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German Pages 406 Year 2013
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 178
Das politische Denken Arnold Brechts Eine transatlantische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts Von Hannah Bethke
Duncker & Humblot · Berlin
HANNAH BETHKE
Das politische Denken Arnold Brechts
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 178
Das politische Denken Arnold Brechts Eine transatlantische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts
Von Hannah Bethke
Duncker & Humblot · Berlin
Die Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig hat diese Arbeit im Jahre 2011 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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© 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-13998-9 (Print) ISBN 978-3-428-53998-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-83998-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Diese Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Dezember 2011 von der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig angenommen wurde. Am Ende meines Studiums in Freiburg brachte Professor Wilhelm Hennis mich auf die Idee, mich näher mit Arnold Brecht zu beschäftigen. Daß daraus eine Dissertation entstanden ist, ist seiner Anregung zu verdanken. Ich danke ihm für seine Beharrlichkeit, Unterstützung und Förderung, mit der er nicht nur meine Dissertation, sondern bereits mein Studium begleitet hat. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Andreas Anter. Er hat diese Arbeit von Beginn an zeitintensiv und mit stetem Zuspruch betreut und war mir mit seiner Geduld, seinem Vertrauen und seiner Zuversicht eine große Stütze. Ich danke ihm für die anregenden Gespräche über meine Arbeit und die vielen Hinweise und Ratschläge, die meine Dissertation in entscheidenden Phasen vorangebracht haben. Bedanken möchte ich mich neben seiner steten Förderung auch für die Etablierung des Doktorandenkolloquiums, in dem ich einige Kapitel meiner Arbeit vorstellen und diskutieren konnte. Danken möchte ich ferner meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Hubertus Buchstein, der mit wachem Interesse das Thema meiner Arbeit verfolgt und mich besonders in der Endphase meiner Dissertation sehr unterstützt und gefördert hat. Auch dafür, daß ich die Gelegenheit hatte, ein Kapitel meiner Arbeit am lehrstuhleigenen Kolloquium in Greifswald vorzustellen, sei ihm und allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kolloquiums gedankt. Ohne die finanzielle Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung wäre die Verwirklichung meines Dissertationsprojektes nicht möglich gewesen. Ich danke der Stiftung daher sehr für die Gewährung eines dreijährigen Promotionsstipendiums. Mein Dank gilt darüber hinaus der Fazit-Stiftung, die die Veröffentlichung der Dissertation mit einem großzügigen Druckkostenzuschuß unterstützt hat. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesarchivs Koblenz danke ich für die Bereitstellung der Archivalien und ihre fachkundige Hilfe. Bedanken möchte ich mich außerdem bei Tobias Müller, der mir bei der Erstellung des Personenregisters behilflich war. Für seine gründlichen Korrekturen des Manuskripts sowie seine zahlreichen kritischen Hinweise und Anregungen geht schließlich mein sehr herzlicher Dank an Johannes Herlyn.
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Vorwort
Dem Andenken von Wilhelm Hennis, der noch vor der Veröffentlichung der Arbeit starb und dem ich mehr zu verdanken habe, als hier in Worte zu fassen ist, ist dieses Buch gewidmet. Greifswald, im April 2013
Hannah Bethke
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Politik, Recht und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 a) Politikferne und Nähe zur Kunst: „Lübeck als geistige Lebensform“ . . . . . . . . 20 b) Unmöglichkeit als wissenschaftliche Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 c) Deutsche Hochschule für Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Verfassung, Verwaltung und Beamtentum (Reichsinnenministerium) . . . . . . . . . . . 46 a) Schöpferische Verwaltung und initiatives Beamtentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 b) Rationalisierung und Formalisierung: Die Gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 c) Brecht als „demokratischer Reformator“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3. Preußen contra Reich (Preußisches Staatsministerium) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 a) Der Prozeß vor dem Staatsgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 aa) Brechts Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 bb) Analyse der Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 cc) Brecht contra Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 b) Das Urteil des Staatsgerichtshofs und die Debatte über den Preußenschlag . . . 148 aa) Brechts Urteil im Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 bb) Die Kontroverse zwischen Karl Dietrich Bracher und Arnold Brecht . . . . 164 cc) „Fanatiker des Rechts“ oder Opportunist der Macht? Zur Bewertung Brechts als Prozeßvertreter Preußens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 c) Finale im Reichsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
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Inhaltsverzeichnis
II. Zwischen zwei Welten – Emigration und politische Wissenschaft nach 1933 . . . . 198 1. Exil – Die fremde Heimat: Eine Dokumentation in Briefen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 a) Arnold Brecht und Alvin Johnson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 b) Zwischen Identitätsverlust und Neubeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 2. Zwischen Entlastungssehnsucht und Anklage: Brecht und die Schuldfrage nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 a) „Vorspiel zum Schweigen“ (1948; amerik. 1944) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 b) „Das deutsche Beamtentum von heute“ (1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 3. Politische Theorie, Demokratie und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 a) „Politische Theorie“ (1961; amerik. 1959): Gerechtigkeit, Anthropologie und das Problem einer normativen Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 aa) Was ist Wissenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 bb) Die Genese des Wertrelativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 cc) Faktische Anthropologie und Gerechtigkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 dd) Kritik und Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 b) Demokratie als bedrohte Ordnung: „Kann die Demokratie überleben?“ (1978) 353 Schlußbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Bibliographie von Arnold Brecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402
Abkürzungsverzeichnis APSR ARSP ARW BAK FAZ GuG GWU HZ NDB NLB NLH NPL PVS RGBl VfZ ZfG ZfP
American Political Science Review Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Akten der Reichskanzlei Weimarer Republik (Online) Bundesarchiv Koblenz Frankfurter Allgemeine Zeitung Geschichte und Gesellschaft Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Historische Zeitschrift Neue Deutsche Biographie Nachlaß Arnold Brecht Nachlaß Theodor Heuss Neue Politische Literatur Politische Vierteljahresschrift Reichsgesetzblatt Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für Politik
Siglenverzeichnis der zitierten Schriften von Brecht VVS
Vom Verkauf einer fremden Sache. Ein Beitrag zur Unmöglichkeitslehre, jur. Diss., Leipzig 1906. Verwaltungsreform Verwaltungsreform und die Mitarbeit der Beamtenschaft daran. Eröffnungsvortrag des Ministerialdirektors Dr. Brecht in der Verwaltungswissenschaftlichen Woche der Verwaltungs-Akademie Berlin, in: Monatsblätter des Bezirksverbandes Hannover des Bundes Deutscher Reichssteuerbeamter 2, 1925 (Nr. 3), S. 81 – 91. GGO I Gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien. Allgemeiner Teil (GGO I), hrsg. v. Reichsministerium des Innern, Berlin 1926. GO Büroreform Die Geschäftsordnung der Reichsministerien. Ihre staatsrechtliche und geschäftstechnische Bedeutung. Zugleich ein Lehrbuch der Büroreform, Berlin 1927. PuG Papier und Geschichte. Reichsverfassung 1919 und 1871, Wilsons Punkte (1928) (unveröffentlichtes Manuskript), in: BAK, NLB, N 1089/107. GüN Für ein Gesetz über Nachprüfung [sic!] der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen, in: Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik 6/I, 1929, S. 511 – 516. VGA Vereins- und Versammlungsrecht/Gesetz zum Schutze der Republik/ Ausnahmerecht, in: Drews, Bill/Lassar, Gerhard/Brecht, Arnold/Falck, Carl: Allgemeine und politische Polizei. Kommentar zu den Vorschriften über allgemeines Polizei-, Vereins-, Versammlungs-, Presse- und Lichtspielrecht, Republikschutz- und Ausnahmerecht. Sonderausgabe von Max von Brauchitsch, Verwaltungsgesetze für Preußen, Band II, 1. Halbband, Berlin 1932, S. 259 – 426 (zuerst 1925). RuR Realpolitik und Reichsreform (1933) (unveröffentlichtes Manuskript), in: BAK, NLB, N 1089/108. VzS Vorspiel zum Schweigen. Das Ende der deutschen Republik, Wien 1948. DB Das deutsche Beamtentum von heute. Überreicht durch die Deutsche Gesellschaft für Personalwesen e.V., 1951 (kein Ort angegeben). PT Politische Theorie. Die Grundlagen politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Tübingen 1961. Nähe Aus nächster Nähe. Lebenserinnerungen 1884 – 1927, Stuttgart 1966. Kraft Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen zweite Hälfte 1927 – 1967, Stuttgart 1967. KDü Kann die Demokratie überleben? Die Herausforderungen der Zukunft und die Regierungsformen der Gegenwart, Stuttgart 1978. Die hier nicht aufgeführten Schriften werden mit Kurztiteln zitiert.
Einleitung Rund dreißig Jahre nach seinem Tod im Jahre 1977 ist Arnold Brecht ein großer Unbekannter – in der sozialwissenschaftlichen Forschung findet er kaum Berücksichtigung, und auch in der zeithistorischen Forschung blieb eine nennenswerte Rezeption bislang aus. Im Hinblick auf die hohe Anerkennung, die er zeit seines Lebens sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft genoß, muß dieser Befund erstaunen. Doch nicht nur sein zeitgenössischer Bekanntheitsgrad, sondern auch seine Biographie selbst gibt kaum Anlaß zu der Vermutung, daß es ihm für eine langfristige Wirkung an Relevanz gemangelt hätte:1 Arnold Brecht, 1884 in Lübeck geboren, war einer der wenigen überzeugten Demokraten in der höheren Verwaltung der Weimarer Republik. 1926 verfaßte er die Gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien (GGO I), die 1949 in der Bundesrepublik kaum verändert wieder in Kraft gesetzt wurde. Nachdem er als promovierter Jurist und Ministerialdirektor sechs Jahre lang im Reichsinnenministerium gearbeitet hatte, wo er unter anderem mit der Arbeit am Republikschutzgesetz befaßt war, wechselte er 1927 ins preußische Staatsministerium. Als Hauptbevollmächtigter im Reichsrat und Mitglied des Verfassungsausschusses der Länderkonferenz war Brecht maßgeblich an der Vorbereitung der Reichsreform beteiligt. Nach dem sogenannten „Preußenschlag“ im Juli 1932 vertrat er Preußen vor dem Staatsgerichtshof. 1933 hielt er die letzte freie Rede im Reichsrat, in der er Hitler ermahnte, den von ihm geleisteten Verfassungseid auch einzuhalten und seine 1 Die hier angeführten biographischen Daten und Informationen sind, wenn nicht anders gekennzeichnet, folgenden Quellen entnommen: Biographical Sketch/Chronology of Events, in: Arnold Brecht Papers, German and Jewish Intellectual Émigré Collection, M.E. Granander Department of Special Collections and Archives, University Librariers, University at Albany, State University of New York, in: http://library.albanyedu/speccoll /findaids/ger024.htm, aufgerufen am 4. 8. 2011; Biographical Summary of Arnold Brecht, in: Forkosch, Morris D. (Hg.): The Political Philosophy of Arnold Brecht, New York 1954, S. 175 – 178; Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Band I: Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte München und von der Research Foundation for Jewish Immigration, Inc., New York, München/New York/London/Paris 1980, S. 90; Hula, Erich: Arnold Brecht 1884 – 1977, in: Social Research 44, 1977, S. 601 – 604; Landau, Martin: Arnold Brecht, in: Sills, David L. (Hg.), International Encyclopedia of the Social Sciences, Vol. 2, New York 1968, S. 145 – 148; Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft. Das Handbuch der Persönlichkeiten in Wort und Bild. Erster Band, hrsg. vom Deutschen Wirtschaftsverlag, Berlin 1930, S. 207; Stiefel, Ernst C./Mecklenburg, Frank: Deutsche Juristen im amerikanischen Exil (1933 – 1950), Tübingen 1991, S. 87 f; Stoffregen, Matthias: Kämpfen für ein demokratisches Deutschland. Emigranten zwischen Politik und Politikwissenschaft, Opladen 2002, S. 279. Die Angaben zur Biographie stützen sich außerdem auf die Memoiren Arnold Brechts, vgl. Brecht, Nähe sowie ders., Kraft.
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Geschäfte „unparteiisch und gerecht gegen jedermann zu führen“2. Kurz darauf wurde er als „national unzuverlässig“ entlassen. Im November 1933 emigrierte er nach New York und übernahm an der dortigen New School for Social Research eine Professur für Politikwissenschaft. In den USA avancierte Brecht, der 1946 die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm, zu einem renommierten Politikwissenschaftler, dessen Schriften große Beachtung fanden und weitläufig rezipiert wurden. Thematisch ist sein Werk breit gefächert: es reicht von Fragen des Beamtenrechts und der Verwaltungsorganisation über die Entwicklung der Staatsausgaben, den deutschen Föderalismus und zivilrechtliche Studien bis zu rechtsphilosophischen und wissenschaftstheoretischen Abhandlungen.3 1960 erhielt er für sein Hauptwerk „Political Theory“ als bestes politikwissenschaftliches Buch des Jahres den Woodrow-Wilson-Preis – eine Auszeichnung, die ihn in eine Reihe stellt mit so renommierten Preisträgern wie Henry A. Kissinger oder Robert A. Dahl. Die Wirkungsgeschichte dieses Buches ist symptomatisch für sein gesamtes Wirken: Zunächst erfreute sich die „Political Theory“ einer starken Rezeption und hohen Auflagenzahl, doch knapp drei Jahrzehnte später war es in der sozialwissenschaftlichen Forschung nahezu vollständig vergessen. Auch die Einrichtung eines nach Brecht benannten Lehrstuhls an der Hebräischen Universität Jerusalem im Jahre 19934 änderte an seinem wissenschaftlichen Bedeutungsverlust nichts. Lediglich Finanzwissenschaftlern dürfte Brecht zumindest insoweit bekannt sein, als das von ihm entwickelte „Gesetz von der progressiven Parallelität zwischen Ausgaben und Bevölkerungsmassierung“ Eingang in die finanzwissenschaftliche Literatur gefunden hat und nach seinem Namen benannt wurde.5 Eine nähere Auseinandersetzung mit seinem Lebenswerk hatte dies freilich nicht zur Folge. Es gibt kaum Untersuchungen, die Arnold Brecht einen herausgehobenen Platz einräumen; wenn er überhaupt Erwähnung findet – wie zum Beispiel in Studien über die Geschichte der Weimarer Republik oder auch in verwaltungswissenschaftlichen Abhandlungen –, so geschieht dies meist nur am Rande und ohne auf den Inhalt seiner Arbeit und die Bedeutung seiner Person ausführlich einzugehen.6 Erst 2006 ist ein Sammelband 2
Vgl. dazu Kapitel I.3.c). Hier auch die Zitierangaben. Einen Überblick über seine veröffentlichten Schriften gibt die Brecht-Bibliographie im Anhang der Arbeit. Häufig zitierte Titel von Brecht werden in den folgenden Fußnoten mit Siglen abgekürzt, alle anderen Titel von Brecht werden mit Kurztiteln zitiert; die vollständigen Angaben stehen in der Bibliographie. 4 Dies geschah – obgleich Brecht kein Jude war – auf Veranlassung der Ehlerding-Stiftung, die neben dem Arnold-Brecht-Lehrstuhl für Europäisches Recht 1993 auch den Walther-Rathenau-Lehrstuhl für Europäische Wirtschaftspolitik einrichtete. Vgl. http://cms.ehlerdingstiftung.de/h/hebrAeische_universitAet_jerusalem_ (1993)_90.php. Zum derzeitigen Inhaber des Arnold Brecht Chair siehe http://law.huji.ac.il/segel.asp? staff_id=51&cat =441, aufgerufen am 31. 7. 2011. 5 Vgl. dazu Kähler, Jürgen: Das Brecht’sche Gesetz der Staatsausgaben, in: Krohn, ClausDieter/Unger, Corinna R. (Hg.), Arnold Brecht, 1884 – 1977. Demokratischer Beamter und politischer Wissenschaftler in Berlin und New York, Stuttgart 2006, S. 83 – 106. 6 Ausgenommen davon sind lediglich drei Aufsätze von Michael Ruck, der sich offensichtlich eingehender mit Brecht beschäftigt hat: Ruck, Michael: Patriotischer Institutionalis3
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über Brecht erschienen, der einen ersten Anstoß gibt, sein „Denken und Handeln wieder in Erinnerung zu bringen“7. Eine systematische Erschließung seines Werks liegt damit gleichwohl noch nicht vor. Dies zu unternehmen, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Ausgangspunkt der nachfolgenden Untersuchung ist die Frage, wodurch sich Brechts politisches und wissenschaftliches Denken auszeichnet. Dies impliziert, daß sowohl der politische Theoretiker Brecht als auch seine Tätigkeit in der politischen Praxis in den Blick genommen wird. Dabei wird von einem gegenseitigen Abhängigkeits- und Beeinflussungsverhältnis ausgegangen: So ist danach zu fragen, inwieweit die politiktheoretische und juristische Vorbildung Brecht in seiner politischen Tätigkeit beeinflußt hat; umgekehrt stellt sich die Frage, wie jemand, der aus der politischen Praxis kommt, seine Erfahrungen, Ideen und Lehren in politische Wissenschaft umsetzt. Die Auseinandersetzung mit der politischen und wissenschaftlichen Denkungsart Brechts macht mithin eine Kontextualisierung auf drei Ebenen erforderlich: Im Zentrum der Betrachtung steht erstens die Frage, welche wissenschaftliche Prägung in seinem Werk erkennbar wird. Zweitens geht es um die politische und biographische Prägung Arnold Brechts. Die wissenschaftsgeschichtliche und politisch-biographische Kontextualisierung wird schließlich drittens um eine transatlantische Dimension erweitert: hier geht es um die Wechselbeziehung zwischen den beiden Wirkungsstätten Deutschland und USA und die damit verbundene Frage nach Kontinuitäten und Zäsuren in Brechts Werk. Die Arbeit ist chronologisch aufgebaut. Teil I umfaßt die Zeit bis zum Ende der Weimarer Republik, Teil II beginnt mit Brechts Emigration 1933 und endet mit seiner letzten Monographie im Jahre 1978. Diese Zweiteilung bietet sich aus folgendem Grund an:
mus und bürokratische Modernisierung – Arnold Brecht als Verwaltungsreformer in der Weimarer Republik, in: Laux, Eberhad/Teppe, Karl (Hg.), Der neuzeitliche Staat und seine Verwaltung. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte seit 1700, Stuttgart 1998, S. 177 – 202; ders.: Arnold Brecht und die Verfassungsentwicklung in Westdeutschland, in: Krohn, Claus-Dieter/ Schumacher, Martin (Hg.), Exil und Neuordnung. Beiträge zur verfassungspolitischen Entwicklung in Deutschland nach 1945, Düsseldorf 2000, S. 207 – 229 sowie sein erst kürzlich erschienener Aufsatz ders.: Deutsch-amerikanische Perspektiven. Der politische Intellektuelle Arnold Brecht als transatlantischer Mittler im Kalten Krieg, in: Gallus, Alexander/Schildt, Axel (Hg.), Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930, Göttingen 2011, S. 359 – 384. Darüber hinaus liegt ein Aufsatz von Corinna R. Unger vor, der sich mit Brechts Stellungnahmen zum deutschen Beamtenrecht nach 1945 auseinandersetzt: Unger, Corinna R.: Vom Beamtenrecht zur politischen Kultur. Die Vorschläge Arnold Brechts zur Reform des öffentlichen Dienstes der Bundesrepublik, in: Kritische Justiz 16, 2003, S. 82 – 94. 7 Vgl. Krohn, Claus-Dieter/Unger, Corinna R. (Hg.): Arnold Brecht, 1884 – 1977. Demokratischer Beamter und politischer Wissenschaftler in Berlin und New York, Stuttgart 2006, S. 7.
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Einleitung
Das Jahr 1933 markierte für Brecht eine tiefe Zäsur; er lebte fortan nicht nur in einem anderen Land, sondern mußte auch seinen bisherigen Beruf aufgeben. Sein Leben war seit der Emigration zweigeteilt – es gab ein Leben vor und eines nach 1933. Demgegenüber stellte das Jahr 1945 – rein biographisch gesehen – für ihn den weitaus geringeren Einschnitt dar, denn er kehrte auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nach Deutschland zurück, sondern behielt seinen Lebens- und Wohnort in den Vereinigten Staaten.8 Zwar veränderte sich Brechts Lebenssituation insofern, als sich nun die Frage der Rückkehr nach Deutschland überhaupt stellte; eine Neubewertung in seinem Werk hatte dies aber nicht zur Folge. Am Beginn der Arbeit steht die Auseinandersetzung mit Brechts biographischer und wissenschaftlicher Sozialisation (Kapitel I.1.). Von besonderem Interesse ist dabei seine Dissertation, die unter der Fragestellung untersucht werden soll, inwieweit hier Grundsteine für seine wissenschaftliche Denkungsart gelegt werden. Kapitel I.2. widmet sich Brechts Tätigkeit im Reichsinnenministerium und deckt damit die Zeit von 1921 bis 1927 ab. Neben einer begriffsgeschichtlichen und historisch-politischen Kontextualisierung des Beamten- und Verwaltungswesens soll untersucht werden, welchen Ansatz Brecht in diesen Fragen entwickelte. Im Anschluß daran geht es um die einzelnen Reformprojekte, mit denen er im Reichsinnenministerium befaßt war. Daraus sollen Anhaltspunkte für die Diskussion gewonnen werden, wie Brecht politisch einzuordnen ist und inwieweit seine Arbeiten als historisch relevant angesehen werden können. Mit Brechts Wechsel in das preußische Staatsministerium beginnt Kapitel I.3. Im Vordergrund steht hier der Prozeß vor dem Staatsgerichtshof, der auf Antrag des Landes Preußen im Oktober 1932 eröffnet wurde. Anhand des Stenogrammberichts soll der Prozeßverlauf ausgewertet werden; der Schwerpunkt wird dabei auf Brechts Wortbeiträge gelegt, deren Argumentationscharakter herausgearbeitet und diskutiert werden soll. Nach seiner Entlassung hatte Brecht zunächst nicht vor, zu emigrieren, sondern unternahm auf verschiedenen Wegen den Versuch, diese wieder rückgängig zu machen. Mit der Erörterung und Diskussion der Frage, wie Brechts Rede im Reichsrat und sein Verhalten in den letzten Monaten vor seiner Emigration, zu der er sich am Ende doch entschließen mußte, insgesamt zu bewerten ist, wird der erste Teil der Arbeit abgeschlossen. Nach seiner Emigration wurde die von Alvin Johnson gegründete Graduate Faculty an der New School for Social Research Brechts neue Arbeitsstätte. Mit der 8 Volker Depkat erklärt den Unterschied zwischen Brechts Bedeutungszuweisung des Jahres 1933 gegenüber jener des Jahres 1945 ergänzend damit, „daß der biographische Bruch von 1933 nach 1945 nicht mehr rückgängig gemacht wurde“. Deshalb habe Brecht „sein Leben nach 1945 nicht als einen wenn auch nur teilweisen Wiederanschluß an die Zeit vor 1933“ interpretieren können. Vgl. Depkat, Volker: Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, München 2007, S. 193. Zu Depkats Studien ausführlich Kapitel I.1.a).
Einleitung
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Gründungsgeschichte dieser „Exiluniversität“ beginnt der zweite Teil der Arbeit, die nun um eine transatlantische Dimension erweitert wird. Für Kapitel II.1. muß ein verstärkt biographischer Zugang gewählt werden, um die politische Einstellung Brechts angemessen beurteilen zu können. Ausgangspunkt der Untersuchung ist deshalb die Frage, wie Brecht mit den neuen Lebensbedingungen in Amerika zurechtgekommen ist und inwieweit er sich in der Lage zeigte, sich auf seine Tätigkeit an der New School einzulassen und die ihn umgebende wissenschaftliche und politische Kultur anzunehmen. Neben der Konzentration auf die an dieser Stelle besonders stark hervortretende Verflochtenheit von Politik, Biographie und Werk wird der Schwerpunkt im gesamten zweiten Teil der Arbeit auf das wissenschaftliche Wirken Brechts gelegt. Anders als im ersten Teil steht also nicht seine politische und praktische Tätigkeit im Vordergrund der Betrachtung. Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive werden nach Brechts Auswanderung jene Kategorien relevant, die in der Emigrationsforschung diskutiert werden. Hier geht es um Fragen des Wissenstransfers zwischen der deutschen und der amerikanischen Wissenschaft, mithin um transatlantische Wechselbeziehungen, die durch den Austausch zweier Wissenschaftstraditionen entstehen. Dies soll vor allem in der Auseinandersetzung mit Brechts „Politischer Theorie“ aufgezeigt werden. Kapitel II.1. widmet sich ausgewählten Korrespondenzen Brechts, in denen sein Umgang mit der Emigration thematisiert wird. Daß sein „Akkulturationsprozeß“9 mit einigen Schwierigkeiten verbunden war, zeigt sich besonders in seinem Briefwechsel mit Alvin Johnson, der deshalb eine gesonderte Darstellung erfährt. Kapitel II.2. befaßt sich mit zwei Monographien von Brecht, die in deutscher Sprache in der frühen Nachkriegszeit nach 1945 erschienen sind. Sowohl seine Studie „Vorspiel zum Schweigen“ als auch seine Abhandlung über „Das deutsche Beamtentum von heute“ werden unter der Fragestellung untersucht, wie Brecht sich zur Schuldfrage stellte. Nach der Analyse der „Politischen Theorie“, die im Zentrum des Kapitels II.3. steht, erfolgt abschließend eine Auseinandersetzung mit der letzten Monographie Brechts, die ein Jahr nach seinem Tod erschienen ist und die Frage stellt: „Kann die Demokratie überleben?“ Neben der Sekundärliteratur und den veröffentlichten Schriften von Brecht stützt sich die Arbeit auf unveröffentlichtes Quellenmaterial. Im Bundesarchiv Koblenz liegt ein umfangreicher Nachlaß von Arnold Brecht, der für diese Arbeit herangezogen und ausgewertet wurde. Darüber hinaus wurden auch Teile des Nachlasses von Theodor Heuss eingesehen, der ebenfalls im Bundesarchiv Koblenz liegt. Des weiteren wurden für das Jahr 1927 Kabinettsprotokolle der Weimarer Reichskanzlei einbezogen, die das Bundesarchiv als Online-Quelle zur Verfügung stellt. Brechts politikwissenschaftliche Bedeutung wird mit Hilfe des in dieser Arbeit gewählten methodischen Zugriffs hervorgehoben, der sich als personalisierte 9
Vgl. zur näheren begrifflichen Erläuterung die Ausführungen in Kapitel II.1.
