrucks war zweifellos die hohe Bereitschaft vor allem des geisteswissenschaftlichen Teils der Ordinarien, sich an den politischen Debatten um die „polnische Frage“ zu beteiligen und eine Reihe von Denkschriften zu Leistungen und Aufgaben des russischen Bildungssystems im Königreich Polen zu verfassen.112 Die Warschauer Professoren entwarfen hier Konzepte zur Neuordnung des imperialen Gesamtgefüges, die sie deutlich von ihren oft eher liberal geprägten Kollegen im Reichsinneren absetzten.113 Das Schrifttum dieser Warschauer Professoren zeichnete sich durch ein starkes Gruppengefühl der akademischen Korporation aus. Die Lehrjahre in Warschau werden auch in späteren Erinnerungen als prägende Erfahrung angeführt und der Zusammenhalt der „Warschauer“ reichte weit über die Dienstzeit an der Weichsel hinaus. So existierte ein stabiles Referenzmilieu, in dem ehemalige oder gegenwärtige Warschauer Professoren sich gegenseitig mit publizierten Jubiläumsschriften, Nekrologen oder Kurzbiographien huldigten und Universitätsberühmtheiten einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren versuchten.114 Die Kaiserliche Universität entwickelte sich so zum Zentrum einer breit gefassten Slawenkunde und zu einer Bastion slawophilen, aber auch panslawischen Denkens.115 Warschauer Professoren wie Ivan Filevič pflegten enge Kontakte zur slawophilen Bewegung in Moskau und St. Petersburg; die Historiker Petr Lavrovskij, Iosif Pervol’f oder Aleksandr Jacimirskij profilierten sich mit Forschungen zu den frühen Slawen.116 Geschichte, Kultur und Brauchtum, Lite|| 112 Vgl. Anton S. Budilovič: Vopros ob okrainach Rossii, v zvjazi s teoriej samoopredelenija narodnostej i trebovanijami gosudarstvennnogo edinstva, St. Petersburg 1906; Vladimir V. Esipov: Avtonomija Pol’ši, s točki zrenija finansovych, ekonomičeskich i drugich interesov Rossii, Warschau 1907; Grigorij A. Evreinov: Avtonomija Carstva Pol’skogo, St. Petersburg 1906. 113 Vgl. Trude Maurer: Hochschullehrer im Zarenreich. Ein Beitrag zur russischen Sozial- und Bildungsgeschichte, Köln 1998, S. 579–590 und S. 822–833. 114 Siehe Anton S. Budilovič: Pamjati N. A. Lavrovskogo, Jur’ev 1899; Afanasij F. Byčkov: P. A. Lavrovskij (nekrolog), St. Petersburg 1886; N. D. Čečulin: I. P. Kornilov. Nekrolog, St. Petersburg 1901; Vladimir A. Francev: Nekrologi I. Prof. Iosif Kalousev, Moskau 1916; Konstantin Ja. Grot: N. A. Lavrovskij (nekrolog), St. Petersburg 1900; Nikolai I. Ivanov: Pedagogočeskie trudy N. A. Lavrovskogo. Posvjačšaetsja ego pamjati, Jur’ev 1900. Vgl. auch die rege Publikationstätigkeit des Warschauer Professors Esipov zu seiner Wirkstätte und seinen Kollegen: Vladimir V. Esipov: Professor G. F. Simonenko. Očerk ego trudov i naučnoj dejatel’nosti, Warschau 1905. 115 Siehe Konstantin Ja. Grot: Novyj russkija posobija po slavjanovedeniju, Warschau 1886. Siehe auch das Schriftenverzeichnis Warschauer Professoren im Findbuch der Handschriftenabteilung der RGB, f.44 (Varšavskij universitet), Opis’ für die Historisch-philologische Fakultät, S. 36–68. 116 Ivan P. Filevič: I. S. Aksakov i pol’skii vopros, St. Petersburg 1887; Petr A. Lavrovskij: Izvestie o sostojanii uniatskoj cerkvi u russkich v Galicii, Charkov 1862; Iosif I. Pervol’f: Slavjane, ich

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ratur und die vergleichend erforschten slawischen Sprachen waren die Elemente, die zur Konstruktion einer großen Gemeinschaft der Slawen herangezogen wurden. An der Warschauer Universität gab es zahlreiche Vertreter der Theorie einer einheitlichen slawischen Ursprache. Auch war die historische Rechtsschule stark vertreten, die sich an der Konstruktion einer Einheit des „litauischrussischen Staats“ beteiligte und damit die Ostgebiete der polnisch-litauischen Adelsrepublik zum alten russischen Erbe erklärte.117 Die Konfession als Bestimmungsmerkmal von Zugehörigkeit trat in dieser Weltsicht eher zurück: Sie wurde als Bestandteil der Kultur weiterhin beforscht und wahrgenommen, nicht jedoch als eigenständiges, der Kultur enthobenes Identitätsmerkmal angesehen. Viel eher meinte man in der Rezeption Johann Gottfried Herders, in der Folklore sowie im byt und damit in den Alltagsbräuchen der Völkerschaften ihren eigentlichen, unverfälschten „nationalen Charakter“ ausmachen zu können.118 Dieser Geisteshorizont wurde in der Revolution von 1905–06 erheblich radikalisiert. Zugleich politisierte sich ein Teil der Professorenschaft. Der studentische Boykott und die temporäre Schließung der Hochschule markierten in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur. Einerseits wurde die Kaiserliche Universität auch mit Blick auf ihre Studenten nun tatsächlich zu einer „russischen Universität“. In Reaktion auf den russisch-nationalistischen Ton der Professorenschaft vermieden polnische Studenten die Immatrikulation an der Universität und nutzten andere, seit der Revolution legalisierte Institutionen auf dem Bildungsmarkt.119 Andererseits hatte dies auch für die Professorenschaft erhebliche Konsequenzen. Die eigene Fremdheit gegenüber dem gesellschaftlichen und städtischen Umfeld nahm merklich zu. Das produzierte ein intensiviertes Gemeinschaftsgefühl innerhalb der akademischen Korporation,120 resultierte aber

|| vzaimnyja otnošenija i svjazi, 3 Bde., Warschau 1886–1890. Zu Aleksandr I. Jacimirskij siehe Handschriftenabteilung der RGB, f.44, op.9, d.13. Ähnlich auch die Warschauer Professoren Anton Budilovič; Fedor Leontovič, Konstantin Grot oder Valerij Pogorelov. 117 Fedor I. Leontovič: Nacional’nyj vopros v drevnej Rossii, in: Varšavskie universitetskie izvestija, Nr. 1 (1895), S. 17–65. 118 Vgl. die Sammlung von Volksliedern aus Wolhynien, Siedleck, Cholm und Kiew, Handschriftenabteilung der RGB, f.44, op.18, d.13. Fedor I. Iezbera: Muzej dlja nagljadnogo oznakomlenija s Rossiju pri Imperatorskogo Varšavskogo universiteta, in: Varšavskie universitetskie izvestija, Nr. 1 (1875), S. 1–128. 119 Der Anteil der katholischen Studenten überschritt erst 1915 wieder die Zehn-Prozentmarke. Siehe „Kratkij otčet o sostojanii i dejatel’nosti Imperatorskogo Varšavskogo Universiteta“, in: Varšavskie universitetskie izvestija, Nr. 6 (1909), S. 1–48; „Kratkij otčet o sostojanii i dejatel’nosti Varšavskogo Universiteta“, in: Varšavskie universitetskie izvestija, Nr. 6 (1916), S. 1–82. 120 Handschriftenabteilung der RGB, f.44, op.9, d.13; RGB, f.44, op.9, d.13, l.13–15.

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auch in Forderungen nach einer konsequenten Nationalisierung des Bildungssystems. In der postrevolutionären Konfliktsituation des Königreichs wurde ein solcher Isolationismus der ethnisch bestimmten, nationalen Gemeinschaften von einer Vielzahl der Professoren als die einzig plausible Option wahrgenommen. Damit wandelte sich zugleich die Vorstellung von der anzustrebenden Ordnung des imperialen Gesamtgefüges. Etliche Warschauer Professoren verstanden das Russländische Imperium immer mehr als primär russische Angelegenheit. Das Reich war das Zuhause der Wir-Konstruktion der Russen, die „unsere Sache“ an „unseren Grenzen“ verteidigten und die sich als Kulturträger in den Peripherien stilisierten.121 Eine solche Gleichsetzung von Russen und Reich war nicht nur die Position einer radikalen Professorenminderheit, sondern breiter Konsens im russischen akademischen Milieu an der Weichsel. Das zeigte sich unter anderem in den Programmatiken, mit denen zahlreiche Hochschullehrer der Warschauer Universität in die politischen Auseinandersetzungen der III. und IV. Dumawahlen zogen. Schon das parteiübergreifende Engagement Warschauer Professoren selbst war ein deutlicher Verweis auf den hohen Grad der Politisierung, der das akademische Feld in der Weichselmetropole nach der Revolution kennzeichnete. Mehrere Professoren konkurrierten um jenen Sitz, der in Warschau seit 1907 für die russische Wahlkurie reserviert war. Zweifellos gab es unter diesen Politiker-Professoren auch Verfechter liberaler Positionen. Beispielsweise trat der Literatur- und Sprachenforscher Aleksandr Pogodin 1907 für die Progressisten zur Wahl an. Weitaus stärker vertreten waren die Repräsentanten der Warschauer Universität aber in der Partei der Oktobristen. Professor M. Filipov wurde als ihr Kandidat in den Wahlkampf geschickt und von Vladimir Esipov, dem bekannten Hochschullehrer, Leiter des Warschauer Statistischen Komitees und Chronisten des „russischen Lebens“ im Königreich, tatkräftig unterstützt. In einer Wahlrede setzte sich Letzterer deutlich von den Positionen der Liberalen ab, als er deren Befürwortung eines föderalen Prinzips im Staatsaufbau mit dem Untergang des Reichs gleichsetzte.122 Ähnliche Positionen vertraten auch die Warschauer Hochschullehrer Aleksandr Evlachov und Ivan Kozlovskij. Ersterer kandidierte 1912 für die Splittergruppe des National-liberalen Zentrums für die IV. Staatsduma, letzterer als Wahlmann des II. Warschauer Wahlbezirks.123 Im Zentrum ihrer Kampagne stand das || 121 Vladimir V. Esipov: Materialy k istorii Imperatorskogo Varšavskogo Universiteta, Bd. 1, Warschau 1913; I. V. Skvorcov: Russkaja škola v Privisljan’e s 1879 po 1897 god, Warschau 1897. 122 AGAD, KGGW, sygn.9012, kart.114–114v [Bericht des Gehilfen des WGG, 5.9.1907]. 123 Zum Folgenden siehe den Wahlaufruf vom 29 9.1912. Handschriftenabteilung der RGB, f.44, op.8, d.39.

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Schlagwort der „unteilbaren staatlichen Einheit“. Alle Völker, die dem Russländischen Imperium „angegliedert“ worden seien, sollten nun die letzten Reste ihrer ehemaligen Unabhängigkeit und „Eigenart“ aufgeben und dafür als Ausgleich die gleichen bürgerlichen Rechte und Gesetze wie das russische „Herzland“ erhalten. Alle bürgerlichen Freiheiten sollten jedoch auf einer „russischen nationalen Grundlage“ aufbauen. Zwar polemisierten Evlachov und Kozlovskij als Vertreter des National-liberalen Zentrums explizit gegen den Kandidaten der rechten Nationalisten, aber die Gleichsetzung von „russländisch“ und „russisch“ war auch bei ihnen schon selbstverständlich. In nationalistischer Perspektive kam eine solche Position schon einem Vaterlandsverrat gleich. Radikale Vertreter des Warschauer Wahlzusammenschlusses der Russkoe obščestvo degradierten das Imperium zum Handlanger der „echten Russen“ und ihrer eigenen Polophobie. In dem aufgeheizten Klima des von nationalen Antagonismen bestimmten Warschau konnte dieses Wahlbündnis dennoch triumphieren und entsandte seinen Kandidaten Sergej Alekseev als den russischen Abgeordneten aus Warschau in die III. und IV. Duma.124 Auch bei den Nationalisten waren die Warschauer Hochschulprofessoren zahlenstark vertreten. Vor allem Platon Kulakovskij machte sich hier einen Namen und wurde zwischenzeitlich als „Hausautor“ im Parteiblatt der Russkoe obščestvo geführt.125 Aber auch der Hochschullehrer Sergei Vechov und der Rechtswissenschaftler – sowie Vater des gleichnamigen Dichters – Aleksandr L. Blok engagierten sich als Wahlmann für die nationalistische Vereinigung.126 Sie alle riefen nach einer intensivierten Russifizierung des Imperiums: Das Reich gehöre den Russen und nicht umgekehrt. „Russland den Russen“ lautete die zentrale Losung.127 Derart radikale Positionen brachen endgültig die Kom-

|| 124 Vor allem 1907 war der Wahlsieg der Russkoe obščestvo in der russischen Kurie in Warschau triumphal. Von den für die Wahlmännerversammlung abgegebenen 2.442 Stimmen entfielen 1.507 Stimmen und damit knapp 62 % auf die Wahlmänner der Russkoe obščestvo. Siehe Predvybornye izvestija Russkogo obščestva, Nr. 6 (16.10.1907), S. 3. Auch bei der Wahl zur IV. Duma konnten die Nationalisten 1912 ihren Wahlsieg wiederholen. 125 Vgl. die explizite Lektüreempfehlung von Kulakovskijs Schriften zur „polnischen Frage“ in: Predvybornye izvestija Russkogo obščestva, Nr. 4 (23.9.1907), S. 4. 126 Siehe die Aufstellung der Wahlmännerlisten der Russkoe obščestvo in: Predvybornye izvestija Russkogo obščestva, Nr. 5 (1.10.1907), S. 2–3. Zum radikal antipolnischen Wahlprogramm der Russkoe obščestvo siehe AGAD, KGGW, sygn.9012, kart.110b [Programm der Russkoe obščestvo v Varšave]. 127 Vgl. Kulakovskijs Publikationsreihe Russkii russkim. 5 Bde., St. Petersburg 1907–1913. Siehe auch D. A. Kocjubinskij: Russkij nacionalizm, S. 30–37 und S. 149–151; L. P. Lapteva: Slavjanskij vopros v mirovozrenii P. A. Kulakovskogo (po archivnym materialam), in: V. A.

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munikationsbrücken zur polnischen Gesellschaft ab. Das zeigte sich auch ganz eindeutig an den Forderungen, die nationalistische Meinungsführer im Königreich an das Bildungswesen stellten. Unter einer „Nationalisierung der Bildung“ verstanden Autoren wie Vladimir Istomin eine strikte Apartheid nach nationalen Kategorien. Sie unterstrichen, dass die Regierung selbstverständlich nur die russischen „national-patriotischen Schulen“ unterstützen dürfe.128 In dieser radikalen Variante gehörte das Imperium den Russen. Und so konnte ein anonymer Autor um die Jahrhundertwende in einer Polemik Warum es in Warschau eine russische Universität geben soll? fordern, dass die Kaiserliche Universität endlich einen eindeutig „russischen Charakter“ annehmen müsse.129 Nur dann könne die Universität – so formulierte es ein weiterer anonymer Autor – zum Motor der „geistigen Annäherung des Grenzgebiets an das Zentrum“ werden.130 Allen Nichtrussen, die sich der Assimilierung verweigerten, wurde hier letztlich ein kultureller Helotenstatus zugewiesen, in dem sie in bildungsfreien, von der Armee durchherrschten Räumen den Interessen der „russischen Sache“ zu dienen hätten. Die Nähe zum kolonialen Diskurs der Zeit, mit dem expliziten Dienstverhältnis der Peripherie gegenüber dem Zentrum, kann deutlicher wohl nicht sein. In den Publikationen vieler russischer Professoren aus Warschau dominierte somit nach der Revolution von 1905 die Selbstwahrnehmung als Vorkämpfer im nationalen Überlebenskampf, in dem es darum ging, die permanente Polonisierungsgefahr zurückzudrängen. Die Schriften sprechen von Bedrohungs- und Isolationsgefühlen, die in das aggressive Heldennarrativ vom aufopferungsvollen Ringen um die „russische Sache“ an „unseren Peripherien“ kanalisiert wurden.131 Alles Nichtrussische wurde immer mehr als synonym für „reichsfeindlich“ gedeutet und die vermeintlichen „Versöhnler“, die sich für einen Ausgleich mit der indigenen Bevölkerung aussprachen, wurden schnell als Verräter an Volk und Vaterland stigmatisiert.132 Dass die Kaiserliche Universität || D’jakov (Hrsg.): Slavjanskaja ideja: Istorija i sovremennost’, Moskau 1998, S. 111–126, hier S. 111–120. 128 Vladimir A. Istomin: Nacional’no-patriotičeskie školy, Moskau 1907, S. 5: „O nacionalizacii gosudarstvennoj škol’noj sistemy“. 129 „Počemu v Varšave dolžen byt russkij universitet?“, handschriftlicher Essay, Verfasser anonym, um 1900, Handschriftenabteilung der RGB, f.44, op.14, d 3, l.10. 130 Explizit bei Varšavskij Universitet i byvšaja Varšavskaja Glavnaja Škola, ohne Autor, St. Petersburg 1908, S. 27. 131 Ähnlich „K russkim ženščinam Varšavy!“, in: Predvybornye izvestija Russkogo obščestva, Nr. 5 (1.10.1907), S. 2. 132 „Prof. A. L. Pogodin o russkich vyborach v Varšave“, in: Predvybornye izvestija Russkogo obščestva, Nr. 7 (19.10.1907), S. 3.

11.5 Nationalisierung der Bildung | 321

nach ihrem Neuanfang von 1907 auch mit Blick auf die Studentenschaft einen „russischen Charakter“ annahm, hat dieses Denken eher noch verstärkt. In der postrevolutionären Konfliktsituation im westlichen Grenzgebiet erschien vielen der russischen Akademiker eine Gleichsetzung von „Reich“ und „Russen“ als einzig logischer Schluss. Es ist die Radikalität dieser Positionen, die erklärt, warum weite Teile der Staatsbürokratie eine kritische Distanz zu den nationalistischen Scharfmachern wahrten. Der Generalgouverneur Skalon versuchte sogar aktiv – wenn auch wenig erfolgreich -, den politischen Einfluss der Russkoe obščestvo zu begrenzen.133 Denn die von den akademischen Agitatoren geforderte „Nationalisierung der Bildung“ bedeutete in ihrer letzten Konsequenz, dass nur noch Russen politische Subjekte des Imperiums sein konnten. Der zunehmend integrale Nationalismus, der von einigen russischen Professoren der Warschauer Universität propagiert wurde, stellte eine klare Absage an alle multinationalen Integrationsstrategien dar und trug damit selbst dazu bei, die Grundlagen des Vielvölkerreichs zu unterminieren. Die Warschauer Zensusgesellschaft in Gestalt des akademischen Milieus war damit weitaus radikaler als die zarischen Entscheidungsträger. Die obersten Beamten hatten allen Grund, sich gegenüber solchen Forderungen reserviert zu zeigen. Denn es war gerade eine Lehre der Revolution von 1905, dass ein scharfer Antagonismus zur indigenen Bevölkerung schnell zu einer fundamentalen Bedrohung der Monarchie insgesamt anwachsen konnte. Das Imperium durchlebte in den Jahren 1900–14 eine ebenso elementare wie lange Krise.

|| 133 AGAD, KGGW, sygn.9012, kart.101 [Depesche des Innenministers Stolypin an den WGG, 13.9.1907]; AGAD, KGGW, sygn.9012, kart.103–104v [Offener Brief der Wahlmänner der russischen Bevölkerung Warschaus an den WGG, 8.10.1907]. „Neskol’ko slov po povodu iskaženija faktov v dvuch stat’jach Varšavkogo Dnevnika“, in: Predvybornye izvestija Russkogo obščestva, Nr. 1 (30.8.1907), S. 1.

| Teil V: Das Imperium in der Krise – Das Königreich Polen in den Jahren 1900–1914

12 Die Revolution von 1905–1907 im Königreich Polen Das Jahr 1905 markiert zweifellos eine grundlegende Zäsur in der Geschichte des Russischen Reichs. Es ist oft genug mit Blick auf den Sturz der Autokratie 1917 insgesamt argumentiert worden, dass mit den Ereignissen von 1905 der „Anfang vom Ende“ begann. Die erste Russische Revolution erschien in der Retrospektive als Generalprobe für den tatsächlichen Sturz des Zaren zwölf Jahre später.1 Selbst wenn man einer solchen Revolutionsteleologie kritisch gegenübersteht, an dem Schlüsselcharakter des Jahres 1905 besteht kein Zweifel. Denn sowohl das politische System wie auch die Gesellschaft des Zarenreichs gingen grundlegend verändert aus den Wirren der Revolution hervor. Die Einführung der Duma, das neue Presse- und Vereinsrecht, die Erfahrungen der sogenannten Tage der Freiheit, aber auch der revolutionären Gewalteruption und der blutigen Repressionsmaßnahmen von Seiten der Autokratie – all dies waren strukturelle und mentale Verschiebungen, die das Russland nach 1905 deutlich von der Zeit vor der Revolution abheben. Dies gilt für das Königreich Polen in besonderem Maße. Denn im Weichselland entfaltete die Revolution von 1905 eine Intensität, Gewalttätigkeit, aber auch gesellschaftliche Breitenwirkung, wie es sich in kaum einem weiteren Herrschaftsbereich der Autokratie nachzeichnen lässt. Oft genug war Polen das Epizentrum der revolutionären Wirren, in dem sich die Ereignisse früher als im inneren Russland zuspitzten und das katalysierend für Konfliktkonstellationen anderorts wirkte.2 Angesichts der langjährigen und komplexen Konfliktlage, die im Königreich bestand, vermag das wenig zu überraschen. Und dennoch lassen sich gerade an diesem Beispiel die Dynamiken der revolutionären Entwicklungen und auch die Eigenlogik gewaltsamer Eskalation aufzeigen. Einerseits verlief hier die Revolution nach einem eigenen Rhythmus und brachte lokalspezifische Themen auf die revolutionäre Agenda. Andererseits standen die Ereignisse in den polnischen Landstrichen in Wechselwirkung mit denen, die in anderen Peripherien oder im inneren Russland stattfanden – und sei es nur aufgrund der Tatsache, dass die Autokratie gezwungen war, zur Befriedung der Provinz eine

|| 1 Vgl. Leo Trotzki: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Frankfurt/Main 1981, S. 166. 2 Siehe Robert E. Blobaum: Rewoljucja, S. 72–74; Anke Hilbrenner: Gewalt als Sprache der Straße: Terrorismus und seine Räume im Zarenreich, in: Walter Sperling (Hrsg.): Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich 1800–1917, Frankfurt/Main 2008, S. 409–432, S. 423–425; Peter Holquist: Epoch of Violence, S. 636.

326 | 12 Die Revolution von 1905–1907 im Königreich Polen

Truppenstärke einzusetzen, die knapp einem Drittel der Mannschaftsstärke an den Fronten des Russisch-Japanischen Kriegs entsprach. Während in der Mandschurei nie mehr als eine Million Soldaten konzentriert wurden, waren während der revolutionären Wirren im Königreich Polen durchgängig mindestens 300.000 Soldaten stationiert.3 Zudem motivierte der zwischenzeitlich weitgehende Zusammenbruch staatlicher Ordnung in den westlichen Reichsprovinzen die Opposition im europäischen Russland zu immer radikaleren Forderungen. Zum Teil machten russische Versammlungen und Organisationen polnische Anliegen zu ihren eigenen, zum Teil rekurrierten Aufständische in den russischen Metropolen auch direkt auf die Erhebungen in Polen.4 Andererseits wirkten die revolutionären Unruhen im Inneren Russlands auf die Eskalation der Auseinandersetzung im Königreich zurück. Und so kam es mehrfach zu Solidaritätsstreiks, bei denen Belegschaften in Polen ihre Unterstützung für die Verbündeten in Russland bekundeten. Der Warschauer Generalstreik, der im Oktober 1905 in der Weichselmetropole das städtische Leben zum Erliegen brachte, wurde als eine solche solidarische Aktion begonnen und folgte in seiner weiteren Entwicklung den Moskauer und Petersburger Vorbildern. Es war insofern eine Wechselbeziehung, die die Entwicklung vor Ort deutlich dynamisierte. 1905 war zugleich für die polnische Gesellschaft ein Wendepunkt. Nicht nur führten die Erfahrungen der Revolution zu einer allgemeinen Politisierung der Bevölkerung,5 sie veränderten auch die Beziehungen zwischen den polnischen und jüdischen Bevölkerungsgruppen grundlegend.6 Und nicht zuletzt erschien die Autokratie in einem anderen Licht, nachdem sich erwiesen hatte, dass die drückende zarische Herrschaft zumindest zeitweise instabil geworden war. Die Forschung hat diesen Aspekt zu Recht betont. Sie hat jedoch vernachlässigt, wie stark die Revolution von 1905 auch auf Seiten der Sachverwalter imperialer Herrschaft An- und Einsichten prägte und ihre Grundannahmen über die richti-

|| 3 Vgl. Abraham Ascher: The Revolution of 1905, S. 158; Marian Kamil Dziewanowski: The Polish Revolutionary Movement, hier S. 392; Christoph Gumb: Warschau, 1904–1907. 4 Vgl. Dietrich Geyer: Russischer Imperialismus, S. 185; ebenso Andrew Kier Wise: Aleksander Lednicki. A Pole among Russians, a Russian among Poles. Polish-Russian Reconciliation in the Revolution of 1905, New York 2003, S. 147–168. 5 Vgl. Robert E. Blobaum: Rewoljucja, S. 188–233. Siehe auch Anna Artwińska: Die Revolution 1905 in der polnischen Literatur, in: Martin Aust/Ludwig Steindorff (Hrsg.): Russland 1905. Perspektiven auf die erste Russische Revolution, Frankfurt/Main 2007, S. 141–156; Agnieszka Friedrich: Polish Literature’s Portrayal of Jewish Involvement in 1905, in: Stefani Hoffman/Ezra Mendelsohn (Hrsg.): The Revolution of 1905 and Russia’s Jews, Philadelphia 2008, S. 143–151. 6 Theodore R. Weeks: 1905 as a Watershed in Polish-Jewish Relations, in: Stefani Hoffman/ Ezra Mendelsohn (Hrsg.): The Revolution of 1905 and Russia’s Jews, Philadelphia 2008, S. 128–139.

12 Die Revolution von 1905–1907 im Königreich Polen | 327

gen Formen der Beherrschung des unruhigen Landstriches veränderte. 1905 war eben auch ein Schlüsseljahr für die autokratische Verwaltungselite und das Königreich Polen avancierte für diese in vielem zum Modellfall, an dem man erproben konnte, wie unter den neuen Bedingungen revolutionärer Erhebung und erzwungener demokratischer und bürgerrechtlicher Konzessionen imperiale Herrschaft effektiv und dauerhaft ausgeübt werden konnte. Will man das Handeln der Amtsträger in der dynamischen Situation einer Revolution verstehen, so muss die sich verdichtende Abfolge von Zusammenstößen und Aufständen ins Zentrum rücken. Denn nicht nur die Handlungslogik revolutionärer Kräfte speiste sich aus einer „Dynamik, die sich im Wesentlichen aus der Eigenlogik sich perpetuierender und expandierender Gewaltprozesse herleitet.“7 Auch der Maßnahmenkatalog der Repräsentanten imperialer Herrschaft unterlag dem beschleunigten Wandel, den die Wirren erzwangen. Auch sie mussten sich der Eigenlogik revolutionärer Eskalation stellen. „Revolution“ ist hier zunächst die Umschreibung eines rapiden staatlichen Kontrollverlusts. Sie beruht auf einer Dynamik, die von einer Zunahme von Gewalt in sich verkürzenden Intervallen gespeist wird. Dezentral und ungesteuert stattfindende Zusammenstöße von Ordnungskräften und ihren Gegenspielern speisen diesen Beschleunigungsprozess – und das nicht nur, weil der Einsatz von Gewalt eine höhere Gewaltbereitschaft auf der anderen Seite initiiert. Vielmehr wird mit jedem Scharmützel deutlicher, wie unfähig das herrschende Regime bereits ist, Ordnung zu bewahren. Angesichts maroder staatlicher Autorität erhöht sich die Zuversicht der antagonistischen Akteure und forciert ihre Bereitschaft, den Konflikt weiter eskalieren zu lassen. Immer mehr Beteiligten scheint es plausibel, dass ein taumelnder Koloss nun unter Einsatz von gewalttätigen Mitteln von seinen tönernen Füßen gestoßen werden kann. Auch dies trägt zur „Eigendynamik entfesselter Gewalt“ bei, die Revolutionen vorantreibt. Zugleich stehen in den folgenden Ausführungen die Versuche der Autoritäten im Mittelpunkt, diese Eigendynamik zum Halten zu bringen. Wie reagierten die zarischen Entscheidungsträger vor Ort auf die fundamentale Krise des Imperiums? Welches waren ihre Strategien zur Beendigung der revolutionären Wirren? Und welche Auswirkungen hatte der zwischenzeitlich weitgehende Kontrollverlust über die polnischen Territorien auf die Angsthierarchien und Feindbilder der zarischen Beamten? Denn die Revolution löste auch einen Lernprozess bei den Sachwaltern imperialer Herrschaft aus. Sie sahen sich durch die revolutionären Erhebungen und die Folgen des Oktobermanifests mit grundlegend veränderten Bedingungen konfrontiert.

|| 7 Peter Waldmann: Eigendynamik entfesselter Gewalt, S. 360.

328 | 12 Die Revolution von 1905–1907 im Königreich Polen

12.1 Erodierende Autoritäten: Tumulte, Anschläge und Gewaltkulturen 1900–1904 So einschneidend die Zäsur von 1905 war, so wenig war die Revolution ein isoliertes Ereignis. Sie kündigte sich schon lange an, bevor der „Blutsonntag“ vom 9. Januar 1905 den revolutionären Sturm vollends entfachte. Bereits die Zeitgenossen nahmen die Jahre 1903–05 als eine Einheit der Wirren, der zahlreichen Erhebungen gegen die autokratische Ordnung und der fortschreitenden Erosion staatlicher Autorität wahr.8 Es war auch nicht der Russisch-Japanische Krieg, der dieses Kontinuum der Krise initiierte, wenngleich er zweifellos die Konfliktlage beträchtlich verschärfte. Es handelte sich vielmehr um einen diffusen Eskalationsprozess, der sich seit der Jahrhundertwende abzeichnete und in dem sich die Zusammenstöße zwischen den staatlichen Autoritäten und jener wachsenden Zahl von Menschen, die den herrschenden status quo zu ändern trachteten, deutlich verschärften. Aus der Perspektive des zarischen Herrschaftsapparats gewann die Entwicklung seit 1900 eine bedrohliche Dynamik. Dies wurde gerade im Königreich Polen deutlich. Der Kontrast der Stimmungen in den Jahren 1897 und 1900 könnte deutlicher kaum ausfallen. 1897 hatten sich sogar die imperialen Beamten noch von der Euphorie des Zarenbesuchs in Warschau anstecken lassen und es schien nach Dekaden der Spannungen nun eine Kooperation mit dem gemäßigten Teil der polnischen Gesellschaft möglich. Aber der gleiche Generalgouverneur, der noch 1897 die Genehmigung für ein Adam-Mickiewicz-Denkmal in Warschau erteilt hatte, forderte nur drei Jahre später von St. Petersburg weitreichende Sondervollmachten, um die polnischen Provinzen durchgreifend „befrieden“ zu können. Seine Einschätzung der Lage im Kraj liest sich dramatisch. Prinz Aleksandr Imeretinskij sah vor allem in der erschreckenden Häufung bewaffneter Übergriffe eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung.9 Eine allgemeine „Messerpest“ schien in den Unterschichten der größeren Städte um sich zu greifen. Die von der Staatsanwaltschaft zusammengestellten Daten untermauerten diesen Eindruck. Allein in den Jahren 1898–99 wurden vor dem Warschauer Bezirksgericht 2.286 Fälle von Messerstecherei, davon 32 mit tödlichem Ausgang, verhandelt.10

|| 8 APW, t.24 (WWO), sygn.261, kart.1–32, hier kart.3 [Stimmungsbericht zur Lage im Kraj, 1913]. 9 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.12–17ob [Schreiben des WGG Imeretinskij an das Innenministerium, 16.1.1900]. 10 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.9–11 [Bericht des Staatsanwalts der Warschauer Gerichtskammer, 4.1.1900].

12.1 Erodierende Autoritäten: Tumulte, Anschläge und Gewaltkulturen 1900–1904 | 329

Es war aber nicht allein die zunehmende Brutalität und Bewaffnung der Auseinandersetzungen in städtischen Unterschichtmilieus, die dem Generalgouverneur Sorge bereiteten. Vielmehr meinte er, eine Verschmelzung solcher Gewaltkulturen mit der politischen Agitation der revolutionären Parteien ausmachen zu können. Letztere seien aufgrund der exponierten Lage des Königreichs und der Durchlässigkeit der Staatsgrenzen besonders aktiv und erfolgreich bei der ideologischen Unterwanderung von Unterschichtsprotesten. Es gelinge – so Imeretinskij – gerade den Aktivisten der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) immer öfter, soziale Unzufriedenheit und allgemeine antirussische Ressentiments mit den Verheißungen der „neuen Lehren“ zu verbinden. Imeretinskij formulierte das so: „Die Lehren, die der Arbeiterklasse in der Zukunft [...] Rechte und ein angenehmes Leben versprechen, [...] lösen bei den hiesigen Arbeitern um so mehr Sympathie aus, als sie vor dem lokalen Hintergrund polnisch-patriotischen Charakter annehmen.“11 Rote Fahnen, oft auch nur rote Stofffetzen, wurden seit 1899 vermehrt auf Veranstaltungen verschiedener Art gezeigt und dokumentierten die gesteigerten Aktivitäten der revolutionären Bewegung. Zudem richteten sich die Messerattacken immer öfter gegen Hüter der staatlichen Ordnung.12 Diesen Herausforderungen könne, so Imeretinskij, nur mit der Ausrufung des Ausnahmezustands in Warschau und im Warschauer Gebiet begegnet werden. Denn nur die Proklamation eines „verstärkten Schutzes“, der usilennaja ochrana, mit den entsprechenden Vollmachten ermögliche es dem Generalgouverneur, die revolutionäre Tätigkeit effektiv zu unterbinden und die „Messerflut‟ zurückzudrängen. Kernstück der Forderungen des Generalgouverneurs war die Ausweitung seiner Befugnisse, Strafen als administrative Anordnung jenseits von Gerichtsverfahren verhängen und vermeintliche Revolutionäre arretieren oder von ihrem Wohnort oder aus dem Königreich insgesamt verbannen zu können.13 Im Jahr 1900 jedoch erwies sich das Petersburger Zentrum keineswegs als rückhaltloser Befürworter derartiger administrativer Vollmachten. Imeretinskijs

|| 11 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.12–17ob [Brief des WGG Imeretinskij an das Innenministerium, 16.1.1900], hier l.12ob. 12 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.12–17ob, hier l.13. 13 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.12–17ob, hier l.14–17ob. Im Jahr 1881 war ein dreistufiges Ausnahmegesetz erlassen wurden, das eine Hierarchie von Ausnahmezuständen und entsprechend erweiterten Vollmachten vorsah: Nach dem „verstärkten“ und dem „außerordentlichen Schutz“ (usilennaja bzw. črezvyčajnaja ochrana) konnte als ultimative Maßnahme das Kriegsrecht ausgerufen werden. Vgl. Don C. Rawson: The Death Penalty in Late Tsarist Russia: An Investigation of Judicial Procedures, in: Russian History, 1 (1984), S. 29–58, S. 40–47.

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Vorstoß traf aber beim Innenministerium auf Vorbehalte, da eine Häufung von Ausweisungen durch die Lokalverwaltung das russische Zentrum vor erhebliche Probleme gestellt hätte. Offensichtlich fürchtete man in Petersburg einerseits einen unkontrollierten Import polnischer Revolutionäre, andererseits artikulierte sich hier auch das Machtringen zwischen zentralen und lokalen Behörden und das Bestreben der Ministerien, Entscheidungskompetenzen in Petersburg zu konzentrieren.14 Hier, wie bei späteren Fällen auch, zeigte sich, dass die Initiative zur Aushöhlung des geltenden Rechts oft genug durch die lokalen Verwaltungsbeamten betrieben wurde, während die Petersburger Ministerien zumindest um die Jahrhundertwende einer unkontrollierten Ausweitung administrativer Strafpraktiken ablehnend gegenüberstanden. In der Situation von 1900 fand man dafür noch einen Kompromiss, der beide Seiten befriedigte. Es wurde dem Warschauer Generalgouverneur für einen Zeitraum von drei Jahren die Vollmacht verliehen, „bindende Beschlüsse“ (objazatel’nye postanovlenija) in Angelegenheiten zu verfassen, die die staatliche und öffentliche Sicherheit betrafen. Verstöße gegen diese Bestimmungen konnten dann administrativ geahndet werden.15 Zugleich wurde in der Verwaltungsstruktur des Warschauer Generalgouvernements mit dem „Gehilfen für die Polizeiabteilung“ (Pomoščnik Varšavskogo General’-Gubernatora po policejskoj časti) eine Institution geschaffen, die für die Gewährleistung der „staatlichen Ordnung und öffentlichen Sicherheit“ zuständig war und die für eine engere Koordination zwischen der Kanzlei des Generalgouverneurs und der Behörde des Oberpolizeimeisters sorgen sollte.16 In diesem Konflikt offenbarte sich zugleich eine unterschiedliche Einschätzung zur Bedrohlichkeit der Lage im Weichselland. Dies zeigte sich überdeutlich, als Imeretinskijs Nachfolger, der Generalgouverneur Michail Čertkov, zwei Jahre später abermals Ausweitung der Vollmachten beantragte. Der umfangreiche Katalog von begehrten Kompetenzen beinhaltete vor allem die Entscheidungshoheit über Wohnortnahme und -wechsel von „verdächtigen Personen“, mit der Čertkov energisch gegen die revolutionären Kräfte im Kraj vorzugehen versprach.17

|| 14 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.18–22 [Brief aus dem Innenministerium an den WGG Imeretinskij, 17.3.1900]. 15 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.61–62 [Brief des Innenministeriums, Polizei-Department, an den WGG Imeretinskij, 6.6.1900], hier l.61ob. 16 GARF, f.265, op.1, d.12, ll.24–27 [Verordnung für den „Gehilfen des Warschauer Generalgouverneurs für die Polizeiabteilung“, 23.3.1900]. 17 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.30–45 [Brief des WGG Čertkov an das Innenministerium, 12.3.1902], hier l.30.

12.1 Erodierende Autoritäten: Tumulte, Anschläge und Gewaltkulturen 1900–1904 | 331

Auch Čertkov begründete sein Anliegen mit einer sich zuspitzenden Krisensituation im Weichselland, die eine Ausweitung seiner Kompetenzen nötig mache. Das Vorbild, an dem sich der Generalgouverneur orientierte, war der kaiserliche Statthalter im Kaukasus, der über eben diese Vollmachten verfügte. Die polnischen Provinzen verlangten nach einer ähnlichen Machtfülle des obersten Beamten, denn diese Gebiete, so Čertkov, „sind ein historischer Teil Polens, in dem die Bevölkerung unmittelbar mit gleichstämmigen Territorien in Berührung kommt, die an Preußen und Österreich abgetreten sind. Daher befinden sich die Gouvernements des Privislinskij kraj in administrativer Hinsicht in einer ausgesprochenen Ausnahmesituation.“18 Wie Čertkov weiter ausführte, sei dies in der derzeitigen Lage von besonderer Bedeutung. Denn sowohl die „Arbeiterfrage“ wie auch die gesteigerten Aktivitäten von „geheimen Antiregierungsorganisationen, die bei Arbeitern tätig sind und die die Jugend unterrichten“, sowie die „sozialistische Propaganda und die polnisch-katholische Agitation“ erzwängen eine Erweiterung der Vollmachten des Generalgouverneurs.19 Nicht anders als Imeretinskij war auch Čertkov bei seinem Vorstoß, die Kompetenzen des Generalgouverneurs deutlich zu erweitern, wenig erfolgreich. Von dem geforderten Maßnahmenkatalog genehmigte das Innenministerium nur einen Bruchteil.20 Der Warschauer Generalgouverneur konnte mit einer solchen Petersburger Haltung kaum zufrieden sein und so unterließ er es auch nicht, in regelmäßigen Abständen auf die Gefährlichkeit der Situation im Weichselland zu verweisen.21 Nun kann man die dramatische Schilderung der Sicherheitslage als Argumentationsstrategie des Generalgouverneurs abtun, der grundsätzlich auf die Erweiterung seiner Macht- und Entscheidungsbefugnisse drängte. Andererseits sprechen die von ihm tatsächlich erlassenen „bindenden Beschlüsse“ wie auch die interne lokale Korrespondenz dafür, das entworfene Bedrohungsszenario zumindest auch als Realität zu verstehen, wie sie vom Generalgouverneur wahrgenommen wurde. Denn die Beschlüsse des Gouverneurs, die ein breites Spektrum von öffentlichen Handlungen umfassten und so verschiedene Bereiche wie Versammlungsformen, das Tragen von Waffen, den Einsatz von verbotenen Symbolen und das Singen revolutionärer Lieder ebenso wie das Halten von Brieftauben in grenznahen Regionen betrafen, verweisen darauf, dass der oberste zarische Beamte im Weichselland einen

|| 18 GARF, f.215, op.1, d.97, l.32ob. 19 GARF, f.215, op.1, d.97, l.33 und l.33ob. 20 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.28–29ob [Auskunft des Innenministeriums, 6.8.1902], hier l.28. 21 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.66–67 [Brief des WGG an das Innenministerium, 29.1.1903].

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tatsächlichen Bedarf an „energischem Handeln“ vor Ort sah.22 Dieser extensive Einsatz von „bindenden Beschlüssen“ wurde von der bedrohlich anmutenden Dichte von Zusammenstößen staatlicher Autoritäten und lokaler Bevölkerung motiviert. Denn was die Polizeiagenturen aus den zehn Provinzen berichteten, fügte sich zum Bild einer zunehmenden Erosion von staatlicher Autorität zusammen. Es handelte sich um eine Vielzahl von einzelnen Vorkommnissen, die weniger auf eine koordinierte Vorgehensweise als auf einen allgemeinen Verfall des Respekts vor Amtspersonen hinzuweisen schien. Im Jahr 1903 nahmen im Warschauer Gerichtsbezirk die Fälle, bei denen „Verstöße gegen die öffentliche Ordnung“ geahndet wurden, deutlich zu.23 Vor allem beunruhigte die Polizeibehörde das deutliche Anwachsen von Protesten gegen die Regierung und den Zaren. So nahmen 1903 die symbolischen Handlungen, bei denen Missachtung der Zarenmacht und Ablehnung der russischen Herrschaft zum Ausdruck gebracht wurden, sprunghaft zu. Es gab nun zuhauf Fälle, in denen sich Menschen weigerten, die Zarenhymne mitzusingen oder sich zu erheben und die Mützen abzusetzen. Andere wiederum intonierten „Gott erhalte den Zaren“ bewusst falsch oder nachlässig.24 Schüler erschienen an katholischen Feiertagen nicht zum Schulunterricht, um dagegen zu demonstrieren, dass zwar an orthodoxen Festtagen die Schulen ganztätig geschlossen waren, an katholischen aber bereits nachmittags der Unterricht wieder aufgenommen wurde.25 Manche Vorkommnisse drückten die allgemeine Aggressivität exemplarisch aus: Als Händler auf einem Markt im Gouvernement Łomża Zarenporträts zum Kauf anboten, wurden sie von Passanten angefeindet. Dem Zaren gehöre eine Kugel in die Brust verpasst, so die Ausrufe aus der aufgebrachten Menge.26 Oder Beamte mussten sich Beschimpfungen wie – „Steck Dir doch Deinen Zaren in den Hintern.“ – gefallen lassen.27

|| 22 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.66–67 [Brief des WGG an das Innenministerium, 29.1.1903]; f.215, op.1, d.97, ll.72–74ob [Beschluss des Innenministeriums, übermittelt an den WGG, 3.3.1904]. 23 Vgl. Varšavskij statističeskij komitet (Hrsg.): Nekotorye čerty po statistike narodnogo zdravija i narodnoj nravstvennosti v 10 gubernijach Carstva Pol’skogo, Warschau 1907, S. 38. 24 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.1–89ob, hier kart.34–35 [Bericht des Piotrkówer Gouverneurs Miller an den WGG, 15.4.1903]; AGAD, PomGGW, sygn.730, kart.127 [Memorandum des Gehilfen des WGG, 20.10.1903]. 25 AGAD, PomGGW, sygn.730, kart.65–66 [Schreiben des Leiters der Polizeiverwaltung des Warschauer Gouvernements an WGG, 5.5.1903]. 26 AGAD, PomGGW, sygn.728, kart.54 [Vorsteher des Uezd Szczuczyn, Gouvernement Łomża, 29.5.1903]. 27 AGAD, PomGGW, sygn.728, kart.2–2v [Schreiben an den Gouverneur aus Radom, 2.1.1903].

12.1 Erodierende Autoritäten: Tumulte, Anschläge und Gewaltkulturen 1900–1904 | 333

Immer wieder kam es zu demonstrativen Auftritten gegen den öffentlichen Gebrauch der russischen Sprache, die als Symbol der Fremdherrschaft galt. Es wurden Fahrkartenschaffner angepöbelt, wenn sie sich – wie vorgeschrieben – auf Russisch an die Fahrgäste wandten. Im Piotrkówer Theater bekam ein Einsatzleiter der freiwilligen Feuerwehr, der Rauchende auf Russisch auf das allgemeine Rauchverbot hinwies, zu hören: „Es hat gerade noch gefehlt, dass auch noch die freiwillige Feuerwehr anfängt, Russisch zu sprechen.“ Und Beamte mussten sich wiederholt fragen lassen, warum sie ihren Dienst in Polen ableisteten, wenn sie kein Polnisch sprechen könnten.28 Gerade auch die ethnischen Russen im Weichselland hatten unter den allgegenwärtigen Feindseligkeiten zu leiden. Immer öfter war nun auf offener Straße ihre Beschimpfung als „Moskowiter“ (moskale) zu vernehmen. Im Gouvernement Kalisz verweigerte ein Hotelbesitzer einer russischen Theatertruppe die Unterbringung mit der vorgeschobenen Begründung, das Hotel sei schon ausgebucht. Und der Vorsitzende der polnischen Musikgesellschaft in Kalisz lehnte das Ansinnen des Kirchenchors der örtlichen orthodoxen Kathedrale ab, in den Räumlichkeiten des Verbandes ein Konzert zu organisieren. Die Erklärung kam einer unverhohlenen Beleidigung gleich: Die Räume der Gesellschaft seien kein Restaurant und er hätte eine Anfrage von Juden, hier eine Hochzeit zu veranstalten, ebenfalls abgelehnt, selbst wenn sie dafür viel Geld geboten hätten.29 In der kleinen Ortschaft Włocławek bei Płock offenbarte sich, wie sehr sich die polnische Gesellschaft inzwischen als Parallelveranstaltung organisierte, die die russischen Behörden weitgehend missachtete und die wenigen russischen Ortsbewohner systematisch ausgrenzte. Offizielle, als „russisch“ geltende Versammlungen wurden hier von Polen überhaupt nicht mehr besucht und es wurde Sorge getragen, dass nicht ein einziger Russe als Mitglied in der lokalen Feuerwehr oder der Beerdigungsgesellschaft aufgenommen wurde. Die lokale Armenfürsorge lehnte alle Gesuche von Russen ab und in der örtlichen Handelsschule protestierte der Beirat öffentlich beim Direktor gegen den Festschmuck an orthodoxen Feiertagen, da die Schule „nicht mit russischem Geld gebaut wurde.“30 Die polnisch-katholischen Feste wurden dagegen öffentlich und aufwändig gefeiert, ohne dass die Organisatoren diese bei der Gebietsbehörde noch anmeldeten. In einer solchen abgeschlossenen Parallelwelt gesell|| 28 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.1–89ob, hier kart.55–56 [Bericht des Piotrkówer Gouverneurs Miller an den WGG, 15.4.1903]. 29 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.104–111v [Bericht über Ereignisse von politischer Bedeutung, 9.5.1903]. 30 AGAD, PomGGW, sygn.730, kart.148–148v [Bericht des Leiters der Abteilung für Öffentliche Ordnung, 9.11.1903].

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schaftlicher Selbstorganisation war die imperiale Administration schlicht überflüssig geworden.31 Wie in den Jahren zuvor wurde auch nach 1900 die Warschauer Universität zum Brennpunkt des russisch-polnischen Konflikts. Anlässlich der Beerdigung des ehemaligen Kurators Apuchtin im Herbst 1903 kam es zu Ausschreitungen von Studenten auf dem Gelände der Universität und wenig später auch im Polytechnikum.32 Anders jedoch als bei dem schon zur guten studentischen Tradition gehörenden Auflehnen gegen die Instanzen und Personen der „Russifizierung“ ereigneten sich diese Proteste in einem Kontext wachsender gesamtgesellschaftlicher Spannungen. Sie gaben daher den staatlichen Autoritäten auch vermehrt Grund zur Sorge, was deren energisches Einschreiten gegen die studentischen Aktivisten erklärt. Bei der Auflösung einer studentischen Versammlung wurden 57 Personen von der Polizei festgenommen, von denen 41 auf administrativem Wege zu mehrwöchigen Arreststrafen verurteilt wurden.33 Die Konflikte eines zunehmend nationalisierten Alltags richteten sich keineswegs allein gegen die russischen Bewohner des Weichsellands. Die zarischen Akten dokumentieren eine wachsende allgemeine Fremdenfeindlichkeit der polnischen Gesellschaft, die sich ebenso gegen deutsche und jüdische Nachbarn wandte und deren Stigmatisierung und Ausgrenzung betrieb. So brach bei einem Ball im Warschauer Gouvernement ein allgemeiner antideutscher Tumult aus, als polnische Redner die anwesenden deutschen Mitglieder der lokalen Kreditgesellschaft offen beleidigten und zum Kampf gegen „alles Deutsche“ aufriefen. Der Streit eskalierte und mündete in einem Duell.34 Auch der Gouverneur des Piotrkówer Gouvernements, Konstantin Miller, meinte den Grund erkannt zu haben, warum er seinen Gegnern besonders verhasst sei: Mehrere gegen ihn gerichtete polnischsprachige Verleumdungsschriften hoben hervor, dass weniger sein Status als russischer Beamter das Problem sei als vielmehr sein „Deutschtum“.35 Vor allem aber waren die polnisch-jüdischen Beziehungen zunehmend gespannt. Nach dem Pogrom von Kišinev im April 1903 kursierten bei den jüdi-

|| 31 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.142–149 [Schreiben des Warschauer Gouverneurs an den WGG, 8.8.1903]. 32 KGGW, sygn.2137, kart.2–2v [Schreiben des Gehilfen des WGG, 10.11.1903]. 33 KGGW, sygn.2137, kart.4–5 [Brief des WOPM an den WGG, 18.11.1903]; kart.10–13 [Beschluss des WGG, 20.11.1903]. 34 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.94–96 [Schreiben des Gehilfen des WGG, 25.6.1903]. 35 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.1–89ob, hier kart.68–70 [Bericht des Piotrkówer Gouverneurs Miller an den WGG, 15.4.1903].

12.1 Erodierende Autoritäten: Tumulte, Anschläge und Gewaltkulturen 1900–1904 | 335

schen Bewohnern im Königreich Gerüchte über bevorstehende Übergriffe von polnischer Seite.36 Und unter den Polen im Weichselland wurden Pläne kolportiert, dass es an der Zeit sei, „die Juden zu schlagen“. Die zarischen Autoritäten sahen sich tatsächlich gezwungen, Sicherheitsmaßnahmen zu intensivieren, um derartige „Zusammenstöße zwischen den Völkern“ zu verhindern.37 Dennoch kam es an mehreren Orten zu gewaltsamen Konflikten zwischen Christen und Juden. So wurde beispielsweise im Kielcer Gouvernement während einer katholischen Prozession das Gerücht laut, dass Juden Steine geworfen hätten, um „katholische Heilige zu beleidigen“. Die aufgebrachte Menge verprügelte mehrere Juden und konnte erst durch das Erscheinen der lokalen Polizeikräfte auseinandergetrieben werden.38 Im Gouvernement Suwałki kam es zeitgleich zu Übergriffen von Litauern auf Juden, bei denen auch von Schusswaffen Gebrauch gemacht wurde.39 Etwas friedlicher, aber nicht weniger öffentlichkeitswirksam verlief die Auseinandersetzung zwischen polnischen und jüdischen Studierenden des Landwirtschaftlichen Instituts in Lublin. Als einige polnische Studenten das Theaterstück „Die Treidler“ mit stark antijüdischen Zügen inszenierten, protestierten die jüdischen Kommilitonen lautstark während der Aufführung. Der im Anschluss stattfindende Prozess gegen die jüdischen „Unruhestifter“ fand unter breiter Aufmerksamkeit der lokalen Öffentlichkeit statt und verstärkte nach Einschätzung der zarischen Beobachter die Kluft und Konfliktbereitschaft zwischen der jüdischen und christlichen Studenten- und Einwohnerschaft erheblich.40 Dieser Fall demonstriert zugleich, wie sehr sich auch Teile der jüdischen Bevölkerung radikalisiert hatten und nun selbst den offenen Konflikt sowohl mit antijüdischen Kreisen der polnischen Gesellschaft wie auch mit der Staatsmacht suchten. Nicht nur nahm der Schmuggel illegaler Literatur über die Reichsgrenzen in der zweiten Hälfte des Jahres 1903 erheblich zu, die Polizeiakten registrierten allgemein eine wachsende Agitationstätigkeit des jüdischen

|| 36 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.142–149 [Schreiben des Warschauer Gouverneurs an den WGG, 8.8.1903]. 37 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.160–167, hier kart.160 [Bericht über Ereignisse von politischer Bedeutung, 22.10.1903]. 38 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.160–167, hier kart.161 [Bericht über Ereignisse von politischer Bedeutung, 22.10.1903]. 39 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.176–183, hier kart.182 [Bericht über Ereignisse von politischer Bedeutung, 22.10.1903]. 40 AGAD, PomGGW, sygn.730, kart.138 [Memorandum des Gehilfen des WGG, 11.11.1903]; kart.142 [Telegramm des Leiters der Polizeiverwaltung Lublin an WGG, 11.11.1903].

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Bundes, aber auch der zionistischen Ortsgruppen.41 Anders als bei den Aktivitäten der polnischen PPS gelang es den zarischen Autoritäten jedoch kaum, ein klares Bild vom verschlossenen jüdischen Kosmos zu gewinnen. So zeugen die Behördendokumente zur Tätigkeit des jüdischen Bundes von großer Unkenntnis. Ein Bericht von einer als Begräbnis gedeckten Versammlung formulierte das entlarvend offen: „Dabei sangen sie irgendwelche jüdischen Lieder.“42 Spätestens ab dem Sommer 1903 konnte an dem Protestpotential dieser Parallelwelt kein Zweifel mehr bestehen. Im Juli kam es mehrfach zu Straßenunruhen im jüdischen Nalewki-Viertel in Warschau, bei denen mehrere Personen und Polizeibeamte verletzt und zahlreiche Verdächtige verhaftet wurden. Die amtlichen Berichte deuteten diese Konflikte zwar vor allem als innerjüdische Auseinandersetzung, bei der jüdische Arbeiter und Diebe aneinandergeraten seien.43 Es wurde jedoch ebenso der Schwund staatlicher Autorität verzeichnet, der einen Sondereinsatz von berittenen Kosaken nötig gemacht hatte. Denn oft war es allein die Präsenz von einfachen Polizeibeamten oder Soldaten, die die Übergriffe von Seiten der Bevölkerung motivierte.44 Nicht einmal die unmittelbare Nähe des berüchtigten Pawiak-Untersuchungsgefängnisses konnte eine versammelte Menge davon abhalten, sich mit Stöcken zu bewaffnen und Jagd auf Polizisten zu machen.45 Auch für Teile der jüdischen Bevölkerung im Weichselland ist ein Eskalationsprozess auszumachen: Beschränkte sich im Frühjahr 1903 das, was in der amtlichen Terminologie als „Volkstumult“ klassifiziert wurde, noch auf illegale Menschenversammlungen im öffentlichen Raum, so wurden im Spätherbst 1903 Polizeikräfte auf offener Straße mit Säbeln attackiert und lebensbedrohlich verletzt.46 All dies waren Anzeichen einer Erosion öffentlicher Ordnung, bei der es möglich erschien, Antipathien gegenüber der russischen Herrschaft oder gegenüber vermeintlich „Fremdstämmigen“ öffentlich und zunehmend gewaltsam zu äußern. Die zarischen Autoritäten interpretierten auch die sich seit 1903

|| 41 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.176–183, hier kart.108v und kart.181 [Bericht über Ereignisse von politischer Bedeutung, 22.10.1903]; AGAD, KGGW, sygn.2011, kart.15–16 [Bericht des WOPM an den WGG, 25.7.1903]. 42 AGAD, KGGW, sygn.2011, kart.15–16 [Bericht des WOPM an den WGG, 25.7.1903]. 43 AGAD, KGGW, sygn.2011, kart.85 [Memorandum des WOPM, 27.7.1903]; kart.86 [Schreiben des WOPM an den WGG, 31.7.1903]. 44 AGAD, KGGW, sygn.2011, kart.1 [Bericht des WOPM an den WGG, 25.7.1903]; kart.155–156 [Schreiben des WOPM an den WGG, 8.8.1903]. 45 AGAD, KGGW, sygn.2011, kart.15–16 [Bericht des WOPM an den WGG, 25.7.1903]. 46 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.1–89v, hier kart.79 [Bericht des Piotrkówer Gouverneurs Miller an den WGG, 15.4.1903].

12.1 Erodierende Autoritäten: Tumulte, Anschläge und Gewaltkulturen 1900–1904 | 337

zuspitzenden Konflikte in den Fabriken und Betrieben in dieser Weise. Wenngleich sie weiterhin an der grundsätzlichen Linie festhielten, dass es sich hier um betriebsinterne Auseinandersetzungen handle, die nicht das Eingreifen staatlicher Organe erforderten, wurde doch der wachsende sozialistische Einfluss auf die Arbeiterschaft mit Besorgnis registriert.47 Als Erklärung für den günstigen Boden, den die revolutionären Agitatoren vorfanden, wurde vor allem die seit 1903 um sich greifende ökonomische Krise angeführt, die die Arbeiter für die „neue Lehre“ empfänglich mache.48 Zugleich offenbarten sich bei den polnischen Belegschaften die revolutionären Umtriebe der nationaldemokratischen Organisationen.49 In den Augen der imperialen Beamten stellte gerade das Zusammengehen von Formen des allgemeinen sozialen Protestes gegen die schlechten Lebensbedingungen der Arbeiter mit einer oftmals betont katholisch auftretenden polnisch-patriotischen Propaganda einerseits und der sozialistischen Agitation andererseits das größte Bedrohungspotential dar.50 Der japanische Überfall auf Port Arthur im Februar 1904 spitzte diese Situation im Königreich erheblich zu. Selbstverständlich waren die revolutionären Aktivitäten kein Privileg des Weichsellands. Auch andere Grenzregionen und das Innere Russlands wurden von einer Zunahme der Konflikte auf dem Land und der Terroranschläge in den Städten gekennzeichnet.51 Anders als im Folgejahr standen die Entwicklungen aber 1904 noch wenig in Interaktion. Es war vielmehr der gemeinsame Hintergrund des Russisch-Japanischen Kriegs – konkret die vermehrte Einberufung von Rekruten, die durch den Wegfall der asiatischen Märkte verschärfte Wirtschaftskrise und die zusätzliche Delegitimierung zarischer Herrschaft angesichts der verheerenden Niederlagen – der überall die Gegner der Autokratie zu gesteigertem Aktionismus animierte.52 Aus der Perspektive der imperialen Beamten verschlechterte sich im Königreich Polen 1904 die Lage dramatisch. Nicht nur nahmen die Konfliktmomente zu, auch das Gewaltniveau der Auseinandersetzungen stieg. Die amtlichen || 47 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.1–89v [Bericht des Piotrkówer Gouverneurs Miller an den WGG Čertkov, 15.4.1903], hier kart.15v–20. 48 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.176–183, hier kart.180 [Bericht über Ereignisse von politischer Bedeutung, 22.10.1903]; AGAD, KGGW, sygn.2573, kart.1–5 [Schreiben des WGG an das Innenministerium, November 1904]. 49 AGAD, KGGW, sygn.2573, kart.14–22v [Bericht über die politische Lage, 28.1.1904]. 50 AGAD, KGGW, sygn.2507, kart.1–1v [Aufzeichnungen des Gouverneurs von Kalisz, 9.5.1905]. 51 Vgl. Johnathan W. Daly: Autocracy under Siege. Security Police and Opposition in Russia 1866–1905, DeKalb 1998, S. 146–156; Cathy A. Frierson: All Russia is Burning! A Cultural History of Fire and Arson in Late Imperial Russia, Seattle 2003, S. 168–169; Richard G. Robbins: The Tsar’s Viceroys, S. 213–216. 52 Vgl. Abraham Ascher: The Revolution of 1905, S. 157.