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Einleitung
Ideengeschichte beschreiben läßt. Von ideengeschichtlicher Relevanz ist die Auseinandersetzung mit dem Brechtschen Werk insofern, als es auch Auskunft gibt über die geistesgeschichtlichen Kontexte und politischen Denkfiguren seiner Zeit. Einen besonderen Reiz erhält die Beschäftigung mit seinem Werk darüber hinaus durch das Ineinanderwirken von politischer Praxis und politischer Theorie. Nicht zuletzt anhand dieser Interpendenz von politischem Wirken und wissenschaftlichem Forschen soll gezeigt werden, daß Brecht nicht nur in seiner Zeit bedeutend war, sondern eine wissenschaftliche und politische Problemstellung sichtbar macht, an der sich grundsätzliche Fragen der Politik- und Sozialwissenschaften im allgemeinen und der politischen Theorie und Ideengeschichte im besonderen veranschaulichen lassen.
I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik Mit der Entstehung der Weimarer Republik begann die politische Karriere Arnold Brechts als Beamter der höheren Verwaltung. Bevor er 1921 im Reichsinnenministerium zu arbeiten begann, war er – im Oktober 1918 von Prinz Max von Baden als Vertreter eines annexionsfreien Friedens berufen – in der Reichskanzlei tätig; ab 1919 als Geheimer Regierungsrat1, zuletzt als Staatssekretär. Im November 1921 wechselte Brecht ins Reichsministerium des Innern. Hier übernahm er als Ministerialdirektor die Leitung der zunächst so bezeichneten „Abteilung für Verfassung und Politik“2, in der er mit einer Reihe von Reformprojekten befaßt war. Brechts Vorhaben erstreckten sich auf ein weit gefächertes Programm3 : Es umfaßte die Reichsreform, die Wahlreform, die Verwaltungs- und Büroreform, eine Reform des Beamtengesetzes, die „Sammlung des Reichsrechts“4, die Schaffung eines Reichsverwaltungsgerichts5 sowie Arbeiten zum Schutz der Republik. Nach sechs Jahren im Reichsinnenministerium wurde Brecht durch den neu ernannten deutschnationalen Reichsinnenminister Walter von Keudell in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Hintergrund dieses Vorgangs waren politische Motive: Seine Entlassung hatte, wie Brecht in seiner Autobiographie richtig erkennt, „offensichtlich nur den Zweck, einen demokratisch und republikanisch gesonnenen Ministerialdirektor aus der Leitung der Verfassungsabteilung zu entfernen“6.
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Vgl. dazu Brecht, Nähe, S. 274 f. Brecht war einer der letzten, die diesen Titel zu führen noch berechtigt waren – nach dem Inkrafttreten der Weimarer Verfassung wurde er nicht mehr vergeben, vgl. ebd. 2 Diese Abteilung wurde später mit der Beamtenabteilung zusammengelegt und trug fortan den Namen „Abteilung I für Verfassung, Verwaltung und Beamtentum“. Zum Aufbau und zur Organisation des Reichsinnenministeriums vgl. Reichsministerium des Innern (Hg.): Handbuch für das Deutsche Reich, Jg. 41, Berlin 1922, S. 106 ff sowie ebd., Jg. 42, Berlin 1924, S. 122 f und Jg. 43, Berlin 1926, S. 133. Siehe auch: Brecht, Nähe, S. 370 und 411. 3 Das dieser Abteilung zugewiesene Aufgabengebiet sah dies in den meisten Punkten allerdings auch vor. Vgl. Handbuch für das Deutsche Reich (Jg. 41), S. 106. 4 Vgl. Brecht, Nähe, S. 436 f sowie Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 186 f. 5 Vgl. dazu Holste, Heiko: Zwischen Reichsreform und „Preußenschlag“. Ministerialbeamter im Dienst der Republik, in: Krohn, Claus-Dieter/Unger, Corinna R. (Hg.), Arnold Brecht, 1884 – 1977. Demokratischer Beamter und politischer Wissenschaftler in Berlin und New York, Stuttgart 2006, S. 55 – 82 (60 ff). 6 Brecht, Nähe, S. 468 f. Vgl. dazu die Einführung zu Kapitel I.3.
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik
Nach einem viermonatigen Forschungsaufenthalt in England und Frankreich nahm Brecht das Angebot des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun an, als Ministerialdirektor ins preußische Staatsministerium zu wechseln.7 Zeitgleich war Brecht neben seiner Funktion als Vorsitzender der Walther-Rathenau-Gesellschaft von 1927 bis 1932 als Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin tätig. Die folgenden drei Kapitel beschäftigen sich mit Brechts politischer und wissenschaftlicher Tätigkeit während der Weimarer Republik. Das erste Kapitel setzt sich mit der wissenschaftlichen Entwicklung und den Anfängen des Brechtschen Werks auseinander. Ausgehend von der Frage, welche politischen und gesellschaftlichen, aber auch biographisch-individuellen Erfahrungen Brecht vor seiner Tätigkeit als Verwaltungsbeamter geprägt haben, widmet sich das Kapitel darüber hinaus seinen biographischen Stationen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Im zweiten und dritten Kapitel liegt der Schwerpunkt auf der politischen Praxis; hier wird Brecht als Verwaltungsbeamter in den Blick genommen, und es wird nach der politischen und historischen Bedeutung seiner Arbeiten gefragt. Zugleich geht es darum, den Theorierahmen, in dem Brecht sich bewegt, offenzulegen, also zu untersuchen, welche begrifflichen Voraussetzungen und theoretischen Vorannahmen seinen politischen Konzepten zugrunde liegen.
1. Politik, Recht und Wissenschaft „[…] denn nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt […].“8
a) Politikferne und Nähe zur Kunst: „Lübeck als geistige Lebensform“ 1955 schreibt Arnold Brecht an seinen Jugendfreund Jürgen Fehling: „Seit den Primanertagen, wo wir uns zuerst trafen, bist Du der brausendste, rauschendste, flüsterndste Strom gewesen, an dem ich je gesessen, geträumt, gedacht und geplant, geliebt und Steinchen hineingeworfen habe. Mit Dir zu leben, war mit einem nicht schreibenden direkt lebenden Shakespeare zu leben.“9 7 Dieses Angebot hatte nach Brecht allerdings eher den Charakter einer Aufforderung. Vgl. Brecht, Nähe, S. 469. 8 Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870 – 1873, Kritische Studienausgabe, hrsg. v. Giorgi Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1988, S. 47. 9 Arnold Brecht an Jürgen Fehling, New York, 24. 2. 1955, Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Arnold Brecht (im folgenden: BAK, NLB), N 1089/18.
1. Politik, Recht und Wissenschaft
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Daß Brecht seiner Freundschaft zu dem Theaterregisseur eine so hohe Bedeutung einräumt, ist charakteristisch für die Relevanz, die die Vorkriegszeit bis 1914 insgesamt für seine biographische Prägung hatte. Nicht von ungefähr ist in diesem Brief – wie auch im gesamten Briefwechsel mit Fehling – von Politik nicht oder kaum die Rede, denn er gilt der Erinnerung an eine Zeit, in der die maßgebenden Werteorientierungen für Brecht in einem Bereich lagen, der mit dem Begriff der Politikferne und der „geistigen Lebensform“ beschrieben werden kann.10 Mit Blick auf seine spätere Tätigkeit als politischer Verwaltungsbeamter erklärt Brecht, daß dem Beginn dieser Tätigkeit eine deutliche biographische Zäsur vorausgegangen sei. Um dies zu überprüfen, sollen im folgenden Ausschnitte aus seiner Autobiographie näher beleuchtet werden. Hierfür ist zunächst ein Exkurs zur Methode notwendig: Autobiographien stellen Selbstzeugnisse dar, deren Analyse der Berücksichtigung ihrer spezifischen „Textualität“11 bedarf. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihres „Objektivitätsgehalts“ von jenen Quellen, die nicht das Ergebnis von Selbstbeschreibungen sind, sondern im weitesten Sinne historische Fakten überliefern. Autobiographien erzählen eine Lebensgeschichte. Man muß nicht so weit gehen wie Pierre Bourdieu, der die Existenz einer Lebensgeschichte überhaupt in Frage stellt und sie als „Konstruktion des perfekten sozialen Artefakts“ hinstellt.12 Richtig ist dennoch, daß die „erzählte Lebensgeschichte […] mit dem Lebensgeschehen nicht deckungsgleich“ ist.13 Eine Schwierigkeit der textuellen Bestimmung von Autobiographien liegt darin, daß sie sich in dem Spannungsverhältnis zwischen ,Dichtung und Wahrheit‘ befinden.14 Sie erheben den Anspruch, die „Wahrheit“ zu erzählen, und unterliegen gleichzeitig einem „Fiktionalismusverdacht“15. Zwar kann dem Autor einer Autobiographie das Interesse unterstellt werden, die Historie objektiv „richtig“ und unverfälscht darzustellen, mithin dem berühmten Diktum Rankes zu folgen, zu „zeigen, 10 Diese Wendung geht auf Thomas Mann zurück; vgl. Mann, Thomas: Lübeck als geistige Lebensform. Rede gehalten am 5. Juni im Stadttheater zu Lübeck aus Anlaß der 700 Jahrfeier der Freien und Hansestadt (1926), in: ders., Essays. Band 3: Ein Appell an die Vernunft 1926 – 1933, hrsg. v. Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt a. M. 1994, S. 16 – 38. 11 Vgl. Depkat, Volker: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, in: GuG 29, 2003, S. 441 – 476 (445). 12 Bourdieu, Pierre: Die biographische Illusion, in: Hoerning, Erika M. (Hg.), Biographische Sozialisation, Stuttgart 2000, S. 51 – 60 (57) (dt. zuerst in: BIOS 3, 1990, S. 75 – 81; franz.: 1986). Depkat bemerkt dazu kritisch: „Diese Vorstellung von Lebensgeschichte als sozial normierter Konstruktion, die weitgehend unabhängig von der tatsächlichen individuellen Empirie auf die Deutung des eigenen Lebens angewandt wird, läuft jedoch auf eine Verabsolutierung des Diktums von der gesellschaftlichen Bedingtheit des Individuums hinaus.“ Depkat, Lebenswenden, S. 29. Siehe dazu auch ders., Autobiographie, S. 475. 13 Günther, Dagmar: „And now for something completely different“. Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft, in: HZ 272, 2001, S. 25 – 61 (32). 14 Vgl. Günther, Prolegomena, S. 34 und Depkat, Autobiographie, S. 443. 15 Depkat, Autobiographie, S. 449.
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wie es eigentlich gewesen“16 ist. Aber dieser Anspruch auf größtmögliche Objektivität wird nicht allein durch die unvermeidbare Subjektivität getrübt, die einer jeden wissenschaftlichen und historischen Betrachtung zwangsläufig innewohnt, sondern vor allem dadurch, daß der Autobiograph sich selbst und sein Leben zum Gegenstand der Untersuchung macht. Das bedeutet, daß es ihm immer auch darum geht, ein bestimmtes Bild von sich zu zeichnen – und zwar ein (Selbst-)Bild, das unter Umständen nicht mit der historischen Realität bzw. der Fremdwahrnehmung übereinstimmt, weil es Schönfärbungen enthalten oder – sei es auch mangelndem Erinnerungsvermögen, sei es aus bewußter Absicht – Sachverhalte verfälschend darstellen kann. Bei der Analyse von Autobiographien muß somit eine Differenzierung erfolgen zwischen dem, was erzählt wird, und warum und wie etwas erzählt wird. Die „Erzählung des Gewesenen, Erlebten, Empfundenen“ ist nicht gleichzusetzen mit „dem Gewesenen, Erlebten, Empfundenen“17 – oder anders ausgedrückt: „Wo Tränen behauptet werden, müssen nicht unbedingt Tränen fließen.“18 Wenn nach den Intentionen des Autobiographen gefragt wird, muß zudem immer der Unterschied zwischen „Erzählzeit und erzählter Zeit“19 berücksichtigt werden, also „die Zeit der Niederschrift einer Autobiographie und die von ihr erzählte und berichtete Zeit“20. Dagmar Günther weist darauf hin, daß „Erzählung im Unterschied zu anderen Kommunikationsformen und Diskursgattungen Perspektivität“ impliziere, also „die Unterscheidung zwischen einer Ebene des Erzählten und des Erzählens“21. Eine Autobiographie aus der Perspektive ihres Entstehungskontextes, also aus der Zeit, in der sie geschrieben wurde, zu betrachten, bedeutet auch, sie selbst – und also nicht nur den Gegenstand, von dem sie berichtet – als historische Quelle in den Blick zu nehmen. Für Volker Depkat hat der Text – und mit ihm der Kontext – einer Autobiographie darüber hinaus eine weitere Dimension, indem er Gewesenes nicht nur reproduziert, sondern selbst als „Produktionsort“ der Vergangenheit und „symbolischer Sinnwelten“22 fungiert. Depkat erklärt: „In der autobiographischen Reflexion setzt sich der Autor mit seiner Lebensgeschichte in ein Verhältnis zur Vergangenheit und bringt dadurch Vergangenheit erst hervor, weil er sich mit seinem Text ihr gegenüber verhält. […] Kurz, Autobiographien sind soziale Selbstbeschreibungen und als solche selbst historische Fakten, die Bestandteil der Zeit sind, in der sie entstehen.“23 16
Ranke, Leopold von: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, 3. Aufl., Leipzig 1885, S. VII. 17 Günther, Prolegomena, S. 52. 18 Günther, Prolegomena, S. 42. 19 Vgl. Haumann, Heiko: Geschichte, Lebenswelt, Sinn. Über die Interpretation von Selbstzeugnissen, in: Hilmer, Brigitte/Lohmann, Georg/Wesche, Tilo (Hg.), Anfang und Grenzen des Sinns, Weilerswirst 2006, S. 42 – 54 (47). 20 Günther, Prolegomena, S. 51. 21 Günther, Prolegomena, S. 51. 22 Depkat, Autobiographie, S. 463. 23 Depkat, Autobiographie, S. 444 f.
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Als Bestandteil ihrer Entstehungszeit seien Autobiographien außerdem „textuell konditioniert“: „Das heißt, der Autobiograph verhält sich mit seiner Darstellung nicht allein zu einer äußeren Realität, sondern er nimmt immer auch Bezug auf bereits geschriebene Autobiographien und historische Darstellungen der eigenen Zeit.“24 Die Komplexität dieses Ineinandergreifens von „Biographie und Geschichte“25, von Lebensgeschichte und Lebensgeschehen, Selbstzuschreibung und historischer Realität, erinnerndem und erinnertem, erzählendem und erzähltem ,Ich‘26 macht die Analyse von Autobiographien zu einem komplizierten Unterfangen. Gleichwohl liegt mit ihr eine äußerst ergiebige Textgattung vor, da sie „gleichermaßen Aufschluß über Erfahrungsgehalte beider Zeitebenen“27 gibt, nämlich der Zeit des Ereignisses und der Zeit der Erinnerung. Mit den Worten von Bourdieu will die autobiographische Erzählung gleichzeitig eine „retrospektive und prospektive Logik“ entwickeln,28 und eben hierin liegt der Kern des Problems: Es sind „vorgewußte Sachverhalte“29, mit denen der Autobiograph operiert;30 die „Konsistenz und Konstanz“31, die „sich erst im Rückblick offenbarende Einheitlichkeit, Kohärenz und Folgerichtigkeit in der Entwicklung des Autors“, um die er in seiner Darstellung bemüht ist, sind „mit der empirischen Realität des tatsächlich gelebten Lebens nur schwer in Einklang zu bringen“32. Der Autobiograph – und, hier ist Bourdieu zuzustimmen, in gewisser Weise auch der Biograph33 – will seine Lebensgeschichte nicht als zufällige Abfolge verschiedener Ereignisse verstanden wissen, sondern er suggeriert eine „Sinnhaftigkeit der berichteten Existenz“34. In der Akzeptanz dieser ,biographische[n] Sinnkonstruktio-
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Depkat, Autobiographie, S. 463. Depkat, Autobiographie, S. 442. 26 Günther, Prolegomena, S. 51. 27 Depkat, Autobiographie, S. 459. 28 Bourdieu, Illusion, S. 52. 29 Günther, Prolegomena, S. 39. 30 Auch Depkat erklärt: „Für Historiker am problematischsten ist allerdings die Feststellung, daß Aussagen einer Autobiographie aus einer großen zeitlichen Distanz zu den berichteten Ereignissen und im Wissen um die Konsequenzen des eigenen Handelns gemacht werden. […] Daraus erwächst oftmals das Bestreben der Autobiographen, das eigene Verhalten in der Vergangenheit aufzuklären, es in einem bestimmten Licht erscheinen zu lassen und vor den mitlebenden und nachfolgenden Generationen zu rechtfertigen.“ Vgl. Depkat, Autobiographie, S. 449 f. 31 Bourdieu, Illusion, S. 52. 32 Depkat, Autobiographie, S. 449. 33 Vgl. Bourdieu, Illusion, S. 52 f. 34 Bourdieu, Illusion, S. 52. 25
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nen‘35 liegt aus der Sicht von Bourdieu die Gefahr, der „biographischen Illusion“ zu erliegen und sich „zum Ideologen des eigenen Lebens zu machen“36. Um sich vor dieser Gefahr zu schützen, so Depkat, ist es für die Historiker notwendig, die spezifische „Textualität von Autobiographien in ihre konzeptionellen Überlegungen einzubeziehen“, d. h. also, Autobiographien „als Texte“ zu analysieren, „um sie als Quellen nutzen zu können“37. Trotz ihres Charakters als Erzählung, die Verzerrungen, Verfälschungen, und Fiktionen enthalten kann, erreichen Autobiographien einen hohen Grad an Authentizität, weil sie – im Gegensatz zu Romanen – auf wahren Tatsachen beruhen und die von ihr erzählte Lebensgeschichte „Bestandteil der historischen Epoche [ist], in der sie entsteht“38. Autobiographien, so das Resümee von Dagmar Günther, „besitzen in ihrer Individualitätslastigkeit und Aufrichtigkeitsbekundung keinen höheren Erkenntniswert – oder umgekehrt wegen ihrer ,Verzerrungen‘ einen besonders niedrigen, sie vermitteln nicht die wirklichere oder eine unwirklichere Wirklichkeit, sondern eine spezifische. Und um diese Spezifizität in Wert zu setzen, heißt mit Autobiographien arbeiten auch über Autobiographien arbeiten.“39
Wenn im folgenden Ausschnitte aus der Autobiographie Arnold Brechts herangezogen werden, soll versucht werden, diesen methodischen Vorüberlegungen Rechnung zu tragen und die komplexen Beziehungen zwischen Erinnerung, Biographie und Geschichte in der Analyse zu berücksichtigen. In seinen Erinnerungen beschreibt Brecht sein Erleben der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg, also bis zu seinem 30. Lebensjahr, als „politikferne Jugend“40. Typisch für seine Generation und für die Schicht, aus der er stammt und die ihn umgibt, stellt „das Bürgerliche“, wie Volker Depkat bemerkt, eine wichtige „Kategorie der Selbstbeschreibung“ in seiner Autobiographie dar.41 Es seien nicht Parteibegriffe gewesen, an 35
Günther, Prolegomena, S. 59. Vgl. dazu auch Haumann, der erklärt: „Selbstzeugnisse sind Sinnkonstruktionen.“ (Haumann, Geschichte, Lebenswelt, Sinn, S. 42.) 36 Bourdieu, Illusion, S. 52. Der Soziologe bemängelt: „Den Versuch zu unternehmen, ein Leben als einzigartige und für sich selbst ausreichende Abfolge aufeinander folgender Ereignisse zu begreifen, ohne andere Bindung als die an ein Subjekt, dessen Konstanz zweifellos lediglich in der des Eigennamens besteht, ist beinahe genauso absurd wie zu versuchen, eine Metro-Strecke zu erklären, ohne das Streckennetz in Rechnung zu stellen, also die Matrix der objektiven Beziehungen zwischen den verschiedenen Stationen.“ Ebd., S. 58. 37 Depkat, Autobiographie, S. 445 f. Vgl. dazu auch Depkat, Lebenswenden, S. 53. 38 Depkat, Autobiographie, S. 475. An anderer Stelle (als Entgegnung auf Bourdieu) konstatiert Depkat, „daß es sich bei Autobiographien nicht um völlig beliebige, von der biographischen Empirie losgelöste Imaginationen handelt; Autobiographien sind empiriegesättigte Sinnkonstruktionen und deshalb nicht arbiträr.“ Depkat, Lebenswenden, S. 26. 39 Günther, Prolegomena, S. 61. 40 Brecht, Nähe, S. 15 ff. 41 Depkat, Lebenswenden, S. 341. Brecht schreibt selbst dazu: „Wer in bürgerlichen Kreisen Norddeutschlands um die Jahrhundertwende aufwuchs, hatte mit Politik im allge-
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denen er sich orientiert habe, sondern, wie Brecht emphatisch bekennt: „Ich dachte in Begriffen des Geistes und der Persönlichkeit.“42 In Lübeck geboren, wuchs Brecht mit seinen vier Geschwistern in einem bürgerlichen Elternhaus auf. Sein Vater Ernst Brecht, Sohn eines Pastors,43 war Geheimer Regierungsrat und Vorsitzender der Lübeck-Büchener-Eisenbahngesellschaft; als Mitglied der Lübecker Bürgerschaft stand er politisch den Nationalliberalen nahe. Seine Mutter Marie, geb. Weishaupt, stammte selbst aus einer preußischen Beamtenfamilie und hatte vor ihrer Heirat ein Musikstudium begonnen, in dem Clara Schumann eine ihrer Lehrerinnen war.44 Trotz der Parteimitgliedschaft des Vaters wurde von Politik, so Arnold Brecht, „zu Haus selten gesprochen“45. In Lübeck besuchte Brecht das berühmte Katharineum, wo auch Jürgen Fehling zu seinen Schulkameraden und engen Freunden gehörte.46 In seinen Erinnerungen schildert Brecht seine Schulzeit als eine unbeschwerte und von Fragen der Politik unberührte Zeit. So erklärt er: „Von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Dingen hatten die meisten von uns, wenn nicht alle, keine Ahnung.“47 Und so berichtet Brecht auch nicht von politischen Auseinandersetzungen, die seine Jugend geprägt haben; im Zentrum seiner Aufmerksamkeit habe vielmehr etwas anderes gestanden: der „Drang zum Theater“48. In seiner vergleichenden Untersuchung von vierzehn Autobiographien aus dem 20. Jahrhundert weist Volker Depkat darauf hin, daß die positive Bewertung der Schulzeit ein typisches Merkmal der Memoiren „bürgerlicher“ Autoren im Gegensatz zu jenen von Arbeitern sei.49 Mit Blick auf Brecht scheint sich diese Feststellung zu bestätigen, denn auch er zeichnet ein überwiegend positives Bild von seinem Schulalltag.50 Zwar ist er auch stets bemüht, den „Freiheitssinn“ zu betonen, der bei ihm und seinen Mitschülern stark ausgeprägt gewesen sei und zu einem grundsätzlichen „Mißtrauen gegen Autorität“51 geführt habe. Doch die Beispiele, die er meinen wenig oder keine Berührung […]. Die eigenen Anschauungen waren sachlich, vernünftig, unpolitisch. Alles, was weiter rechts oder links stand, das waren die ,Politiker‘.“ Brecht, Nähe, S. 17. 42 Brecht, Nähe, S. 91. 43 Brecht, Nähe, S. 19 f. 44 Vgl. Brecht, Nähe, S. 20 f. 45 Brecht, Nähe, S. 20. 46 Brecht, Nähe, S. 25 ff u. a. 47 Brecht, Nähe, S. 35. 48 Brecht, Nähe, S. 29. 49 Depkat, Lebenswenden, S. 342. 50 Gleichwohl wäre es falsch, daraus eine pauschale Gesetzmäßigkeit abzuleiten; ein Gegenbeispiel für die von Depkat aufgestellte These liefern etwa die Erinnerungen von Stefan Zweig, der seine Schulzeit sehr düster darstellt. Vgl. Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a. M./Zürich/Wien 2001 (Erstausgabe 1942), S. 45 ff. 51 Brecht, Nähe, S. 36.