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Berichte dokumentieren den jähen Aufstieg des Revolvers. Der seit 1900 explodierende illegale Handel mit Feuerwaffen zeitigte seine Wirkung. Der schnelle Griff zu Mauser-Pistole oder Browning machte die Auseinandersetzungen blutiger und für die unvorbereiteten Beamten vor Ort gefährlicher. Übergriffe gegen Polizisten, die es auch vorher schon gegeben hatte, wurden nun zu einer tödlichen Bedrohung, die Distanz zwischen Attentäter und Opfer stieg, die Gefahrenlage wurde allgemein undurchsichtiger. Es war vor allem das Zusammenspiel aus Menschenauflauf, Alkoholkonsum und verbreitetem Waffenbesitz, das zur Eskalation beitrug: Immer wieder wurden aus der Menge heraus Schüsse auf Ordnungskräfte abgegeben.53 Gerade dann, wenn sich die Möglichkeit ergab, Verhaftungen zu verhindern oder Gefangene zu befreien, kam es zu Übergriffen auf Amtspersonen. So wurde im April 1904 im Warschauer Gouvernement ein Dorfpolizist von einer Menschenmenge von 200 Personen angegriffen und verletzt, als er zwei Männer festnehmen wollte. Als er in das örtliche jüdische Krankenhaus flüchtete, belagerte die Menge das Gebäude und skandierte „Tötet ihn!“.54 Und als im August im Warschauer Gouvernement eine Gruppe von 100 Juden versuchte, einen Gefangenen aus den Händen der lokalen Polizei zu befreien, wurden die Beamten mit Steinen, Knüppeln und Messern angegriffen und verletzt. Erst als die Polizisten Schüsse aus ihren Revolvern abfeuerten, löste sich die Menge auf.55 Inzwischen reichte die Tatsache, dass ein Straßenpolizist die verhasste Staatsmacht repräsentierte, um seine Tötung oder lebensgefährliche Verletzung als legitimes Ziel zu betrachten. So wurde ein Wachtmeister im Warschauer Gouvernement allein deshalb mit Messern attackiert, weil er in der Öffentlichkeit Russisch gesprochen hatte. Die versammelte Menge von mehr als 150 Personen begleitete den Angriff mit Zustimmungsbekundungen.56 Als der Ortspolizist in der Gemeinde Brudno eine Gruppe von singenden Jugendlichen darauf aufmerksam machte, dass es für das Musizieren bereits zu spät sei, wurde er von der Gruppe mit Knüppeln zusammengeschlagen und gesteinigt.57 Und als

|| 53 AGAD, KGGW, sygn.2212, kart.1–116 [Korrespondenz zu gewaltsamen Zusammenstößen, 1904]. Vgl. dazu auch ausführlicher Malte Rolf: Metropolen im Ausnahmezustand? Gewaltakteure und Gewalträume in den Städten des späten Zarenreichs, in: Friedrich Lenger (Hrsg.): Kollektive Gewalt in der Stadt. Europa 1890–1939, München 2013, S. 25–49. 54 AGAD, KGGW, sygn.2212, kart.3 [Brief des Warschauer Gouverneurs an den WGG, 14.4.1904]. 55 AGAD, KGGW, sygn.2212, kart.89–89v [Schreiben des Warschauer Gouverneurs an den WGG, 31.8.1904]. 56 AGAD, KGGW, sygn.2212, kart.37–37v [Schreiben des Warschauer Gouverneurs an den WGG, 23.7.1904]. 57 AGAD, KGGW, sygn.2212, kart.4 [Brief des Warschauer Gouverneurs an den WGG, 17.4.1904].

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zwei Straßenpolizisten in Warschau in einen Disput mit einem Passanten gerieten, versammelte sich innerhalb kürzester Zeit eine Menschenmenge von 300 Personen, die die Beamten erst bedrängte und später zu lynchen versuchte.58 Der Aufenthalt von staatlichen Ordnungsträgern im öffentlichen Raum wurde schon 1904 immer mehr zu einem Wagnis. Vor allem der von der PPS betriebene Terror zielte auf die Schaffung eines allgemeinen Kriegszustands, in dem jeder Vertreter der imperialen Herrschaft zu Freiwild erklärt wurde. Dahinter stand die von Józef Piłsudski forcierte Idee des Zweifrontenkriegs, mit dem die Autokratie in die Knie gezwungen werden sollte. Während im Osten Japan militärische Triumphe gegen die russische Armee feierte, sollte der polnische Terror im Westen einen zweiten Kampfabschnitt gegen die Autokratie eröffnen.59 Die Brutalisierung der Konflikte im Weichselland scheint aber zugleich eine allgemeine Tendenz gewesen zu sein, die weit über den engen Kreis von Mitgliedern revolutionärer Kampfgruppen hinausging. Die in den amtlichen Berichten aufgezeichneten Revolveranschläge auf lokale Polizisten lassen eher vermuten, dass die Tötung eines Uniformierten inzwischen auf eine erstaunlich geringe Hemmschwelle traf.60 Nicht nur die vermeintlichen Träger staatlicher Ordnung hatten 1904 unter aggressiven Anfeindungen oder Tätlichkeiten zu leiden. Auch russische Zivilpersonen wurden ausgegrenzt und im öffentlichen Raum schikaniert. Im Płocker Gouvernement mussten sich selbst die Ehefrauen von russischen Offizieren auf offener Straße als „Hündinnen“ beschimpfen lassen, weil sie Russisch mit ihren Kindern sprachen.61 Der Bannstrahl gesellschaftlicher Ächtung traf dann auch die polnischen Beamten im Dienste der Staatsmacht und ihre Familien. Als die Frau des Gemeindevorstehers in der Gemeinde Łowicz bei einem Bankett der örtlichen Kreditgesellschaft versuchte, Spenden für die niederen Armeeränge zu sammeln, wurde ihr der Eintritt mit dem Hinweis verwehrt, sie sei als Gattin einer Amtsperson hier unerwünscht.62 Wie auch 1903

|| 58 AGAD, KGGW, sygn.2212, kart.7 [Memorandum des Gehilfen des WGG, 30.4.1904]. 59 Vgl. Marian Kamil Dziewanowski: The Polish Revolutionary Movement, S. 382–383; Kurt Georg Hausmann: Pilsudski und Dmowski in Tokio 1904. Eine Episode in der Geschichte der polnischen Unabhängigkeitsbewegung, in: Rudolf von Thadden (Hrsg.): Das Vergangene und die Geschichte. Festschrift für Reinhard Wittram, Göttingen 1973, S. 369–402. 60 Vgl. den Bericht des britischen Generalkonsuls in Warschau Alexander Penrose Murray vom 13.7.1906: Dominic Lieven: Foreign Affairs, Russia, Bd. 4, S. 131–133 (Doc. 86). 61 AGAD, KGGW, sygn.2212, kart.10–10v [Schreiben des Płocker Gouverneurs an den WGG, 25.5.1904]. 62 AGAD, KGGW, sygn.2212, kart.98–98v [Brief des Warschauer Gouverneurs an den WGG, 13.10.1904].

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richtete sich der Sturm gegen alles Fremde ebenso gegen deutsche wie gegen jüdische Bewohner der polnischen Provinzen. Die allgemeine Brutalisierung der Zusammenstöße machte sich auch hier bemerkbar. In Ostrowiec Świętokrzyski im Gouvernement Radom wurden beispielsweise im Sommer 1904 mehr als 100 jüdische Haushalte geplündert.63 Angesichts einer solchen Eskalation der Zustände im Weichselland verblassten alle schüchternen Versuche der auf Ausgleich abzielenden Kreise, ihre Loyalität in den Zeiten des Kriegs zu manifestieren. Die Ugodowcy und die Positivisten, die die Konfrontation mit dem Regime vermeiden wollten, befanden sich zu Beginn des Russisch-Japanischen Kriegs in einer schwierigen Situation. Auf der einen Seite forderten die lokalen Autoritäten vehement Loyalitätsbekundungen ein und erzwangen zumindest anfänglich Veranstaltungen, auf denen Spenden für den Krieg gesammelt und der Ergebenheit gegenüber dem Zaren Ausdruck verliehen werden sollten. Auf der anderen Seite bestand an einer breiten Ablehnung des Kriegs in der polnischen Gesellschaft kein Zweifel und die verordneten Jubelversammlungen schlugen oftmals in Akte des passiven Widerstands und der Verweigerung, gelegentlich sogar in offene Antikriegsmanifestationen um.64 Dennoch demonstriert die Haltung der versöhnlicheren Lager, wie heterogen das polnische politische Spektrum auf die 1904 eskalierende Krise reagierte. Auch der gewaltsame Zusammenstoß auf dem Grzybowski-Platz am 31. Oktober 1904 verdeutlicht, wie sehr die Ziele und Strategien der verschiedenen Fraktionen auseinandergingen. Dass die Ereignisse im Herbst 1904 vollends außer Kontrolle gerieten, lag im Wesentlichen daran, dass die PPS unter Józef Piłsudskis Einfluss und mit Hilfe von Józef Kwiateks Koordinierung dazu übergegangen war, bewaffnete „Schutzverbände“ für Demonstrationen aufzustellen und diese bojowcy zugleich als Kombattanten eines polnischen Aufstands zu stilisieren. Als Polizei- und Kosakeneinheiten am 31. Oktober eine Antikriegsdemonstration aufzulösen versuchten, eröffneten die PPS-Kämpfer das Feuer auf die Truppen. Soldaten und Polizisten erwiderten den Beschuss und töteten insgesamt sechs Demonstranten.65 Damit hatte Warschau zwar seinen eigenen „Bluttag“, knapp zwei Monate bevor sich die Ereignisse in St. Petersburg wiederholen sollten, der 31. Oktober 1904 markierte dennoch keine vergleichbare || 63 AGAD, KGGW, sygn.2431, kart.22 [Bericht des Radomer Gouverneurs an den Innenminister, 16.7.1904]. 64 Siehe Robert E. Blobaum: Rewoljucja, S. 44–51; Joshua D. Zimmermann: Poles, Jews, S. 192– 194. 65 Siehe Halina Kiepurska: Warszawa w rewolucji, S. 60; auch Robert E. Blobaum: Rewoljucja, S. 41–44.

12.2 1904–1906: Die lange Revolution im Königreich | 341

Zäsur für die polnischen Provinzen wie der Zusammenstoß vor dem Winterpalais für das Russische Reich. Nicht nur war die Zahl der zu beklagenden Todesopfer viel geringer als beim Petersburger „Blutsonntag“. Das Scharmützel löste vielmehr auch von Seiten der polnischen Gesellschaft und selbst aus dem Lager der Sozialdemokratie wütende Proteste gegen die Anschlags- und Guerillataktik der PPS aus, die die Gewalteruption gezielt provoziert hatte. Die zarischen Autoritäten wiederum signalisierten im Winter 1904 begrenzte Kompromissbereitschaft. Ein zarisches Edikt vom 12. Dezember 1904 kündigte an, dass einige der seit Jahrzehnten bestehenden diskriminierenden Sonderregelungen im Königreich Polen aufgehoben werden würden.66 Zu einer nachhaltigen Beruhigung der Situation an der Jahreswende 1904–05 führte der Erlass jedoch nicht. Zu unbestimmt wirkten die allgemeinen Versprechungen, zu misstrauisch waren die polnischen Meinungsträger gegenüber den Petersburger Absichtserklärungen und zu einflussreich waren die Kreise, die vor allem auf eine Eskalation im Kampf gegen das Regime setzten.

12.2 1904–1906: Die lange Revolution im Königreich Spätestens seit den Oktoberereignissen war dem Warschauer Generalgouverneur klar, dass die zahlreichen Einzelkonflikte in einen allgemeinen Zustand revolutionärer Erhebung überzugehen drohten. Folgerichtig beantragte Michail Čertkov noch im November 1904 die Ausrufung des Ausnahmezustands in Warschau sowie dem Warschauer und Piotrkówer Gouvernement. Bedrohlich waren hier vor allem die Versuche der sozialistischen Parteien, die Armeerekrutierungen zu vereiteln. Im November gelang es den Agitatoren der PPS, eine Erhebung von Eingezogenen am Petersburger Bahnhof in Warschau zu initiieren, die erst mit dem Einsatz von anderen, nicht-polnischen Truppenteilen niedergeschlagen werden konnte. Die Einsatzbereitschaft der Armee stand hier auf dem Spiel.67 Die Nachricht vom Petersburger „Blutsonntag“ trieb die Eskalation im Weichselland erheblich voran. Erste Solidaritätsbekundungen akkumulierten in

|| 66 Po primeneiju 7-go punkta Vysočajšego Ukaza ot 12-go dekabrja 1904 g. k žiteljam gubernii Carstva Pol’skogo. Po ograničenijam v prave pol’zovatsja rodnym jazykom. Ograničenija po obučeniju i vospitaniju junošestva. Ograničenija po voennoj i graždanskoj službe. Ograničenija v pravach zemlevladenija. Ograničenija po obščestvennomu samoupravleniju. Otmena ograničenij v oblasti sudoustrojstva i sudoproizvodstva, St. Petersburg 1905. 67 Werner Benecke: Die Revolution des Jahres 1905 in der Geschichte Polens, in: Martin Aust/Ludwig Steindorff (Hrsg.): Russland 1905. Perspektiven auf die erste Russische Revolution, Frankfurt/Main 2007, S. 9–22, S. 14.

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Warschau zu einem Generalstreik, den die revolutionären Parteien am 14. Januar 1905 ausriefen. Die begleitenden Straßendemonstrationen ließ der Generalgouverneur durch Truppenverbände und unter Einsatz von Feuerwaffen auflösen. Bei den Zusammenstößen am 14. Januar wurden allein in Warschau schätzungsweise 60.000 Patronen verschossen, an diesem und den folgenden zwei Tagen kamen in der Weichselmetropole mehr als neunzig Zivilisten ums Leben.68 Wie auch in St. Petersburg heizte ein derartig brutales Vorgehen der zarischen Behörden den allgemeinen Aufruhr im Königreich weiter an. In polnischen Provinzen starben in den Folgetagen bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Armee mehr als 200 Menschen. Der Protest erfasste nun zunehmend alle Teile der Gesellschaft. Dementsprechend bunt war der Katalog an Forderungen, die verschiedene Gruppierungen formulierten. Als eine der stärksten Triebkräfte des Protests erwiesen sich die zahlreichen Streikkomitees und Arbeiterdelegationen, die sich nun schnell in einer Vielzahl von Betrieben formierten. Diese Delegationen stellten zunächst vor allem konkrete Ansprüche an die jeweilige Betriebsleitung, bei denen die Forderung nach einem Achtstundentag und einem erhöhten Mindestlohn im Mittelpunkt stand. Dezidiert „politische“ Postulate rückten erst im Laufe des Jahres 1905 allmählich auf die Agenda.69 Neben den Arbeitern erwiesen sich im Winter 1905 die polnischen Schüler und Studenten als Aktivkräfte der Erhebung. Seit Ende Januar diskutierten diese über einen allgemeinen Boykott der staatlichen Schulen und höheren Bildungseinrichtungen. Ihre Forderungen konzentrierten sich auf eine „Polonisierung“ und „Demokratisierung“ des staatlichen Schulwesens. Restriktiven Bestimmungen, wie das Verbot des Polnischen auf Schulhof und Universitätscampus, sollten aufgehoben, Polnisch als Unterrichtssprache eingeführt und die Schulen einer „gesellschaftlichen Kontrolle“ unterstellt werden. Die den sozialistischen Parteien nahestehenden Schüler- und Studentenvereinigungen forderten dar-

|| 68 Abraham Ascher: The Revolution of 1905, S. 157; Jan Kusber: Modernisierung, Beharrung, Meuterei. Das Militär des ausgehenden Zarenreiches und das Jahr 1905, in: Martin Aust/Ludwig Steindorff (Hrsg.): Russland 1905. Perspektiven auf die erste Russische Revolution, Frankfurt/Main 2007, S. 109–128, S. 118–119. 69 Siehe Robert E. Blobaum: Rewoljucja, S. 72–114; Andreas R. Hofmann: The Biedermanns in the 1905 Revolution. A Case Study in Entrepreneurs’ Responses to Social Turmoil in Łódź, in: The Slavonic and East European Review, 82/1 (2004), S. 27–49, S. 32–33. Vgl. allg. auch Joachim von Puttkamer: Ziele unterschiedlicher Reichweite? Die Arbeiter in der Revolution von 1905/06. Eine Übersicht, in: Jan Kusber/Andreas Frings (Hrsg.): Das Zarenreich, das Jahr 1905 und seine Wirkungen. Bestandsaufnahmen, Münster 2007, S. 105–120, S. 108–111.

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über hinaus die Einführung eines kostenfreien allgemeinen Grundschulwesens. Besonders die Warschauer Studentenschaft der Universität und des Polytechnikums stand 1905 im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen mit den zarischen Behörden. Die nationale und sozialistische Radikalisierung der Studierenden hatte sich seit der Jahrhundertwende zugespitzt und die Stimmen derjenigen, die Protestaktionen gegen das Zarenregime und die Situation an den Hochschulen forderten, dominierten zunehmend den politisch aktiven Teil der Studenten. Im Anschluss an den Petersburger „Blutsonntag“ und im Kontext des Warschauer Generalstreiks riefen der polnische Verband der sozialistischen Jugend (Związek Młodzieży Socjalistycznej, ZMS) zusammen mit der PPS, der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens (SDKPiL) und dem Jüdischen Bund im Januar 1905 einen Streik an der Universität und am Polytechnischen Institut aus, der sich schnell und trotz anfänglicher Widerstände weiter Teile der polnischen Gesellschaft zu einem landesweiten Schulstreik entwickelte. Der Boykott der Lehranstalten, dem sich trotz grundlegender Differenzen auch der nationaldemokratisch dominierte Verband der Polnischen Jugend (Związek Młodzieży Polskiej, ZET) anschloss, dauerte mit kurzer Unterbrechung mehr als zwölf Monate und betraf fast alle Bildungseinrichtungen des Königreichs.70 Die zarischen Autoritäten reagierten zunächst mit Repressionen und Polizeiaktionen, mit der Schließung der Universität und der Zwangsexmatrikulation von Studenten. Angesichts der Intensität des Widerstands zeigten sich das Petersburger Ministerkomitee und der Warschauer Kurator Aleksandr Švarc im Sommer 1905 zunächst kompromissbereit und genehmigten die Einrichtung eines Lehrstuhls für polnische Literatur. Die Konzessionen erwiesen sich jedoch als halbherzig und konnten den wachsenden Ansprüchen der zunehmend revolutionär gesinnten Studenten kaum entsprechen. Dass das symbolisch bedeutsame Verbot, Polnisch als Sprache der alltäglichen Konversation auf dem Campusgelände zu verwenden, erhalten bleiben sollte, verdeutlichte den Studenten, wie wenig sich grundsätzlich an der Hochschule wandeln sollte.71 Entsprechend gewann der Universitätsstreik im Herbst 1905 an Schärfe und führte zu einer langen Unterbrechung des geregelten Lehrbetriebs bis zum

|| 70 AGAD, KGGW, sygn.2581, kart.2–2v und kart.8–8v [Bericht des Direktors des Polytechnischen Instituts, 11.2.1905]; AGAD, KGGW, sygn.2581, kart.40 [Schreiben des Kurators des Warschauer Lehrbezirks Beljaev an den WGG, 21.10.1905]; AGAD, KGGW, sygn.2581, kart.48–48v [Brief des Bildungsministers fon Kaufman an den WGG, 12.7.1906]. 71 AGAD, KGGW, sygn.2581, kart.34–35v [Schreiben des WGG Skalon an den Finanzminister Kokovcov, 14.10.1905]. Siehe dazu auch Robert E. Blobaum: Rewoljucja, S. 172–177; Joanna Schiller: Powstanie Cesarskiego Uniwersytetu Warszawskiego w świetle badań archiwalnych, in: Rozprawy z Dziejów Oświaty, 41 (2002), S. 93–127.

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Wintersemester 1908–09. Die Auseinandersetzungen wurden zunehmend gewaltsam. Während es bei den Protesten im Januar 1905 nur zu Vandalismus gegenüber Monarchenportraits und anderen Symbolen zarischer Herrschaft gekommen war, patrouillierten im Herbst bewaffnete Studenten auf den Straßen, die auf Streikdisziplin der Kommilitonen achteten und russische Lehrer und Professoren einschüchterten. Todesdrohungen waren keine Seltenheit und Beleidigungen der Ordinarien eine alltägliche Erscheinung. Der Hochschullehrer V. P. Amalickij wurde von einem mit Knüppeln ausgerüsteten Studentenmob verprügelt.72 Nicht nur der Kurator Švarc verließ im Oktober 1905 Warschau, auch zahlreiche russische Professoren der Kaiserlichen Universität flohen während dieser chaotischen und gefährlichen Tage aus der Stadt. Ausländische Kollegen zogen sich in ihre sichere Heimat zurück.73 Parallel zum studentischen Boykott der Hochschule bestreikten auch die Schüler ihre Bildungseinrichtungen im Königreich. Der Schulstreik nahm seinen Anfang in Warschau, aber er expandierte schnell in die Provinzen des Königreichs, so dass sich Švarc gezwungen sah, den Lehrbetrieb vorübergehend auszusetzen. Eine von ihm am 6. Februar einberufene Elternversammlung erwies sich als weniger steuerbar als zunächst geglaubt. Die anwesenden 1.500 Bürger und Eltern verabschiedeten eine Resolution, die die Einführung des Polnischen als Unterrichtssprache forderte. Die Bereitschaft zum Protest war inzwischen gesellschaftlich viel weiter verbreitet, als es die zarischen Beamten angenommen hatten.74 Für eine derart moralisch gestärkte Streikbewegung musste es einen Affront darstellen, dass Švarc beabsichtigte, bereits am Folgetag in allen Warschauer Schulen den Unterricht wieder aufnehmen zu lassen. Der Glaube der Administration, einfach zur Routine zurückkehren zu können, war naiv und erwies sich schnell als Illusion. Streikende Studenten und Schüler organisierten umgehend Patrouillen vor den Schultoren, um „Streikbrecher“ am Eintritt zu hindern. Nicht selten kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Befürwortern und Gegnern des Streiks.75 Die Bildungsbehörden sahen sich

|| 72 AGAD, KGGW, sygn.2581, kart.34–35v [Schreiben des WGG Skalon an den Finanzminister Kokovcov, 14.10.1905]. Siehe auch Zapiska o sovremennom položenii Varšavskogo universiteta, Kiew 1906. 73 RGB, f.44, op.4, d.76. 74 Leopold Katscher (Hrsg.): Russisches Revolutions-Tagebuch 1905. Ein Werdegang in Telegrammen, Leipzig 1906, S. 22–23. Vgl. auch Józef Miąso: Walka o narodową szkołę w Królestwie Polskim w latach 1905–1907 (w stulecie strajku szkolnego), in: Rozprawy z Dziejów Oświaty, 44 (2005), S. 75–103. 75 AGAD, KGGW, sygn.2489 [Berichte des WOPM an den WGG, 8.2.1905].

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gezwungen, die Schulen weiterhin geschlossen zu halten, und versuchten zugleich, verstärkt mit Relegationen gegen die Aktivisten der Streikbewegung vorzugehen.76 Die allgemeine Streikwelle konnten diese Maßnahmen jedoch nicht eindämmen. Im Gegenteil: Den unvollständigen Statistiken des Kurators zufolge beteiligten sich mehr als sechzig Prozent aller Schüler der Sekundarschulen am Schulboykott.77 Dass der Schulstreik im Frühjahr die Provinz erreichte und zunehmend sogar Grundschulen betraf, lag daran, dass sich parallel in den polnischen Landgemeinden die sogenannte Gmina-Bewegung ausbreitete. Hier formierte sich die dritte Säule eines gesellschaftlichen Protestes gegen die bestehenden Verhältnisse. Bereits Ende 1904 hatten mehr als 100 Gemeinden (gmina) Resolutionen verfasst, in denen sie die Einführung des Polnischen als Verhandlungssprache in den lokalen Verwaltungs-, Bildungs- und Gerichtsinstitutionen gefordert hatten. Bis zum Jahresende 1905 waren zwei Drittel aller polnischen Gemeinden mit derartigen Resolutionen an die Behörden herangetreten.78 Die Beamten der imperialen Bürokratie sahen sich in diesen ersten Monaten des Jahres 1905 also mit einer umfassenden, aber äußerst heterogenen Protestbewegung konfrontiert. Sie selbst suchten zunächst vergeblich nach einer einheitlichen Linie, um auf diese Herausforderung zu reagieren. Angesichts der Tatsache, dass die staatlichen Autoritäten den schleichenden Erosionsprozess schon seit Jahren beobachteten und registrierten, ist es verwunderlich, wie zögerlich und konzeptlos die Amtsträger handelten. Zwar rief der Generalgouverneur bereits am 16. Januar 1905 den Ausnahmezustand in Warschau, Lodz sowie dem Warschauer und Piotrkówer Gouvernement aus79 und wurde zwischen Ende Januar und Mitte Februar die usilennaja ochrana in den übrigen Provinzen des Königreichs eingeführt,80 aber die mit dem Ausnahmezustand verbundenen Vollmachten der Gouverneure erwiesen sich als unzureichend. Allein mit einer administrativen Verurteilung von „Unruhestiftern“ zu maximal drei Monaten Arrest war die Dynamik des Aufruhrs und der Gewalt kaum zu bremsen.81 Vor allem der reguläre Polizeiapparat, der für die Erfassung der „un-

|| 76 Siehe Robert E. Blobaum: Rewoljucja, S. 162. 77 Vgl. im Detail Robert E. Blobaum: Rewoljucja, S. 169–170. 78 Richard D. Lewis: Revolution in the Countryside. Russian Poland, 1905–1906, in: The Carl Beck Papers in Russian and East. European Studies, 506/30 (1986), S. 13. 79 AGAD, KGGW, sygn.2573, kart.48–48v [Schreiben des Innenministeriums, 16.2.1905]. 80 AGAD, KGGW, sygn.2573, kart.49 [Bericht des Innenministeriums, 16.2.1905]. 81 Nur bei den Fällen, die als „terroristische Anschläge“ klassifiziert wurden, konnte der Generalgouverneur die Militärgerichtsbarkeit für zuständig erklären. Vgl. Jörg Baberowski:

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ruhigen Elemente“ zu sorgen hatte, war in der Krise völlig überfordert. Zu gering war die Dichte von Mitarbeitern der Polizeibehörde, zu unzuverlässig gerade auch der untere Rang der polizeilichen Hilfstruppen. Angesichts der zunehmenden Gefahr von Anschlägen quittierten zahlreiche Beamte den Dienst. Ihre Furcht vor Attentaten war keineswegs unrealistisch: In der Zeit vom Januar 1905 bis zum Juli 1906 wurde beinahe ein Viertel der Warschauer Straßenpolizisten verletzt oder getötet. Auch danach flauten die Anschläge und Morde nicht ab. Seit Mitte 1906 mussten Polizisten auf ihren Patrouillengängen von mehreren Soldaten eskortiert werden.82 Letzteres symbolisierte zugleich, wie sehr die Autokratie im Weichselland auf die dort zahlenstark stationierten Truppen als eigentliche Machtstütze angewiesen war. Im Reichsvergleich war die Stärke des militärischen Kontingents in den polnischen Provinzen unerreicht: Im Wehrkreis Warschau leisten bereits um 1900 circa 200.000 Soldaten ihren Dienst. Diese Truppen wurden schon 1904 auf 280.000 Mann im gesamten Wehrkreis erhöht.83 Gleiches galt für die Warschauer Garnison: Hatten hier vor 1905 schon mehr als 40.000 Mann gedient, so wurde die Truppenstärke in der Weichselmetropole zunächst auf 57.000 (April-Mai 1905) und später sogar auf 65.000 Mann (1907) angehoben.84 Soldaten standen also in ausreichender Zahl zur Verfügung und dennoch kamen sie zunächst nur sporadisch zum Einsatz. Die Erfahrungen der „Bluttage“ der Jahreswende 1904–05, die eher zu einer Eskalation der Situation geführt hatten, trugen offensichtlich dazu bei, dass der Warschauer Generalgouverneur vor der Option einer militärischen „Befriedung“ zurückschreckte. Dazu kam, dass viele der Konflikte sich an den jeweiligen Arbeitsstätten ereigneten und die Gouverneure gegenüber einer staatlichen Einmischung in die innerbetrieblichen Auseinandersetzungen äußerst skeptisch blieben. Während die Unternehmer und die jeweiligen Betriebsleitungen schnell nach dem Einsatz von Truppen zur Disziplinierung der Arbeiter riefen, vermieden es die zarischen

|| Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich 1864–1914, Frankfurt/Main 1996, S. 758. 82 Vgl. Vladimir V. Esipov: Narodnaja nravstvennost’, in: Varšavskij statističeskij komitet (Hrsg.): Nekotorye čerty po statistike narodnogo zdravija, Warschau 1907, S. 59–65, hier S. 62– 64. Vgl. auch den Bericht des britischen Generalkonsuls in Warschau Alexander Penrose Murray vom 13.7.1906: Dominic Lieven: Foreign Affairs, Russia, B. 4, S. 131 (Doc. 86). 83 Christoph Gumb: Festung, S. 275. 84 Bericht des britischen Generalkonsuls Murray vom 27.4.1905. Dominic Lieven: Foreign Affairs, Russia, Bd. 3, S. 110 (Doc. 85). AGAD, KGGW, sygn.5105, kart.1–138 und sygn.5227, kart.1–115 [Korrespondenz zu Truppenverlegungen, 1905–07]. Zu 1907 Christoph Gumb: Festung, S. 275.

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Behörden noch 1905, sich in diese betriebsinternen Streitigkeiten involvieren zu lassen.85 Gleichzeitig kamen aus dem Petersburger Zentrum erste Signale der Reformbereitschaft. Mit der Verkündung des Kaiserlichen Edikts zur Religionsfreiheit und zur Revision einiger antipolnischer Bestimmungen im April 1905 hofften die Behörden, eine Beruhigung der Lage im Weichselland zu erreichen.86 Eine der zentralen Konzessionen war die Erlaubnis, an staatlichen Schulen den Religionsunterricht in die Hände katholischer Kleriker zu übergeben, die die Unterweisung in den Katechismus nun auf Polnisch vornehmen durften. In der aufgeheizten Stimmung im Frühjahr 1905 reichten diese Zugeständnisse aber keinesfalls mehr aus. Weniger als eine vollständige „Polonisierung“ des staatlichen Schul- und Hochschulsystems schien aus Schüler- und Studentenperspektive nicht verhandelbar.87 Die mageren Konzessionen vermochten es daher nicht, dem Schulstreik seine Wucht zu nehmen. Das Toleranzedikt motivierte vielmehr dazu, die Gründung eines privaten polnischsprachigen Schulsystems zu forcieren. Wenngleich derartige Aktivitäten bis zum Oktober 1905 illegal blieben, formierten sich hier doch schnell erste Kreise, die ein paralleles, „polnisches“ Bildungssystem aufzubauen versuchten. Bereits Ende April gründeten Aktivisten des nationaldemokratisch dominierten Bunds für die Nationalisierung der Schulen (Związek Unarodowienie Szkoł) und des eher positivistisch ausgerichteten Kreises der Erzieher den Polnischen Schulverein (Polska Macierz Szkolna), der, an die Tradition der polnischen Untergrundschulen anknüpfend, zunächst illegal seine Tätigkeit aufnahm.88 Es waren aber weniger die aufmüpfigen Schüler und Studenten, die das Regime in seinen Grundfesten erschütterten. Vielmehr machten erst die blutigen Scharmützel im April und der zwischenzeitliche Kollaps der staatlichen Ordnung in Warschau im Mai 1905 klar, dass die viel beschworene „Revolution“ tatsächlich zu einer grundsätzlichen Gefahr für die Autokratie erwachsen konnte. Bereits bei der Ersten-Mai-Demonstration kam es zu Zusammenstößen auf den Straßen Warschaus. Der im Februar neu berufene Generalgouverneur Konstantin Maksimovič hatte im Vorfeld des Symboldatums vorsorglich die War-

|| 85 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.1–89v [Piotrkówer Gouverneur Miller an den WGG Čertkov, 15.4.1903], hier kart.15ob. Vgl. auch Andreas R. Hofmann: Revolution, S. 36–37. 86 Vgl. dazu Marian Kamil Dziewanowski: The Polish Revolutionary Movement, S. 385–386; Ralph Tuchtenhagen: Religion als minderer Status, v. a. S. 36–38 und S. 68–70. 87 AGAD, KGGW, sygn.2581, kart.49–51 [Bericht des WGG an den Bildungsminister, 26.7.1906]. 88 Marian Kamil Dziewanowski: The Polish Revolutionary Movement, S. 385.

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schauer Garnison um fast 15.000 Mann verstärken lassen.89 Unbeirrt davon wurde der von den sozialistischen Parteien ausgerufene eintägige Generalstreik zu einer eindrucksvollen Machtdemonstration: Vierzig Prozent derjenigen, die zum Maitag 1905 im gesamten Imperium streikten, legten allein in Warschau die Arbeit nieder.90 Ab 10.00 Uhr vormittags standen die Fabriken und auch der städtische Verkehr in der Weichselmetropole still.91 Während sich die Aktivisten der PPS und des jüdischen Bundes mit einem solchen Muskelspiel begnügten, strebte die SDKPiL einen provokanten Verstoß gegen das von den Behörden ausgesprochene Versammlungsverbot an. Eine von ihr initiierte Demonstration durchquerte das Zentrum des „besseren Warschau“. Die dort stationierten Truppen eröffneten das Feuer, als die überschaubare Menge die JerozolimskieAllee erreichte. In diesem Schusswechsel und bei den nachfolgenden Bombenanschlägen auf die Kosakenpatrouille sowie bei deren Übergriffen auf Passanten starben insgesamt 38 Menschen.92 Die Stimmung in Warschau war dementsprechend gespannt und der britische Generalkonsul Alexander Murray erwartete weitere Unruhen.93 Der Generalkonsul sollte Recht behalten und doch war die Form des Gewaltausbruches, der sich in Warschau vom 11. bis zum 13. Mai ereignete, eine ganz andere als bei den bisherigen Zusammenstößen. Es war nicht eine sich revolutionär gebende Gewalt, die für drei Tage die Macht über Warschaus Straßen übernahm. Es war vielmehr ein blutig ausgetragener Konflikt zwischen Kriminellen und ArbeiterSelbstschutzverbänden, der zu einem kurzzeitigen Kollaps staatlicher Ordnung in der Stadt überhaupt führte. Denn der zunehmende Verfall öffentlicher Ordnung der Jahre 1903–04 hatte nicht nur zu einer Zunahme von Kriminaldelikten und Gewaltverbrechen geführt, sondern auch die Selbstbewaffnung von Arbeitergruppen vorangetrieben. In den ersten Monaten des Jahres 1905 war es immer wieder zu Fällen von Selbstjustiz gekommen, in denen sich die jüngst formierten Schutzverbände gegen vermeintliche Diebe und Streikbrecher zur Wehr

|| 89 Bericht des britischen Generalkonsuls Murray vom 27.4.1905. Dominic Lieven: Foreign Affairs, Russia, Bd. 3, S. 110 (Doc. 85). 90 Anna Żarnowska: Próba analizy ruchu strajkoego w Królestwie Polskim w dobie rewolucji 1905–1907, in: Przegląd Historyczny, 56/3 (1956), S. 430–445, S. 443. 91 Bericht des Beauftragten des britischen Generalkonsuls H. Norman vom 4.5.1905. Dominic Lieven: Foreign Affairs, Russia, Bd. 3, S. 111 (Doc. 87). 92 AGAD, KGGW, sygn.2491, kart.22 [WOPM an den WGG, 19.4.1905]. Bericht des Beauftragten des britischen Generalkonsuls H. Norman, zitiert in Dominic Lieven: Foreign Affairs, Russia, Bd. 3, S. 111–112 (Doc. 87). 93 Zitiert aus dem Bericht des Beauftragten des britischen Generalkonsuls H. Norman, in Dominic Lieven: Foreign Affairs, Russia, Bd. 3, S. 112 (Doc. 87).

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setzten.94 In den Tagen vom 11. bis zum 13. Mai weiteten sich diese zu einem Sturm auf die Warschauer Bordelle aus. Es kam zu regelrechten Straßenjagden auf Kriminelle und Prostituierte. Im um sich greifenden allgemeinen Chaos gab es bald keine klaren Fronten mehr. Insgesamt fielen in den drei Tagen der Rechts- und Staatslosigkeit mehr als 100 Wohnungen dem allgemeinen Vandalismus zum Opfer, zahlreiche Geschäfte wurden geplündert und fünf Personen ermordet, weitere zehn erlagen ihren Verletzungen. Dieser Pogrom der anderen Art wurde erst am 13. Mai mit dem verspäteten Einsatz von Truppen beendet, die unfreiwillig die Warschauer Unterwelt vor dem wütenden Mob schützten.95 Das späte Eingreifen der zarischen Autoritäten hatte zweifellos damit zu tun, dass es sich hier um eine scheinbar „inner-polnisch-jüdische“ Angelegenheit handelte.96 Andererseits zeugte es aber auch von einer erstaunlichen Zögerlichkeit der Amtsträger, die sich der generellen Gefahr, die Kontrolle über den städtischen Raum zu verlieren, offensichtlich nicht bewusst waren. Die zarischen Offiziere der innerstädtischen Garnison mussten so dem wilden Treiben unmittelbar vor den Toren der Zitadelle untätig zusehen. Dass sich der Generalgouverneur Maksimovič zwischenzeitlich in die sichere Festung von Ivangorod (Dęblin) vor den Toren Warschaus zurückgezogen hatte, trug nicht gerade dazu bei, einen Beschluss zur militärischen Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung zu beschleunigen. Hier, wie an anderer Stelle auch, erwies sich Maksimovič als weitgehend überfordert.97 Die Maitage gaben allgemein einen Vorgeschmack, welche Formen der Aufruhr eines wütenden Mobs annehmen konnte, wenn die Staatsmacht unfähig oder unwillig war einzuschreiten. Diese waren für die weitere Entwicklung im Königreich Polen und in Warschau auch deshalb von großer Bedeutung, weil sie zu einer weiteren Intensivierung der Gewaltspirale führten. Die kleineren Scharmützel, die länger werdende Kette von „Massakern“ und eben auch die gewaltsam ausgetragenen Konflikte innerhalb der städtischen Unterschichten erhöhten die Gewaltbereitschaft bei allen Beteiligten. Die zarischen Amtsträger verloren zusehends die Initiative in einem sich radikalisierenden allgemeinen

|| 94 AGAD, KGGW, sygn.342 [Kompendium von Berichten der Kanzlei des WGG]. 95 Vgl. dazu auch Robert E. Blobaum: Criminalizing the „Other“: Crime, Ethnicity, and Antisemitism in Early Twentieth-Century Poland, in: Robert E. Blobaum (Hrsg.): Antisemitism and Its Opponents in Modern Poland, Ithaca 2005, S. 81–102, S. 87–88; Laura Engelstein: The Keys to Happiness: Sex and the Search for Modernity in Fin-de-Siècle Russia, Ithaca 1992, S. 309 und S. 330; Halina Kiepurska: Warszawa w rewolucji, S. 173–175; Scott Ury: Barricades and Banners. The Revolution of 1905 and the Transformation of Warsaw Jewry, Stanford 2012. 96 So das Argument bei Abraham Ascher: The Revolution of 1905, S. 134. 97 Siehe auch Sergei Witte: The Memoirs of Count Witte, Armonk 1990, S. 473.

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Aufruhr. „Revolution“ ist die Beschreibung für eben diesen Prozess des zunehmenden staatlichen Kontrollverlusts. Sie folgt der Eigenlogik einer sich selbst verstärkenden Dynamik, in der die Erosion staatlicher Autorität und die wachsende Gewaltbereitschaft sich gegenseitig befeuern. Gerade dies zeigte sich auch nach den Gewalteruptionen der Maitage. Schon im Juni 1905 sah sich die Staatsmacht an mehreren Fronten zugleich herausgefordert. Während es in Lodz zu Straßenkämpfen zwischen Arbeitern und Soldaten kam, verselbstständigte sich in zahlreichen polnischen Provinzen die Gemeindebewegung. Gleichzeitig hielt der Schülerboykott der staatlichen Schulen unvermindert an. Und nicht zuletzt wurden Gewaltkriminalität und Bandenwesen zu einem provinzübergreifenden Problem. Die Straßenschlachten in Lodz gehörten zu den blutigsten Kapiteln der Revolution von 1905–06. In den nur zwei Tagen, an denen Arbeiter Barrikaden errichteten, PPS-Kampforganisationen Anschläge auf Ordnungskräfte verübten und die vom Gouverneur angeforderten Truppen die Aufständischen unter Beschuss nahmen, starben insgesamt 400 Menschen.98 Zum ersten Mal sahen sich die Autoritäten und Truppenkommandierenden mit einem breiten, energischen und bewaffneten Widerstand größerer Teile der städtischen Bevölkerung konfrontiert und wurden bei unübersichtlichen Straßenkämpfen in Gefechte verwickelt. Der Gegner bestand hier aus einer mit Revolvern ausgerüsteten Stadtguerilla, die aus den Gebäuden heraus die Soldaten auf den engen Straßen attackierte und sich im Dickicht von Hinterhöfen und Geheimgängen schnell zurückziehen konnte.99 Diese Erfahrungen einer asymmetrischen Kampfführung hinterließen bei den zarischen Autoritäten einen bleibenden Eindruck. Die wenig später vom Generalgouverneur erlassenen Bestimmungen des Kriegsrechts reflektierten diese neue Art der Auseinandersetzungen und der militärischen Herausforderung des Straßenkampfes. Neben dem zu erwartenden Versammlungsverbot, einer Sperrstunde sowie dem Bann von „revolutionären“ und „patriotischen“ Symbolen und Drucken standen an prominenter Stelle die Paragraphen, die den Verkauf und das Tragen von Revolvern untersagten. Zugleich sahen die Bestimmungen vor, dass auf Polizeianordnung alle Tore, Türen und Fenster sofort zu schließen seien. Die zarischen Beamten versuchten der Hinterhaltstaktik der Revolutionäre Herr zu werden, indem sie die jeweiligen Hausbesitzer zur Ver|| 98 Bericht aus Lodz, autorisiert durch den englischen Generalkonsul in Warschau. Dominic Lieven: Foreign Affairs, Russia, Bd. 3, S. 131–133 (Doc. 110). Vgl. ebenso Natalja Gąsiorowska/Gryzelda Missalowa (Hrsg.): Źródła do historii klasy robotniczej okręgu łódzkiego, Warschau 1957. 99 Bericht aus Lodz, zitiert in Dominic Lieven: Foreign Affairs, Russia, Bd. 3, S. 131–133 (Doc. 110).

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antwortung zogen. Wurden Schüsse aus Häusern abgefeuert, so mussten sich die Haus- und Wohnungsbesitzer dafür verantworten.100 Selbst die Formation der Armeepatrouillen wurde letztlich an die Bedingungen des Häuserkampfes angepasst. Soldaten patrouillierten nun im losen Verbund, das Gewehr im Anschlag, und suchten die Deckung der Gebäude, um sich vor Revolverattacken zu schützen.101 Als sich später beim Moskauer Presnja-Aufstand im Dezember 1905 all diese Maßnahmen als ineffizient erwiesen, gingen die Truppenkommandeure dazu über, die umkämpften Stadtviertel durch Artillerie sturmreif zu schießen und damit zahlreiche zivile Opfer sowie großräumige Zerstörungen der Wohnbezirke in Kauf zu nehmen.102 Lodz und Warschau blieb dieses Schicksal allerdings erspart. Denn hier ließ sich eine – vorübergehende – Befriedung der jeweiligen Aufstände erstaunlich rasch erzwingen. Diese Schnelligkeit, mit der die von den zarischen Beamten beorderten Truppen die staatliche Ordnung wieder herstellten, zeugt auch davon, dass die revolutionären Ereignisse das Regime nicht zum Sturz bringen konnten, solange die Armee sich als verlässliches Instrument der Revolutionsbekämpfung erwies. So prekär die Loyalität der Truppen im Imperium insgesamt war, so sehr stellte sich die Nationalisierung des Konfliktes im Königreich Polen als strategischer Vorteil für die Autoritäten heraus.103 Die Gefahr einer Fraternisierung von ortsfremden, zumeist russischen Soldaten mit den lokalen polnischen Aufständischen war deutlich geringer. Vielmehr entwickelte sich bei den russischen Truppen der Warschauer Garnison eine „Wagenburghaltung“. Angesichts der permanenten Gefahr, Opfer terroristischer Anschläge zu werden, entstand eher eine latente Pogromstimmung, die in gewaltsame Übergriffe auf die Zivilbevölkerung umschlagen konnte.104 Eine solche Bunkermentalität erhöhte zweifellos die innere Disziplin der stationierten Einheiten. Und so ereignete sich der einzige größere Fall von Meuterei im Westen des Russischen Reichs in Grodno, während es im Warschauer

|| 100 AGAD, KGGW, sygn.703, kart.30 [Ausrufung des Kriegsrechts, 12./25.12.1905]. 101 Vgl. dazu Christoph Gumb: Festung, S. 296. 102 Siehe Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der Russischen Revolution 1891 bis 1924, Berlin 1998, S. 216–218. 103 Vgl. auch John Bushnell: Mutiny Amid Repression: Russian Soldiers in the Revolution of 1905–1906, Bloomington 1985; William C. Fuller: Civil-Military Conflict in Imperial Russia, 1881–1914, Princeton 1985, S. 129–191. 104 Berichte des deutschen Konsuls in Warschau Kohlhaas, zitiert nach Jan Kusber: Krieg und Revolution in Russland 1904–1906. Das Militär im Verhältnis zu Wirtschaft, Autokratie und Gesellschaft, Stuttgart 1997, S. 71; Bericht des Beauftragten des britischen Generalkonsuls H. Norman vom 4.5.1905. Dominic Lieven: Foreign Affairs, Russia, Bd. 3, S. 112 (Doc. 87).

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Wehrbezirk nur zu Unruhen unter den für den Russisch-Japanischen Krieg eingezogenen polnischen Rekruten kam.105 Mit einer grundsätzlich loyalen Armee stand dem Generalgouverneur im Weichselland ein enormes Machtmittel zur Verfügung. Immerhin hatte diese bereits Ende 1904 eine Truppenstärke von mehr als 280.000 Mann.106 Darüber hinaus machte sich schnell bemerkbar, dass es den aktiven revolutionären Kräften keineswegs gelang, die einzelnen Protest- und Aufstandsmomente flächendeckend zu koordinieren. Generalstreiks mit translokaler oder gar provinzweiter Strahlkraft, wie der Generalstreik im Oktober 1905, waren die Ausnahme. Während beispielsweise im Juni 1905 die Auseinandersetzungen in Lodz eskalierten, blieb es im nur 140 Kilometer entfernten Warschau weitgehend ruhig. Auch die Unruhen in städtischen und ländlichen Gebieten waren weitgehend voneinander abgekoppelt und folgten einer isolierten Eigenlogik. Somit stellten bis in den Herbst 1905 vereinzelte Aktionen des Aufbegehrens die Regel dar, auf die die imperiale Verwaltung jeweils konzentriert reagieren konnte. Dennoch entschied sich Petersburg auf Bitten des Warschauer Generalgouverneurs am 10. August 1905, das Kriegsrecht in Warschau und im Warschauer Gouvernement auszurufen. Damit wurde der amtierende Generalgouverneur als „Provisorischer Warschauer Militärgouverneur“ (Vremennyj Varšavskij Voennyj Gubernator) eingesetzt und als Oberkommandierender der Truppen im Wehrkreis mit weitreichenden Sondervollmachten versehen.107 Anlass zu dieser extremen Maßnahme gab der eintägige Generalstreik, mit dem in Warschau circa 20.000 Arbeiter gegen die Benachteiligungen protestierten, die die angekündigte „Bulygin-Duma“ für sie bedeutete.108 Der tatsächliche Grund für die Ausrufung des Kriegsrechts war aber zweifellos das Bedürfnis der zarischen Administration, die Kontrolle über den Gang der Ereignisse zurückzuerlangen. Dazu passte, dass wenig später der als entscheidungsschwach geltende Generalgouverneur Maksimovič durch den energischen General der Kavallerie und Gehilfen des Kommandierenden der Truppen im Warschauer Militärbezirk Georgij Skalon ersetzt wurde.109 Seine erste Amtshandlung war ebenso praktischer wie

|| 105 Vgl. John Bushnell: Mutiny Amid Repression, S. 141. 106 Vgl. Abraham Ascher: The Revolution of 1905, S. 185; Christoph Gumb: Festung, S. 275. AGAD, KGGW, sygn.5105, kart.1–138 [Unterlagen zu Einquartierungen, 1905–09]. 107 AGAD, KGGW, sygn.2573, kart.23 [Ausrufung des Kriegsrechts, 10.8.1905]; AGAD, KGGW, sygn.2573, kart.25 [Kaiserlicher Erlass zu Sondervollmachten des WGG, 10.8.1905]. 108 Vgl. Robert E. Blobaum: Rewoljucja, S. 103; Pascal Trees: Wahlen im Weichselland, S. 90–102. 109 Die Ernennung Skalons erfolgte am 28.8.1905. Skalon war seit Mai 1905 als Gehilfe des Truppenkommandierenden in Warschau tätig gewesen und hatte damit bereits seit vier Monate eine unmittelbare (militärische) Perspektive auf die Ereignisse gewonnen.

12.2 1904–1906: Die lange Revolution im Königreich | 353

symbolischer Natur: Er genehmigte einen Antrag auf den Ausbau des Gefängnistraktes in der Zitadelle. Dort, wo im August bereits 800 Inhaftierte in Gewahrsam saßen, sollte Raum für weitere 1.000 Verhaftete geschaffen werden.110 Der Kavalleriegeneral Skalon sollte auch in der Folgezeit eine solche harte Linie weiterverfolgen. Zusammen mit seiner rechten Hand, dem ebenfalls im August berufenen „Provisorischen Generalgouverneur der Stadt Warschau und des Warschauer Gouvernements“ General-Leutnant Ol’chovskij,111 betrieb er in den Jahren 1905 und 1906 eine Politik maximaler Repression gegen revolutionäre Unruhen. Er griff, auch gegen den wachsenden Widerstand der militärischen Führung, auf einen extensiven Einsatz von Militäreinheiten zur Niederschlagung von Protesten zurück und forcierte den Einsatz von Militär-, später auch Kriegsfeldgerichten.112 Die Ausrufung des Kriegsrechts bewirkte zunächst eine Beruhigung der Lage im Königreich. Es wäre dennoch vereinfacht, diese Periode als „Friedhofsruhe“ zu charakterisieren. Denn trotz der Beschränkungen, die das Kriegsrecht dem öffentlichen Leben auferlegte, ließen sich viele Bewohner des Königreichs nicht entmutigen, sich gesellschaftlich und kulturell zu engagieren. Der Spätsommer und der Herbst waren Vorboten für die „Tage der Freiheit“, die der Proklamation des Oktobermanifests folgen sollten. Offensichtlich herrschte eine allgemeine Gewissheit vor, dass die Zeichen der Zeit auf Wandel stünden. Anders wären die zahlreichen Versuche der gesellschaftlichen Selbstorganisation in diesen Monaten kaum zu erklären. Die Autoren von Genehmigungsanträgen für Zeitungs-, Verbands- oder Schulgründungen beriefen sich auf die kaiserlichen Erlasse vom Dezember 1904, Februar und April 1905 oder auf die vagen Versprechungen bei der Ankündigung der Bulygin’schen Duma.113 Und ließen nicht die Versprechungen des Ministerkomitees vom Juni/Juli 1905 auf weit mehr hoffen? Hatte nicht Petersburg signalisiert, dass bald eine ungehinderte Gründung von Privatschulen mit Polnisch als Unterrichtssprache möglich sein werde?114

|| 110 AGAD, KGGW, sygn.2573, kart.27 [Brief des WOPM an den WGG, 27.8.1905]; AGAD, KGGW, sygn.2573, kart.28 [Auskunft des WOPM an den WGG, 27.8.1905]. 111 AGAD, KGGW, sygn.2573, kart.62 [Kanzlei des WGG an den WOPM Mejer, 26.8.1905]; AGAD, KGGW, sygn.2573, kart.63 [Kanzlei des WGG an den Stadtpräsidenten Martynov, 26.8.1905]. 112 Vgl. Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy, S. 324. Auch Sergei Witte: Memoirs of Count Witte, S. 473. 113 AGAD, PomGGW, sygn.95, kart.3–4 [Memorandum der Kanzlei des Gehilfen des WGG, 17.8.1905]; AGAD, PomGGW, sygn.95, kart.5 [Schreiben des Innenministeriums an den WGG, 22.8.1905]. 114 Vgl. Leopold Katscher: Revolutions-Tagebuch, S. 118. KGGW, sygn.2621, kart.3 [Beschluss des Ministerkomitees, 6.6.1905].

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Das große Warten fand im Oktober sein Ende. Die seit September anwachsende Streikwelle schwoll zu einem Generalstreik an, der nicht nur in den russischen Hauptstädten, sondern beinahe imperiumsweit das städtische Leben zum Erliegen brachte. Auch im Königreich Polen wurde der Streik in einer gesellschaftlichen Breite unterstützt, die die lokalen Autoritäten überraschte und überforderte. Das Leben in Warschau war lahmgelegt, Kohle und Lebensmittel wurden knapp, die städtische Gasversorgung brach ebenso zusammen wie das Pferdebahnsystem, Eisenbahnen verkehrten nicht, Posten und Telegraphenämter blieben geschlossen, die Kriminalitätsrate explodierte in der unbeleuchteten, zunehmend ungeschützten Stadt.115 Dieser Wochen andauernde reichsweite Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung erzwang das „Oktobermanifest“. Am 17. Oktober verkündete Nikolaus II. das „Manifest über die Vervollkommnung der staatlichen Ordnung“, in dem er in vager Form eine Volksvertretung und bürgerliche Rechte in Aussicht stellte. Bereits zuvor, am 1. Oktober, hatte ein kaiserlicher Erlass die Gründung von polnischsprachigen Privatschulen gestattet. Und wenige Tage nach dem Oktobermanifest, am 21. Oktober, erfolgte eine Amnestie für jene, die unter administrativer Anordnung inhaftiert worden waren.116 Aber in der Weichselmetropole führte das Oktobermanifest ebenso wenig zu einer Beruhigung des öffentlichen Lebens wie in anderen Teilen des Imperiums. Allein in den ersten Tagen nach seiner Verkündung ereigneten sich im europäischen Russland zahlreiche gewalttätige Zusammenstöße. Während in manchen Gegenden noch Unklarheit über die Gültigkeit der kaiserlichen Zugeständnisse herrschte, kam es anderorts zu revolutionären Erhebungen, bei denen die Versprechungen des Manifestes und der Amnestie durch Gefangenenbefreiungen vorangetrieben wurden. Gleichzeitig beherrschten in manchen Gegenden bewaffnete Gruppen die Straße, die Jagd auf vermeintliche Revolutionäre und auf Juden machten.117 Die „Tage der Freiheit“ waren zugleich auch Tage der gewaltsamen Selbstermächtigung und der blutigen Zusammenstöße rivalisierender Formationen. Aus der Sicht der staatlichen Amtsträger waren es zweifellos bedrohliche Tage der Anarchie.118

|| 115 Leopold Katscher: Revolutions-Tagebuch, S. 140–145 und S. 155. 116 Abraham Ascher: Russia. A Short History, Oxford 2002, S. 80. 117 Vgl. Michael F. Hamm: Late Imperial Kiev, S. 93–94; Faith Hillis: Children of Rus’. RightBank Ukraine and the Invention of a Russian Nation, Ithaca 2013; Robert Weinberg: The Pogrom of 1905 in Odessa: A Case Study, in: John Doyle Klier/Shlomo Lambroza (Hrsg.): Pogroms: Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge 1992, S. 248–289. 118 Vgl. zu Moskau Laura Engelstein: Moscow, 1905: Working-Class Organization and Political Conflict, Stanford 1982, S. 136–161.

12.2 1904–1906: Die lange Revolution im Königreich | 355

Dies galt ohne Abstriche auch für Warschau. Das Oktobermanifest bewirkte einerseits eine erstaunlich schnelle Aktivierung gesellschaftlicher Selbstorganisation. So gaben die Redaktionen der Tageszeitungen Kurier Codzienny, Gazeta Handlowa und der Goniec bereits am 19. Oktober ihre Ausgaben ohne Vorzensur heraus und in den Folgetagen kam es zu zahlreichen Neugründungen von Zeitungen.119 Gleichzeitig nahmen Assoziationen, die bereits seit Längerem auf ihre amtliche Genehmigung warteten, eigenmächtig ihre Tätigkeit auf.120 Das Oktobermanifest war hier eine Einladung zur eigensinnigen Erweiterung von Handlungsspielräumen. Das war möglich, da die Autoritäten in diesen Tagen größere Sorgen hatten, als sich um die Genehmigung von Verbänden zu kümmern. Denn die nicht unberechtigte Hoffnung, in der Krise der Autokratie weitaus mehr erreichen zu können, trieb zahlreiche Menschen auf die Straße. Forderungen nach einer Generalamnestie oder nach einer schnellen Umsetzung der Versprechen des Manifests wurden laut. Zweifellos war es aber auch das Gefühl von Freiheit und eigener Macht gegenüber einem ohnmächtig scheinenden Staat, das die Menschen dazu veranlasste, an zahlreichen Demonstrationen teilzunehmen. Die Zusammenkunft als große Menge war schon für sich genommen ein Akt revolutionärer Aneignung der zuvor reglementierten Öffentlichkeit.121 Insofern trieben selbst die zahlreichen Bekundungen der „Dankbarkeit“ für das Manifest, die die Nationaldemokraten und die katholische Kirche in den späten Oktobertagen in Warschau organisierten, die revolutionäre Dynamik voran. Schnell sollte sich zeigen, wie eskalierend Menschenansammlungen wirken konnten, wenn sie in Konfrontation mit einer Ordnungsmacht gerieten, die weder geübt war, mit dieser Form von offener Versammlung umzugehen, noch gewillt war, diesen neuen Modus politischer Öffentlichkeit zu akzeptieren. Am 19. Oktober wurden bei einer friedlichen Großdemonstration auf dem Warschauer Theaterplatz Rufe nach einer schnellen Entlassung aller Gefangenen laut. Als die Menge gegen die Tore des Rathauses drängte, verloren die dort stationierten Polizei- und Kosakentruppen die Nerven und eröffneten das Feuer auf die Demonstranten. 20 bis 40 Personen wurden getötet, 170 verwun-

|| 119 Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy, S. 55; Halina Kiepurska: Warszawa 1905–1907, Warschau 1991, S. 95. 120 AGAD, PomGGW, sygn.95, kart.1–14 [Genehmigungsverfahren der Technikervereinigung, 1905]. 121 Vgl. Orlando Figes/Boris Kolonitskii: Interpreting the Russian Revolution. The Language and Symbols of 1917, New Haven 1999, S. 48–50.

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Abb. 29: Demonstrationszug in Warschau am 5. November 1905

det. Die unzensiert erscheinende Presse war schnell zur Hand, die Ereignisse auf dem Theaterplatz zu einem weiteren „Massaker“ zu stilisieren.122 Die Ereignisse vom 19. Oktober erhöhten zweifellos die Spannung. Es ist insofern kaum verwunderlich, dass die im Wesentlichen von den Nationaldemokraten getragenen Kundgebungen der nächsten Tage dem obersten zarischen Beamten weniger als Loyalitätsbekundung erschienen, denn als Ausdruck weiterer revolutionärer Eskalation. Vor allem das Kaiserliche Manifest vom 22. Oktober, das Finnland die Wiederherstellung seiner politischen Autonomie zusicherte, dynamisierte die Ereignisse in Warschau. Nun kam es zu Menschenaufläufen ungekannten Ausmaßes: Noch am gleichen Tag versammelten sich geschätzte 100.000 Personen bei einer Demonstration, die von den Nationaldemokraten initiiert und von katholischen Würdenträgern angeführt wurde. So als kirchliche Prozession inszeniert, bewegte sich die Menschenmasse von Kirche zu Kirche durch die gesamte Warschauer Innenstadt und lieferte eine machtvolle Manifestation, in welchem Maß eine städtische Bevölkerung unter den Vorzeichen erodierender zarischer Autorität mobilisierbar war.123 || 122 Halina Kiepurska: Warszawa 1905–1907, S. 88–91. 123 Bericht des Beauftragten des britischen Generalkonsuls H. Norman, zitiert in Dominic Lieven: Foreign Affairs, Russia, Bd. 3, S. 111–112 (Doc. 87).