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vom „Kampfe gegen die Schulzucht“52 anführt, erschöpfen sich weitgehend in Erzählungen von harmlosen Schülerstreichen, die mit einer tatsächlichen Auflehnung gegen Autorität und Schulordnung nicht viel gemein haben.53 Und so kommt Brecht auch in der Gesamtbewertung seiner Schulzeit zu dem Schluß: „Für uns war es im ganzen eine himmlisch glückliche Zeit.“54 Die hinter diesen Beschreibungen stehenden Intentionen des Autors werden klar erkennbar: Dem Leser seiner Autobiographie soll die Relevanz vermittelt werden, die die Sozialisation in einem bildungsbürgerlichen Milieu für ihn hatte: tief geprägt von der humanistischen Ausbildung am Katharineum, befreundet mit dem berühmten Theaterregisseur Fehling, aufgewachsen in der Geburtsstadt Thomas Manns. „Lübeck als geistige Lebensform“: Kunst, Literatur, Dichtung – all dies, so beschreibt es Brecht in seinen Erinnerungen, waren Werte, die für ihn Bedeutung hatten – nicht aber die Politik.55 Gleichzeitig bemüht sich Brecht, im Rückblick auf sein Leben, in Kenntnis über den Verlauf und Ausgang der Geschichte, ein Bild von sich zu zeichnen, das ihn auch in seiner „politikfernen“ Zeit als politisch wachsam erscheinen läßt, indem er immer wieder seine schon früh vorhandene Abneigung gegen Autorität – sei es in Form der Schulzucht, sei es in Form von staatlicher Autorität56 – betont und sich mit einer Mischung zwischen Stolz und Reumut über sein vorgebliches Aufbegehren gegen jene Autoritäten präsentiert. Sein Studium änderte nach den Schilderungen Brechts nichts an seinem Desinteresse an politischen Fragen. Es setzte aber ebensowenig etwas ein, was man als Leidenschaft für die Wissenschaft bezeichnen könnte; auch das Interesse am Studium der Rechtswissenschaft blieb nach eigenen Angaben eher begrenzt.57
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Brecht, Nähe, S. 36. Vgl. Brecht, Nähe, S. 25 ff. 54 Brecht, Nähe, S. 37. 55 So bekundet er auch, daß seine spätere Sympathie für die Sozialdemokratie nicht in kulturellen Gründen zu suchen sei, denn „kulturell war ich ein Sohn des Bürgertums, wenn auch noch so abseitig und einzelgängerisch, der Absolvent eines humanistischen Gymnasiums, ein Privatgelehrter, ein Intellektueller, ein verhinderter Poet – kein ,Proletarier‘.“ (Brecht, Nähe, S. 253.) 56 Vgl. Brecht, Nähe, S. 61. 57 So schreibt Brecht, daß er „zwar ein aufrichtiges Interesse und offenbar auch Begabung für die Rechtswissenschaft“ gehabt habe, beides aber „weder allbeherrschend noch auch nur zentral“ gewesen sei (Brecht, Nähe, S. 43). Konträr dazu bekennt er allerdings an anderer Stelle: „Ich […] entwickelte so etwas wie Ernst außer in der Musik nur im Rechtsstudium, dessen geschichtliche und logische Grundlagen mich unter Führung des großen Lehrers Ernst Zitelmann, des einzigen, dessen Vorlesungen ich lückenlos besuchte, von Anfang an fesselten.“ Ebd., S. 39. Ähnlich auch ebd., S. 63 f. 53
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Nicht nur im Hinblick auf seine spätere politische Tätigkeit versucht Brecht hier also auf eine grundlegende Differenz zwischen seinem „lebensweltlichen“58 Orientierungsrahmen vor und jenem nach 1914 aufmerksam zu machen – dies gilt, zumindest teilweise, vielmehr auch für den Bereich der Wissenschaft, die ihm später zum Beruf wurde. Nicht Politik, nicht Wissenschaft, sondern die Kunst sei es gewesen, die im Zentrum seiner Aufmerksamkeit stand. Während seines Studiums in Berlin und Göttingen59 habe er zum ersten Mal zu ahnen begonnen, „was Kunst eigentlich ist“, und zwar „vor allem in der Sprache, in der Prosa wie in der lyrischen Poesie, und überhaupt überall im Verhältnis von Form und Inhalt“60. Und so ist es auch die sprachliche Färbung seiner Texte, in der sich diese Erfahrung widerspiegelt, und zwar bis zu seiner letzten Monographie.61 So wie Brecht in seiner späteren politikwissenschaftlichen Laufbahn als dogmatischer Verfechter einer wertfreien Wissenschaft auftritt – und ähnlich dogmatisch seinen selbst erhobenen Anspruch nicht einzuhalten imstande ist –, will er diese ihn tief prägende Welt des „Schöngeistigen“, seine „Nähe zum Künstlerischen“62, strikt unterschieden wissen von der „Welt des Denkens“: „Ich lebte mit den Sinnen, mit dem Geiste und mit dem Herzen. Ich sah, lauschte, träumte, dachte, dichtete und phantasierte vor mich hin, wo ich ging und stand. Wenn es sich um Denken handelte, war ich leidenschaftlich um Schärfe und Sauberkeit des Denkens besorgt; aber wenn ich die Dinge um mich herum mit den Sinnen oder mit dem Gefühl aufnahm, oder wenn es sich um künstlerische Form und ihren Genuß handelte, so verachtete ich alles bloß Gedachte.“63
Und in gleicher Weise wie Brecht sein Postulat der wissenschaftlichen Wertfreiheit selbst nicht einhält, gelingt es ihm – vor allem sprachlich – in einigen 58 Zum Begriff der „Lebenswelt“ vgl. Haumann, Geschichte, Lebenswelt, Sinn, S. 48 ff sowie ders.: Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung in den Jüdischen Studien: Das Basler Beispiel, in: Hödl, Klaus (Hg.), Jüdische Studien. Reflexionen zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes, Innsbruck u. a. 2003, S. 105 – 122 (114 – 116 und 117 – 118). Siehe dazu auch Vierhaus, Rudolf: Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung, in: Lehmann, Hartmut (Hg.), Wege zu einer neuen Kulturgeschichte, Göttingen 1995, S. 7 – 28. 59 Diesem gingen drei Studiensemester in Bonn voran. Vgl. Brecht, Nähe, S. 39. 60 Brecht, Nähe, S. 40. 61 Eine weitere Passage aus seiner Autobiographie mag einen Eindruck von seinen lyrischen Anwandlungen geben: „Ich mußte allein sein, oder zusammen mit ganz wenigen Freunden entfernt von der lauten Welt, um wirklich zu leben. […] Die Schönheit, die ich suchte, war eine Schönheit, die Ausdruck von etwas Überirdischem war. Ich suchte und fand sie in der Natur, in der Kunst, in den Menschen und ihren Beziehungen. Aber nur in der Stille. In geweihter Stille. Allein.“ Brecht, Nähe, S. 79. 62 So eine Formulierung von Friedrich Karl Fromme in seinem Nachruf auf Brecht: Beamter, Gelehrter und Besichtiger der Zeitläufte. Zum Tode des Staatssekretärs und Professors Arnold Brecht, in: FAZ, Nr. 225, 28. September 1977, S. 12. 63 Brecht, Nähe, S. 43.
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Passagen seines Werkes nicht, diese klare Trennung zwischen der „Sauberkeit des Denkens“ und dem „künstlerischen Genuß“ konsequent zu vollziehen.64 Ungeachtet dieser Diskrepanz zwischen Anspruch und Umsetzung im Brechtschen Werk wird das Bild, das der Leser von ihm gewinnen soll, deutlich sichtbar: Politik spielte in seinen ersten dreißig Lebensjahren keine Rolle für Brecht. Und diese Politikferne ist, wie Depkat erklärt, „nicht nur charakteristisch für seine soziale Schicht, sondern sogar identitätsdefinierend“65. An Stelle einer politischen Sozialisation trat eine zutiefst prägende Lebensphase, die Brecht in seiner Autobiographie als „éducation sentimentale“ bezeichnet, eine, wie er erklärt, „Erziehung des Gefühlslebens, daneben eine Erziehung zur Kunst, eine stete Wahrheitssuche, eine Vorschule philosophischen Denkens, besonders eine Vorschule zur Moralphilosophie, daneben auch eine berufliche und gesellschaftliche Erziehung, aber keine Erziehung zu sozialem und politischem Handeln“.66
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges markiert in Brechts Autobiographie die für ihn entscheidende Zäsur: Sein „politisches Erwachen“67. Kriegsausbruch, Kriegsziele, Kriegsende, Revolution und Weimar – all das, so Brecht, erlebte er als „politische Erziehung“68. Die Intention des Autobiographen ist offensichtlich: „Der Weltkrieg soll als die Geburt des politischen Menschen Arnold Brecht erscheinen.“69 Die Kriegsjahre haben dabei eine gravierende Funktion: Sie sind „entweder ein politisches Initialereignis, das den Ausgangspunkt einer neuen Welt- und Lebensanschauung markiert, oder aber doch eine nachhaltige Transformation bisheriger politischer Sinn- und Vorstellungswelten“70. Der Erste Weltkrieg erscheint somit nicht nur als historisch-politische Zäsur, sondern auch als Bruch in der Biographie und Sozialisation Arnold Brechts. Bei aller Plausibilität der Darstellung bleibt jedoch festzuhalten, daß dieser biographische Bruch auch das Ergebnis einer, wenn man so will, literarischen Konstruktion ist. Mehr als es in seinen Erinnerungen den Anschein macht, finden sich in Brechts Werk71 starke Kontinuitätslinien – und zwar solche, deren Ursprünge deutlich in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, also in seiner „politikfernen Jugend“, zu suchen sind. Die Zäsuren bestehen hier also längst nicht so eindeutig, wie Brecht den Eindruck
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Vgl. dazu etwa Kapitel I.2.a) und b) sowie Kapitel II.3. Depkat, Lebenswenden, S. 348. 66 Brecht, Nähe, S. 79. 67 Brecht, Nähe, S. 99. 68 Brecht, Nähe, S. 107 ff. 69 Depkat, Lebenswenden, S. 356. 70 Depkat, Lebenswenden, S. 356. Diese Feststellung bezieht sich laut Depkat nicht nur auf Brecht, sondern gilt für alle der von ihm untersuchten „bürgerlichen“ Autoren. 71 Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die meisten seiner Publikationen erst nach dem Ersten Weltkrieg zu verzeichnen sind. 65
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erweckt – die „Lübecker Politikferne“ bleibt in seinem Werk auch noch nach der Zeit des „politischen Erwachens“ präsent.72
b) Unmöglichkeit als wissenschaftliche Kategorie Wenn nach der wissenschaftlichen Entwicklung Brechts gefragt wird, steht man zunächst vor der Schwierigkeit, Kategorien, Personen oder Wissenschaftskonzeptionen bzw. Theoriebildungen zu finden, unter die sich Brechts Ansätze subsumieren lassen. Bekannte akademische Lehrer hatte er mit Ausnahme von Ernst Zitelmann73 nicht, und auch in seinen Publikationen bis zu seiner Emigration 1933 wird man Anhaltspunkte für seine wissenschafts- oder rechtstheoretische „Schulbildung“74 vergeblich suchen. Dies mag damit zusammenhängen, daß Brechts Interesse für die Wissenschaft zunächst begrenzt war; so nimmt es auch nicht wunder, wenn er in seiner Autobiographie bekennt, daß er als Student von der Existenz Edmund Husserls, der zu dieser Zeit in Göttingen lehrte, nichts gewußt habe.75 „Nicht einmal Kant oder Plato“ habe er als Einundzwanzigjähriger gelesen; er habe kaum etwas gekannt, „was man akademisch als Philosophie gelten ließ“76. Diese Feststellung läßt sich auch auf seine Beschäftigung mit der Staatsrechtslehre und Rechtsphilosophie übertragen; eine Vorlesung darüber habe er nie besucht, und auch die Schriften der großen Staatsrechtslehrer und Soziologen habe er erst sehr viel später gelesen.77 Auf
72 Dies zeigt sich vor allem in der sprachlichen Färbung seiner Texte – vgl. dazu etwa seine Beschreibungen über Beamtentum und Verwaltung, Kapitel I.2.a) –, aber mitunter auch in deren inhaltlicher Ausrichtung; am deutlichsten im letzten Teil seines Hauptwerks „Politische Theorie“, vgl. Kapitel II.3.a)cc). Damit zeichnet sich also eine Kontinuitätslinie ab, die sich nicht nur bis zum Ersten Weltkrieg erstreckt, sondern über die „Machtergreifung“ 1933, Brechts Emigration und den Zweiten Weltkrieg hinausgeht. 73 Conrad Ernst Zitelmann (1852 – 1923) war ein bedeutender Jurist im Bereich des Zivilrechts. Nach Auskunft des „Handwörterbuchs zur deutschen Rechtsgeschichte“ – dessen Mitherausgeber Adalbert Erler im übrigen ein Neffe Arnold Brechts war – gehörte Zitelmann zu den „herausragenden Rechtswissenschaftlern in der Zeit des Übergangs von der Spätpandektistik [..] zum modernen deutschen bürgerlichen Recht“. Vgl. Repgen, T.: Zitelmann, Ernst, in: Erler, Adalbert/Kaufmann, Ekkehard/Werkmüller, Dieter (Hg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 5, Berlin 1998, S. 1729 – 1732 (1729). 74 Kritisch zum Konzept der wissenschaftlichen Schulen: Buchstein, Hubertus: Wissenschaft von der Politik, Auslandwissenschaft, Political Science, Politologie. Die Berliner Tradition der Politikwissenschaft von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik, in: Bleek, Wilhelm/Lietzmann, Hans J. (Hg.), Schulen der deutschen Politikwissenschaft, Opladen 1999, S. 183 – 211 (183 ff). 75 Brecht, Nähe, S. 65. Gut fünfzig Jahre später dagegen beschäftigte sich Brecht in seiner „Politischen Theorie“ eindringlich mit Husserl. Vgl. Brecht, PT, S. 453 ff. 76 Brecht, Nähe, S. 66. 77 Brecht, Nähe, S. 57.
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die Frage, wessen Schüler er sei, habe er für die Philosophie damals „keine andere Antwort gehabt, als: Goethe“78. Daß Brechts Interesse für die Wissenschaft erst spät geweckt wurde, hängt allerdings auch damit zusammen, daß seine eigentliche akademische Laufbahn erst spät einsetzte – über zwanzig Jahre nach seiner Promotion. Doch trotz dieser Lücken im „wissenschaftlichen Werdegang“ fallen bereits in seiner Dissertation einige Leitmotive auf, die – wenn auch in leicht abgewandelter Form – in seinen späteren wissenschaftlichen Publikationen wiederkehren. Aus diesem Grund lohnt eine genauere Betrachtung seiner Doktorarbeit: Gegenstand dieser zivilrechtlichen Studie, die 1906 unter dem Titel „Vom Verkauf einer fremden Sache“ erschienen ist,79 ist die juristische Unmöglichkeitslehre – ein Teilgebiet des privaten Rechts, das dem Schuldrecht im BGB zuzuordnen ist. Im Kern besagt der Rechtsbegriff „Unmöglichkeit der Leistung“, daß der Schuldner die Leistung, zu deren Erfüllung er sich verpflichtet hat, „nicht erbringen kann, selbst wenn er es wollte“80. Liegt eine solche Leistungsstörung81 vor, daß die Erbringung
78 Brecht, Nähe, S. 65. Seine uneingeschränkte Verehrung Goethes, die, so Brecht, „viele bürgerliche Deutsche in der kaiserlichen Zeit vor dem Kriege“ teilten, unterzieht er im Rückblick freilich einer sehr kritischen Betrachtung: „Gerade geistig hochstehende Menschen, und unter ihnen besonders die ,Goethedeutschen‘, lebten in dem erhabenen Wahne, daß es geistigen Menschen nicht anstehe, sich mit der Politik zu beschäftigen, daß das ganze politische Getümmel sich gewissermaßen auf einer unteren Ebene bewege, daß es besser sei, sich mit dem ,Wesentlichen‘ zu beschäftigen und auf den Höhen der Menschheit Geist und Herz zu pflegen.“ Selbstkritisch gesteht Brecht ein, daß dies ein Fehler gewesen sei. Er geht sogar so weit, zu behaupten, daß dies „ein Fehler auch bei Goethe selbst gewesen“ sei, ja mehr noch: „Der Einfluß, den Goethe auf gerade die besten Deutschen darin gehabt hat, sie von der Teilnahme an der Politik fernzuhalten, ist stark und verhängnisvoll gewesen. Ich dachte später manchmal, ich müsse in diesem Sinne eine Selbstabrechnung mit dem Titel ,Goethes Mitschuld am Weltkriege‘ schreiben.“ Brecht, Nähe, S. 91 f. Diese Gedanken hatten ihn schon 20 Jahre zuvor beschäftigt; so bekennt er in einem Brief an Theodor Heuss: „Goethes Stellung in der Schuldfrage, das wäre ein interessantes Thema. Denn viele haben sich auf ihn berufen, wenn Sie [sic!] sich um nichts politisches kümmerten.“ Arnold Brecht an Theodor Heuss, New York, 3. 1. 1949, Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Theodor Heuss, (im folgenden: BAK, NLH), N 1221/74. Im Unterschied zu seinen späteren Ausführungen in der Autobiographie taucht hier das Wort „Schuldfrage“ noch auf; im Hinblick auf die Tatsache, daß der Brief vier Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben wurde, drängt sich die Vermutung auf, daß der Bezugsrahmen an dieser Stelle die NS-Zeit und nicht – wie in der Autobiographie – der Erste Weltkrieg ist. Während Goethe – von seiner schweren Verantwortung für den Krieg abgesehen – also Brechts bedingungslose Verehrung galt, ließ Stefan George ihn nach eigenen Angaben „kalt“. Vgl. Brecht, Nähe, S. 44. 79 Vgl. Brecht, VVS. 80 So die Definition bei Schwab, Dieter/Löhnig, Martin: Einführung in das Zivilrecht. Einschließlich BGB – Allgemeiner Teil, 17. Aufl., Heidelberg 2007, S. 406. – Gesondert davon geregelt wird der Verzug, der zwar als „eine besondere Form der Teilunmöglichkeit“ betrachtet wird, aber doch mit Blick auf die zeitliche Verzögerung der Leistung vom Grenzfall der Unmöglichkeit getrennt wird. Vgl. Emmerich, Volker: Das Recht der Leistungsstörungen, 4. Aufl., München 1997, S. 3.
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der Leistung etwa durch das Eintreten unvorhersehbarer Umstände unmöglich wird,82 ist der Schuldner – so der Ansatz der Unmöglichkeitslehre – von seiner Leistungspflicht befreit.83 Ausgangspunkt für Brechts Untersuchung ist die Frage, „ob und wann die (insbesondere subjektive)84 Unmöglichkeit der Leistung den Verkäufer einer fremden Sache85 von seiner Leistungspflicht befreit, wie streng seine Haftung in den andern Fällen ist, und welche Mittel ihm event. zu Gebote stehen, diese strenge Haftung zu mildern.“86
Brechts Arbeit ist in vier Teile gegliedert; behandelt werden rechtsgeschichtliche Aspekte (Kapitel 1), das Kaufrecht des BGB (Kapitel 2) sowie allgemeine und besondere Ergebnisse aus der Unmöglichkeitslehre des BGB (Kapitel 3 und 4). Von Belang sind an dieser Stelle weniger die dort behandelten zivilrechtlichen Detailfragen als die Frage, inwieweit in dieser Schrift Ansatz, Methode und wissenschaftstheoretische oder philosophische Vorannahmen Brechts sichtbar werden. So zeigt es sich etwa schnell, daß Brechts Erkenntnisinteresse nicht nur rein juristischer, sondern auch philosophischer Art ist. Seine Konzentration auf theoretisch-logische Ableitungen ist nicht nur dem Untersuchungsgegenstand geschuldet, den er in seiner gesamten juristischen Komplexität zu durchleuchten versucht, sondern auch Ausdruck seiner Vorliebe für abstrakte Gedankengebilde und Fragen aus dem Bereich 81
Zum Begriff der Leistungsstörung siehe Emmerich, Recht, S. 2 ff; Schwab/Löhnig, Zivilrecht, S. 388 ff sowie Medicus, Dieter/Lorenz, Stephan: Schuldrecht I. Allgemeiner Teil. Ein Studienbuch, 18. Aufl., München 2008, S. 152 ff. 82 Im Zivilrecht werden verschiedene Formen bzw. Gründe der Unmöglichkeit angeführt; so wird oft unterschieden zwischen naturgesetzlicher bzw. physischer, juristischer, faktischer und wirtschaftlicher Unmöglichkeit. Des weiteren gibt es die Einteilung in die Formen der objektiven und subjektiven sowie der ursprünglichen oder anfänglichen und nachfolgenden bzw. nachträglichen Unmöglichkeit. Ein Großteil dieser Unterscheidungen geht auf Friedrich Mommsen zurück, der sie als erster eingeführt hatte. Vgl. Emmerich, Recht, S. 4 f und 18 ff; Schwab/Löhnig, Zivilrecht, S. 406 f sowie Medicus/Lorenz, Schuldrecht I, S. 158 ff und 196 ff. Diese Differenzierungen finden sich auch bei Brecht, der hier der zu seiner Zeit „herrschenden Ansicht“ folgt. Vgl. Brecht, VVS, S. 14 f. ,Klassische‘ Beispiele für die faktische Unmöglichkeit sind laut Emmerich „die Aufsuchung eines Ringes auf dem Meeresgrund oder die Hebung eines Münzschatzes unter einem Hochhaus“. Emmerich, Recht, S. 24. Als Beispiel für ursprüngliche Unmöglichkeit führt Brecht an: „So ist bei dem Verkauf eines Pferdes, lieferbar in vier Wochen, ursprüngliche Unmöglichkeit anzunehmen, wenn dieses Pferd schon todkrank ist.“ Brecht, VVS, S. 22. 83 Vgl. Schwab/Löhnig, Zivilrecht, S. 390 ff. 84 Objektive Unmöglichkeit liegt dann vor, wenn „die Leistung generell, also für jedermann unmöglich ist“; hier handelt es sich um den „Verkauf einer nicht existenten Sache“. Ist die Leistung dagegen „nur für den Schuldner unmöglich“, liegt der Fall subjektiver Unmöglichkeit bzw. des Unvermögens vor; hier handelt es sich um die „Übereignung einer fremden Sache“. Vgl. Medicus/Lorenz, Schuldrecht I, S. 198. 85 Der Ausdruck der „fremden Sache“ bezeichnet den einfachen Umstand, daß der Verkäufer die verkaufte Sache erst noch beschaffen muß. 86 Brecht, VVS, S. 7.
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der Theorie und Logik. Bereits die Überschrift des ersten Kapitels, die den Titel „Gültigkeit oder Richtigkeit?“ trägt, weist auf eine theoretisch fundierte Fragestellung hin, denn damit ist das Spannungsfeld zwischen Legalität und Legitimität angesprochen. Dies gilt um so mehr, als Brecht diese Wendung in leichter Abwandlung rund fünfzig Jahre später in seiner „Politischen Theorie“ wieder aufgreift.87 In der gesamten Argumentation fällt auf, daß Brecht – und hier kann man sich des Eindrucks einer gewissen Pedanterie nicht erwehren – ein besonderes Augenmerk auf die logische Folgerichtigkeit seiner theoretischen Ableitungen legt, um auf diese Weise mit größtmöglicher Genauigkeit zu bestimmen, wann ein Fall der Unmöglichkeit vorliegt und wann nicht.88 „Unmöglichkeit“, führt Brecht des weiteren aus, „ist ein tatsächlicher Begriff.“89 Es sei zu unterscheiden zwischen einem ,Mangel an Wollen‘ und einem ,Mangel an Können‘; erst wenn letzteres vorliegt, könne man von (subjektiver) Unmöglichkeit sprechen. Und so sei auch die Tatsache, daß es sich bei der verkauften Sache um eine fremde Sache handelt, für sich allein genommen noch kein „Grund zur Annahme ursprünglichen Unvermögens“90. Die Herangehensweise und Denkart, die in dieser Studie zum Ausdruck kommt, deckt sich mit den Selbstbeschreibungen, die Brecht gut sechzig Jahre später in seiner Autobiographie formuliert hat: „Das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit, Logik und Axiomen faszinierte mich. Ich schrieb auf der Reise in Grenoble und Paris91 meine Doktordissertation über eine ziemlich ausgefallene Sache des Zivilrechts […]. Sie hatte mich gereizt, weil die vertraglich übernommene Verpflichtung, eine Sache zu liefern, die einem zur Zeit des Versprechens noch nicht gehört, die Axiome des Eigentums, der Verbindlichkeit von Verträgen und des Respektes vor Unmöglichkeit miteinander in Konflikt brachte und zu logischen Schwierigkeiten führte […].“92
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Im Zusammenhang mit seiner Gerechtigkeitstheorie unterscheidet er dort zwischen juristischer und wissenschaftlicher Geltung. Während die Wissenschaft nicht in der Lage sei, letzte Wertmaßstäbe aufzustellen, sei eine juristische Begründung von absoluten Werten (wie z. B. Gerechtigkeit) durchaus möglich. Mit dieser Unterscheidung versucht Brecht, dem Konflikt mit dem von ihm selbst aufgestellten Postulat der wissenschaftlichen Wertfreiheit dadurch zu entkommen, daß er die Legitimierung normativer Grundsätze der Rechtstradition zuweist, innerhalb derer – dies allerdings ist eine von Brecht unausgesprochene Voraussetzung – sich auch die Wissenschaft bewegt. So gesehen fallen an dieser Stelle „Gültigkeit“ und „Richtigkeit“ zusammen. Vgl. Brecht, PT, S. 191 ff. Ausführlich zu dem gesamten Kontext und zur Kritik an Brechts Gerechtigkeitstheorie Kapitel II.3.a). 88 Vgl. etwa Brecht, VVS, S. 16 ff und 24. 89 Brecht, VVS, S. 26. 90 Brecht, VVS, S. 27. 91 Nach seinem Examen fuhr Brecht für einige Wochen nach Frankreich, um, wie er schreibt, „besser französisch sprechen zu lernen“. Brecht, Nähe, S. 51. 92 Brecht, Nähe, S. 57.
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In den darauf folgenden Jahren verfaßte Brecht drei weitere zivilrechtliche Studien, die sich dem Kauf- und Vertragsrecht widmen.93 Obwohl er in seinen Erinnerungen angibt, während des Studiums und der Promotion keinen akademischen Ehrgeiz entwickelt zu haben,94 erwog Brecht, sich zu habilitieren. Als die juristische Fakultät der Universität Marburg an ihn herantrat und ihm das Angebot unterbreitete, seine drei erwähnten Veröffentlichungen als Habilitationsschrift anzunehmen, willigte er ein – doch dann brach der Erste Weltkrieg aus und verhinderte die Umsetzung dieser akademischen Vorhaben.95 Geht es nach Brecht, haben die von ihm verfaßten Studien weit mehr als nur eine zivilrechtliche Bedeutung. In seiner Autobiographie bemerkt er, daß er selber „alle vier zivilrechtlichen Schriften auch heute noch für gute Proben derjenigen Art von Analyse“ halte, die er „auf allen Gebieten der Wissenschaft angestrebt“ habe.96 Ein wichtiger Aspekt dieser „Art von Analyse“ ist die Trennung zwischen dem Bereich des Sollens und jenem des Seins. Das aus dieser logischen Unvereinbarkeit entwickelte Postulat der wissenschaftlichen Wertfreiheit sollte Brecht gut fünfzig Jahre später eingehend in seiner „Politischen Theorie“ beschäftigen; rückblickend kommt er sogar zu dem Ergebnis, daß die Grundsteine dafür bereits in seiner Dissertation gelegt wurden. Auch hier sei es ihm um die Frage gegangen, welchen Einfluß die ,Unmöglichkeit‘ oder ,begrenzte Möglichkeit‘ – also, wie Brecht erklärt, ein Faktor „in der Welt des Seins“ – auf Wertfragen – also „Fragen des Sollens“ – hat.97 Will man dieser Darstellung Glauben schenken, führt die Beschäftigung mit der juristischen Unmöglichkeitslehre – wohlgemerkt einer zivilrechtlichen Frage aus dem Schuldrecht – geradewegs zur Auseinandersetzung mit der Werturteilsfrage in der Wissenschaft. Dagegen muß freilich kritisch eingewendet werden, daß die Kontinui93 Vgl. Brecht, System der Vertragshaftung (1908); ders., Die einfache und die wiederholte positive Vertragsverletzung (1909); ders., Bedingung und Anwartschaft (1912). Alle drei Aufsätze, die insgesamt knapp 200 Seiten umfassen, sind in Jherings Jahrbüchern erschienen. Vgl. die Brecht-Bibliographie im Anhang der Arbeit. 94 So erklärt er auch, daß er seinen Doktor nur deshalb in Leipzig (und nicht etwa in Göttingen, wo er studiert hatte) gemacht hat, „weil es da am leichtesten sein sollte“. Brecht, Nähe, S. 58. 95 Aufgrund eines Herzklappenfehlers wurde Brecht nicht in den Kriegsdienst eingezogen. Statt dessen verblieb er als Landrichter und Gerichtsassessor bis 1918 im Reichsjustizamt, um dort „für die Kriegsarbeit […] zur Verfügung“ zu stehen (Brecht, Nähe, S. 118 und 119). Bevor er in die Reichskanzlei berufen wurde, wechselte er im April 1918 als Regierungsrat ins Reichswirtschaftsamt; zu seiner neuen Tätigkeit als Reichsbeamter (und nicht mehr als preußischer Beamter) bemerkt er: „Ich wechselte den Titel des Landrichters nur ungern gegen den des Regierungsrats ein, in dem mitklang, was ich am Staatsdienst nicht liebte. Aber die Zeit war gekommen, wo ich mich beruflich umsehen mußte. Ich war nun so lange in der Reichsministerialverwaltung tätig gewesen und so sehr mit den politischen Ereignissen verknüpft, daß ich mich weder in eine richterliche noch in eine akademische Laufbahn, noch in die freie Wirtschaft zurückziehen mochte.“ Brecht, Nähe, S. 134 f. 96 Brecht, Nähe, S. 59. Mit prophetischen Gaben fügt er hinzu: „und ich gefalle mir in dem Gedanken, daß ein jüngerer Denker sie einmal wieder entdecken könnte.“ Ebd. 97 Brecht, Nähe, S. 58.