12.3 „Wiederherstellung der Ordnung“: Dezember 1905–1907 | 357

Die zarischen Amtsträger sahen in dieser Entwicklung einen bedrohlichen Kontrollverlust über den öffentlichen Raum Warschaus. Zugleich häuften sich die beunruhigenden Berichte über ähnliche Vorgänge aus den polnischen Provinzen.124 Am 28. Oktober erwirkte der Generalgouverneur daher in St. Petersburg die Ausrufung des Kriegsrechts im gesamten Königreich. Es zeigte sich allerdings rasch, dass eine solche formale Erklärung allein nicht ausreichte, um eine dauerhafte Stabilisierung der öffentlichen Ordnung zu bewirken. Denn nach der Suspendierung des Kriegsrechts am 18. November brachen die Unruhen erneut aus. In Warschau explodierte im Café des eleganten Hotel Bristol eine Bombe und in manchen Provinzen verlor das Regime zwischenzeitlich flächendeckend die Kontrolle über die lokalen Gemeinden.125 Diese Erfahrungen sollten für die kommenden Entscheidungen der Amtsträger im Weichselland prägend sein. Die Lehren, die Beamte wie Skalon daraus zogen, radikalisierten die Pazifizierungsmaßnahmen der imperialen Herrschaft und machten das Jahr 1906 zu einer Periode konsequenter Repression jeglicher Verstöße gegen die öffentliche Ordnung. Der rechtliche Rahmen dafür wurde durch die erneute Proklamation des Kriegsrechts am 12. Dezember gesteckt. Dieses Mal sollte es über den langen Zeitraum von vier Jahren Bestand haben. Erst 1909 würde der Generalgouverneur das geltende Kriegsrecht wieder in den Zustand der usilennaja ochrana abmildern.126

12.3 „Wiederherstellung der Ordnung“: Dezember 1905–1907 Es zeigte sich in den Krisenmonaten des Winters 1905 und des Folgejahres, dass dem autokratischen Regime mit dem Kriegsrecht durchaus ein schlagkräftiges Instrument der Herrschaftssicherung und der Unterdrückung allgemeiner Unruhen zur Verfügung stand. Voraussetzung dafür war allerdings, dass die Provisorischen Militärgouverneure bereit waren, die gewährten administrativen Sonderrechte konsequent umzusetzen und gleichzeitig verstärkt auf die militärischen Machtmittel zurückzugreifen. Die Erfahrungen zweier, wenig nachhal-

|| 124 AGAD, KGGW, sygn.2512 [Berichte des Polizei-Sonderbeauftragten, 19.10.1905]. Stanisław Kalabiński (Hrsg.): Carat i klasy posiadające w walce z rewolucją 1905–1907 w Królestwie Polskim: Materiały archiwalne, Warschau 1956, S. 301 und S. 307–308. 125 AGAD, KGGW, sygn.2525 und sygn.2527 [Berichte des Polizei-Sonderbeauftragten, Oktober-November 1905]. Siehe auch Anke Hilbrenner: Der Bombenanschlag auf das Café Libman in Odessa am 17. Dezember 1905. Terrorismus als Gewaltgeschichte, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 58/2 (2010), S. 210–231. 126 AGAD, KGGW, sygn.703, kart.1 [Ausrufung des Kriegsrechts, 12.12.1905].

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tiger Proklamationen des Kriegsrechts im August und Oktober 1905 trugen hier zweifellos zur Radikalisierung der Entscheidungsträger bei. Die Revolution bedeutete eben nicht nur für Revolutionäre, Arbeiter- oder Gemeindedeputierte einen Lernprozess, sondern zugleich auch für die imperialen Beamten. Wenn 1905 das Jahr des oft kopf- und hilflosen Reagierens staatlicher Instanzen markierte, so war 1906 der Zeitraum, in dem Skalon und seine neu eingesetzten Provisorischen Generalgouverneure die Initiative zurückerlangten. Die Überzeugung, dass „Terror nur mit Terror“ bekämpft werden könne, war unter diesen neuen Männern der Militärverwaltung ein Gemeinplatz.127 Es waren weniger die im Kriegsrecht vorgesehenen Bestimmungen für den Erhalt öffentlicher Ordnung, die den entscheidenden Unterschied ausmachten. Diese richteten sich im Wesentlichen gegen politische Versammlungen und Demonstrationen, die Herstellung und Verbreitung verbotener Literatur und Symbolgegenstände sowie gegen verschiedene Formen der Bewaffnung. All das war auch vorher schon geltendes Recht oder im Zuge der zahlreichen objazatel’nye postanovlenija, die der Warschauer Generalgouverneur seit 1900 erlassen hatte, untersagt gewesen.128 Der wesentliche Unterschied in der Herrschaftsausübung unter den Bedingungen des Kriegsrechts lag in der besseren Koordinierung des Einsatzes von Militäreinheiten und in der schnelleren Genehmigung von Schusswaffengebrauch. Die Gesetze von 1877 erlaubten dem Generalgouverneur auch in Friedenszeiten, den Einsatz von Soldaten zur Sicherung der öffentlichen Ordnung anzufordern. Dies musste allerdings in schriftlicher Form geschehen. Zudem bestand ein Entscheidungspatt zwischen den zivilen und den militärischen Instanzen, was die Stärke der einzusetzenden Truppen und den Waffengebrauch betraf. Die zivilen Stellen mussten den Einsatz von Schusswaffen grundsätzlich autorisieren, die militärischen Kommandeure aber den konkreten Feuerbefehl geben.129 Diese gegenseitige Abhängigkeit hatte den Einsatz von Soldaten erheblich verzögert und in zahlreichen Konflikten zu Unklarheiten über die Zuständigkeit sowie zu nachträglichen Schuldzuweisungen geführt.130 Zu Zeiten des Kriegsrechts war dagegen der Einsatz von Militäreinheiten zur inneren „Befriedung“ deutlich erleichtert. Der Provisorische Warschauer Militärgouverneur und die Provisorischen Generalgouverneure in den Provinzen || 127 Varšavskaja policejskaja gazeta, Nr. 243 (23.11./6.12.1906), S. 1. Vgl. auch Andrew M. Verner: The Crisis of Russian Autocracy. Nicholas II and the 1905 Revolution, Princeton 2001, S. 274–280. 128 AGAD, KGGW, sygn.703, kart.30 [Bestimmungen des Kriegsrechts, 12./25.12.1905]. 129 Vgl. Richard G. Robbins: The Tsar’s Viceroys, S. 196–198. 130 Vgl. auch Robert Weinberg: Pogrom of 1905 in Odessa, S. 264–266.

12.3 „Wiederherstellung der Ordnung“: Dezember 1905–1907 | 359

konnten nun auch mündlich Truppen anfordern und eine schriftliche Genehmigung zum Einsatz von Schusswaffen war nicht mehr notwendig. Die militärischen Kommandierenden hatten bei der konkreten Entscheidung zum Vorgehen der Soldaten vor Ort damit weitgehend freie Hand. So beschleunigte sich nicht nur das Eintreffen des Militärs an Konfliktpunkten, die lokalen Truppenführer konnten auch schneller die gewaltsame Niederschlagung jeder Art von „Aufruhr“ anordnen. Zugleich erleichterte es das Kriegsrecht, dass der Provisorische Militärgouverneur eine Urteilssprechung durch Militärgerichte, seit dem 19. August 1906 auch durch die sogenannten „Kriegsfeldgerichte“ (Voenno-polevye sudy) forcierte. Skalon machte hier besonders von den Artikeln 12 und 19 des Ausnahmerechts extensiv Gebrauch. Der Artikel 19 betraf Fälle von gewaltsamem Widerstand gegen die Staatsgewalt und bewaffneten Anschlägen auf Amtsträger, aber auch Diebstahl von privatem und öffentlichem Eigentum sowie Übergriffe darauf. Der Provisorische Militärgouverneur konnte in seiner Funktion als Kommandeur des Wehrkreises diese Verstöße gegen die staatliche Ordnung durch Militärgerichte abhandeln und im Fall einer Verurteilung auch die Todesstrafe vollstrecken lassen. Nun waren die Militärgerichte keinesfalls „willige Vollstrecker“ der jeweiligen Wehrkreiskommandeure und weder die Militärstaatsanwälte noch die Militärrichter oder der Kriegsminister ließen sich zum verlängerten Arm des Innenministers und der Militärgouverneure degradieren. Gerade in Wehrkreisen, in denen die Kommandeure als Befürworter der Todesstrafe bekannt waren, verweigerten die Militärgerichte oftmals die Verhängung dieses Verdikts.131 Das Königreich Polen stellte hier keine Ausnahme dar. Da Skalon eine Aufhebung von Todesurteilen oft genug ablehnte, sprachen die Militärgerichte im Weichselland vergleichsweise milde Urteile aus.132 Dass der Militärbezirk Warschau bezüglich der von Militärgerichten verhängten Todesurteile dennoch im reichsweiten Vergleich an erster Stelle lag, verdeutlicht, wie sehr Skalon auf dieses Instrument der Aufstandsrepression zurückgriff.133 Zugleich stand dem Generalgouverneur mit dem Artikel 12 des Ausnahmerechts ein Instrumentarium zur Verfügung, mit dessen Hilfe Skalon eine ihm zu milde agierende Militärgerichtsbarkeit aushebeln konnte. Denn in seiner Interpretation des Artikels verfügte er in Fällen von politischen Morden oder Anschlagsversuchen über die Befugnis, Todesurteile auch ohne die Einberufung

|| 131 Jörg Baberowski: Autokratie und Justiz, S. 758–760. 132 Siehe Jörg Baberowski: Autokratie und Justiz, S. 761–762. 133 Vgl. William C. Fuller: Civil-Military Conflict, S. 182; auch Jonathan W. Daly: The Watchful State. Security Police and Opposition in Russia, 1906–1917, DeKalb 2004, S. 44.

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von Militärgerichten zu verhängen. Nachdem der Innenminister Durnovo dem Warschauer Generalgouverneur in einem Schreiben vom 30. Dezember 1905 eine Blankovollmacht erteilt hatte, ließ Skalon in den folgenden Tagen mehr als 20 Personen per administrativem Urteil und ohne Gerichtsverfahren exekutieren.134 Dies war ein erster Vorgeschmack auf die im Sommer 1906 eingeführte Standgerichtsbarkeit. Die vom Premierminister Pjotr Stolypin am 19. August auf der Basis des Paragraphen 87 der Grundgesetze geschaffenen Feldgerichte sollten in den acht Monaten ihres Bestehens zu einem von Skalon vorrangig genutzten Instrument der Aufstandsrepression werden. Die Gouverneure jener Provinzen, die unter Kriegsrecht oder dem verschärften Ausnahmezustand standen, konnten all jene Fälle an die Feldgerichte übergeben, bei denen die „verbrecherische Handlung so offensichtlich ist, dass keine Notwendigkeit zu ihrer Untersuchung besteht.“135 Damit war einerseits die Möglichkeit gegeben, Urteile jenseits der prozessualen Verfahren, die auch bei Militärgerichten noch galten, zu sprechen. Denn die Feldgerichte waren Ad-hoc-Gründungen, die der Generalgouverneur und der Oberkommandierende veranlassten und bei denen fünf Offiziere ohne Voruntersuchung sowie unter Ausschluss von Öffentlichkeit, Anklägern und Verteidigern ein Verdikt fällten, gegen das keine Berufung möglich war und das innerhalb von 24 Stunden vollstreckt werden sollte. Andererseits erlaubten die Bestimmungen eine deutliche Ausweitung der zu verhandelnden Fälle, da die Feldgerichte keinesfalls nur Urteile bei politischen Morden oder Anschlagsversuchen trafen. Im Weichselland übergab der Generalgouverneur auch kriminelle Gewaltdelikte den Feldgerichten.136 Skalon war der festen Überzeugung, dass nicht nur politisch motivierte Gewalt, sondern auch Bandenwesen, bewaffnete Kriminalität und Formen des gewaltbereiten Hooliganismus zur grundsätzlichen Destabilisierung von staatlicher Herrschaft beitrugen. In dem kurzen Zeitraum ihrer Existenz – vom August 1906 bis April 1907 – sprachen die Kriegsfeldgerichte imperiumsweit schätzungsweise 1.100 Todesurteile aus, von denen circa 680 vollstreckt wurden. Das Weichselland war auch diesbezüglich im Reichsvergleich an vorderer Stelle vertreten. In den polni|| 134 AGAD, KGGW, sygn.2585, kart.22 [Schreiben des Innenministers an den WGG, 30.12.1906]. Vgl. auch Herman Rappaport (Hrsg.): Anarchizm i anarchiści na ziemach polskich do 1914 roku, Warschau 1981, S. 24–28. 135 Zitiert nach Jörg Baberowski: Autokratie und Justiz, S. 764. Vgl. auch William C. Fuller: Civil-Military Conflict, S. 169–191; Anna Geifman: Though Shalt Kill. Revolutionary Terrorism in Russia, 1894–1917, Princeton 1962, S. 226–227; Don C. Rawson: The Death Penalty, S. 48–50. 136 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.12–17ob [Brief des WGG an das Innenministerium], hier l.14.

12.3 „Wiederherstellung der Ordnung“: Dezember 1905–1907 | 361

schen Provinzen wurden mit schätzungsweise 212 Todesurteilen knapp 20 Prozent aller derartigen Urteile der Feldgerichte insgesamt ausgesprochen.137 Zugleich forcierte der Warschauer Militärgouverneur die Verbannungen von „unerwünschten Personen“ aus dem Königreich. Skalon und seine Provisorischen Generalgouverneure in den Provinzen betrieben diese administrative Anordnung derart umfangreich, dass sich Petersburg beklagte, weil der Verbleib der betreffenden Personen in Innerrussland selbst zu einem Problem anwuchs.138 Die Verbannungen waren ein probates Mittel, sich unliebsamer Personen im Weichselland zu entledigen, zu dem der Generalgouverneur gerne auch dann griff, wenn, wie er selbst offen zugab, „nicht genug Material vorliegt, um eine Anklage zu erheben.“139 Hier wurden wie bei den Feldkriegsgerichten keineswegs nur „politische“ Vorfälle verhandelt. Auch gewaltsame Alltagskonflikte – wie die Bedrohung eines ehemaligen Arbeitgebers durch einen Arbeitsuchenden mit einem Messer – wurden per Verbannungsstrafe „gelöst“.140 So bedeutsam diese Verbannungen in ihrer hohen Zahl waren, so schnell die Militärgerichte arbeiteten und so tödlich die Urteile der Kriegsfeldgerichte waren, so wenig hätten diese Repressionsinstrumente ihre abschreckende Wirkung entfalten können, hätte es an Einsatzbereitschaft der Armee gemangelt. Im Königreich Polen machte sich ähnlich wie im europäischen Russland bemerkbar, dass der Autokratie nach Beendigung des Kriegs gegen Japan erheblich mehr Truppen zur Verfügung standen, die zur Niederschlagung des „inneren Feindes“ abkommandiert werden konnten. Im Weichselland lässt sich die unterschiedliche Durchschlagskraft des im Oktober und des im Dezember ausgerufenen Kriegszustands mit diesem Faktor erklären. Erst im Dezember erfolgte eine deutliche Truppenverstärkung in den polnischen Provinzen, die das Rückgrat für die erfolgreiche und flächendeckende Durchsetzung der kriegsrechtlichen Strafjustiz und anderer Maßnahmen zur Niederschlagung der Rebellion stellten. Seit der Jahreswende von 1905–06 war eine Dichte von militärischen Patrouillen, Durchsuchungen und Posten in Fabriken, an Straßenkreuzungen und wichtigen infrastrukturellen Knotenpunkten möglich, die die chronische Schwäche der polizeilichen Ordnungskräfte kompensierte.141 Wie sich zuvor gezeigt hatte, ließen sich Stadt und Land ohne den Einsatz des Militärs nicht mehr befrieden, nicht einmal verwalten. Im Jahr der Repressi|| 137 Vgl. Jörg Baberowski: Autokratie und Justiz, S. 767–768. 138 AGAD, KGGW, sygn.2573, kart.50–50v [Schreiben des Innenministeriums an den WGG, 17.8.1905]; AGAD, KGGW, sygn.2573, kart.5 [Schreiben des Innenministeriums, 10.10.1905]. 139 AGAD, KGGW, sygn.2980, kart.6 [WGG an das Innenministerium, 31.3.1907]. 140 AGAD, KGGW, sygn.3173, kart.1–2v [WOPM an den WGG, 20.7.1907]. 141 Vgl. Christoph Gumb: Festung, S. 275.

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on wurden auch in den polnischen Provinzen Truppen regelmäßig zum Einsatz gegen streikende Arbeiter oder renitente Bauern beordert und blieben Soldaten fast durchgängig direkt in den größeren Betrieben stationiert.142 Die Brutalität der russischen Regimenter war bei der polnischen Bevölkerung berüchtigt. Es herrschte ein allgemeines Klima der Angst vor Übergriffen. Als beispielsweise im Juli 1906 Gerüchte aufkamen, dass russische Truppen anlässlich des PeterPaul-Tages zu einem Pogrom gegen die städtische Bevölkerung aus den Garnisonen gelassen würden, flüchteten Warschauer Bürger massenhaft aus der Stadt.143 Diese Sorge vor marodierenden Verbänden war nicht ganz unbegründet. An den antijüdischen Pogromen, die sich in Gomel im Januar, in Białystok im Juni und in Siedlce im August 1906 ereigneten, beteiligten sich auch russische Regimenter.144 Im Unterschied zu den Ostseeprovinzen, Sibirien oder dem Kaukasus kam es allerdings nicht zu vergleichbaren Strafexpeditionen, die dort unter der lokalen Bevölkerung zahlreiche Opfer forderten und zur Zerstörung ganzer Dörfer führten.145 Dazu fehlte im Weichselland einerseits das radikalisierende Element einer nach Rache dürstenden lokalen Oberschicht. Zudem sahen die imperialen Beamten auch nach 1905 in den polnischen Adligen weniger über den Stand mit dem Regime verbundene Kooperationspartner als vielmehr potentielle Unruhestifter im Kampf um polnische Autonomie. Darüber hinaus hielt sich selbst nach der Gemeindebewegung von 1905–06 im Denken der zarischen Amtsträger die Vorstellung vom loyalen polnischen Bauern, der dem Zaren für die großzügige Landreform aus dem Jahr 1864 über Generationen hinweg dankbar sei. Um an der Fiktion des treuen Bauern festhalten zu können, wurden die ländlichen Unruhen vor allem auf den Einfluss von „Fremden“ und „Aufrührern“ zurückgeführt.146 Die Entwicklung in den polnischen Provinzen im Jahr 1906 zeigt, dass die staatlichen Instanzen auch ohne die blutigen Strafexpeditionen anderer Reichsperipherien die Initiative in den revolutionären Auseinandersetzungen zurückerlangen konnten. Ein entscheidender Schritt war die forcierte Wiederherstellung des staatlichen Waffenmonopols. Die Allgegenwart von Revolvern

|| 142 Vgl. Werner Benecke: 1905, S. 19; John Bushnell: Mutiny Amid Repression, S. 47–48. 143 Bericht des britischen Generalkonsuls Murray vom 13.7.1906: Dominic Lieven: Foreign Affairs, Russia, Bd. 4, S. 132 (Doc. 86). 144 Vgl. Frank Golczewski: Polnisch-jüdische Beziehungen, S. 86–89. 145 Vgl. Gert von Pistohlkors: Ostseeprovinzen, S. 434–436; Toivo U. Raun: Violence and Activism in the Baltic Provinces During the Revolution of 1905, in: Acta Historica Tallinnensia, 10 (2006), S. 48–59. 146 AGAD, PomGGW, sygn.1212, kart.75–75v [Gouverneur von Łomża an WGG, 28.8 910].

12.3 „Wiederherstellung der Ordnung“: Dezember 1905–1907 | 363

hatte sich in den Unruhen von 1905 als ein massives Problem erwiesen, da so auch soziale Protestformen und kriminelle Bandenaktivitäten schnell an Gewalttätigkeit gewannen. Mit verschärften Gesetzesbestimmungen und einer erhöhten Frequenz von Durchsuchungen versuchten die Autoritäten nach 1906, die Anzahl der zirkulierenden Schusswaffen zu reduzieren.147 Als effektive Maßnahme erwies sich hier die Praxis, Gemeinden und Stadtkommunen kollektiv haften zu lassen. Diese hatten für alle Kosten aufzukommen, die bei den Befriedungs- und Entwaffnungsaktionen entstanden.148 Nicht zuletzt zogen die zarischen Behörden ihre Lehren aus dem Versagen der Polizei, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Bereits 1906 wurde die Anzahl von Polizeibeamten im Weichselland verdoppelt. Anfang 1907 waren beinahe 10.000 Polizeibeamte im Königreich im Dienst. Die Schwäche des Polizeiapparats vor allem in den Provinzstädten und den Landkreisen konnten diese Personalmaßnahmen jedoch nicht beheben. Die geringe Bezahlung und die andauernden Gefährdungen des Polizeidienstes sorgten zudem dafür, dass sich nur schwer Bewerber finden ließen.149 An der grundsätzlichen Notwendigkeit, Militäreinheiten zur Wahrung der öffentlichen Ordnung einzusetzen, änderte sich somit wenig.150 Noch im Herbst 1906 waren in Warschau circa 3.600 Soldaten mit Polizeiaufgaben betraut.151 Dies war einer der wesentlichen Gründe, warum Skalon für eine langfristige Aufrechterhaltung des Kriegszustands im Weichselland plädierte. Der Warschauer Generalgouverneur und der Petersburger Innenminister waren sich zumindest diesbezüglich einig: Eine vorzeitige Aufhebung des Kriegszustands konnte im Weichselland schnell zu einer erneuten Destabilisierung der Lage führen. Zu einer solchen Einschätzung trug auch bei, dass es den zarischen Autoritäten nicht gelang, den politischen Terror auf den Straßen des Königreichs zu unterbinden. Im Gegenteil, im Jahr 1906 nahm die Anzahl der Anschläge in Polen wie auch in Russland deutlich zu. War 1905 das Jahr revolutionärer Barrikadenkämpfe gewesen, so war 1906 das des terroristischen Attentats. Im gesamten Zarenreich wurden im Laufe des Jahres 768 Personen durch Terrorakte getötet und 820 verwundet.152

|| 147 Robert E. Blobaum: Rewoljucja, S. 281. 148 AGAD, KGGW, sygn.2520, kart.22 [Gouverneur von Radom an den WGG, 22.2.1906]. 149 Bericht des britischen Generalkonsuls Murray vom 13.7.1906: Dominic Lieven: Foreign Affairs, Russia, Bd. 4, S. 131 (Doc. 86). Vgl. auch Jerzy Pająk (Hrsg.): Organizacje bojowe partii politycznych w Królestwie Polskim, 1904–1911, Warschau 1985, S. 122–123. 150 GARF, f.726, op.1, d.21, l.45 [Instruktion des WOPM, 11.4.1912]. 151 Vgl. Christoph Gumb: Festung, S. 287. 152 Vgl. Jörg Baberowski: Autokratie und Justiz, S. 732.

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Wie gefährlich der Alltag in der Weichselmetropole im Sommer 1906 war, schildert der Bericht des britischen Generalkonsuls Sir Alexander Murray vom 13. Juli anschaulich. Er notierte als Postskriptum zu seinem Bericht aus Warschau: „Just before I got home a workman was shot just opposite my house. The servant hearing the shot looked out and saw the murder quietly pocket his revolver and walk away unmolested, although there were a good many people in the street at the time. […] The body remained lying in the pavement in front of my window whilst I was at lunch. Whilst I was going to the Chancery this morning several shots were fired in the street along which I passed. Such is life at Warsaw at the beginning of the twentieth century.“153 In einer solchen Situation der Allgegenwart von Gewalt war kaum noch zu unterscheiden, wer Opfer eines politisch motivierten Anschlages, einer mörderischen Abrechnung zwischen kriminellen Banden, einer Racheexekution durch Parteiselbstschutzverbände oder eines allgemeinen „random shooting“ wurde. Auch als zufälliger Passant lebte man im Sommer des Terrors in Warschau gefährlich. Das galt umso mehr für die Repräsentanten zarischer Ordnung. Die einfachste Zielscheibe für derartige Terrorakte waren die niederen Polizeibeamten im Straßendienst. Im Verlaufe der Jahre 1905–06 wurden von den circa 1.000 Polizisten in Warschau mehr als 200 durch Revolver- und Bombenattentate verletzt oder getötet.154 Angesichts der permanenten, hinterhältigen und lebensbedrohlichen Anschläge war die Warschauer Polizei im Sommer 1906 kaum mehr als ein verschreckter Haufen. Als Gerüchte kursierten, die Sozialisten wollten zwei Polizeibeamte für jedes exekutierte Parteimitglied ermorden, war am 3. Juli kein einziger Polizist auf Warschaus Straßen zu sehen. Wenig später sollten sich die Befürchtungen der Beamten als nur zu wahr erweisen: Am 2. August verübten Mitglieder der Kampforganisationen der PPS in einer provinzweit koordinierten Aktion eine ganze Reihe von Anschlägen auf Ordnungshüter. Am „blutigen Mittwoch“ wurden 16 Polizisten und Soldaten allein in Warschau ermordet, weitere 17 verwundet. Im gesamten Königreich summierte sich der Blutzoll auf 41 tote und 69 verletzte Repräsentanten der Staatsmacht an einem einzigen Tag.155

|| 153 Dieser Bericht stammt vom 13.7.1906: Dominic Lieven: Foreign Affairs, Russia, Bd. 4, S. 132–133 (Doc. 86). 154 Vgl. Vladimir V. Esipov: Narodnaja nravstvennost’, in: Varšavskij statističeskij komitet (Hrsg.): Nekotorye čerty po statistike narodnogo zdravija v 10 gubernijach Carstva Pol’skogo, Warschau 1907, S. 59–65, hier S. 62–64. 155 Vgl. den Bericht Murrays vom 13.7.1906: Dominic Lieven: Foreign Affairs, Russia, Bd. 4, S. 131–133 (Doc. 86).

12.3 „Wiederherstellung der Ordnung“: Dezember 1905–1907 | 365

Aber die Terrorakte richteten sich keinesfalls nur gegen die niederen Dienstränge, auch die höhere Beamtenschaft stand 1906 unter andauernder Gefahr für Leib und Leben. Dementsprechend intensiv waren die Sicherheitsvorkehrungen durch die zarischen Beamten. Hohe Amtsträger, wie der Generalgouverneur, bewegten sich kaum noch im öffentlichen städtischen Raum, sondern verbarrikadierten sich in ihren Dienst- und Wohnräumen. Wenn Georgij Skalon seinen Amtssitz verlassen musste, glich der Kutschenzug einer mobilen Zitadelle. Die geheimgehaltenen Routen wurden von einer Vielzahl verdeckter Agenten der Ochrana gesichert.156 Die zarischen Amtsträger im Weichselland hatten in der Tat allen Grund, um ihr Leben zu fürchten: 1906 wurden unter anderem der Stellvertreter des Generalgouverneurs General-Major Markgrafskij sowie die Generäle Vonljarljarskij, Cukato und Vestenrik bei Attentaten getötet.157 Im August 1906 wurde Skalon selbst zum Ziel eines solchen Anschlages. Eine PPS-Kampfgruppe unter der Leitung von Mieczysław Mańkowski versuchte, den verhassten Generalgouverneur zu eliminieren. Das Attentat wurde mit einer gezielten Beleidigung des deutschen Generalkonsuls in Warschau eingeleitet.158 Als Baron Gustav Lerchenfeld am 4. August den örtlichen Jachtklub verließ, wurde er von einer Person in russischer Offiziersuniform angerempelt und ins Gesicht geschlagen.159 Die fällige Entschuldigung, mit der der Generalgouverneur beim Generalkonsul vorstellig wurde, erfolgte noch am gleichen Tag. Auf seinem Rückweg in das Sommerschloss Belvedere verübten Attentäter in der Ul. Koszykowa einen Bombenanschlag auf ihn. Bei der Explosion von zwei Bombensätzen wurden vier der begleitenden Kosaken und einige Passanten leicht verletzt. Skalon selbst blieb unversehrt.160 Die rasch einsetzenden polizeilichen Untersuchungen deckten auf, dass die Provokation des deutschen Generalkonsuls Teil eines langfristig vorbereiteten Mordkomplotts war. Die Wohnung in der Ulica Koszykowa Nr. 33/13, aus der die Bomben geschleudert wurden, war bereits zwei Monate zuvor angemietet worden.161 Die

|| 156 So die Beobachtung des britischen Konsuls in Warschau 1907. Siehe Dominic Lieven: Foreign Affairs, Russia, Bd. 4, S. 364. Vgl. auch P. P. Zavarzin: Rabota tajnoj policii. Vospominanija, Paris 1924, S. 115–117. 157 Varšavskij statističeskij komitet (Hrsg.): Desjat’ gubernij Carstva Pol’skogo v cifrach, Warschau 1908, S. 44–45. 158 AGAD, KGGW, sygn.2732, kart.6 [Depesche aus St. Petersburg an den WGG, 5.8.1906]. 159 AGAD, KGGW, sygn.2732, kart.11–13v [Bericht des Beamten für besondere Aufgabe, 8.8.1906]. 160 AGAD, KGGW, sygn.2732, kart.22–25 [Brief des WGG an Stolypin, 7.8.1906]. 161 AGAD, PomGGW, sygn.109, kart.1–1v [Leiter der Warschauer Eisenbahnpolizeiverwaltung, 9.7.1906].

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Attentäter hatten sich für diesen Straßenzug entschieden, da die laufenden Kanalarbeiten die Straße nur einseitig befahrbar machten. Zugleich war die Straße der wahrscheinlichste Rückweg des Generalgouverneurs nach einer Visite beim deutschen Generalkonsul.162 Der Anschlag schlug letztlich nur wegen der unzulänglich hergestellten Sprengsätze fehl.163 Das Leben des Generalgouverneurs war aber auch nach dem gescheiterten Anschlag vom 4. August bedroht. Bereits Ende August wurde ein weiteres Bombenattentat auf Skalon verübt. Im Oktober konnte ein Giftanschlag auf ihn in einem Berliner Sanatorium verhindert werden, in das er zu einem kurzfristigen Genesungsaufenthalt gereist war.164 Während Skalon diese Attentate unbeschadet überstand, hatte eine ganze Reihe von Staatsbeamten weniger Glück. Stimmen die Zahlen aus einer Statistik des britischen Generalkonsulats, dann fielen allein im Zeitraum vom 28. Juli bis 6. Oktober 1906 in seinem Konsularbezirk 124 Beamte Terrorakten zum Opfer, während weitere 108 verwundet wurden.165 Damit hätten sich allein in diesen zwei Monaten sechzehn Prozent aller für das gesamte Jahr 1906 im Russischen Reich dokumentierten Terrorakte im Königreich Polen und den Westgebieten ereignet.166 In einer anderen Erhebung für das Weichselland ging Vladimir Esipov, Leiter des Statistischen Komitees in Warschau, von einer Todesziffer von 790 Amtsträgern für den gesamten Zeitraum 1905–06 aus. Zugleich seien in diesen zwei Jahren 864 Personen bei Attentaten verletzt worden. Insgesamt explodierten in dieser Zeit 129 Bomben im Königreich.167 Allerdings gelang es den zahlreichen Anschlägen nicht, eine revolutionäre Dynamik zu entfachen. Sie blieben Einzelakte, die die Stabilität öffentlicher Ordnung nie ernsthaft gefährdeten. Auch ihre breitere gesellschaftliche Akzeptanz begann zu schwinden.

|| 162 AGAD, KGGW, sygn.2767, kart.1 [Bericht des WOPM, 6.8.1906]; AGAD, PomGGW, sygn.109, kart.3–4v [Bericht des Gehilfen des WGG, 6.8.1906]. 163 AGAD, PomGGW, sygn.109, kart.32–32v [Schreiben des Leiters der Abteilung für öffentliche Ordnung, 6.11.1906]. 164 Vgl. „Chronik des Terrors“ im PPS-Organ Robotnik. AGAD, PomGGW, sygn.109, kart.34 [Ausgabe des Robotnik, Nr. 171 vom 22.8.1906]; AGAD, PomGGW, sygn.109, kart.38 [Bericht an Polizeiabteilung, ohne Autor, Oktober 1906]. 165 Statistik des britischen Generalkonsulats vom 6.10.1906: Dominic Lieven: Foreign Affairs, Russia, Bd. 4, S. 235 (Doc. 159). Der Konsularbezirk umfasste sowohl das Königreich wie auch große Teile der ehemaligen Ostgebiete Polen-Litauens. 166 Vgl. Jörg Baberowski: Autokratie und Justiz, S. 732. 167 Vgl. Vladimir V. Esipov: Narodnaja nravstvennost’, in: Varšavskij statističeskij komitet (Hrsg.): Nekotorye čerty po statistike narodnogo zdravija, Warschau 1907, S. 59–65, hier S. 64– 65. Esipov rechnete hier die Anschlagopfer unter Soldaten, Polizisten und anderen Beamten zusammen.

12.4 Der Wandel der Angsthierarchien und die Lehren von 1905 | 367

12.4 Der Wandel der Angsthierarchien und die Lehren von 1905: Zum (Um-)Denken zarischer Beamter nach der Revolution Zur zunehmenden Isolation der Terroristen trug entscheidend bei, dass sich die Politik des Provisorischen Generalgouverneurs keinesfalls auf die Repression revolutionärer Unruhen beschränkte. Die Unterdrückung gewaltsamer Proteste ging vielmehr mit einer verstärkten Bereitschaft einher, mit jenen gesellschaftlichen Kreisen zusammenzuarbeiten, die nicht den gewaltsamen Sturz der russischen Herrschaft anstrebten. Eine schon zeitgenössische Charakterisierung dieser Generalgouverneure als Militärs, denen es primär um die Unterwerfung des Landes ging, greift hier eindeutig zu kurz. Im Weichselland erwies sich Skalon vielmehr als ein Akteur, der sehr gezielt und steuernd in die ungewohnte politische Konstellation nach dem Oktobermanifest eingriff, aber keine fundamentale Obstruktion der neuen bürgerlichen Grundrechte betrieb. Es ging ihm vielmehr darum, in einer vielleicht ungeliebten, aber grundsätzlich akzeptierten Neuordnung des Politischen nach tragfähigen Bündnissen zu suchen. Die Erfahrungen des Jahres 1905 zwangen die imperialen Beamten dazu, alte Feindbilder zu revidieren. Denn es erwiesen sich gesellschaftliche Kräfte als kooperationswillig, die noch kurz zuvor fest zum Spektrum „revolutionärer Kräfte“ gerechnet worden waren. Generell wurde die alte Troika der Gegner Petersburger Herrschaft brüchig. Traditionell identifizierten zarische Beamte den polnischen Adel, die katholische Priesterschaft und die städtische Intelligencija als die wesentlichen „Unruhestifter“ in der Provinz.168 Seit der Jahrhundertwende jedoch verbreitete sich die Einsicht, dass vor allem das Zusammengehen von Sozialprotest gegen die Misere städtischer Unterschichten mit der „sozialistischen Propaganda“ revolutionärer Parteien die primäre Gefährdung der staatlichen Ordnung darstellte. Die Revolution von 1905 machte dies zur Gewissheit. Angesichts der Bedrohung durch den gewalttätigen Aufruhr pauperisierter Massen und den blutigen Terror sozialistischer Kampforganisationen verlor die alte „polnische Frage“ ihre privilegierte Stellung in der Angsthierarchie der Beamten.169 Das führte gleichzeitig dazu, dass die imperialen Beamten an ihrer Vision des loyalen Bauern auch nach 1905 festhalten konnten. Denn die wesentliche || 168 AGAD, KGGW, sygn.2573, kart.14–22v [Bericht zur politischen Lage im Kraj, 28.1.1904]. 169 AGAD, PomGGW, sygn.264, kart.1–17 [Dokumente zu terroristischen Anschlägen, 1908– 1909].

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Forderung der Gemeindebewegung nach der Zweisprachigkeit der Verwaltungsprozeduren wurde nicht als grundlegende Infragestellung zarischer Herrschaft verstanden. Die Konzessionen, zu denen die Regierung 1905 und in den Folgejahren bereit war, betrafen dann auch vor allem diesen Bereich. Nachdem im Laufe des Jahres 1906 die Gefahr der Revolution aus den Dörfern gebannt schien, behinderte die zarische Administration die ländlichen Gemeinden bei ihrer zunehmenden Selbstorganisation kaum noch. Sprechend ist hier die hohe Zahl der Grundschulen und der Verbände der freiwilligen Feuerwehr, die selbst unter den Bedingungen des anhaltenden Kriegsrechts durch Gemeindeaktivisten gegründet werden konnten.170 Noch wichtiger war jedoch, dass die imperialen Amtsträger ihre Haltung gegenüber dem „patriotischen Lager“ revidierten. So wurden die Versuche neu belebt, mit den gemäßigten, liberalen Kräften des polnischen Meinungsspektrums ins Gespräch zu kommen. Mit Rückendeckung des Petersburger Ministerkomitees initiierte der Warschauer Generalgouverneur bereits im Oktober 1905 eine Kommission, die das alte Projekt zur Einführung munizipaler Selbstverwaltungsorgane im Königreich Polen diskutieren sollte. Inmitten der turbulenten Tage nach dem Oktobermanifest lud Skalon so prominente polnische Vertreter wie Adolf Suligowski zu Gesprächen ein, um konkret über Statuten der städtischen Selbstverwaltung für Warschau und Lodz zu beraten.171 Die imperialen Beamten vor Ort waren nicht nur bemüht, ihre traditionellen Verbündeten zu umwerben. Sie korrigierten auch einige der althergebrachten Vorurteile gegenüber anderen gesellschaftlichen Segmenten und deren vermeintlicher Fundamentalopposition zur russischen Herrschaft. So verlor die katholische Priesterschaft hier ihren Status des imaginierten Hauptfeindes zarischer Herrschaft. Zu offensichtlich hatte sich die Kirche in den Tagen revolutionärer Anarchie zurückgehalten oder sogar offen für den Erhalt der bestehenden Ordnung ausgesprochen.172 Vor allem aber überdachten die zarischen Beamten ihre Einschätzung des nationaldemokratischen Spektrums an Organisationen und Parteien. In den 1890er Jahren hatten Personen wie Roman Dmowski in den Augen der Autoritäten eine wesentliche Bedrohung repräsentiert, da sich hier eine neue städtische || 170 Vgl. dazu Robert E. Blobaum: Rewoljucja, S. 289–291. 171 Siehe Adol’f F. Suligovskij: Istoričeskaja zapiska ob upravlenie gorodami v Carstve Pol’skom, Warschau 1906; Adolf Suligowski: Motywy do projektu ustawy miejskiej dla miast Krolestwa Polskiego, in: Adolf Suligowski: Pisma, Bd. 1, Warschau 1915, S. 91–113 und S. 121–125. 172 Vgl. auch Robert E. Blobaum: Toleration and Ethno-Religious Strife: The Struggle Between Catholics and Orthodox Christians in the Chelm Region of Russian Poland, in: The Polish Review, 35 (1990), S. 111–124.

12.4 Der Wandel der Angsthierarchien und die Lehren von 1905 | 369

Intelligenz mit oftmals adligem Hintergrund zum Kämpfer für die nationalen Rechte der Polen aufschwang und die Tradition des „polnischen Aufstands“ fortzuführen drohte. Dmowski war noch als Student an der Warschauer Universität und als Führer des nationalistischen Jugendbundes in Konflikt mit den staatlichen Autoritäten geraten und zu sechs Monaten Gefängnis in der Warschauer Zitadelle verurteilt worden. Wenig später verbannte ihn der Generalgouverneur gänzlich aus dem Königreich Polen.173 Noch unmittelbar vor der Revolution führten die zarischen Berichte die nationaldemokratische Agitation unter der Rubrik „revolutionäre Aktivitäten“.174 Aber bereits 1905 zeichnete sich ab, dass die Nationaldemokraten nicht länger in einer Fundamentalopposition zum Regime verharrten. Indem diese unter dem führenden Einfluss von Dmowski das Ziel einer gewaltsamen Beseitigung der Petersburger Herrschaft aufgaben und in den Aktivitäten des sozialistischen Untergrunds zunehmend eine Gefährdung für die Entwicklung Polens sahen, erwuchs den imperialen Beamten ein unerwarteter Gesprächspartner auf der polnischen Seite.175 Es war vor allem die Erfahrung der Wirren des unübersichtlichen Jahres 1905, die ein breites polnisches Spektrum aus konservativen, bürgerlichen und nationaldemokratischen Parteien in gemeinsamer Revolutionsfurcht vereinte. Die revolutionären Ereignisse hatten sich allzu oft in Gestalt von Anarchie und Gewalteruption manifestiert. Gewalt tendiert dazu, sich zu verselbstständigen; Experten der Gewalt und ihre Organisationseinheiten neigen schon aus Gründen der eigenen Interessenwahrung und Selbsterhaltung zur Gewaltsteigerung. Die Trennlinie zwischen politischer und „normaler“ Gewaltkriminalität schwindet zusehends; Gewalt profanisiert und kommerzialisiert sich und richtet sich immer mehr gegen die, die gestern noch als Verbündete im Aufstand galten.176 So auch im Jahr 1905 im Königreich: Gewaltakteure spielten eine immer gewichtigere Rolle in den Konflikten der Revolution. Seien es die Kampfverbände der SDKPiL oder der PPS, seien es die bezahlten Auftragsmörder, die Polizisten ebenso wie Streikbrecher zur Strecke brachten, seien es die konkurrierenden

|| 173 Vgl. Brian A. Porter: Nationalism, S. 119–129; Pascal Trees: Wahlen im Weichselland, S. 64–77. 174 GARF, f.215, op.1, d.97, ll.30–45, hier l.33 und l.33ob [Brief des WGG Čertkov an das Innenministerium, 12.3.1902]; AGAD, KGGW, sygn.2573, kart.14–22v [Bericht zur politischen Lage, 28.1.1904]. 175 Siehe Marian Kamil Dziewanowski: The Polish Revolutionary Movement, S. 382–383; Kurt Georg Hausmann: Pilsudski und Dmowski in Tokio. 176 Peter Waldmann: Eigendynamik entfesselter Gewalt, S. 343–344 und S. 353–360.

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Selbstschutzverbände und bewaffneten Banden, die sich gegenseitig bekriegten und die Straßen unsicher machten – der Aufruhr, der zunächst die russische Herrschaft erschüttern sollte, prägte schließlich als ungezügelte und zunehmend gefürchtete Gewalt den Alltag der gesamten Bevölkerung. Es wurde zur lebendigen Erfahrung einer Vielzahl von Menschen, dass der komplette Zusammenbruch zarischer Machtapparate hier keinesfalls etwas Gutes bedeutete.177 Das, was sich für die einen als „Tage der Freiheit“ gestaltete, stellte sich für andere als fundamentale Bedrohung für Leben und Eigentum dar. Die ausufernde Gewalt richtete sich keinesfalls nur gegen die Begüterten, sie prägte auch den Alltag der Auseinandersetzungen städtischer Unterschichten und Arbeiterschaften.178 Vor allem die Kampforganisationen der SDKPiL, der PPS oder der PPSProletariat zögerten nicht mit dem Einsatz von Waffen. Nach dem Oktobermanifest versuchten die paramilitärischen Verbände der sozialistischen Parteien, eine gesellschaftliche Opposition gegenüber dem Regime auch mit gewaltsamen Mitteln aufrechtzuerhalten. Alle „Versöhnler“, die an der Sinnhaftigkeit revolutionärer Erhebung zweifelten, wurden nun als Verräter stigmatisiert und zu Freiwild erklärt. Im Dezember 1905 verübten Kämpfer der SDKPiL beispielsweise Mordanschläge auf Journalisten des nationaldemokratischen Goniec. Damit erlangte der traditionelle Gegensatz von Sozialisten und Nationaldemokraten eine neue Qualität.179 Die Nationaldemokraten reagierten 1906 mit der Gründung eines eigenen, als „Volksmiliz“ bezeichneten Selbstschutzverbandes, der bewaffnete „Kampfzirkel“ unterhielt und mit gezielten Racheakten und Anschlägen auf sozialistische Parteigänger zur Gewaltspirale erheblich beitrug.180 Unter der Eskalation hatten somit sehr unterschiedliche gesellschaftliche Milieus und Personengruppen zu leiden. Eine Folge davon war zweifellos die Bereitschaft, auf Gewalt mit Gewalt zu reagieren, eine andere die Einsicht, dass die zunehmend als sinnlos empfundenen Wirren vor allem eine zerstörerische Kraft darstellten.181 Zur Logik entfesselter Gewalt gehört gleichfalls der Effekt eines sich immer schneller drehenden Karussells: Einige von denen, die zu-

|| 177 Stanisław Kalabiński: 1905–1907 w Królestwie Polskim: Materiały archiwalne, S. 305. 178 Robert E. Blobaum: Rewoljucja, S. 104 und S. 223–234. 179 AGAD, PomGGW, sygn.730, kart.32–33v [Bericht des WOPM an WGG, 2.3.1903]. Vgl. auch Brian A. Porter: Nationalism, S. 129; Joshua D. Zimmermann: Poles, Jews, S. 202–203. 180 AGAD, KGGW, sygn.7739, kart.20 [Kommentar eines Artikels aus dem Zentralorgan des Nationalen Arbeiterbundes, 9.10.1908]; APW, t.24 (WWO), sygn.261, kart.1–32, hier kart.7–8 [Stimmungsbericht zur Lage im Kraj, 1913]. 181 Vgl. z. B. Henryk Sienkiewicz: Wirren, Zürich 2005. V. a. Kap. 23, S. 521–524.

12.4 Der Wandel der Angsthierarchien und die Lehren von 1905 | 371

nächst aktiv daran beteiligt waren, das Gewaltkarussell in Gang zu setzen, wurden durch die zunehmende Wucht der Zirkulation herausgeschleudert. In der konkreten Situation des Polnischen Königreichs erhöhten die Gewalterfahrungen und Bedrohungsängste bei einem wachsenden Teil der lokalen Gesellschaft die Bereitschaft, die staatlichen Ordnungsträger als notwendige Garanten für öffentliche Sicherheit zu akzeptieren. Die Verkündung des Kaiserlichen Manifests am 17. Oktober beförderte diese Einsicht gerade auch im nationaldemokratischen Lager. Denn Dmowski und seine Verbündeten sahen nun die Grundlage für das friedliche Aushandeln weiterer Konzessionen gegeben. Die Nationaldemokraten organisierten Dankeskundgebungen auf den Straßen Warschaus und Dmowskis Unterschrift findet sich auf einer Petition an die russische Regierung, die weitere Sonderrechte für das Königreich einforderte.182 Für die Protagonisten der gewaltsamen Revolution mussten dergleichen Anzeichen, dass die Front gegen das Regime zu bröckeln begann, umso bedrohlicher erscheinen, als sich hier nicht mehr nur eine kleine konservativ-elitäre, aber weitgehend einflusslose Gruppe von Ugodowcy um den Dialog mit den Machthabern bemühte. Die Sozialisten versuchten zunächst, die nationaldemokratischen „Versöhnler“ zu diskreditieren, indem das Gerücht gestreut wurde, Dmowski habe sich mit den Petersburger Autoritäten auf eine Niederschlagung der Revolution in Polen geeinigt.183 Die Auseinandersetzung spitzte sich schnell weiter zu, als die zarischen Autoritäten zu einer konsequenten Verfolgung der sozialistischen Bewegungen übergingen, während die Endecja weitgehend unbehelligt politische Agitation betreiben durfte. Der Beginn des Wahlkampfes zur I. Duma im Januar 1906 goss hier zusätzlich Öl ins Feuer. Nachdem die sozialistischen Parteien den Boykott der Wahlen erklärt hatten, ging vor allem die PPS dazu über, die angestrebte Nichtbeteiligung auch gewaltsam durchzusetzen und mit bewaffneten Übergriffen die politischen Gegner einzuschüchtern.184 Hier kündigte sich bereits das Gewaltpotential eines Konflikts an, der sich in den Jahren 1906–07 zu einem regelrechten Parteienkrieg ausweiten und insgesamt circa 1.000 Verletzte und mehr als 300 Tote fordern sollte.185 Der Warschauer Generalgouverneur notierte diese innerpolnischen Auseinandersetzungen sehr genau und versuchte aus der Differenz der Fraktionen Kapital für die Stabilisierung der Verhältnisse zu schlagen. Dies lief in erster || 182 GARF, f.579, op.1 (1905), d.1893, l.1 [Petition der polnischen Delegation, November 1905]. 183 Theodore R. Weeks: From Assimilation to Antisemitism, S. 141. 184 RGIA, f.1327, 1905–1915, op.2, d.21, ll.122–125, hier ll.123ob-124ob [Bericht des WGG, 22.3.1906]. 185 Robert E. Blobaum: Rewoljucja, S. 223–234.

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Linie auf eine indirekte Förderung der Nationaldemokratie hinaus. So duldete Skalon beispielsweise selbst nach der Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 1905 das politische Agieren der Nationaldemokraten weitgehend. Er schritt nicht ein, als die Endecja im Dezember 1905 mehrere Zusammenkünfte von Lehrern, Geistlichen und Bauern in Warschau organisierte, um Einfluss auf diese gesellschaftlichen Multiplikatoren zu gewinnen. Da die Nationaldemokratie explizit mit dem Ziel, die russische Herrschaft zu stürzen, gebrochen hatte, wurde sie zumindest mit einer Tolerierung ihrer Aktivitäten und Organisationen belohnt.186 Dieses Angebot eines modus vivendi spricht auch aus der amtlichen Wahlorganisation, mit der die russischen Behörden die Dumawahlen im Königreich selbst unter den Bedingungen des Kriegsrechts gewährleisteten. Denn Skalon persönlich setzte sich energisch dafür ein, einen geregelten Verlauf sicherzustellen. Er verstand die Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Wahlkampfes und -gangs zweifellos als eine staatliche Machtdemonstration, da die Autoritäten so unter Beweis stellten, dass sie die Veranstaltungen gegen die Sabotageakte der revolutionären Parteien schützen und durchsetzen konnten.187 Daher ermöglichte der Generalgouverneur schon frühzeitig die Entfaltung des Wahlkampfes. Gesellschaften und Vereinigungen, die bereits über eine offizielle Genehmigung verfügten, konnten sich trotz des Versammlungsverbots zu Zusammenkünften einfinden. Der polnischen Presse wurde die entsprechende Berichterstattung genehmigt. Die zarischen Autoritäten kooperierten bei der Beschaffung von geeigneten Räumlichkeiten für größere Wahlversammlungen und stellten eine beträchtliche Anzahl von Polizeibeamten und Soldaten bereit, um die Wahl vor den gewaltsamen Übergriffen der sozialistischen Boykotteure zu schützen.188 Der oft als „Stolypin an der Weichsel“ geschmähte Generalgouverneur zeigte sich hier erstaunlich pragmatisch und kompromissbereit. In manchem war Skalon offensichtlich durch seine früheren Dienstjahre im Weichselland geprägt worden, als er unter den Generalgouverneuren Šuvalov und Imeretinskij eine Hochzeit des Dialogs zwischen zarischer Administration und polnischen Aktivisten des kooperationswilligen Lagers erlebt hatte. Es ist zumindest bezeichnend, dass die zarischen Behörden bei der logistischen Durchführung und der zeremoniellen Ausgestaltung der Dumawahlen eine derart konstruktive Rolle

|| 186 Vgl. dazu auch Werner Benecke: 1905, S. 17–19; Joshua D. Zimmermann: Poles, Jews, S. 202–204. 187 Siehe auch Pascal Trees: Wahlen im Weichselland, S. 127. 188 AGAD, KGGW, sygn.8855, kart.14–15 [Verzeichnis der Wahlorte für den 12.4.1906].

12.4 Der Wandel der Angsthierarchien und die Lehren von 1905 | 373

spielten und inmitten der Revolution Ressourcen bereitstellten, um die komplizierte Erstellung der Wählerverzeichnisse oder auch den Schutz von Wahl(kampf-)veranstaltungen zu gewährleisten. Dies war nicht zuletzt ein Ausdruck des Versuchs, Sphären der gesellschaftlichen und politischen „Normalität“ in einer Zeit zu schaffen, die gleichzeitig von der brutalen militärischen Repression revolutionärer Erhebungen gekennzeichnet war. Diese Inseln der Normalität waren ein Angebot an die vergleichsweise gemäßigten Kreise, sich auf der Basis der neuen konstitutionellen Ordnung zu betätigen, ohne die russische Herrschaft insgesamt in Frage zu stellen. Der Hauptadressat war zweifellos das nationaldemokratische Lager. Anders als die einflusslosen Konservativen und die elitären Positivisten, die traditionellen polnischen Ansprechpartner der Behörden, repräsentierten die Nationaldemokraten eine moderne Massenpartei, die zusammen mit ihren Unterorganisationen über einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung verfügte. In der Konfrontation mit der revolutionären Agitation und dem blutigen Terror, mit denen die sozialistischen Parteien dem Staat gegenübertraten, war dies ein wichtiger Brückenkopf, mit dem man hoffte, Einfluss auf die Bevölkerung des unruhigen Landstriches zu nehmen.189 Zweifellos blieb eine deutliche Distanz zwischen den Repräsentanten zarischer Herrschaft und den Nationaldemokraten auch nach dem Oktobermanifest von 1905 bestehen. Letztere drängten auf die Abschaffung diskriminierender Gesetze, forderten vor allem eine flächendeckende Einführung der polnischen Sprache im Schul-, Gerichts- sowie Verwaltungswesen und strebten generell einen Autonomiestatus der polnischen Provinzen an. Die Endecja hatte im Laufe des Jahres 1905 eine wichtige Rolle bei der Ausrufung und Durchführung der Schulstreiks und der Gemeindebewegung gespielt. Die Nationaldemokraten lehnten damit offene Protestformen keinesfalls grundsätzlich ab. Erst 1908 revidierten sie ihre Position endgültig und sprachen sich gegen eine Fortführung des Boykotts der staatlichen Schulen aus.190 1905 und 1906 jedoch blieben die Nationaldemokraten ein lautes Sprachrohr für die Forderungen nach weitreichenden polnischen Sonderrechten. Gestärkt durch den flächendeckenden Wahlsieg im Königreich und vertreten durch die 37 Abgeordnete zählende, von Dmowski persönlich geführte „polnische Fraktion“, versuchten die polnischen Deputierten in der Duma eine Resolution zum Autonomiestatus des Königreichs zu erwirken. Diese Bemühungen scheiterten allerdings an den unüberbrückbaren Gegensätzen, die zwischen den Endecja-Vertretern und den Delegierten der

|| 189 Vgl. Pascal Trees: Wahlen im Weichselland, S. 273–274. Siehe auch Utgofs Bericht aus dem Jahr 1913: APW, t.24 (WWO), sygn.261, kart.1–32, hier kart.3–4 [Stimmungsbericht, 1913]. 190 AGAD, KGGW, sygn.7739, kart.59 und kart.68 [Memorandum Skalons, 21.10.1908].

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Konstitutionellen Demokraten vor allem in der Frage der Gleichberechtigung jüdischer Bürger, aber auch hinsichtlich der Autonomierechte der nationalen Minderheiten in den Westgouvernements bestanden.191 Dennoch wird damit offensichtlich, dass die Partei um Dmowski auch nach 1905 keinesfalls einen leichten Gesprächspartner für die zarischen Autoritäten im Weichselland darstellte. In der fundamentalen Krisensituation der Jahre 1905–06 war der Generalgouverneur aber daran interessiert, den Kontakt zu jenen Teilen der polnischen Gesellschaft aufzunehmen, die zumindest eine Abkehr vom bewaffneten Kampf gegen die imperiale Herrschaft unterstützten. Der Gewaltverzicht, die bedingte Kooperationsbereitschaft der Nationaldemokraten und vor allem ihr scharfer Antagonismus zu den sozialistischen Parteien schufen hier die Grundlage für die Tolerierungspolitik Skalons. Für die endgültige Niederschlagung der Revolution war es von großer Bedeutung, dass die zarischen Autoritäten 1906 die „Eigendynamik entfesselter Gewalt“ nicht allein mit militärischen Mitteln zum Halten brachten. Zu einer stabileren Abwendung der fundamentalen Krise gehörte ebenso, dass neue legale Foren gesellschaftlicher Interaktion zugelassen wurden. Dies eröffnete neue Räume für die Entfaltung einer politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Mit dem Oktobermanifest und den folgenden Grundgesetzen war die rechtliche Basis für eine neue politische Kultur gelegt. Selbst in Zeiten des Kriegsrechts konnte sich die politische Artikulation nun in begrenzter Form in legalen Bahnen bewegen.

|| 191 Vgl. Pascal Trees: Wahlen im Weichselland, S. 257–258; auch Abraham Ascher: Russia, S. 121.

13 Der lange Schatten der Revolution: Ausnahmezustand und Krisenbewältigung 1907–1914 13.1 Alltag im Ausnahmezustand 1906–1909 Auch im Ausnahmezustand fahren Straßenbahnen, werden Häuser gebaut und Arbeiter entlohnt – so beschreiben Alf Lüdtke und Michael Wildt den Tatbestand, dass noch zu Zeiten der Suspendierung von Freiheitsrechten Alltag stattfindet, ja, diese nicht zwingend eine völlige Aufhebung der Rechtsverhältnisse bedeutet.1 Gleiches gilt für die langen vier Jahre, in denen im Königreich Polen das Kriegsrecht Bestand hatte. Für ein knappes halbes Jahrzehnt war die Ausnahme zur Permanenz in den polnischen Provinzen geworden. Und dennoch waren die Jahre 1906–09 keine bleierne Zeit, in der das gesellschaftliche Leben zum Stillstand gekommen wäre.2 Vielmehr gehörte es zur Normalität im Ausnahmezustand, dass in Warschau die Straßenbahnen nicht nur fuhren, sondern elektrifiziert wurden, dass Häuser nicht nur gebaut wurden, sondern ein neuer Bauboom in der Weichselmetropole einsetzte. Zur Kriegsrechtperiode gehörten Kanalbauten ebenso wie die großen Jahrmärkte und es tagten munizipale Kommissionen, bei denen Beamte und Bürger gemeinsam über Fragen der Stadtverwaltung diskutierten. Zum privaten Alltag in der Anomie gehörten Zirkus-, Kaffeehaus- und Theaterbesuche ebenso wie eine intensive Publikationstätigkeit.3 1907 war es bereits wieder denkbar, dass sich der russische Baedeker, Grigorij Moskvič, mit einem neuverfassten Reiseführer zur Weichselmetropole an potentielle Touristen und Handelsreisende wandte.4 Abgesehen von der Erwähnung der Sperrstunden fehlt in seiner Stadtbeschreibung jeder Hinweis auf den Ausnahmezustand. Aber nicht einmal die zarischen Behörden konnten sich in den Zeiten ihrer vermeintlichen Allmacht den Widrigkeiten des Alltags entziehen: So musste sich die Warschauer Stadtver|| 1 Alf Lüdtke/Michael Wildt: Einleitung. Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes, in: Alf Lüdtke/Michael Wildt (Hrsg.): Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven, Göttingen 2008, S. 9–38, hier S. 23. 2 Vgl. z. B. Robert E. Blobaum: Rewoljucja, v. a. S. 289–291. 3 AGAD, PomGGW, sygn.109, kart.3–4v [Schreiben des Gehilfen des WGG, 6.8.1906]; AGAD, KGGW, sygn.5687, kart.1 [Brief des Stadtpräsidenten an den WGG, 17.6.1906]; AGAD, KGGW, sygn.5820, kart.47–55 [Kommissionsbericht des Sonderbeauftragten Gjunter, 1.12.1907]. 4 Vgl. Grigorij G. Moskvič: Putevoditel’ po Varšave, St. Petersburg 1907; auch N. F. Akaemov: Putevoditel’ po Varšave, Warschau 1907.

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waltung mit dem Aushandeln eines Mietvertrages für ihre Amtsräume beschäftigen.5 Gerade letzteres Beispiel verweist darauf, dass das Kriegsrecht in Polen bei weitem keinen regellosen, rechtsfreien Zustand darstellte. Zweifellos waren die Machtkompetenzen der zarischen Beamten und vor allem des Generalgouverneurs beträchtlich erweitert. Aber auch die administrative Machtfülle der höheren Amtsträger war an fixierte Regelsetzungen gebunden, die Suspendierung der Freiheitsrechte im Königreich blieb immer eine partielle.6 Es besteht kein Zweifel daran, dass zahlreiche Handlungsfelder und Phasen bestanden, in denen der Warschauer Generalgouverneur Skalon eine Politik der harten Hand verfolgte. Die Periode des Kriegsrechts war unruhig und sie war gewalttätig. Es war eine Phase, die von Massenstreiks und Fabrikschließungen ebenso wie von politischen Morden und Exekutionen geprägt war. Die berüchtigten Kriegsfeldgerichte waren zwar nur bis zum April 1907 aktiv, doch die Zahl der im gesamten Russischen Reich gefällten Todesurteile blieb bis 1909 konstant hoch.7 Warschau und das Königreich Polen stellten im reichsweiten Vergleich auch bezüglich dieser Repressionsmaßnahmen ein Zentrum der Gewaltintensität dar. So war der Prozentsatz vollstreckter Todesstrafen nur in Moskau und Wilna höher.8 Zugleich erreichten im Weichselland auch die administrativen Verbannungen ihren Höhepunkt in den Jahren 1907–08, als mit mehr als 8.500 Fällen ungefähr ein Drittel aller Verbannungsurteile im Reich überhaupt durch den Warschauer Generalgouverneur ausgesprochen wurden.9 Im Königreich Polen stellte zugleich die allgemeine Kriminalität ein allgegenwärtiges Problem dar, da die Behörden auch unter dem Kriegsrecht die illegale Zirkulation von Feuerwaffen nicht in den Griff bekamen.10 Das konstant hohe Gewaltniveau trug dazu bei, dass der Generalgouverneur es weiterhin für notwendig hielt, das Militär regelmäßig zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung

|| 5 AGAD, KGGW, sygn.5855, kart.1–3 [Bericht des WOPM an den WGG, 2.4.1907]; kart.4–5v [Schreiben des WOPM an den Stadtpräsidenten, 2.4.1907]. 6 Vgl. z. B. Stefan Kieniewicz: Warszawa w latach 1795–1914, Warschau 1976, S. 297–304. 7 Vgl. Jörg Baberowski: Autokratie und Justiz, S. 763; Don C. Rawson: The Death Penalty, S. 48–50. 8 Vgl. Jonathan W. Daly: The Watchful State, S. 44; William C. Fuller: Civil-Military Conflict, S. 182. 9 Vgl. Jörg Baberowski: Autokratie und Justiz, S. 732; Jonathan W. Daly: The Watchful State, S. 44 und S. 238. 10 AGAD, KGGW, sygn.3173, kart.1–49 [Schriftwechsel zwischen dem WOPM und dem WGG, 1907–1908]; AGAD, KGGW, sygn.3772, kart.1–13 [Schriftwechsel zwischen dem WOPM und dem WGG, 5.2.1908]. Auch Halina Kiepurska/Zbigniew Pustuła: Raporty Warszawskich Oberpolicmajstrów, Dok. 16, S. 85.