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tätslinie, die Brecht hier zu zeichnen versucht, längst nicht so gerade verläuft, wie er den Eindruck erweckt, und in dieser von ihm suggerierten Zwangsläufigkeit ohnehin eher Ausdruck einer autobiographischen Konstruktion ist als ein Spiegel der biographischen Realität. Zwar ist es richtig, daß Brecht in seiner „Politischen Theorie“ auf Begriffe aus seiner Dissertation zurückgreift, doch verwendet er diese meist für andere Zusammenhänge. So geht es zum Beispiel in der Unmöglichkeitslehre in der „Politischen Theorie“ nicht um zivilrechtliche Fragen, sondern um die eher philosophisch ausgerichtete Frage nach dem Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit.98 Brecht zieht hier die Kategorie der Unmöglichkeit heran, um die Grenzen – aber auch die Möglichkeiten – dessen aufzuzeigen, was mit den Mitteln der Wissenschaft beweisbar ist und was nicht.99 Relevanz hat diese Kategorie (ebenso wie die des ,Risikos‘) für Brecht darüber hinaus bei „wissenschaftlichen Voraussagen“100; sie dient ihm ferner bei der Analyse und dem Vergleich politischer Systeme.101 Mit der Unmöglichkeitslehre aus dem Zivilrecht haben all diese Ansätze jedoch nichts zu tun; lediglich der logische Charakter der Frage ist derselbe, nicht aber Thema und Inhalt der Auseinandersetzung.102 Eine Kontinuität besteht jedoch insofern, als Brecht sich bereits in seiner Dissertation auf Feinheiten und Spitzfindigkeiten der Logik konzentriert, und zwar mit einer ähnlichen Akribie, wie sie auch in seinen späteren politikwissenschaftlichen Werken zu finden ist. Mehr noch: Die in der Kategorie der Unmöglichkeit enthaltene Argumentationslogik bleibt trotz aller Unterschiedlichkeit der Themen bestehen; die Denkungsart ist somit zumindest in diesem Bereich tatsächlich dieselbe geblieben. Brechts oben zitierte These, daß sich in den zivilrechtlichen Studien seine grund98
Die Unmöglichkeit ist hierbei nach Brecht als „negative Notwendigkeit“ zu verstehen. Brecht, PT, S. 505. 99 Vgl. das gesamte Kapitel der „Politischen Theorie“, das der „Unmöglichkeit“ gewidmet ist: Brecht, PT, S. 503 ff. Zuvor hatte Brecht diesem Thema bereits einen Aufsatz gewidmet: Brecht, The Impossible in Political and Legal Philosophy (1941). Auf diesen Aufsatz Bezug nehmend schreibt er an den Juristen und Historiker Max Radin, daß dies ein Thema sei, „to which I have given a great deal of attention for more than thirty years“. Arnold Brecht an Max Radin, New York, 21. 12. 1940, BAK, NLB, N 1089/37. 100 Brecht, PT, S. 116. Brecht erklärt: Es sei „oft möglich, mit wissenschaftlicher Präzision festzustellen, daß eine Handlung, wenn sie vorgenommen wird, das Feld der weiteren Möglichkeiten ändern, es entweder erweitern oder einengen wird; oder daß es unmöglich ist, ein bestimmtes Ziel überhaupt oder mit den vorgeschlagenen Mitteln zu erreichen; oder daß, wenn a eintritt, es unmöglich sein wird, b zu verhindern“. Ebd., S. 115. 101 Vgl. Brecht, PT, S. 528 ff. Die begrenzten bzw. ungenügenden Möglichkeiten der Demokratie thematisiert Brecht auch in seiner letzten Monographie: Brecht, KDü, S. 74 ff. 102 In einem Brief an Karl Engisch wird eine ähnliche Konstruktion von Kontinuität sichtbar: Hier erinnert sich Brecht an seine „erste Begegnung mit der Irrtumslehre in Bonn, in meinem ersten Semester, das gestern vor 55 Jahren begann“. Später habe ihn „das Problem des Irrtums über das, was ich die ,Reallegitimation zum Vertragsschluss‘ nannte, beschäftigt. Und jetzt ist es der Irrtum über Werte – über die Tatsachen, die den Wertungen zu Grunde liegen, und besonders über ,Werte‘ als solche – der mich beschäftigt.“ Arnold Brecht an Karl Engisch, New York, 19. 4. 1957, BAK, NLB, N 1089/17.
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sätzliche Herangehensweise an die Wissenschaft widerspiegelt – und zwar bereits in der Art, die für ihn auch später maßgeblich blieb –, findet in dieser Hinsicht also Bestätigung. Eine grundlegende Differenz zwischen seinem, wenn man so will, Früh- und Spätwerk bleibt für Brecht gleichwohl bestehen: Während er in seinen späteren Schriften die Politik zum Gegenstand der Wissenschaft macht,103 wird er mit Blick auf seine Veröffentlichungen aus der Vorkriegszeit nicht müde zu betonen: „Aber mit Politik hatten sie nichts zu tun.“104 Erneut zeigt sich an dieser Stelle die Intention Brechts, auf den biographischen Bruch zwischen der politikfernen Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs105 und der Zeit des „politischen Erwachens“ ab 1914 aufmerksam zu machen.106 Dies wird nun dadurch verstärkt, daß sich die biographische Entwicklung Brechts – so zumindest vermittelt er es dem Leser – auch in der thematischen Ausrichtung seiner Schriften niederschlägt. Bezeichnenderweise ordnet er – freilich mit dem Wissen um den weiteren Fortgang seiner Lebensgeschichte – die Phase, in der er seine Dissertation und die erwähnten anderen Studien zum Zivilrecht schrieb, jener Stufe seiner Entwicklung zu, die er als „Unbewußte politische Grundlagen“107 betitelt – und dies, obwohl sie noch in die von ihm als politikfern beschriebene Zeit fällt.108 Zu den „unbewußten politischen Grundlagen“ zählt er sein zu diesem Zeitpunkt entwickeltes Streben nach Gerechtigkeit, das er als eines der höchsten Ideale menschlichen Handelns betrachtet habe.109 Gleichzeitig habe er begonnen, sich intensiv mit religiösen Fragen auseinanderzusetzen. Emphatisch bekennt er: „Auch wenn mich Denken und Fühlen vorübergehend beide im Stich ließen, verlor ich die Verbindung mit dem, was ich vorher und nachher als ,göttlich‘ empfand, nicht völlig. Dann
103 Wenn auch mit dem Anspruch, dabei als Wissenschaftler nicht politisch, also wertfrei zu sein. Vgl. dazu Kapitel II.3.a). 104 Brecht, Nähe, S. 59. 105 Diese Zeit der Politikferne faßt Brecht mit den Worten zusammen: „Es fehlte der Begriff der eigenen Verantwortung für das, was politisch um mich herum geschah, es fehlte jede ,Aktion‘ […] zur Förderung einer großen ,Sache‘ […] Ich liebte Deutschland und wollte allen Menschen wohl; im übrigen war ich politisch ein bloßer Zeitgenosse.“ Brecht, Nähe, S. 101. 106 Dies allerdings nicht ohne eine gewisse Einschränkung; so beeilt er sich wenige Seiten später zu sagen: „Aber etwas konnte auch dem politikfernsten Zeitgenossen nicht verborgen bleiben: das Anschwellen des deutschen Machtwillens in Wirtschaft und Politik, das meine ganze Studien- und Ausbildungszeit begleitete, gewissermaßen umwogte. Das Bewußtsein der Kraft, der Anspruch auf eine dieser Kraft entsprechende Macht in der Welt und der Wille, diesem Anspruch Geltung zu verschaffen, fanden um mich herum vielfachen Ausdruck […].“ Brecht, Nähe, S. 105. 107 Brecht, Nähe, S. 54. 108 An dieser Stelle zeigt sich eines der oben beschriebenen Spezifika von Autobiographien besonders deutlich: Auch Brecht erzählt seine Lebensgeschichte nicht strikt chronologisch, sondern operiert, wie von Dagmar Günther beschrieben, mit „vorgewußten Sachverhalten“. 109 Vgl. Brecht, Nähe, S. 54 ff.
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik verwandelte sich der Gute in das Gute. Ich fühlte, daß, wenn ich das Gute verehrte, überall, wo es sich zeigte, ich nicht ganz fehlgehen konnte.“110
Das Bild, das von Brechts wissenschaftlichem Werdegang und seinem geistigen Umfeld entsteht, ist also recht facettenreich und – wie er ja selbst eingesteht – in Teilen nicht nur politik-, sondern auch wissenschaftsfern. Gleichwohl hatte er bereits als Schüler und Student Begegnungen und Freundschaften, die ihn noch in seinen späteren politikwissenschaftlichen Publikationen stark beeinflußt haben dürften. Hierzu zählen vor allem Theodor Litt111 und Gustav Radbruch112. Mit dem Beginn der Weimarer Republik änderte sich Brechts Haltung zunehmend: hier wurde nicht nur sein Interesse an der Politik, sondern auch jenes an der Wissenschaft größer. So war er neben seiner Tätigkeit als Verwaltungsbeamter ab 1927 auch Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik.113
110 Brecht, Nähe, S. 68. Das Verhältnis zwischen Religion und Politik, zwischen Wissenschaft und Glauben beschäftigte Brecht zeit seines Lebens stark, vor allem aber nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Vgl. dazu auch Kapitel II.3.a). 111 Dies geht aus dem Briefwechsel zwischen Litt und Brecht hervor; vgl. BAK, NLB, N 1089/21. In seiner Autobiographie beschreibt er Litt als „drei Jahre älter und zehn Jahre reifer als ich“; Brecht, Nähe, S. 39. 112 Radbruch kannte Brecht bereits aus seiner Lübecker Zeit. Er erinnert sich: „Radbruch war mir als Lübecker und als Schulkamerad meines Bruders Gustav wohlbekannt. Er war in allen Klassen immer Primus gewesen, Gustav stets Zweiter nach ihm auf Grund seiner Intelligenz und allgemeinen Reife, aber nicht an Radbruchs frühe Gelehrsamkeit heranreichend und dem Leben viel zugewandter als der scheuere und stillere Primus. […] Ich muß bekennen, daß er mir starken Eindruck gemacht hat und meine eigene Denkweise mitbestimmt hat.“ Brecht, Nähe, S. 358 f. In seiner „Politischen Theorie“ setzt sich Brecht ausführlich mit Radbruch auseinander: Vgl. Brecht, PT, S. 281 ff sowie 429 ff. 113 Da es auch hier um Fragen der Wissenschaft – und nicht um jene der politischen Praxis – geht, und um ein möglichst vollständiges Bild von dem wissenschaftlichen Umfeld Brechts vor seiner Emigration zu geben, wird im folgenden Kapitel in der Chronologie vorgegriffen.
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„(1) In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben. (2) Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, daß die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden. (3) Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht sind Lehrfächer der Schulen. Jeder Schüler erhält bei Beendigung der Schulpflicht einen Abdruck der Verfassung.“114 „Alle positive Rechtsgeltung beruht darauf, daß die Norm durch menschliche Wirksamkeit in Geltung gesetzt und erhalten, durch sie aber auch vernichtet wird.“115
c) Deutsche Hochschule für Politik Die Deutsche Hochschule für Politik (DHfP) – gegründet „in der Rechtsform eines unabhängigen Vereins als Stätte der politischen Bildung“116 – wurde am 24. Oktober 1920 offiziell eröffnet; sie ging aus der ,Staatsbürgerschule‘ hervor, die Friedrich Naumann zwei Jahre zuvor gegründet hatte.117 Grundlegende Impulse für den mit der Gründung der DHfP verbundenen Versuch, „eine akademische Lehre der Politik zu etablieren“118, kamen nach Einschätzung von Wilhelm Bleek von Max Weber und Friedrich Naumann: Webers Kritik an der „fehlende[n] Erziehung der deutschen Eliten in Gesellschaft und Verwaltung zur politischen Verantwortung“ habe den Anstoß gegeben für Naumanns Versuch, diese Appelle zu politisieren und konkretisieren.119 Die Hochschule sollte somit „als Gegenbewegung zur Ignoranz“ fungieren, „mit welcher die deutsche Wissenschaft und Kultur oft politikwissenschaftlichen Fragen entgegentrat“120. Das alles ist vor dem Hintergrund der wis114
WRV Art. 148, Abs. 1 – 3. Heller, Hermann: Staatslehre (1934), in: ders., Gesammelte Schriften. Dritter Band: Staatslehre als politische Wissenschaft, hrsg. v. Gerhart Niemeyer u. a., Leiden 1971, S. 81 – 395 (383). 116 Buchstein, Wissenschaft von der Politik, S. 186. 117 Bleek, Wilhelm: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 199 ff. Siehe auch Llanque, Marcus: Der Einfluß von Max Weber auf die Weimarer Politikwissenschaft, in: Gangl, Manfred (Hg.), Das Politische. Zur Entstehung der Politikwissenschaft während der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. u. a. 2008, S. 193 – 215 (200). 118 Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft, S. 198. 119 Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft, S. 199. 120 So Marcus Llanque, Der Einfluß von Max Weber, S. 200. Auch Llanque konstatiert einen mittelbaren Einfluß Webers „bei der Konzeption der Hochschule“ (ebd.), betont allerdings, daß Weber inhaltlich „im Lehrplan, in dem Selbstverständnis der Dozenten und bezüglich des Politikbegriffs“ kaum zu finden sei (201). Insgesamt kommt Llanque dann auch zu 115
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senschaftsgeschichtlichen Entwicklung zu sehen: Die Politikwissenschaft hatte sich in Deutschland noch nicht als eigenständige Fachdisziplin an den Universitäten etabliert; zwar läßt sich bereits in der Weimarer Republik durchaus „eine zwar heterogene, aber dennoch in ihren Konturen erkennbare zukünftige Politikwissenschaft identifizieren“121, aber die Institutionalisierung der Politikwissenschaft an den deutschen Universitäten konnte sich erst nach 1945 mit Erfolg durchsetzen.122 Gleichwohl nimmt die DHfP eine wichtige Stellung in der Geschichte der deutschen Politikwissenschaft ein. Um einen Überblick über den Aufbau sowie die inhaltliche und politische Ausrichtung der DHfP zu bekommen, sollen im folgenden die wichtigsten Ergebnisse der von anderen Autoren erstellten Studien über die DHfP zusammengetragen werden: Institutionelles Vorbild der DHfP war die 1871 in Paris gegründete École Libre des Sciences Politiques.123 Nach den Vorstellungen des Direktors Ernst Jäckh sollte die DHfP „sowohl Hochschule als auch Fachhochschule und Volkshochschule“ sein.124 Damit war die Zielvorstellung ausgesprochen, eine „Einheit von demokratischer Bildungsarbeit, Fachschulung und politischer Wissenschaft“ herzustellen – ein hoher Anspruch, der nur teilweise eingelöst werden konnte.125 Mit der Einrichtung einer Abendschule sollte die Hochschule für alle Schichten des Volkes geöffnet werden; der vorherige Erwerb des Abiturs war für ein dortiges Studium dem Ergebnis, daß „Webers Einfluß auf die Weimarer Politikwissenschaft“ „weitaus begrenzter“ gewesen sei, „als die spätere Rezeptionsgeschichte es glauben macht“. Er erklärt: „Zwar war Weber einer der bekanntesten Wissenschaftler in Weimar und namentlich auch oft zitiert; ein sachlicher Einfluß im Sinne der Fortgeltung seiner kategorialen Überlegungen, seiner grundlegenden Methode und eines politischen Denkens ist viel weniger erkennbar.“ (215) 121 Buchstein, Wissenschaft von der Politik, S. 188. 122 Zur Geschichte der Politikwissenschaft vgl. vor allem Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft; Hartmann, Jürgen: Geschichte der Politikwissenschaft. Grundzüge der Fachentwicklung in den USA und in Europa, Opladen 2003; Kastendiek, Hans: Die Entwicklung der westdeutschen Politikwissenschaft, Frankfurt a. M. 1977; Lietzmann, Hans J./Bleek, Wilhelm (Hg.): Politikwissenschaft. Geschichte und Entwicklung in Deutschland und Europa, München/ Wien 1996; Mohr, Arno: Politikwissenschaft als Alternative. Stationen einer wissenschaftlichen Disziplin auf dem Wege zu ihrer Selbständigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 1945 – 1965, Bochum 1988; Arndt, Hans-Joachim: Die Besiegten von 1945. Versuch einer Politologie für Deutsche samt Würdigung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1978; Beyme, Klaus von (Hg.): Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1986. 123 Vgl. dazu ausführlich Gangl, Manfred: Die Gründung der „Deutschen Hochschule für Politik“, in: ders. (Hg.), Das Politische. Zur Entstehung der Politikwissenschaft während der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. u. a. 2008, S. 77 – 96. 124 Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft, S. 204. 125 Vgl. Söllner, Alfons: Gruppenbild mit Jäckh – Anmerkungen zur „Verwissenschaftlichung“ der Deutschen Hochschule für Politik während der Weimarer Republik, in: Göhler, Gerhard/Zeuner, Bodo (Hg.), Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, Baden-Baden 1991, S. 41 – 64 (46).
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nicht Voraussetzung.126 Eine politische Fachhochschule sollte die DHfP „vor allem für mittlere Partei- und Verbandsfunktionäre“ sein.127 Nach einigen Änderungen des Curriculums 1927 und 1932 war der Studiengang folgendermaßen strukturiert: „Proseminar; Seminaristische Abteilung; Akademische Abteilung; Forschungsabteilung“.128 Mit den Fachbereichen Philosophie, Geschichte, Recht und Volkswirtschaftslehre standen vier „zentrale“ Disziplinen auf dem Lehrplan; den „relativ größten Raum“ nahmen hierbei die Lehrveranstaltungen zur Auswärtigen Politik ein.129 Als hauptamtlich Lehrende waren an der DHfP nur der Direktor und spätere Präsident Ernst Jäckh sowie (bis 1924) der Studienleiter Theodor Heuss tätig; alle anderen Dozenten waren überwiegend nebenamtlich tätige Lehrbeauftragte, die aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft kamen.130 Die Zahl der Studentenschaft fluktuierte stark, was auch mit den wirtschaftlichen Entwicklungen zusammenhing;131 aussagekräftig für die Frage nach dem Erfolg der Ziele der DHfP ist ferner die Absolventenzahl. Hier ist eine geringe Zahl an Abschlüssen zu verzeichnen;132 darüber hinaus ist bemerkenswert, „daß die Verleihung eines Diploms, ohnehin erst seit 1930 möglich, nicht mit der Führung eines Titels verbunden war“133. An dieser Stelle lohnt ein Blick auf die Erwartungen und Zielvorstellungen, die Vertreter der DHfP mit der Gründung der Hochschule verknüpft haben. Exemplarisch soll hierzu lediglich ein Zeitungsartikel von Theodor Heuss herausgegriffen werden, in dem der Selbstanspruch und die hochgesteckten Vorhaben der Hochschule sehr deutlich werden.134 126 Laut Bleek verstand sich die Hochschule sogar „als eine Einrichtung des zweiten Bildungsweges“. Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft, S. 204. 127 Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft, S. 205. 128 Söllner, Gruppenbild, S. 47. Vgl. dort auch weitere Erläuterungen. 129 Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft, S. 207. Laut der im Vorlesungsverzeichnis der DHfP angehängten Studienordnung gliederten sich die Fächer in die Bereiche: Allgemeine Politik und politische Geschichte; Auswärtige Politik; Innere Politik; Rechtsgrundlagen der Politik; Pressewesen; Volkswirtschaft. Vgl. Deutsche Hochschule für Politik, Vorlesungsverzeichnis WS 1925/26, Berlin. Zur Entwicklung der Binnendifferenzierung in den übergeordneten Fachbereichen siehe auch Söllner, Gruppenbild, S. 47 f und 60. 130 Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft, S. 209. 131 Vgl. Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft, S. 215. 132 Bleek faßt zusammen: „Bis 1930 hatten nur 38 Hörer den viersemestrigen Ausbildungsgang der Seminaristischen Abteilung, der das Abitur voraussetzte, mit Erfolg abgeschlossen, und bis zum Wintersemester 1932/33 konnten ganze 17 Studierende an der Akademischen Abteilung, die auf der Seminaristischen Abteilung oder einem Universitätsstudium aufbaute, das Diplom erwerben.“ Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft, S. 215. 133 Söllner, Gruppenbild, S. 46. 134 Auf eine Auseinandersetzung mit den Schriften des Hochschuldirektors Ernst Jäckh wird an dieser Stelle bewußt verzichtet; dies hat bereits gründlich dargelegt Alfons Söllner, Gruppenbild, S. 49 ff. Zwar sind die Texte von Jäckh charakteristisch für das überhöhte Selbstbild, das die DHfP von sich zeichnet, und insofern aussagekräftiger als die im Tonfall demgegenüber eher zurückgenommenen Worte von Theodor Heuss; für die Zwecke dieses Kapitels reicht das Textbeispiel von Heuss jedoch aus.
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In dem Artikel nimmt Heuss ein Semester nach Eröffnung der DHfP eine erste Bestandsaufnahme vor. Zunächst ruft er in Erinnerung, worin die Gründungsmotive der Hochschule lagen: Es sollte eine Stelle geschaffen werden, „in der die Fragen des Staatsrechts, der Geschichte, der Auslandskunde, der Kulturentwicklung, der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse unter einer politischen Zielsetzung behandelt werden“ können. Die Universitäten, die sich auf die „Darbietung wissenschaftlicher Erkenntnisse“ beschränkten, leisteten das nicht. Heuss hebt hier auf den Charakter der Volkshochschule ab, den die DHfP haben sollte. Es gehe nicht darum, „die Akademiker zu ,politisieren‘, sondern den politisch wachen Köpfen in allen Volksschichten Antrieb zu geben“.135 Auch die Frage der politischen Erziehung spielte für Heuss eine Rolle: „Es ist nicht so, als ob aus der Hochschule fertige Politiker entlassen würden. Aber sie wird dem Dilettantismus und dem Schematismus entgegenwirken, der in Deutschland noch so breit in der Bildung der öffentlichen Meinung wie in den Entscheidungen verantwortlicher Stellen sich auswirkt.“136
Nach seiner Vorstellung setzt dieser Ansatz lebendige Kräfte frei, die das Studium an der DHfP zu einer Angelegenheit größter politischer und gesellschaftlicher Relevanz machen – und damit, so zumindest legen es die folgenden Zeilen nahe, zu einer Sache, die jeden Bürger des Landes etwas angeht: „Das Staatsrecht wird in solchem Betracht keine Versammlung gefrorener Paragraphen sein, sondern der Ausdruck kämpfender gesellschaftlicher Mächte, die Wirtschaft nicht eine Angelegenheit privategoistischer Berechnungen, sondern der Hebel eines nationalen Werdens und Schicksals. Politik in weitestem Sinne durchdringt die einzelnen Disziplinen, indem sie die Bedeutung der Willenselemente aufzeigt und die Problematik des Geschehens erhellt.“137
Das bedeutet also, daß der DHfP neben ihrem Bildungsauftrag auch eine politische Funktion zugewiesen wurde. Geht es nach Heuss, liefert die Hochschule sogar einen Beitrag zur Stabilisierung der Demokratie. In seiner Argumentation spiegelt sich die frühe Einsicht wider, daß die Demokratie auf die demokratische Überzeugung der in ihr lebenden Bürger und deren Akzeptanz des politischen Systems angewiesen ist. Der vielzitierte Ausspruch von der Weimarer „Demokratie ohne Demokraten“ findet hier in positiver Umkehrung ihren Niederschlag: „Gerade der demokratische Staat, gleichviel ob man Deutschlands Entwicklung zu ihm begrüßt oder beklagt, bedarf der tätigen Teilnahme seiner Glieder, um lebensfähig zu sein, 135 Heuss, Theodor: Die deutsche Hochschule für Politik, in: Karlsruher Tagblatt, 14. 3. 1921, abgedr. in: ders., Politiker und Publizist. Aufsätze und Reden. Ausgewählt und kommentiert von Martin Vogt. Mit einem einleitenden Essay von Ralf Dahrendorf, Tübingen 1984, S. 123 – 127 (124). 136 Heuss, Hochschule, S. 125. 137 Heuss, Hochschule, S. 125. Wenig später fährt er fort: Die Hochschule ruhe „auf der Einsicht und Opferwilligkeit von Männern, die begreifen, wie nötig dem deutschen Volk eine Stelle ist, an der solche Gemeinschafts- und Erziehungsarbeit geleistet wird“. Ebd.
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aber der Tat, die beherrscht ist von dem Geist der Achtung und Verantwortung und gelenkt ist durch Kenntnis dessen, was not tut, was möglich ist.“138
Neben der Vielfalt an Funktionen, die die Hochschule in der Vorstellung ihrer Gründungsväter erfüllen sollte, ist auffällig, daß ihr offenbar eine große gesellschaftliche Wirkungskraft zugetraut wurde. Hier allerdings zeichnet sich eine Diskrepanz zwischen Selbstdarstellung und Realität ab; an diesem Punkt setzt auch die Kritik der jüngsten Forschung an, deren Grundtenor ist, daß die Hochschule ihren selbst erhobenen Anspruch sowohl in politischer als auch in wissenschaftlicher Hinsicht nicht einhalten konnte.139 Demnach war die Zusammensetzung der Dozentenschaft politisch durchaus heterogen; die DHfP rekrutierte nicht nur politisch liberal gesinntes Personal, sondern auch Rechtskonservative. Hier ist zum Beispiel Adolf Grabowsky zu nennen, der seit 1921 Dozent an der DHfP war und 1925 Leiter des geopolitischen Seminars wurde.140 Viele Jahre später – und aufgrund der Aussagekräftigkeit, die die im folgenden zitierten Passagen für das geistesgeschichtliche Profil der frühen Bundesrepublik haben, lohnt an dieser Stelle ein kurzer Exkurs – sollte Grabowsky, der 1907 die „Zeitschrift für Politik“ gegründet hatte, Arnold Brecht um einen Rezensionsbeitrag bitten – und zwar mit einer bemerkenswerten Begründung: „Eingetroffen sind bei mir vor kurzem zwei Bücher, die das jüdische Problem behandeln: ein umfangreiches Sammelwerk von Leon Poliakov – Josef Wulf ,Das Dritte Reich und die Juden. Dokumente und Aufsätze‘, das beinahe 500 Seiten umfaßt, und ein kleineres Buch von Adolf Leschnitzer ,Saul und David. Die Problematik der deutsch-jüdischen Lebensgemeinschaft‘. Diese beiden Werke müssten zusammen besprochen werden, und ich möchte dazu nicht einen jüdischen Autor, sondern einen Nichtjuden nehmen.“141
Hier scheint sich die These Nicolas Bergs zu bestätigen, daß die westdeutsche Geschichtsschreibung über den Holocaust lange Zeit dadurch gekennzeichnet war, 138
Heuss, Hochschule, S. 125 f. Vgl. Söllner, Gruppenbild; Lehnert, Detlef: „Politik als Wissenschaft“: Beiträge zur Institutionalisierung einer Fachdisziplin in Forschung und Lehre der Deutschen Hochschule für Politik (1920 – 1933), in: PVS 30, 1989, S. 443 – 465; zustimmend Buchstein, Wissenschaft von der Politik, S. 188 sowie Gangl, Gründung, S. 77 ff. Siehe zum gesamten Kontext auch Eisfeld, Rainer: Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920 – 1945, BadenBaden 1991. Diese mehrheitlich kritische Betrachtung setzte erst Ende der achtziger Jahre ein; zuvor dominierte „die heroische Erinnerung an den hoffnungsvollen, aber früh erstickten Erstgeborenen einer ,Demokratiewissenschaft‘“ – ein Bild, das auch unter dem Einfluß der „bombastische[n] Selbstdarstellung“ Ernst Jäckhs entstand. Vgl. Söllner, Gruppenbild, S. 41 und 46. Eine Zusammenfassung der Forschungsentwicklung findet sich bei Söllner, Gruppenbild, S. 41 ff sowie bei Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft, S. 224 ff. 140 Vgl. zu Grabowsky Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft, S. 212 sowie Söllner, Gruppenbild, S. 53 f. Siehe ferner – auch wenn sie eine kritische Betrachtung auf den Autor vermissen läßt – die Festschrift für Grabowsky: Thierbach, Hans (Hg.): Adolf Grabowsky. Leben und Werk. Dem Altmeister der politischen Wissenschaften als Fest- und Dankesgabe gewidmet, Köln u. a. 1963. 141 Adolf Grabowsky an Arnold Brecht, Marburg/Lahn, 20. 12. 1956, BAK, NLB, N 1089/ 19. 139
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daß die Fähigkeit zur Sachlichkeit der ,deutschen Perspektive‘ zugewiesen wurde, während der ,jüdischen Perspektive‘ eine zwangsläufige Emotionalität unterstellt wurde. Übergeordnet geht es hier um die Kategorie der Erforschung auf der einen und jene der Erinnerung auf der anderen Seite, die nach Berg als unvereinbare Antipoden einander gegenübergestellt wurden.142 Es spricht einiges dafür, daß auch Grabowskys Beweggründe in diesem Kontext zu suchen sind; mit Brecht hatte er einen Adressaten für seine Anfrage gefunden, der aufgrund seiner nichtjüdischen Herkunft der vermeintlichen Befangenheit und Emotionalität unverdächtig war. Brecht indes sagte Grabowsky mit der Begründung ab, daß er keine Zeit habe.143 Zurückkommend auf die Charakterisierung der DHfP läßt sich des weiteren festhalten, daß mit der Aufnahme des „Politischen Kollegs“ im Jahr 1927 konservative und rechtsextreme Positionen an Bedeutung gewannen.144 Auch der Grad der ,Verwissenschaftlichung‘ und ,Akademisierung‘145 war längst nicht so hoch wie zunächst angenommen.146 So lautet das nüchterne Urteil Manfred Gangls: „Dem gesetzten Ziel der DHfP, in Abgrenzung zu der an den Universitäten gelehrten Staatsrechtslehre und Volkswirtschaftslehre die Politikwissenschaft als eine ,Wissenschaft der Grenzgebiete‘ zu definieren und ,aus dem festgefahrenen Zustand der spezialisierten Wissenschaften zur Synthese zu kommen‘ – mußte weitgehend Programm bleiben, da abgesehen von der 1927 eingerichteten Akademischen Abteilung auf allen anderen Ausbildungsstufen für die Dozenten explizit ,nicht die wissenschaftlich-theoretischen, sondern die praktisch-pädagogischen Qualifikationen‘ ausschlaggebend waren und sie von Forschungsaufgaben gerade entbunden waren. Das konnte auch die späte Einrichtung einer Forschungsabteilung 1930 nicht ausgleichen – was nicht heißen soll, daß es nicht wissenschaftlich seriöse Auseinandersetzungen gegeben hätte oder von einzelnen DHfP-Dozenten nicht wichtige Anstöße für die Ausbildung der Politikwissenschaft ausgegangen seien. Dennoch fand eine theoretische und methodologische Reflexion auf den Wissen142
Vgl. Berg, Nicolas: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, 2. Aufl., Göttingen 2003, S. 617. Zur – in vielen Punkten erschreckenden – Rezeptionsgeschichte des Werkes der beiden jüdischen Gelehrten Joseph Wulf und Léon Poliakov, von dem in Grabowskys Brief die Rede ist, ebd., S. 337 ff. Vgl. zu Joseph Wulf auch Berg, Nicolas: Die Lebenslüge vom Pathos der Nüchternheit. Subjektive jüdische Erinnerung und objektive deutsche Zeitgeschichtsforschung? Joseph Wulf, Martin Broszat und das Institut für Zeitgeschichte in den sechziger Jahren, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 163, 17. Juli 2002, S. 14. 143 Ob dies nur ein vorgeschobener oder der tatsächliche Grund war, läßt sich an dieser Stelle nicht sagen. Vgl. aber ausführlich zu Brechts Haltung gegenüber der NS-Vergangenheit Kapitel II.2. 144 Zum „Politischen Kolleg“ vgl. Eisfeld, Ausgebürgert, S. 31 ff sowie Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft, S. 212 ff. Söllner fügt hinzu, daß von „einer dauerhaften Präsenz einer sozialdemokratischen Dozentengruppe“ keine Rede sein könne, und „noch viel weniger davon, daß hinreichend Zeit und personelle Stärke zur Verfügung gestanden hätte, um ein linkes Gegenmodell zu dem zu entwickeln, was als ,nationale‘ Wissenschaft der Politik an der Hochschule ebenso prätentiös wie gestaltlos im Entstehen begriffen war.“ Söllner, Gruppenbild, S. 53. 145 Vgl. zu diesen Begriffen Söllner, Gruppenbild, S. 44 f. 146 Die These von der „Akademisierung“ in der DHfP geht auf Hans Kastendiek zurück: Kastendiek, Entwicklung, S. 135. Kritisch dazu Söllner, Gruppenbild, S. 41 f.
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schaftscharakter einer Politikwissenschaft an der Hochschule für Politik überhaupt nicht statt.“147
Wilhelm Bleek indes attestiert den zitierten Kritikern – obgleich sie „zu Recht einige frühere Legenden“ entlarvten – „einige zeittypische Einseitigkeiten“. Sein Hauptvorwurf gilt der unhistorischen Vorgehensweise, die in der jüngsten Forschung zur DHfP zum Ausdruck komme. Sie gehe „vom Idealbild einer ,kohärenten Politikwissenschaft‘ aus, an welchem die Vorläufer gemessen und letzten Endes als ungenügend bewertet werden, das aber auch in der Gegenwart nur in den szientistischen Ansprüchen mancher moderner Protagonisten des Faches, nicht aber in dessen Realität existiert“.
Die Autoren hypostasierten „auf unhistorische Weise einen modernen Wissenschaftsbegriff, der doch seinerseits dem Wandel unterliegt“. Bleek plädiert hingegen dafür, die Geschichte der DHfP nicht vom Endpunkt ihrer Entwicklung zu sehen, sondern sie in den „Rahmen der Gesamtgeschichte der Disziplin“ zu stellen. Für ihn ist das „Experiment“ der DHfP „ein Spiegelbild des Zeitgeistes der Weimarer Republik“148. Welche Rolle spielte nun Brecht in der DHfP, und welchen Stellenwert hat sie für seine wissenschaftliche Entwicklung? Zunächst scheint der Befund ernüchternd zu sein: Es liegt kein einschlägiges Material vor, anhand dessen sich bestimmen ließe, inwieweit Brechts Lehrtätigkeit an der DHfP sein Verständnis von Wissenschaft und Politik inhaltlich geprägt hat.149 Alfons Söllner äußert sich in diesem Zusammenhang eher skeptisch und vermutet, daß „der vielbeschäftigte Arnold Brecht […] wohl kaum sehr viel Energie auf die Hochschule verwandt“ hat.150 Da sich Brecht auch in seinen Korrespondenzen an keiner Stelle näher zur DHfP äußert, scheint sich diese Vermutung zwar zunächst zu bestätigen. Doch ist es hier angebracht, die Argumentation stärker zu kontextualisieren. Denn das, was hier nur am Rande einer individuellen Biographie zum Vorschein kommt, gewinnt an Relevanz, wenn man einen Blick auf die Lebensläufe anderer Lehrkräfte der DHfP wirft, die in vielen Punkten Parallelen zu Brecht aufzeigen. Söllner kommt in einem solchem Vergleich zu dem Ergebnis, daß – ausgehend von der personellen Zusammensetzung der DHfP aus dem Jahr 1931 – fast die Hälfte der Dozenten emigriert ist, darunter einige an die spätere New School for Social Research. Die Kenntnis dieser Zahlen wiederum ist wichtig, um die Frage 147
Gangl, Gründung, S. 95 f. Die hier mit einfachen Anführungszeichen versehenen Passagen sind Zitate aus Denkschriften der Hochschule. 148 Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft, S. 226 und 228. 149 Als Materialgrundlage können lediglich die Vorlesungsverzeichnisse der DHfP herangezogen werden. Auch im Nachlaß Arnold Brechts existiert nach meinen Recherchen kein Material wie etwa Vorlesungsmanuskripte o. ä., die Anhaltspunkte liefern könnten für einen nähere Bestimmung dieses Fragenkomplexes. Ähnlich verhält es sich mit Brechts Autobiographie: hier findet sich zur DHfP lediglich eine kurze Notiz. 150 Söllner, Gruppenbild, S. 53.
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nach der „Gewichtung von Kontinuität und Diskontinuität“ in der Geschichte der Politikwissenschaft beantworten zu können.151 Nicht nur die deutsche Staatsrechtslehre, sondern auch die mit der Gründung der DHfP verbundenen Versuche, eine Wissenschaft von der Politik zu etablieren, spielten innerhalb der Wissenschaftsemigration und der durch sie hervorgerufenen transatlantischen Wechselbeziehungen zwischen den Weimarer Wissenschaftstraditionen auf der einen und der amerikanischen Political Science auf der anderen Seite eine entscheidende Rolle. In dem in der „Encyclopedia of the Social Sciences“ 1933 erschienenen Artikel über „Political Science“ von Hermann Heller, der zeitweise auch an der DHfP unterrichtete, sieht Söllner den „Beweis für die ,Anschlußfähigkeit‘ der (unterentwickelten) deutschen an die (entwickelte) amerikanische Disziplingeschichte“152. Dieser Befund läßt sich auch auf Arnold Brecht anwenden: Auch er verkörpert den Prototyp eines „political scholar“153, dessen wissenschaftliche Ansätze das gegenseitige Beeinflussungsverhältnis beider Wissenschaftstraditionen widerspiegeln.154 Die Tätigkeit an der DHfP hat somit auch Relevanz für die inhaltliche Ausrichtung der amerikanischen Politikwissenschaft, die sich nach den Emigrationswellen zu einer transatlantischen Disziplin entwickelte. Die Entwicklung dieses Institutionengefüges setzt sich aus den Lebensläufen verschiedener deutscher Emigranten zusammen – und Brecht ist davon ein kleiner, aber wichtiger Baustein. Einen etwas konkreteren Einblick in die inhaltliche Schwerpunktsetzung Brechts während seiner Zeit an der Hochschule bekommt man in den Vorlesungsverzeichnissen der DHfP: Gegenstand seiner Lehre waren vor allem Themen aus dem Bereich der Verwaltung. So hielt er Vorlesungen über „Verfassungs- und Verwaltungsprobleme“155, „Die rechtlichen Grundlagen der Polizeigewalt“156 und gab einen Kurs zum Thema „Entwicklung und Stand der Verfassungs- und Verwaltungsreform“157. Im Wintersemester 1932/33 war Brecht darüber hinaus Leiter der Studiengruppe „Rechtsgrundlagen der Politik“, die der akademischen Abteilung angehörte.158 151 Vgl. Söllner, Alfons: Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration. Studien zu ihrer Akkulturation und Wirkungsgeschichte. Mit einer Bibliographie, Opladen 1996, S. 12. 152 Söllner, Politikwissenschaftler, S. 12. 153 Vgl. dazu Kapitel II.1. 154 Dies gilt in besonderem Maße für seine „Politische Theorie“. Vgl. Kapitel II.3.a). 155 Diese Vorlesung gehörte zum Lehrangebot der Seminaristischen Abteilung und wurde im Wintersemester 1927/28 gehalten. Vgl. Deutsche Hochschule für Politik, Vorlesungsverzeichnis WS 1927/28, Berlin. 156 Vorlesung aus dem Wintersemester 1932/33. Vgl. Deutsche Hochschule für Politik, Vorlesungsverzeichnis WS 1932/33, Berlin. 157 Dieser im Sommersemester 1929 gehaltene Kurs war Teil des zweiten Sonderkursus für Volkshochschullehrer. Vgl. Deutsche Hochschule für Politik, Vorlesungsverzeichnis SS 1929, Berlin. 158 Die Studiengruppe wurde erst 1932 ins Leben gerufen; zuvor existierte an ihrer Stelle unter der Leitung von Wilhelm Haas die Studiengemeinschaft „Politische Psychologie und
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In seinen Erinnerungen kommt er im Zusammenhang mit den Reformarbeiten im Reichsinnenministerium auf die Hochschule zu sprechen: es habe sich zwischen der DHfP und dem Innenministerium „eine nützliche Zusammenarbeit“ angebahnt, innerhalb derer „Mittel für staatsbürgerliche Kurse“ gewährt worden seien. Brecht erklärt: „Aber die Hauptsache war der Geist der Hochschule, und der war gut.“159 Hier findet sich das positive Selbstbild wieder, das die Vertreter der DHfP von der Hochschule gezeichnet haben. Dies zeigt sich auch daran, daß Brecht die DHfP in jenem Abschnitt seiner Autobiographie erwähnt, in dem er sich mit den Arbeiten zum Schutz der Republik auseinandersetzt. Brechts Bewertung der DHfP ist somit deckungsgleich mit den Zielsetzungen ihrer Gründungsväter: Die Hochschule als politische Bildungsstätte und Ort der Erziehung zu politischer Verantwortung und Demokratie. Die Ambivalenzen, wie sie laut Söllner „für das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Weimarer Republik insgesamt anzunehmen“160 und auch für die DHfP charakteristisch sind, werden von Brecht an dieser Stelle indes nicht zur Sprache gebracht. Auch die DHfP scheiterte am Ende daran, daß die hehren Vorsätze der Verfassungsrechtler, die eingangs mit Passagen aus der Weimarer Reichsverfassung zitiert wurden, nicht, wie von Heller bezeichnet, „durch menschliche Wirksamkeit in Geltung gesetzt“, sondern durch sie vernichtet wurden.
Auslandskunde“. Vorgänger von Brecht war Hermann Heller, sein Stellvertreter der rechtskonservative Staats- und Völkerrechtler Friedrich Berber. Vgl. Kastendiek, Entwicklung, S. 137; zu Berber: Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft, S. 205 f. – Weitere Lehrveranstaltungen von Brecht tauchen in den Vorlesungsverzeichnissen nicht auf. 159 Brecht, Nähe, S. 441. 160 Söllner, Politikwissenschaftler, S. 11.
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2. Verfassung, Verwaltung und Beamtentum (Reichsinnenministerium) „Wenn ein leitender Mann dem Geist seiner Leistung nach ein ,Beamter‘ ist, sei es auch ein noch so tüchtiger: ein Mann also, der nach Reglement und Befehl pflichtgemäß und ehrenhaft seine Arbeit abzuleisten gewohnt ist, dann ist er weder an der Spitze eines Privatwirtschaftsbetriebs noch an der Spitze eines Staates zu brauchen.“161 „Jeder Bürger und Arbeiter sollte sich wie ein Beamter der Gemeinschaft fühlen und verhalten, in der er lebt.“162
a) Schöpferische Verwaltung und initiatives Beamtentum Die „Eigenart der Verwaltung“, so lautet der vielzitierte Satz von Ernst Forsthoff, liegt darin, „daß sie sich zwar beschreiben, aber nicht definieren läßt“163. Sehr allgemein gefaßt kann die öffentliche Verwaltung – neben der Gesetzgebung und der Rechtsprechung – als eine der drei Kernfunktionen des Staates gelten.164 Verwaltung ist die „tätig werdende Verfassung“165. Sie ist „tätige Verwirklichung der staatlichen Aufgaben im einzelnen und besonderen in der Gebundenheit an rechtlich normierte Maßstäbe“166. Folgt man Max Weber, so ist die bürokratische Verwaltung „die Keimzelle des okzidentalen Staats“; in ihr erfolge „alle kontinuierliche Arbeit durch Beamte in Bureaus“167. Auch Arnold Brecht betont die enge Verbindung zwischen den Begriffen Beamtentum und Verwaltung. In seinem Eröffnungsvortrag zur Verwaltungswissenschaftlichen Woche der Verwaltungs-Akademie Berlin im Jahr 1925 konstatiert er: „Das, was wir heute als gemeinsames Werk beginnen, zeigt ja, wie außerordentlich eng diese beiden Begriffe zusammengehören, denn eine wirkliche Reform innerhalb des Beamten161 Weber, Max: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens (1918), in: ders., Gesammelte Politische Schriften, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1988, S. 306 – 443 (334). 162 Brecht, Nähe, S. 433. 163 Forsthoff, Ernst: Lehrbuch des Verwaltungsrechts. Erster Band: Allgemeiner Teil, 8. Aufl., München/Berlin 1961, S. 1. 164 Vgl. Ellwein, Thomas: Das Dilemma der Verwaltung. Verwaltungsstruktur und Verwaltungsreform in Deutschland, Mannheim u. a. 1994, S. 9. 165 Maurer, Hartmut: Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl., München 2000, S. 12. Maurer zitiert hier Lorenz von Stein. 166 Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1999, S. 229. 167 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (1922), hrsg. v. Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1972, S. 128.
2. Verfassung, Verwaltung und Beamtentum
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tums und für das Beamtentum und durch das Beamtentum ist immer in erster Linie eine Reform der Verwaltung.“168
Doch von welchem Begriff der Verwaltung und des Beamtentums geht Brecht aus? Welchen Stellenwert mißt er der Verwaltung für Staat und Gesellschaft zu? Wodurch zeichnet sich die Verwaltung nach Brecht aus? Und welche Vorstellungen hat er vom „Wesen“ des Beamtentums?169 Oberstes Gebot des Beamten ist nach Brecht dessen parteipolitische Neutralität. In seiner Autobiographie bemerkt er dazu: „Nach meiner staatspolitischen Auffassung, der ich bis heute treu geblieben bin, sollten Beamte, jedenfalls höhere, nicht aktiv in die eigentliche Parteipolitik eingreifen, nicht öffentlich für eine Partei werben, nicht für sie und gegen andere Parteien reden oder schreiben und auch sonst jeden Eindruck in der Öffentlichkeit vermeiden, als ob sie persönliche oder sachliche Fragen nach parteipolitischen Gründen beurteilten und entschieden.“170
Diese Vorstellung fand ihre Entsprechung in der Weimarer Reichsverfassung. So heißt es in Art. 130, Abs. 1 WRV: „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei.“ Neben dem Art. 128, Abs. 1 WRV, in dem „der allgemeine Gleichheitsgrundsatz auf das Beamtenrecht ausgedehnt“ wurde,171 kann die hier getroffene Bestimmung als Versuch gelesen werden, das Berufsbeamtentum in die parlamentarische Demokratie hinüberzuführen. Doch die Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik sah bekanntlich anders aus: Weite Teile der Beamtenschaft standen der Demokratie ablehnend gegenüber, vorherrschend blieb auch nach dem Untergang der Monarchie die Anbindung an das alte System und eine republikfeindliche Gesinnung. Während Bernd Wunder die Existenz der parteipolitischen Neutralität überhaupt in Zweifel zieht,172 erkennt Kathrin Groh nicht nur in der Verfassungswirklichkeit, 168
Brecht, Verwaltungsreform, S. 81. Die Beantwortung dieser Fragen kann nur annäherungsweise erfolgen, da es aus der Zeit der Weimarer Republik nur wenige Texte von Brecht gibt, in denen er sich dezidiert mit diesen Aspekten auseinandersetzt. Gleichwohl lassen sich sowohl in den wenigen Veröffentlichungen als auch mit Blick auf die inhaltliche Schwerpunktsetzung seiner praktischen Tätigkeit Anhaltspunkte gewinnen, die Auskunft über seine Ansicht in diesen Fragen geben. Aufgrund der dünnen Materialbasis stütze ich mich im folgenden auch auf einige Kapitel aus Brechts Autobiographie. 170 Brecht, Nähe, S. 251. 171 Frotscher, Werner/Pieroth, Bodo: Verfassungsgeschichte, 6. Aufl., München 2007, S. 290. – Der genaue Verfassungstext lautet: „Alle Staatsbürger ohne Unterschied sind nach Maßgabe der Gesetze und entsprechend ihrer Befähigung und ihren Leistungen zu den öffentlichen Ämtern zugelassen.“ Art. 128 Abs. 1 WRV. 172 So konstatiert er: „Die vielgerühmte parteipolitische Neutralität der preußischen und deutschen Beamtenschaft hat nie bestanden: Die Beamtenschaft war korrekt, aber konservativ.“ Wunder, Bernd: Geschichte der Bürokratie in Deutschland, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1988, S. 95. 169
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sondern bereits im Verfassungstext eine grundlegende Paradoxie: „Der Beamte sollte nicht einer Partei dienen dürfen, doch gleichzeitig dem Willen derjenigen Partei, die siegreich in Parlament und Regierung eingezogen war, Gehorsam schulden.“173 Ihren „konkreten Bezugspunkt für Dienst und Gehorsam“174 hatte die Beamtenschaft durch den Sturz der Monarchie verloren, und die zum „,eisernen Bestand‘ des Beamtentums“ gehörende Treuepflicht175 gegenüber Parlament und Demokratie ließ sich aufgrund des „Primat[s] administrativer Kontinuität“176, dem der gesamte „Verwaltungsbetrieb“177 auch personell unterlag, mehrheitlich kaum herstellen. Diese „Tendenz zur Verwaltungskontinuität“178 in Deutschland erkennt auch Brecht als ein für die Entwicklung und Stabilität der Weimarer Demokratie gravierendes Problem. So findet er in seinen Erinnerungen mit Blick auf den von ihm konstatierten Mangel an demokratischen Beamten im Innenministerium deutliche Worte: „Sie waren aus langjährigen treuen Diensten für die Monarchie hervorgegangen, ausgesucht im Hinblick auf ihre königstreue Gesinnung, meist konservativ in ihren Grundanschauungen, wenn nicht Wilhelminisch, so doch Bismarckisch bis in die Knochen, gewöhnt, in der Sozialdemokratie den Staatsfeind zu sehen, sie und die Gewerkschaften zu bekämpfen und die Demokratie im besten Fall als ein notwendiges Übel zu betrachten […].“179
173 Groh, Kathrin: „Von acht bis vier Uhr amtseifriger Republikaner“ – Die Weimarer Staatsrechtslehre auf der Suche nach Sinn- und Handlungsorientierungen für die „neutrale“ Bürokratie, in: Collin, Peter/Lutterbeck, Klaus-Gert (Hg.), Eine intelligente Maschine? Handlungsorientierungen moderner Verwaltung (19./20. Jh.), Baden-Baden 2009, S. 197 – 214 (198). – Es sind allerdings einige Zweifel angebracht, ob hier tatsächlich ein so starker Widerspruch besteht wie von Groh angenommen. Denn es gibt doch einen deutlichen Unterschied zwischen dem reinen Parteiprogramm einer Partei und der Praxis des Regierens, die Sachzwängen unterliegt und notwendig einen Kompromißcharakter annehmen muß. Der von den Beamten geleistete Amtseid galt der Verfassung und nicht nur einer Partei. Ein Widerspruch zur parteipolitischen Neutralität des Beamten besteht allein durch seine Dienste für die Regierungspartei nicht. 174 Wunder, Geschichte der Bürokratie, S. 148. 175 Vgl. Groh, Weimarer Staatsrechtslehre, S. 208. Siehe dazu auch: Runge, Politik und Beamtentum, S. 21 ff. 176 Runge, Politik und Beamtentum, S. 17. 177 Vgl. Laux, Eberhard: Die Entwicklung des Verwaltungsbetriebs, in: Jeserich, Kurt G.A. u. a. (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 5: Die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1987, S. 1081 – 1110 (1090 ff). 178 Eschenburg, Theodor: Der bürokratische Rückhalt, in: Löwenthal, Richard/Schwarz, Hans Peter (Hg.), Die Zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, 2. Aufl., Stuttgart 1974, S. 64 – 94 (72). 179 Brecht, Nähe, S. 379. – An dieser Stelle ist allerdings in besonderem Maße die Perspektive des Textes zu berücksichtigen: Anders als diese Zeilen vermuten lassen, ist Brechts Haltung in der Frage der (Mit-)Schuld der Beamtenschaft am Untergang der Weimarer Demokratie längst nicht so eindeutig; charakteristisch ist für ihn vielmehr eine auffallend ambivalente Haltung in der Schuldfrage. Vgl. dazu ausführlich Kapitel II.2.