13.1 Alltag im Ausnahmezustand 1906–1909 | 377

heranzuziehen und die Aufstockung der Warschauer Garnison auf 65.000 Mann bis 1914 beizubehalten.11 Die Zeiten des Kriegsrechts waren damit auch in Polen von einer Alltäglichkeit der Gewalt und einer Allgegenwart des Militärs geprägt. Aber der Alltag im Königreich beschränkte sich keinesfalls darauf. Die Zeitgenossen gewöhnten sich nach 1906 schnell an die Permanenz der Sondersituation. Sie erlernten die Spielregeln, nach denen sie ihr Leben im Ausnahmezustand bewältigen konnten und nach denen gesellschaftliche Interaktion zu funktionieren hatte. Zudem bewirkte allein die lange Dauer des Kriegsrechts, dass dieses keine statische Konstellation blieb. Es war vielmehr von zahlreichen Aushandlungsprozessen, zwischenzeitlichen Arrangements und Feldern sowie Phasen der Zugeständnisse geprägt.12 Die Revolution von 1905 hatte zweifellos zu einer breiten gesellschaftlichen wie politischen Mobilisierung der Bevölkerung beigetragen. Die Erlebnisse der Streik-, Schüler- und Gemeindebewegungen, das eventuelle Engagement in einer der Parteiorganisationen oder bei einer der zahlreichen mehr oder weniger parteinahen Assoziationen, der Konsum der neuen Presse- und Versammlungsformen in den „Tagen der Freiheit“ und nicht zuletzt die Erfahrung, dass eine breite gesellschaftliche Bewegung dem zarischen Regime weitreichende Konzessionen abringen konnte – all dies hatte zu der breiten Integration der Bevölkerung in eine Sphäre geführt, in der Fragen zur politischen Verfasstheit des Landes und der polnischen Provinzen verhandelt wurden. Dazu trugen auch die Freiräume für gesellschaftliche Selbstorganisation bei, die der Generalgouverneur selbst im Ausnahmezustand gewährte. Die neuen Freiheiten der bürgerlichen Rechte, die sich aus den Bestimmungen vom März und den Grundgesetzen vom April 1906 ergaben, galten grundsätzlich auch für das Königreich. Durch das Kriegsrecht waren sie jedoch partiell suspendiert. Insofern war es das Resultat einer gezielten Duldungspolitik des Generalgouverneurs, dass sich seit 1906 das gesellschaftliche Leben deutlich aktivierte. Grundsätzlich bestand damit in den Jahren des Kriegsrechts eine eigentümliche Gleichzeitigkeit von rechtlichem Ausnahmezustand und alltäglicher Gesellschaftlichkeit, von Destruktion durch Repressionsmaßnahmen oder Terrorakte und von „Aufbauarbeit“ im traditionellen positivistischen Sinne.

|| 11 AGAD, KGGW, sygn.5105, kart.1–138, sygn.5227, kart.1–115 und sygn.5300, kart.1–117 [Korrespondenz zu Truppenverlegungen, 1905–07]. 12 Ähnlich bei Alf Lüdtke/Michael Wildt: Einleitung, S. 23.

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Zu Letzterem trugen in erheblichem Maße die legalisierten oder zumindest tolerierten politischen Parteien bei. Ihre Aktivitäten in den Wahlkämpfen zu den Dumawahlen eröffneten neue Foren für politische Meinungsbildung und Ansätze einer modernen Massenpolitik. Als sich bei der zweiten Dumawahl im Winter 1906–07 auch Teile des sozialistischen Parteispektrums zur Beteiligung entschlossen, erhielt der Konkurrenzkampf um die Repräsentationshoheit polnischer Interessen in St. Petersburg eine neue Dimension. Die nationaldemokratischen Parteiorganisationen konnten dieses direkte Duell für sich entscheiden. Das lag zum einen daran, dass sie zusammen mit den „Realpolitikern“ und „Progressiven“ das überparteiliche Bündnis der „Nationalen Konzentration“ ins Leben riefen und damit eine kluge Koalitionspolitik betrieben. Zum anderen forcierten sie aber auch stärker als ihre sozialistischen Gegner eine professionalisierte Massenpolitik, die über eine Vielzahl von parteinahen Organisationen die verschiedenen Wählersegmente gezielt ansprach und dies durch ein breites Spektrum an Presseorganen unterstützte.13 Auch hier hatte die Duldungspolitik der imperialen Behörden ihren Anteil. Denn anders als bei den sozialistischen Parteien behinderten die zarischen Autoritäten die nationaldemokratischen Aktivitäten kaum. In einer Auflistung, in der Skalon im November 1906 die „revolutionären Gruppierungen“ identifizierte, fehlten die Nationaldemokraten.14 Die Mobilisierungsstrategien der Nationaldemokraten und des von ihnen angeführten Bündnisses der Nationalen Konzentration zeitigten Erfolge: Es gelang ihnen, bei der zweiten Dumawahl eine hohe Wahlbeteiligung selbst in entlegenen Regionen des Königreichs zu erreichen, zugleich dominierten sie die Wahlmännerversammlung ebenso wie den polnischen Delegiertenkreis, der im Februar 1907 in den Taurischen Palast einzog.15 Ein vergleichbar starkes politisches Engagement ließ sich nach der Wahlrechtsänderung, die Stolypin per Notverordnung am 3. Juni 1907 durchsetzte, nicht mehr erreichen. Die Benachteiligung, die dieser Coup d'État für das Königreich Polen bedeutete, war dafür zu einschneidend. Angesichts einer Reduzierung der polnischen Abgeordneten von ursprünglich 37 Delegierten auf nur noch 14 und der Einführung einer „russischen Wahlkurie“ in Warschau, die

|| 13 Vgl. dazu im Detail Pascal Trees: Wahlen im Weichselland, S. 271–309. 14 Rundschreiben Skalons vom 15.11.1906, zitiert bei Pascal Trees: Wahlen im Weichselland, S. 279. 15 Vgl. Edward Chmielewski: The Polish Question in the Russian Duma, Knoxville 1970, S. 36–43.

13.1 Alltag im Ausnahmezustand 1906–1909 | 379

einen der beiden Abgeordneten aus der Metropole bestimmen durfte, war die Frustration im Weichselland flächendeckend.16 Dennoch hatten die Wahlgänge der Jahre 1906 und 1907 einen nachhaltigen Effekt. Denn die Begegnung mit Parteiagitation und die Teilhabe an den (indirekten) Wahlen wurden hier zu einer breiten gesellschaftlichen Erfahrung, die auch zuvor abgeschottete Kreise mit einer politischen Sphäre vertraut machte. Die Mitgliederzahlen der Parteien und ihrer Suborganisationen belegen, wie breit ein zwischenzeitliches politisches Engagement in der lokalen Gesellschaft verankert war.17 Die Erfahrung von Teilhabe an gesellschaftlich relevanten Entscheidungen blieb keinesfalls auf die Parteiaktivitäten und Wahlkämpfe beschränkt. Gerade die Gewerkschaftsbewegung der Jahre 1906–07 sorgte im Königreich dafür, dass diese auf eine breite soziale Basis gestellt wurde. Obwohl das geltende Kriegsrecht die in den Grundgesetzen verankerte Verbands- und Versammlungsfreiheit erheblich einschränkte, gestatteten die zarischen Behörden zunächst eine Vielzahl von inner-, aber auch überbetrieblichen Interessenvertretungen der Belegschaften.18 Der Zenit der Gewerkschaftsbewegung im Königreich war allerdings schnell überschritten. Bereits im Verlauf des Jahres 1906 verweigerten die zarischen Behörden einer Vielzahl von Organisationen die Registrierung oder entzogen ihnen nach kurzer Existenz die Genehmigung. In der Auseinandersetzung mit den Arbeitgebern erlebten die Gewerkschaften während des „großen Lockout“ in Lodz ein Fiasko. Im Zuge des Arbeitskampfes, der sich vom Dezember 1906 bis zum April 1907 hinzog, gelang es den Lodzer Fabrikbesitzern, die streikenden Arbeiter und die sie unterstützenden Gewerkschaften niederzuringen.19 So kurzlebig diese Periode breiter gewerkschaftlicher Selbstorganisation damit war, so sehr trug sie doch zu der allgemeinen Mobilisierung der Gesellschaft bei. Viele der Aktivisten der Gewerkschaftsverbände aus den Jahren 1906 und 1907 sollten in der Folgezeit in den zahlreichen gesellschaftlichen Organisationen ihre Aktivitäten fortsetzen. Zugleich prosperierte eine Öffentlichkeit, die das gesamte Weichselland umfasste. Nach 1906 etablierten sich neue Foren, die kontinuierlich und raum-

|| 16 Czesław Brzoza/Kamil Stepan (Hrsg.): Posłowie Polscy w parlamencie rosyjskim 1906–1917. Słownik biograficzny, Warschau 2001, S. 7–8 und S. 14–15; Pascal Trees: Wahlen im Weichselland, S. 320–329. 17 Vgl. Pascal Trees: Wahlen im Weichselland, S. 336–337 und S. 356–366. 18 Vgl. dazu im Detail Robert E. Blobaum: Rewoljucja, S. 108–114. 19 Vgl. Marian Kamil Dziewanowski: The Polish Revolutionary Movement, S. 389; Richard D. Lewis: Labor-Management Conflict in Russian Poland: The Łódź Lockout of 1906–1907, in: East European Quarterly, 7 (1974), S. 413–434.

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übergreifend die verschiedenen und separierten Teilöffentlichkeiten zu einem größeren Diskussionsverbund zusammenschlossen. Das mächtigste Medium war hier die Presse. Diesbezüglich bedeuteten die Grundgesetze tatsächlich einen tiefen Einschnitt. Denn seit den Kaiserlichen Erlassen zum Pressewesen von 1905–1906 existierte keine Vorzensur mehr. Das galt auch für das unter Kriegsrecht stehende Königreich Polen. Zwar hatte der Generalgouverneur erweiterte Vollmachten, um vermeintlich aufrührerische Veröffentlichungen zu unterbinden – an der Aufhebung der Vorzensur änderte dies jedoch nichts. Wichtiger war aber noch, dass die neuen Freiheiten zu einer schnellen Expansion des Pressewesens im Königreich führten. Zahlreiche neue Tages- und Wochenzeitungen wurden in der Folgzeit gegründet; das Spektrum von Presseorganen differenzierte sich in den politischen Orientierungen, aber auch in den inhaltlich-stilistischen Zuschnitten für spezielle Lesermilieus erheblich aus. Zugleich prosperierten die billigen Massenblätter. Laut Statistik des Warschauer Komitees für Druckangelegenheiten waren zum 1. Januar 1908 mehr als 100 Zeitungen und Zeitschriften allein in Warschau registriert. Das war nicht gerade wenig für die Zeiten des geltenden Ausnahmezustands.20 Neu waren aber nicht nur Vielfalt und Auflagenstärke der Zeitungen und Zeitschriften, neu war ebenso ihre Thematisierung von politisch brisanten Fragen. Die zarischen Behörden duldeten eine erstaunlich offene Debatte über notwendige Reformen, mit denen gegenwärtigen Problemen zu begegnen sei. Gleiches galt für den ebenfalls expandierenden Buchmarkt: Auch hier wurde ein Kommunikationsraum gewährt, in dem Streitthemen mit großem Konfliktpotential zur Sprache gebracht werden durften. Die imperialen Beamten hatten offensichtlich inzwischen akzeptiert, dass das Politische eine Sphäre war, in die sich auch gesellschaftliche Meinungsträger einbringen konnten.21 Und so konnte die anstehende Einführung städtischer Selbstverwaltung im Königreich breit diskutiert werden.22 Zugleich war es möglich, grundlegende Aspekte der „polnischen Frage“ zur Sprache zu bringen. Vor allem die Auseinandersetzung um einen möglichen Autonomiestatus des Weichsellands erhitzte die Gemüter und motivierte ein breites Spektrum an Polemik. Zweifellos bestanden hier Grenzen des Sag- und Schreibbaren und generell griff der Generalgouverneur mit seinen || 20 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.77, kart.77–79v [Auflistung der Zeitschriften in Warschau, Januar 1908]; AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.21, kart.1–565 [Erfassung von Pressepublikationen, 1901–1912]. 21 Vgl. Walter Sperling: Semantiken des Politischen. 22 Adolf Suligowski: Projekty ustaw samorzadu miejskiego w Krolestwie Polskiem, Warschau 1906; Adol’f F. Suligovskij: Istoričeskaja zapiska ob upravlenie gorodami v Carstve Pol’skom, Warschau 1906.

13.1 Alltag im Ausnahmezustand 1906–1909 | 381

administrativen Vollmachten steuernd in den Meinungsmarkt ein, indem er russische Stimmen, die sich kritisch und ablehnend gegenüber weiteren „Konzessionen“ an einen Sonderstatus Polens äußerten, bevorzugte. Regelmäßig ließ Skalon polnische Publikationen konfiszieren, wenn in ihnen „der Hass gegen Russland geschürt“ oder „der Traum eines unabhängigen Polens geweckt“ wurde.23 Anders jedoch als zu Zeiten der Vorzensur sah sich der Generalgouverneur nach 1906 kaum noch in der Lage, den Transfer von Publikationen zwischen den russischen Publikationszentren und dem Königreich zu unterbinden. In Petersburg, Moskau oder Kiew publizierte Schriften zur „polnischen Frage“ waren auf diese Art nun problemlos in Warschau zu erhalten und zu rezipieren. Von der Existenz „geistiger Zollschranken“ konnte keine Rede mehr sein. Möglicherweise war es aber auch gar nicht die Absicht des Warschauer Generalgouverneurs, der öffentlichen Meinungsbildung zu enge Beschränkungen zu setzen. Denn nicht nur im Bereich des Presse- und Publikationswesens lässt sich eine Duldungspolitik nachzeichnen, die erstaunlich große Spielräume für gesellschaftliches Engagement und öffentliche Willensbekundung öffnete. Am deutlichsten wird sie zweifellos bei der Genehmigung von Vereinen und Verbänden, die sich nicht explizit politischen Zielen verschrieben hatten. Denn hier folgte dem Inkrafttreten der Grundgesetze eine regelrechte Gründungswelle, der sich Skalon kaum behindernd in den Weg stellte. Sei es die bereits 1906 konstituierte Polnische Heimatkundliche Gesellschaft (Polskie Towarzystwo Krajoznawcze), sei es der Verein zum Schutz von Frauen, die 1907 gegründete Warschauer Wissenschaftsgesellschaft, die Gesellschaft für Obdachlosenheime und Suppenküchen oder der Jüdische Wohltätigkeitsverein – gerade im Feld von Philanthropie sowie Kultur- und Wissenschaftspflege fächerten sich die institutionellen Strukturen gesellschaftlicher Selbstorganisation in diesen Jahren erheblich aus.24 Viele dieser Organisationen gaben sich einen betont apolitischen Anstrich. Sie lassen sich jedoch kaum als Institutionen abseits der politischen Sphäre verstehen. Denn die lange Tradition des Warschauer Positivismus lebte hier fort: Das Engagement für die kulturelle, geistige und auch ökonomische Entwicklung der Nation war in diesem Verständnis ein politischer Auftrag. Das war auch dem Generalgouverneur bewusst, der sich kaum von einem vermeintlich

|| 23 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.77, kart.5 [Beschluss des WGG, 31. Okt. 1907]. 24 AGAD, KGGW, sygn.7221, kart.1–17 [Schriftverkehr zur Gesellschaft für Obdachlosenheime, 1907]; AGAD, KGGW, sygn.7511, kart.1–9 [Korrespondenz zum Verein zum Schutz der Frauen, 1908]. Karol Hoffman: Słowo wstępne, in: Karol Hoffman (Hrsg.): Krajoznawcy Polscy, Warschau 1909, S. 1.

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apolitischen Charakter einer Einrichtung wie der Freiwilligen Feuerwehr oder der Warschauer Medizinischen Gesellschaft blenden ließ.25 Es hatte also andere Gründe, wenn die zarischen Entscheidungsträger das lokale Vereinswesen selbst in Zeiten des Kriegsrechts prosperieren ließen. Ganz offensichtlich hatte sich zumindest in der Wahrnehmung Skalons das Experiment der Jahreswende 1905–06 bewährt. Die Strategie, die Kooperation mit den als gemäßigt eingeschätzten Teilen der Gesellschaft zu suchen, während gleichzeitig die Repressionsmaßnahmen gegen die radikalen Oppositionskräfte forciert wurden, blieb eine Konstante in der Vorgehensweise des Generalgouverneurs. Und so ist auffällig, dass im scharfen Kontrast zu den Jahren vor 1905 nun in den Zeiten des Kriegsrechts polnische Experten zur Mitarbeit an Verwaltungsgeschäften geladen wurden.26 Zu dieser Politik der Zugeständnisse gehörte zweifellos auch die relativ laxe Handhabung bei der Genehmigung von Vereinen und Verbänden, zumal dies den positiven Effekt hatte, dass auf der polnischen Seite institutionell sichtbare Ansprechpartner entstanden.27 Einer allgemeinen Aktivierung gesellschaftlichen Lebens stand der Generalgouverneur somit keinesfalls ablehnend gegenüber. Mehr noch: Er genehmigte und befürwortete ausdrücklich das Engagement zarischer Beamter an polnischen Wohltätigkeitsvereinen und forderte ihren ehrenamtlichen Einsatz.28 All dies führte dazu, dass neue Formen der Kohabitation von Staat und Gesellschaft auf der Seite der imperialen Amtsträger zur akzeptierten Norm, ja, zur Normalität wurden. 1905 hatte in dieser Hinsicht einen Gewöhnungsprozess bedeutet. Trotz ihrer autokratischen Grundeinstellung gewöhnten sich auch die obersten zarischen Beamten schnell an die legale Existenz von Parteien, Gewerkschaften und einer kritischen Presseöffentlichkeit.29 Ein solcher Prozess deeskalierte in vielem das Zusammentreffen von mobilisierter Gesellschaft und

|| 25 AGAD, KGGW, sygn.7531, kart.1–38 [Briefverkehr zwischen dem WGG und der Warschauer Medizinischen Gesellschaft, 1908–11]. 26 AGAD, KGGW, sygn.5820, kart.47–55 [Kommissionsbericht des Sonderbeauftragten Gjunter, 1.12.1907]; AGAD, KGGW, sygn.7709, kart.148 [Bericht des WGG an das Innenministerium, 10.1.1909]. 27 Vgl. Dittmar Dahlmann: Sympathie, Furcht und ökonomisches Interesse. Die Unternehmer des Zarenreiches in der Revolution 1905/06, in: Jan Kusber/Andreas Frings (Hrsg.): Das Zarenreich, das Jahr 1905 und seine Wirkungen. Bestandsaufnahmen, Münster 2007, S. 121–144, S. 125–131. 28 AGAD, KGGW, sygn.7722, kart.9–14v [Schreiben des Stadtpräsidenten an den WGG, 13.10.1908]. 29 Vgl. auch Manfred Hagen: Entfaltung politischer Öffentlichkeit, S. 372.

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Staat. Die überraschende Ruhe, die am traditionell umkämpften 1. Mai im Jahr 1907 in Warschau herrschte, mag das veranschaulichen.30 Die Aktivierung der Gesellschaft wurde somit von den zarischen Behörden nicht mehr als grundlegende Bedrohung des status quo interpretiert. Dennoch stellte das Kriegsrecht die Instrumentarien bereit, die es dem Generalgouverneur erlaubten, jederzeit abrupt und substantiell in Entwicklungen einzugreifen, die aus seiner Sicht bedrohliche Züge annahmen. Nichts zeigt die Pendelbewegungen zwischen gewährten Gestaltungsspielräumen und ihrer schlagartigen Beendung durch ein administratives Dekret eindringlicher als die kurze und wechselhafte Geschichte des Polnischen Schulvereins (Polska Macierz Szkolna). Sie verdeutlicht exemplarisch, wie instabil die Verhältnisse für eine gesellschaftliche Selbstorganisation in den Zeiten des Kriegsrechts waren. Der Polnische Schulverein war bereits im April 1905 von Vertretern nationaldemokratischer und positivistischer Organisationen gegründet worden und hatte nach den Gesetzen vom März 1906 einen offiziellen Genehmigungsantrag beim Generalgouverneur gestellt.31 Generell waren die Bedingungen für eine partielle Polonisierung des Schulwesens nicht ungünstig. Im März 1906 instruierte das Bildungsministerium den neuen Warschauer Kurator Belaev, dass auch in staatlichen Schulen der Unterricht teilweise auf Polnisch stattfinden konnte. Es waren diese Konzessionen im Bereich der staatlichen Schulen, die zweifellos dazu beitrugen, dass Skalon die Legalisierung der Polska Macierz Szkolna zunächst verschleppte. Denn die zarischen Autoritäten erhofften sich zunächst eine Wiederbelebung der Staatsschulen, die von einem beträchtlichen Teil der Schülerschaft weiterhin boykottiert wurden. Diese Hoffnungen gingen jedoch nicht in Erfüllung, da die Skepsis von Seiten der polnischen Gesellschaft gegenüber den „Regierungsschulen“ zu groß war. Der Generalgouverneur beugte sich letztlich dem gesellschaftlichen Druck und genehmigte im Sommer 1906 der Polska Macierz Szkolna, ein Netz von privaten Bildungsstätten zu eröffnen.32 Die Träger des Schulvereins waren in der langen Warteschleife der Legalisierung nicht untätig geblieben und hatten sich systematisch vorbereitet. So konnten bereits 1907 mehr als 680 Einrichtungen mit circa 7.000 Schülern sowohl im Grundschul- wie auch im Mittelschulbereich registriert werden. Für das Folgejahr beantragte der Schulverein gar die Registrierung von mehr als || 30 GARF, f.1463, op.2, d.370–372, l.60 [Tagebuch Apollon A. Benkevič’, Eintrag vom 18.4.1907]. Bericht des französischen Konsuls vom 4.5.1907, zitiert in Katarzyna Beylin: W Warszawie w latach 1900–1914, S. 249–250. 31 AGAD, KGGW, sygn.2581, kart.49–51 [Bericht des WGG an Bildungsminister, 26.7.1906]. 32 Vgl. dazu Robert E. Blobaum: Rewoljucja, S. 178–179.

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1.200 Schulen, von denen die zarischen Behörden jedoch nur die Hälfte genehmigten.33 Hier deutete sich bereits an, dass der Generalgouverneur die bildungspolitischen Tätigkeiten der Endecja und der ihr untergeordneten Nationalen Organisation (Organizacja Narodowa) zunehmend beargwöhnte. Skalon war der Erfolg dieses rasch expandierenden Netzwerkes aus polnischsprachigen Schulen nicht geheuer, denn hier entstand ein polnisches Parallelsystem, das für die Regierungsschulen eine bedrohliche Konkurrenz darstellte. Wenngleich die Schärfe des Boykotts staatlicher Schulen 1907 nachgelassen hatte, so war die Verweigerungshaltung der polnischen Gesellschaft gegenüber den ungeliebten „russischen“ Schulen weiterhin hoch. Im Dezember 1907 entschloss sich Skalon zu dem radikalen Schritt, den Polnischen Schulverein zu verbieten. Als Begründung nannte der Generalgouverneur die angeblich zahlreichen Verstöße gegen die Vorschrift, bestimmte Unterrichtsanteile auf Russisch durchzuführen. Der Schulverein musste daraufhin seinen Betrieb einstellen – ein Ende für das breite Netz an polnischsprachigen Privatschulen bedeutete dieses Verbot jedoch keineswegs. Etliche der Einrichtungen wurden von Privatpersonen fortgeführt. Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg bestanden immerhin 800 derartige private Grundschulen und 191 Mittelschulen im Königreich, die von mehr als 70.000 Grund- beziehungsweise von knapp 40.000 Mittelschülern besucht wurden.34 Die kurze und wechselhafte Geschichte der Polska Macierz Szkolna verdeutlicht, wie eng die Grenzen gesellschaftlicher Selbstorganisation selbst unter den Vorzeichen einer Dialogbereitschaft auf Seiten der zarischen Administration gesteckt waren. Sobald die Autoritäten eine Bedrohung des status quo auszumachen glaubten, waren sie jederzeit bereit, auch die Institutionen der eigentlichen Gesprächspartner aufzulösen. Es gehörte zu den Paradoxien einer solchen wechsel-, ja sprunghaften Politik der zarischen Autoritäten, dass mit dem Schulverein eine der zentralen Einrichtungen der vermeintlich verbündeten Nationaldemokraten deutlich früher als die Konkurrenzinstitution des sozialistischen Lagers aufgelöst wurde. Es war kein Geheimnis, dass die im Dezember 1905 auf Initiative von Warschauer Intellektuellen gegründete Universität für Alle (Uniwersytet dla Wszystkich) der sozialistischen Bewegung nahe stand.35 || 33 Robert E. Blobaum: Rewoljucja, S. 181–182. AGAD, KGGW, sygn.2723, kart.6–6v [Gouverneur von Siedlce an den WGG, 30.10.1906]. 34 Siehe Edmund Staszyński: Polityka oświatowa caratu w Królestwie Polskim. Od powstania styczniowego do I wojny światowej, Warschau 1968, S. 207–209 und S. 238–240. 35 AGAD, KGGW, sygn.4349, kart.4–6v [Beschwerde der Gesellschaft „Universität für Alle“ an den WGG, 19.7.1908]; AGAD, KGGW, sygn.4349, kart.15 [Auskunft der Sicherheitsabteilung, 1.8.1908].

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Dennoch konnte die Organisation in den Folgejahren ihre Bildungsaktivitäten relativ ungehindert entfalten und eine ganze Reihe von Abendkursen, Vorlesungen oder Ausstellungen an verschiedenen Orten im Königreich durchführen.36 Der Generalgouverneur ließ die Institution erstaunlich lange gewähren. Erst im Oktober 1908 ordnete er die Schließung der Universität für Alle an.37 Solche Beispiele zeugen davon, dass die Eingriffe des Generalgouverneurs in das sich entwickelnde Gefüge aus kulturellen Institutionen oft unsystematisch waren und nicht klar der taktischen Marschrichtung einer Bevorteilung der nationaldemokratischen Kräfte bei gleichzeitiger Benachteiligung der sozialistischen Bewegung folgten. Zudem demonstrieren die Fälle, wie abrupt und einschneidend der Generalgouverneur in das junge gesellschaftliche Leben im Königreich eingreifen konnte. Eine derartige Entscheidungsgewalt beschränkte sich keinesfalls auf politische Institutionen. Skalon ordnete gleichfalls Schließungen von Bierhallen an und erließ Bestimmungen, um die Prostitution in Warschau einzudämmen, eine „ordentliche Garderobe“ für Zeitungsverkäufer vorzuschreiben und den Handel auf den Straßen Warschaus zu regulieren.38 Er nutzte seine Vollmachten ebenso bei dem Vorgehen gegen kriminelle Delikte,39 wie er für die Steuerung bäuerlicher Migration nach Sibirien auf die Möglichkeiten der „bindenden Beschlüsse“ zurückgriff.40 Es erwies sich als verlockend einfacher Weg, dringende Fragen der Gouvernementsverwaltung qua administrativer Anordnung zu entscheiden. Über die langen Jahre des dauerhaften Kriegsrechts veralltäglichte sich eben diese Entscheidungshoheit des Generalgouverneurs. Sie wurde zu einem Faktor, mit dem die konkurrierenden gesellschaftlichen, ökonomischen oder politischen Kräfte spekulierten und den sie zu instrumentalisieren suchten. Und so wandten sich die Warschauer Fischhändler ebenso wie eine Vielzahl von Interessengruppierungen und Einzelpersonen direkt an den Generalgouverneur. Sie

|| 36 Vgl. Kazimierz Wojciechowski: Encyklopedia oświaty i kultury dorosłych, Wrocław 1986, Artikel „Uniwersytet dla Wszystkich (UdW)“. 37 AGAD, KGGW, sygn.4391, kart.1–87 [Schriftverkehr des WGG zur Schließung der Uniwersytet dla Wszystkich, 1908–12]. 38 AGAD, KGGW, sygn.4160, kart.1–28; AGAD, KGGW, sygn.4428, kart.1–3 [Schriftwechsel zur Schließung von Bierhallen, 1908–09]; AGAD, KGGW, sygn.703, kart.1–1v [Brief des WOPM an den WGG, 23.3.1907]. 39 AGAD, KGGW, sygn.950, kart.1–14 [Korrespondenz zur Anschuldigung gegen M. Ceritelli, Mai-Oktober 1908]. 40 AGAD, KGGW, sygn.8866, kart.32–33 [Direktive des WGG an alle Gouverneure des Königreichs, 26.6.1907].

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alle wurden von der Hoffnung geleitet, dass Skalon in der Machtfülle seines unmittelbaren Regiments zu ihren Gunsten entscheiden werde.41 Bereits im letzten Jahr des Ausnahmezustands vermehrten sich jedoch die Anzeichen, dass sich die Situation im Königreich stabilisierte und ein gesellschaftliches Leben zunehmend normalisierte. Es lässt sich ein gradueller Rückzug des Generalgouverneurs von der interventionistischen Politik durch administrative Anordnungen nachzeichnen. Die allgemeine wirtschaftliche Situation im Königreich begann sich seit 1907 schnell zu erholen; Massenarbeitslosigkeit verschwand als soziales Problem. 1908 beendeten die nationaldemokratischen und liberalen Kräfte öffentlich den Schulboykott und an der Kaiserlichen Universität wurde der normale Lehrbetrieb zum Wintersemester 1908–09 wieder aufgenommen.42 Gleichzeitig stimmte der Generalgouverneur bei einer Vielzahl von Fällen einer Rückkehr aus der Verbannung oder auch einer Wiedereinstellung nach zwischenzeitlicher Suspendierung vom Arbeitsplatz zu.43 War es während der revolutionären Wirren zur Konfiszierung von Eigentum gekommen, so durften nun die ehemaligen Besitzer auf Rückerstattung hoffen.44 All diese Anordnungen des Generalgouverneurs resultierten aus Aushandlungsprozessen, in denen sich die jeweiligen Betroffenen direkt an Skalon wandten.45 Die relative Milde, die Skalon in der Schlussphase des Kriegsrechtzustands an den Tag legte, fußte auf dem Wissen, dass die Bedrohung durch die revolutionären Kräfte weitgehend gebannt war. Die PPS-Kampfgruppen und ähnliche Formationen waren inzwischen im Königreich weitgehend isoliert. Dazu hatte zweifellos der Terror beigetragen, mit dem sich die Gewaltakteure immer mehr gegen vermeintliche Kollaborateure innerhalb der lokalen Gesellschaft und gegen parteipolitische Konkurrenten richteten. Die Exekution von Fabrikanten, wie die von Mieczysław Silberstein in Lodz, oder die blutige Vendetta zwischen der PPS und der Endecja, die allein in Lodz bis 1907 mehr als 700 Opfer (davon

|| 41 AGAD, KGGW, sygn.6302, kart.5–5v [Gesuch des Bürgers B. Sobczak an den WGG, 5.11.1908]; AGAD, KGGW, sygn.6072, kart.1–2 [Gesuch der Fischhändler an den WGG, 30.10.1908]. 42 AGAD, PomGGW, sygn.378, kart.108 [Agenturberichte aus dem Königreich, 1912]. 43 AGAD, PomGGW, sygn.1149, kart.1–335 [Schriftwechsel zu Gesuchen zur Rückkehr aus der Verbannung, 1908–1909]; AGAD, KGGW, sygn.3772, kart.1–447 [Schriftwechsel zu Gesuchen zur Rückkehr aus der Verbannung, 1908–1910]. 44 AGAD, KGGW, sygn.2767, kart.27 [Brief der Warschauer Gouvernementsverwaltung an den WGG, 18.10.1908]. 45 AGAD, KGGW, sygn.3772, kart.59 [Schreiben des WGG an den WOPM, 17.7.1908]; AGAD, KGGW, sygn.2676, kart.1–103 [Korrespondenz zur Rückkehr aus der Verbannung, 1908].

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322 Tote) forderte, schwächten den gesellschaftlichen Rückhalt der Attentäter.46 In der Isolation der terroristischen Untergrundzelle eskalierte die Gewalt soweit, dass selbst Mordanschläge auf Schüler gerechtfertigt schienen, wenn diese sich in der Uniform staatlicher Bildungseinrichtungen auf Warschauer Straßen bewegten. So schossen Gewalttäter im Jahr 1907 mehrfach auf uniformierte Schüler und verletzten einige von ihnen schwer.47 Derartige Mordversuche an Minderjährigen, denen allein der Bruch des Schulboykotts vorgeworfen werden konnte, diskreditierten die Untergrundkämpfer. Als sich im Folgejahr die Übergriffe häuften und fast täglich gewaltbereite Boykotteure Studenten und Schüler auf offener Straße überfielen, mit Messern attackierten oder mit Knüppeln krankenhausreif schlugen, kam es zu einem Sturm der Entrüstung in der polnischen Öffentlichkeit.48 Anders als im inneren Russland, wo sich die Kadetten beharrlich weigerten, den politischen Terror zu verurteilen, distanzierten sich in Warschau zahlreiche gewichtige Meinungsträger von den Gewalttaten der revolutionären Splittergruppen.49 Angesichts der allgemeinen Beruhigung der Situation im Königreich entschied sich der Generalgouverneur 1909 zur formalen Aufhebung des Kriegsrechts. Was 1903 mit einer rapiden Erosion staatlicher Autorität im Weichselland begonnen hatte, mündete in ein wiedererstarktes Petersburger Regiment. In der Wahrnehmung ihrer Amtsträger gehörte es zu den Lehren aus der Revolution, dass sich die russische Herrschaft in der langen Kette polnischer Aufstände ein weiteres Mal als siegreich erwiesen hatte. Die Erfahrung eigener Ohnmacht angesichts der gesamtgesellschaftlichen Erhebung des Jahres 1905 verblasste schnell und wich der Gewissheit, die nötigen Mittel zum Machterhalt in den Händen zu halten. Bei den Beamten im Weichselland breitete sich jedenfalls keine Endzeitstimmung aus. Nichts deutete darauf hin, dass die Tage russischer Präsenz in Polen gezählt seien. Mit dieser unerschütterlichen Selbstsicherheit begaben sie sich auch in die dynamische Periode nach dem Kriegsrecht.50 || 46 Vgl. dazu Robert E. Blobaum: Rewoljucja, S. 223–225. Vgl. auch P. P. Zavarzin: Rabota tajnoj policii. Vospominanija, Paris 1924, S. 137–139. 47 AGAD, KGGW, sygn.2581, kart.79 [Schreiben des Kurators an den WGG, 14.2.1907]; zu anderen Vorfällen siehe AGAD, KGGW, sygn.2581, kart.80–81 [Bericht über Vorkommnisse in Warschau, 3.5.1907]. 48 AGAD, KGGW, sygn.7739, kart.16–17 [Auflistung des WOPM von Übergriffen auf Studenten, 16.9.1908]; AGAD, KGGW, sygn.4405, kart.1 [Bericht des WOPM an den WGG, 27.10.1908]. 49 AGAD, KGGW, sygn.7739, kart.52 [Auszug aus Goniec, Nr. 501, 30.10.1908, S. 1]; kart.82 [Auszug aus Kurier Warszawski, Nr. 303, 19.10.1908, S. 1]. 50 Vgl. auch L. E. Gorizontov: Paradoksy imperskoj politiki, S. 219. Siehe grundsätzlich zu Endzeitstimmungen in imperialen Krisenphasen demnächst Peter Haslinger/Malte Rolf (Hrsg.): Untergangsszenarien und Zukunftsvisionen in den Imperien des östlichen Europa.

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13.2 Rückkehr der Normalität? Gesellschaftliches Leben und politische Öffentlichkeit in Zeiten von Parlamentarismus und Pressefreiheit. Warschau 1909–1914 Das Jahr 1909 markierte keine klare Zäsur. Es war eher ein fließender Übergang aus der Spätphase eines Kriegsrechts, das sich kaum noch bemerkbar machte, in eine Periode der „Normalisierung“, in der die zarischen Behörden weiterhin auf militärische Mittel zurückgriffen, wenn der Erhalt öffentlicher Ordnung gefährdet schien. Auch nach Beendigung des allgemeinen Kriegsrechts blieb in einigen polnischen Provinzen der Zustand der usilennaja ochrana bestehen und war von einer nachhaltigen Befriedung der Situation im Königreich nur bedingt zu sprechen. Nicht nur setzten sich Anschläge auf die zarischen Autoritäten fort und gewannen die Auseinandersetzungen um die „polnische Frage“ erneut an Schärfe. Auch die innergesellschaftlichen Konflikte bewegten sich weiterhin auf einem hohen Niveau der Gewalttätigkeit, während der jüdisch-katholische Antagonismus in den Jahren unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf eine neue Eskalation zusteuerte.51 Dennoch bewirkte das Ende des Kriegsrechts eine spürbare Veränderung im gesellschaftlichen Leben des Königreichs. Eine sich nun ungebremster entfaltende Öffentlichkeit offenbarte bereits 1909 ihre zuvor ungekannte Macht. Die von der Warschauer Tageszeitung Goniec losgetretene Enthüllungskampagne brachte die imperiale Bürokratie auf der Ebene der Stadtverwaltung schnell in Bedrängnis. Noch im gleichen Jahr musste der Stadtpräsident Viktor Litvinskij seinen Hut nehmen und wurden mehrere Amtsinhaber der Bestechlichkeit angeklagt.52 Sicherlich richtete sich die erfolgreiche Skandalisierung von Verwaltungsmisswirtschaft in der Presse nicht gegen die Kanzlei des Generalgouverneurs und somit das imperiale Machtzentrum im Weichselland, aber sie demonstrierte doch, wozu eine kritische Öffentlichkeit in den Zeiten von Pressefreiheit fähig war. Die Behörden sahen sich nun auch in anderen Bereichen mit Anschuldigungen konfrontiert, die selbstbewusste, auf ihr Recht pochende Bürger erhoben. Und so häuften sich nach Aufhebung des Ausnahmezustands schnell die Ge-

|| 51 AGAD, PomGGW, sygn.265, kart.1–24 [Untersuchungsakten zum Anschlag auf Utgof, 1909]; AGAD, PomGGW, sygn.264, kart.1–17 [Korrespondenz zu terroristischen Attentaten, 1909]. 52 AGAD, KGGW, sygn.6247, kart.20 [Bericht der Kommission zur Untersuchung von Amtsmissbrauch im Warschauer Magistrat an den WGG, 27.8.1909]; kart.29–29v [Schreiben an Staatsanwalt Nabokov, 14.3.1909]; GARF, f.215, op.1, d.156, ll.6–6ob und l.14 [Schreiben des WGG Skalon an den Innenminister Stolypin, Oktober 1909].

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richtsklagen gegen Amtsmissbrauch und andere Verfehlungen der imperialen Verwaltung.53 Andererseits sahen sich auch die Autoritäten vermehrt gezwungen, die gerichtlichen Instanzen anzurufen. Nach der Aufhebung der Beschränkungen der Pressefreiheit kam es zu einer beträchtlichen Zunahme der Fälle, in denen die Behörden gegen einzelne Artikel oder ganze Zeitungsorgane klagten. Auch wenn die Gerichte tatsächlich eine Konfiszierung von Ausgaben oder gar die Schließung einer Tageszeitung veranlassten, reflektierte dies zugleich die beschränkten Machtbefugnisse der zarischen Bürokratie: Der einfache administrative Zugriff war hier nicht mehr möglich.54 Insgesamt lässt sich für die Jahre nach 1909 ein Aufblühen gesellschaftlichen Lebens im Königreich Polen und vor allem in Warschau verzeichnen. Eine Vielzahl von neuen Vereinen, Verbänden und ähnlichen Institutionen wurde gegründet, andere, während des Kriegsrechts verbotene Einrichtungen erlebten, oft unter anderem Namen, eine Renaissance. Nicht wenige der bereits zuvor bestehenden Organisationen konnten eine beträchtliche Erweiterung ihrer Mitgliederzahlen und öffentlichen Aktivitäten verzeichnen.55 Vor allem die Publikations- und Leselandschaft diversifizierte sich: 1913 existierten an der Weichsel 40 Buchläden, 13 Lesebibliotheken und 14 Verkaufsstände für Periodika.56 Die Belebung der städtischen Kulturlandschaft hing zweifellos auch damit zusammen, dass Warschau sich seit 1907 zu einem Boomtown entwickelte. Die allgemeine wirtschaftliche Erholung im Königreich führte gerade in der Hauptstadt des Weichsellands zu einer teilweise hektischen Aktivität, die nicht nur den Baubereich oder den Verkehr betraf. Solche kulturellen Großprojekte wie das geplante Kino „Phänomen“ für mehr als 1.600 Zuschauer und der umfassende Ausbau der städtischen Theater reflektierten die steigende Nachfrage nach

|| 53 GARF, f.222, op.1 (Kanzlei des Staatsanwalts der Warschauer Gerichtskammer), d.1822, ll.1– 52 [Anklage gegen den Direktor des Jungengymnasiums in Pułtusk, 1909–10]; d.1841, ll.1–8 [Anklage gegen den Polizeimeister von Częstochowa wegen Beleidigung, 1909–10]. 54 AGAD, KGGW, sygn.4888, kart.1–19 [Korrespondenz zur Beantragung der Schließung der Zeitung Głos Wolny, 1911]. 55 Vgl. Kazimierz Wojciechowski: Encyklopedia oświaty i kultury dorosłych, Artikel „Uniwersytet dla Wszystkich (UdW)“; Karol Hoffman: Słowo wstępne, in: Karol Hoffman (Hrsg.): Krajoznawcy Polscy. Przyczynki do bibljografji krajoznawstwa polskiego, Warschau 1909, S. 1– 2. AGAD, KGGW, sygn.8054, kart.1–13 [Schriftverkehr zur Eröffnung der Wanda-PodlewskaMusikschule, 1909–11]. 56 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.29, kart.5–22 [Auflistung aller Buchläden, Bibliotheken etc., 1913]. Vgl. dazu auch Zenon Kmiecik: Prasa warszawska w latach 1908–1918, Warschau 1981.

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kultureller Unterhaltung.57 Warschau in den Jahren nach 1909 war eine quirlige, rasch wachsende Metropole und wohl kaum von der „finsteren Langeweile“ geprägt, die Aleksandr Blok bei seinem Aufenthalt an der Weichsel wahrzunehmen glaubte.58 Dieser großstädtische Wandel beeinflusste auch die Selbstverortung einer polnischen Öffentlichkeit. Ungeachtet der wirtschaftlichen Erholung, einer Beruhigung der politischen Lage und der Liberalisierungen nach Aufhebung des Kriegsrechts waren die öffentlichen Debatten vor allem ein Krisendiskurs. Viele Angehörige der polnischen Intelligencija schienen Bloks Skepsis gegenüber der modernen Metropole zu teilen. Gerade das widersprüchliche Warschau regte die Kritik an den „dunklen Seiten“ des urbanen Raums an. Hier wurde vor allem der sittliche Verfall der städtischen Gesellschaft skandalisiert: Die Weichselmetropole erschien als bedrohlicher und gewalttätiger Moloch, als Stätte verwerflicher Laster und als Hort von Krankheit, der auch als Bedrohung für die polnische Nation gedeutet wurde. Wie in anderen europäischen Metropolen auch paarte sich die Mischung aus Faszination für die Neuerungen moderner Urbanität mit dem Unbehagen über den Verlust vertrauter Gesellschaftshierarchien und Verhaltensmuster.59 Bei allem Leiden an der Stadt trug dieser vermeintlich antiurbane Diskurs des fin de siècle tatkräftig zu einer Belebung städtischer Öffentlichkeit bei, da er den literarischen und journalistischen Markt mit Streitmaterial versorgte und die Debatten zur sozialen und moralischen Selbstverortung einer städtischen Bildungselite befeuerte. So war die Polemik gegenüber dem „Sündenpfuhl“ vor allem ein Selbstgespräch der Warschauer.60 Kennzeichnend für diese Debatten über den Charakter der Stadt war ihre intensive Verknüpfung mit der Frage nach der Zukunft der polnischen Nation. Dies hing damit zusammen, dass die Aktivierung einer breiten städtischen Öffentlichkeit im Königreich gleichzeitig unter der erneuten Zuspitzung der „pol|| 57 AGAD, KGGW, sygn.1216, kart.1–23 [Korrespondenz zur Eröffnung des Kinos „Phänomen“, 1909]; AGAD, Upravlenie Varšavskich Pravitel’stvennych Teatrov, sygn.1, kart.1–33 [Auflistung der Baumaßnahmen in Staatstheatern, 10.3.1910]. 58 Siehe Aleksandr Bloks Jamben (1910–1914). Der Vater des Dichters, Aleksandr L. Blok, war Professor für Staatsrecht an der Warschauer Universität. 59 Vgl. Robert E. Blobaum: Criminalizing the „Other“, v. a. S. 83–87; Keely Stauter-Halsted: Moral Panic and the Prostitute in Partitioned Poland: Middle-Class Respectability in Defense of the Modern Nation, in: Slavic Review, 68/3 (2009), S. 557–581. 60 Vgl. dazu Nathaniel D. Wood: Becoming a „Great City“: Metropolitan Imaginations and Apprehensions in Cracow’s Popular Press, 1900–1914, in: Austrian History Yearbook, 33 (2002), S. 105–130; Nathaniel D. Wood: Urban Self-Identification in East Central Europe before the Great War: The Case of Cracow, in: East Central Europe/ECE, 33/1–2 (2006), S. 11–31.

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nischen Frage“ und einer deutlichen Zunahme der innergesellschaftlichen und vor allem der interethnischen Konflikte stattfand. Seit 1908 verstärkten sich die Anzeichen, dass die Petersburger Instanzen sich Projekte der russischen Nationalisten zu eigen machten. Wie auch gegenüber Finnland schien die Zentralregierung unter der Führung Stolypins eine massive Intervention in die inneren Angelegenheiten des Königreichs anzustreben, die sich sogar über die politische Ausrichtung des Warschauer Generalgouverneurs hinwegsetzte.61 Stolypin hatte hier in einer Rede vor der Duma unverhohlen erklärt, dass die Petersburger Regierungsmacht „Vertreterin eines nationalrussischen Herrschaftsanspruchs [sei], die nicht unparteiische Schiedsrichterin in dem russischen und polnischen Wettkampf sein dürfe.“62 Die zeitgenössischen Debatten um die Einrichtung nationaler Kurien in den Selbstverwaltungsorganen der Westgouvernements, um die Sprachenfrage bei einer städtischen Selbstverwaltung im Weichselland und um die Ausgliederung eines Gouvernements Cholm (Chełm) aus dem Königreich wurden auch in Warschau hitzig geführt.63 Vor allem die „Cholmer Frage“ erregte die Gemüter und als sich die älteren Pläne zur Einrichtung einer eigenständigen Provinz und ihrer Herauslösung aus dem Königreich als konkrete Gesetzesprojekte in der Duma diskutiert wurden, mobilisierte dies die politische Öffentlichkeit in Polen.64 In den Jahren 1911–12 war ein illegales Komitee für nationale Trauer in Warschau aktiv, das als Protest gegen die „vierte Teilung“ Polens zum Tragen von Trauerkleidung und zur Absage aller Fest- und Vergnügungsveranstaltungen aufrief. Dieser symbolische Widerstand wurde von einer derart breiten gesellschaftlichen Bewegung getragen, dass sich der Generalgouverneur trotz seiner eigenen Ablehnung der Segregation Cholms gezwungen sah, Gegenmaß-

|| 61 Vgl. dazu Abraham Ascher: Stolypin, S. 303–320; Aleksandra Ju. Bachturina: Okrainy rossijskoj imperii, S. 16–17; Mary Schaeffer Conroy: Peter Arkadevich Stolypin: Practical Politics in Late Tsarist Russia, Boulder/Col. 1976; Alexandra Korros: A Reluctant Parliament. Stolypin, Nationalism, and the Politics of the Russian Imperial State Council, 1906–1911, Lanham 2002; Peter Waldron: Stolypin and Finland, in: The Slavonic and East European Review, 63/1 (1985), S. 41–55. 62 Zitiert nach Manfred Hagen: Das Nationalitätenproblem Russlands in den Verhandlungen der III. Duma 1907–1911, Göttingen 1962, S. 59–61. 63 Vgl. Edward Chmielewski: Polish Question, S. 82–110; Theodore R. Weeks: Nation and State, S. 144–148. 64 Vgl. u. a. auf polnischer Seite Ljubomir Dymša (Lubomir Dymsza): Cholmskij vopros, St. Petersburg 1910; W. Reymont: Z ziemi chełmskiej, Warschau 1911. Auf russischer Seite: Pomnej N. Batjuškov: Cholmskaja Rus’, St. Petersburg 1887; Nikolaj P. Dučinskij: Cholmaskaja Rus’. Zabytye naši brat’ja, St. Petersburg 1910; Evfimij M. Kryžanovskij: Russkoe Zabuž’e: Cholmščina i Podljaš’e, St. Petersburg 1911.

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nahmen zu ergreifen. Im Januar 1912 untersagte Skalon das Auftreten in Trauerkleidung, wenn nicht nachweislich der Verlust eines nahen Verwandten vorliege.65 Hier wie in anderen Belangen auch setzten sich die aggressiven Interventionspläne der Petersburger Regierung mit Rückendeckung der Duma und des Staatsrats letztlich durch. Im Juni 1912 segnete die Duma die Gründung eines eigenständigen Gouvernements Cholm ab und der Zar unterschrieb den Beschluss im gleichen Monat. Noch im Laufe des Jahres 1912 kam es zur formalen Einrichtung der Provinz und zu einer Umsetzung weitgehender russifizierender Maßnahmen für das Gebiet.66 Auch in anderen Bereichen machte sich im Königreich der neue Drang der zentralen Autoritäten zur Stärkung des russischen Einflusses an den Peripherien bemerkbar. Vor allem die Verstaatlichung der Warschau-Wien-Bahn im Januar 1912 war ein bitterer Schlag für die polnische Intelligencija, da hier ein Verlust des Arbeitsplatzes für eine große Gruppe polnischer Techniker, Ingenieure und auch Verwaltungsleiter drohte. Wenig später forcierte Petersburg die weitere Zurückdrängung von katholischen Beschäftigten in den höheren Strukturen der Weichselland-Bahn sowie des Post- und Telegraphenwesens und ihren Ersatz durch Angestellte „russischer und orthodoxer Herkunft“.67 All diese Gesetzesnovellen und administrativen Maßnahmen der Jahre 1909–13 schienen eine koordinierte Welle russifizierender Bestimmungen und diskriminierender Akte gegen die lokale Bevölkerung anzukündigen. Dass die tatsächlichen Erfolge einer russifizierenden Personalpolitik selbst bei der staatlichen Weichsellandbahn und dem Post- und Telegraphenwesen überaus gering waren und ein Anteil von sechzig bis siebzig Prozent Katholiken unter den Beschäftigen bis 1914 bestehen blieb, vermochte das polnische Bedrohungsgefühl kaum zu verringern.68 Dazu trug bei, dass ebenso bei den Spielräumen gesellschaftlicher Selbstorganisation Rückschläge zu verzeichnen waren. So nahmen seit 1910 die Auseinandersetzungen staatlicher Instanzen mit der lokalen Freiwilligen Feuerwehr erheblich

|| 65 Vgl. die Jahresberichte des Oberpolizeimeisters zu 1911 und 1912, vom 29.12.1912 bzw. 3.12.1913, in: Halina Kiepurska/Zbigniew Pustuła: Raporty Warszawskich Oberpolicmajstrów, Dok. 19 und 20, S. 113 und S. 119. AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.21, kart.512–514v [Bericht über die polnische Presse im Jahr 1911]. 66 Vgl. Klaus Kindler: Die Cholmer Frage, S. 121–123 und S. 224–232; Theodore R. Weeks: Nation and State, S. 191–192. 67 AGAD, KGGW, sygn.5076, kart.1–3v [Schreiben des Innenministeriums an den WGG Žilinskij, 21.5.1914]. 68 AGAD, KGGW, sygn.5076, kart.9 [Anlage zum Schreiben des Innenministeriums an den WGG, 21.5.1914].

13.2 Rückkehr der Normalität | 393

zu.69 Es geriet damit jene Institution auf die Konfliktagenda der Behörden, die für die polnische Gesellschaft eine enorme symbolische Bedeutung hatte. Denn die von Polen selbstverwaltete Freiwillige Feuerwehr war nicht nur ein wichtiger Ort lokaler Vergemeinschaftung, sondern die einzige Organisation, die es Polen gestattete, im öffentlichen Raum in Uniform zu paradieren. Sie war eine kleine Repräsentationsnische für eine des Tragens hoheitlicher Embleme beraubte Gesellschaft. Die von russischen Nationalisten immer wieder geforderte Verstaatlichung stellte daher ein überaus schmerzliches Szenario dar.70 In diesem Fall spielte die Strukturschwäche des zarischen Staats den polnischen Aktivisten in die Hände: Eine Überführung der Feuerwehr in den staatlichen Etat konnten sich die Behörden im Weichselland schlicht nicht leisten. Grundsätzlich lässt sich auch die Phase der Jahre 1909–13 somit als konfliktgeladen charakterisieren. Zum einen bestanden die Spannungen zwischen einer organisierten Arbeiterbewegung und den zarischen Autoritäten fort und drohten, jederzeit eine ähnliche Eskalationsdynamik wie in den Jahren 1904–05 anzunehmen. Die Behörden waren dementsprechend vorsichtig. So wurden beispielsweise die Sicherheitsvorkehrungen nach den Zusammenstößen von Truppen und streikenden Arbeitern im Lena-Goldfeld im April 1912 auch in Warschau massiv verstärkt.71 Zugleich wurde das Militär zur Sicherung von logistisch bedeutsamen Punkten während des bevorstehenden 1. Mais abkommandiert. Über das Stadtgebiet verteilt wurden zwanzig Militärpunkte mit je sechs Mann besetzt und die Truppen befugt, bei einem „Angriff der Menge“ von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.72 Aus solchen Vorbereitungen für den Ernstfall spricht deutlich das Wissen der zarischen Beamten, wie fragil die relative Ruhe dieser Jahre war. Die Spannungen gingen aber keinesfalls nur von der sozialistischen Fundamentalopposition aus. Die Politisierung des öffentlichen Diskurses war allgemein hoch, auch die liberalen, nationaldemokratischen oder konservativen

|| 69 AGAD, PomGGW, sygn.1212, kart.44–45 [Polizeiverwaltung des Warschauer Gouvernements an WGG, 8.6.1910]; kart.75–75v [Polizeiverwaltung des Gouvernements Łomża an WGG, 28.8.1910]. 70 Vgl. Stanisław Wiech: Działalność ochotniczych straży ogniowych w Królestwie Polskim (1864–1914). Droga do emancypacji narodowej czy sposób na rusyfikację?, in: Anna Brus (Hrsg.): Życie jest wszędzie... Vsjudu žizn’... Ruchy społeczne w Polsce i Rosji do II wojny światowej, Warschau 2005, S. 277–291. 71 GARF, f.726, op.1, d.21, ll.50–51ob [Befehl des Truppenkommandierenden des Militärschutzes Warschaus, April 1912]. 72 GARF, f.726, op.1, d.21, l.45 [Instruktion des WOPM Mejer, 11.4.1912]; GARF, f.726, op.1, d.21, ll.57–59 [Zusatzmaßnahmen zum 18.4.1912, WOPM, 17.4.1912].

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Kreise waren von Verbitterung über die Politik der Zentralregierung gezeichnet.73 Dieser sich zuspitzende Antagonismus führte einerseits dazu, dass es bei den Protagonisten der polnischen Intelligencija keine vergleichbare Ernüchterung über den eigenen Standort in der Gesellschaft gab, wie sie für einen Teil der russischen Bildungsschichten kennzeichnend war. Sie hielten weitgehend ungebrochen an ihrem Selbstbild als Erlöser der polnischen Nation und damit auch des „Volkes“ fest. So konnte in der Nachrevolutionszeit keine polnische Entsprechung zu der Abrechnung mit dem eigenen revolutionären Pathos entstehen, wie sie in Russland die Aufsatzsammlung der Wegzeichen (Vechi) vornahm.74 Dennoch deuteten diese Akteure die vergangene Revolution äußerst gegensätzlich. Während die sozialistischen Parteigänger versuchten, ihre Untergrundtätigkeit und Repressionserfahrung in eine Tradition polnischen Märtyrertums zu stellen und somit die revolutionäre Tat als Dienst an der Nation zu stilisieren, waren die Nationaldemokraten bemüht, die Ereignisse von 1905–06 zu externalisieren. Die beängstigenden Gewalteruptionen dieser Jahre wurden externen Gewalttätern zugeschrieben: Seien es die Kampforganisationen der PPS, sei es die vermeintliche Omnipräsenz des „jüdischen Revolutionärs“ – die Quelle gewalttätigen Handelns wurde außerhalb des polnisch-katholischen „Volkes“ gesehen, das damit vom Vorwurf, sich in Zeiten der Wirren in einen steuerungslosen Mob zu verwandeln, freigesprochen wurde. Entsprechend wurde die 1910 von Henryk Sienkiewicz veröffentlichte literarische Verarbeitung revolutionärer Gewalt als sinnlose Zerstörung durch einen tobenden Mob von einer breiten polnischen Öffentlichkeit wütend geschmäht und gerade auch von nationaldemokratischen Kräften attackiert.75 Unter den Vorzeichen eines sich zuspitzenden Antagonismus zwischen der russischen Herrschaft und den polnischen Akteuren blieb das „Volk“ als imaginierter Kraftquell der Nation sakrosankt. Angesichts der sich verschärfenden Frontstellung zwischen imperialen Autoritäten und polnischen Kräften mag es zugleich verwundern, dass die lokalen Amtsträger kaum in die Kritik der polnischen Wortführer gerieten. Das hatte zweifellos etwas mit den Sagbarkeitsräumen zu tun, die das Pressegesetz fest-

|| 73 APW, t.24 (WWO), sygn.261, kart.1–32, hier kart.1–3 und kart.15 [Stimmungsbericht, 1913]; siehe ebenso den Bericht zu 1912, vom 3.12.1913, in: Halina Kiepurska/Zbigniew Pustuła: Raporty Warszawskich Oberpolicmajstrów, Dok. 20, S. 119. 74 Vgl. Michail Geršenzon: Schöpferische Selbsterkenntnis, in: Karl Schlögel (Hrsg.): Vechi. Wegzeichen. Zur Krise der russischen Intelligenz, Frankfurt/Main 1990, S. 140–175, S. 165. Siehe auch Karl Schlögel: Russische Wegzeichen, in: Karl Schlögel (Hrsg.): Vechi. Wegzeichen. Zur Krise der russischen Intelligenz, Frankfurt/Main 1990, S. 5–44. 75 Vgl. Henryk Sienkiewicz: Wirren. Kap. 23, S. 521–524.

13.2 Rückkehr der Normalität | 395

legte: Während eine Berichterstattung über die Debatten in der Duma und dementsprechend auch über die scharfen Reaktionen polnischer Abgeordneter auf solche Regierungsinitiativen wie das Cholmer Projekt möglich war, hätte eine offene und direkte Kritik am Warschauer Generalgouverneur Gegenmaßnahmen der lokalen Verwaltung evoziert. Dennoch ging die Milde, die der Skalon’schen Administration zumindest in den gemäßigten Kreisen der polnischen Gesellschaft zuteil wurde, weit darüber hinaus. Vielmehr erschienen der Generalgouverneur und seine Kanzleibeamten als die beste aller derzeit möglichen Optionen. Angesichts der zeitgleichen Vorgänge in Finnland und dem preußischen Teilungsteil sowie der Vorstöße der Zentralregierung mochte Skalon manchen sogar als Verfechter polnischer Interessen erscheinen.76 Skalon stellte zweifellos ein Gegengewicht dar gegen die vereinten Kräfte von Stolypin und seinem Schwager Nejdgart einerseits sowie den russischnationalistischen Scharfmachern in der Duma wie dem Warschauer Abgeordneten Sergej Alekseev und seinen Parteigängern vor Ort andererseits. Das hatte sich schon 1907 bei der Wahl zur III. Duma gezeigt. Hier hatte der Generalgouverneur sehr zur Verärgerung Stolypins offen Position gegen die nationalistische Vereinigung der Russkoe obščestvo bezogen und – vergeblich – versucht, die Wahl ihres Kandidaten Alekseev in der russischen Kurie in Warschau zu verhindern.77 Nur zwei Jahre später verdichteten sich die Gerüchte, dass eine Ablösung Skalons bevorstand und dass sich der Senator Dmitrij Nejdgart mit der Unterstützung Stolypins mit seinen Ambitionen auf den Generalgouverneursposten durchsetzen würde.78 Diese Aussicht löste auf polnischer Seite || 76 Vgl. Sabine Grabowski: Deutscher und polnischer Nationalismus. Der Deutsche OstmarkenVerein und die polnische Straż 1894–1914, Marburg 1998; Thomas Serrier: Provinz Posen, Ostmark, Wielkopolska, v. a. S. 40–61; Lech Trzeciakowski: The Kulturkampf in Prussian Borderland, Boulder/Col. 1990. 77 AGAD, KGGW, sygn.9012, kart.101 [Depesche des Innenministers Stolypin an den WGG, 13.9.1907]; AGAD, KGGW, sygn.9012, kart.103–104v [Offener Brief der Wahlmänner der russischen Bevölkerung Warschaus an den WGG, 8.10.1907]. „Neskol’ko slov po povodu iskaženija faktov v dvuch stat’jach Varšavkogo Dnevnika“, in: Predvybornye izvestija Russkogo obščestva, Nr. 1 (30.8.1907), S. 1. Den Wahlsieg der Russkoe obščestvo in der russischen Kurie in Warschau konnte Skalon allerdings nicht verhindern. Von den für die Wahlmännerversammlung abgegebenen Stimmen entfielen knapp 62 % auf die Wahlmänner der Russkoe obščestvo. Siehe Predvybornye izvestija Russkogo obščestva, Nr. 6 (16.10.1907), S. 3. Entsprechend wurde deren Kandidat, Sergej Alekseev, in die Duma entsandt. Auch bei der Wahl zur IV. Duma konnten die Nationalisten 1912 ihren Erfolg wiederholen. Zum extrem polenfeindlichen Wahlprogramm der Russkoe obščestvo siehe AGAD, KGGW, sygn.9012, kart.110b [Programm der Russkoe obščestvo v Varšave]. 78 GARF, f.215, op.1, d.156, l.25–27 [Kommentar zu einer Denunziation gegen den Leiter der Kanzlei des WGG Jačevskij, 26.7.1908].