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Diese Diskrepanz zwischen demokratischer „Verfassungsumwälzung“ und traditionell-konservativer „Verfassungsorganisation“180 brachte Otto Mayer auf die Formel: „Verfassung vergeht – Verwaltung besteht“181. Eine Erklärung bietet Ernst Forsthoff: Daß „die Verwaltungsgeschichte eine ungleich stärkere Kontinuität als die Verfassungsgeschichte“ zeigt, führt er auf den Umstand zurück, „daß die Verwaltung im Unterschied zur Verfassung aus schmiegsamem Stoff“ sei und sich „wechselnden Verfassungslagen in hohem Maße anzupassen vermag“182. Forsthoff erklärt: „Die Verwaltung legitimiert sich heute nicht nur als der Vollzugsapparat eines bestimmten politischen ,Systems‘, sondern auch als Träger der an jedem Tage notwendigen Daseinsvorsorge. An ihrem Erliegen hat niemand ein Interesse, auch der Anhänger eines Umsturzes nicht (er sogar am allerwenigsten), da das Ausfallen der Verwaltung in den modernen dichtbesiedelten Staaten sofort chaotische Zustände hervorrufen würde.“183
Eine grundlegende Veränderung der Verwaltung mußte sich also auch nach 1918 allein schon aufgrund der ihr eigentümlichen Struktur oder gar „Konsistenz“ als schwierig erweisen. Doch welche Position nimmt Brecht demgegenüber ein? Sein Postulat der parteipolitischen Neutralität des Beamten ist nicht als Billigung von Verfassungs- und Demokratiefeindlichkeit zu verstehen. Er betont vielmehr, sein Beamtenideal setze voraus, „daß Enthaltsamkeit von politischer Bindung nicht als Vorwand dafür diente, daß der Beamte auch im Kampf für die Verfassung und gegen ihre Gegner ,neutral‘ blieb“184. Bereits in seinem Kommentar zum Vereins- und Versammlungsrecht von 1925 gibt Brecht den Beamten den Rat, trotz des weit
180 Vgl. Preuß, Hugo: Deutschland und die preußische Verwaltungsreform (1925), in: ders., Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, hrsg. v. Detlef Lehnert, Tübingen 2008, S. 576 – 586 (576). 181 Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Erster Band (3. Aufl. 1924), Berlin 1969, Vorwort zur dritten Auflage (nicht paginiert). – Frotscher und Pieroth wenden demgegenüber ein, daß die Verfassungsgeschichte „immer auch ein Stück Verwaltungsgeschichte enthält“. Es sei fraglich, „ob sich Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte überhaupt gegeneinander abgrenzen lassen oder ob letztere nicht vielmehr als ein wesentlicher Teil einer umfassend verstandenen Verfassungsgeschichte zu qualifizieren ist“. Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, S. 2. 182 Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, S. 12. 183 Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, S. 12 f. – Nach Forsthoff besteht ein Widerspruch zwischen dieser Verwaltungskontinuität und dem eigentlichen „Zustand“ der Verwaltung: So sei es gerade nicht die Verwaltung, sondern die Verfassung, der „in hohem Maße das Moment der Dauer eigentümlich“ sei; die Verwaltung hingegen sei „in erster Linie“ durch „Tätigkeit“ bestimmt, also durch „Bewegung und Veränderung“. Die Ursache dieser Paradoxie sieht Forsthoff in der schon erwähnten unterschiedlichen Konsistenz beider Bereiche, der „stofflichen Schmiegsamkeit“ der Verwaltung. Vgl. ebd. 184 Brecht, Nähe, S. 435. Siehe auch ebd., S. 251.
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik
ausgelegten Vereinigungsrechts185 „sich aus der bloßen Mitgliedschaft in solchen Vereinen zu enthalten, die in einer scharfen und tätigen grundsätzlichen Kampfstellung zu der Reichsverfassung stehen“186. Daß Brecht sich bemüßigt sah, seine akribische und korrekte Auslegung und Kommentierung der Verwaltungsgesetze um diesen von ihm selbst so bezeichneten „Rat“ zu ergänzen,187 dürfte seinem schon frühzeitig skeptischen Blick auf die Schwächen der Weimarer Demokratie geschuldet sein.188 Brechts skeptische Haltung ist sicherlich auch vor dem Hintergrund des Mordes an dem von ihm sehr verehrten Walther Rathenau189 und der daraufhin entstehenden Arbeiten zum Schutz der Republik zu sehen, an denen er mitgewirkt hat. Hierzu zählt auch das am 21. Juli 1922 erlassene „Gesetz über die Pflichten der Beamten zum Schutze der Republik“, nach dem der Reichsbeamte „alles zu unterlassen“ habe, „was mit seiner Stellung als Beamter der Republik nicht zu vereinbaren ist“190. In seiner Autobiographie bemerkt 185 So lautet Art. 130 Abs. 2 der WRV: „Allen Beamten wird die Freiheit ihrer politischen Gesinnung und die Vereinigungsfreiheit gewährleistet.“ Dies schloß ausdrücklich auch das Recht auf Mitgliedschaft in Vereinigungen ein, die „die Regierung und selbst die Regierungsform mit erlaubten Mitteln“ bekämpfen. Vgl. Brecht, VGA, S. 326. – Zum Problem der „wertneutralen Demokratie von Weimar“ und der fehlenden Wehrhaftigkeit dieses demokratischen Staates: Brenner, Michael: Die wehrhafte Demokratie: Eine Lehre aus Weimar?, in: Eichenhofer, Eberhard (Hg.), 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung – Was ist geblieben?, Tübingen 1999, S. 95 – 115. 186 Brecht, VGA, S. 326. – Die Problematik der Vereinbarkeit von Art. 130 Abs. 1 WRV (Dienst an der Gesamtheit) und Art. 130 Abs. 2 WRV (Vereinigungs- und Gesinnungsfreiheit) bringt Groh wie folgt auf den Punkt: „Ging es grundrechtsdogmatisch um die Trennung von Amtsbereich und privater Lebenswelt des Beamten, stand staatspolitisch die Frage nach der Zurechnung außerdienstlichen (Fehl-)Verhaltens im Raum: Die politische ,Neutralisierung‘ bzw. Mäßigung des Beamtentums übersetzte sich hier in den Vertrauensgewinn des krisengebeutelten Staates.“ Groh, Weimarer Staatsrechtslehre, S. 209. 187 Vgl. Brecht, VGA, S. 326: „Trotzdem ist allen Beamten im allgemeinen zu raten […]“. Die an dieser Stelle bezeichnende Hervorhebung von Brecht bezieht sich auf den vorangegangenen Satz, in dem nur von den politischen Beamten die Rede war. 188 Eine Parallele zeigt sich hier zu dem wie Brecht im Jahr 1933 emigrierten Rechtswissenschaftler Karl Loewenstein, auf den das Konzept der wehrhaften Demokratie zurückgeht – ein Begriff, der trotz der inhaltlich ähnlichen Ausrichtung bei Brecht allerdings nicht fällt. Vgl. Loewenstein, Karl: Militant Democracy and Fundamental Rights, in: APSR 31, 1937, S. 417 – 432 u. 638 – 658. – Über Loewenstein: Lang, Markus: Karl Loewenstein. Transatlantischer Denker der Politik, Stuttgart 2007. 189 Siehe dazu Brecht, Nähe, S. 343 ff sowie Brecht, Rathenau. Über die Ermordung Rathenaus schreibt Brecht in seiner Autobiographie: „So wurde Rathenaus ,Beseitigung‘ zum Schulbeispiel jener Art des Denkens und Handelns und jenes Mangels an Widerstand, die später ihren allgemeineren Ausdruck unter den Nationalsozialisten fanden. Erzbeger war schon vor ihm umgebracht worden, und auch auf Scheidemann hatte es ein ernstliches Attentat gegeben. Mit Rathenau aber war zum erstenmal in Deutschland ein Jude in hervorragender Stelle ermordet worden, eben weil er ein Jude in hervorragender Stellung war.“ Brecht, Nähe, S. 386. 190 Zitiert nach Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, S. 291. Dieses Gesetz stellte eine Ergänzung zum bisherigen Reichsbeamtengesetz dar; vgl. ebd. sowie Wunder, Geschichte der Bürokratie, S. 118 f.
2. Verfassung, Verwaltung und Beamtentum
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Brecht kritisch dazu, daß auch dieser Zusatz im Reichsbeamtengesetz nicht weit genug gegangen sei: die mehrheitlich antidemokratische Haltung der Beamten blieb bestehen, „Eingriffe in die Zusammensetzung des Beamtenkörpers wurden auch in den Republikschutzgesetzen nicht gestattet“191. Mit diesen Positionen unterscheidet sich Brecht vom mehrheitlichen (Selbst-) Verständnis der Beamtenschaft in der Weimarer Republik. So galt etwa für den Deutschen Beamtenbund (DBB)192 der Grundsatz strikter parteipolitischer Neutralität – und zwar auch jenen Bestrebungen gegenüber, die der Republik feindlich gesonnen waren.193 Auch der Reichsbund der höheren Beamten (RhB)194, der nach dem Kapp-Putsch aus dem DBB ausgetreten war,195 und dem nach Angaben von Dieter Schütz „nahezu sämtliche höheren Beamten der Weimarer Republik geschlossen beitraten“196, stellte das Gebot der parteipolitischen Neutralität über den Schutz vor Verfassungsfeindlichkeit.197
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Brecht, Nähe, S. 394. – Brecht erklärt: „Es wurde dem Beamten auch jetzt nicht verboten, sich als Anhänger der Monarchie zu bekennen und für seine Ansicht öffentlich zu werben, obwohl er ein Beamter der Republik war. Er durfte es nur nicht ,gehässig‘ oder ,aufreizend‘ oder durch bewußte Lügen, Beschimpfungen oder Verächtlichmachung tun. Er konnte sogar weiter antirepublikanischen Vereinigungen angehören, wenn das nicht im Einzelfall mit seinen ihm anvertrauten besonderen amtlichen Aufgaben im Widerspruche stand.“ Ebd. 192 Zur Geschichte des DBB, der kurz nach der Novemberrevolution im Dezember 1918 gegründet wurde, vgl. Schütz, Dieter: Zwischen Standesbewußtsein und gewerkschaftlicher Orientierung. Beamte und Interessenverbände in der Weimarer Republik, Baden-Baden 1992, S. 32 ff. 193 Schütz weist darauf hin, daß diese Neutralität gefordert wurde, obwohl der DBB „sich in seinem Programm ausdrücklich der republikanischen Verfassung verpflichtet wußte“; er erklärt: „Das einzelne Mitglied wurde als politisch neutrales Wesen betrachtet, das sich ungeachtet seiner Parteizugehörigkeit den übergeordneten Standesinteressen verpflichtet fühlte.“ Vgl. Schütz, Standesbewußtsein, S. 244. 194 Vgl. dazu die sehr informative Studie von Rainer Fattmann: Bildungsbürger in der Defensive. Die akademische Beamtenschaft und der „Reichsbund der höheren Beamten in der Weimarer Republik“, Göttingen 2001. 195 Vgl. dazu Schütz, Standesbewußtsein, S. 46 ff sowie S. 85 und Fattmann, Bildungsbürger, S. 147 ff. 196 Schütz, Standesbewußtsein, S. 86. Auch Fattmann konstatiert: „Die ganz überwiegende Zahl der akademischen Beamten schloß sich in der Weimarer Republik einer rein akademischen Beamtenvereinigung und damit mittelbar einem Berufsverband des RhB an.“ (Fattmann, Bildungsbürger, S. 167.) Nach seinen Berechnungen waren – je nach erhobenen Meßkriterien – zwischen rund 70 und 90 Prozent der höheren Beamten Mitglied im RhB. Ebd., S. 169 f. 197 Fattmann erläutert: „Der satzungsgemäße Zweck des Bundes lag in der Förderung der sozialen und wirtschaftlichen Interessen seiner Mitglieder. Parteipolitische und konfessionelle Bestrebungen sollten dabei ausgeschlossen sein.“ Ders., Bildungsbürger, S. 140. Und er fügt hinzu: „Der BhB/RhB verstand sich satzungsgemäß als parteipolitisch neutral. Offene Stellungnahmen für oder wider politische Parteien gab er Zeit seines Bestehens nicht ab.“ Ebd., S. 201.
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik
Die Haltung des überwiegenden Teils der Beamtenschaft gegenüber Republik und Demokratie läßt sich bestenfalls als vernunftrepublikanisch198 bezeichnen. Dies wird besonders deutlich in der Diskussion über den Eid auf die Verfassung, den die Beamten leisten mußten.199 Zwar wurde der Verfassungseid von den meisten Beamtenverbänden akzeptiert,200 doch vor allem deshalb, weil er so ausgelegt wurde, daß „sich die Treuepflicht des Beamten allein auf seine amtliche Tätigkeit“ erstrecke: „Außerhalb des Dienstes, wurde betont, sei es jedem Beamten unbenommen, sich auf legalem Weg für eine Umgestaltung der Konstitution zu engagieren. Keineswegs greife die verlangte Eidesleistung in die den Staatsdienern verfassungsmäßig verbrieften Rechte auf Meinungsfreiheit und freie staatsbürgerliche Betätigung ein.“201
Brechts Mahnung sticht vor diesem Hintergrund also deutlich heraus. Denn es zeigte sich, daß sich „die den Beamten abverlangte Treue gegenüber Republik und Demokratie […] allein auf die passive Gehorsamsbereitschaft der Beamtenschaft gegenüber der legalen Gewalt erstreckte; ein darüber hinausgehendes, aktives Eintreten der höheren Beamten für die Republik konnte nach Ansicht des Spitzenverbandes nicht verlangt werden“202. Eines der Hauptprobleme im Beamtenrecht sah Brecht darüber hinaus in der Garantie der sog. „wohlerworbenen Rechte“ der Beamten. Ein Staatslexikon von 1932 definiert diese Rechte als „alle subjektiven Befugnisse, die den Beamten auf 198 Zum Begriff des Vernunftrepublikanismus vgl. etwa den Sammelband von Wirsching, Andreas/Eder, Jürgen (Hg.): Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008. 199 Vgl. Art. 176 WRV. Hier wurde festgelegt, daß Näheres durch Verordnung des Reichspräsidenten bestimmt wird. In der Verordnung von Reichspräsident Ebert vom 14. August 1919 heißt es dazu in Artikel 1: „Alle öffentlichen Beamten und Angehörigen der Wehrmacht sind unverzüglich auf die Verfassung des Deutschen Reichs zu vereidigen, und zwar leisten 1. die Reichsbeamten den Eid: ,Ich schwöre Treue der Verfassung, Gehorsam den Gesetzen und gewissenhafte Erfüllung meiner Amtspflichten.‘ 2. alle übrigen öffentlichen Beamten den Eid: ,Ich schwöre Treue der Reichsverfassung.‘ […]“ RGBl 1919, Nr. 153, S. 1419 – 1420. 200 Eine Ausnahme stellte der Berufsverein höherer Verwaltungsbeamter dar, ein Unterverband des BhB, der die Eidesformel mit der Begründung ablehnte, daß die Rechte des Beamtenstandes dadurch beschnitten würden. Vgl. dazu Fattmann, Bildungsbürger, S. 190. 201 Fattmann, Bildungsbürger, S. 190. 202 Fattmann, Bildungsbürger, S. 191. Anders verhielt es sich mit dem 1922 gegründeten Allgemeinen Deutschen Beamtenbund (ADB), der „sozialdemokratisch und eindeutig gewerkschaftlich“ ausgerichtet war (Schütz, Standesbewußtsein, S. 11). Zwar galt auch hier offiziell das Gebot der parteipolitischen Neutralität, doch wurde es „völlig anders ausgelegt als im DBB“; so machte der ADB aus seiner „Ablehnung des kapitalistischen Wirtschaftssystems“ und der Nähe zur Sozialdemokratie kein Hehl (ebd., S. 251). Dabei ist allerdings zu beachten, daß der DBB die weitaus größere Organisation als der ADB war und bis zum Ende der Weimarer Republik die meisten Mitglieder zählte (vgl. ebd., S. 85 ff). Es ist nicht davon auszugehen, daß Brecht dem ADB oder einem anderen gewerkschaftlich ausgerichteten Beamtenverband angehörte, da dies seinem Verständnis von parteipolitischer Enthaltsamkeit des Beamten widersprochen hätte und sein Einsatz gegen Republikfeindschaft nichts mit parteipolitischen Agitationen zu tun hatte.
2. Verfassung, Verwaltung und Beamtentum
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Grund des Beamtenverhältnisses gegen den Staat, die Gemeinde usw. zustehen“203. Neben dem Recht auf „lebenslängliche Anstellung und Unkündbarkeit“204 gehörten vermögensrechtlich dazu „die Ansprüche auf Gehalt, Ruhegehalt, Unfallfürsorge und Hinterbliebenenfürsorge“205. Zu den wohlerworbenen Rechten „nichtvermögensrechtlicher Natur“ zählten „das Recht auf Amtsbezeichnung, Rang und Titel“ sowie der Urlaubsanspruch.206 Verfassungsrechtlich garantiert wurden die wohlerworbenen Rechte in Artikel 129, Abs. 1 WRV, in dem es heißt, daß diese „unverletzlich“ seien. Als Legitimation dieser Rechte führt Schorn 1932 an: „Die verfassungsrechtliche Sicherung der wohlerworbenen Rechte der Beamten ist aus staatspolitischen Gründen geboten; denn die Gewährleistung eines Berufsbeamtentums bedeutet die stärkste Stütze des Staates und damit eine Garantie für Ordnung und Wohlfahrt des Volkes. Sie ist anderseits das aus Gerechtigkeitsgründen heraus gebotene Gegenstück zu dem ernsten und schweren Pflichtenkreis, in den der Beamte dem Staat gegenüber gestellt ist, dessen erster und treuester Diener er sein muß.“207
Eng verknüpft mit der Berufung auf die wohlerworbenen Rechte war das auch in diesem Zitat sichtbar werdende Staatsverständnis der Beamtenschaft. Kennzeichnend war ein „etatistisches Grundverständnis“208, nach dem die Beamtenschaft die Rolle eines „über bzw. jenseits aller gesellschaftlichen Interessen- und Klassenkonflikten stehenden Sachwalters des allgemeinen Wohls oder […] des Staatswohls“209 übernahm. Ein ausgeprägtes Standesdenken führte dazu, daß die „Partikularinteressen der Beamtenschaft mit den Interessen des Staates“ gleichgesetzt wurden; die Beamten betrachteten sich dabei „nicht allein als ,Stand im Staate‘, sondern als ,Stand des Staates‘“.210 Der Staat müsse berücksichtigen, so heißt es in dem bereits zitierten Lexikonartikel, „daß der Beamtenkörper die Stütze des Staates bedeutet und daß nur ein wirtschaftlich gesundes Beamtentum das Funktionieren der
203 Schorn, H.: Wohlerworbene Rechte, in: Sacher, Hermann (Hg.), Staatslexikon. Bd. 5, Freiburg i.Br. 1932, S. 1423 – 1426 (1423). 204 Isensee, Josef: Beamte, in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft. Erster Band, hrsg. v. der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., Freiburg i.Br. u. a. 1985, S. 584 – 600 (585). 205 Schorn, Wohlerworbene Rechte, S. 1424 (im Orig. Wort abgekürzt). 206 Schorn, Wohlerworbene Rechte, S. 1425 (im Orig. Wort abgekürzt). Kritisch bemerkt Fattmann, daß der RhB sich damit nicht begnügte, sondern zu den wohlerworbenen Rechten auch „sämtliche jeweils der Beamtenschaft gewährten Vergünstigungen“ zählte und eine Rechtsauffassung vertrat, nach der „jeder Eingriff in einen einmal geschaffenen Besitzstand der Beamten nur mit verfassungsändernder Mehrheit erfolgen könnte“. Fattmann, Bildungsbürger, S. 182. 207 Schorn, Wohlerworbene Rechte, S. 1426 (im Orig. einige Wörter abgekürzt). 208 Fattmann, Bildungsbürger, S. 192. 209 Fattmann, Bildungsbürger, S. 180. Vgl. dazu auch Schütz, Standesbewußtsein, S. 203. 210 Fattmann, Bildungsbürger, S. 180 f.
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik
Staatsmaschine gewährleistet“211. Aus dieser „Standesideologie“212 heraus entwickelte die Beamtenschaft ihren Anspruch auf eine gesellschaftliche Sonderstellung. An vorderster Stelle standen hierbei die wohlerworbenen Rechte, die zu erhalten von so großer Relevanz für die Beamten war, daß ihr Einsatz für diese Rechte „geradezu irrational[e]“213 Züge trug. Konstitutiv war für die Beamtenschaft „ein ethisch überhöhtes Selbstverständnis des Beamtentums“214, das nicht nur zu einer privilegierten Stellung, sondern auch zu gesellschaftlicher Isolation führte und den Verlust an Popularität nach sich zog.215 Gleichwohl beharrte die Beamtenschaft auf ihrer gesellschaftlichen Sonderrolle und sah darin sogar die Grundlage ihrer Existenz. Eng daran gekoppelt war ihre Auslegung der parteipolitischen Neutralität, die durch eine „selektive Verfassungsbezogenheit“ charakterisiert war, indem die Ver211 Schorn, Wohlerworbene Rechte, S. 1425 (im Orig. einige Wörter abgekürzt). – In eine ähnliche Richtung gehen die Betrachtungen des DBB-Vorsitzenden Flügel von 1922, den Schütz mit den folgenden Worten zitiert: „Wer sein lebenlang im Dienste des Staates steht, wessen Geschick ein ganzes Menschenalter hindurch mit dem Geschick des Staates verknüpft ist, hat ein besonderes Interesse am Bestande und am Wohlergehen des Staates. Er ist im besten Sinn staatserhaltendes und staatsbejahendes Element.“ Schütz, Standesbewußtsein, S. 203. 212 Fattmann, Bildungsbürger, S. 234. 213 Schütz, Standesbewußtsein, S. 211. 214 Fattmann, Bildungsbürger, S. 179. Fattmann zitiert an dieser Stelle Ernst Scholz, den Bundesvorsitzenden des BhB, dessen Argumentation so bezeichnend für das ihr zugrundeliegende Selbstbild der Beamtenschaft ist, daß sie auch hier wiedergegeben werden soll: „Volk: Eine Gemeinschaft von Menschen, die unter ähnlichen Lebensbedingungen, gleichen Sitten und gemeinsamer Sprache leben und leben wollen. Staat: Der äußere Ausdruck dieses Gemeinschaftswissens. Der Beamte: Selbst ein Teil des Volkes, ihm zugehörig in Freud und Leid, alles passiv mit ihm empfindend, was dem Volke an Glück oder Unglück beschieden ist. Aber hinausgehoben über das Volk dadurch, daß er berufen ist, in aktiver Tätigkeit die Geschicke des Staates zu lenken, herausgehoben insbesondere dadurch, daß Inhalt und Zweck seines Daseins nicht das eigene kleine Ich, sondern die Fürsorge für die Gesamtheit des Staates, für das gemeine Wohl ist.“ Scholz, zit. nach Fattmann, Bildungsbürger, S. 179. 215 Vgl. Fattmann, Bildungsbürger, S. 208 ff. Die scharfe Polemik Kurt Tucholskys auf die „Beamtenpest“ mag ein Beispiel für die Kritik an der Beamtenschaft liefern: „Um zu verstehen, wie der Beamtenapparat in großen und kleinen Staaten arbeitet, muß man sich vergegenwärtigen, wie der einzelne dazu kommt, Beamter zu werden. Er wird es natürlich nicht, weil er den Staat bejaht, oder weil er es gar nicht ertragen kann, wenn er seine Kraft nicht dem öffentlichen Wohl zur Verfügung stellt – oder was man so sagt. Er wird Beamter, um versorgt zu sein – um so unabhängig und verantwortungslos wie möglich zu arbeiten, und um regelmäßig ein sicheres Gehalt zu beziehen. […] Der auf uns lastende Beamtenturm verdient einen Tritt, daß es kracht. […] Die wohlerworbenen Rechte der deutschen Beamten sind ein schweres Unrecht am Volk, und wenn sie schlecht bezahlt werden, was der Fall ist, so möge man sich sagen, daß sie für das, was sie wirklich Nutzbringendes leisten, in den allermeisten Fällen noch überbezahlt werden. […] Die Beamtenpest vergiftet die Staaten, die ihren Hauptzweck immer mehr in ihrem eignen Mißbrauch erblicken. Sie schaffen Schwierigkeiten, die sie nachher vielleicht gnädig auflösen, und erreicht ist gar nichts. Man sehe sich eine beliebige Anzahl Menschen an – wie viele sind darunter, die etwas tun? bewirken? Neues in die Welt setzen? Wer produktiv ist, das steht dahin. Wer es aber nicht ist, das liegt klar zutage: eine Beamtenschaft in Staat und Gewerbe, deren einzige Existenzberechtigung darin liegt, daß sie daran glaubt, eine zu haben.“ Tucholsky, Kurt: Die Beamtenpest (1928), in: ders., Gesammelte Werke. Band 6, 1928, Reinbek 1995, S. 271 – 285 (275 ff).