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nicht nur ungute Erinnerungen an dessen Gouverneurszeit in Płock in den Jahren 1902 bis 1904 aus, sondern evozierte nicht unbegründete Ängste einer bevorstehenden weitreichenden Russifizierungswelle im Königreich.79 Skalons vehementer Widerstand gegen die Ausgliederung der Provinz Cholm sowie seine Befürwortung der Einführung munizipaler Selbstverwaltung im Weichselland sicherten ihm gewisse Sympathien in der polnischen Wahrnehmung. Es war hier eine partielle Konkordanz der Positionen, die den Generalgouverneur und die Vertreter der gemäßigten polnischen Parteien zumindest zeitweise zusammenbrachte. Eine gleiche zeitweise Übereinstimmung von Standpunkten ergab sich, als ein Initiativantrag der nationalistischen Fraktion in der Duma die Abschaffung des Generalgouverneurspostens überhaupt forderte.80 Während Skalon aus nachvollziehbaren Gründen seine eigene Entmachtung ablehnte, wehrten sich die polnischen Meinungsträger gegen eine administrative und symbolische Degradierung des Königreichs zu einer Verwaltungseinheit, die sich nicht mehr von jener der innerrussischen Gouvernements unterschieden hätte. So verhasst die Institution des Generalgouverneurs lange Jahre gewesen war, so sehr repräsentierte sie in dieser Situation einen Restbestand „polnischer Besonderheit“ und eine Reminiszenz an polnische Eigenstaatlichkeit. In einer Perspektive, in der das Hoheitsgebiet des Warschauer Generalgouverneurs als polnischer Rumpfstaat verstanden wurde, entsprach der Erhalt dieses status quo polnischen Interessen. Einmütiger als in den Tagen der Debatte um den Initiativantrag dürften Skalon und die Vertreter der gemäßigten polnischen Gesellschaft kaum jemals gedacht haben.81 Während Skalon und seine Vertrauten immer stärker zur Zielscheibe einer russisch-nationalistischen Kampagne wurden, die sie als „Polenversteher“ sowie vor allem auch als ethnische Deutsche und damit potentielle Verräter russischer Interessen an den Pranger stellten, findet sich die Thematisierung von Skalons ethnischem Hintergrund nicht einmal in den germanophoben Kreisen der Nationaldemokraten.82

|| 79 AGAD, KGGW, sygn.1893, kart.104–111v [Bericht über Ereignisse politischer Relevanz, 9.5.1903]. 80 Vgl. Priloženija k stenografičeskim otčetam Gosudarstvennoj Dumy. III sozyv, ses. V, Bd. 3, St. Petersburg 1912, Nr. 374: Zakonodatel’noe predloženie ob uprazdnenii dol’žnosti Varšavskogo General-Gubernatora (29.2.1912). Siehe dazu auch die von Stanisław Bukowiecki unter dem Pseudonym Drogoslav publizierten Erinnerungen Drogoslav: Rosja w Polsce, Warschau 1914, S. 29–30. 81 Dazu auch ausführlicher Klaus Kindler: Die Cholmer Frage, S. 170–176. 82 Dagegen charakterisiert beispielsweise Brusilov die Skalon’sche Administration als „deutsche Clique“. Siehe Aleksej A. Brusilov: Moi vospominanija, Moskau 2001, S. 51–53. Ähnlich bei

13.2 Rückkehr der Normalität | 397

Letztere stellten eindeutig die treibende Kraft hinter dem Erhalt eines modus vivendi zumindest auf der lokalen Kommunikationsebene dar. Die Endecja dominierte allen Zerfallserscheinungen des nationaldemokratischen Lagers zum Trotz weiterhin die polnische Parteienlandschaft. Roman Dmowski war gerade auch nach dem schnellen Zusammenbruch der neoslawischen Bewegung zu der Einsicht gekommen, dass nur die enge Zusammenarbeit mit den staatlichen Autoritäten eine stabile Grundlage gegen die „deutsche Gefahr“ darstelle. Bei aller Ablehnung einer Politik der Zentralregierung, die auf die Stärkung der Position von Orthodoxen und Russen in den Westgebieten und im Königreich hinauslief, plädierte er dennoch für eine Kooperation mit dem Staatsapparat.83 Angesichts der Frontstellung zwischen St. Petersburg und dem Warschauer Generalgouverneur war Skalon hier in vielem ein bevorzugter Ansprechpartner. Neben solchen strategischen Bündnisüberlegungen der Nationaldemokraten wirkten sich aber auch die strukturellen Änderungen der politischen Sphäre nach 1906 auf das Verhältnis von lokaler Administration und polnischer Öffentlichkeit aus. Denn das grundlegende Charakteristikum der sich neu entfaltenden politischen Streitkultur war nach 1909 ihre Legalität. Das führte partiell zu einer Abkehr vom Widerstand gegen das zarische Regime als solches und zu einer Hinwendung auf jene Auseinandersetzungen, bei denen um Dominanz innerhalb dieser Sphäre gestritten wurde.84 Die Verrechtlichung politischer Artikulation und gesellschaftlicher Organisationen hatte die Aktivierung einer politisch informierten Gesellschaft in sehr verschiedenen Milieus bewirkt, die oft genug im direkten Widerstreit miteinander standen. Das gilt nicht nur für die Konflikte der politischen Parteien, die vor allem zwischen den Sozialisten und Nationaldemokraten auch als blutige Vendetta ausgetragen wurden. Die Bruchlinien verliefen ebenso zwischen Arbeiterschaft und Betriebsleitungen wie zwischen polnischen, jüdischen und russischen Foren der Vergemeinschaftung. Es gehörten eben nicht nur Gewerkschaften zu den „Errungenschaften“ der Revolution, sondern auch Arbeitgeberverbände. Und neben die zahlreichen polnisch-katholischen Assoziationen traten jüdische und auch russisch-orthodoxe Vereinigungen. Von einer Einheit der neuen Sphären || anonymen Schreiben, die Missstände in der Kanzlei Skalons denunzierten: GARF, f.215, op.1, d.156, ll.25–27 [Stellungnahme der Kanzlei des WGG zu einem anonymen Brief, 26.7.1908]. 83 Vgl. Roman Dmowski: Niemcy, Rosja a sprawa polska, Warschau 1908; ebenso Roman Dmowski: Upadek myśli konserwatywnej w Polsce, Warschau 1914. Vgl. auch Aleksandra Ju. Bachturina: Okrainy rossijskoj imperii, S. 24–37; Jeffrey Aaron Mankoff: Russia and the Polish Question, 1907–1917. Nationality and Diplomacy, PhD Dissertation, Yale 2006, S. 141–167. 84 Marian Kamil Dziewanowski: The Polish Revolutionary Movement, S. 389.

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von Gesellschaft und Öffentlichkeit lässt sich somit keinesfalls sprechen. Die sich neu entwickelnde politische Kulturlandschaft war heterogen, gespalten und konfliktintensiv. Gerade diese Konfliktintensität beförderte die zunehmende gesellschaftliche Selbstorganisation, da sie das jeweilige milieu-, partei- oder konfessionsspezifische Engagement beschleunigte und parallele Institutionsstrukturen schuf.85 All diese Auseinandersetzungen trugen aber erheblich dazu bei, dass sich die gesellschaftlichen Meinungsträger immer stärker mit ihren unmittelbaren Konkurrenten auseinandersetzen mussten. Der „innere Feind“ wurde zur primären Zielscheibe von Hetzkampagnen und zum privilegierten Gegenstand der Angsthierarchien, während das zarische Regime als Ganzes eher in den Hintergrund trat. Nichts kann diese neue Dynamik deutlicher aufzeigen als der eskalierende polnisch-jüdische Konflikt der letzten Vorkriegsjahre.

13.3 „Zwischen Hammer und Amboss“: Der polnisch-jüdische Konflikt und der antijüdische Boykott von 1912 Die Auseinandersetzungen zwischen Juden und Polen waren nicht der einzige Ausdruck der durch die neuen Freiheiten befeuerten innergesellschaftlichen Konflikte. Sie waren aber sicherlich jene, die die Warschauer Öffentlichkeit in den letzten Vorkriegsjahren am intensivsten beschäftigte.86 Zugleich verdeutlichen sie, welche Rolle der imperialen Bürokratie bei der Eskalation eines ethnisch-konfessionellen Konflikts zukam. Die Ausgangslage polnisch-jüdischer Interaktion war keinesfalls ungünstig. Rechtlich waren die Bewohner mosaischen Glaubens im Königreich mit der Emanzipation von 1862 deutlich bessergestellt als ihre Glaubensgenossen im russischen Ansiedlungsrayon. Daran änderten auch die zahlreichen Beschränkungen, die der zarische Staat seit den 1880er Jahren Juden im Bereich von Staats- und Armeedienst, Studium oder Mobilität auferlegte, wenig. Der anhaltende Migrationsstrom von Juden aus den russischen Gouvernements des Ansiedlungsrayons in das Königreich wurde erheblich durch dieses Gefälle in der rechtlichen Stellung motiviert.87 Zudem war das traditionelle Modell der „polnischen Nation“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keinesfalls ethnisch || 85 Vgl. auch Jörg Gebhard: Lublin, S. 203–224. 86 Vgl. Stephen D. Corrsin: Works on Polish-Jewish Relations Published since 1990. A Selective Bibliography, in: Robert E. Blobaum (Hrsg.): Antisemitism and Its Opponents in Modern Poland, Ithaca 2005, S. 326–341. 87 Vgl. François Guesnet: Polnische Juden im 19. Jahrhundert. Lebensbedingungen, Rechtsnormen und Organisation im Wandel, Köln 1998, S. 61.

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oder konfessionell aufgeladen. Dass dieses universelle Freiheitsbekenntnis im polnischen politischen Diskurs mehr war als eine Chimäre, zeigte sich spätestens bei den Kämpfen des Januaraufstands, an dem katholische und jüdische Polen beteiligt waren.88 In der Hochzeit des Positivismus herrschte im polnischen Denken eine allgemeine Assimilationserwartung vor. Die Gemeinschaft der Polen wurde hier nicht exklusiv katholisch gedacht, aber eine schnelle Übernahme der wesentlichen polnischen Kulturelemente durch die Juden erwartet. In dem entsprechenden Selbstbild, Repräsentant einer überlegenen Kulturnation zu sein, war wenig Raum für die Akzeptanz von kultureller Eigenständigkeit. Gerade im Milieu der Positivisten war daher die Enttäuschung über die Skepsis oder gar Verweigerung der in Polen lebenden Juden gegenüber einer Assimilation groß.89 Das Aufkommen jüdisch-nationaler Bewegungen wurde hier entschieden abgelehnt – eine Ablehnung, die sich schnell in ein Ressentiment gegenüber den Juden transformierte. Dieser um die Jahrhundertwende in den progressiven Milieus erwachsene Antisemitismus war eine wichtige Voraussetzung für die spätere Zuspitzung, da Publikationen wie die von Aleksander Świętochowski oder Andrzej Niemojewski erheblich dazu beitrugen, antijüdische Abgrenzungsdiskurse zu einem wichtigen Element polnisch-katholischer Selbstvergewisserung zu machen.90 Der Konnex von Nationalität und Konfession wurde vor allem in den Organisationen der nationaldemokratischen Bewegung weiterentwickelt. Roman Dmowskis Pamphlet aus dem Jahr 1902 bündelte verschiedene Geisteslinien und brachte es auf den Punkt: Ein Pole könne nur Katholik sein.91 Wenngleich zu diesem Zeitpunkt eine Auseinandersetzung mit den jüdischen Bewohnern des Weichsellands noch keinesfalls im Zentrum von Dmowskis Denken stand,

|| 88 Vgl. dazu Magdalena Opalski/Israel Bartal: Poles and Jews: A Failed Brotherhood, Hanover 1992; Theodore R. Weeks: From Assimilation to Antisemitism, S. 44–52. 89 Vgl. dazu Alina Cała: Asymilacja Żydów w Królestwie Polskim (1864–1897). Postawy, konflikty, stereotypy, Warschau 1898; Theodore R. Weeks: Poles, Jews, and Russians; Theodore R. Weeks: The Best of both Worlds: Creating the Żyd-Polak, in: East European Jewish Affairs, 34/2 (2004), S. 1–20, S. 15–16. 90 Vgl. Maciej Moszynski: Niemojewski; Magdalena Opalski/Israel Bartal: Poles and Jews; Tadeusz Stegner: Liberałowie Królestwa Polskiego wobec kwestii żydowskiej na początku XX wieku, in: Przegląd Historyczny, 80 (1989), S. 69–88; Theodore R. Weeks: Polish ‘Progressive Antisemitism’. 1905–1914, in: East European Jewish Affairs, 25 (1995), S. 49–68. 91 Roman Dmowski: Mysli nowoczesnego Polaka, Lemberg 1902. Siehe auch Alvin Fountain: Roman Dmowski: Party, Tactics, Ideology 1895–1907, New York 1980; Kurt Georg Hausmann: Die politischen Ideen Roman Dmowskis. Ein Beitrag zur Geschichte des Nationalismus in Ostmitteleuropa, Kiel 1968; Tomasz Kizwalter: Über die Modernität der Nation. Der Fall Polen, Osnabrück 2013, S. 345–384.

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so stellte es dennoch eine Identitätskonstruktion bereit, in der Andersgläubige keinen Platz mehr hatten.92 Die Revolution von 1905 bedeutet hier eine klare Zäsur, die die polnischjüdische Konfrontation dynamisierte. Das lässt sich exemplarisch an der Konjunktur der „Litwaken“-Debatte um 1910 nachzeichnen. Das Thema war weitaus älter; schon in den 1870er Jahren diskutierten polnische wie jüdische Kreise das Phänomen jüdisch-russischer Zuwanderer und bereits in dieser Frühphase wurde den Litwaken mit großen Vorbehalten begegnet.93 Aber erst nach 1909 nahmen die polnischen Polemiken gegen den vermeintlich extrem hohen Zuzug von jüdischen Migranten aus russischen Gebieten des Ansiedlungsrayons einen scharfen Ton an. Hier vermischten sich nun verschiedene Bedrohungsszenarien. Zum einen wurden die Litwaken als „fünfte Kolonne“ der russischen Herrschaft stigmatisiert, indem auf ihren hohen Russifizierungsgrad und ihren auch privaten Gebrauch der russischen Sprache verwiesen wurde.94 Hier artikulierten sich zugleich grundsätzliche Ängste vor einer aus dem Osten kommenden kulturellen Fremdheit. Litwaken wurden als grundsätzlich assimilationsunwillig porträtiert. Dem traditionellen Bild des Moskowiters ähnlich wurden den Ostjuden asiatische Züge und Kulturlosigkeit zugeschrieben. Im Zeitalter der Medikalisierung des politischen Diskurses erschienen sie zudem als Träger von Krankheiten im konkreten wie im übertragenen Sinne. Ob Cholera oder steigende Kriminalitätsraten – im Litwaken schien sich die Quelle für eine Gefährdung des „gesunden Volkskörpers“ zu finden. Nicht zuletzt kam dabei ebenso die katholisch-polnische Sorge um eine zunehmende Depolonisierung der alten Hauptstadt Warschau zum Ausdruck.95 Während sich in polnischer Perspektive auf der einen Seite die russifizierenden Eingriffe allerorts manifestierten, schienen

|| 92 Pascal Trees: Wahlen im Weichselland, S. 81–83; vgl. auch Brian A. Porter: Nationalism, S. 227–232. 93 François Guesnet: Polnische Juden, S. 63–80; Gertrud Pickhan: Polen, in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1: Länder und Regionen, München 2008, S. 276–283, S. 280. 94 Vgl. Stephen D. Corrsin: Language Use in Cultural and Political Change in Pre-1914 Warsaw: Poles, Jews, and Russification, in: The Slavonic and East European Review, 68/1 (2002), S. 69– 90, v. a. S. 84–85; François Guesnet: „Wir müssen Warschau unbedingt russisch machen.“ Die Mythologisierung der russisch-jüdischen Zuwanderung ins Königreich Polen zu Beginn unseres Jahrhunderts am Beispiel eines polnischen Trivialromans, in: Eva Behring et al. (Hrsg.): Geschichtliche Mythen in den Literaturen und Kulturen Ostmittel- und Südosteuropas, Stuttgart 1999, S. 99–116. 95 Vgl. beispielsweise Roman Dmowski: Separatyzm żydowski i jego źródła, Warschau 1909; Andrzej Niemojewski: W sprawie tak zwanych Litwaków, in: Myśl niepodległa, Nr. 114 (Oktober 1909), S. 1403–1411; Artur Gruszecki: Litwackie mrowie. Powieść wsółczesna, Warschau 1911.

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nun auch der jüdische Bevölkerungsanteil und sein wirtschaftlicher Einfluss die katholischen Stadtbewohner immer mehr zu marginalisieren. Dementsprechend hitzig war die zeitgenössische Polemik gegen den Anteil jüdischer Bewohner in Warschau, ihre höhere Geburtenrate und ihren Migrationszuwachs, ihren Vorsprung im Bildungsbereich und ihre vermeintliche Dominanz beim Immobilienbesitz. Es waren Debatten, in denen die Frage, wem denn Warschau „gehöre“, regelmäßig auftauchte.96 Diese schon länger bestehenden Bedrohungsnarrative einer „Überfremdung“ und polnischen Marginalisierung erhielten mit den Wirren von 1905 eine neue Wendung. Wie in vielen anderen Bereichen auch wirkte die Revolution als Katalysator des Konflikts. In der Folgezeit verfestigte sich der Topos des „jüdischen Revolutionärs“. Eine solche Überschneidung von Bedrohungscharakteren externalisierte die Verantwortung an der Revolution und zugleich an ihrem Scheitern. So omnipräsent der Topos im zeitgenössischen Denken war, so sehr spezialisierte sich die Endecja darauf, damit Wahlkampf zu betreiben.97 Bereits beim Wahlgang zur ersten Duma rückten die nationaldemokratischen Agitatoren und Presseorgane das „jüdische Thema“ ins Zentrum ihres Wahlkampfes. Der Antisemitismus wurde zum Kernbestand moderner Massenpolitik. Wie in anderen Kontexten auch überblendeten sich ältere antijüdische Vorurteile mit neueren Zuschreibungen, die die aktuellen Brüche gesellschaftlicher Modernisierung reflektierten.98 Beispielsweise konnten in der Unterstellung, Juden würden den globalen Mädchenhandel kontrollieren und junge Polinnen in Warschau über Mittelsmänner an Freudenhäuser in der ganzen Welt verkaufen, traditionelle Gerüchte vom jüdischen Raub christlicher Kinder für Ritualzwecke mit dem modernen Bezugsrahmen von Welthandel und einem zeitgenössischen Diskurs zum urbanen Sittenverfall verknüpft werden.99 Vor allem die neue Massenpresse spielte bei den antijüdischen Kampagnen eine zentrale Rolle. Juden wurden in Zeitungen wie der Gazeta Warszawska oder Gazeta Poranna 2 grosze oder den von Andrzej Niemojewski beziehungsweise von Jan Jeleński herausgegebenen Wochenzeitungen Myśl niepodległa und Rola zur Ursache von Kriminalität und Krankheit erklärt oder als Gefahr für Moral und Gesundheit der polnischen Nation stigmatisiert. Das Themenfeld pendelte zwischen dem Vorwurf jüdischer Rückständigkeit als Ballast für den Moderni|| 96 AGAD PomGGW, sygn.378, kart.123–125 [Agenturberichte zu einer Versammlung polnischer Hausbesitzern, 9.5.1912]. 97 Siehe Agnieszka Friedrich: Polish Literature. 98 Vgl. Stephen D. Corrsin: Warsaw before the First World War, S. 86–87; Pascal Trees: Wahlen im Weichselland, S. 222–225. 99 Vgl. Robert E. Blobaum: Criminalizing the „Other“, S. 85–88.

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sierungs- und Überlebenskampf des polnischen Volkes und der Kritik an der wirtschaftlichen Dominanz der Juden sowie ihrer verdeckten Machtübernahme in den Großstädten im Königreich. Die scheinbare Objektivierung von antisemitischen Topoi mit Hilfe von publizierten Statistiken war hier eine verbreitete Strategie.100 Viele dieser Mythen verweisen darauf, wie stark das allgemeine Unbehagen der polnischen Intelligencija an der gesellschaftlichen Modernisierung deren antisemitische Sichtweise prägte. Die Transformation sozialer Hierarchien, die solche Prozesse wie Industrialisierung und Urbanisierung beschleunigten, löste eine tiefe Irritation bei den polnischen Bildungsschichten aus. Der eigene Status erschien durch die antipolnische Diskriminierungspraxis der imperialen Behörden zusätzlich prekär. Die vermeintliche neue Russifizierungswelle unter Stolypin trug entsprechend zu dieser Verunsicherung bei. Schon Zeitgenossen sprachen daher davon, dass die Juden des Königreichs in den Antagonismus von Russen und Polen geraten seien wie zwischen „Hammer und Amboss“.101 Angesichts des paneuropäischen Siegeszugs des Antisemitismus, einer fortschreitenden ethnischen und im polnischen Fall auch konfessionellen Verengung des Nationsbegriffs sowie einer in Polen als besonders brennend empfundenen Zukunftsunsicherheit, die sich aus der eigenen Staatenlosigkeit und den Verwerfungen der Modernisierung speiste, vermag es wenig zu überraschen, dass die „jüdische Frage“ zu einem zentralen Thema der polnischen Selbstvergewisserung wurde.102 Aber erst der neue Kontext einer legalisierten politischen Öffentlichkeit nach 1906 stellte die Rahmenbedingungen bereit, die zur weiteren Dynamisierung antijüdischer Agitation notwendig waren. Erst die Logik des Wahlkampfes und auch der Konkurrenzsituation von Presseorganen, Vereinen und Verbänden machte es für ein breites Spektrum an Akteuren plausibel, den Antisemitismus als Mittel der Mobilisierung zu instrumentalisieren. Dazu trug zweifellos bei, dass die neuen Freiheiten ebenso von jüdischen Akteuren genutzt wurden, um Assoziationen und Interessengemeinschaften zu konstituie-

|| 100 Vgl. Robert E. Blobaum: Criminalizing the „Other“, S. 93–97; Theodore R. Weeks: Fanning the Flames. Jews in the Warsaw Press, 1905–1912, in: East European Jewish Affairs, 28 (1998/ 99), S. 63–81. 101 Siehe Iosif A. Klejnman: Meždu molotom i nakoval’nej (pol’sko-evrejskij krizis), St. Petersburg 1910. 102 Vgl. v. a. Brian A. Porter: Nationalism, Kap. 7 und Kap. 8. Siehe auch Brian Porter-Szũcs: Faith and Fatherland. Catholicism, Modernity, and Poland, Oxford 2011; Malte Rolf: Nationsbilder im Russischen Reich; Scott Ury: Revolution of 1905 and the Transformation of Warsaw Jewry, S. 172–214.

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ren. Bereits in der Spätphase des Kriegsrechts kam es zu einer Welle von jüdischen Vereinsgründungen im Weichselland, die die Sichtbarkeit jüdischer Selbstorganisation deutlich erhöhten. Im Wettstreit parallel bestehender und konfessionell getrennter Verbands- und Vereinswelten verstärkte dies auf polnischer Seite die Ressentiments, da hier der selbsterklärte gesellschaftliche Alleinvertretungsanspruch in Frage gestellt wurde.103 Diese Rahmenbedingungen ermöglichten einen dynamischen Prozess des agenda setting, in dem sich rasch alle gesellschaftlichen Meinungsträger zu den antisemitischen Vorwürfen verhalten mussten und die Konsumenten der Massenmedien zwar nicht unbedingt allen Gerüchten Glauben schenkten, aber eingebunden wurden in eine Perspektive, in der die gesellschaftlichen Missstände im Königreich in irgendeiner Form mit den jüdischen Bewohnern in Zusammenhang gebracht wurden.104 Es war diese Omnipräsenz des Themas, die es den erklärten „AntiAntisemiten“ so erschwerte, jenseits der antisemitischen Stereotype zu denken. Oft genug fanden sich auch bei den – wenigen – erklärten Kritikern der nationaldemokratischen Hetze Versatzstücke eines allgegenwärtigen antijüdischen Diskurses.105 Die jahrelange Privilegierung des „jüdischen Themas“ in der politischen Öffentlichkeit im Königreich bereitete den Boden für die Eskalation im Jahr 1912 und die darauf folgende antijüdische Boykottkampagne. Katalysator des Konflikts war der Disput um den einen Warschauer Abgeordneten zur IV. Duma, der in der „allgemeinen Kurie“ bestimmt wurde. Mehrere Faktoren bewirkten, dass die jüdischen Wahlmänner einen entscheidenden Einfluss auf die Wahl dieses städtischen Deputierten nehmen konnten. Das hatte weniger mit der demographischen Entwicklung zu tun als mit den Zensusregelungen, die Immobilienbesitzer bevorzugten. Zugleich hatten die Verschärfungen der Registrierungsbestimmungen insgesamt zu einem Rückgang der gemeldeten Wahlberechtigten geführt. Es stellte sich bei der Wahlmännerwahl im Oktober 1912 jedoch heraus, dass hier das Versäumnis, sich rechtzeitig registrieren zu lassen, bei den katholischen Stimmberechtigten weitaus höher als bei den jüdischen ausgefallen

|| 103 AGAD, KGGW, sygn.7440, kart.1–6: zur privaten jüdischen Handelsschule (1908); AGAD, KGGW, sygn.7787, kart.1–7: zur Jüdischen Wohlfahrtsgesellschaft (1908–09); AGAD, KGGW, sygn.7690, kart.1–5, sygn.7462, kart.1–5, sygn.7924, kart.1: zum Verein zur Hilfe armer Juden (1908–11). 104 Vgl. dazu Bernhard C. Cohen: The Press, the Public and Foreign Policy, Princeton 1963, S. 13. 105 Vgl. Jerzy Jedlicki: Resisting the Wave: Intellectuals against Antisemitism in the Last Years of the „Polish Kingdom“, in: Robert E. Blobaum (Hrsg.): Antisemitism and Its Opponents in Modern Poland, Ithaca 2005, S. 60–80, v. a. S. 71–76.

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war. Gleiches galt für die Wahlbeteiligung, so dass die Vereinigung der Jüdischen Liste circa vierzig Prozent der Wahlmännerversammlung stellte. Dmowski hatte bereits diesen Wahlgang verloren, so dass sein erneuter Einzug in die Duma unmöglich geworden war. Allerdings war der Endecja-Kandidat Jan Kucharzewski weiterhin im Rennen. Angesichts der offenen antijüdischen Positionen der Nationaldemokraten weigerten sich die jüdischen Wahlmänner jedoch Kucharzewski zu unterstützen und votierten für den sozialistischen Kompromisskandidaten Eugeniusz Jagiełło. Jagiełło zog so als der zweite Warschauer Delegierte in die IV. Duma ein.106 Eine solche Einflussnahme jüdischer Wahlmänner wurde in einem erstaunlich breiten Spektrum der polnischen Gesellschaft als Anmaßung bewertet. Die Forderung der Jüdischen Wahlliste nach einem Abgeordneten, der zumindest nicht die Gleichberechtigung jüdischer Bürger bei der munizipalen Selbstverwaltung in Frage stellte, erschien als „jüdische Einmischung“ in „polnische Angelegenheiten“.107 Die Nationaldemokraten waren es, die die Gunst der allgemeinen Empörung nutzten, um einen antijüdischen Boykott im gesamten Königreich zu initiieren. Unter den Parolen „Kauf nur bei deinesgleichen!“ („Swój do swego po swoje!“) und „Kauf polnische Ware in polnischen Läden!“ („Polski towar w polskim sklepie!“) wurden polnisch-katholische Bürger aufgefordert, jüdische Geschäfte, Händler, Handwerker und Freiberufler zu meiden. Die Breite der verbalen gesellschaftlichen Unterstützung für die antijüdische Kampagne erstaunte selbst die zarischen Autoritäten: Eine Ausgrenzung der jüdischen Bewohner im Weichselland sei derzeit der allgemeine Konsens der öffentlichen Meinung, notierte der Warschauer Oberpolizeimeister in seinem Bericht zu 1913.108 Mittelfristig erwies sich der Boykott allerdings als wenig erfolgreich. In den polnischen Provinzen kam er gar nicht erst in Gang; die Verweigerungsfront bröckelte bald aber auch in Warschau. Robert Blobaum hat diesen schnell nach-

|| 106 Vgl. dazu Robert E. Blobaum: Antisemitism in Fin-de-Siecle Warsaw, S. 294–298; Stephen D. Corrsin: Warsaw before the First World War, S. 89–104; Frank Golczewski: Polnisch-jüdische Beziehungen, S. 90–120. 107 Siehe Robert E. Blobaum: Antisemitism in Fin-de-Siecle Warsaw, S. 298–301; Theodore R. Weeks: Zwischen zwei Feinden: Polnisch-jüdische Beziehungen und die russischen Behörden zwischen 1863 und 1914, Leipzig 1998, S. 16–17. 108 Vgl. den Bericht des Oberpolizeimeisters zu 1913, vom 2.3.1915, in: Halina Kiepurska/Zbigniew Pustuła: Raporty Warszawskich Oberpolicmajstrów, Dok. 21, S. 125. Es überrascht daher wenig, dass die zeitgenössische russisch-jüdische Öffentlichkeit die Auseinandersetzungen sehr genau verfolgte. Vgl. hier z. B. A. Gartgljas/A. Davidson/V. Žabotinskij/Ja. Kiršrot: Poljaki i Evrej, St. Petersburg 1913, v. a. S. 52–81 und S. 82–95.

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lassenden Boykottenthusiasmus als passiven Widerstand gegen die antisemitischen Tiraden der Nationaldemokratie gedeutet.109 Zumindest war das magere Ergebnis der Endecja-Kampagne ein Hinweis darauf, wie verflochten im alltäglichen Wirtschafts- und Konsumleben die katholischen und jüdischen Milieus im Königreich waren. Aller Kurzlebigkeit des Boykotts zum Trotz ist das Jahr 1912 zu Recht als Zäsur in den polnisch-jüdischen Beziehungen charakterisiert worden. Denn hier wurde das gegenseitige Verhältnis nachhaltig beschädigt. Wenn es in der Folgezeit zu Auseinandersetzungen zwischen Einzelpersonen unterschiedlicher Konfession kam, wurden diese direkt in den Zusammenhang des übergeordneten polnisch-jüdischen Grundkonflikts gestellt.110 Vom Boykott 1912 lassen sich Entwicklungslinien bis hin zu dem gewaltsamen Vorgehen polnischer Soldaten gegen Juden in den Wirren des Welt- und Bürgerkriegs oder zu den wiederholten Boykottkampagnen und anderen antijüdischen Reglementierungen der Zweiten Republik ziehen. Die Rigorosität, mit der der polnische Staat in der Zwischenkriegszeit gegen seine Minderheiten vorgehen sollte, deutete sich in der Intoleranz gegenüber einer jüdischen Andersartigkeit bereits vor dem Ersten Weltkrieg an. Vor allem aber war seit dem Jahr 1912 zementiert, dass „Polen“ und „Juden“ als zwei getrennte Entitäten verstanden wurden. Nicht immer wurden sie als feindliche Lager begriffen, aber ihre grundsätzliche Differenz stand außer Frage. Konzepte einer jüdischen Polonität hatten es angesichts eines solchen common sense entsprechend schwer.111 Damit hatten sich die Nationaldemokraten endgültig als Taktgeber gesellschaftlichen Denkens in Polen erwiesen, die die entscheidenden Themen und Hierarchisierungen einer allgemeinen öffentlichen Meinung bestimmten. Trotz der vermeintlichen Wahlniederlage von 1912 und der Entsendung eines sozialistischen Delegierten aus Warschau in die Duma waren es doch die Nationaldemokraten, die die eigentliche meinungsbildende Kraft im Weichselland darstellten. Dies war auch den russischen Autoritäten nicht unbemerkt geblieben. In einem Bericht über die politische Stimmungslage im Kraj aus demselben Jahr

|| 109 Robert E. Blobaum: Introduction, S. 6–7. 110 AGAD, KGGW, sygn.6412, kart.3–3v [Beschwerde eines Kleinhändlers an den WGG, 10.1.1913]. 111 Vgl. zur Zwischenkriegszeit Gertrud Pickhan: Kulturelle Vielfalt und Mehrsprachigkeit. Jüdische Identitätskonstruktionen im Polen der Zwischenkriegszeit, in: Rainer Kampling (Hrsg.): „Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel“ (Num 24,5). Beiträge zur Geschichte jüdisch-europäischer Kultur, Frankfurt/Main 2009, S. 157–170; Katrin Steffen: Jüdische Polonität. Ethnizität und Identität im Spiegel der polnischsprachigen jüdischen Presse 1918–1939, Göttingen 2004.

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betonte der Gehilfe des Generalgouverneurs General-Major Utgof die Stärke der Nationaldemokraten. Keine der anderen Parteien oder Strömungen verfüge, so Utgof, über eine vergleichbare Logistik und ein ähnliches Mobilisierungspotential wie die Endecja.112 Gleichzeitig beschrieben zarische Berichterstatter mit Sorge den sich zuspitzenden Konflikt zwischen Juden und Christen. Im Lagebericht des Warschauer Oberpolizeimeisters wurde der polnisch-jüdische Antagonismus bereits für das Jahr 1912 als das zentrale gesellschaftliche Problem charakterisiert.113 Im gleichen Jahr begannen die Behörden, antijüdische Dokumente, Flugblätter und Presseartikel systematisch zu sammeln und zu analysieren.114 1913 hatte sich in ihrer Wahrnehmung die Lage noch deutlich verschlimmert, wenngleich es, wie der Oberpolizeimeister schrieb, „noch nicht zu Exzessen“ gekommen sei. Der Bericht ließ keinen Zweifel, dass mit einer solchen Zuspitzung aber durchaus zu rechnen sei.115 Diese distanzierte, aber genaue Beobachtung der Krise verweist auf die grundlegende Frage, inwieweit die zarischen Autoritäten einen antijüdischen Konflikt duldeten oder sogar lancierten. In seiner überzeugenden Studie zum Pogromjahr 1881 hat Michael Ochs nachgezeichnet, dass es den höheren Beamten vor allem um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ging.116 Ein solches Bemühen lässt sich ebenso für die Folgejahre nachzeichnen. Die lokalen Behörden intensivierten die Sicherheitsvorkehrungen regelmäßig an potentiell gefährlichen Kalenderdaten wie Ostern oder Weihnacht, aber auch in der Zeit größerer Jahrmärkte. So forderte der Generalgouverneur Gurko für den zehnten Jahrestag des Warschauer Weihnachtspogroms 1891 eine Verstärkung der Wachposten durch Militäreinheiten an und der Oberpolizeimeister erteilte den Polizisten die Anweisung, Orte der Massenkommunikation wie Kirchen, Telegraphenämter und Tavernen intensiv zu beobachten und alle Formen von Versammlungen zu unterbinden.117 Zweifellos gab es vor allem nach der Jahrhundertwende genug Fälle, in denen lokale zarische Autoritäten mit ihrer pas-

|| 112 APW, t.24 (WWO), sygn.261, kart.1–32, hier kart.16–17 [Stimmungsbericht zur Lage im Kraj, 1913]. 113 Bericht des Oberpolizeimeisters zu 1912, vom 3.12.1913, in: Halina Kiepurska/Zbigniew Pustuła: Raporty Warszawskich Oberpolicmajstrów, Dok. 20, S. 119. 114 GARF, f.102, 4 g-vo, 1912, d.310 [Sammlung von Auszügen aus der Presse, 1912]. 115 Bericht des Oberpolizeimeisters zu 1913, vom 2.3.1915, in: Halina Kiepurska/Zbigniew Pustuła: Raporty Warszawskich Oberpolicmajstrów, Dok. 21, S. 125. 116 AGAD, Warszawski Komitet Cenzury, sygn.36, kart.187–191v [Anweisung des WGG, 14.11.1885]. 117 GARF, f.726, op.1, d.26, l.116 [Direktive des WOPM, 3.12.1891]; l.117 [Rundschreiben des WOPM, 2.12.1891].

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siven, abwartenden Haltung den Ausbruch und den hohen Blutzoll antijüdischer Gewalt mitzuverantworten hatten, während sich einzelne Polizeibeamte und Soldaten auch direkt an Plünderungen und Ermordungen von Juden beteiligten.118 Von einer allgemeinen Duldung oder gar systematischen Anheizung des ethnisch-konfessionellen Konflikts lässt sich jedoch weder für das pogromintensive russische Ansiedlungsrayon noch für das in dieser Beziehung relativ ruhige Weichselland sprechen.119 Das gilt für das Königreich für die Jahre nach der Revolution von 1905 in besonderem Maße. Nach der Gewalteruption und dem zwischenzeitlichen Kontrollverlust waren die zarischen Amtsträger primär daran interessiert, „Ruhe und Ordnung“ im öffentlichen Raum sicherzustellen. Diese traditionelle Handlungsmaxime der Behörden gewann hier eine Vordringlichkeit, die alle Planspiele konterkarierte, mit dem Schüren ethnisch-konfessioneller Konflikte eine Teile-und-Herrsche-Politik zu lancieren. Der Eifer, den die Administration an den Tage legte, um Fälle ethnisch oder religiös motivierter Gewalttaten zu untersuchen sowie die Schuldigen zu bestrafen, zeugt davon, wie sehr die Behörden den jüdisch-polnischen Konflikt als potentielle Bedrohung staatlicher Ordnung begriffen.120 Zu der Maxime von Konfliktbegrenzung gehört ebenso, dass untere Beamte, die bei ihrer Dienstausübung versagt hatten, gemaßregelt wurden.121 Insgesamt spricht wenig dafür, dass die zarischen Behörden die polnischjüdischen Spannungen als willkommenen Stellvertreterkonflikt tolerierten oder gar befeuerten. Bereits 1912 klangen die Berichte aus den polnischen Provinzen ernsthaft besorgt.122 Als dies tatsächlich eintrat und der antijüdische Boykott nach Einschätzung der leitenden Beamten einen kritischen Grenzwert erreichte, griff der Generalgouverneur im November 1912 mäßigend ein. Zunächst wies Skalon das Komitee für Druckangelegenheiten an, gegen Boykottaufrufe vorzu-

|| 118 Vgl. Frank Golczewski: Polnisch-jüdische Beziehungen, v. a. S. 86–89; Heinz-Dietrich Löwe: The Tsar and the Jews. Reform, Reaction, and Anti-Semitism in Imperial Russia, 1772–1917, Chur 1993, S. 223–225. 119 So auch Hans Rogger: The Jewish Policy of Late Tsarism. A reappraisal, in: Hans Rogger (Hrsg.): Jewish Policies and Right-Wing Politics in Imperial Russia, Berkeley 1986, S. 25–39; Robert Weinberg: Pogrom of 1905 in Odessa, S. 267–268. 120 AGAD, KGGW, sygn.6412, kart.1–6 [Briefverkehr zu einer anonymen Beschwerde, Januar 1913]. 121 AGAD, PomGGW, sygn.1212, kart.86–89 [Untersuchungen zur Ermordung des Fuhrmanns Icek Don, 27.8.1910]. 122 RGIA, Čital’nyj zal, op.1, d.69, ll.119–121 [Bericht Jačevskijs aus dem Piotrkówer Gouvernement, 1912].

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gehen.123 Im Dezember 1912 sprach er zudem eine Warnung an den katholischen Erzbischof in Warschau aus, dass keine den Boykott befürwortenden Predigten zu dulden seien.124 In Erinnerung daran, dass der letzte Warschauer Pogrom 1881 am Weihnachtsfest begonnen hatte, verstärkten die Autoritäten zum katholischen Festtag die Truppenpräsenz auf den Straßen der Stadt.125 Als sich die Lage im Folgejahr nicht beruhigte, sondern unter anderem auch durch den Beginn des Ritualmordprozesses gegen Mendel Bejlis in Kiew angeheizt wurde, erließ der Generalgouverneur im September 1913 einen „bindenden Beschluss“. Per administrative Anordnung sprach er ein Verbot „jeglicher Aktivitäten mit dem Ziel der Organisation, Unterstützung und Förderung des Boykotts von Einzelpersonen, Nationalitäten oder Bevölkerungsteilen“ aus.126 Diese ultimative Aufforderung zeitigte in der Einschätzung der Behörden rasch eine beruhigende Wirkung.127 Dennoch führten die zarischen Berichte die „jüdisch-polnischen Beziehungen“ als feste Kategorie bei ihrer Problemerfassung, selbst nachdem der Boykott nachgelassen hatte. So wurde nach dem September 1913 noch genau notiert, welche Strömungen und Presseorgane für eine Fortführung des Boykotts plädierten, wie erfolgreich diese noch bei der Mobilisierung der Bevölkerung waren und welche Gemeinden die Vertreibung von Juden aus den Ortschaften oder Dörfern forderten.128 Zugleich erwartete man weiterhin eine erneute Eskalation, da ein Teil der polnischen Bevölkerung unter Einfluss solcher Organe wie Głos Polski und Gazeta Poranna 2 grosze stünde. Diese würden die Verweigerungskampagne indirekt anfachen, indem sie jüdische Händler, Handwerker und Freiberufler stigmatisierten.129 Nicht nur diese anhaltende Sorge um eine mögliche erneute Zuspitzung der Auseinandersetzungen spricht dafür, dass die imperialen Beamten die Spannungen keinesfalls als Blitzableiter für gesellschaftliche Unzufriedenheit verstanden und dementsprechend tolerierten oder gar beförderten. Die zarischen

|| 123 APW, t.22 (ZOW), sygn.22, kart.1 [Anweisung des WWG an das Komitee für Druckangelegenheiten, 9.11.1912]. 124 RGIA, f.821, op.128, d.989, ll.17–20 [Anordnung des WGG Skalon, 19.12.1912]. 125 GARF, f.726, op.1, d.21, l.279 [Befehl des Truppenkommandierenden des Militärschutzes Warschaus, 10.12.1912]. 126 RGIA, f.821, op.128, d.989, ll.50–56 [Erlass des WGG Skalon, 7.9.1913]. 127 So das retrospektive Urteil des Gehilfen des WGG. APW, t.24 (WWO), sygn.261, kart.1–32 [Bericht zur politischen Stimmung, 1913]. 128 APW, t.24 (WWO), sygn.261, kart.1–32 [Bericht zur politischen Stimmung, 1913], kart.16–17. 129 APW, t.24 (WWO), sygn.263, kart.1–6v [Bericht über die Tätigkeiten politischer Organisationen in Warschau, 14.1.1914].

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Amtsträger im Königreich, wie in anderen Peripherien des Imperiums auch, waren kurz vor dem Ersten Weltkrieg vorsichtiger mit einer solchen konfliktverschärfenden Teile-und-Herrsche-Politik geworden.130 Einerseits mangelte es ihnen dafür zu sehr an einer Vorstellung von den weiterreichenden Zielen politischer Umgestaltung, für die man Bevölkerungsgruppen hätte gegeneinander ausspielen können. Das Hauptaugenmerk der Behörden vor Ort lag auf der alltäglichen Administration; eine programmatische Reflexion über Zukunftsmodelle für die verwaltete Gesellschaft betrieben sie kaum. Von einer reflektierten Nationalitätenpolitik lässt sich zumindest bei den lokalen Amtsinhabern – all ihren Entscheidungsvollmachten für diese Belange zum Trotz – nicht sprechen. Dazu kam, dass die jüngsten Erfahrungen der Revolution von 1905 zur Vorsicht mahnten. Inzwischen hatten die zarischen Entscheidungsträger die Naivität der 1880–90er Jahre abgelegt, als sie noch glaubten, mit der Förderung der „kleinen Völker“ ein handhabbares Instrument zu besitzen, mit dem die Dominanz von eingesessenen Eliten an der Peripherie gebrochen werden könnte. Eindringlich hatten hier die Ereignisse der Ostseeprovinzen gezeigt, dass die nationale und revolutionäre Mobilisierung der Letten und Esten eine viel fundamentalere Bedrohung für die Monarchie darstellte, als es die baltendeutsche Oberschicht je gewesen war.131 Das gegenseitige Ausspielen von Nationalitäten hatte sich hier als eine Politik entpuppt, die letztlich das Regime selbst in Gefahr brachte. Im Königreich Polen hatte eine solche Option ohnehin nur in begrenztem Maße bestanden. Zwar lässt sich von einer gewissen Bevorzugung der litauischen Bevölkerung durch die Behörden sprechen: Diese zeigten sich gegenüber den Aktivitäten der litauischen Nationalbewegung in der Provinz Suwałki deutlich nachsichtiger, als es die Amtsinhaber auf der anderen Seite der Verwaltungsgrenzen in den nordwestlichen Gebieten waren.132 Die Litauer dienten immer wieder als bequemes Argument, wenn es darum ging, polnischen Hegemonieansprüchen im Königreich zu begegnen und auf den Vielvölkercharakter des Weichsellands zu verweisen.133 Derartige Ansätze einer Divide-et-imperaKonzeption zeitigten aber auch im Königreich problematische Folgen, als sich die Provinz Suwałki in den Jahren 1905–06 zu einem Zentrum der Revolution entwickelte und die Autoritäten von der dortigen Stärke einer litauischen Nati|| 130 Vgl. Darius Staliunas: Russian Nationality Policy. 131 Vgl. Gert von Pistohlkors: „Russifizierung“ in den baltischen Provinzen, v. a. S. 416–435. 132 Vgl. Tomas Balkelis: The Making of Modern Lithuania, London 2009; Miroslav Hroch: Vorkämpfer der nationalen Bewegung. 133 AGAD, KGGW, sygn.9012, kart.110 [Programm der Russkoe obščestvo v Varšave, AugustSeptember 1907]. Predvybornye izvestija Russkogo obščestva, Nr. 1 (30.8.1907), S. 1.

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onalbewegung überrascht wurden.134 Es waren derartige Erfahrungen, die die lokalen Autoritäten in der nachrevolutionären Periode vorsichtiger agieren ließen. Eine Schürung des polnisch-jüdischen Antagonismus zur indirekten Herrschaftsstabilisierung verbot sich hier als politische Option. So formulierte es Skalon Anfang 1913 auch explizit: Die Regierung habe „ihre unparteiische Haltung gegenüber beiden Nationalitäten beizubehalten.“135 Insgesamt war das Bestreben der zarischen Beamten, die Kontrolle über die Ereignisse zu bewahren, durchaus erfolgreich. Angesichts der Pogromintensität des Ansiedlungsrayons seit der Jahrhundertwende war dies keine Selbstverständlichkeit. Zwar hatten die Nationaldemokraten selbst zu einem nicht gewaltsamen Vorgehen gegen Juden aufgerufen.136 Aber schon dies offenbarte die konfliktbegrenzende Macht der imperialen Autoritäten, die eine Eskalation der antijüdischen Tiraden hin zu offenen Gewaltappellen unterband. Die zwischenzeitliche Erosion von Staatlichkeit, die in vielen Fällen den Oktoberpogromen von 1905 Vorschub geleistet hatte, war inzwischen der stabilen staatlichen Absicherung von öffentlicher Ordnung gewichen. Im polnisch-jüdischen Konflikt im Weichselland kam es so, abgesehen von kleinen Vorfällen im Warschauer Gouvernement, zu keinem Ausbruch antijüdischer Gewalt.137 Es stellt sich allerdings die Frage, warum die imperiale Administration derart lange untätig der Steigerung der antijüdischen Pressekampagne während der Jahre 1906–12 zugesehen hatte. Dies hing zum einen damit zusammen, dass man den Nationaldemokraten als den vermeintlichen Verbündeten im polnischen Lager größere Spielräume ließ. Darüber hinaus machte es sich bemerkbar, dass viele der antijüdischen Grundannahmen auch in den Kreisen der zarischen Bürokratie geteilt wurden. So war der Topos vom jüdischen Revolutionär hier ebenso verbreitet wie das Bild von einer jüdischen wirtschaftlichen Dominanz oder einer besonders ausgeprägten Ausbeutung der Arbeitnehmer durch Juden. Auch wurden die jüdischen Quartiere schnell als Brutstätten von Krankheiten und jüdische Händler als Seuchenüberträger identifiziert.138 Antijüdische Denkmuster waren also unter den Beamten sehr präsent, sie wurden aber durch

|| 134 Siehe Robert E. Blobaum: Rewoljucja, v. a. S. 131–133, S. 147–148 und S. 155–156. 135 RGIA, f.1284, op.194, 1913, d.87, l.5 [Anordnung des WGG Skalon, Januar 1913]. 136 Varšavskij dnevnik, Nr. 292 (21.10.1908) S. 2. AGAD, KGGW, sygn.7739, kart.59 [Bekanntmachung des WGG Skalon, 21.10.1908]. 137 AGAD, PomGGW, 390 [Bericht des WOPM, 19.8.1913]. 138 AGAD, KGGW, sygn.6481, kart.2–38ob, hier kart.5 und kart.30–30v [Schreiben Millers an den WGG Gurko, 14.11.1894]. Vgl auch P. I.: Evrei v Privisljanskom krae, St. Petersburg 1892; Vasilij I. Gurko (Pseudonym V. R.): Očerki Privisljan’ja, Moskau 1897.

13.4 Ein fremdes Königreich? Das Weichselland am Vorabend des Weltkriegs | 411

eine ebenso stark ausgeprägte antipolnische Einstellung zumindest partiell neutralisiert.139 Die zögerliche, beobachtende Haltung der Autoritäten erklärt sich aber auch aus dem Umstand, dass nach der Aufhebung des Kriegsrechts nur noch begrenzte Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die lokale Presse gegeben waren. Wenn die Administration nicht einmal einschritt, als die Warschauer Tageszeitungen die Missstände in der Verwaltung skandalisierten, wie indifferent mussten sich die Entscheidungsträger dann gegenüber einem Konflikt verhalten, den sie vor allem als innerpolnisch-jüdische Auseinandersetzung wahrnahmen. Solange die Krise sich nicht zu einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung auswuchs, bestand für die imperialen Autoritäten kein Handlungsbedarf. Im Selbstbild einer nicht-interventionistischen Staatsverwaltung überließ man die gesellschaftliche Konfrontation lange ihrem eigenen Lauf. Und nicht zuletzt zeigte sich hier, wie sehr die Spannungen als „Konflikt der Anderen“ wahrgenommen wurden. Die Behörden zogen sich hier auf eine reine Sicherungsfunktion zurück, ohne sich in die Auseinandersetzung weitergehend zu involvieren. Wie bei so vielen anderen Beispielen zeigte sich hier, dass die imperiale Herrschaft die Ereignisse und Entwicklungen im Königreich kaum als etwas „Eigenes“ begriff. Im Denken der Autoritäten blieb die fundamentale Fremdheit bestehen, in der man den Status des externen Beobachters und Bewahrers staatlicher Rahmeninteressen konservierte, ohne in weiterreichende Interaktion mit der indigenen Bevölkerung dieses „fremden Landes“ zu treten.

13.4 Ein fremdes Königreich? Das Weichselland am Vorabend des Weltkriegs Dass eben diese Bevölkerung sich unter den neuen Bedingungen einer legalisierten Öffentlichkeit vor allem damit beschäftigte, „innere Feinde“ zu lokalisieren, hatte für die zarische Verwaltung den unintendierten, aber willkommenen Nebeneffekt der Konfliktverlagerung. Denn die Intensität innergesellschaftlicher Auseinandersetzungen trug zweifellos dazu bei, dass die sich zurückhaltende Administration vor Ort in der polnischen Perspektive ihren primären Bedrohungsstatus verlor. Allerdings führten die politischen Debatten, die die Jahre 1906–14 prägten, keinesfalls zu einer stärkeren Integration des Weichsel-

|| 139 AGAD, KGGW, sygn.9068, kart.101 [Brief des Warschauer Gouverneurs an den WGG, 18.5.1908]; kart.146–155 [Brief des WGG an Stolypin, 2.6.1908]. Zu diesem Schluss kommt auch Weeks. Vgl. Theodore R. Weeks: Polnisch-jüdische Beziehungen, S. 19.

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lands in das imperiale Gesamtgefüge. Zwar hatte sich mit dem Oktobermanifest die neue politische Öffentlichkeit im Königreich an die Situation im Reichsinneren angeglichen. Nun saßen polnische Delegierte in einer gemeinsamen Volksvertretung mit Abgeordneten aus allen anderen Reichsgebieten zusammen und mit der Pressefreiheit entwickelte sich ein unzensierter Informationsfluss zwischen Zentrum und Peripherie. Aber die lokale Eigenlogik, die bereits die Revolution im Königreich geprägt, bestimmte auch nach 1906 die weitere Entwicklung. Auch in der kurzen Dekade vor dem Ersten Weltkrieg war die politische Öffentlichkeit im Weichselland durch einen eigenen Rhythmus und spezifische Problemstellungen gekennzeichnet. Die Revolution von 1905 hatte in vielem die Erfahrung polnischer Partikularität bestärkt; sie wurde von den polnischen Beteiligten vor allem als regionaler Aufstand wahrgenommen, der nur sehr wenig im Austausch mit den innerrussischen Ereignissen stand. Diese selbstgewählte Apartheid politischer Akteure zeigte sich im Folgenden besonders eindringlich in der Sonderstellung und Isolation des polnischen koło in der Duma.140 Aber die gesamte politische Öffentlichkeit in Polen war von einer enormen Selbstreferentialität geprägt: Das Thema der polnischen Autonomie, die Debatten um die Selbstverwaltung polnischer Städte, nicht zuletzt der polnischjüdische Konflikt – all dies trug dazu bei, dass sich die Öffentlichkeit im Weichselland primär mit sich selbst beschäftigte, höchstens den Petersburger Einfluss registrierte und diesen in der Regel scharf verurteilte. Insofern wirkte die politische Kultur im Königreich nach 1906, auf den imperialen Gesamtzusammenhang bezogen, keineswegs integrativ. Denn in einer solchen Fixierung auf den polnischen Sonderstatus blieb im Aufmerksamkeitsspektrum wenig Platz für andere, nicht-polnische Angelegenheiten. Das Imperium als übergeordneter Kontext wurde in den polnischsprachigen Presseorganen der letzten Vorkriegsjahre kaum noch reflektiert. Eine solche perpetuierte Fremdheit des Königreichs im Kaiserreich wurde auch auf Seiten der imperialen Verwaltungsträger wahrgenommen. Anders als in der aggressionsgeladenen diskursiven Aneignung der polnischen Provinzen durch die russischen Nationalisten verstärkte sich bei den zarischen Beamten in den Jahren vor dem Weltkrieg die Einsicht, dass das Weichselland zwar militärisch befriedet war, aber eine weiterführende Vereinigung oder gar organi-

|| 140 Vgl. auch Edward Chmielewski: Polish Question; Zygmunt Łukawski: Koło Polskie w Rosyjskiej Dumie Państwowej w latach 1906–1909, Wrocław 1967.

13.4 Ein fremdes Königreich? Das Weichselland am Vorabend des Weltkriegs | 413

sche Verschmelzung mit den russischen Kernländern des Imperiums kaum möglich sei.141 Und so deuteten sich in den letzten Jahren russischer Herrschaft in Polen ein weitgehender Rückzug und eine zunehmende Selbstabschließung der imperialen Verwaltung an. Hatte man in früheren Jahren noch selbstbewusst und kulturell kolonisierend imperiale Loyalitätsbekundungen an die polnischen Untertanen herangetragen oder hatte man sie zumindest aus der Warte der Machtüberlegenheit heraus zur rituellen Partizipation genötigt, so wiesen die internen Dekrete des Generalgouverneurs anlässlich der 100-Jahr-Feierlichkeiten zur Schlacht bei Borodino in eine ganz andere Richtung. Hier erfolgte ausdrücklich die Anweisung, Festlichkeiten nur in den Kreisen der Beamtenschaft und höchstens in Orten mit einer eindeutigen russischen Bevölkerungsmehrheit zu veranstalten.142 Dies hatte sicherlich auch mit dem konkreten Festanlass zu tun, der wegen der Frankreichverklärung bei vielen polnischen Meinungsvertretern ein problematisches und potentiell konfliktträchtiges Jubiläum darstellte. Hier scheint aber zugleich die Selbstbeschränkung einer herrschaftlichen Elite auf, die alle Ansprüche auf eine symbolische Integration der lokalen Bevölkerung hatte fallen lassen. Die Polen als partizipierende Untertanen schienen inzwischen bereits weitgehend verloren. Gerade auch die hektischen Maßnahmen der imperialen Behörde angesichts der wachsenden Kriegsgefahr zeugen davon, wie tiefgreifend das Misstrauen gegenüber der Loyalität der Polen war. Waren längst alle Pläne zu einer weiterführenden Russifizierung der Provinzen aufgegeben, so versuchte man 1913–14 zumindest in kriegswichtigen Bereichen und an strategischen Punkten eine partielle Stärkung des „russischen Elements“ durchzusetzen. Einer als wahrscheinlich geltenden grenzüberschreitenden und antirussischen Fraternisierung der Polen sollte so entgegengewirkt werden. Diesen späten Bemühungen war allerdings vor Kriegsausbruch kein Erfolg mehr beschieden.143 Letztlich verfügten die imperialen Verwaltungseliten in diesen letzten Vorkriegsjahren über kein Konzept, wie es im und mit dem Weichselland weitergehen sollte. Die Resignation der Reichsbeamten war zweifellos groß, die Ausweglosigkeit der Situation durchaus reflektiert. Einzig die Gewissheit einer militärischen Überlegenheit gegenüber allen bewaffneten Aufstandsversuchen mochte hier beruhigen. Die weitgehenden Evakuierungspläne der Administrati|| 141 APW, t.24 (WWO), sygn.263, kart.1–6 [Berichte über politische Entwicklungen in Warschau, 14.1.1914]. 142 GARF, f.726, op.1, d.21, l.100–101 [Beschluss des WGG, 25.7.1912]. 143 AGAD, KGGW, sygn.5076, kart.1–3v [Schreiben des Innenministeriums an den WGG Žilinskij, 21.5.1914].

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on verweisen allerdings darauf, dass sich die zarischen Verantwortlichen sehr bewusst waren, wie wenig die westliche Landzunge im Kriegsfall zu verteidigen sein werde.144 Natürlich blieb eine Sezession der polnischen Provinzen eine vollkommen undenkbare Option und dies nicht nur aus militärstrategischen Überlegungen heraus. Das russische Imperium basierte auf der Grundannahme unantastbarer territorialer Einheit. Es konnte durch Eroberungen erweitert werden, aber ein Verlust bereits eroberter Territorien war unvorstellbar. Seit mehr als zweihundert Jahren fußte das Selbstverständnis der Romanow-Monarchie und seiner tragenden Eliten auf diesem Prinzip der territorialen Expansion und der Unantastbarkeit der Reichseinheit.145 Es war daher wenig verwunderlich, dass die Uneinsichtigkeit der polnischen Untertanen hier kein radikales Umdenken hervorrief. Nicht einmal in der fundamentalen Krisensituation des Weltkriegs waren die zarischen Eliten bereit, auf „ihr“ Polen zu verzichten. In dem Manifest des Großfürsten Nikolaj Nikolaevič vom 1. August 1914 stellte Petersburg zwar ein wiedervereinigtes Polen mit Selbstverwaltung und „Freiheit in Glauben und Sprache“ in Aussicht, an der Fiktion einer Union mit dem Russischen Reich wurde aber unverändert festgehalten: Die Wiedervereinigung sollte unter dem Zepter des Zaren erfolgen. Es überrascht kaum, dass dieses Versprechen auf geringe Gegenliebe bei den polnischen Untertanen stieß.146 Die imperialen Autoritäten im Weichselland und in Petersburg steuerten also weitgehend konzeptlos auf das Fiasko des Ersten Weltkriegs zu. Dennoch soll keiner Teleologie des Untergangs das Wort geredet werden. Es bedurfte erst des externen Faktors Krieg, um das Ende der russischen Herrschaft über das Königreich zu besiegeln. Erst der Vormarsch der deutschen Truppen im Sommer 1915 beendete die langen 123 Jahre Petersburger Präsenz in Polen. Insofern ist auch Vorsicht gegenüber einer Sichtweise geboten, die für die letzte Vorkriegsdekade vor allem die Kontinuität der Krise und Gewalt betont und von einer spezifischen chronologischen Verbindung zwischen 1905 und 1921 spricht.147 Denn eine solche eindeutige Chronologie unterschlägt jene Entwicklungsstränge, die auf eine partielle Stabilisierung der inneren politischen Lage in den Jahren nach 1906 und vor allem seit der Aufhebung des Kriegsrechts 1909 hinweisen. Die Jahre nach der Revolution waren eben gerade durch ihre irritierende Parallelität || 144 GARF, f.215, op.1, d.119, ll.1–267 [Evakuierungspläne, 1912–13]. 145 Vgl. Richard Wortman: Ceremony and Empire. 146 Siehe dazu im Detail Jeffrey Aaron Mankoff: Polish Question, S. 151–167. 147 Vgl. z. B. Peter Holquist: Epoch of Violence, S. 630–633; Stephen G. Wheatcroft: The Crisis of the Late Tsarist Penal System, in: Stephen G. Wheatcroft (Hrsg.): Challenging Traditional Views of Russian History, New York 2002, S. 27–54, S. 43–44.

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Abb. 30: Abzug der zarischen Truppen. Photographie von Stanisław Nofok-Sowiński (4. August 1915)

von Dauerkrise und Normalisierung sowie ihre paradoxe Gleichzeitigkeit von hohem Gewaltniveau und einer befriedenden Legalisierung der politischen Öffentlichkeit gekennzeichnet. Zu dieser Periode gehört gleichfalls der Widerspruch, dass sich die polnische Gesellschaft sukzessive abschloss, während eine erneute bewaffnete Erhebung gegen die imperiale Ordnung zunehmend unwahrscheinlicher wurde. Und nicht zuletzt ist auch die Ambivalenz, die die Petersburger Repräsentanten auszeichnete, paradigmatisch für diese Phase der Uneindeutigkeit: Ihre Glaubensbekenntnisse zur ewigen Dauer russischer Herrschaft im Weichselland und ihre Resignation über die gescheiterte Integration des Landstrichs, ja, sogar ihre vorsichtigen Absetzungsbewegungen in geheimen Evakuierungsplänen waren allesamt parallele Erscheinungen. Den zarischen Amtsträgern in Warschau wurde die Entscheidung, wie sie sich zu ihrer eigenen Ambivalenz verhalten sollten, abgenommen. Im Juli und August 1915 wurde die Festung Warschau vor den anrückenden deutschen Truppen geräumt und Pioniere der russischen Armee sprengten die Weichselbrücken. Die imperialen Beamten hatten kurz zuvor die Stadt verlassen – die meisten für immer, manche bis zu ihrer unerwarteten Rückkehr als Flüchtlinge vor den Bolschewiki.

| Teil VI: Das Königreich Polen und das Russische Imperium – Schlussbemerkungen

14 Das Weichselland unter Petersburger Herrschaft Die Petersburger Herrschaft über die östlichen Teilungsgebiete der polnischlitauischen Adelsrepublik währte länger als ein Jahrhundert. Mehrfach wurde sie in bewaffneten Erhebungen herausgefordert. Der Kościuszko-Aufstand von 1794, die Rebellion von 1830–31, der Januaraufstand von 1863–64 und die Revolution von 1905–06 – sie alle stellten die russische Hegemonie in Frage. Aber letztlich erwies sich die militärische Macht der Autokratie als überlegen und die zarische Armee als sicherer Garant des russisch-imperialen Herrschaftsanspruchs. Innerhalb dieses langen Jahrhunderts Petersburger Präsenz markiert die Januarerhebung von 1863–64 einen Wendepunkt. Mit der Schaffung des Weichsellands und den korrespondierenden administrativen Reformen etablierten die zarischen Autoritäten nicht nur ein neues System imperialer Verwaltung, sie veränderten auch die grundlegenden politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Entwicklung der polnischen Provinzen für die nächsten fünf Dekaden verlief. Vieles spricht deshalb dafür, die Periode von 1864 bis 1915 als eine Einheit zu verstehen, die sich durch tiefgreifende Zäsuren von der vorhergehenden und der nachfolgenden Zeit absetzt. Diese Studie hat die Grundzüge der fünf Jahrzehnte imperialer Herrschaft im Königreich vorgestellt und einige der wesentlichen Kontaktzonen und Konfrontationsfelder zwischen Staatsbürokratie und lokaler Bevölkerung benannt. Zusammenfassend seien die zentralen Dimensionen dieser Konfliktgemeinschaft rekapituliert. Denn diese Befunde erlauben zugleich ein Urteil über die Stellung, die das Königreich Polen im Gesamtgefüge des Russischen Imperiums einnahm. Die Petersburger Verwaltung des Weichsellands blieb in dem behandelten halben Jahrhundert weitgehend unverändert. Die administrative Umstrukturierung der polnischen Provinzen nach dem Januaraufstand hatte neben der nachhaltigen Pazifizierung der Region vor allem auf die Angleichung der Verwaltungsprinzipien der Randregion an die des Zentrums gezielt. Diesbezüglich von einer „Russifizierung“ zu sprechen, würde den Tatbestand vernachlässigen, dass es um eine reichsweite, also imperiale Unifizierung ging, die von den Großen Reformen Alexanders II. generell angestrebt war. Zweifellos gehörte zu dieser administrativen Transformation im Weichselland als zentrales Moment die Depolonisierung der Lokalverwaltung. Auch wenn es kaum gelang, die Zahl polnisch-katholischer Beamter im Staatsdienst nachhaltig zu reduzieren, so stellten die Petersburger Autoritäten zumindest doch sicher, dass die gehobenen Posten von nicht-katholischen, vor allem orthodoxen Amtsträgern beklei-

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det wurden. Sie produzierten damit eine fortwährende Fremdheit der Behördenleiter im Weichselland. Innerhalb dieser Administration markierte der Warschauer Generalgouverneur das lokale Machtzentrum. Es war dieser Gesandte des Zaren, der im Wesentlichen die Ausrichtung der imperialen Herrschaft in der Provinz bestimmte. Wenngleich sich die zentralen Instanzen in Petersburg, wie das Komitee für die Angelegenheiten des Königreichs Polen, das Ministerkomitee oder die einzelnen Minister und nicht zuletzt der Autokrat selbst, regelmäßig der ebenso wichtigen wie unruhigen Reichsregion widmeten, so prägte in erster Linie doch der Generalgouverneur die tatsächlichen Regierungsgeschäfte. Er konnte sich mit Hilfe seiner Vollmachten, seiner zentralen Stellung im Apparat sowie seiner lokalen Präsenz in zahlreichen Konflikten mit den zentralen Ministerien, allen voran dem Innenministerium, behaupten. Bei aller Homologie, die die sozial-ständischen und die Ausbildungshintergründe sowie die Karrieremuster aller Warschauer Generalgouverneure kennzeichnete, vertraten die zehn obersten Beamten im Weichselland doch abweichende Konzeptionen von Herrschaftsausübung. Diese divergierten vor allem bei ihren jeweiligen Überlegungen, ob, in welchen Bereichen und mit welchen Partnern eine Kooperation mit der einheimischen Bevölkerung erstrebenswert sei. Insofern waren die Regime von Generalgouverneuren wie Al’bedinskij, Gurko, Imeretinskij oder Skalon auch von erheblichen Unterschieden in der Konfliktintensität gekennzeichnet. Zugleich wurden die jeweiligen Amtsperioden aber auch von den Paradoxien imperialer Herrschaft geprägt, die allgemein die Verwaltungspraktiken zarischer Autoritäten auszeichneten. In einem wenig konzeptgeleiteten, eher von akuten Alltagsfragen gesteuerten Manövrieren des russischen Vielvölkerreichs lässt sich nur schwerlich von einer kohärenten „Nationalitätenpolitik“ sprechen. Dies zeigte sich nicht zuletzt paradigmatisch an den uneindeutigen Personalentscheidungen, mit denen das Innenministerium oder die Generalgouverneure oft widersprüchliche Signale setzten. So kam es zu Amtsgleichzeitigkeiten von sehr ungleichen Charakteren, die sich gerade auch in ihrer Kommunikation mit der lokalen Gesellschaft erheblich unterschieden. Die Ernennung des Bildungskurators Apuchtin unter dem Generalgouverneur Al’bedinskij oder die Tätigkeit der Gouverneure Tolstoj und Daragan sowie des Stadtpräsidenten Starynkevič während der Amtsführung des Generalgouverneurs Gurko – solche Beispiele zeigen, dass die zarische Bürokratie zu keinem Zeitpunkt eine einheitliche Linie vor Ort verfolgte. Die große Heterogenität des imperialen Verwaltungsapparats produzierte nicht nur intern zahlreiche Friktionen, sie bewirkte auch, dass von einem monolithischen Auftreten der Petersburger Repräsentanten im Weichselland keine Rede sein kann. Diese Uneindeutigkeiten erklären andererseits die gelegentlich erstaunliche

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Flexibilität der Administration, die in der Praxis viel örtlichen Gestaltungsspielraum ließ. Mittelbar trug dies zweifellos erheblich zur Langlebigkeit der bestehenden Strukturen bei. Das hing auch damit zusammen, dass die leitenden lokalen Amtsträger zwar keine Einheimischen waren, sich aber etliche von ihnen über die Dienstjahre in den polnischen Provinzen dennoch zu Kennern des Landstriches entwickelten. Das galt aufgrund der langen Amtszeiten auch für einige der Generalgouverneure. Das Rotationsprinzip des zarischen Verwaltungsapparats sorgte aber ebenso dafür, dass etliche von ihnen zuvor an zahlreichen Orten des Weichsellands in verschiedenen Positionen gedient hatten. Wer immer von ihnen bereit war, die begrenzte Zusammenarbeit mit den lokalen Eliten zu suchen, der wusste, an wen er sich zu wenden hatte. Gleichwohl war ein jahrelanger Aufenthalt im Weichselgebiet keine Garantie für eine pro-polnische Haltung; Beispiele wie das des Gouverneurs und späteren Senators Dmitrij Nejdgart zeugen davon. Aber es lässt sich auch nicht behaupten, dass das unmittelbare Erlebnis eines imperial-polnischen Antagonismus generell polonophobe Einstellungen bei den Amtsträgern hervorgerufen hätte. Nicht alle haben ihre Jahre im Königreich als Fronterfahrung wahrgenommen, die sie im antipolnischen Kampf stählte. Unabhängig von der Dauer des Dienstes und dem Grad der Kooperationsbereitschaft der einzelnen Generalgouverneure bestanden einige Grundannahmen, die alle hohen Beamten der zarischen Bürokratie teilten. Handlungsleitend war vor allem die Einschätzung, dass es sich bei dem Königreich um einen „fremden Landstrich“ handle. War die Unteilbarkeit des Imperiums eine unhinterfragte Größe, so akzeptierten die Amtsträger doch eine grundlegende Differenz zwischen dem Weichselland und dem „Kern Russlands“. Anders als in den westlichen Gouvernements, die man als ur-russische und nur zwischenzeitlich „zwangspolonisierte“ Territorien betrachtete, zielte daher die imperiale Politik im Königreich nicht auf eine basale kulturelle Transformation von Land und Leuten ab. Wenn sich die Generalgouverneure als Vertreter der „russischen Sache“ im Weichselland stilisierten, dann hatten sie primär die Interessen der Petersburger Staatsmacht vor Augen. Wie wenig die hohe Beamtenschaft eine auf die russische Ethnie verengte Herrschaftspraxis verfolgte, zeigt sich unter anderem in den spannungsgeladenen Auseinandersetzungen mit jenem Teil der russischen Öffentlichkeit, der seit der Jahrhundertwende auf eine sehr viel radikalere Nationalisierung des Imperiums drängte. Dennoch wurden die Repräsentanten des Petersburger Zentrums von der indigenen polnischen Bevölkerung vor allem als Handlanger einer Fremdherrschaft wahrgenommen. Vor allem die Zensur- und die Religionspolitik führten zu einem kontinuierlichen Antagonismus zwischen imperialer Verwaltung und

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lokaler Bevölkerung. Das Warschauer Zensurkomitee erwies sich als zentrales Steuerungsorgan von Öffentlichkeit, das selbst in seiner Überforderung, umfassend Kontrolle auszuüben, noch prägend auf die Meinungslandschaft einwirkte. Etliche der Folgewirkungen waren kontra-intentional. So sorgte die strenge Zensur des Warschauer Komitees dafür, dass sich ein gewichtiger Teil der polnischen Schriftproduktion ins nahe galizische Ausland verlagerte. Ungewollt beförderten die Zensoren damit aber einen grenzüberschreitenden Kommunikationshorizont, der permanent an die Einheit der polnischen Teilungsgebiete erinnerte. Dagegen trug das Warschauer Zensurkomitee mit seiner rigiden Filterung der innerrussischen Presse und Literatur dazu bei, dass der intellektuelle Austausch mit den Hauptstädten des Imperiums beschränkt blieb. Auch das Warschauer Zensurkomitee konnte letztlich nicht verhindern, dass sich die Weichselmetropole seit den 1890er Jahren zu einem eigenständigen Zentrum der polnischsprachigen Presse entwickelte. Mit dem Aufstieg der Massenzeitungen und der schnellen Ausdifferenzierung des Publikationsmarktes war die Zensurinstanz in ihrem Kontrollanliegen schon überfordert, bevor die Pressegesetze von 1905–06 die Vorzensur endgültig beseitigten und die Einflussmöglichkeiten der Meinungswächter erheblich beschränkten. Dennoch ist auch in diesen Jahren insofern von einer Prägewirkung der Zensurinstanz zu sprechen, als sie mit ihrer Duldungspolitik erheblich dazu beitrug, dass sich in Warschau bereits frühzeitig eine russisch-nationalistische Öffentlichkeit entfalten konnte. Unter dem Schutzschirm der Zensoren, teilweise sogar von staatlichen Stellen finanziell subsidiert, konnten hier Überlegungen zu einer weiterführenden Nationalisierung des Imperiums frei geäußert werden, weil sie der antipolnischen Sichtweise der Zensoren entsprachen oder diesen zumindest unbedenklich erschienen. Es ist kein Zufall, dass sich Vasilij Gurko mit einem nationalistischen Pamphlet einen Namen machte, nachdem er jahrelang Leiter des Warschauer Zensurbüros gewesen war. Die Konfliktsituation des Weichsellands wirkte hier auch deshalb so prominent auf den innerrussischen Meinungsmarkt zurück, weil das Komitee in Warschau günstige Publikationsbedingungen für die nationalistischen Scharfmacher schuf.1 Das Konfrontationsfeld von Kirchen- und Konfessionspolitik verdeutlicht ebenfalls eindringlich, wie nachhaltig imperiale Herrschaftspraktiken die mentale Landschaft im Königreich prägten. Grundsätzlich erwies sich das konfessionelle Paradigma, das für die zarischen Autoritäten handlungsleitend war, als erstaunlich stabil. Bis zum Ende des Petersburger Regiments war es vor allem

|| 1 Vgl. v. a. die Schrift Vasilij I. Gurko: Očerki Privisljan’ja, publiziert unter dem Pseudonym V. R., Moskau 1897.

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die Kategorie der Religionszugehörigkeit, an der sich die staatlichen Maßnahmen orientierten. So richteten sich die zahlreichen diskriminierenden Gesetze vor allem gegen Katholiken und Juden, während andererseits die Orthodoxie mit der Staatsmacht gleichgesetzt wurde. Nur so ist zu erklären, warum ein orthodoxes Gotteshaus wie die Aleksandr-Nevskij-Kathedrale in Warschau zu einer Demonstration imperialer Macht genutzt werden konnte. Die Konfessionalisierung des politischen Raums zeitigte auch auf polnischer Seite ihre Wirkung. Sie begünstigte dort einen Exklusionsprozess, in dem das Polnisch-Sein immer mehr auf die katholische Konfession verengt wurde. Die Denkfigur des Polen-Katholiken wurde durch eine imperiale Herrschaft bestärkt, die permanent die konfessionelle Differenz betonte und zur Grundlage ihres Handelns machte. Der Kirchenstreit, der um orthodoxe Gotteshäuser und vor allem um die Aleksandr-Nevskij-Basilika entbrannte, trug erheblich zur Politisierung der religiösen Sphäre und des öffentlichen Raums bei und rief bei den Vertretern der polnischen Gesellschaft entsprechende Gegenmaßnahmen hervor. Der Bauboom, der vor allem Warschau in den Jahren um die Jahrhundertwende kennzeichnete, führte zugleich zur Errichtung zahlreicher katholischer Kirchen und bezeugt, wie sehr um Dominanz und Deutungshoheit im urbanen Raum im Medium der Konfession gerungen wurde. Hier zeigte sich zudem der doppelte Fremdheitscharakter der von polnischer Seite gebrandmarkten „Moskowiter Herrschaft“. Auch in konfessionellen Belangen erschien die Petersburger Hegemonie als Besatzungsregime, das die indigene Religion in die Knie zu zwingen versuchte. Die Aporien einer Reformgesetzgebung, die – wie die Direktiven zur konfessionellen Entflechtung der Schulgebete – zunächst auf Zugeständnisse an die katholischen Untertanen abzielte, machten nur deutlich, wie wenig an dem Dominanzgefälle und dem staatlichen Primat der Orthodoxie zu ändern war. Aber gerade die permanenten Auseinandersetzungen der Streitpartner bewirkten, dass die Opponenten aufeinander bezogen blieben. Die zahlreichen Interaktionen in den untersuchten Konfrontationsfeldern bestärkten eine Konfliktgemeinschaft, in der über ganz ähnliche Fragen kommuniziert und in der Regel gestritten wurde. Die Divergenzen hatten den Effekt eines agendasettings: So sehr die Meinungen voneinander abwichen, so sehr verhandelten die Antagonisten doch die gleichen Themen. Die Konfliktsituation im Weichselland war insofern weniger von fundamentaler Fremdheit denn von einem wechselseitigen Bezug und geteilten Problemhorizonten gekennzeichnet. Zu einer Befriedung der Gesamtsituation führte dies nicht, sehr wohl aber zu der Möglichkeit punktueller Kooperation. Letzteres hat vor allem der Blick auf den Alltag der städtischen Verwaltung Warschaus deutlich gezeigt. Denn hier traten zahlreiche Kontaktzonen zwischen

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zarischer Administration und lokaler Gesellschaft zu Tage. Die Profilierung der imperialen Akteure hat auch in diesem Bereich die Heterogenität des Staatsapparats offengelegt. Die entscheidenden Akteure des Warschauer Magistrats, der Behörde des Oberpolizeimeisters, der Kanzlei des Warschauer Generalgouverneurs und des Petersburger Innenministeriums waren bei der Steuerung der Weichselmetropole in ein komplexes Beziehungsgeflecht eingebunden, das sich durch regelmäßige interne Konflikte auszeichnete. Die verschiedenen Amtsträger nahmen funktionsbedingt divergierende Perspektiven auf die Transformation des urbanen Raums ein. Während die zentralen Petersburger Instanzen die Stadt vor allem in einem imperialen Kontext verorteten, vertraten die Warschauer Stadtpräsidenten eine viel stärker auf die lokalen Belange ausgerichtete Orientierung. Gerade dies ermöglichte es ihnen, die Begegnung und den Austausch mit den kooperationswilligen Eliten der örtlichen Stadtgesellschaft zu suchen. Warschauer Positivisten und engagierte lokale Philanthropen entwickelten sich zu Ansprechpartnern, die bereit waren, die Modernisierung der Metropole in Zusammenarbeit mit den Behörden voranzutreiben. Ebenso schufen die geschäftlichen Möglichkeiten, die die zahlreichen Baustellen des boomenden Warschau eröffneten, sowie die technokratischen Visionen der daran maßgeblich beteiligten Ingenieure weitere Räume, in denen die Kooperation zwischen staatlichen Amtsträgern und Vertretern der lokalen Bevölkerung erstaunlich pragmatisch und reibungslos verlief. Die scheinbar klaren Trennlinien zwischen Autoritäten und Gesellschaft wurden gerade bei konkreten Projekten der urbanen Modernisierung uneindeutig, der scheinbar strikte Gegensatz von Russen und Polen verflüchtigte sich. Nicht zuletzt zeigt sich hier, dass das Stigma der zarischen Herrschaft als Instanz, die sich einer städtischen Erneuerung in den Weg stellte, nicht aufrechtzuerhalten ist. Vielmehr legten die staatlichen Akteure der Munizipalbehörde sehr weitreichende Züge einer interventionistischen Leistungsverwaltung an den Tag, die in ihrer Investitionsbereitschaft zum Teil weit über die der Honoratiorenversammlungen der gewählten Stadtdumen hinausging. Sie haben insofern bei dem Wandel Warschaus zur modernen Metropole einen erheblichen Anteil geleistet. Dennoch werden gerade auch im städtischen Raum die „Grenzen der Gemeinsamkeiten“2 einer indigenen Bevölkerung und der imperialen Diaspora offenkundig. Die von Russen dominierte imperiale Gesellschaft in Warschau stand permanent in einem Spannungsverhältnis von Kontakt und Abgrenzung

|| 2 Diese treffende Formulierung stammt von Ulrike von Hirschhausen. Siehe Ulrike von Hirschhausen: Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Riga 1860–1914.

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zu den sie umgebenden polnischen und jüdischen Stadtbewohnern. Die alltäglichen Begegnungen im urbanen Leben sowie die punktuellen Räume und Momente der weiterführenden Kooperation konnten letztlich die Herausbildung einer russisch-imperialen Parallelwelt in Warschau nicht verhindern. Die in ihr lebenden Menschen entwickelten den Vorstellungs- und Handlungsraum einer Russkaja Varšava, der sich deutlich von den städtischen Bildern und Bewegungsradien der polnischen und jüdischen Nachbarn absetzte. Hier entstand im ausgehenden 19. Jahrhundert ein eigenes, weitgehend abgeschottetes System lokaler Selbstorganisation, das eine isolierte institutionelle Struktur, eigene soziale und kulturelle Hierarchien sowie eine divergierende urbane Topographie aufwies. Zugleich waren die Trennlinien dieser sich formierenden imperialen Gemeinde zu der örtlichen Petersburger Bürokratie äußerst unscharf. Denn in der Situation der Peripherie waren die Vertreter einer sich imperial verstehenden Gemeinschaft und die Repräsentanten des Staatsapparats auf das Engste miteinander verflochten. Die zunehmende Institutionalisierung der russischen Kolonie in Vereinen, Klubs und anderen Versammlungsforen erfolgte in permanenter Interaktion von Amtsträgern und gesellschaftlichen Akteuren. Von einer Trennung der Sphären von Staat und Gesellschaft lässt sich im Kontext der imperialen Diaspora nicht sprechen. Und dennoch kündigte sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein Konflikt an, der sich in der Zeit nach der Revolution von 1905 voll entfalten sollte. Im Zuge der Radikalisierung der nationalen Forderungen, die russische Meinungsträger formulierten, wurde der supra-nationale Orientierungshorizont der leitenden Staatsbeamten zunehmend in Frage gestellt. Dieser schleichende Prozess der Entfremdung zeigte sich an einer der zentralen Kulturinstitutionen der imperialen Gemeinde in Warschau. Die Kaiserliche Universität, ihre Rektoren und Dekane, aber auch Teile ihrer dominant russischen Professorenschaft entwickelten sich immer mehr zu Fürsprechern einer Nationalisierung des Imperiums. Dabei hatte die Hochschule zunächst – und entgegen ihrem schlechten Ruf – eine wichtige Instanz bei der Ausbildung einer polnischen Studentenschaft dargestellt. Sie war aber zugleich auch der Ort permanenter und sich seit den 1890er Jahren zuspitzender Auseinandersetzungen zwischen studentischen Zirkeln und einer vor allem in der geisteswissenschaftlichen Fakultät slawophil gesinnten Professorenschaft. Während Erstere eine „Polonisierung“ von Lehrsprache und partiell auch -inhalten forderten, pochten Letztere auf das Primat des Russischen in dem, was sie als Slawenkunde verstanden. Die Konflikte an der Warschauer Universität bestärkten Visionen einer weitgehenden Nationalisierung des Bildungssystems und damit auch der strikten nationalen Apartheid im Imperium insgesamt.

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Die Revolution von 1905–06 erwies sich als Katalysator dieser Dynamik. Sie markierte zugleich die fundamentalste Krise des imperialen Regimes im Königreich seit dem Januaraufstand von 1863–64. Seit der Jahrhundertwende war die staatliche Autorität rapide erodiert. In einem Zusammentreffen von pauperisierten städtischen Unterschichten, Opfern der Wirtschaftskrise und revolutionären Aktivisten sehr unterschiedlicher Provenienz war eine explosive Situation entstanden, die der Russisch-Japanische Krieg mit seinen innenpolitischen Anspannungen zur Eskalation brachte. Die revolutionäre Dynamik der Jahre 1904–06 führte zu zahlreichen Gewalteruptionen und zum zwischenzeitlichen staatlichen Kontrollverlust über weite Teile der polnischen Provinzen. Erst mit der vom Generalgouverneur Skalon betriebenen Doppelstrategie, die einerseits auf die militärische Niederwerfung des Aufstands und andererseits auf die begrenzte Tolerierung von Aktivitäten der gemäßigteren polnischen Kräfte setzte, gewannen die Autoritäten die Initiative zurück. Diese Parallelität von militärischem Regiment und zeitgleicher Zusammenarbeit mit den kooperationsbereiten gesellschaftlichen Gruppen sollte die administrative Praxis dieses Generalgouverneurs bis zum Ersten Weltkrieg kennzeichnen. Die neue Leitlinie entsprang einem grundsätzlichen Umdenken der zarischen Amtsträger, die nun weniger das traditionelle Feindbild der polnischen Nationalbewegung als vielmehr die sozialistischen Kräfte als primäre Bedrohung des Staatsgefüges ausmachten. 1905 änderte sich die Konfliktsituation im Königreich erheblich. Zum einen radikalisierte die revolutionäre Dynamik in kürzester Zeit die Auseinandersetzungen zwischen dem Regime und seinen Gegnern. Insofern ist die ultimative Krise von 1905 auch nur bedingt geeignet, ein Urteil über die Konfrontationen in der Zeit vor 1900 zu fällen. Zwar trugen ältere Konfliktlinien zur Eskalation der Revolution bei, die Dynamik des Aufruhrs produzierte jedoch eine völlig neuartige Kräftekonstellation, die dann auch für die Folgejahre prägend blieb. Dazu gehörte nicht nur die Steigerung der Gewalttätigkeit gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, sondern auch eine politische Aktivierung breiterer Bevölkerungsteile. Zusammen mit dem neuen legalen Rahmen, den die Grundgesetze von 1906 gewährleisteten, entstand so eine zuvor ungekannte Form politischer Öffentlichkeit. Noch während der Zeit des Kriegsrechts, aber vor allem nach seiner Aufhebung im Jahre 1909 sah sich die imperiale Herrschaft damit konfrontiert, das Königreich unter den Bedingungen von Pressefreiheit, Dumawahlen, legalisierten Parteien und Gewerkschaften zu administrieren. Man konnte mit Hilfe von Verwaltungsdirektiven den Zuschnitt von Wahlkurien manipulieren, man konnte jedoch nicht diese neue Normalität politischer Öffentlichkeit ignorieren. Es sei in diesem Zusammenhang an die Streitigkeiten um die Eröffnung der Weichselbrücke im Dezember 1913 erinnert. Hier artikulierten die Vertreter einer

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polnischen öffentlichen Meinung offen und selbstbewusst in einer unzensierten Presse, dass sie sich als die eigentlichen Schöpfer des Fortschritts im Königreich erachteten und ihnen daher der privilegierte Platz im Zeremoniell der Brückeneinweihung gebühre. Diese Auseinandersetzung führt exemplarisch vor Augen, wie konfliktintensiv die Situation im Königreich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs blieb. Konfrontationen zwischen den Repräsentanten Petersburger Herrschaft und den Vertretern der lokalen Gesellschaft waren allgegenwärtig, was sich auch in der Notwendigkeit dauerhafter Einsatzbereitschaft der zarischen Truppen manifestierte. Das gegenseitige Misstrauen war groß, das Gefühl weit verbreitet, dass es kaum einen Ausweg aus diesem Dilemma eines Antagonismus von Staatsmacht und indigener Bevölkerung gebe. Zumindest die zarischen Autoritäten zeichneten sich durch eine weitgehende Konzeptlosigkeit in der Frage aus, wie mit der rebellischen Provinz jenseits ihrer militärisch erzwungenen Ruhigstellung zu verfahren sei. Sie befanden sich damit am Vorabend des großen Kriegs in einer paradoxen Situation. Einerseits zweifelten sie nicht daran, dass die Petersburger Oberherrschaft über das Königreich „ewig“ fortbestehen werde. Andererseits verfügten sie über keine Vision, wie sich eine stärkere Integration von Land und Leuten in das Imperium gestalten sollte. Dieses Dilemma erklärt auch, warum die Behörden mit gesteigerter Nervosität auf die wachsende Kriegsgefahr reagierten. Denn es war ihnen nicht nur bewusst, dass die exponierte Provinz trotz der ausgebauten Festungsanlagen militärisch kaum zu halten sein werde. Sie waren sich auch im Klaren darüber, dass mit der Loyalität der lokalen Bevölkerung gegenüber der Petersburger Herrschaft nur sehr bedingt zu rechnen war. Angesichts der mangelnden Integration der Untertanen des Weichsellands in das Reichsgefüge machten sich die Beamten wenig Hoffnung, dass sich die Situation im Königreich bei einem Kriegsausbruch wesentlich von der nach Beginn des Russisch-Japanischen Kriegs unterscheiden werde. Vor diesem frischen Erfahrungshintergrund erwarteten die imperialen Autoritäten in einem militärischen Konflikt kaum etwas anderes als polnische Fahnenflucht an der Front und das Wiedererstarken politischen Terrors sowie das Aufflammen gesellschaftlichen Aufruhrs im Hinterland. Beruhigend war in dieser permanenten Konfliktsituation mit trüben Aussichten höchstens die Gewissheit, dass mit der Armee der Machtapparat bereit stand, um die zarische Herrschaft im Weichselland zumindest in Friedenszeiten abzusichern. Auch deshalb zogen sich die staatlichen Instanzen auf ihre Kernfunktion der Wahrung von „Ruhe und Ordnung“ zurück. Die Handlungsmaxime, die bereits im 19. Jahrhundert die administrative Praxis der Generalgouverneure geleitet hatte, gewann nach 1909 eine neue Bedeutung. Denn sie führte im Königreich nun zu einem graduellen Rückzug der Autoritäten aus den politi-

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schen Debatten, die die lokale Öffentlichkeit vor dem Weltkrieg prägten. Der polnisch-jüdische Konflikt dieser Jahre und dessen Eskalation im antijüdischen Boykott von 1912 verdeutlichen diesen Prozess. Die Bürokratie beschränkte sich hier wie in anderen Auseinandersetzungen im Wesentlichen auf die Absicherung von Stabilität und Gewaltlosigkeit des öffentlichen Lebens. Solange die Rahmensetzung imperialer Herrschaft nicht in Gefahr schien, fühlten sich die Petersburger Repräsentanten kaum mehr zur Intervention berufen. Eine solche Orientierung kam einer Selbstabschließung der Amtsträger gleich, die sich von den inneren Angelegenheiten des Weichsellands weitgehend fernhielten. Problematisch wurde hier jedoch, dass die hohe imperiale Beamtenschaft zusehends in eine doppelte Isolation geriet. Denn nicht nur die polnische Gesellschaft vermied den intensiveren Kontakt zu den Amtsträgern, auch die russische Öffentlichkeit im Königreich konfrontierte die Petersburger Repräsentanten mit zunehmend radikaleren Forderungen. Es ging den nationalistischen Scharfmachern um die weitergehende Privilegierung der Russen in den polnischen Provinzen sowie im Reichsverbund überhaupt. Sie kritisierten mit wachsender Aggressivität das supra-nationale Selbstverständnis der zarischen Verwaltungselite, die sich auch nach 1900 noch eher über ihre ständische Herkunft, ihre Dienstethik und ihre Zarenloyalität definierte als über eine Zuordnung zu den ethnischen Kategorien einer nationalisierten Weltsicht. Den Vertretern Petersburger Staatlichkeit fiel die Abgrenzung gegenüber nationalistischen Anfeindungen allerdings sehr viel schwerer, als es bei Positionen von polnischen Meinungsträgern der Fall war. Letztere konnte man leicht in die Tradition „polnischer Anmaßungen“ stellen und schlicht ignorieren. Dagegen erschwerte der zeitgenössisch dominante Diskurs, der das Imperiale weitgehend mit dem Russischen gleichsetzte, eine Differenzmarkierung zur russischen Öffentlichkeit und zu ihren nationalistischen Protagonisten. An dem fortschreitenden Isolationsprozess der Beamtenschaft änderte diese diskursive Suggestion von Kampfgenossenschaft jedoch wenig. In einer sich in allen Facetten entwickelnden Gesellschaft und deren zunehmend ethnischer Partikularisierung fanden sich die Repräsentanten imperialer Macht immer mehr auf einsamem Posten wieder. Bei dieser Zusammenschau der Ergebnisse lassen sich vier zentrale Dimensionen der Petersburger Präsenz im Weichselland benennen: Die imperiale Herrschaft wurde von einer großen Vielfalt an Strukturen, Akteuren und Praktiken umgesetzt. Es bestand eine komplexe und gelegentlich konfliktintensive Interaktion zwischen Zentrum und Peripherie, in der zugleich die Heterogenität der imperialen Verwaltung zu Tage trat. Diese drückte sich nicht nur in der multiethnischen Zusammensetzung der zarischen Beamtenschaft aus, sondern manifestierte sich ebenso in den inneren Friktionen der Institutionen, ihrer divergierenden Handlungslogiken und jeweiligen Amtsträger. Es greift daher zu

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kurz, die imperiale Herrschaft vor allem als Machtapparat und dementsprechend als Unterdrückungs- und Verhinderungsinstanz zu porträtieren. Sie war auch dies, aber sie zeichnete sich gleichzeitig dadurch aus, dass sie als Administration des Alltags sehr verschiedenartigen, zum Teil weitreichenden Einfluss auf das Zusammenleben der Menschen nahm. Diese formative Dimension von imperialer Herrschaft, ihre Prägekraft für die gesellschaftlichen Strukturen und sozialen Interaktionen offenbarte sich in vielen Bereichen. Damit ist zugleich das zweite Kernthema berührt. Die Repräsentanten imperialer Herrschaft und ihr polnisches und jüdisches Gegenüber konstituierten eine Gemeinschaft im Konflikt. Die Kontaktzonen zwischen lokaler Gesellschaft und Bürokratie haben die Spannbreite an Kooperationsmöglichkeiten, Grenzüberschreitungen sowie Widerstandsbereitschaft und Ausschließungsmechanismen aufgezeigt. Diese Gemeinsamkeiten und ihre Grenzen im konfliktreichen Begegnungsraum des Weichsellands beeinflussten zudem jene Vorstellungen, die sich die dort agierenden Menschen von ihrer eigenen Identität, ihrer sozialen und kulturellen Selbstverortung sowie ihrem Platz im Reichsverbund machten. Das betraf auch die identitären Entwürfe der ortsfremden imperialen Gesellschaft. Hier machte sich die zunehmende Differenz einer Selbstbeschreibung der oberen Verwaltungsbeamten und der sich nationalisierenden russischen Gemeinde im Königreich bemerkbar. Für die supra-nationale administrative Elite Petersburger Herrschaft wuchs sich die Konfrontation mit der russisch-nationalistischen Herausforderung und deren Anspruch auf eine radikale Nationalisierung des Imperiums immer mehr zu einem unlösbaren Dilemma aus. In der Stunde ihrer fundamentalen Krise hat sich die imperiale Herrschaft allerdings als stabilisierbar erwiesen. Die Bedrohung des zarischen Regimes in der Revolution von 1905–06 und seine Reaktionen auf diese Kampfansage bilden den vierten Schwerpunkt. Es ist zu bedenken, dass die revolutionären Jahre von 1905–06, ebenso wie die von 1830–31 und 1863–64, extreme Ausnahmesituationen darstellen. Dagegen markiert der Zustand zwar konfliktintensiver, aber wenig gewalttätiger Kohabitation von zarischer Bürokratie und lokaler Bevölkerung viel eher die Normalität, die die meisten Dekaden der langen russischen Herrschaft im Königreich kennzeichnete. Selbst in der Krise erwies sich das Petersburger Regime als widerstandsfähig. Und dies nicht nur aufgrund seiner militärischen Präsenz in den polnischen Provinzen und der Bereitschaft der Amtsträger, dieses Machtmittel auch kompromisslos gegen eine rebellische Zivilbevölkerung einzusetzen. Es waren die imperialen Autoritäten in der Lage, einen modus vivendi herzustellen und eine nachhaltigere innere Befriedung des unruhigen Landstriches zu bewirken. An der Tragfähigkeit Petersburger Herrschaft im Königreich in Friedenszeiten kann

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daher kein Zweifel bestehen – unabhängig davon, dass es den Beamten an Visionen zu einer langfristigen Integration des „fremden Landes“ in den Reichsverbund mangelte. Im Umkehrschluss bleibt festzuhalten: Der Zusammenbruch des russischen Regimentes im Weichselland kam von außen; er war Folge des Kriegs und der militärischen Niederlagen der zarischen Armee. Am Beispiel des Königreichs Polen zeigen sich zugleich Heterogenität und Komplexität, die das multiethnische und polykonfessionelle Russische Reich insgesamt kennzeichneten. Viele der hier ausgetragenen Grundkonflikte waren ebenso charakteristisch für andere Reichsrandgebiete. Es ist daher die Frage nach dem Platz des Weichsellands im Reichsverbund zu stellen und die Relevanz seiner von Zeitgenossen so oft betonten „Besonderheiten“ für das imperiale Gesamtgefüge zu erörtern.

15 Das Weichselland: Ein Königreich im Kaiserreich 15.1 Die „lokalen Besonderheiten“ des Grenzgebiets: Das Königreich Polen als imperialer Sonderfall Imperiale Beamte und Meinungsträger der polnischen Öffentlichkeit waren sich nur in wenigen Fällen so einig wie bei der Akzentuierung der „besonderen Bedingungen“, die das Weichselland charakterisierten. Wenngleich sie völlig andere Schlüsse aus der Feststellung der „Besonderheit“ zogen und entgegengesetzte Forderungen daraus ableiteten – an der Spezifik des Königreichs im imperialen Reichsverbund bestand für sie alle kein Zweifel. Und in vielerlei Hinsicht mag man dem Urteil der Zeitgenossen nur beipflichten. Zum einen gab es neben den Ostseeprovinzen kein anderes Reichsgebiet, in dem das Machtgefälle zwischen Zentrum und Peripherie derart die allgemeine Entwicklungsdifferenz auf den Kopf stellte. Beim Königreich Polen hatte es Petersburg mit einer Provinz zu tun, die in weiten Landesteilen ökonomisch, gesellschaftlich und kulturell sehr viel weiter entwickelt war als die innerrussischen Territorien. Das galt mit Blick auf Warschau zwar weniger eindeutig für den großstädtischen Raum, aber selbst hier konnte seit den 1890er Jahren von einem deutlichen Modernisierungsdefizit der boomenden Metropole keinesfalls mehr gesprochen werden. Insgesamt war die wirtschaftliche Potenz des Königreichs enorm, das Tempo der Industrialisierung mitsamt ihrer technischen und infrastrukturellen Revolution sowie der Urbanisierung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert rasant. Die hohe Bevölkerungsdichte, die relative Engmaschigkeit des Verkehrsnetzes, die räumliche Nähe der Industriestandorte und Städte sowie das alles übertrumpfende Warschau als kraftvoller Motor der Transformation fügten sich zu dem Gesamtbild einer Region, die sich allein durch ihren ökonomischen Entwicklungsgrad von allem absetzte, was die imperialen Beamten aus den innerrussischen Verhältnissen kannten. Zugleich sahen sich diese aber auch mit einem kulturellen Niveau und mit einer Intensität an Gesellschaftlichkeit konfrontiert, die ihnen unbekannt waren und die angesichts des imperial-polnischen Antagonismus vor allem bedrohlich wirkten. Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte sich im Königreich die lange Tradition polnischer Eigenstaatlichkeit und der Idee der Adelsnation bemerkbar. Die Beschäftigung mit dieser Vergangenheit hielt in den Kreisen der lokalen gesellschaftlichen Elite die Erinnerung an polnische Größe

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selbst unter den Bedingungen zarischer Zensur wach und versorgte eine sich neu formierende Nationalbewegung mit einem reichen Reservoir an historischen Symbolen, Jahrestagen und Helden. Hier sahen sich die imperialen Autoritäten mit einem intensiven politischen Diskurs zur polnischen Nation und seit den 1890er Jahren auch zur polnischen Nationalität konfrontiert, der in anderen Reichsgebieten nur ansatzweise vorhanden war oder sich überhaupt erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu entwickeln begann. Schon die Nationsbilder der romantischen Aufstandsphase hatten eine ernste Herausforderung für die Dynastie bedeutet, da sich diese keinesfalls nur in den bewaffneten, aber letztlich aussichtslosen Rebellionen manifestierten, sondern grundsätzlich die Legitimität zarischer Herrschaft in Frage stellten. Weder konnte sich Petersburg wie in anderen Reichsrandgebieten als europäisches Zivilisierungsregime präsentieren, noch vermochte das Integrationsangebot eines supra-nationalen Reichszusammenhangs im Weichselland irgendeine Attraktivität zu entfalten. Auf der Basis der wachgehaltenen Reminiszenz an nationale Eigenstaatlichkeit formierten sich dann im Königreich auch deutlich früher als in anderen Reichsrandgebieten jene geistigen Strömungen, die die moderne Nation vor allem als Ethnonation begriffen, ihre Selbstbestimmung einforderten und die Autokratie im Zuge der Revolution von 1905 an den Rand des Zusammenbruchs brachten. Andererseits war mit dieser Tradition der polnischen Staatsnation sowie der gelehrten und literarischen Auseinandersetzung mit ihr auch verbunden, dass die imperialen Akteure bei all ihrem Machtbewusstsein doch hochachtungsvoll auf das kulturelle Niveau der Eliten des Königreichs blickten. Auch bei den Petersburger Repräsentanten herrschte die Auffassung vor, dass „die Polen“ der Zivilisationsgemeinschaft des Abendlandes angehörten. Die Geschichte der Rzeczpospolita, ihre Integration in die europäische Staatenwelt, ihr architektonisches Erbe, die lebendige literarische Kultur und zu gewissem Grade auch der Katholizismus riefen in einem Maße Respekt und in seltenen Fällen auch Empathie hervor, wie es für die imperialen Eliten in keiner anderen Reichsprovinz galt. Da im Königreich wie nirgendwo sonst die kulturelle Hierarchie von Herrschenden und Beherrschten im Bereich uneindeutig erschien, war auch die Sorge vor einer Indigenisierung der Petersburger Gesandten besonders ausgeprägt. Der Topos der Gefahr einer „Polonisierung“ galt nicht nur für die orthodoxen Bauern in den Zwischenräumen der westlichen Gouvernements, sondern auch für die Beamten der zarischen Verwaltung, die ihren Dienst im Weichselland taten. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass sich die polnische Gesellschaft in der Nachaufstandsperiode grundsätzlich wandelte. Es ist bemerkens-

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wert, welch hohen Grad an institutionalisierter Soziabilität und Partizipation an öffentlichen Meinungsforen das Königreich selbst unter den schwierigen Bedingungen eines imperialen Regimes erreichte. Dies hatte mehrere Gründe: Zum einen hatten sich Formen der gesellschaftlichen Selbstorganisation durch die restriktiven Maßnahmen der 1860–70er Jahre nur bedingt reduzieren lassen. Zum Teil waren die Beamten angesichts der chronischen Schwäche staatlicher Strukturen sogar auf die polnischen Parallelinstitutionen angewiesen und hatten, wie beispielsweise im Bereich des Medizinwesens, die ungeliebten polnischen Kooperationen in begrenztem Maße geduldet. Zum anderen zeitigte die Politik der Petersburger Autoritäten, die alten polnischen Eliten zu schwächen, ungewollte Folgen. Denn die diskriminierenden Gesetze, die katholischen Polen den beruflichen Aufstieg im Staatsdienst verwehrten, verstärkten das gesellschaftliche Engagement erheblich. Vor allem der in die Städte abgewanderte Kleinadel stellte hier das Reservoir für eine freiberufliche Intelligenz, die auf Formen der Selbstorganisation in einer Vielzahl von gesellschaftlichen Aktionsfeldern drängte und die Reihen so verschiedener Institutionen wie der Warschauer Hygienegesellschaft, der Zeitungsredaktionen, aber auch der Untergrundorganisationen der revolutionären Parteien füllten. So restriktiv die imperialen Autoritäten zeitweise auf diesen Drang zur Gesellschaftlichkeit reagierten, so wenig konnten sie dessen Dynamik unterbinden. Sie erreichten damit nur, dass sich ein Gutteil dieses Engagements in der Illegalität und damit in der offenen Konfrontation mit dem Petersburger Regime entwickelte. Damit wird zugleich deutlich, was die wohl gravierendste „Besonderheit“ des Königreichs ausmachte. In keinem anderen Reichsrandgebiet war der Antagonismus von Gesellschaft und Staat derart ausgeprägt wie im Weichselland. Die imperiale Bürokratie bestand in ihren oberen Rängen fast ausschließlich aus ortsfremden Beamten. Mochten sich diese auch in ihren langen Dienstjahren im Königreich genaue Kenntnis der lokalen Bedingungen aneignen, so überwanden sie doch nur in den seltensten Fällen die Trennlinie, die die imperiale Parallelwelt von der indigenen Bevölkerung separierte. Es war eine selbstgewählte Isolation, die sich aus dem tiefen Misstrauen der Beamten gegen die polnische Gesellschaft speiste. Zweifellos war der Gegensatz zwischen Staatsbürokratie und Zensusgesellschaft ein grundlegendes Charakteristikum der Autokratie. Im Königreich fehlte der imperialen Administration aber die einheimische Adelselite, die per Kooptation in irgendeiner Form in die Staatsverwaltung hätte einbezogen werden können. Nach dem Aufstand von 1863–64, dessen Hauptschuldige in den Augen der Petersburger Repräsentanten gerade die Angehörigen der polnischen Szlachta waren, bestand eine solche Option der Elitenkooperation nicht mehr. Die zahlreichen Maßnahmen, mit denen das Regime in den Folgejahren ver-

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suchte, die Macht der alten Oberschicht zu brechen, bewirkten, dass es, als sich die Petersburger Machthaber einer Standessolidarität besannen, an einflussreichen Adelskräften mangelte. Dies unterschied das Königreich von anderen Reichsrandgebieten, in denen die Petersburger Herrschaft im Zuge von Zentralisierungs- und „Russifizierungs“-Maßnahmen zwar ebenfalls den Konflikt mit den alten Eliten provoziert hatte. Aber in Provinzen wie den Ostseegebieten konnte das Regime in der Revolution von 1905 dennoch auf das bewährte Muster der Adelsallianz zurückgreifen. Im Königreich jedoch sah die Situation anders aus. Hier stammten die einflussreichsten Ansprechpartner der polnischen Gesellschaft, deren Kooperation die Petersburger Machthaber in den Folgejahren suchten, aus der Nationaldemokratie und damit aus einer modernen Massenpartei, die ein grundsätzlich anderes Prinzip politischer Partizipation repräsentierte. Auf lange Sicht war hier ein systemstabilisierender Effekt kaum zu erwarten. Das lag natürlich auch daran, dass die Gräben zwischen den administrativen Autoritäten und den Vertretern einer Gesellschaft im Weichselland ungleich breiter und tiefer als im Inneren Russlands waren. Die „polnische Frage“ hielt die Konfrontation zwischen indigener Bevölkerung und zarischer Administration dauerhaft wach. Und als sich nach 1905 abzeichnete, dass zumindest Teile der Staatsbürokratie das scheinbare Integrationspotential eines russischen Nationalismus zu nutzen versuchten, verschärfte sich der grundsätzliche Gegensatz eher noch. Je weiter ein supra-nationales Reichsverständnis, das vor allem die Untertanentreue und die Loyalität gegenüber dem Zaren ins Zentrum gestellt hatte, marginalisiert wurde, desto weniger bestand die Aussicht, dass sich die Bevölkerung des Königreichs mit einem imperialen Regime arrangieren würde, das sie als russische Fremdherrschaft verstand. Dazu kam, dass die antipolnische Ausrichtung der Petersburger Hegemonie nach dem Januaraufstand das Königreich in einen administrativen und juristischen Sonderbereich verwandelt hatte, in dem andere Regeln und Gesetze als im Reichsinneren galten. Zwar war dieser Bestand von lokal spezifischen Verwaltungs- und Rechtssystemen generell eine Hinterlassenschaft des vormodernen Imperiums. Aber anders als in anderen Randgebieten verringerte sich die Differenz zwischen König- und Kaiserreich im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht. Im Gegenteil, indem gewisse Institutionen wie die Selbstverwaltungsorgane dem Weichselland vorenthalten oder andere Instanzen wie die Vorzensur beibehalten wurden, vertiefte sich die Andersartigkeit der polnischen Provinzen in vielem eher zusätzlich. Das Königreich blieb insgesamt ein Fremdkörper in der territorialen Verfasstheit des Reichs, in dem eigene Gesetze galten und in dem Menschen wohnten, die mit dem imperialen Zusammenhang schier nichts zu tun haben wollten. Aus manchen Bemerkungen, die zarische Beamte kurz

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vor dem Weltkrieg notierten, spricht die Resignation über den polnischen Dauerprotest und nicht zuletzt die Einsicht, dass es für die St. Petersburger Herrschaft unmöglich sein werde, mit Land und Leuten Frieden zu schließen. Diese Permanenz hoher Konfliktintensität war zweifellos eines der wesentlichsten und irritierendsten Merkmale jener „Besonderheiten“, die das Weichselland auszeichneten. Sie führte auch dazu, dass die staatliche Präsenz in Gestalt der Armee in keinem anderen Reichsrandgebiet vergleichsweise so sichtbar war wie im Königreich. Die Erfahrungen der Aufstände von 1830–31 und 1863–64, aber auch die militärstrategische Bedeutung der exponierten Westprovinz bewirkten, dass das Regime eine reichsweit unerreichte Dichte an stationierten Soldaten, Garnisonen und Festungsanlagen im Weichselland unterhielt. Mochten die zivilen Staatsstrukturen hier ebenso unterentwickelt sein wie in anderen Teilen des Imperiums auch, ja, waren die wenigen Beamten angesichts der Bevölkerungsstärke und der Ausdifferenziertheit der Gesellschaft sowie angesichts des Fehlens jeglicher Selbstverwaltungsorgane im Königreich noch überforderter als anderswo – so stellte die zahlenstarke Armee doch zugleich ein effektives Instrument der Herrschaftssicherung bereit, wann immer die Auseinandersetzungen vor Ort zu eskalieren drohten. Es lässt sich insofern im Weichselland auch mit Blick auf die Revolution von 1905 nur begrenzt von einer Gewalteruption im „staatsfernen Raum“ sprechen.1 Es war vielmehr die Omnipräsenz der Polizei und des Militärs, die zunächst für eine Eskalation der Auseinandersetzung sorgte und auf deren Repräsentanten sich die Terrorakte konzentrierten, deren Allgegenwart aber letztlich zum schnellen Ende der Erhebung führte. In der Wahrnehmung der indigenen Bevölkerung repräsentierte sich die Petersburger Herrschaft allzu oft vor allem in Gestalt ihrer Soldaten. Der Staat, der die Geschicke des Königreichs lenkte, manifestierte sich in dieser Perspektive als Alexander-Zitadelle oder Kosakenpatrouille. Eine Gleichsetzung von Staatsbürokratie und Okkupationsregime hat dies in der polnischen Sicht zweifellos bestärkt. Die militärische Dominanz war natürlich nicht nur der rebellischen Tradition der polnischen Provinzen, sondern auch ihrer Exponiertheit in einem internationalen Konfliktfeld geschuldet, das seit der Jahrhundertwende immer mehr als künftiger Kriegsschauplatz gesehen wurde. Der Charakter des Königreichs || 1 Vgl. die Überlegungen zur Dynamik „staatsferner Gewalträume“ im Russischen Reich bei Jörg Baberowski: Kriege in staatsfernen Räumen. Rußland und die Sowjetunion 1905–1950, in: Dietrich Beyrau/Michael Hochgeschwender/Dieter Langewiesche (Hrsg.): Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 291–309; Jörg Baberowski: Einleitung. Ermöglichungsräume exzessiver Gewalt, in: Jörg Baberowski/Gabriele Metzler (Hrsg.): Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand, Frankfurt/Main 2012, S. 7–28.

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als westlichste Reichsprovinz unterstrich aber auch in anderer Hinsicht noch seinen besonderen Stellenwert im Reichsverbund. Denn die Durchlässigkeit der Grenzen erlaubte einen intensiven Austausch zwischen den Teilungsgebieten der ehemaligen Polnisch-Litauischen Adelsrepublik und band, vermittelt über Galizien und Posen, die intellektuellen Strömungen im Weichselland eng an die Ideenentwicklung in Zentraleuropa. Es war nicht nur ein Phantasma der zarischen Zensurbeamten, dass sich die polnischen Meinungsträger im Königreich bestens auf dem Ideenmarkt Europas auskannten, während sie die intellektuellen Debatten einer russischen Öffentlichkeit weitgehend ignorierten. Die Differenz von Geisteshorizonten zwischen imperialem Zentrum und polnischer Okraina hatte sich über Jahrzehnte verfestigt. Eine solche Sonderstellung und Westorientierung stellte nicht nur ein Erbe der Adelsnation dar, sondern basierte ebenso auf der Logistik des grenzüberschreitenden Waren-, Ideen- und Personenverkehrs, in den das Weichselland integriert war. Es ist insofern auch wenig verwunderlich, dass polnische Protagonisten im Königreich sehr früh paneuropäische Vorstellungen eines modernen Ethnonationalismus rezipierten oder schnell Organisations- und Agitationsformen moderner Massenparteien kopierten. Sie vollbrachten eine Transferleistung, die zugleich Multiplikationswirkung innerhalb des russischen Reichsgefüges hatte. Indem sie das dynastische Imperium im Weichselland mit den Forderungen eines modernen Nationalismus konfrontierten, trugen sie zugleich zur Nationalisierung der zahlreichen Gegensätze und Konflikte im Imperium insgesamt bei. Das Königreich Polen entwickelte sich zum Inkubator einer Konfrontation, die letztlich das Vielvölkerreich der Romanow-Dynastie in seiner Gesamtheit in Gefahr brachte. Das Königreich war aber nicht nur eine Brutstätte von Konflikten mit reichsweiter Sprengkraft, es war auch ein Laboratorium für imperiale Herrschaftstechniken und -praktiken. Denn intensiver und vor allem viel früher als in anderen Randgebieten musste das Petersburger Regime im Weichselland auf Herausforderungen der Peripherie reagieren. Die polnischen Territorien waren ein Raum, in dem Methoden imperialer Herrschaft erprobt, zum Teil auch erst entworfen wurden, bevor sie in anderen Reichsprovinzen zum Einsatz kamen. Dies verweist einerseits auf die Spezifik des Königreichs und zugleich auf seinen herausragenden Stellenwert im übergeordneten Reichsgefüge. Denn die bisher angeführten Besonderheiten der Bedingungen im Weichselland waren keinesfalls isoliert von den Entwicklungen in anderen Reichsgebieten. Vielmehr standen sie über zahlreiche Kanäle und auf unterschiedlichen Ebenen in Wechselwirkung mit den Prozessen, die das russische Vielvölkerreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts grundsätzlich wandelten. So paradox es klingt, die zentrale Bedeutung, die den polnischen Provinzen und der mit ihnen verbun-

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denen „polnischen Frage“ für das Reichsgefüge und seine Erschütterungen zukam, markiert gerade die Exklusivität der Region: Wohl kein Reichsrandgebiet hat derart dauerhaft, prägend und nachhaltig auf das imperiale Zentrum und auf andere Peripherien zurückgewirkt wie die Teilungsgebiete der alten Polnisch-Litauischen Adelsrepublik.

15.2 Eine Provinzialisierung des Zentrums? Zum Stellenwert der polnischen Gebiete im russischen Reichsgefüge Das polnische Königreich konnte auf eine lange Tradition als Experimentierfeld für Reformen und Maßnahmen zurückblicken, die die Petersburger Herrschaft zuerst an der Reichsperipherie testete, bevor sie diese im Zentrum implementierte. So hatte Alexander I. die polnische Verfassung von 1815 zwar nicht ausdrücklich als Probe für eine reichsweite Konstitution bezeichnet, es bestand in der zeitgenössischen Öffentlichkeit jedoch kaum Zweifel an dieser Funktion. Der polnische Aufstand von 1830–31, aber vor allem die Erhebung von 1863–64 zwangen das Petersburger Zentrum dann nicht nur zu einer Neujustierung seiner Polenpolitik, sondern zu einer grundsätzlichen Revision seiner Konzeptionen imperialer Integration und der korrespondierenden Herrschaftspraktiken an den Rändern des Reichs. Wie in anderen europäischen Kolonialreichen auch wurden an der Peripherie Vorstellungen zum imperialen Gefüge und entsprechende Techniken der Beherrschung generiert, die letztlich auch das Reichszentrum beeinflussten.2 Die administrativen Reformen, die Petersburg nach dem Januaraufstand im Weichselland initiierte, waren weitaus mehr als eine reine Umsetzung der Grundprinzipien der Alexander’schen Reformen. Sie standen vielmehr modellhaft für eine neue Konzeption imperialer Herrschaft, die in der Krise von 1863– 64 geboren worden war. Die polnische Rebellion hatte den Akteuren des Zentrums vor Augen geführt, dass die Heterogenität des Reichs nicht nur ein Modernisierungshemmnis darstellte, sondern dass die Vielfalt isolierter Randgebiete leicht zu einer fundamentalen Bedrohung der Integrität des Imperiums || 2 Zum Laboratoriums-Charakter von Kolonien vgl. auch Sebastian Conrad: Doppelte Marginalisierung. Plädoyer für eine transnationale Perspektive auf die deutsche Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, 27 (2001), S. 145–169, v. a. S. 155–164; Andreas Eckert/Albert Wirz: Deutschland und der Kolonialismus, S. 372–392; Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe; Rebekka Habermas: Wissenstransfer und Mission. Sklavenhändler, Missionare und Religionswissenschaftler, in: Geschichte und Gesellschaft, 36/2 (2010), S. 257–284; Birthe Kundrus: Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien, Köln 2003.

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werden konnte. Die „polnische Meuterei“ wirkte hier verstärkend auf das Reformanliegen der Alexander’schen Bürokratie. Die Überzeugung, dass nur eine Vereinheitlichung und Zentralisierung des Reichs langfristig seinen Bestand würde sichern können, wurde in dem Kampf mit den polnischen Aufständischen gefestigt. Dass das große Reformwerk nicht an den Grenzen der innerrussischen Gebiete haltmachen konnte, sondern auch in die zahlreichen Verwaltungs- und Rechtssonderbereiche der Peripherien vordringen müsse – das war die Lehre, die die Petersburger Autoritäten aus den Ereignissen von 1863–64 und dem hier aufscheinenden Gespenst der Sezession zogen. Es war insofern kein Bruch der Ausrichtung imperialer Politik mit der Reformzeit, wenn Alexander III. und Nikolaus II. verstärkt auf die Standardisierung der administrativen und juristischen Systeme in den Ostseeprovinzen und Finnland drangen, sondern vielmehr eine konsequente Fortsetzung jener in den Auseinandersetzungen mit den Polen gewachsenen Einsicht. Man kann es zugespitzt auch so formulieren: Das ambitionierte Projekt, das vormoderne Vielvölkerreich flächendeckend in ein modernes Imperium zu verwandeln, datiert in die Krisenjahre der polnischen Rebellion. Und die administrativen Maßnahmen im Weichselland der 1860–70er Jahre stellten ein Modell dafür bereit, wie das imperiale Management von Randregionen auch in anderen Peripherien zu gestalten war. Der Januaraufstand als Lehrstunde und das Gespenst der Sezession als Lehrmeister der imperialen Autoritäten erklären auch, warum sich die Zentralregierung in einer Intensität mit den polnischen Provinzen befasste, wie es für keine andere Reichsprovinz zutraf. Unter Alexander III. behandelten dreißig Prozent aller Resolutionen, die der Zar nach Vorlage des Ministerkomitees unterzeichnete, diese Region.3 Eine solche Dominanz der polnischen Landstriche in den zentralen Institutionen der Reichsverwaltung lässt sich nicht allein aus der ökonomischen Potenz der Peripherie oder ihrem hohen militärstrategischen Stellenwert ableiten. Sie hing auch nur bedingt damit zusammen, dass die Gebiete nach dem militärischen Triumph von 1864 ein Unruheherd blieben. Die hohe Präsenz polenspezifischer Maßnahmen im zentralen Regierungsgeschäft reflektiert vielmehr die zentrale Bedeutung, die der „polnischen Frage“ bei der Neuausrichtung von Reichskonzeptionen und der Formierung von russischen Selbstbildern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zukam. Der Januaraufstand im Königreich glich einer Initialzündung für eine breitere russische Öffentlichkeit. Die Auseinandersetzung mit den „undankbaren Polen“ forcierte in den 1860er Jahren eine Debatte um das, was das Reich aus-

|| 3 L. E. Gorizontov: Paradoksy imperskoj politiki, S. 215.