2. Verfassung, Verwaltung und Beamtentum
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fassung „fast ausschließlich unter dem Blickwinkel der in ihnen garantierten Beamtensonderrechte“ interpretiert wurde.216 Vor diesem Hintergrund muß Brechts Kritik erstaunen, denn sie richtet sich gegen das höchste und für die meisten Beamten unantastbare Gut der Beamtenschaft. In seinen Erinnerungen bezeichnet er die wohlerworbenen Rechte als „höchst eigentümliches ,Grundrecht‘, ganz außerhalb des geschichtlichen und ideologischen Zusammenhangs der unveräußerlichen Menschenrechte“217. In einem Brief an Eberhard Pikart erklärt er die daraus erwachsene Problematik so: Die „erworbenen Rechte einschliesslich der lebenslangen Anstellung“ seien „unter der einzigen Voraussetzung“ garantiert worden, „dass sie den Eid auf der Verfassung leisteten“ – dies allerdings habe nur bedeutet, „dass sie die Verfassung nicht verletzen würden, nicht dass sie sie billigten“. Die Folgen waren aus Brechts Sicht verhängnisvoll: „In dieser Weise eine neue demokratisch-republikanische Ordnung sinnvoll mit Leben zu erfüllen, nicht nur rein äusserlich die Gesetze zu erfüllen, sondern die rechten Gesetze und Verwaltungsmassnahmen vorzubereiten, produktive Einfälle zu haben und durchzuführen, war ein Ding der Unmöglichkeit.“218
Ob Brecht bereits in der Weimarer Republik diese Auffassung hegte oder erst nach 1945 dazu gelangte,219 läßt sich an dieser Stelle aufgrund des wenigen Materials, das Aufschluß darüber geben könnte, zwar nicht eindeutig bestimmen. Doch eine eher beiläufige Bemerkung Brechts im Prozeß vor dem Staatsgerichtshof legt die Vermutung nahe, daß er diese Einrichtung des Beamtenrechts nicht erst nach dem Krieg – und auch nicht erst nach seiner Emigration in die USA, wo er völlig andere Verhältnisse und Strukturen des Beamtentums kennenlernte – kritisch betrachtete. So äußert er in einem Nebensatz Zweifel an der Wichtigkeit der wohlerworbenen Rechte 216
Fattmann, Bildungsbürger, S. 234. Brecht, Nähe, S. 380. – Siehe dazu auch Hattenhauer, Hans: Geschichte des deutschen Beamtentums, Köln 1980, S. 347. 218 Arnold Brecht an Eberhard Pikart, New York, 9. 1. 1956, BAK, NLB, N 1089/23. (Reine Tippfehler im Original hier korrigiert, H.B.) 219 Eine verfassungsrechtliche Garantie für die wohlerworbenen Rechte findet sich im Grundgesetz nicht mehr. Die Beibehaltung des Berufsbeamtentums wird allerdings durch Art. 33 Abs. 5 GG gewährleistet, der beinhaltet: „Das Recht des öffentlichen Dienstes ist unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln.“ In einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. 12. 1953 heißt es dazu: „Art. 33 Abs. 5 GG stellt nicht – wie Art. 129 WRV – wohlerworbene Rechte der Beamten unter Verfassungsschutz; er gewährleistet das Berufsbeamtentum als Einrichtung insoweit, als es sich in seiner hergebrachten Gestalt in den Rahmen unseres heutigen Staatslebens einfügen läßt.“ BVerfGE 3, 58 (58 f). Vgl. auch BVerfGE 8, 332 vom 2. 12. 1958. Zur Auslegung des Grundgesetzartikels vgl. den Kommentar von Maunz, Theodor/Dürig, Günter: Grundgesetz. Kommentar, 53. Aufl., München 2009, Art. 33, Rn. 43 – 83, online unter: http://beck-online.beck.de, aufgerufen am 10. 8. 2011. Siehe dazu auch Niethammer, Lutz: Zum Verhältnis von Reform und Rekonstruktion in der US-Zone am Beispiel einer Neuordnung des öffentlichen Dienstes, in: ders., Deutschland danach. Postfaschistische Gesellschaft und nationales Gedächtnis, hrsg. v. Ulrich Herbert u. a., Bonn 1999, S. 368 – 379 (373 ff). Zu Brechts Kritik an der Reform des öffentlichen Dienstes nach 1945 Kapitel II.2.b). 217
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik
und stellt immerhin die Frage in den Raum, ob deren verfassungsrechtlich garantierte Unantastbarkeit tatsächlich nötig sei.220 Seine Kritik an den Privilegien der Beamtenschaft ist nun allerdings nicht dahingehend zu verstehen, daß er den Beamten als gesellschaftlich bedeutungslos betrachtet; im Gegenteil mißt er der Funktion des Beamten eine hohe Relevanz bei. Für ihn verkörpert der Beamte ein Ideal, das für alle Mitglieder der Gesellschaft erstrebenswert ist. In seinen Erinnerungen erklärt er: „Meine damaligen Auffassungen über Beamtentum schwankten zwischen zwei Bildern: dem des ,Bürokraten‘, pedantisch, beschränkt, ohne Initiative, dabei eitel und stark beschäftigt mit Standesfragen, Gehaltsfragen, Beförderungsfragen; und dem eines Menschen, der sich bewußt ist, daß er eine Funktion im Leben der Gemeinschaft zu erfüllen hat, der seine Pflicht verläßlich und treu bei jedem Wetter tut, für den sein Pflichtbewußtsein das ist, hinter dem alles andere zurückstehen muß, zu dessen Pflichten auch Initiative und Mut gehören, aber beides nicht im eigenen Interesse, sondern in dem der Gemeinschaft.“221
Voraussetzung für diese Initiative des Beamten – ein Wort, das bei Brecht gleichsam als Schlüsselbegriff für das Verständnis von Verwaltung fungiert222 – und zugleich Bedingung für den Erfolg der geplanten Verwaltungsreform ist aus seiner Sicht „der gute Wille zur Zusammenarbeit“223. Mahnend ruft Brecht in seinem Vortrag in der Berliner Verwaltungs-Akademie aus: „Der Staat und die Verwaltung bist du!“224 Dieses Pathos ist für die meisten seiner Schriften ebenso charakteristisch wie die mitunter fast schon pedantisch anmutende Akribie, mit der Brecht – ganz unpathetisch – jedes kleinste Detail des Verwaltungsablaufs – und später auch der Wis220 Vgl. Brecht: PcR, S. 324; siehe auch Kapitel I.3.a). In seinem Vortrag über die Verwaltungsreform deutet Brecht an, daß in der Frage der Reform des Beamtentums „auch die Verfassung mit diesen Dingen viel Berührung hat“ und hier z. B. an die wohlerworbenen Rechte zu denken sei. Brecht, Verwaltungsreform, S. 81. Weitere Erläuterungen finden sich dazu jedoch nicht; es gibt auch darüber hinaus keine Publikation aus der Zeit der Weimarer Republik, in der Brecht sich mit diesen Fragen auseinandersetzt. 221 Brecht, Nähe, S. 433. 222 Sehr eindrücklich beschreibt Brecht dies mit einem Gleichnis, in dem er das „Schicksal des Beamten“ mit jenem eines Sprungtiers vergleicht, das für einen „Tischzirkus“ abgerichtet werden soll und infolgedessen lernen muß, seine Sprungkraft zu reduzieren. Vgl. Brecht, Verwaltungsreform, S. 90 f. 223 Brecht, Verwaltungsreform, S. 87 (im Orig. hervorgehoben). – Dieser Aufruf ist wohl auch vor dem Hintergrund der zahlreichen Konflikte innerhalb der „großen Beamtenbünde“ zu sehen, auf die Brecht selbst hinweist. Vgl. ebd. sowie Fattmann, Bildungsbürger, S. 233. 224 Brecht, Verwaltungsreform, S. 87. Dies ist wohl als leichte Abwandlung des bekannteren Ausrufs – „Der Staat, das sind wir!“ – zu verstehen, der sich bei vielen Vertretern der demokratischen Staatsrechtslehre wiederfindet; vgl. etwa Anschütz, Gerhard: Drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1923, S. 30 f. Siehe dazu auch Groh, Weimarer Staatsrechtslehre, S. 214 sowie dies.: Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaates, Tübingen 2010, S. 60.
2. Verfassung, Verwaltung und Beamtentum
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senschaft – zu definieren und zu regeln versucht.225 Es kommen zwei Seiten zum Vorschein, die Brechts Bild von der Verwaltung bestimmen; so läßt es sich weder allein auf eine nüchterne Verwaltungstechnik noch ausschließlich auf politisches Pathos reduzieren. Die strikte Trennung indes, die Brecht zwischen der Welt des Denkens und der Gefühlswelt vollziehen will,226 bleibt auch hier ein überhöhter Selbstanspruch, den er nicht einzuhalten vermag. Und so bildet die darin sichtbar werdende Diskrepanz zwischen dem Gebot der Neutralität auf der einen und der normativen Praxis auf der anderen Seite einen Grundwiderspruch, der das gesamte Werk Brechts durchzieht. Kathrin Groh macht darauf aufmerksam, daß aufgrund der inneren Widersprüchlichkeit der die Beamten betreffenden Artikel der Weimarer Reichsverfassung die „staatstheoretische Brisanz des ,Beamtendiskurses‘ […] in den Definitionen des Begriffs des ,Politischen‘“ lag.227 Das „Politische“ ist bei Brecht eng an die Staatsform der Demokratie gekoppelt. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß seine Neutralitätsvorstellung vom Beamtentum nicht eine Neutralität gegenüber der Demokratie einschließt, sondern im Sinne von Unparteilichkeit innerhalb der Demokratie zu verstehen ist.228 Damit unterscheidet sich seine Konzeption von den Präferenzen der konservativen Staatslehre, nach der die Staatsform eine untergeordnete Rolle spielte bzw. sogar bekämpft werden sollte, während der Staat an sich unbedingt zu bejahen sei.229 Kennzeichnend ist darüber hinaus die Initiativfunktion, die Brecht den Beamten zuschreibt. Der Beamte sollte nicht nur reagieren, sondern auch agieren; das aber heißt, daß die Verwaltung als vollziehende Gewalt gestalterische Funktion übernimmt, sie ist „aktive, in die Zukunft gerichtete Gestaltung“230. Unmittelbar damit verknüpft ist Brechts Erwartung an die Beamten, aktiv für die Demokratie einzu225 Dazu zählen auch die wenig pathosfähigen Themen, mit denen er sich später als „Vertreter Preußens im Reichsrat mit der besonderen Zuständigkeit für Finanz- und Haushaltsfragen“ auseinandergesetzt hat (Holste, Reichsreform, S. 63): Vgl. etwa sein „Gutachten über die Ersparnismöglichkeiten in der Produktion und im Absatz ostelbischer und mitteldeutscher Braunkohlenbriketts“ (1928) oder die „Vergleichstabellen der Ausgaben des Staates Preußen, getrennt nach Zwecken für 1929 und 1930“ (1930). 226 In seinen Erinnerungen gibt er vor, diese Trennung auch stets konsequent vollzogen zu haben. Vgl. Brecht, Nähe, S. 43 u. a. 227 Groh, Weimarer Staatsrechtslehre, S. 198. 228 Vgl. zu dieser Differenz auch Groh, Weimarer Staatsrechtslehre, S. 198 f. 229 Groh erklärt: „Der Staat an sich mußte uneingeschränkt bejaht werden, während die Staatsform auch abgelehnt werden durfte. In zugespitzter Form, die den konkreten Staat ebenso dekontextualisierte wie dekonstruierte, hieß dies nach antidemokratischer Lesart sogar, daß je entschiedener der Beamte die Staatsform der Republik ablehnte und bekämpfte, er den deutschen Staat umso mehr bejahte.“ Groh, Weimarer Staatsrechtslehre, S. 205 f. 230 So die Definition von Hartmut Maurer, die – obwohl nicht auf ihn bezogen – in diesem Punkt deckungsgleich mit Brechts Verwaltungsverständnis ist. Vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 5. Bemerkenswert ist, daß in Einführungswerken der neueren Verwaltungsliteratur zur Charakterisierung der Verwaltung auch der Begriff der Initiative fällt. Vgl. ebd., S. 5 f sowie Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 229 f.
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treten. Auch in dieser Hinsicht war er seiner Zeit weit voraus, denn erst das Grundgesetz der Bundesrepublik und das 1953 erlassene Bundesbeamtengesetz forderten eine „politische Treupflicht“ gegenüber der Demokratie, die zugleich eine Distanzierung von verfassungsfeindlichen Bestrebungen beinhaltete.231 Neben seinem Aufruf an die Beamtenschaft, Initiative zu übernehmen – und das bedeutet eben auch: für die Staatsform der Demokratie einzustehen –, entwickelte Brecht darüber hinaus eine Art demokratische Tugendlehre. So sah er ein Ziel der Beamtenschaft im Innenministerium in der „Erziehung des deutschen Bürgertums durch Vorbild, Schrift und Rede, Gedenkfeiern, Symbole und durch öffentliche Diskussionen, die auf hoher geistiger Ebene geführt werden sollten, zu einem tieferen Verständnis der zeitgeschichtlichen Vorgänge und zur positiven Mitwirkung in der Politik“232. Daß dies bisher nur unzureichend geschehen sei, führt Brecht auf einen Mangel an „Initiative“ im Innenministerium zurück. Es müsse „eine aktivere Rolle in der Neugestaltung des staatlichen Lebens übernehmen […], um dem deutschen Volk die Ideale und den Sinn der demokratischen Institutionen nahezubringen, der Demokratie Freunde zu gewinnen und sie gegen ihre Gegner geistig und, wenn nötig, physisch zu verteidigen“. Notwendig sei hierfür „[s]chöpferische Phantasie“ – eine Eigenschaft, die dem Innenministerium bislang gefehlt habe.233 Erneut wird damit deutlich sichtbar, daß Brecht den Beamten eine erzieherische Funktion für Staat und Gesellschaft zuschreibt. Von diesem Beamtenbild rückt er auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht ab. So beschreibt er 1958 die Beamten als „wissende Mahner“, die „durch ihr Verhalten geradezu Erzieher zur Demokratie“ werden könnten. Sie seien „Vorbilder wahrer Hingabe, nicht an irgendeine […] ,Masse‘, sondern an die Gemeinschaft freier, politisch gleichberechtigter, anständiger, verantwortlicher Menschen; nicht an den unpersönlichen Begriff des ,Staates‘ im jeweiligen Sinne eigener Ideale (die vielleicht ganz undemokratisch sind), sondern an den Dienst für die demokratischen Ideale selbst […].“234
Darin zeigt sich also wiederum eine starke Kontinuität im Brechtschen Werk. 231
Vgl. dazu Isensee, Beamte, S. 591. Zum Deutschen Beamtengesetz von 1950, das durch das spätere Bundesbeamtengesetz ersetzt wurde: Niethammer, Reform und Rekonstruktion, S. 373 ff. 232 Brecht, Nähe, S. 370. – Es kann davon ausgegangen werden, daß die Formulierung dieser löblichen Erziehungsideale nicht einer nachträglich schöngefärbten Rückprojektion seiner Erinnerungen geschuldet ist, sondern tatsächlich bereits in der Weimarer Republik Ausdruck seiner Wertvorstellungen war. Das legen viele seiner in diesem Zeitraum verfaßten Schriften nahe. Vgl. etwa die folgenden Titel von Brecht: Verwaltungsreform; PuG; GO Büroreform; Gedenken an Walther Rathenau (1928). 233 Brecht, Nähe, S. 370. Etwas später bekräftigt er: „Meine leitende Absicht blieb, die Geschäfte nicht einfach in passiver Haltung treiben zu lassen, sondern überall die Initiative zu übernehmen und schöpferische konstruktive Arbeit im Sinne idealer Demokratie zu leisten.“ Ebd., S. 412. 234 Brecht, Bürokratie, S. 333.
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Doch welches Verständnis von Verwaltung liegt jenem des Beamtentums zugrunde? Welche Idealvorstellungen formuliert Brecht hier, und welches Bild zeichnet er von der Verwaltung? In der Darlegung seiner Erkenntnisse, die er als Beamter über das Wesen der Verwaltung gewonnen hat, fällt zunächst zweierlei auf: Auf der einen Seite gelangt er zu Schlußfolgerungen, die nach seiner Auffassung unmittelbare Bedeutung für die Stabilität des politischen Systems haben. So seien etwa die in der Verwaltung klar abgegrenzten Zuständigkeiten, also das Prinzip der Arbeitsteilung, bis heute „das Geheimnis einer guten Staatsorganisation“235. Auf der anderen Seite aber macht Brecht Aussagen, die weniger etwas mit einer politischen Systemanalyse als mit einem ausgeprägten schwärmerischen Idealismus zu tun haben.236 So legt er in seinem Vortrag über die Verwaltungsreform auch großen Wert darauf, an den Idealismus der Jugend- und Studentenjahre zu erinnern, der für ihn offensichtlich eine natürliche und unvermeidbare Episode im Leben eines jeden Beamten darstellt. Diese jugendlichen Ideale ließen sich zwar nicht „direkt in die Praxis übersetzen“, aber es sei wichtig, sich „immer der früheren Jahre“ zu erinnern und sie gleichsam zum Leitmotiv der Arbeit des Beamten zu erheben.237 Charakteristisch bleibt also auch hier sowohl ein ausgeprägter Pragmatismus als auch ein starker Idealismus, eine Ambivalenz hinsichtlich des Anspruchs auf Neutralität bei gleichzeitiger Forderung nach Normativität in der Umsetzung. So akribisch und pflichtbesessen Brecht seine Tätigkeit als Verwaltungsbeamter wahrnimmt, so beharrlich betont er in seinen Texten über Verwaltung und Beamtentum die Relevanz höherer Werte und Ideale – und zwar nicht nur für den Privatmenschen, sondern auch als Leitlinie für die praktische Arbeit des Verwaltungsbeamten. In seine Beschreibungen über das Wesen der Verwaltung trägt er somit etwas hinein, was man dort am wenigsten erwartet: eine Nähe zu allem Schöngeistigen und einen starken, mitunter schwärmerisch anmutenden Idealismus. 235 Brecht, Nähe, S. 376. – Brecht spricht sogar von einem regelrechten „Zuständigkeitszauber“, den er vor seinem Eintritt ins Innenministerium nicht gekannt habe. Vorherrschend seien sowohl ein „Zuständigkeitsstolz“ als auch die Notwendigkeit zur „Zuständigkeitsbeschränkung“ gewesen. Vgl. ebd., S. 375 f. – Nicht von ungefähr kommt Brecht auf die Relevanz der Festlegung von Zuständigkeiten zu sprechen; die so vollzogene Arbeitsteilung gilt gegenüber der vormodernen Verwaltung, die dieses Prinzip nicht kannte, als ein Merkmal der bürokratischen Verwaltung. Vgl. Ellwein, Dilemma, S. 8 f, 19 und 85. 236 Charakteristisch ist etwa das folgende Zitat (Brecht, Verwaltungsreform, S. 82): „Der mathematische Grundsatz, daß der gerade Weg der kürzeste zwischen zwei Punkten ist, ist nicht unbedingt richtig. Er gilt nicht für die Psychologie, nicht für die Liebe, nicht für die Kriegführung – und auch nicht für die Verwaltung. Wer auf dem geraden Weg besteht, stößt sich oft den Kopf an der Wand ein und kommt nie ans Ziel. Notwendig ist trotz aller Umwege ein zähes Festhalten an dem Ziel, das, was wir Charakter in unseren Bestrebungen nennen. […] Nachher erscheint es einem gar nicht so lang für das Erreichte, denn die Weltgeschichte ist lang und es lohnt.“ – Diese bemerkenswerte Analogie von Liebe, Kriegführung und Verwaltung ist nur eines von vielen Beispielen für die hier explizierte Eigenart in Brechts Werk. 237 Brecht, Verwaltungsreform, S. 82.
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Auffällig ist darüber hinaus, daß sich Brecht an keiner Stelle des in der Verwaltungsliteratur sonst häufig verwendeten, mit negativen Assoziationen behafteten Bildes von der Verwaltung als unpersönlicher und bürokratischer Maschine bedient.238 Ebensowenig findet sich bei ihm das positive Pendant, eine „Rationalisierungs-“ oder „Maschineneuphorie“239 ; der Begriff der Maschine, mithin eine „mechanische Metaphorik“240, taucht bei ihm zunächst überhaupt nicht auf. Neben seinem ausgeprägten Hang zum Schöngeistigen läßt sich Brechts Bild von der Verwaltung eher – zumindest auf Grundlage der in diesem Abschnitt ausgewerteten Texte – als „organische Metaphorik“241 beschreiben.242 Während Gunther Mai in seinem Aufsatz über die Rationalisierungsdiskurse der 1920er Jahre die kulturpessimistische „Rückkehr zu einer mythologisierten agrarischen Ganzheitlichkeit“ als Reaktion auf das starke „Ausgreifen der Maschine in immer weitere Bereiche der Gesellschaft, […] gar der Innerlichkeit und der ,Seele‘“ und die durch sie bewirkte „Entfremdung“ beschreibt,243 scheint für Brecht überhaupt kein Gegensatz zwischen dem Wesen der Verwaltung und den Bedürfnissen der „Seele“ zu bestehen. Ganz im Gegenteil ist gerade das reibungslose Funktionieren der Verwaltung, allem voran seine unten erläuterte Geschäftsordnung, die Bedingung dafür, daß der Mensch die Freiheit erlangt, „seelisches Leben aufzuwecken“244. „Jede Verwaltung hat ihren Geist“, bemerkt Brecht in seiner Autobiographie.245 Eine nach seinen Begriffen „geistvolle“ Verwaltung ist, so ließe sich zusammenfassen, also dann gegeben, wenn sie getragen wird von einem „initiativen“ Beamtentum, mit Hilfe dessen sie „schöpferische“ Wirkung entfalten kann.246 Es stellt sich die Frage, inwieweit Brechts Vorstellung von den Fähigkeiten und Möglichkeiten des Beamten realistisch ist. Daß die Beamtenschaft als Erzieher der Gesellschaft fungieren soll, setzt voraus, daß sie auch die dafür notwendige gesellschaftliche Relevanz und Fähigkeit zur Einflußnahme hat. Mit dieser Einschätzung unterscheidet sich Brecht nicht von dem zeitgenössischen Selbstverständnis der Beamtenschaft; auch Brecht stellt nicht in Rechnung, daß die Beamtenschaft in 238 Vgl. dazu Anter, Andreas: Verwaltung und Verwaltungsmetaphorik. Der lange Weg der Maschine, in: Collin, Peter/Lutterbeck, Klaus-Gert (Hg.), Eine intelligente Maschine? Handlungsorientierungen moderner Verwaltung (19./20. Jh.), Baden-Baden 2009, S. 25 – 46. 239 Anter, Verwaltung, S. 32 sowie Mai, Gunther: Politische Krise und Rationalisierungsdiskurs in den zwanziger Jahren, in: Technikgeschichte 62, 1995, S. 317 – 332 (323). 240 Anter, Verwaltung, S. 28. 241 Anter, Verwaltung, S. 28 u. a. 242 An anderer Stelle zeigt sich allerdings, daß eine eindeutige Zuweisung der einen oder der anderen Metaphorik nicht möglich ist. Vgl. dazu Kapitel I.2.b) über Brechts Geschäftsordnung. 243 Mai, Politische Krise, S. 327. 244 Brecht, Nähe, S. 442. 245 Brecht, Nähe, S. 425. 246 Vgl. Brecht, Nähe, S. 425.
2. Verfassung, Verwaltung und Beamtentum
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weiten Teilen der Gesellschaft höchst unpopulär war und es allein schon aus diesem Grund unwahrscheinlich ist, daß sie sich von Beamten würde „erziehen“ lassen. Eine erhebliche Differenz gegenüber der Mehrheit der Beamtenschaft besteht jedoch im Hinblick auf die von Brecht geforderte Verfassungstreue und Einsatzbereitschaft für die Demokratie. Auch hier ist allerdings zu fragen, ob Brechts Einschätzung realistisch ist, daß die von ihm beschworene Initiative, die gleichsam in die Gesellschaft wirken soll, von den Beamten ausgehen muß und also auch kann. Folgt man dem Beamtenbild Max Webers, so ist es der „Stolz“ des Beamten, „die Unparteilichkeit zu hüten und also: seine eigenen Neigungen und Meinungen überwinden zu können, um gewissenhaft und sinnvoll durchzuführen, was allgemeine Vorschrift oder besondere Anweisung von ihm verlangen“247. Vergleicht man dies mit Brechts Überlegungen, so läßt sich kaum feststellen, daß sich seine Vorstellungen von Beamtentum und Verwaltung auf diese Eigenschaft beschränken ließen. Neben den dem Beamten zugewiesenen Leitwerten wie „Pflichtgefühl“, „Sachlichkeit“ und der „Kraft der Beherrschung organisatorischer Probleme“248, die für Brecht auch maßgebend sind, zeichnet sich sein Verwaltungs- und Beamtenbild vor allem dadurch aus, daß es eng an die Staatsform der Demokratie gekoppelt ist. In der Aufforderung an die Beamten, sich für die Demokratie einzusetzen, drückt sich ein starker Idealismus aus, der dadurch verstärkt wird, daß er ihnen darüber hinaus eine erzieherische Funktion zuweist. Gleichzeitig weiß Brecht, daß dies unter Umständen nicht ausreicht und institutionelle Schutzvorkehrungen getroffen werden müssen, um die langfristige Stabilität der Demokratie zu sichern. Er kann somit als einer der Wegbereiter der wehrhaften Demokratie gelten. „Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit.“249
b) Rationalisierung und Formalisierung: Die Gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien 1961 bekennt der damalige Archivamtmann des Bundesarchivs Rudolf Schatz in einem Brief an Brecht, daß er ihm mit seinem im selben Jahr veröffentlichten Buch über „Behördenschriftgut“250 „ein, wenn auch bescheidenes, spätes Denkmal zu setzen“ beabsichtigt habe. Schatz nimmt dabei Bezug auf die Büroreform der 1920er Jahre, als „deren Schöpfer und Initiator“ er Brecht bezeichnet und dessen Gedan-
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Weber, Parlament und Regierung, S. 351. Weber, Parlament und Regierung, S. 351. 249 Jhering, Rudolph von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 2. Teil, 2. Abteilung, 3. Auflage, Leipzig 1875, S. 471. 250 Schatz, Rudolf: Behördenschriftgut. Aktenbildung, Aktenverwaltung, Archivierung, Boppard am Rhein 1961. 248
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kengut Grundlage für die Grundtendenzen seines Buches gewesen sei. Mit großer Anerkennung schreibt Schatz: „Ich weiß nicht, mit welchen Gefühlen Sie, sehr verehrter Herr Dr. Brecht, nach alledem, was Ihnen vielleicht angetan worden ist, über Deutschland denken; ich hoffe, nicht mit allzu viel Bitterkeit. Doch wie es auch sei, ich könnte mir vorstellen, daß eine kleine Liebe noch immer Ihrem großen Werk, der GGOI vom Jahr 1926, und allem, was damit zusammenhängt, gilt.“251
Jenes „große Werk“, die Gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien (GGO I), fiel in eine Zeit, in der sich die öffentliche Verwaltung massiven Problemen gegenübergestellt sah. Infolge der Kriegswirtschaft 1914 bis 1918 war ihr Aufgabenbestand gewaltig gewachsen und ging auch nach der Revolution nicht zurück. Aus der Sicht von Eberhard Laux hängt dies mit der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts langsam sich vollziehenden „Etablierung des Verwaltungsbetriebes“ zusammen.252 Laux konstatiert für diesen Zeitraum einen „Wandel öffentlichen Verwaltens vom ordnenden zum gestaltenden und fürsorgenden Staat“253 und sieht die Ursachen für den auch nach dem Krieg nicht abbrechenden Aufgabenzuwachs der Verwaltung „nicht nur in der langwierigen administrativen Abwicklung der unmittelbaren Kriegsfolgen, sondern auch im Aufbau der leistenden Verwaltung des modernen Staates mit seiner vielfältig ordnenden, gewährenden und umverteilenden Einflußnahme auf die politische und ökonomische Entwicklung der Gesellschaft“.254
Reformbedarf entstand aufgrund des gewachsenen Schriftgutes, das zu ordnen organisatorische Schwierigkeiten in sich barg.255 Während die „Technik der Schriftgutherstellung“ immer ausgefeilter wurde, hatten die „Mittel und Methoden der Schriftgutverwaltung“ mit dieser Entwicklung nicht Schritt gehalten.256 Zu 251 Rudolf Schatz an Arnold Brecht, Koblenz, 10. 7. 1961, BAK, NLB, N 1089/16. – Brecht erachtet die Einschätzungen von Schatz als „Sehr interessant“; dies ist zumindest seinem handschriftlichen Vermerk zu entnehmen, der in der Kopfzeile des Briefes zu finden ist. In seiner Antwort zeigt sich Brecht erfreut, „dass auf diese Weise meine eigene Arbeit auf diesem Gebiete der Vergessenheit entzogen worden ist“. (Vgl. Arnold Brecht an Rudolf Schatz, 21. 11. 1961 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/16.) Diese Einschätzung muß allerdings als überhöht erscheinen, wenn man bedenkt, welch kleinen Adressatenkreis das Buch von Schatz hatte; er bemerkt in der Einleitung selbst, daß das Buch „für Behördenbedienstete und Archivare geschrieben“ worden sei – und so ist denn auch von sehr eigenen Themen wie der „genetische[n] Aktenkunde“ die Rede, die kaum das Interesse einer breiteren Leserschaft geweckt haben dürfte. Vgl. Schatz, Behördenschriftgut, S. 15. 252 Laux, Entwicklung des Verwaltungsbetriebs, S. 1090. 253 Laux, Entwicklung des Verwaltungsbetriebs, S. 1081. 254 Laux, Entwicklung des Verwaltungsbetriebs, S. 1090. 255 Vgl. Laux, Entwicklung des Verwaltungsbetriebs, S. 1086. 256 Vgl. Schatz, Behördenschriftgut, S. 2. – Schatz definiert die Schriftgutverwaltung einer Behörde als „das, was man mit einem älteren Ausdruck in Deutschland als Registratur bezeichnet“. Ihre Aufgabe sei es, „diesen schriftlichen Niederschlag – eingehende und dort ge-
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konstatieren war also ein „Bürokratiedefizit“, das sich besonders in den Mängeln der Büroorganisation bemerkbar machte.257 Vor diesem Hintergrund erging 1917 der Auftrag an das preußische Staatsministerium, mit Vorarbeiten für eine Umgestaltung der Verwaltung zu beginnen.258 Zu diesem Zweck wurde der Unterstaatssekretär und spätere Innenminister Bill Drews259 mit der Vorbereitung einer Verwaltungsreform beauftragt, der jedoch zunächst kein Erfolg beschieden war.260 Die zahlreichen Versuche, die Verwaltungspraxis zu modernisieren und zu vereinfachen, mündeten in eine umfassende „,Büroreform-Bewegung“261. Arnold Brecht spielte hierbei neben Drews und Hermann Haußmann262 eine maßgebende Rolle. 1922 wurde er von Innenminister Köster zum „Spezialkommissar für Vereinfachungsfragen“ im Innenministerium ernannt.263 1926 schließlich legte Brecht dem Reichskabinett die GGO I
fertigte Schriftstücke – aufzufangen, in eine zweckmäßige Ordnung zu bringen und seinen Verbleib nachzuweisen“. Ebd., S. 1. 257 Vgl. Collin, Peter: Ökonomisierung durch Bürokratisierung. Leitkonzepte und Umsetzungsstrategien in der tayloristisch beeinflußten Verwaltungsreformdebatte der Weimarer Republik, in: ders./Lutterbeck, Klaus-Gert (Hg.), Eine intelligente Maschine? Handlungsorientierungen moderner Verwaltung (19./20. Jh.), Baden-Baden 2009, S. 217 – 231 (217). – Ein besonderes Problem stellte hierbei das Registraturwesen dar, für dessen Abschaffung in seiner bisherigen Form Brecht plädierte. Vgl. Brecht, GO Büroreform, S. 22 ff sowie Menne-Haritz, Angelika: Geschäftsprozesse der Öffentlichen Verwaltung. Grundlagen für ein Referenzmodell für Elektronische Bürosysteme, Heidelberg 1999, S. 188 f. 258 Vgl. Morsey, Rudolf: Bemühungen um eine Verwaltungsreform nach der Jahrhundertwende, in: Jeserich, Kurt G.A. u. a. (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 3: Das Deutsche Reich bis zum Ende der Monarchie, Stuttgart 1984, S. 855 – 865 (864). 259 Zur Biographie von Drews vgl. Unruh, Georg-Christoph von: Wilhelm (Bill) Arnold Drews (1870 – 1938), in: Jeserich, Kurt G.A./Neuhaus, Helmut (Hg.), Persönlichkeiten der Verwaltung. Biographien zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1648 – 1945, Stuttgart/Berlin/ Köln 1991, S. 323 – 327. Für weitere biographische Informationen siehe auch: Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft. Das Handbuch der Persönlichkeiten in Wort und Bild, Bd. 1, hrsg. v. Deutschen Wirtschaftsverlag, Aktiengesellschaft, Berlin W 8, Berlin 1930, S. 347. 260 Drews verfaßte eine Denkschrift über die Grundzüge einer Verwaltungsreform, deren Vorstellungen allerdings nicht verwirklicht werden konnte. Vgl. Drews, Bill: Grundzüge einer Verwaltungsreform, Berlin 1919 sowie Morsey, Bemühungen, S. 865. Zu Drews’ einzelnen Vorschlägen Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 189 f. 261 Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 187. – Rudolf Schatz erklärt dazu: „Alle die Neuerungen, die nunmehr auf dem Gebiet des behördlichen Geschäftsbetriebes, dabei in erster Linie der Schriftgutverwaltung, angestrebt und zum Teil auch in die Praxis umgesetzt wurden, werden im allgemeinen als die ,Büroreform‘ bezeichnet.“ Schatz, Behördenschriftgut, S. 4. 262 Vgl. Menne-Haritz, Geschäftsprozesse, S. 184 ff. 263 Vgl. Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 190. Ruck erläutert, daß Köster „unter Hinweis auf eine Kabinettsvorlage seines Hauses zur Vereinfachung der Reichsverwaltung angeregt [hatte], jedes Reichsressort solle einen ,Spezialkommissar für Vereinfachungsfragen‘ einsetzen“. Ebd. – Vgl. dazu auch Collin, Ökonomisierung, S. 229.