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mache und welche Rolle die Russen in diesem zu spielen hätten. Zugleich generierte sie in der Abgrenzung vom „rebellischen Polen“ neue Identitätsmerkmale für die verhandelten russischen Selbstbilder.4 Dieser gesellschaftliche Diskurs über das Reich und das Russische wirkten mittelbar auf die Funktionsträger der Autokratie zurück, wenngleich sich die Staatsbeamten eine erhebliche Autonomie in ihren Denkkategorien und Handlungsmaximen gegenüber der öffentlichen Meinung bewahrten.5 Die bittere Enttäuschung liebgewonnener Annahmen von der slawischen Stammesbrüderlichkeit und Bundesgenossenschaft erklärt die Heftigkeit der Reaktionen in der russischen Öffentlichkeit. Es war hier nicht der „wilde Fremde“, der in den unzugänglichen und unübersichtlichen Gebieten des Kaukasus zu den Waffen griff, sondern das slawische „Brudervolk“, das erneut zur „Meuterei“ aufrief. Hatten bereits die Ereignisse von 1830–31 einen Abgrenzungsprozess in den Kreisen der gebildeten russischen Gesellschaft ausgelöst, so wurde dieser nach 1863–64 deutlich verstärkt. Der Januaraufstand trug damit erheblich dazu bei, dass sich die russischen Selbstbilder immer mehr zu einem Gegenentwurf zu jener abendländisch-katholischen Europäizität verdichteten, die man in der Gestalt „des Polen“ typologisch zu erkennen glaubte. Er beförderte ebenso, dass in zahlreichen Vorstellungen von dem, was das Russische ausmache, der Gedanke einer imperialen Priorität zur Geltung kam. Dieses Denken wirkte in zwei Richtungen gleichzeitig: Zum einen rückte das Imperium und der Erhalt seiner Integrität immer stärker in das Zentrum des russischen Selbstverständnisses, zum anderen gewannen die Forderungen an Vehemenz und Popularität, dass den Russen der erste Platz im Imperium gebühre. Die zunehmende Verengung des Begriffs der narodnost’ – jenem uneindeutigen Volksbegriff der Uvarov’schen Troika – hin auf das russische Volk datiert in diese Phase der Nachaufstandsjahre. Die offizielle „Volkstümlichkeit“, die die Bürokratie seit den 1830er Jahren propagiert hatte, wurde hier in der Abgrenzung vom polnischen Anderen immer mehr zum Exklusivrecht der Russen als des „herrschenden Volks“ erklärt.6 In diesem Zusammenhang ist auch der ver-

|| 4 Vgl. dazu u. a. Janusz Radziejowski: The Image of the Pole in Russian Publicistic Writings (1864–1918), in: Acta Poloniae Historica, 66 (1992), S. 115–139, v. a. S. 115–124; Andreas Renner: Russischer Nationalismus, v. a. S. 185–271. 5 Siehe Aleksei Miller: The Romanov Empire and Nationalism, S. 54–57; Darius Staliunas: Making Russians, S. 57–70. 6 So z. B. der Oberprokuror des Heiligen Synods Pobedonoscev in einer Sitzung des Ministerkomitees. GARF, f.215, op.1, d.94, l.57 [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898]. Vgl. auch Nathaniel Knight: Ethnicity, Nationality, and the Masses. Narodnost’

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stärkende Effekt eines religiösen Antagonismus von Relevanz. Denn die Konfrontation mit dem „Lateinertum“ der rebellischen Polen stärkte die Orthodoxie als zentrales Merkmal der russischen kulturellen Selbstverortung, das bis zum Ende des Imperiums unangetastet blieb. Ähnlich wie bei der herausragenden Stellung, die der Katholizismus in den polnischen Identitätsentwürfen einnehmen und behalten sollte, potenzierten sich die religiösen Differenzkategorien im russisch-polnischen Konflikt gegenseitig und festigten das konfessionelle Paradigma, mit dem die Welt in „Eigenes“ und „Fremdes“ unterteilt wurde. Einige der Grundsäulen russischer Selbstverortung wurden somit in der öffentlichen Empörung über die untreuen polnischen Untertanen verfestigt, wenn nicht überhaupt erst ins Zentrum identitärer Entwürfe gerückt. Mochten viele der Debatten älter sein und bereits die Auseinandersetzungen zwischen Westlern und Slawophilen in den 1830–40er Jahren bestimmt haben, so verhalf der Januaraufstand einem Kontrastdenken von Europa und Russland zur Hegemonie, das sogar die intellektuellen Blockbildungen des russischen Meinungsmarktes überwölbte.7 Der geistige Horizont der späteren russischen Nationalisten war damit in weiten Teilen bereits vorgegeben. Indirekt prägten diese Entwicklungen auch die imperiale Bürokratie selbst. Sie taten dies weniger als Druck von unten, denn als Einsicht von oben. Autokratische Beamte zeigten sich noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend immun gegenüber den gesellschaftlichen Verlautbarungen und Forderungen, selbst wenn sie aus russischer Feder stammten. Aber es bestand in diesen Sphären eine Parallelität des Denkens, die eng mit den Ereignissen im Königreich verknüpft war. Der polnische Aufstand sorgte auf den Kommandohöhen des Imperiums für eine nachhaltige Diskreditierung von Partikularität und Peripherie und hatte damit weitreichende Auswirkungen auf deren Sicht auf das Gesamtgefüge des Reichs. Er beförderte bei den Staatslenkern eine Wahrnehmung, in der die Sonderbestimmungen der Randgebiete als potentiell systemsprengend und die Loyalität der Bewohner jener peripheren Provinzen als prekär erschienen. Die Peripherie wirkte nicht nur in ihrer Fragmentierung in administrative Ausnahmefälle anachronistisch, sie wurde auch zum Synonym für Untreue und Unberechenbarkeit.8 Es lag nahe, dass sich die Petersburger Autoritäten auf das russische Zentrum des Imperiums besannen und in der || and Modernity in Imperial Russia, in: David L. Hoffmann/Yanni Kotsonis (Hrsg.): Russian Modernity. Politics, Knowledge, Practices, Houndmills 2000, S. 41–64, v. a. S. 54–59. 7 Vgl. u. a. Laura Engelstein: Slavophile Empire: Imperial Russia’s Illiberal Path, Ithaca 2009; Andrzej Walicki: The Slavophile Controversy. History of a Conservative Utopia in NineteenthCentury Russian Thought, Oxford 1975. 8 Vgl. Jörg Baberowski: Diktaturen der Eindeutigkeit, S. 45–47.

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Betonung des Russischen einen Stabilitätsfaktor des Vielvölkerreichs auszumachen meinten. Damit war der Glaube an eine mögliche Integrationsdynamik verknüpft, die die Peripherien stärker an das Zentrum zu binden versprach. Russen fanden sich dort überall, wenn auch oft nur in sehr kleinen DiasporaGemeinden, und sie stellten einen beträchtlichen Teil der zarischen Beamtenschaft. Die russische Sprache wurde als Regierungssprache definiert und in den lokalen Verwaltungen durchgesetzt. Nicht zuletzt erschien auch die russische Kultur als ein mögliches Leitmedium, das eine weiterführende Annäherung der vielen Völker des Reichs ermöglichen konnte. Eine solche Privilegierung eröffnete aber zugleich den Raum für eine fortschreitende Gleichsetzung von Reich und Russen.9 Dabei wurde diese Äquivalentsetzung eben nicht nur durch eine russische Öffentlichkeit forciert, sondern auch von der imperialen Bürokratie betrieben. Denn die Herausforderung durch die Rebellionen der Randvölker und die Erfahrung von sich national kleidendem Widerstand wie im Königreich förderten bei der zarischen Bürokratie eine Weltsicht, die mit nationalen Kategorien und Loyalitätshierarchien operierte. Es war insofern ein Wechselspiel der gegenseitigen Affirmation, das erheblich zur Nationalisierung des Imperiums beitrug. In den Begegnungs- und Konfliktsituationen, die vor allem für das Weichselland typisch waren, bestärkten sich die Kontrahenten gegenseitig in ihren nationalen Weltbildern. Die Meinungsträger einer polnischen und einer russischen Öffentlichkeit wie auch die Repräsentanten der imperialen Bürokratie hatten sehr unterschiedliche, sich oft gegenseitig ausschließende Vorstellungen, wie Nationen zu bestimmen seien und welchen Platz sie im Reichsgefüge einnehmen sollten, und stellten dementsprechend divergierende Forderungen an die Umgestaltung des Imperiums. Sie alle teilten jedoch in zunehmendem Maße die Ansicht, dass das Merkmal der Nation ein äußerst wirkmächtiger Faktor der sozialen Interaktion sei. Wenngleich die multinationale Verwaltungselite der Autokratie keinesfalls das Denken in nichtoder supra-nationalen Zusammenhängen aufgab, so unterlag doch auch sie einer schleichenden Nationalisierung ihrer Weltdeutung. Ihre Unfähigkeit, die systemsprengende Gefahr von radikalen Russifizierungsplänen der Nationalisten für das Reichsgefüge zu erkennen, lag hierin begründet. || 9 Vgl. u. a. Mark Bassin: Geographies of imperial identity, in: Dominic Lieven (Hrsg.): The Cambridge History of Russia, Bd. 2: Imperial Russia, 1689–1917, Cambridge 2006, S. 45–63; Mark von Hagen: The Russian Empire, in: Karen Barkey/Mark von Hagen (Hrsg.): After Empire: Multiethnic Societies and Nation-Building. The Soviet Union and the Russian, Ottoman, and Habsburg Empires, Boulder/Col. 1997, S. 58–72, S. 58–62; Aleksej Miller: Imperija Romanovych i nacionalizm. Esse po metodologii istoričeskogo issledovanija, Moskau 2006, S. 147–170; Malte Rolf: Nationsbilder im Russischen Reich; Vera Tolz: Russia. Inventing the Nation, London 2001.

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In diesem Kontext spielten das Königreich als Konfliktherd und die damit verbundene „polnische Frage“ eine zentrale Rolle, weil hier weitaus stärker als in anderen Auseinandersetzungen die Lager der Konfrontation eindeutig den einzelnen Nationalitäten zugeordnet werden konnten. Darüber hinaus ließ sich die „polnische Frage“ keinesfalls auf den abgeschirmten Raum des Weichsellands isolieren. Vielmehr ragte sie in Gestalt der westlichen Gouvernements in den vielbeschworenen „Kernbereich“ des russischen Herrschaftsterritoriums hinein. Indem die Autokratie – und mit ihr im Einklang die russische Öffentlichkeit – diese Westgebiete zu ur-russischen Provinzen erklärte, beförderte sie die hier auftretenden Konflikte mit den Polen in das Zentrum russisch-imperialer Selbstbilder und Identitätsentwürfe. Diese russische „Westmark“ nahm entsprechend einen privilegierten Platz auf der vorgestellten Landkarte imperialer Beamter und russischer Nationalisten ein.10 Die Territorien des Königreichs konnten noch in begrenztem Maße – allerdings ohne je an der Unteilbarkeit des Imperiums zu zweifeln – als „fremdes Land“ externalisiert werden. Jegliche Manifestation dauerhafter polnischer Präsenz in den westlichen Gouvernements wurde dagegen als Angriff auf das russische Selbstbild und den geographischen Kernbestand eines Russlands im engeren Sinne verstanden. Und da die imperiale Herrschaft es auch über Jahrzehnte hin nicht vermochte, die Sichtbarkeit polnischer Leitkultur in diesem umkämpften Raum zu reduzieren, behielten die Debatten um die vermeintliche Bedrohung von Land und Leuten durch eine „Polonisierung“ und einen angeblich aggressiven Katholizismus ihren herausragenden Stellenwert in den Amtsstuben der imperialen Bürokratie und in den Foren der russischen Öffentlichkeit. Dem Königreich Polen war in diesem Diskurs trotz aller administrativen und ideellen Differenz zu den Westprovinzen dennoch ein bedeutsamer Platz zugewiesen. Denn das Weichselland war durch die Provinz Cholm (Chełm) direkt mit dem umkämpften Zwischenraum der Westgebiete verbunden. Zugleich wirkte das Königreich mit seiner kulturellen Strahlkraft, seiner ökonomischen Potenz und seiner Funktion als vermeintlicher Rückzugsraum revolutionärer Agitatoren wie ein „polnisches Piemont“ innerhalb des Reichsverbundes. Mit Blick auf die westlichen Gouvernements erschien den russisch-imperialen Amts- und Meinungsträgern Warschau als potentielle Kernzelle für die Wiederauferstehung eines polnischen Staats in den Grenzen von 1772. Auch dies erklärt, warum das Königreich trotz aller Akzeptanz seiner Andersartigkeit nicht

|| 10 Vgl. u. a. Aleksei Miller: The Romanov Empire and Nationalism, v. a. S. 168–173; Witold Rodkiewicz: Russian Nationality Policy, S. 135–136 und S. 159–162; Theodore R. Weeks: Nation and State, S. 73.

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nur an die Grundfesten der imperialen Integrität rührte, sondern eine beständige Bedrohung für die kulturellen und geographischen russischen Selbstbilder darstellte. Nichts verdeutlicht diesen Zusammenhang besser als der Blick auf die imperialen Akteure, die sich in diesem Raum bewegten. Hier lässt sich anhand der Biographien von imperialen Beamten und Vertretern einer russischen Öffentlichkeit der Transfer nachvollziehen, mit dem im Weichselland erworbene Einsichten in andere Randgebiete und in das Reichszentrum übermittelt wurden. Die Konfliktsituation im Königreich wirkte als persönliche Erfahrung der Petersburger Gesandten auf die Gestaltung einer imperialen Herrschaftspraxis zurück. Sie war nicht zuletzt durch die Karrierewege der zarischen Amtsträger mit dem Zentrum und anderen Peripherien eng verflochten. Diensttuende oder ehemalige Diensthabende in den polnischen Provinzen nahmen mittelbar und unmittelbar Einfluss auf die Konzeptionen der Reichspolitik. Diese „Weichselländer“ versuchten über zahlreiche Kanäle, die Ausformung einer imperialen Politik mitzuprägen und die Vorstellungen von dem, was das Russische sei, mitzugestalten. Die Beamten im Königreich waren als regelmäßige Berichterstatter gewichtige Informationsträger für das imperiale Zentrum und stellten eine pressure group am Petersburger Hof, im Reichsrat und in den Ministerien dar. Beamte mit Warschauer „Grenzerfahrung“ kamen zudem oft in anderen Randgebieten zum Einsatz, einige von ihnen rückten gar in die Petersburger Schaltstellen der Macht vor. Beispiele für derartige imperiale Karrieren nach Lehrjahren in der Besatzungs- und Verwaltungstätigkeit im Königreich gibt es zahlreiche. So hatten der spätere Innenminister und Premierminister Ivan Goremykin ebenso wie der spätere Bildungsminister Grigorij Zenger oder der Senator Grigorij Ul’janov Diensterfahrungen im Weichselland gesammelt. Der Sohn des Generalgouverneurs Iosif Gurko, Vasilij Gurko, brachte es nach seiner Warschauer Amtszeit 1906 zum Vizeinnenminister in St. Petersburg. Etliche der Beamten aus dem Königreich zogen in andere Reichsrandgebiete wie die westlichen Gouvernements oder die Ostseeprovinzen weiter. Ivan Kachanov und Konstanin fon Palen, Generalgouverneur beziehungsweise Gouverneur in Wilna, hatten ebenso wie N. A. Kryžanovskij, ein Weggefährte Murav’evs, Stufen ihrer Beamtenkarriere im Weichselland durchlaufen. Auch der Gouverneur von Livland, Michail fon Vrangel’, war zuvor in der Staatsverwaltung des Königreichs tätig gewesen; ebenso konnten Anton Budilovič und Nikolaj Lavrovskij auf lange Warschauer Dienstjahre verweisen, bevor sie in den 1890er Jahren als Kurator des Rigaer Lehrbezirks beziehungsweise als Rektor der Jur’ev-Universität in die Ostseeprovinzen versetzt wurden. Gemeinsam war diesen exponierten imperialen Akteuren eine extrem negative Erfahrung der nationalen Antagonismen im König-

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reich und, daraus abgeleitet, eine Ablehnung gegenüber allen Forderungen, die in die Richtung national-kultureller Sonderrechte oder gar Autonomie wiesen. So machten sich Kachanov und Kryžanovskij als antipolnische sowie Budilovič und Lavrovskij als anti-deutsche Aktivisten an ihrem neuen Dienstort einen Namen.11 Der Lebensabschnitt im konfliktintensiven Weichselland war aber nicht nur mit Blick auf die „nationale Frage“ eine Lehrphase, er beförderte zugleich die Präferenz einer Politik der „harten Hand“ und des „Durchregierens“ per administrativer Anordnung. Diese Vorliebe drückte sich generell in dem Eintreten für eine unnachgiebige Staatsmacht aus, die kaum zu Konzessionen bei Formen gesellschaftlicher Mitbestimmung bereit war. Bei den kritischen Zeitgenossen jedenfalls standen die Warschauer Beamten in dem schlechten Ruf, einen Hang zur administrativen Selbstherrlichkeit, zu Willkürakten, sogar zum Dienstmissbrauch zu haben sowie grundsätzlich Gegner einer Erweiterung gesellschaftlicher Partizipation zu sein. Warschau galt als der „Lieblingsort“ der Bürokratie und wurde zugleich mit dieser Etikettierung metaphorisch sowohl als Unruhewie als Seuchenherd („očag“) stigmatisiert.12 Denn die liberalen Kritiker der Autokratie fürchteten nicht zu Unrecht eine bedrohliche Rückkoppelung des im Weichselland verbreiteten Dienststils auf das politische Gesamtgefüge des Russischen Reichs. So identifizierte der Autor einer anonym verfassten und in Leipzig publizierten Denkschrift zur russischen Politik in Polen deren „schädlichen Einfluss [...] auf die innere Entwicklung Russlands“ als ein Kernproblem.13 Denn „Willkür und Gesetzlosigkeit“, die die „Herrschaft der geheimen Zirkulare“ im Weichselland auszeichne, korrumpiere die Beamten und demoralisiere die Bevölkerung. Im Weichselland bestehe „eine Autonomie der Bürokratie“, die es den dort tätigen Beamten erlaube, „frei nach ihrem Willen zu handeln“. Über die Jahrzehnte des Petersburger Regimes im Königreich sei „die Willkür schon in Fleisch und Blut der Vertreter der Staatsmacht übergegangen.“ Das || 11 Dieses Urteil teilt auch L. E. Gorizontov: Paradoksy imperskoj politiki, S. 217–218. Vgl. auch Michael H. Haltzel: Der Abbau der deutschen ständischen Selbstverwaltung, S. 130–131; Ulrich Hofmeister: Der Halbzar von Turkestan: Konstantin fon Kaufman in Zentralasien (1867–1882), in: Tim Buchen/Malte Rolf (Hrsg.): Imperiale Karrieren. Lebensläufe, Karrieremuster und Selbstbilder der Reichseliten in der Romanow- und der Habsburger Monarchie, Berlin 2015; Malte Rolf: Beamte in Bewegung. Zu Strukturen und Akteuren imperialer Herrschaft im ausgehenden Zarenreich, in: Carl Bethke (Hrsg.): Migrationen im späten Habsburger-Imperium, Tübingen 2015; Edward C. Thaden: The Russian Government, S. 71–74. 12 Vgl. das kritische Interview, das der Spitzenkandidat der (russischen) Liberalen in Warschau, Aleksandr Pogodin, der Zeitung Slovo gab. Wiedergegeben in dem Artikel „Prof. A. L. Pogodin o russkich vyborach v Varšave“, in: Izvestija Russkogo obščestva, Nr. 7 (19.10.1907), S. 3. 13 Političeskie itogi. Russkaja politika v Pol’še, anonym publiziert, Leipzig 1896, S. 12–19.

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Weichselland habe sich damit zu einer „Schule der Willkür“ entwickelt, die nun auch auf die innerrussischen Verhältnisse Einfluss nehme. „Denn die Beamten, die die angenehmen Seiten der gesetzesfreien Willkür in Polen gekostet haben, werden danach auf höhere Posten im Inneren des Reichs befördert und sie werden nach der prägenden Praxis im Königreich alle gesetzlichen Bindungen ablehnen und als lästig empfinden.“ Bei ihnen sei damit ein „Hang zur Willkür“ angelegt, der „immer vorhanden bleiben und sich in einem günstigen Moment voll entfalten wird.“ Dies habe schwerwiegende „Auswirkungen auf Kernrussland, die wohl kein Russe wünscht.“ Der Autor endete mit dem Fazit, dass „Willkür und Gesetzmäßigkeit sich gegenseitig ausschließen und innerhalb eines Staats nicht nebeneinander existieren können.“ Und er betonte, wie sehr die innere Entwicklung Russlands an die „Formen der staatlichen Regulierung im Königreich“ gebunden sei. Denn: „Solange die Willkür in Polen besteht, wird es auch in Russland keine Achtung vor dem Gesetz geben.“14 Hier wurde in besonders dramatischer Form die Verwobenheit des imperialen Regimes im Königreich mit dem Charakter der Autokratie insgesamt zum Thema gemacht. Wenngleich die Zeilen die typische Zuspitzung einer publizistischen Polemik aufweisen, so besteht doch an der nachhaltigen Prägekraft der Diensterfahrung im Reichsrandgebiet kein Zweifel. Das Weichselland stellte in der Tat eine „Brutstätte der Willkür“15 dar, in der die dort tätigen Beamten eine Unterweisung in die vermeintlichen Vorzüge administrativen Verwaltens ohne gesellschaftliche Partizipation erhielten, die sie leicht zu Skeptikern, wenn nicht zu Gegnern von Mitbestimmungs- und Selbstverwaltungsorganen werden ließ. Zugleich markierten das Weichselland und die Westgebiete durch nationale Antagonismen geprägte Konflikträume, in denen sich der Topos vom „rebellischen Polen“ zur Erfahrungswirklichkeit des Amtsalltags wandelte. Ein derartiger Erlebnishintergrund beförderte eine Wahrnehmung, die auch in anderen Reichsrandgebieten lokale Auseinandersetzungen vor allem als nationale Konfrontationen deutete. Diese Perzeption einer Homologie der Konflikte, die die imperialen Akteure auf ihren Karrierewegen in verschiedenen Teilregionen des Imperiums herausbildeten, verstärkte zugleich eine Einheitskonstruktion der Peripherien. So grundverschieden die Reichsrandgebiete in vielem waren, so sehr schienen sie sich in den nationalisierten Auseinandersetzungen zu ähneln. Dies erleichterte ein Zusammendenken der Grenzgebiete: Aller lokalen Divergenz zum Trotz setzte sich hier immer stärker eine Parallelisierung der Peripherien in der Raumwahrnehmung mobiler Beamter durch. Sie wurden zusammen-

|| 14 Političeskie itogi. Russkaja politika v Pol’še, S. 15–16. 15 Političeskie itogi. Russkaja politika v Pol’še, S. 14.

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fassend und vereinheitlichend als Okraina verstanden, deren relative Einheit sich aus dem Kontrast zu dem „russischen Kernland“ ergab. Hatte diese Differenzkonstruktion im Königreich Polen schon eine lange Tradition, so verstärkte sich durch die Zirkulation von Beamten aus dem Weichselland an den Rändern des Reichs diese Erfindung eines großen Grenzsaums und des damit verbundenen Zentrum-Peripherie-Dualismus erheblich. Es war dann auch nur ein kleiner Schritt zu den Forderungen, dass eine einheitliche politische Programmatik für alle Grenzmarkterritorien zu gelten habe. Der Ruf nach einer solchen stringenten Okraina-Politik wurde nach 1905 immer lauter. Und auch hier gilt: Die Impulsgeber waren im Wesentlichen imperiale Akteure, die ihren Dienst an den Reichsrändern und allen voran in den polnischen Teilungsgebieten geleistet hatten. Das homogenisierende Zusammendenken dieser Provinzen im Kollektivsingular der Okraina war von den imperialen Amtsträgern der Peripherie entworfen und als Vorstellung in die Petersburger Hauptstadt importiert worden.16 Diese Konzeptionen bedeuteten nicht nur in der Radikalität ihrer Vereinheitlichungsmaxime einen Bruch mit der Tradition der Großen Reformen und ihren Standardisierungsbemühungen. Die klare Trennung in Kernland und Grenzsaum brach auch mit jener Vision reichsweiter Angleichung, die für die Reformzeit charakteristisch gewesen war. Vor allem aber entwickelten die Beamten in den Konfrontationen der Peripherie die Überzeugung, dass im Wesentlichen die Russen und das Russische die einzig tragende Säule des Imperiums an seinen Rändern darstellten. Wie das Beispiel Weichselland zeigt, griffen die Konflikterfahrungen des Amtsalltags, die sich national kleidenden Herausforderungen lokaler Gegner der Autokratie und die sich imperial präsentierende russische Öffentlichkeit vor Ort permanent ineinander. In der Wechselwirkung sich gegenseitig affirmierender Lagerbildungen wandelte sich eine Vielzahl der Beamten in den Peripherien bewusst oder unbewusst zu Befürwortern einer stärkeren Nationalisierung des Vielvölkerreichs. Die Teilungsgebiete der ehemaligen Adelsrepublik haben damit nicht nur als „Schule der Willkür“, sondern auch als „Brutstätte“ nationalisierter Weltsichten die bürokratischen Praktiken der imperialen Verwaltung und die politischen Visionen einiger ihrer Repräsentanten geprägt. Sie waren Laboratorien imperialer Herrschaftsstrategien und

|| 16 Vgl. z. B. Anton S. Budilovič: Vopros ob okrainach Rossii, v zvjazi s teoriej samoopredelenija narodnostej i trebovanijami gosudarstvennnogo edinstva, St. Petersburg 1906; Grigorij A. Evreinov: Nacional’nye voprosy na inorodčeskich okrainach Rossii. Schema političeskoj programmy, St. Petersburg 1908.

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Inkubatoren von Konfliktlagen zugleich, die auf das Gesamtgefüge des Reichs zurückwirkten.17 Gilt dies bereits für die imperialen Beamten, so fällt der Befund mit Blick auf die Akteure des politischen Meinungs- und Parteienmarktes noch eindeutiger aus. Wie geschildert, stellte die Zensurpolitik im Königreich besonders günstige Bedingungen für das Prosperieren einer russisch-nationalen bis -nationalistischen Öffentlichkeit bereit. Die Gemeinde der russischen Gebildeten in der Weichselmetropole zeichnete sich daher durch eine rege Publikationstätigkeit und intensive Lesebereitschaft aus. Nicht ohne Grund war die Warschauer Vertriebsstelle der Okrainy Rossii eine der größten dieser nationalistischen Wochenzeitung. Die Meinungsträger dieser Diaspora kommunizierten Bilder von „den Polen“, von der „russischen Mission“ und von der politischen Gemengelage in der westlichen Reichsperipherie an die russische Öffentlichkeit. Sie konnten sich als Experten der Peripherie stilisieren: Die „Warschauer Jahre“ der eigenen Biographie waren ein Topos der Denkschriften, mit denen die grenzraumerprobten Aktivisten Entwürfe der eigenen russisch-imperialen Identität und Konzepte der Nationalisierung des Imperiums popularisierten. Manche staatliche Funktionsträger beteiligten sich an den Debatten in dieser Sphäre von Öffentlichkeit. Das galt, wie geschildert, vor allem für die Akademiker der Warschauer Universität.18 Aber auch Verwaltungsbeamte im engeren Sinne hegten publizistische Ambitionen und versuchten, auf den russischen Meinungsmarkt Einfluss zu nehmen. Der exponierteste Fall ist hier zweifellos der Sohn des Generalgouverneurs Iosif Gurko, Vasilij Gurko, der 1897, und damit kurz nach seiner eigenen Amtstätigkeit als Warschauer Vizegouverneur, die anonymen, fast 400 Seiten starken Skizzen aus dem Weichselland verfasste. In dieser in der zeitgenössischen Presse viel diskutierten Schrift plädierte Gurko für eine radikale „Lösung“ der „polnischen Frage“ durch das Mittel des permanenten Drucks auf die polnische Nation. Nur so würden die Unterschiede verschwinden, die die Polen von den Russen trennten, und nur dann könne es gelingen, die Polen in die „russische Familie“ zurückzuführen. Gurkos polonophobes und zugleich antisemitisches Pamphlet forderte eine

|| 17 Es ist dann auch kein Zufall, dass etliche staatliche Akteure, wie Pleve oder Stolypin, die an der Nationalisierung des Imperiums maßgeblich beteiligt waren, aus diesen Gebieten stammten. Vgl. zu anderen Reichsrandbiographien auch L. E. Gorizontov: Paradoksy imperskoj politiki, S. 184. 18 Allen voran ist hier noch einmal die Bedeutung von Platon Kulakovskij zu betonen, der an der Herausgabe der Bibliothek der Grenzgebiete Russlands sowie der Wochenzeitung Okrainy Rossii beteiligt war und zahlreiche Bände zu den Grenzmarken edierte. Vgl. z. B. Platon A. Kulakovskij: Pol’skij vopros v prošlom i nostajaščem. Biblioteka Okrain Rossii, St. Petersburg, 1907; Platon A. Kulakovskij: Russkii russkim, 5 Bd., St. Petersburg 1907–1913.

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neue mission civilisatrice gegenüber den Polen und manifestiert, wie sehr sich bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert die kulturellen Dominanzverhältnisse aus der Sicht russischer Nationalisten gewandelt hatten.19 Darüber hinaus wird hier paradigmatisch deutlich, wie Konflikterfahrungen im nationalisierten Grenzraum den Selbstentwurf eines russischen Beamten an der Peripherie geprägt und zu einer radikalen Fusion von imperialen und national-russischen Bezügen geführt haben. Dass Gurko nach 1906 zum stellvertretenden Innenminister berufen wurde, zeigt zugleich, wie offen der Staatsapparat nach der Revolution für derartige nationalistische Überzeugungstäter bereits war. Dieses Zusammendenken von Reich und Russentum war ebenso kennzeichnend für die politischen Kreise, die sich im konservativ-nationalistischen Milieu der russischen Parteienlandschaft nach 1905 formierten. Es ist kein Zufall, dass sowohl in den Reihen der Oktobristen wie auch des nationalistischen Lagers der Anteil jener Politiker besonders groß war, die aus den westlichen Okrainy stammten. Die Erfahrungen der nationalen Konfrontationen in diesen Gebieten und die Wahrnehmung eines russisch-polnischen Antagonismus bewirkten eine politische Aktivierung der Russen aus den Westgebieten. Dabei boten die nationalistischen Parteien nicht einfach nur eine „Heimat“ für dieses Engagement. Viele der aus diesen Regionen kommenden Personen prägten die programmatischen Positionen sowohl der „Gemäßigten Rechten“ wie auch der „Nationalisten“ in einem Grade, dass man von einer politischen Übernahme durch die Peripherie sprechen kann.20 Zudem waren in den Kreisen mit Westgebietshintergrund die Bemühungen stark ausgeprägt, eine einheitlich politische Kraft im zersplitterten russisch-nationalen Lager zu stiften. So engagierte sich die Warschauer Russkoe obščestvo in der III. Duma für die Gründung einer übergreifenden russisch-nationalen Partei. Wie zentral man hier seine eigene Bedeutung als „Weichselländer“ einschätzte, zeigte sich, als die russischen Nationalisten aus dem Königreich wie selbstverständlich davon ausgingen, dass eine solche Initiative von dem russischen Deputierten aus Warschau ergriffen werden müsse.21 In dieser Selbststilisierung gehörte Männern, die über „Fronterfahrung“ in den umkämpften Westgebieten und in den zähen Auseinandersetzungen mit „den Polen“ verfügten, die Vorreiterrolle bei der Vereinigung der russisch-nationalen Kräfte.

|| 19 Vgl. Vasilij I. Gurko (Pseudonym V. R.): Očerki Privisljan’ja, Moskau 1897. Siehe auch Vasilij I. Gurko: Osnovy vnutrinnoj politiki imperatora Aleksandra III, St. Petersburg 1910. 20 Vgl. Manfred Hagen: Entfaltung politischer Öffentlichkeit, S. 88 und S. 227–234; Ronald Grigor Suny/Terry Martin: Imperial Russia, „National“ Identity, S. 54. 21 AGAD, KGGW, sygn.9012, kart.114–114v [Bericht des Gehilfen des WGG Utgof, 5.9.1907].

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Bis zu einem gewissen Grad ist es den Westgebietlern tatsächlich gelungen, diesen Selbstanspruch innerhalb der nationalen Parteibünde durchzusetzen. Da der Staat sie mit den Wahlrechtsordnungen beziehungsweise deren nachträglichen Modifikationen in vielfacher Weise begünstigte, war ihnen im Rahmen der Duma dauerhafter politischer Einfluss gewiss. Während die nationalen Wahlkurien in den Westgebieten russische Dumaabgeordnete meist nationalistischer Orientierung garantierten, sicherte das „System des dritten Juni“ diesen Delegierten nach 1907 eine dominante Stellung auch innerhalb des Parlaments.22 In der IV. Legislaturperiode von 1912 bis 1917 stellten die vereinigten „Nationalisten“ zwischenzeitlich sogar die größte Fraktion im Taurischen Palast und überflügelten die Oktobristen. Da letztlich beide Fraktionen ähnlich stark durch Politiker aus den Westgebieten repräsentiert wurden, war die IV. Staatsduma nicht nur die „der Lakaien“, sondern ebenso die „der Westmark“. Beamte, Akademiker, Journalisten, Publizisten, Priester und Politiker mit Reichsranderfahrung in den polnischen Teilungsgebieten waren also in der russischen politischen Öffentlichkeit nach der Jahrhundertwende äußerst präsent. Diesen Akteuren war ihre individuelle imperiale Biographie ebenso Auslöser für das politische Engagement, wie es ihre Autorität als Experten der Peripherie und des Fremden in den öffentlichen Debatten erhöhte.23 Indem diese Wortführer der „russischen Sache“ aus dem westlichen Grenzsaum in zunehmendem Maße in St. Petersburg die hitzigen Debatten um die „nationalen Fragen“ bestimmten und in die entsprechenden Publikationsorgane sowie zuständigen Entscheidungsgremien drängten, trugen sie auch im Russischen Reich zu einer „Provinzialisierung“ der hauptstädtischen Öffentlichkeit bei. Im ausgehenden Zarenreich nahm die Peripherie eindrucksvoll auf das Zentrum und damit zugleich auf das Gesamtgefüge des Imperiums Einfluss.24 Die Kraft dieser Rückkopplung erklärt sich auch daraus, dass sie sich keinesfalls nur auf die Aktivitäten imperialer Beamter und russisch-nationalistischer Protagonisten beschränkte. Die Konfliktsituation im Königreich Polen und den westlichen Gouvernements erhöhten ebenso Mobilität und Aktionsbereitschaft der lokalen Bevölkerung. Das zarische Regime in diesen Territorien bedeutete eine unmittelbare Besatzungserfahrung für einen Großteil der dort lebenden Menschen, die nach der Volkszählung von 1897 beinahe dreißig Pro|| 22 Vgl. Laura Engelstein: Slavophile Empire, S. 203–205; Manfred Hagen: Das Nationalitätenproblem Russlands. 23 Siehe ausführlicher Malte Rolf: Imperiale Biographien. Einleitung; demnächst auch Tim Buchen/Malte Rolf: Imperiale Karrieren. 24 Vgl. dazu grundsätzlich Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Ebenso L. E. Gorizontov: Paradoksy imperskoj politiki, S. 183–185.

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zent aller Reichsuntertanen ausmachten. Das Imperium trat hier vor allem in Gestalt von militärischer Gewalt, administrativer Willkür, rechtlicher Diskriminierung und unterdrückenden „Russifizierungs“-Maßnahmen auf. All dies stellte günstige Voraussetzungen her für eine Unversöhnlichkeit, die immer wieder Menschen aus den Teilungsgebieten in den Widerstand gegen die Autokratie trieb. Vor allem seit den 1890er Jahren waren polnische und jüdische Aktivisten im politischen Untergrund des Zarenreichs überaus präsent. Im Weichselland selbst arbeitete ein breites Spektrum an revolutionären Formationen an dem Sturz des Regimes und der Zwischenraum der westlichen Gouvernements stellte das Territorium für sozialistische Parteigründungen aller Art bereit. Dabei wurde früh erkennbar, dass solche Männer der Randgebiete auch dann mit nationalisierten Weltsichten operierten, wenn sie sich der Terminologie des Klassenkampfs oder des Sozialismus bedienten. Der Erfahrungshintergrund, dass sich soziale Konflikte immer auch als Konfrontationen von Ethnien darstellten, prägte die Akteure der Westgebiete ähnlich stark wie die des Kaukasus.25 Insofern brachte das westliche Grenzland nicht nur Heerscharen an Gegnern der Autokratie hervor, die nicht zuletzt durch die Verbannungspraktiken der lokalen Generalgouverneure in russische Gouvernements befördert wurden, es trug auch erheblich zur Zentralität der „nationalen Frage“ in den revolutionären Debatten und Programmatiken bei. Dies galt noch viel mehr für jene politischen Formationen, die sich explizit der nationalen Sache verschrieben. Auch diesbezüglich ist von einer erheblichen Streuwirkung der polnischen Territorien und der dort tätigen Akteure zu sprechen. Denn die „Polenfrage“ stimulierte zum einen indirekt die Nationalbewegungen, die sich seit den 1860er Jahren auch in anderen Reichsrandgebieten formierten. Das repressive Regime im Königreich diskreditierte die Petersburger Hegemonie generell und produzierte vor allem dort Widerstand, wo im Weichselland erprobte Herrschaftspraktiken in andere Peripherien transferiert wurden. Zum anderen stellte das polnische Vorbild für parallele – und im litauischen Fall auch konkurrierende – Nationalbewegungen einen Referenzpunkt und einen konkreten Modellfall dar, den man kopieren beziehungsweise von dem man lernen konnte. Spätestens mit dem Aufstieg der polnischen Nationaldemokratie kamen die wegweisenden Organisationsstrukturen einer modernen Massenpartei hinzu, an deren Wahlerfolgen nach 1906 keine sich national verstehende Partei der Reichsperipherien vorbeisehen konnte. Es ist dann auch kein Zufall, dass die profiliertesten Akteure der litauischen Nationalbewegung

|| 25 Vgl. dazu u. a. Jörg Baberowski: Stalinismus und Nation: Die Sowjetunion als Vielvölkerreich 1917–1953, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 54/3 (2006), S. 199–213.

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aus dem Gouvernement Suwałki und damit aus dem Verwaltungsrahmen des Königreichs stammten. Denn es waren hier nicht nur die größeren Spielräume, die die zarische Administration gewährte, weil sie in ihrer antipolnischen Ausrichtung die litauischen Umtriebe lange Zeit tolerierte, wenn nicht gar als Schwächung der Polen wohlwollend betrachtete. Es war auch die direkte Begegnung und seit den 1890er Jahren die heftige Konfrontation mit den polnischnationalen Aktivisten und ihren Institutionen, die litauische Nationalisten hervorbrachte, die ihrerseits sehr weitgehende Vorstellungen von litauischer Selbstständigkeit entwickelten und zugleich Verbands- und Agitationsformen der polnischen Konkurrenten kopierten.26 Das Königreich Polen spielte bei dieser reichsweiten Zirkulation von nationalisierten Weltsichten und den korrespondierenden Mustern der Vergesellschaftung sowie des politischen Engagements eine zentrale Rolle. Das Weichselland war auch diesbezüglich Experimentierfeld und Inkubator in einem. Hier wurden konkurrierende Wirklichkeitsdeutungen und Reichsbilder, Herrschaftsund Subversionspraktiken, Organisations- und Repressionstechniken sowie handlungsbereite Akteure antagonistischer Lager geprägt, die in das gesamte Imperium ausstrahlten beziehungsweise reichsweit operierten. Die „polnische Frage“ transportierte nicht nur indirekte Implikationen für das Reichsgefüge. Der Kommunikations- und Konfliktraum an der Weichsel stellte auch die Basis für sehr konkrete Transferleistungen, mit denen Menschen aus den polnischen Provinzen eine lokale Konfrontationslogik in die administrativen Apparate und in die politische Öffentlichkeit einspeisten. Insofern ist dem anonymen Autor der Politischen Bilanz nur zuzustimmen: Die Politik Petersburgs im Königreich Polen wirkte sich unmittelbar und schwerwiegend auf die internen Verhältnisse Russlands aus.27 Der imperiumsweite Austausch von Ideen, Akteuren und Praktiken sorgte dafür, dass die innerrussische Entwicklung von den Ereignissen in den Grenzgebieten nicht zu trennen war. Damit gilt auch für die Romanow-Monarchie, was die Forschungen einer new imperial history grundsätzlich zu Peripherie-Zentrum-Beziehungen in Kolonial- und Großreichen herausgearbeitet haben. Es sind hier nicht nur allgemein die Wechselbeziehung zwischen Provinz und Metropole sowie die Verflechtung von Peripherie und Zentrum betont worden. Im Kontext der Debatte um eine „koloniale Moderne“ ist auch für andere Imperien die Bedeutung von periphe-

|| 26 Vgl. u. a. Darius Staliunas: Russian Nationality Policy; Darius Staliunas: Territorialising Ethnicity in the Russian Empire? The Case of the Augustav/Suvalki Province, in: Ab Imperio, 3 (2011), S. 145–166. 27 Političeskie itogi. Russkaja politika v Pol’še, anonym publiziert, Leipzig 1896, S. 12.

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ren Experimentierfeldern hervorgetreten. Immer wieder waren es die entfernten Grenzräume, die Techniken, Wissensbestände und Begrifflichkeiten generierten und auf die hauptstädtischen Vorstellungswelten und Handlungspräferenzen zurückwirkten. Mochten dies Verwaltungspraktiken, Hygiene- und Rassediskurse oder Gewaltdynamiken sein – vielfach haben imperiale Grenzgebiete sich als Orte der Innovation sowie der Radikalisierung erwiesen und so zumindest partiell einer „Provinzialisierung“ der Reichszentren Vorschub geleistet.28 Nicht der grundsätzliche Befund von reichsweiten Austauschprozessen benennt also eine Spezifik der Romanow-Monarchie. Das Besondere am Russischen Reich ist vielmehr die Intensität dieser Wechselbezüge sowie die seit den 1890er Jahren zunehmend destabilisierende Wirkung der Peripherien. Denn anders als in den meisten europäischen Groß- und Kolonialreichen standen in Russland kaum Mittel zur Grenzziehung zwischen Zentrum und Peripherie zur Verfügung. Da die Kategorie der Kolonie als abhängiges, aber doch abgesondertes Gebiet im russischen Reichsdiskurs fehlte, mangelte es auch an Möglichkeiten einer Distanznahme gegenüber den Entwicklungen in den entfernten Provinzen. So wenig je behauptet wurde, dass es sich um „ur-russische“ Landstriche handle, so sehr gehörten im russisch-imperialen Selbstverständnis eben auch die polnischen Territorien zum integralen Reichsbestand. Die Grundannahme eines unteilbaren Imperiums verknüpfte die Gebiete der Okraina in besonderer Intensität mit den russischen Hauptstädten und beförderte damit die innerimperiale Zirkulation von Akteuren, Vorstellungen und Praktiken.29 || 28 Vgl. u. a. Antoinette Burton: Burdens of history; Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe; Catherine Hall: Metropole and Colony in the English Imagination; David Lambert/Alan Lester: Imperial Spaces, Imperial Subjects; Malte Rolf (Hrsg.): Imperiale Biographien. Lebenswege imperialer Akteure in Groß- und Kolonialreichen; Ann Laura Stoler/Frederick Cooper: Tensions of Empire; Kathleen Wilson: Histories, empires, modernities. Vgl. zur „kolonialen Moderne“: Andreas Eckert: Kolonialismus, Moderne und koloniale Moderne; Timo Heiler: Laboratorien für die Moderne, v. a. S. 59–65. Und Fallstudien wie Simon A. Cole: Suspect Identities; Sebastian Conrad: „Eingeborenenpolitik“ in der Kolonie und Metropole, S. 107–128; Sebastian Conrad: Globalisierung, v. a. S. 74–123; Nicholas Wright Gillham: The Birth of Eugenics; Rebekka Habermas: Wissenstransfer und Mission; Birthe Kundrus: Koloniale „Mischehenverbote“, S. 110–131; Dirk van Laak: Kolonien als „Laboratorien der Moderne“?, S. 257–279; Paul Rabinow: French Modern. Speziell zu Gewaltdynamiken vgl. Jörg Baberowski/Anselm Doering-Manteuffel: Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und im stalinistischen Imperium, Bonn 2006, S. 19–24; Jörg Baberowski: Diktaturen der Eindeutigkeit, S. 47–49; Peter Holquist: Epoch of Violence, v. a. S. 634–636; Philipp Ther: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa, Göttingen 2011; Philipp Ther: Ethnic Cleansing. 29 Siehe Michael Khodarkovsky: The Russian Empire in Comparative Perspective. Ähnlich auch Andreas Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich, S. 138; Willard Sunderland: Empire Without Imperialism? Ambiguities of Colonization in Tsarist Russia, in: Ab Imperio, 2 (2000), S. 101–114.

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Ähnliches gilt im Übrigen auch für die Habsburger Monarchie und ihre Institution der Kronländer. Eine knappe Gegenüberstellung von Österreich-Ungarn und Russland mag dies verdeutlichen.30 So sehr sich die beiden kontinentalen Landimperien in ihrer inneren Komposition und gesellschafts-politischen Verfasstheit unterschieden, so sehr ähnelten sie sich doch mit Blick auf die ausgeprägten Interaktionen zwischen Handelnden an den Rändern des multiethnischen Reichs und Akteuren im Zentrum. Die jeweiligen Metropolen verfügten über keine Handhabe, sich zuspitzende Konflikte an den Reichsrändern auf Distanz zu halten. Die allmähliche Demokratisierung Österreich-Ungarns und der Sprung des Russischen Reichs in die konstitutionelle Monarchie nach 1905 haben hier wie dort diese Verflechtungen noch erheblich verdichtet. Denn die hauptstädtischen Parlamente wurden immer mehr zur Bühne der Austragung nationalisierter Antagonismen der Reichsrandgebiete, während die Medien einer sich ausdifferenzierenden politischen Öffentlichkeit ein Mitverfolgen dieses Spektakels auch in der entfernten Provinz ermöglichten.31 Die markante Differenz zwischen der Donau- und der Romanow-Monarchie bildet allerdings die Gewaltintensität der Konfrontationslagen in der Peripherie. In Russland machte die Revolution von 1905–06 deutlich, welches Gewaltpotential in den ethno-konfessionellen Spannungen lag und wie schnell dies zu einer

|| 30 Vgl. zur Reziprozität von Provinz und Metropole in der Habsburger Monarchie z. B. Christoph Augustynowicz: Die Wiener Genealogie Oskar Haleckis; Harald Binder: Galizien in Wien; Tim Buchen/Malte Rolf: Imperiale Karrieren; und die Sammelbände Endre Hárs et al.: Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten, hier v. a. die Einleitung der Herausgeber; Klemens Kaps: Arbeit für die Nation und Politik für das Reich; Hans-Christian Maner: Grenzregionen der Habsburgermonarchie, hier v. a. die Beiträge Hans-Christian Maner: Zentrum und Grenzregionen der Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert, S. 9–24; Hans Lemberg: Imperien und ihre Grenzregionen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Einige einführende Beobachtungen, S. 25–36; Jan Kusber: Grenzregionen, Randprovinzen, Vielfalt der Peripherie im Habsburgerreich. Zusammenfassende Anmerkungen und Ausblick, S. 235–243. Siehe auch Peter F. Sugar: East European Nationalism, Politics and Religion, Aldershot 1999, Kap. IV; Anna Veronika Wendland: Die Rückkehr der Russophilen in die ukrainische Geschichte, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 49/2 (2001), S. 178–199. 31 Vgl. dazu u. a. Harald Binder: Galizien in Wien; Tim Buchen: Antisemitismus in Galizien. Agitation, Gewalt und Politik gegen Juden in der Habsburgermonarchie um 1900, Berlin 2012, v. a. S. 84–88; Tim Buchen: Religiöse Mobilisierung im Reich. Die imperialen Lebensläufe und politischen Karrieren von Joseph Bloch und Stanisław Stojałowski in der Habsburgermonarchie, in: Geschichte und Gesellschaft, 40/1 (2014), S. 117–141; Moritz Csáky: Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay zur österreichischen Identität, Böhlau 1996; Ernst Hanisch: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, S. 230–232; Jan Surman: Imperiale „go betweeners“: Józef Dietl und Tomáš Garrigue Masaryk.

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fundamentalen Krise der Autokratie und der imperialen Integrität insgesamt anwachsen konnte. Dass die revolutionären Dynamiken in Petersburg, Moskau, Baku, Riga und Warschau miteinander verbunden waren, verweist nicht nur auf den hohen Grad an Interaktion zwischen Reichskern und -rand oder den wechselseitigen Austausch zwischen den Provinzen. In Russland stellten die Peripherien eben auch in viel größerem Maße eine Bedrohung für die Reichseliten und das imperiale Gesamtgefüge dar. Vergleichbares fehlte dagegen in den Kronländern Österreich-Ungarns, in denen die Kodifizierung von Pluralismus und Plurizentralität sowie einer auf Ausgleich ausgerichteten Reichsidee nicht nur zum Abbau der Gewaltintensität beitrug, sondern den Staat oftmals als Vermittler erscheinen ließ. Dass die Okraina im russischen Fall einer Ansammlung an peripheren Pulverfässern glich – und gerade das Königreich Polen ein besonders reich bestücktes Dynamitlager darstellte –, hatte mehrere Gründe. Im Kontrast zu Österreich-Ungarn ist für das russische Imperium die verschärfende Wirkung des autokratischen politischen Systems zu betonen, das seit den Großen Reformen die Zurückdrängung lokaler Sonderrechte anstrebte. In einer Situation, in der Institutionen politischer Partizipation und medialer Meinungsbildung fehlten beziehungsweise nur rudimentär entwickelt waren, potenzierte sich die Konfrontation von Staat und Gesellschaft in den Peripherien fast zwangsläufig. Es schien hier überall die Zentralmacht zu sein, die repressiv und „russifizierend“ in die lokalen Kontexte hineinwirkte. Eine lokalisierte Begrenzung der Konflikte, bei der konkurrierende Kräfte vor Ort um Macht und Einfluss in den jeweiligen Repräsentationsforen gerungen hätten, blieb so aus. Damit war dem Petersburger Zentrum – anders als der Wiener Regierung – aber auch die Möglichkeit verwehrt, als vermeintlich neutralere Instanz in lokalen Auseinandersetzungen aufzutreten. Es lag nicht nur an der Person Nikolaus II., dass er – im Gegensatz zu Franz Joseph – keine annähernd vergleichbare Integrationskraft im komplexen Vielvölkerstaat auszuüben vermochte. Es war zugleich auch das andere Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie in der Habsburger Monarchie, das dem Kaiser und seinem Staatsapparat zumindest punktuell die Rolle eines Moderators ermöglichte. Im Russischen Reich dagegen führte der sich verstärkende Zugriff des Zentrums auf die Peripherien dazu, dass die Repräsentanten imperialer Herrschaft vor allem als bedrohliche, wenn nicht gar feindliche Gegenspieler wahrgenommen wurden. Mochten die Grundgesetze von 1906 tatsächlich auch in Russland eine partielle Selbstbeschäftigung der lokalen Konfliktparteien ermöglichen, so war der Vertrauenskredit einer Staatsbürokratie, die sich über Jahrzehnte vor allem als Organ zentraler Machtentfaltung gebärdet hatte, längst aufgebraucht. Die „Grenzen von Loyalität“ gegenüber den örtlichen Vertretern Petersburgs machten sich auch am Vorabend des Ers-

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ten Weltkriegs überall bemerkbar. Anders als in der Habsburger Monarchie bestand in Russland keine Tradition des Ausgleichs. Es mangelte der zarischen Staatsbürokratie an einer Flexibilität gegenüber den Forderungen der lokalen Gesellschaften. In Österreich-Ungarn ließen das regelmäßige Aushandeln der Grundlagen der Reichsverfassung und die beständig geführten Debatten um weitergehende Autonomierechte der Provinzen den Zentralstaat zwar als instabil erscheinen. Sie erzwangen aber nicht nur eine erhebliche Kompromissfähigkeit der Staatsorgane und ihrer Amtsinhaber, sondern stifteten zugleich Vertrauen in deren grundsätzliche Reformbereitschaft. Dagegen nahmen die lokalen Meinungsführer im Russischen Reich die zarischen Staatsbeamten viel eher als parteiische Agenten des Zentrums denn als auf Konfliktminimierung ausgerichtete Vermittler wahr. Daraus resultierte nicht nur die nach der Revolution fortgeführte Gewaltbereitschaft gegenüber den zarischen Amtsträgern, sondern auch deren weitgehende Isolation als externe und fremde Beamte. Die Lokalisierung der Konflikte in den einzelnen Provinzen nach 1906 konnte daher auch keine Entlastung für das imperiale Zentrum mehr mit sich bringen.32 Diese isolierte Stellung der zarischen Staatsbeamten in den Randgebieten beeinträchtigte die Nachhaltigkeit ihres Wirkens. Zusammenarbeit mit der lokalen Gesellschaft erfolgte bestenfalls punktuell. Es existierten in begrenzten Phasen der „Versöhnung“ und „Hoffnung“ gewisse Interaktionsfelder sowie spezifische Institutionen, die einen intensiveren Austausch zwischen Bevölkerung und Staatsbehörden ermöglichten. Weite Teile der lokalen Gesellschaft nahmen den zarischen Staat jedoch weiterhin als Instanz wahr, die von Außen zwanghaft importiert worden war. Eine solche gesellschaftliche Fremdheitserfahrung vom Staat wurde durch die regelmäßigen Demonstrationen, mit denen die Petersburger Beamten ihre Dominanz ausspielten, kontinuierlich bestärkt. Damit wurde der Gegensatz, der zwischen Gesellschaft und Autokratie im Russischen Reich insgesamt bestand, in den Randgebieten durch die Externalität der Beamten noch verschärft. Dies hatte erhebliche Folgewirkungen für die staatliche Handlungsfähigkeit. Angesichts der begrenzten Ressourcen, die der zarischen Bürokratie bereitstanden, kam der Staatsausbau in den Randgebieten

|| 32 Vgl. zur neueren Forschung zur Interaktion von (cisleithanischem) Staat und Zivilgesellschaft die Einleitung in John W. Boyer: Karl Lueger. Christlichsoziale Politik als Beruf, Köln 2010. Zu Ausgleichspolitiken siehe Lukás Fasora (Hrsg.): Der Mährische Ausgleich von 1905/Moravské vyrovnání z roku 1905, Brno 2006; Alexey Miller: Galicia after the Ausgleich, S. 135–143; Michael Treichler: „Polnisches Piemont“? Die Autonomie Galiziens innerhalb Cisleithaniens und das polnisch-ruthenische Verhältnis in Galizien, München 2007. Zu Loyalitätsritualen und ihren Grenzen in Österreich-Ungarn vgl. Laurence Cole/Daniel L. Unowsky: The Limits of Loyalty.

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schnell ins Stocken. Dem vermeintlich starken Staat, der mit dem Allmachtanspruch der Autokratie antrat, das öffentliche Leben weitgehend ohne die Beteiligung der Gesellschaft zu organisieren, gelang es nicht, aus dieser selbstgewählten Isolation auszubrechen. Eine Staatsmacht ohne gesellschaftlichen Unterbau aber blieb ein schwächelndes Gebilde, das nur über sehr begrenzte Steuerungsmöglichkeiten vor Ort verfügte. Zweifellos bedeuteten die Grundgesetze von 1906 eine deutliche Angleichung der politischen Verhältnisse im Romanow- und im Habsburger Reich. Nun griff auch in Russland die Eigendynamik einer politischen Öffentlichkeit, selbst wenn die Partizipationsmöglichkeiten immer noch weit hinter denen im cisleithanischen Teil Österreichs-Ungarns zurückblieben und eher der politischen Verfasstheit der ungarischen Reichshälfte ähnelten.33 Wie auch in Österreich-Ungarn führte die Dynamisierung des politischen Meinungsmarktes eher zu einer Verschärfung als zu einer Beruhigung der vielen „nationalen Fragen“ im Vielvölkerreich. In der Belastungssituation des Weltkriegs sollten diese zum Zerfall beider composite monarchies führen. Die Spezifik des Russischen Reichs ist hier sicherlich, dass die Staatsbürokratie in der letzten Dekade ihrer Existenz die fortschreitende Nationalisierung des Imperiums beförderte. Denn bei dem Versuch, den scheinbaren Anachronismus einer „Mosaik-Monarchie“ mit ihren zahlreichen Rechtssonderbereichen zu überwinden, setzten die zentralen Instanzen immer mehr auf eine explizite Bevorteilung der Russen. Sie galten in den Grenzregionen als Träger der Zarenmacht und erschienen mehr als jede andere Bevölkerungsgruppe als Garant für die Einheit und die angestrebte Vereinheitlichung des heterogenen Imperiums. Mochten sich auch Teile der adligen und multiethnischen Reichselite und Beamtenschaft dieser Tendenz widerset-

|| 33 Mit der Wahlrechtsreform von 1906 galt für den cisleithanischen Reichsrat das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Männerwahlrecht. In den Ländern der Stefanskrone blieben dagegen weite Teile der Bevölkerung vom Wahlrecht ausgeschlossen und setzte die magyarische Staatselite viel stärker auf eine innere Vereinheitlichung des transleithanischen Reichsteils. Vgl. zum politischen System Österreich-Ungarns Wilhelm Brauneder: Parlamentarismus und Parteiensysteme in der Österreichisch-Cisleithanischen Reichshälfte 1867–1918, in: Gábor Erdödy (Hrsg.): Das Parteienwesen Österreich-Ungarns, Budapest 1983; Ernst Hanisch: Österreichische Gesellschaftsgeschichte, S. 209–241; Árpád von Klimó: Nation, Konfession, Geschichte. Zur nationalen Geschichtskultur Ungarns im europäischen Kontext (1860–1948), München 2003, v. a. Kap. 3 und 4; Robert Kriechbaumer: Die großen Erzählungen der Politik. Politische Kultur und Parteien in Österreich von der Jahrhundertwende bis 1945, Böhlau 2001; Helmut Rumpler: Grenzen der Demokratie im Vielvölkerstaat Die Habsburgermonarchie 1848– 1918, Bd. VII/1: Verfassung und Parlamentarismus, Wien 2000, S. 1–10; Adam Wandruszka: Ein vorbildlicher Rechtsstaat? Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. II: Verwaltung und Rechtswesen, Wien 1975, S. IX-XVIII.

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zen, so ist doch seit der Regierung Stolypins von einer Nationalisierungsstrategie des Petersburger Machtzentrums zu sprechen, die nicht zuletzt den politischen Aufstieg der russischen Nationalisten in der III. und IV. Duma ermöglichte. Anders als in Österreich-Ungarn trug die zarische Staatsbürokratie somit zunehmend aktiv und parteiisch zur Verschärfung der nationalen Konflikte im Reich und in seinen Peripherien bei.34 Die nationalisierten Antagonismen an den Rändern des russischen Imperiums hatten auch bei den Gesandten des Zentrums ein Denken in den Kategorien nationaler Zugehörigkeit und Gegensätze befördert. Die zahlreichen Herausforderungen, auf die die imperiale Herrschaft in den Grenzregionen stieß, beschleunigten hier einen Prozess der Nationalisierung von Weltsichten, bei dem alte supra-nationale Konzepte von Loyalität in den Petersburger Machtinstanzen immer mehr an Bedeutung verloren. Die Peripherie nötigte dem Zentrum damit langfristig die Logik nationalisierter Konfrontation auf. In einem Reichsgefüge, in dem die einzelnen Bestandteile zwar als abgegrenzte Sondergebiete nebeneinander standen, im imperialen Denken jedoch zu der unauflöslichen großen Einheit des Imperiums verschmolzen, war eine solche eskalierende Wechselwirkung zwischen Provinz und Metropole fast unausweichlich.35 Diese integrale Reichsvorstellung machte eine wesentliche Spezifik des russischen Imperiums aus. Und sie besiegelte letztlich auch das Ende des politischen Systems. Zentrum und Peripherie waren im Gefüge des Zarenreichs derart || 34 Beispielsweise hatte die Wiener Regierung im Kontext der heftig umkämpften Badenischen Sprachverordnung von 1897 zunächst versucht, nicht den dominanten Deutschen, sondern den Tschechen mehr Freiheiten in Böhmen einzuräumen. Siehe u. a. Pieter Judson: Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria, Cambridge 2007; Julia Schmid: Kampf um das Deutschtum. Radikaler Nationalismus in Österreich und dem Deutschen Reich 1890–1914, Frankfurt/Main 2009; Peter Stachel: Ein Staat, der an einem Sprachfehler zugrunde ging. Die „Vielsprachigkeit“ des Habsburgerreiches und ihre Auswirkungen, in: Johannes Feichtinger/Peter Stachel (Hrsg.): Das Gewebe der Kultur. Kulturwissenschaftliche Analysen zur Geschichte und Identität Österreichs in der Moderne, Innsbruck 2001, S. 11–46. 35 Siehe auch Andreas Kappeler: Imperium und Nation im Romanov und im Habsburger Reich, in: Moskauer Thyssen-Vorlesungen. Deutschland – Russland – Europa, 4 (2008), S. 2– 28, S. 16–26. Zum supra-nationalen Selbstverständnis von vielen k.u.k. Offizieren und Staatsbeamten sowie anderen Angehörigen der imperialen Elite vgl. István Deák: Der K. (u.) K. Offizier 1848–1918, Wien 1991; Ernst Hanisch: Österreichische Gesellschaftsgeschichte, S. 218–230; Fredrik Lindström: Imperial Heimat. Inquiries into the ‘Austrian State Elite’ in the Late Habsburg Empire; Irina Marin: A K.u.K. General’s Views on Hungarian Politics; Marion Wullschleger: „Gut österreichische Gesinnung“: Imperiale Identitäten und Reichsbilder der letzten österreichischen Statthalter in Triest (1904–1918), in: Tim Buchen/Malte Rolf (Hrsg.): Imperiale Karrieren. Lebensläufe, Karrieremuster und Selbstbilder der Reichseliten in der Romanow- und der Habsburger Monarchie, Berlin 2015.

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miteinander verwoben, dass die Monarchie die gewaltsame Abtrennung der Randprovinzen nicht überlebte. Die Autokratie überdauerte den kriegsbedingten Verlust eines Großteils ihrer westlichen Peripherien in den Jahren 1915–16 nur für kurze Zeit: Im März 1917 wurde Nikolaus II. zur Abdankung gezwungen. Nicht einmal das Armeehauptquartier ließ sich noch zur Unterstützung des Kaisers bewegen. Ein Zar ohne Imperium war eine überflüssige Institution, derer man sich schmerzlos entledigen konnte. Für das Königreich Polen bedeutete der Einmarsch der deutschen Armee im Sommer 1915 ein abruptes Ende der 123 Jahre russischer Oberherrschaft. Vieles von dem, was sich in den Kriegsjahren unter deutscher Besatzung und in den Folgejahren der Zweiten Polnischen Republik an Veränderungen vollzog, stand in dem langen Schatten der Teilungen. Die Fremdherrschaft von mehr als einem Jahrhundert hatte tiefe Spuren hinterlassen. Strukturelle Differenzen der verschiedenen Teilungsgebiete wirkten hier vor allem nach 1918 erschwerend für die innere Konsolidierung der jungen polnischen Republik. Es kamen erhebliche Unterschiede der kulturellen Prägung in den drei Kaiserreichen hinzu. Es hatten eben nicht nur die Eisenbahnschienen in den Teilungsabschnitten eine abweichende Spurbreite. Auch die Wirtschafts- und Bildungssysteme, die sozialen Netzwerke und kulturellen Horizonte waren – allen grenzüberschreitenden Transfers zum Trotz – durch die jeweiligen imperialen Strukturen und Herrschaftspraktiken der drei Großmächte geformt worden. Und nicht zuletzt differierte der Erfahrungshintergrund eines galizischen Beamten mit seiner Tätigkeit in einer weitgehend autonomen Provinzverwaltung grundsätzlich von jenen politischen Mentalitäten, die der jahrzehntelange Untergrundkampf in Russisch-Polen befördert hatte. Die Zweite Polnische Republik stand vor der fast unmöglichen Herausforderung, das Schisma der Teilungsgebiete zu überwinden und aus den Fragmenten der post-imperialen Gesellschaften einen homogenen Nationalstaat zu erschaffen. Der Drang, sich der sichtbaren Spuren der vergangenen Fremdherrschaft schnell zu entledigen, ist vor diesem Hintergrund leicht nachvollziehbar. Und immerhin hier konnten die neuen polnischen Regierungen Erfolge vorweisen. Als Alfred Döblin 1924 durch das wieder zur Hauptstadt erhobene Warschau flanierte, registrierte er beinahe verwundert, wie wenig präsent die abgelegte russische Herrschaft noch war. Zweifellos, gelegentlich fanden sich noch die Relikte der Unterdrückung. So notierte Döblin beim Anblick der Ruine der AleksandrNevskij-Kathedrale: „Und da gähnt – weiß Gott – grässlich und lähmend die Steppe der Wolga. [...] Da bäumt sich und ist erstarrt ein brustbeklemmendes Asien.“36

|| 36 Alfred Döblin: Reise in Polen, München 2000, S. 16.

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Abb. 31: Ruine der Aleksandr-Nevskij-Kathedrale

Aber der Abriss hatte schon begonnen, das verwaiste Gebäude war mit einem Bretterzaun umgeben, auf dem Kinoplakate klebten. In den Augen Döblins manifestierte sich so der Sieg der Gegenwart, der Triumph des neuen postimperialen Alltags über die Vergangenheit russischer Knechtschaft. Hinter der Absperrung verfiel das Erbe des Imperiums, davor tummelte sich das urbane Treiben der modernen Metropole: Hier „flitzt ein Auto, schreien sie den ‚Curier Warschawski‘ aus, blitzen die modernen Schaufenster.[...] Die Erinnerung an das alte Unglück und die Erniedrigung [ist] beseitigt.“37 Die russische Herrschaft, so schien es, war zu einem abgeschlossenen Kapitel für die Geschichtsbücher geworden.

|| 37 Alfred Döblin: Reise in Polen, S. 16–17.

| Anhang

Anmerkungen zu Transliteration, Zitationsweise, Abkürzungen sowie Zeit-, Orts- und Namensangaben Die Umschrift russischer Zitate, Begriffe und Eigennamen folgt der wissenschaftlichen Transliteration. Ortsangaben und Straßennamen orientieren sich sowohl an der zeitgenössischen offiziellen – also russischen – Terminologie als auch an der polnischen Titulatur. Bei einigen Ausnahmen (Wolga und Wodka, Romanow oder Namen der Zaren) wird die im Deutschen gebräuchliche Schreibweise bzw. Ortsbezeichnung angewandt. Im speziellen Fall von Vil’na/Wilno/Vilnius wurde die neutralere Form Wilna gewählt. Generell ist ė (wie in ėnceklopedičeskij) als e transliteriert. Kalenderdaten werden in dieser Arbeit im „alten Stil“ nach dem Julianischen Kalender angegeben, der im 19. Jahrhundert 12 Tage und im 20. Jahrhundert 13 Tage Differenz zum Gregorianischen Kalender aufwies. Dort, wo in den Quellen Kalenderdaten nach beiden Stilen angegeben sind, werden diese auch so aufgeführt. Bei den bibliographischen Angaben im Literaturverzeichnis werden Autoren so aufgeführt, wie sie in der zitierten Literatur genannt sind. Polnische Autoren, die auf Russisch publizierten, beziehungsweise russische Autoren, die eine polnische Übersetzung ihres Werks veröffentlichten, sind in der Schreibweise der jeweiligen Einzelpublikation angeführt. Insofern werden beispielsweise Włodzimierz Spasowicz oder Erazm Piltz auch als Vladimir Spasovič beziehungsweise Erazm Pil’c im Literatur- und Quellenverzeichnis aufgelistet. Als Quellen genutzte Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge werden im Quellenverzeichnis nicht noch einmal einzeln aufgeführt. Sie sind in den Fußnoten vollständig zitiert. In den Fußnoten werden bei den Archiv- und Quellenangaben die Amtsbezeichnungen Warschauer Generalgouverneur als WGG und Warschauer Oberpolizeimeister als WOPM abgekürzt.

Verzeichnis der Abbildungen Abb. 1

Abb. 2 Abb. 3

Abb. 4

Abb. 5 Abb. 6

Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9

Abb. 10

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Abb. 12

Abb. 13

Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16

Staatsrepräsentanz und lokale Gesellschaft vor dem Warschauer KopernikusDenkmal. Photographie von Antoni Gürtler (1910). Aus: OLGIERD BURDEWICZ: Przedwczorajsza Warszawa. Fotografie ze zbiorów Muzeum Narodowega w Warszawie, Olszanica 2006, S. 86. Karte des Königreichs Polen und der westlichen Gouvernements des Russischen Imperiums (1902). Karte des Weichsellands (1896). Aus: Enciklopedičeskij slovar’, hrsg. von FRIDRICH ARNOL’D BROKGAUS/IL’JA ABRAMOVIČ EFRON, Band 25 (Prž-Pri), St. Petersburg 1898, S. 141–143. Königliches Schloss in Warschau, Sitz der Generalgouverneure (um 1910). Aus: OLGIERD BURDEWICZ: Przedwczorajsza Warszawa. Fotografie ze zbiorów Muzeum Narodowega w Warszawie, Olszanica 2006, S. 117. Straßenszene in Warschau mit Polizist (um 1900). Aus: RAFAŁ BIELSKI: Było takie miasto. Warszawa na starych pocztówkach, Warschau 2008, S. 107. Petr Pavlovič Al’bedinskij (1826–1883). Generalgouverneur im Königreich Polen von 1880 bis 1883. Aus: ALEKSEJ A. SIDOROV: Russkie i russkaja žizn’ v Varšave (1815–1895). Istoričeskij očerk, Band 3, Warschau 1900, S. 168. Iosif Vladimirovič Romejko-Gurko (1828–1901). Generalgouverneur im Königreich Polen von 1883 bis 1894. Photographie von Šejndel‘ und Vasilev (1874). Aleksandr Konstantinovič Bagration-Imeretinskij (1837–1900). Generalgouverneur im Königreich Polen von 1896 bis 1900. Photographie von J. Mieczkowski. Georgij Antonovič Skalon (1847–1914, links stehend). Generalgouverneur im Königreich Polen von 1905 bis 1914. Aus: gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France. Begrüßungskomitee Warschauer Bürger beim Besuch Nikolaus II. 1897. Aus: OLGIERD BURDEWICZ: Przedwczorajsza Warszawa. Fotografie ze zbiorów Muzeum Narodowega w Warszawie, Olszanica 2006, S. 130. Die Aleksandr-Nevskij-Kathedrale in Warschau. Photographie um 1913. Aus: RAFAŁ BIELSKI: Było takie miasto. Warszawa na starych pocztówkach, Warschau 2008, S. 90. Stadtplan Warschaus von 1879. Erstellt unter der Leitung von Alfons Grotowski. Aus: EWA WOŹNIAK (Hrsg.): Dawna Warszawa na planach 1856–1955, Warschau 2003, Nr. 3. Stadtplan Warschaus von 1896. Erstellt unter der Leitung von William H. Lindley, überarbeitet von H. Lichtweiss. Aus: EWA WOŹNIAK (Hrsg.): Dawna Warszawa na planach 1856–1955, Warschau 2003, Nr. 5. Ulica Marszałkowska. Photographie um 1910. Aus: JERZY S. MAJEWSKI: Warszawa nieodbudowana. Metropolia belle époque, Warschau 2003, S. 140. Ulica Marszałkowska. Postkarte um 1910. Aus: RAFAŁ BIELSKI: Było takie miasto. Warszawa na starych pocztówkach, Warschau 2008, S. 52. Plac Warecki. Photographie um 1910. Aus: RAFAŁ BIELSKI: Było takie miasto. Warszawa na starych pocztówkach, Warschau 2008, S. 83.

466 | Verzeichnis der Abbildungen

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Warschauer Rathaus um 1880. Photographie von Konrad Brandel. Aus: OLGIERD BURDEWICZ: Przedwczorajsza Warszawa. Fotografie ze zbiorów Muzeum Narodowega w Warszawie, Olszanica 2006, S. 74. Sokrat Ivanovič Starynkevič (1820–1902). Stadtpräsident von Warschau von 1875 bis 1892. Photographie von J. Mieczkowski. Aus: SOKRATES STARYNKIEWICZ: Dziennik 1887–1897, hrsg. vom MUZEUM HISTORYCZNE M. ST. WARSZAWY, Warschau 2005, S. 47. Letzte Sitzung des Warschauer Magistrats unter der Leitung von Sokrat Starynkevič. Photographie von Konrad Brandel (18. September 1892). Aus: MUZEUM HISTORYCZNE M.ST. WARSZAWY, Arch.Fot., Nr. inw. V. 13691. Wettbewerbsentwurf für das Russische Volkshaus von B. J. Botkin und V. I. Romanov (1905–06). Aus: JERZY S. MAJEWSKI: Warszawa nieodbudowana. Metropolia belle époque, Warschau 2003, S. 12. Polytechnisches Institut in Warschau. Postkarte um 1910. Einweihung des Adam-Mickiewicz-Denkmals. Photographie von Stanisław Bogacki (24. Dezember 1898). Aus: ZYGMUNT WASILEWSKI: Pomnik Mickiewicza w Warszawie, 1897–1898, Warschau 1899 / Muzeum Historyczne m.st. Warszawy, Arch.Fot., Nr. inw. V. 18234. Russische Soldaten auf dem Markt in Warschau um 1900. Aus: RAFAŁ BIELSKI: Było takie miasto. Warszawa na starych pocztówkach, Warschau 2008, S. 10. Hotel Bristol am Krakowskie Przedmieście (1900). Aus: ALBUM WIDOKÓW WARSZAWY, Warschau 1905, Abb. 4 – MUZEUM HISTORYCZNE M.ST. WARSZAWY, Biblioteka, sygn. V. 1516. Ingenieure und Magistratsbeamte besuchen die Baustelle der dritten Weichselbrücke. Photographie von Józef B. Ćwikiel (1912). Aus: OLGIERD BURDEWICZ: Przedwczorajsza Warszawa. Fotografie ze zbiorów Muzeum Narodowega w Warszawie, Olszanica 2006, S. 138. Die dritte Weichselbrücke. Photographie von Stanisław Nofok-Sowiński (1916). Aus: OLGIERD BURDEWICZ: Przedwczorajsza Warszawa. Fotografie ze zbiorów Muzeum Narodowega w Warszawie, Olszanica 2006, S. 140. Botanischer Garten und Kirche des Litauischen Leibgarderegiments. Aus: RAFAŁ BIELSKI: Było takie miasto. Warszawa na starych pocztówkach, Warschau 2008, S. 36. Kaiserliche Universität in Warschau, Bibliothek. Aus: RAFAŁ BIELSKI: Było takie miasto. Warszawa na starych pocztówkach, Warschau 2008, S. 22. Demonstrationszug in Warschau am 5. November 1905. Aus: RAFAŁ BIELSKI: Było takie miasto. Warszawa na starych pocztówkach, Warschau 2008, S. 25. Abzug der zarischen Truppen. Photographie von Stanisław Nofok-Sowiński (4. August 1915). Aus: MUZEUM HISTORYCZNE M. ST. WARSZAWY (Hrsg.): Album Warszawski. Obraz miasta w zbiorach Muzeum Historycznego m. st. Warszawy, Warschau 2000, S. 265 / Muzeum Historyczne m.st. Warszawy, Arch.Fot., Nr. inw. neg. 34615. Ruine der Aleksandr-Nevskij-Kathedrale. Aus: PIOTR PASZKIEWICZ: Pod berłem Romanowów. Sztuka rosyjska w Warszawie 1815–1915, Warschau 1991, Anhang, Abb. Nr. 124.

Personenverzeichnisse Statthalter und Generalgouverneure im Königreich Polen (1815–1915) Fürst Józef Zajączek (1752–1826) Statthalter: 1815–1826 1826–1831: Vakanz der Statthalterschaft Ivan Fedorovič Paskevič (1831–55) Statthalter: 1831–1855 Prinz Michail Dmitrievič Gorčakov (1790–1861) Statthalter: 1855–1861 Nikolaj Onufrievič Suchozanet (1794–1871) Statthalter: Mai – August 1861 Karl Karlovič Lambert (1815–1865) Statthalter: August – Oktober 1861 Nikolaj Onufrievič Suchozanet (1794–1871) Statthalter: Oktober 1861 Graf Aleksandr Nikolaevič Liders (Alexander von Lüders) (1790–1874) Statthalter: 1861–1862 Großfürst Konstantin Nikolaevič (1827–1892) Statthalter: 1862–1863 Fedor Fedorovič Berg (Friedrich Wilhelm Remberg von Berg) (1793–1874) Statthalter: 1863–1874 Pavel E. Kocebu (Pawel Kotzebue) (1801–1884) Generalgouverneur: 1874–1880 Petr Pavlovič Al’bedinskij (1826–1883) Generalgouverneur: 1880–1883 Iosif Vladimirovič Romejko-Gurko (1828–1901) Generalgouverneur: 1883–1894 Pavel Andreevič Šuvalov (1830–1908) Generalgouverneur: 1894–1896 Aleksandr Konstantinovič Imeretinskij (1837–1900) Generalgouverneur: 1896–1900 Michail Ivanovič Čertkov (1829–1905) Generalgouverneur: 1900–1905 Konstantin Klavdievič Maksimovič (1849–?) Generalgouverneur: 4. März 1905–28. August 1905 Georgij Antonovič Skalon (1847–1914) Generalgouverneur: 1905–1914 Jakov Grigorievič Žilinskij (1853–1918?) Generalgouverneur: 1914 Pavel Nikolaevič Engalyčev (1864–1944) Generalgouverneur: 1914–1915

468 | Personenverzeichnisse

Warschauer Oberpolizeimeister (1833–1915) Andrej Ja. Storoženko Oberpolizeimeister von Warschau: 1833–1841 Michail I. Sobolev Oberpolizeimeister von Warschau: 1842–1844 Ignatij Ja. Abramovskij Oberpolizeimeister von Warschau: 1844–1851 Vasilij M. Gorlov Oberpolizeimeister von Warschau: 1851–1856 Vladimir I. Aničkov Oberpolizeimeister von Warschau: 1856–1860 Fedor F. Trepov Oberpolizeimeister von Warschau: 1860–1861 Konstantin Apollon Rozwadowski Oberpolizeimeister von Warschau: 1861 Zygmunt Piłsudski Oberpolizeimeister von Warschau: 1861–1862 Sergej S. Muchanov stellvertretender Oberpolizeimeister von Warschau: 1862–1863 Lev I. Levšin Oberpolizeimeister von Warschau: 1863–1864 Baron Platon A. Freedericksz Oberpolizeimeister von Warschau: 1864–1866 Georgij P. Vlasov Oberpolizeimeister von Warschau: 1866–1879 Nikolaj N. Buturlin Oberpolizeimeister von Warschau: 1879–1884 Sergej I. Tolstoj Oberpolizeimeister von Warschau: 1884–1888 Nikolaj V. Klejgel’s (Clayhills) Oberpolizeimeister von Warschau: 1888–1895 Karl A. Gresser Oberpolizeimeister von Warschau: 1896–1898 Aleksandr N. Lichačev Oberpolizeimeister von Warschau: 1898–1904 Karl S. Freiherr von Nolcken Oberpolizeimeister von Warschau: 1904–1905 Petr P. Mejer Oberpolizeimeister von Warschau: 1905–1915

Präsidenten der Stadt Warschau (1816–1915) Karol Woyda Stadtpräsident: 1816–1830 Stanisław Węgrzecki Stadtpräsident: 1830–1831

Personenverzeichnisse | 469

Jakub Ignacy Łaszczyński Stadtpräsident: 1831–1837 Aleksander Graybner Stadtpräsident: 1837–1847 Teodor Andrault de Langeron Stadtpräsident: 1847–1862 Kazimierz Woyda Stadtpräsident: 1862 Zygmunt Wielopolski Stadtpräsident: 1862–1863 Kalikst Witkowski Stadtpräsident: 1863–1875 Sokrat Ivanovič Starynkevič Stadtpräsident: 1875–1892 Nikolaj Bibikov Stadtpräsident: 1892–1906 Viktor Litvinskij Stadtpräsident: 1906–1909 Aleksandr A. Miller Stadtpräsident: 1909–1915

Gouverneure und Vize-Gouverneure des Warschauer Gouvernements (1863–1915) Jewgenij P. Roznow (1807–1875) Gouverneur des Gouvernements Warschau: 1863–1866 Nikolaj N. Medem (1834–1899) Gouverneur des Gouvernements Warschau: 1866–1892 Julij A. Andreev (1849–?) Gouverneur des Gouvernements Warschau: 1892–1897 Dimitri N. Martynov (1851–?) Gouverneur des Gouvernements Warschau: 1897–1906 Semion N. fon Korf (1854–1920) Gouverneur des Gouvernements Warschau: 1906–1914 Konstantin D. Danilov Vize-Gouverneur des Gouvernements Warschau: 1869–1876 Julij A. Andreev (1849–?) Vize-Gouverneur des Gouvernements Warschau: 1880–1892 Vasilij I. Gurko (1863–1927) Vize-Gouverneur des Gouvernements Warschau: 1892–1895 Aleksandr N. Lwow Vize-Gouverneur des Gouvernements Warschau: 1895–1897 Konstantin K. fon Palen (1861–1923) Vize-Gouverneur des Gouvernements Warschau: 1897–1900 Aleksej N. Lobanov-Rostovskij Vize-Gouverneur des Gouvernements Warschau: 1900–1902 Pavel A. Vrevskij Vize-Gouverneur des Gouvernements Warschau: 1902–1908

470 | Personenverzeichnisse

Semion P. Papudoglo Vize-Gouverneur des Gouvernements Warschau: 1908–1909 Aleksandr A. Rozenszyld-Paulin Vize-Gouverneur des Gouvernements Warschau: 1909–1910 Piotr P. Stremouchov Vize-Gouverneur des Gouvernements Warschau: 1914–1915

Kuratoren des Warschauer Bildungsbezirks (1865–1911) F. F. Vitte Kurator des Warschauer Lehrbezirks: 1865–1879 Aleksandr L’vovič Apuchtin Kurator des Warschauer Lehrbezirks: 1879–1897 Valerian Nikolaevič Ligin Kurator des Warschauer Lehrbezirks: 1897–1900 Aleksandr N. Švarc Kurator des Warschauer Lehrbezirks: 1900–1905 V. I. Beljaev Kurator des Warschauer Lehrbezirks: 1905–1911

Redakteure des Varšavskij Dnevnik (1863–1912) N. I. Pavliščev Redakteur des Dziennik Warszawski: 1864–1870 Redakteur des Varšavskij dnevnik: 1864–1870 P. I. Vejnberg Redakteur des Varšavskij dnevnik: 1870–1874 V. I. Pisarev Redakteur des Varšavskij dnevnik: 1870–1874 Nikolaj V. Berg Redakteur des Varšavskij dnevnik: 1874–1879 Fürst N. N. Golicyn Redakteur des Varšavskij dnevnik: 1879–1883 P. K. Ščebal’skij Redakteur des Varšavskij dnevnik: 1883–1886 Platon A. Kulakovskij Redakteur des Varšavskij dnevnik: 1886–1892 Vsevolod V. Krestovskij Redakteur des Varšavskij dnevnik: 1892–1895 A. T. Timanovskij Redakteur des Varšavskij dnevnik: 1895–1896 Vladimir V. Esipov Redakteur des Varšavskij dnevnik: 1908–1912(?)

Quellen und Bibliographie Quellen Verzeichnis der Archive und Bibliotheken Staatsarchiv der Russländischen Föderation (Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii = GARF), Moskau Russländisches Historisches Staatsarchiv (Rossijskij Gosudarstvennyj Istoričeskij Archiv = RGIA), St. Petersburg Hauptarchiv der alten Akten (Archiwum Głowne Akt Dawnych = AGAD), Warschau Staatsarchiv der Hauptstadt Warschau (Archiwum Państwowe m. st. Warszawy = APW), Warschau Russländische Staatsbibliothek (Rossijskaja Gosudarstvennaja Biblioteka = RGB), Moskau Russländische Nationalbibliothek (Rossijskaja Nacional’naja Biblioteka = RNB), St. Petersburg Polnische Nationalbibliothek (Biblioteka Narodowa), Warschau Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Polska Akademia Nauk = PAN), Warschau Warschauer Universitätsbibliothek (Biblioteka Uniwersytecka w Warszawie = BUW), Warschau Warschauer Stadtbibliothek (Biblioteka Publiczna m. st. Warszawy), Warschau

Abkürzungen bei Quellensignaturen WGG: Warschauer Generalgouverneur (Generał-Gubernatora Warszawskiego / Varšavskij General-Gubernator) WOPM: Warschauer Oberpolizeimeister (Oberpolicmajstr Warszawski / Varšavskij OberPolicejmejster) PMW: Stadtpräsident der Stadt Warschau (Prezydent miasta Warszawy / Prezident goroda Varšavy) KGGW: Kanzlei des Warschauer Generalgouverneurs (Kancelaria Generał-Gubernatora Warszawskiego / Kancelarija Varšavskogo General-Gubernatora) PomGGW: Gehilfe des Warschauer Generalgouverneurs für die Polizeiabteilung (Pomocnik Generał-Gubernatora Warszawskiego do Spraw Policyjnych / Pomoščnik Varšavskogo General-Gubernatora po Policejskoj časti) KGW: Kanzlei des Warschauer Gouverneurs (Kancelaria Gubernatora Warszawskiego / Kanceljarija Varšavskogo Gubernatora ) ZOW: Amt des Warschauer Oberpolizeimeisters (Zarząd Oberpolicmajstra Warszawskiego) WWO: Warschauer Abteilung für den Schutz öffentlicher Ordnung beim Amt des Warschauer Oberpolizeimeisters (Warszawski Wydział dla Ochrony Porządku i Bezpieczeństwa Publicznego przy Zarządzie Warszawskiego Oberpolicmajstra) WKC: Warschauer Zensurkomitee / Warschauer Komitee für Druckangelegenheiten (Warszawski Komitet Cenzury / Varšavskij Cenzurnyj Komitet / Varšavskij Komitet po delam pečati)

472 | Quellen und Bibliographie

Verzeichnis der veröffentlichten Quellen

Nachschlagewerke Bauer, Henning/Andreas Kappeler/Brigitte Roth (Hrsg.): Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897, 2 Bände, Stuttgart 1991. Bol’šaja enciklopedija. Slovar’ obščedostupnych svedenij po vsem otrasljam znanij, 20 Bände, St. Petersburg 1900–1905, 2 Suppl. Bände, 1909. Členy Gosudarstvennoj Dumy (portrety i biografii), hrsg. von M. M. Bojovič, Moskau 1906. Členy Gosudarstvennoj Dumy (portrety i biografii). 1907–1912, hrsg. von M. M. Bojovič, Moskau 1910. Dal’, Vladimir I.: Tolkovyj slovar’ živogo velikorusskogo jazyka, 2 Bände, Moskau 1863–1865. D’jakov, V. A./I. S. Miller/A. S. Myl’nikov: Slavjanovedenie v dorevoljucionnoj Rossii. Biobibliografičeskij slovar’, Moskau 1979. Encyklopedia Warszawy z suplementem, Warschau 1994. Enciklopedičeskij slovar’, hrsg. von Fridrich Arnol’d Brokgaus/Il’ja Abramovič Efron, 41 Bände bzw. 82 Teilbände, St. Petersburg 1890–1904, 2 Suppl. Bände, 1905–1907. Enciklopedičeskij slovar’ tovariščestva Granat, 7. Aufl., 57 Bände, Moskau 1910–1948. Encyclopædia Britannica, 11. und 12. Aufl., 29 Bände, 3 Suppl. Bände, London/Chicago 1910– 1911 bzw. 1922–23. Nastol’nyj enciklopedičeskij slovar’, 4. Aufl., 8 Bände, Moskau 1899–1900. Novyj enciklopedičeskij slovar’, hrsg. von Fridrich Arnol’d Brokgaus/Il’ja Abramovič Efron, 29 Bände, St. Petersburg 1911–1916. Ožegov, Sergej I.: Slovar’ russkogo jazyka, Moskau 1949. Pavlovskij, Ivan Ja.: Russko-nemeckij slovar’, 2 Bände, Leipzig 1960 [unveränderter Nachdruck; Originalpublikation Riga, 1859–67]. Pölitz, Karl Heinrich Ludwig (Hrsg.): Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789 bis auf unsere heutige Zeit, 3 Bände, Leipzig 1833. Rhyne, George N./Joseph L. Wieczynski (Hrsg.): The Modern Encyclopaedia of Russian and Soviet History (MERSH), New York 1976–1993. Rossijskoe zakonodatel’stvo X–XX vv., 9 Bände, Moskau 1985. Russkij biografičeskij slovar’, hrsg. von Il’ja N. Berezinym, 16 Bände, St. Petersburg 1873– 1878. Russkij biografičeskij slovar’, hrsg. von Aleksandr A. Polovcov, 25 Bände, St. Petersburg 1896– 1918. S. Orgelbranda encyclopedia powszechna z ilustracjami i mapami, XV: Warschau 1893–1903. Sokol, K. G.: Russkaja Varšava. Spravočnik-putevoditel’, Moskau 2002. Sulimierski, Filip/Chlebowski, Bronisław/Walewski, Władysław (Hg.): Warszawa. Słownik geograficzny Królestwa Polskiego i innych krajów słowiańskich, 15 Bände, Warschau 1880–1904. The Great Book of Warsaw, Warschau 2001. Voennaja enciklopedia Sytina, hrsg. von Ivan D. Sytin, 18 Bände, St. Petersburg 1911–1915.

Quellen und Bibliographie | 473

Bildbände und Kartensammlungen Barański, Marek/Sołtan, Andrzej (Hrsg.): Warszawa. Ostatnie spojrzenie. Niemieckie fotografie lotnicze sprzed sierpnia 1944 / Warschau. Der letzte Blick. Deutsche Luftaufnahmen entstanden vor August 1944, Warschau 2004. Bielski, Rafał: Było takie miasto. Warszawa na starych pocztówkach, Warschau 2008. Burdewicz, Olgierd: Przedwczorajsza Warszawa. Fotografie ze zbiorów Muzeum Narodowega w Warszawie, Olszanica 2006. Dom spotkań z Historią (Hrsg.): Maisto na sklanych negatywach. Warszawa 1916 w fotografiach Willy’ego Römera, Warschau 2009. Kobielski, Dobrosław: Warszawa na fotografiach z XIX wieku, Warschau 1970. Kotańska, Anna/Topolska, Anna (Hrsg): Warszawa wczoraj i dziś, Warschau 2004. Majewski, Jerzy S.: Warszawa nieodbudowana. Metropolia belle époque, Warschau 2003. Muzeum Historyczne M. St. Warszawy (Hrsg.): Sankt Petersburg i Warszawa na przełomie XIX i XX wieku. Początki nowoczesnej infrastruktury miejskiej / Sankt-Peterburg i Varšava na rubeže XIX i XX vekov. Načalo sovremennoj gorodskoj infrastruktury, Warschau 2000. Muzeum Historyczne M. St. Warszawy (Hrsg.): Album Warszawski. Obraz miasta w zbiorach Muzeum Historycznego m. st. Warszawy, Warschau 2000. Warszawa na starej fotografii, Warschau 1960. Waźniak, Ewa: Dawna Warszawa na planach 1856–1955, Warschau 2003.

Herausgegebene Quellensammlungen Golczewski, Frank/Gertrud Pickhan (Hrsg.): Russischer Nationalismus. Die russische Idee im 19. und 20. Jahrhundert. Darstellung und Texte, Göttingen 1998. Juchnowski, Jerzy u. a. (Hrsg.): Polska myśl polityczna XIX wieku. Wybór tekstów źródłowych z komentarzem, Wrocław 1999. Kieniewicz, Stefan: Korespondencja namiestników Królestwa Polskiego sierpień 1863 – maj 1864,Wrocław 1978. Kiepurska, Halina/Pustuła, Zbigniew (Hrsg.): Raporty warszawskich oberpolicmajstrów (1892– 1913), Wrocław 1971. Lieven, Dominic (Hrsg.): British Documents on Foreign Affairs: Reports and Papers from the Foreign Office Confidential Print. Part I, From the Mid-nineteenth Century to the First World War. Series A: Russia, 1859–1914, 6 Bände, Bethesda 1983. Pietrzak-Pawlowska, Irena (Hrsg.): Informator o zespołach archiwalnych zawierających materiały do historii przemysłu w latach 1815–1945, Warschau 1967. Pietrzak-Pawlowska, Irena (Hrsg.): Kierunki polityczne w społoczeństwie polskim w końcu XIX wieku (Teksty źródłowe do nauki i historii w szkole), Warschau 1961. Pölitz, Karl Heinrich Ludwig (Hrsg.): Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789 bis auf unsere heutige Zeit, Bd. 2, Leipzig 1833. Prussak, Maria (Hrsg.): Świat pod kontrolą. Wybór materiałów z archiwum cenzury rosyjskiej w Warszawie, Warschau 1994. Rappaport, Herman (Hrsg.): Reakcja Stołypinowska w Królestwie Polskim 1892–1913, Warschau 1974. Rappaport, Herman (Hrsg.): Anarchizm i anarchiści na ziemach polskich do 1914 roku, Warschau 1981.

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Sachregister Adel 26f., 29, 33, 42, 53, 59, 161, 246, 266, 317, 367, 433 Aleksandr-Nevskij-Kathedrale 113, 169ff., 209, 217, 290, 305, 308f., 312, 423, 458f. Antijüdischer Boykott 403, 407f. Antisemitismus 144, 399, 401f. Arbeiter 134, 237, 294, 300, 309, 329, 331, 336f., 342, 346, 350, 352, 362, 375, 379, 393 Armee 15, 19, 27ff., 31, 36, 42, 66, 96, 103, 125, 135, 201, 248, 266, 283f., 309, 320, 339, 341f., 351, 361, 415, 419, 427, 430, 458 Attentate 346, 364f. Ausnahmezustand 31, 66, 103, 125, 136, 143, 242, 244, 329, 341, 360, 375, 377, 380, 386, 388 Bauern 42, 59f., 86f., 230, 362, 367, 372, 432 Bildung 7, 33, 48, 51ff., 64, 68, 98, 161, 176, 219, 230, 313, 320f., 425 Bildungsminister 80, 88, 118, 173f., 176, 383, 443 Bildungsministerium 175ff. Biographie 11, 266, 443, 447, 449 Britisches Empire 105 Bürgertum 228, 239 Cholera 188f., 203, 214, 241ff., 400 Depolonisierung 7, 44, 50f., 57, 60, 400, 419 Deutsches Kaiserreich 39 Duma 82, 87, 143, 158, 297, 309, 318f., 325, 353, 371, 373, 391f., 395, 401, 403ff., 412, 448f., 457 Erster Weltkrieg 4, 41, 60, 127, 144, 185, 187, 200, 209, 248, 251, 384, 388, 405, 409, 412, 414, 426f., 454f. fin de siècle 16, 184, 190, 193, 255, 296, 390 Gasbeleuchtung 269 Gazeta Polska 137f. Gemeindebewegung 59, 81, 350, 362, 368, 373, 377 Generalgouverneur 6, 13, 44, 46ff., 50, 55, 59f., 63, 67ff., 74, 76, 81, 90, 94, 96f.,

123, 133f., 148, 150, 167, 377, 380ff., 387f., 391, 395ff., 406f., 413, 420, 424, 426f., 443, 447, 450 Gesellschaft der Schönen Künste in Warschau (Towarzystwo Zachęty Sztuk Pięknych w Warszawie) 238 Gesellschaft der Techniker (Stowarzyszenie Techników) 268 Gesellschaft für Nationale Bildung (Towarzystwo Oświaty Narodowej, TON) 139 Gewaltdynamiken 17, 452 Goniec 260, 355, 370, 388 Grenzgänger 302 Große Reformen 18, 62, 86, 115, 419, 446, 454 Gründungskomitee im Königreich Polen 44, 71 Habsburger Reich – siehe Österreich-Ungarn 456 Hale Mirowskie 206 Hauptschule (Szkoła główna), Warschau 52, 230, 313 Hygiene, Debatte um 189, 198, 210f., 213f., 231, 236, 241f., 273, 433, 452 Ikonen 174f. Imperium, Vorstellung von 9f., 20, 61, 114, 225, 269, 318, 412, 414, 450 Ingenieure 10, 198, 222, 264ff., 271, 273ff., 278f., 283, 392, 424 Innenminister 5, 69f., 76, 81, 121, 136, 184, 189, 207, 225, 235, 257, 263, 359, 363, 443, 448 Innenministerium 51f., 55, 69, 74, 81, 112, 159, 190, 210, 420, 424 Intelligencija 367, 390, 392, 394, 402 Jahrmärkte 246, 375, 406 Januaraufstand von 1863 6, 25, 127, 165, 419, 426 Juden 133, 158, 164, 239, 259, 307, 310, 333, 335, 354, 398f., 402, 405ff., 410, 423 Jüdischer Bund 101 Justiz 32, 44, 54f., 58, 97, 257, 348, 361

526 | Sachregister

Kadetten (Konstitutionelle Demokraten) 297, 387 Kanalisation 183, 192, 203, 206f., 214, 247, 251 Katholiken 45, 158f., 161, 164, 172, 174, 259, 265, 302, 307, 310, 314, 392, 423 Kino 130, 196, 215, 298, 389, 459 Kirche 33, 53f., 76, 84, 155, 164ff., 168ff., 217, 243, 271, 283, 285, 289ff., 300, 305f., 309f., 355f., 368, 406, 422f., 466 Kolonie 16, 18, 294, 303, 425, 452 Komitee für die Angelegenheiten des Königreichs Polen, St. Petersburg (Komitet po delam Carstva Pol’skogo) 190, 420 Konfliktgemeinschaft 4, 7, 9f., 12, 14f., 21, 125, 180, 185, 227, 278, 296, 419, 423 Konzessionsverträge 250f. Krieg 18, 30, 37, 82, 89, 97, 106, 123, 208, 326, 337, 340, 352, 361, 414, 426f., 430 Kriegsfeldgerichte (Voenno-polevye sudy) 353, 359ff., 376 Kriegsminister 359 Kriegsministerium 69 Kriegsrecht 360, 368, 372, 374ff., 379f., 382f., 385 Kulturbetrieb 239, 254 Kurator des Warschauer Bildungsbezirks 52, 172 Litauer 158, 161, 164, 335, 409 „Litwaken“-Debatte 400 Magistrat 81, 184, 189, 198, 200, 203f., 212ff., 220, 233, 244, 247, 250f., 253, 257, 259f., 262f. Maria-Magdalena-Kirche 217, 305, 309 Militärbezirk, Warschau 66, 105, 359 Moderne 15ff., 63, 183, 190f., 196, 201, 227, 265f., 268, 276f., 279, 451 Nation, Verständnis von 19f., 85, 119, 156ff., 230, 240, 381, 394, 398, 432, 441 Nationaldemokraten (Endecja) 144, 164, 237, 244, 355f., 369ff., 384, 394, 396f., 404ff., 410 Nationalismus 20, 119, 240, 275, 321, 434, 436

Oberpolizeimeister 46, 75, 77f., 157, 160, 197, 210, 212ff., 219, 250, 252, 259, 261, 266, 288, 305, 308, 404, 406, 424 Okraina, Topos von 98, 112, 114, 149, 436, 446, 452, 454 Okrainy Rossii 153, 447 Oktobermanifest und Grundgesetz 82, 108, 148, 297, 327, 353f., 367f., 370, 373f., 412 Oper 130, 143, 150, 191 Ordnung 415 Ordnung, Vorstellung von 9, 17, 72, 86, 91, 93, 103, 111, 134f., 157, 173, 177f., 193, 214, 218, 234, 243, 285, 318, 327f., 348f., 351, 357f., 363, 366ff., 373, 388, 407, 410 Österreich-Ungarn 5, 453ff. Partei der Realpolitik (Stronnictwo Polityki Realnej) 228 Philharmonie, Warschau 196, 238f., 254f., 277, 298 Pogrome 88, 362 Polizei 36, 58, 69, 79, 81, 140, 212, 215, 250, 332, 338, 345, 355, 363f., 435 „polnische Frage“ 11, 14, 61, 63, 146, 149, 163, 296, 316, 367, 388, 434, 442, 451 Polnische Sozialistische Partei (PPS) 101 Polnischer Schulverein (Polska Macierz Szkolna) 237, 383 Polonisierung, Topos von 302, 320, 347, 383, 425, 432, 442 Polonophobie 39, 53, 60, 76, 93, 292, 297 Positivismus, Warschauer 84, 95, 100, 228ff., 232f., 240, 268, 271f., 381, 399 Proteste 3, 102, 172, 315, 332, 334, 341, 344f., 353, 367 Reformen 25, 28, 34, 36f., 63, 88, 91, 95, 97, 138, 213, 380, 419, 437 Religion 36, 87, 93, 115, 155ff., 163, 165f., 171, 173, 176ff., 180, 290, 423 Revolution von 1905 8, 10, 18, 67, 71, 78, 80f., 125, 129, 133, 140, 148, 179, 244, 249, 271, 294, 300, 313f., 317, 320f., 325f., 367, 377, 400, 407, 409, 412, 419, 425f., 429, 432, 434f., 453 Revolver 338, 350, 362, 364

Sachregister | 527

Russifizierung 14, 50ff., 57f., 60ff., 87, 102, 117f., 171, 177, 205, 217, 288, 291, 319, 334, 396, 400, 402, 413, 419, 434, 441, 450 Russische Gesellschaft in Warschau (Russkoe obščestvo v g. Varšavy) 120, 297 „russische Sache“ 120ff., 221, 291, 320 Russische Wohltätigkeitsgesellschaft (Russkoe blagotvoritel’noe obščestvo) 287f., 295 Russisches Volkshaus (Russkij narodnyj dom), Warschau 313 Russisch-Japanischer Krieg 328, 426 „Russisch-Warschau“ 283 Schule 29, 34, 51f., 64f., 69, 80, 84, 86, 92ff., 98, 118, 140, 172ff., 176, 178, 237, 242, 320, 332, 342, 344f., 347, 350, 373, 383f., 445f. Selbstverwaltung 5, 29, 33, 55, 63, 81f., 86, 88, 91, 99, 184, 189, 219f., 225, 230, 233, 251, 265, 278, 368, 380, 391, 396, 404, 412, 414, 434 Senatorenrevision 103, 123, 261 slijanie/sbliženie 115f. Spekulation 247f. Stadtpräsident 46, 75, 81, 94, 184, 191, 197f., 200ff., 204, 206f., 209, 212, 216, 218, 225, 242, 264, 267, 278, 301, 305, 308, 388, 420, 424 Statthalter 6, 28, 32, 34, 36, 41, 44, 60, 66f., 82f., 97, 105, 107, 167, 255, 285, 288, 306, 331 Straßenbahn 183, 191, 195, 214, 250, 252f., 263, 300, 375 Svjato-Troickij-Kathedrale 300, 305, 308 „Tage der Freiheit“ 148, 354, 370 Teilungen Polen-Litauens 25

Todesstrafe 359, 376 Toleranzedikt 347 Ugoda 101, 228ff., 232, 243 Unierte Kirche 33, 54 Universität für Alle (Uniwersytet dla Wszystkich) 237, 384f. Universität, Warschau 29, 34, 52, 92, 152, 158, 162, 192, 289, 300, 309, 313ff., 320f., 334, 342, 344, 369, 386, 425, 447 Varšavskij dnevnik 92, 141, 150f., 286f. Verband der Polnischen Jugend (Związek Młodzieży Polskiej, „ZET“) 139, 343 Verbannung 41, 386 Vereine 34, 137, 165, 241, 288, 292, 381f., 389, 402, 425 Wahlen 298, 309, 371f., 379 Warschauer Hygienegesellschaft (Warszawskie Towarzystwa Higieniczne) 231 Warschauer Versammlung (Varšavskoe obščestvennoe sobranie) 285 Warschauer Wissenschaftsgesellschaft (Towarzystwo Naukowe Warszawskie) 140 Weichselbrücken 415 Wiener Kongress 27 Wirtschaftsminister 68 Wirtschaftsministerium 69 Zeitungen 125, 131, 148, 211, 286, 355, 380, 401, 411, 422 Zensur 29, 33, 55, 99, 125f., 128, 131, 133f., 136f., 139f., 142f., 146, 148f., 151f., 173, 176, 180, 228, 289, 380f., 421, 434, 447 Zirkulation 7, 15, 74, 76, 139, 142, 145, 371, 376, 446, 451f. Zitadelle, Warschau 34, 310, 349, 353, 369 Zivilisierungsmission, Debatte um 19

Personenregister Aksakov, Ivan 61 Al’bedinskij, Petr 48, 68, 85ff., 94, 96, 99, 106f., 112, 117, 119, 178, 219, 233, 420 Alekseev, Sergej 297, 303 Alexander I. 26f., 305f., 437 Alexander II. 34, 36, 71f., 88f., 116 Alexander III. 71, 88f., 91, 97, 168, 438 Apuchtin, Aleksandr 52, 64, 80, 87, 93ff., 98f., 293, 334, 420 Baudouin de Courtenay, Jan 231, 479 Beljaev, V.I. 343, 470 Benkevič, Apollon 299f., 310 Berg, Fedor 37, 44, 60, 67, 83, 97, 105, 123, 232, 467 Berg, Nikolaj 287, 291, 470 Bibikov, Nikolaj 206, 469 Bloch, Jan 236, 239, 246 Bobrikov, Nikolaj 100 Bogolepov, Nikolaj 118 Brusilov, Aleksej 123 Budilovič, Anton 443 Čajkovskij, Petr 295 Čerkasskij, Fürst Vladimir 44, 53 Čertkov, Michail 50, 101, 112f., 137, 273, 330f., 341, 467 Chopin, Frédéric 30, 235f. Comte, Auguste 84, 229 Czartoryski, Adam 26, 28, 30, 35 Dmowski, Roman 144, 164, 240, 260, 368f., 371, 373, 397, 399, 404 Döblin, Alfred 458f. Dymsza, Lubomir 149 Esipov, Vladimir 158, 192, 276, 318, 366, 470 Evlachov, Aleksandr 318f. Filevič, Ivan 316 Filipov, M. 318 Franz Joseph 454 Gogol, Nikolaj 144 Golicyn, Fürst N.N. 470 Gorčakov, Michail 34f., 285, 467 Gurko, Iosif 59f., 65, 71, 89–95, 96, 99, 106f., 111f., 115, 119f., 178, 217, 219, 233, 290, 293, 406, 420, 443, 447 Gurko, Vasilij 422, 443, 447

Imeretinskij, Aleksandr 48ff., 69, 76, 81, 95– 101, 106, 108, 111, 116, 118f., 121, 123, 127f., 137, 147, 159, 173, 177, 219, 222, 233, 238, 331, 372, 420 Jagiełło, Eugeniusz 404 Kachanov, Ivan 162, 443 Katkov, Michail 61, 150, 162, 292 Kierbedź, Stanisław 269 Kocebu, Pavel 60, 83ff., 89, 95, 101, 105, 107, 121, 123, 232, 288 Koneczny, Feliks 164, 240 Konstantin Nikolaevič, Großfürst 36 Kopernikus, Nikolaus 300 Korf, Semion N. fon 469 Kościuszko, Tadeusz 26, 145 Krestovskij, Vsevolod 287 Kronenberg, Leopold 239, 246, 254 Kryžanovskij, N.A. 443f. Kucharzewski, Jan 404 Kulakovskij, Platon 92, 162, 287, 319 Lavrovskij, Nikolaj 92, 443f. Lednicki, Aleksander 142 Ligin, Valerian 81, 95, 137, 172f. Lindley, William 188, 203 Litvinskij, Viktor 206, 261, 264, 388 Maksimovič, Konstantin 102, 107, 347–52 Marszewski, Mieczysław 262, 273f. Martynov, Dimitri 469 Mejer, Petr 212f. Michnevič, Vladimir 192, 284, 291, 293 Mickiewicz, Adam 30, 35, 99, 145, 164, 235, 300, 306, 328 Miljutin, Nikolaj 42, 44, 53 Miller, Aleksandr 206f. Miller, Aleksej 20 Miller, Konstantin 77, 94, 121f., 159, 302, 334 Murav’ev, Michail 41, 443 Napoleon 26ff. Nejdgart, Dmitrij 73, 122, 261, 395, 421 Niemojewski, Andrzej 240, 399, 401 Nikolaus I. 31, 34 Nikolaus II. 71, 95, 100, 168, 172, 222, 224, 311, 438, 454, 458 Paderewski, Ignancy Jan 239, 254

530 | Personenregister

Palen, Konstantin K. fon 443 Paskevič, Ivan 31f., 34, 306 Piłsudskis, Józef 139, 340 Piltz, Erazm 142, 229, 463 Pisarev, V.I. 287 Pobedonoscev, Konstantin 88, 118f., 159, 176 Pogodin, Aleksandr 318 Prus, Bolesław 231, 271 Puškin, Aleksandr 31, 292, 312f. Sergej Alekseev, Sergej 319, 395 Sidorov, Aleksej 293f. Siemens-Schuckert 263 Sienkiewicz, Henryk 231, 394 Skalon, Georgij 46, 73, 102, 123, 167, 179, 212, 219, 237, 243f., 261, 321, 353, 357ff., 363, 365, 367f., 372, 374, 376, 378, 381ff., 392, 395, 407, 410, 420, 426 Smorodinov, Vladimir 276 Spasowicz, Włodzimierz 142f., 229, 463

Starynkevič, Sokrat 94, 201, 203f., 233, 245, 267, 278, 301, 420 Stolypin, Pjotr 73, 103, 121, 208, 221, 261, 360, 372, 378, 391, 395, 402, 457 Suligowski, Adolf 230f., 233, 241, 251, 368 Šuvalov, Pavel 95, 106, 372 Švarc, Aleksandr 344 Świętochowski, Aleksander 230, 233f., 240, 270, 399 Szyller, Stefan 206, 223, 239, 273f. Utgof, General-Major 406 Veckij, N. 276 Vitte, F.F. 470 Vrevskij, Pavel 469 Wawelberg, Hipolit u. Ludwika 238f. Wielopolski, Aleksander 29, 35ff., 44, 228 Wielopolski, Marquis Zygmunt 205, 233, 243 Witkowski, Kalikst 202, 205

Ortsregister Aleje Jerozolimskie, Warschau 195, 201, 247, 257, 306, 309 Aleje Ujazdowskie, Warschau 306 Baku 454 Berlin 183, 190, 221 Białystok 362 Botanischer Garten, Warschau 305, 466 Budapest 183, 190 Cholm (Chełm) 54, 149, 285, 290, 391, 395f., 442 Finnland 100, 106, 356, 391, 395, 438 Galizien 130, 140, 436 Gomel 362 Hamburg 203, 243 Helsingfors 100, 168 Kalisz 27, 75, 77, 333 Kaukasus 21, 97, 106, 331, 362, 439, 450 Kiew 21, 201, 251, 288, 381, 408 Krakau 31, 141, 145, 191, 223 Krakowskie Przedmieście, Warschau 46, 99, 235, 250, 255, 309 Łazienki, königliches Schloss, Warschau 305, 311 Lemberg 141, 191 Litauen 39, 133, 343 Lodz/ Łódź 75, 160, 168, 246, 345, 350ff., 368, 379, 386 London 101, 183 Lublin 27, 76, 251, 335 Moskau VII, 79, 136, 149, 151, 192, 201, 247, 292, 295, 310, 316, 376, 381, 454 Nalewki, Warschau 240, 336 Nowy Świat, Warschau 257, 286, 305 Odessa 89, 183, 193, 201

Ostseeprovinzen 21, 26, 59, 85, 93, 100, 106, 362, 409, 431, 438, 443 Paris 30, 183, 190f., 193, 257, 279 Piotrków 75, 77, 94, 122, 159, 334 Płock 27, 77, 94, 143, 269, 302, 333, 396 Posen 93, 436 Praga 209f., 213f., 217, 305, 309 Preußen 5, 27, 30, 39, 100, 140, 217 Radom 340 Riga 168, 183, 192f., 269, 454 Sächsischer Platz, Warschau 46, 209, 217, 238, 305, 308f. Sibirien 32, 362, 385 Siedlce 75, 362 St. Petersburg 5, 11, 34, 36f., 44, 54, 56, 71, 73, 79, 88, 101, 106, 127, 136, 142, 151, 183, 189f., 208, 220, 224, 242, 247, 253, 267, 277, 295, 310f., 316, 328, 340, 357, 378, 397, 435, 443, 449 Staszic-Palast, Warschau 295, 305, 309 Suwałki 75f., 139, 335, 409, 451 Ulica Marszałkowska, Warschau 194f., 201 Warschau VII, 3, 6, 8, 10, 16, 18, 26f., 30, 34ff., 42, 44, 47, 52, 55f., 66, 75, 79, 88, 97, 99f., 107, 120, 122, 127, 130, 132, 135, 141, 148ff., 152, 158, 162, 168f., 183, 185, 187, 190, 192ff., 196, 198, 201, 221, 345, 454, 458 Westliche Gouvernements (zapadnye gubernii) 28, 32f., 39f., 85, 133, 294, 442f., 449 Wien 27f., 140, 183, 190, 195 Wilna 150, 164, 168, 292, 376, 443 Wola 201, 204, 238

Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Die Reihe Ordnungssysteme nimmt Impulse auf, die sich seit zwei Jahrzehnten aus der Revision politik- und sozialgeschichtlicher Forschungsansätze entwickelt haben. Als Forum einer methodisch erneuerten Ideengeschichte trägt sie der Wirksamkeit politisch-kultureller Traditionen Europas seit dem Zeitalter der Aufklärung Rechnung. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dem konkreten Wechselspiel ideeller, politischer und sozialer Prozesse. Die Reihe Ordnungssysteme hat insbesondere das Ziel: – vergleichende Studien zu den nationalen Eigenarten und unterschiedlichen Traditionen in der europäischen Ideengeschichte zu fördern, – gemeineuropäische Dimensionen seit der Aufklärung zu untersuchen, – den Weg von neuen Ideen zu ihrer breitenwirksamen Durchsetzung zu erforschen. Die Reihe Ordnungssysteme verfolgt einige Themen mit besonderem Interesse: – den Ideenverkehr zwischen Europa und Nordamerika, – die Beziehungen zwischen politischen und religiösen Weltbildern, – die Umformung der politischen Leitideen von Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert, – die Herausbildung traditionsstiftender, regionenbezogener Gegensatzpaare in der europäischen Ideenwelt, wie zum Beispiel den Ost-West-Gegensatz. Die Reihe Ordnungssysteme bemüht sich um eine methodische Erneuerung der Ideengeschichte: – Sie verknüpft die Analyse von Werken und Ideen mit ihren sozialen, kulturellen und politischen Kontexten. – Sie untersucht die Bedeutung von Wissenssystemen in der Entwicklung der europäischen Gesellschaften. – Sie ersetzt die traditionelle Ideengeschichte der großen Werke und großen Autoren durch eine Ideengeschichte, die Soziabilität und Kommunikation als tragende Gestaltungskräfte kultureller Produktion besonders beachtet. – Sie bezieht Institutionen und Medien der Kulturproduktion systematisch in die Untersuchung ein. Band 1: Michael Hochgeschwender Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen 1998. 677 S. ISBN 978-3-486-56341-2

Band 2: Thomas Sauer Westorientierung im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises 1999. VII, 326 S. ISBN 978-3-486-56342-9

Band 3: Gudrun Kruip Das „Welt“-„Bild“ des Axel Springer Verlags Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen 1999. 311 S. ISBN 978-3-486-56343-6 Band 4: Axel Schildt Zwischen Abendland und Amerika Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre 1999. VIII, 242 S. ISBN 978-3-486-56344-3 Band 5: Rainer Lindner Historiker und Herrschaft Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert 1999. 536 S. ISBN 978-3-486-56455-6 Band 6: Jin-Sung Chun Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit Die westdeutsche „Strukturgeschichte“ im Spannungsfeld von Modernitätskritik und wissenschaftlicher Innovation 1948–1962 2000. 277 S. ISBN 978-3-486-56484-6 Band 7: Frank Becker Bilder von Krieg und Nation Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864–1913 2001. 601 S. und 32 S. Bildteil ISBN 978-3-486-56545-4 Band 8: Martin Sabrow Das Diktat des Konsenses Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969 2001. 488 S. ISBN 978-3-486-56559-1

Band 9: Thomas Etzemüller Sozialgeschichte als politische Geschichte Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 2001. VIII, 445 S. ISBN 978-3-486-56581-2 Band 10: Martina Winkler Karel Kramář (1860–1937) Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers 2002. 414 S. ISBN 978-3-486-56620-8 Band 11: Susanne Schattenberg Stalins Ingenieure Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren 2002. 457 S. ISBN 978-3-486-56678-9 Band 12: Torsten Rüting Pavlov und der Neue Mensch Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland 2002. 337 S. ISBN 978-3-486-56679-6 Band 13: Julia Angster Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie Die Westernisierung von SPD und DGB 2003. 538 S. ISBN 978-3-486-56676-5 Band 14: Christoph Weischer Das Unternehmen ‚Empirische Sozialforschung‘ Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland 2004. X, 508 S. ISBN 978-3-486-56814-1

Band 15: Frieder Günther Denken vom Staat her Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970 2004. 364 S. ISBN 978-3-486-56818-9 Band 16: Ewald Grothe Zwischen Geschichte und Recht Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970 2005. 486 S. ISBN 978-3-486-57784-6 Band 17: Anuschka Albertz Exemplarisches Heldentum Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart 2006. 424 S., zahlreiche Abb. ISBN 978-3-486-57985-7 Band 18: Volker Depkat Lebenswenden und Zeitenwenden Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts 2007. 573 S. ISBN 978-3-486-57970-3 Band 19: Lorenz Erren „Selbstkritik“ und Schuldbekenntnis Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917–1953) 2008. 405 S. ISBN 978-3-486-57971-1 Band 20: Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.) Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte 2006. 536 S. ISBN 978-3-486-57786-0

Band 21: Thomas Großbölting „Im Reich der Arbeit“ Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen 1790–1914 2007. 518 S., zahlreiche Abb. ISBN 978-3-486-58128-7 Band 22: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.) Ordnungen in der Krise Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933 2007. 566 S. ISBN 978-3-486-58177-5 Band 23: Marcus M. Payk Der Geist der Demokratie Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn 2008. 415 S. ISBN 978-3-486-58580-3 Band 24: Rüdiger Graf Die Zukunft der Weimarer Republik Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933 2008. 460 S. ISBN 978-3-486-58583-4 Band 25: Jörn Leonhard Bellizismus und Nation Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914 2008. XIX, 1019 S. ISBN 978-3-486-58516-2 Band 26: Ruth Rosenberger Experten für Humankapital Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland 2008. 482 S. ISBN 978-3-486-58620-6

Band 27: Désirée Schauz Strafen als moralische Besserung Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge 1777–1933 2008. 432 S. ISBN 978-3-486-58704-3

Band 33: Silke Mende „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“ Eine Geschichte der Gründungsgrünen 2011. XII, 541 Seiten, 6 Abb. ISBN 978-3-486-59811-7

Band 28: Morten Reitmayer Elite Sozialgeschichte einer politischgesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik 2009. 628 S. ISBN 978-3-486-58828-6

Band 34: Wiebke Wiede Rasse im Buch Antisemitische und rassistische Publikationen in Verlagsprogrammen der Weimarer Republik 2011. VIII, 328 S., 7 Abb. ISBN 978-3-486-59828-5

Band 29: Sandra Dahlke Individiuum und Herrschaft im Stalinismus Emel’jan Jaroslavskij (1878–1943) 2010. 484 S., 9 Abb. ISBN 978-3-486-58955-9 Band 30: Klaus Gestwa Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948–1967 2010. 660 S., 18 Abb. ISBN 978-3-486-58963-4

Band 35: Rüdiger Bergien Die bellizistische Republik Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“ in Deutschland 1918–1933 2011. 448 S. ISBN 978-3-486-59181-1 Band 36: Claudia Kemper Das „Gewissen“ 1919–1925 Kommunikation und Vernetzung der Jungkonservativen 2011. 517 S. ISBN 978-3-486-70496-9

Band 31: Susanne Stein Von der Konsumenten- zur Produktionsstadt Aufbauvisionen und Städtebau im Neuen China, 1949–1957 2010. VIII, 425 Seiten, 107 Abb. ISBN 978-3-486-59809-4

Band 37: Daniela Saxer Die Schärfung des Quellenblicks Forschungspraktiken in der Geschichtswissenschaft 1840–1914 2014. 459 S., 1 Abb. ISBN 978-3-486-70485-3

Band 32: Fernando Esposito Mythische Moderne Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung in Deutschland und Italien 2011. 476 Seiten, 17 Abb. ISBN 978-3-486-59810-0

Band 38: Johannes Grützmacher Die Baikal-Amur-Magistrale Vom stalinistischen Lager zum Mobilisierungsprojekt unter Brežnev 2012. IX, 503 S., 9 Abb. ISBN 978-3-486-70494-5

Band 39: Stephanie Kleiner Staatsaktion im Wunderland Oper und Festspiel als Medien politischer Repräsentation (1890–1930) 2013. 588 S., 38 Abb. ISBN 978-3-486-70648-2 Band 40: Patricia Hertel Der erinnerte Halbmond Islam und Nationalismus auf der Iberischen Halbinsel im 19. und 20. Jahrhundert 2012. 256 S., 22 Abb. ISBN 978-3-486-71661-0 Band 41: Till Kössler Kinder der Demokratie Religiöse Erziehung und urbane Moderne in Spanien, 1890–1936 2013. 544 S., 19 Abb. ISBN 978-3-486-71891-1

Band 42: Daniel Menning Standesgemäße Ordnung in der Moderne Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840–1945 2014. 470 S., 8 Abb. ISBN 978-3-486-78143-4 Band 43: Malte Rolf Imperiale Herrschaft im Weichselland Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864–1915) 2015. 537 S., 31 Abb. ISBN 978-3-486-78142-7