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik
vor, die am 2. September 1926 verabschiedet wurde und am 1. Januar 1927 in Kraft trat.264 Dieses Schriftstück stellte eine Neuheit für den „Verwaltungsbetrieb“ dar, denn die GGO „hatte für die Reichsverwaltung keine Vorläufer“265. In seiner Kommentierung der Geschäftsordnung erklärt Brecht: „In den Vorgängern der Reichsministerien, den alten Reichsämtern, hat es merkwürdigerweise keine geschriebene Geschäftsordnung gegeben. Sie übernahmen ihren Geschäftsgebrauch bei der Entstehung des Reichs von den preußischen Ministerien, die ihn ihrerseits in langer Tradition ausgebildet und fortgeerbt hatten. Einzelheiten wurden in den Reichsämtern durch Gelegenheitsverfügungen geregelt […]. Die eigentliche Grundlage des Geschäftsverkehrs bildeten aber nicht diese zerstreuten vielen Hunderte von Verfügungen, sondern die Tradition, in der das Staatsrechtliche, Formale und Geschäftstechnische, das Sachliche und Persönliche kaum noch unterschieden waren.“266
Als Vorarbeiten für die GGO dienten Brecht u. a. die Schriften von Weissenborn267, Bill Drews268 und dem Stralsunder Regierungspräsidenten Hermann Haußmann269.270 Die Arbeiten im Bereich der Büroreform, als deren Abschluß die GGO I zu verstehen ist,271 sind darüber hinaus vor dem Hintergrund des Taylorismus zu sehen.272 Das auf Taylor zurückgehende Prinzip der „technische[n] und organisa264 Vgl. Brechts Kommentierung der GGO: Brecht, GO Büroreform, S. 5. Zu Brechts Bemühungen im Bereich der Büro- und Verwaltungsreform zwischen 1922 und 1926 vgl. Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 190 ff. 265 Laux, Entwicklung des Verwaltungsbetriebs, S. 1091. 266 Brecht, GO Büroreform, S.1. Vgl. dazu auch Brecht, Nähe, S. 427 f. – Laux fügt für den späteren Zeitraum hinzu: „Es lag zwar seit 1912 eine vertrauliche und nur für den Dienstgebrauch bestimmte ,Zusammenstellung von Vorschriften, die für den Dienstbetrieb im Reichsamt des Innern von allgemeiner Bedeutung sind‘, vor – immerhin 339 Verfügungen –, eine systematische Richtlinie konnte diese Sammlung nicht ersetzen.“ Laux, Entwicklung des Verwaltungsbetriebs, S. 1091. 267 Zur Biographie und Bedeutung Weissenborns vgl. Menne-Haritz, Geschäftsprozesse, S. 168 ff. 268 Zur Bedeutung der Arbeiten von Drews vgl. Menne-Haritz, Geschäftsprozesse, S. 164 ff. 269 Haußmann wurde dann später, im Jahr 1947, Gründungsrektor der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Vgl. Menne-Haritz, Geschäftsprozesse, S. 184. Weitere Informationen zur Biographie auch in: Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft 1930, S. 681. 270 Zu den einzelnen Schriften vgl. Drews, Bill: Grundzüge einer Verwaltungsreform, Berlin 1919; Haußmann, Hermann: Die Büroreform als Teil der Verwaltungsreform, Berlin 1925; Weissenborn, H.: Die Neuordnung des Geschäftsgangs bei Behörden. Unter besonderer Berücksichtigung der Gemeindeverwaltungen, Berlin 1912. 271 Vgl. Menne-Haritz, Geschäftsprozesse, S. 191. 272 Vgl. Maier, Charles: Zwischen Taylorismus und Technokratie. Gesellschaftspolitik im Zeichen industrieller Rationalisierung, in: Stürmer, Michael (Hg.), Die Weimarer Republik, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1993, S. 188 – 213.
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torische[n] Maximierung […] von Produktion und Produktivität“273 setzte einen „Rationalisierungsdiskurs“274 in Gang, der den „Zeitgeist“ in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg wesentlich geprägt hat. Das Verständnis von Rationalisierung war hierbei breit definiert: „Bedeutsam […] war, daß man das ursprünglich in der industriellen Produktion erprobte und für sie entwickelte Konzept auf alle Lebensbereiche ausdehnen zu können glaubte. Das tayloristische Konzept der Rationalisierung wurde zur Projektionsfläche für Sehnsüchte nach einer gemäß technischen Vernunftkriterien gestalteten Welt.“275
Dieser „Rationalisierungsprozeß“276 ist als Teil einer umfassenden Modernisierung zu sehen, die sich seit der Jahrhundertwende auf allen Gebieten des politischen und gesellschaftlichen Lebens vollzog.277 Die Kehrseite dieses Prozesses ist bekannt: wachsender Zweifel gegenüber dem Fortschrittsdenken und der „Moderne“, eine zunehmende Ideologisierung politischen Denkens und das Umschlagen der „Rationalisierungseuphorie“278 in ihr genaues Gegenteil: einen heraufziehenden Irrationalismus.279 Der technisch-wissenschaftliche Fortschritt steigerte die Möglichkeiten dessen, was durch den Menschen machbar war – und er führte gleichzeitig zu einer tiefgreifenden Verunsicherung des Menschen an einem völlig obsolet gewordenen Weltbild, das ihm bisher Grundlage seiner Orientierung und des Gefühls der „Sicherheit“ war. Die Dominanz von rein rational und durch die „Vernunft der Technik“280 bestimmten Kategorien konnte nicht jenen Sinn stiften, nach dem die Menschen nach dem Zusammenbruch ihrer Welt- und Lebensordnung suchten –
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Mai, Politische Krise, S. 317. Mai, Politische Krise, S. 317 ff. 275 Collin, Ökonomisierung, S. 220. – Ein eindrückliches, aus heutiger Perspektive an vielen Stellen amüsantes Beispiel dafür gibt die im Jahre 1922 erschienene kleine Studie über „Kopfarbeiter“, in der Anleitungen zum effizienten geistigen Arbeiten gegeben werden. Die Autoren erklären, es sei unabdingbar, „daß wir unsre Arbeitsmethoden verbessern. Wir müssen fürsorgen, daß unsre Mühe reicheren Ertrag bringe. Wir müssen mit der gleichen, wenn möglich mit geringerer Anstrengung mehr und Besseres schaffen als zuvor. Diese Hilfe gibt, für die körperliche Arbeit, der Taylorismus. Diese Hilfe soll, für die geistige Arbeit, das unscheinbare Büchlein hier geben.“ Vgl. Kauffmann, Kurt/Kruse, Jens Uve: Der Kopfarbeiter, Baden-Baden 1922, S. 3. 276 Vgl. zum Begriff Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 687. 277 Vgl. dazu etwa Bracher, Karl Dietrich: Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, München 1985. 278 Mai, Politische Krise, S. 317. 279 Gunther Mai faßt zusammen: „Nicht mehr die Rationalisierung galt als Voraussetzung von Freiheit, sondern Unfreiheit als Voraussetzung von Rationalisierung (und Rationalität).“ Ders.: Europa 1918 – 1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart/Berlin/Köln 2001, S. 28. 280 Mai, Europa, S. 20. 274
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik
irrationale, antimoderne und kulturpessimistische Ideen hingegen vermochten den Verlust bisheriger Traditionen und Glaubensvorstellungen besser zu ersetzen.281 Bevor diese „Ideologisierung des Denkens“282 sich auch im politischen System strukturell durchsetzen konnte, entwickelte sich die Rationalisierung zu einer dominanten Denkfigur,283 die sich in besonderer Weise auch im Bereich der öffentlichen Verwaltung zeigte. Max Weber, nach dem das „europäisch-amerikanisch[e] Gesellschafts- und Wirtschaftssystem [..] in einer spezifischen Art und in einem spezifischen Sinn ,rationalisiert‘“ ist284, schreibt der bürokratischen Verwaltung einen rationalen Charakter zu, den sie durch ihre Bedeutung als „Herrschaft kraft Wissen“ erhalte.285 Die „rein bureaukratische“ Verwaltung sei „nach allen Erfahrungen die an Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verläßlichkeit, also: Berechenbarkeit für den Herrn wie für die Interessenten, Intensität und Extensität der Leistung, formal universeller Anwendbarkeit auf alle Aufgaben, rein technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare, in all diesen Bedeutungen: formal rationalste, Form der Herrschaftsausübung.“286
Und so war auch die Büroorganisation als Teilgebiet der öffentlichen Verwaltung von diesem Rationalisierungsdenken berührt und sollte fortan dem Primat der Effizienz unterliegen.287 Die GGO I ist als ein Ergebnis dieser Bemühungen zu verstehen. Was aber zeichnet die von Brecht verfaßte Geschäftsordnung aus? Worin liegt ihre Besonderheit, und welche Auskunft gibt sie über seine wissenschaftliche Herangehensweise und politiktheoretische Ausrichtung? Eine Definition dessen, was Inhalt und Aufgabenbereich der Geschäftsordnung ist, findet sich in § 1, Abs. 1 der GGO I: 281 Vgl. dazu Mai, Europa, S. 21 ff sowie Bracher, Zeit der Ideologien, S. 31 ff. Detlev Peukert beschreibt diesen Prozeß als „Rationalisierung mit irrationalen Folgen“ und konstatiert: „Im Vollzug formeller Rationalisierung akkumulierte sich die materiale Irrationalität.“ Peukert, Detlev J. K.: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987, S. 116 u. 122. 282 Bracher, Zeit der Ideologien, S. 26. 283 Zum Begriff der Rationalität und Rationalisierung vgl. Rolke, Lothar: Rationalität, Rationalisierung (II.), in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 8, Basel 1992, Sp. 56 – 62. 284 Weber, Max: Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 7. Aufl., Tübingen 1988, S. 489 – 540 (525). Als „Folge zunehmender Rationalisierung und Intellektualisierung aller Lebensgebiete“ beschreibt Weber das in der Gegenwart „zunehmende Beachten der Gefühlsnuancen“; vgl. ebd., S. 518. 285 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 129. 286 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 128. 287 Vgl. Collin, Ökonomisierung, S. 221. Diese strikte, bis ins kleinste Detail vollzogene Durchorganisierung aller Arbeitsabläufe ging so weit, daß ernsthaft der Vorschlag gemacht wurde, die Schreibtischoberfläche in Planquadrate aufzuteilen. Vgl. ebd., S. 226.
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„Die ,Gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien‘ […] regelt die äußeren Formen des Geschäftsganges in den Reichsministerien. Das in ihr erstrebte Ziel, den Geschäftsgang aufs äußerte zu vereinfachen und zu beschleunigen, kann nur dann voll erreicht werden, wenn jeder einzelne Angehörige der Reichsministerien im Rahmen seiner Geschäfte auch persönlich in diesem Sinne mitarbeitet. Dies gehört zu den Dienstpflichten des Beamten.“288
Das vorrangige Ziel der Vereinfachung und Beschleunigung des Geschäftsganges wird somit unmittelbar an die Pflichten des Beamten gekoppelt.289 Abschnitt B und C der GGO I (§§ 7 bis 66) regeln „Lauf“, „geschäftliche Behandlung“ und „sachliche Bearbeitung der Eingänge“; Abschnitt D (§§ 67 bis 70) widmet sich den „Reichsministerialsachen“. Im Abschnitt E (§§ 71 bis 89) werden „Hausordnung“, „Dienstreisen“ und „Dienstunterbrechung“ festgelegt, Abschnitt F (§§ 90 bis 97) klärt Fragen zu „Bücherei“ und „Veröffentlichungen“. Der letzte Abschnitt G (§§ 98 bis 112) regelt schließlich den „Dienstverkehr nach außen“. Neben diesen akribischen Vorgaben zur Ordnung des Geschäftsablaufs legt § 3 der GGO I den grundsätzlichen Aufbau der Ministerien fest, und zwar, wie Laux bemerkt, „in einer bis in die Gegenwart gültigen Form“290. Als das „zentrale Instrument für die innere Ordnung der Ministerien“ muß der Geschäftsverteilungsplan (§ 6) angesehen werden.291 Daß die GGO I von der Bundesregierung 1949 kaum verändert wieder übernommen wurde,292 kann als Indiz dafür gelesen werden, daß sie auch über ihre Entstehungszeit hinaus eine Errungenschaft darstellte.293 Laux betont, „daß ohne dieses Dokument ein zügiger Aufbau der Ministerialorganisation der Bundesrepublik nach dem letzten Kriege nicht möglich gewesen wäre“294. Eine der Errungenschaften, die von der Weimarer Republik in die Bundesrepublik hinübergeführt wurden, stellt zum Beispiel die auch auf Brecht zurückgehende Regelung dar, Ministern, Staatssekretären
288
Brecht, GGO I, § 1, Abs. 1. So erklärt Brecht auch in seiner Erläuterung der GGO: „Die positive Mitwirkung an allem, was der Vereinfachung und Beschleunigung dienen soll und kann, wird allen Beamten ausdrücklich zur Pflicht gemacht.“ Brecht, GO Büroreform, S. 15. 290 Laux, Entwicklung des Verwaltungsbetriebs, S. 1092. 291 Laux, Entwicklung des Verwaltungsbetriebs, S. 1092. Vgl. dazu auch Brecht, GO Büroreform, S. 16. 292 Vgl. Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 177; ders., Verfassungsentwicklung, S. 207; Holste, Reichsreform, S. 55. 293 Fälschlicherweise schreibt Theodor Eschenburg Brecht auch zu, die Geschäftsordnung der Reichsregierung verfaßt zu haben, die „in Abänderung von der Bundesregierung 1949“ übernommen worden sei (Eschenburg, Theodor: Arnold Brecht (1884 – 1977), in: Jeserich, Kurt G.A./Neuhaus, Helmut (Hg.), Persönlichkeiten der Verwaltung. Biographien zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1648 – 1945, Stuttgart/Berlin/Köln 1991, S. 397 – 401 (399)). Richtig hingegen ist, daß Brecht die Arbeit an der Geschäftsordnung der Reichsregierung zwar begonnen hat, sie aber von seinem Kollegen Wever fertiggestellt worden ist. Vgl. Brecht, Nähe, S. 356. 294 Laux, Entwicklung des Verwaltungsbetriebs, S. 1091. 289
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und Abteilungsleitern jeweils verschiedene Stiftfarben zuzuweisen.295 Diese Regelung ist – mit genau derselben Aufteilung der Farb-Hierarchie – bis heute erhalten geblieben.296 Die Relevanz der Geschäftsordnung zeigt sich neben diesen Fragen zur „Organisationssystematik“297 auch in ihrer grundsätzlichen politiktheoretischen Dimension: 1952 konstatierte Hans Schneider eine Geringschätzung gegenüber der „Geschäftsordnung oberster Verfassungsorgane als eine Sammlung bloß technischer Vorschriften, noch unter dem Range einer Straßenverkehrsordnung stehend“298. Die Ursache hierfür sieht er „in einer veränderten Einstellung gegenüber dem Wert des Technischen im Recht überhaupt“299. In der Mitte des 19. Jahrhunderts sei man noch überzeugt davon gewesen, „daß ein richtig geregeltes Verfahren der beste Weg sei, um zu einer wahren und inhaltlich richtigen Entscheidung zu gelangen. Die Wahl einer guten Technik schien deswegen eine Notwendigkeit, ja sogar eine ausreichende Garantie für die inhaltliche Richtigkeit und Güte des Ergebnisses ihrer Anwendung.“300
Charakteristisch für die Gegenwart hingegen ist nach Schneider gleichsam eine Entnormativierung des Technischen, mithin – ohne daß er diesen Begriff verwendet – die Dominanz des Dezisionismus: 295 Vgl. Brecht, GGO I, § 12, Abs. 1: „Für Vermerke ist dem Minister der Grünstift, dem Staatssekretär der Rotstift, den Abteilungsleitern (nicht den Unterabteilungsleitern) der Blaustift vorbehalten.“ Siehe dazu auch Brecht, Nähe, S. 432. 296 Vgl. GGO (2009), Anlage 2 zu § 13, Abs. 2. 297 Laux, Entwicklung des Verwaltungsbetriebs, S. 1091. 298 Schneider, Hans: Die Bedeutung der Geschäftsordnungen oberster Staatsorgane für das Verfassungsleben, in: Rechtsprobleme in Staat und Kirche. Festschrift für Rudolf Smend zum 70. Geburtstag, 15. Januar 1952. Dargebracht von Freunden, Schülern und Kollegen, Göttingen 1952, S. 303 – 319 (306). – Diese Feststellung ist bis heute gültig. Noch immer gibt es kaum Untersuchungen, die sich mit der politischen und verfassungsrechtlichen Bedeutung von Geschäftsordnungen auseinandersetzen. Eine Ausnahme stellt Wilhelm Hennis dar, der die Relevanz von Geschäftsordnungen betont und sie als „integrierende[n] Bestandteil der Verfassungsordnung“ beschreibt. Vgl. Hennis, Wilhelm: Verfassungsordnung und Verbandseinfluß. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang im politischen System der Bundesrepublik (1961), in: ders., Regieren im modernen Staat. Politikwissenschaftliche Abhandlungen I, Tübingen 1999, S. 89 – 105 (94). Ähnlich argumentiert Siegfried Schöne: Von der Reichskanzlei zum Bundeskanzleramt. Eine Untersuchung zum Problem der Führung und der Koordination in der jüngeren deutschen Geschichte, Berlin 1968, S. 117. Eine Auseinandersetzung mit parlamentarischen Geschäftsordnungen, die sich allerdings weitgehend in juristischen Spitzfindigkeiten erschöpft, findet sich bei: Haug, Volker: Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, Berlin 1994. 299 Schneider, Bedeutung der Geschäftsordnungen, S. 307. – Auch diese Aussage scheint von aktueller Relevanz zu sein: Etwas weiter ausgelegt läßt sich die Hypothese aufstellen, daß die Geringschätzung des „Technischen im Recht“ ein Spiegel der Formlosigkeit ist, die den politischen Betrieb der Bundesrepublik mitunter beherrscht; die auf einer unechten Vertrauensfrage beruhenden Neuwahlen des Bundestages im September 2005 sowie des Landtages von Schleswig-Holstein im September 2009 mögen nur als wenige von vielen Beispielen dienen. 300 Schneider, Bedeutung der Geschäftsordnungen, S. 307.
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„Die Richtigkeit einer Verfahrensweise legitimiert sich nicht mehr durch die Gewißheit oder doch Wahrscheinlichkeit richtiger und guter Ergebnisse, sondern vor allem durch den Umstand, daß überhaupt ein ,due process of law‘ stattfindet. […] Das Verfahren legitimiert das Ergebnis.“301
Der auf den ersten Blick nicht leicht zu erkennende Unterschied zwischen beiden Ansätzen besteht darin: Der erste Ansatz folgt dem Prinzip, daß ein Verfahren dann legitimiert ist, wenn das Ergebnis gut ist. Um ein gutes Ergebnis zu erzielen, muß wiederum das Verfahren, also die Technik gut sein. Im Umkehrschluß bedeutet das: Wenn das Ergebnis schlecht ist, war das Verfahren nicht gut. Demgegenüber geht der zweite Ansatz davon aus, daß das Verfahren schon dadurch legitimiert wird, daß überhaupt eines stattfindet. Damit wird es also von der normativen Zielführung eines guten Ergebnisses abgekoppelt. Wenn das Verfahren legal ist, ist es legitim; ob das Ergebnis „gut“ ist, spielt hier keine Rolle mehr. Schneider geht es nicht um solch eine Reduktion auf reine Verfahrensfragen, sondern um die Wiederbelebung des ersten Ansatzes. Der Rekurs auf den „Wert des Technischen im Recht“ führt zum Kern der Sache, denn für Arnold Brecht besteht nicht nur die Notwendigkeit einer guten Technik, um gute Ergebnisse zu erzielen, sondern sie ist vielmehr Voraussetzung dafür, Freiheit zu erlangen. Wie ist das zu verstehen? Zur Begründung, warum er eine Kommentierung und Erläuterung der Geschäftsordnung und der Büroreform verfaßt hat, führt Brecht an, daß seine Motive nicht in einer „Vorliebe für die kleinsten technischen Dinge der Verwaltung“ lägen, sondern darin zu suchen seien, daß er „eine ausgeprägte Abneigung gegen die Schranken, Windungen und Fußangeln des formellen Geschäftsverkehrs“ habe.302 Er fährt fort: „Sie sind es, die so oft den frischesten Beamten im Lauf seines Lebens zu einem verrosteten Bürokraten machen, sie sind es, die das mutige Werk des Geistes und des Herzens so oft im Entstehen ersticken, sie sind es, die dem Kenner der Formen oft jene hämische Ueberlegenheit über den produktiven Geist geben […].“303
Erneut kommt hier zum Ausdruck, welches Beamtenbild Brechts Überlegungen zugrunde liegt. Anders als in seinen vorherigen Beschreibungen der Verwaltung 301 Schneider, Bedeutung der Geschäftsordnungen, S. 307 ff. Für weitere Ausführungen zur Konzeption des Dezisionismus, hier vor allem im Zusammenhang mit Carl Schmitt, siehe Kapitel I.3.a)cc). 302 Brecht, GO Büroreform, Vorwort (nicht paginiert). 303 Brecht, GO Büroreform, Vorwort. In seiner Autobiographie erklärt er darüber hinaus, wie er zu der Überzeugung gekommen sei, „daß die Reform der Geschäftsordnung nur dann geplant und durchgeführt werden kann, wenn sich ein leitender Mann die Zeit und Mühe nimmt, das Werk selbst zu leiten, und in jede Einzelheit selbst eindringt, statt die Reform niedriger gestellten Beamten zu überlassen, die entweder zu wenig Überblick über die Gesamtverwaltung haben und zu sehr in der traditionellen Übung befangen sind, oder, wenn sie das Zeug dazu haben, eine gute Reform in die Hand zu nehmen, nicht die Autorität in der Gesamtverwaltung besitzen, sie durchzuführen.“ Brecht, Nähe, S. 432 f.
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bedient sich Brecht an dieser Stelle allerdings sowohl einer organischen als auch einer mechanischen Metaphorik. Während letztere vor allem dann zum Tragen kommt, wenn es um den „formellen Geschäftsverkehr“ und die konkreten Verwaltungsvorgänge geht, verwendet Brecht erstere, wenn sein Blick auf diejenigen fällt, die diese Vorgänge umsetzen: die Beamten. In diesem Moment ist Verwaltung nicht mehr nur maschinell, sondern eine Sache des Herzens, des Geistes, der Seele304 und darüber hinaus auch der Zusammengehörigkeit305. Der Begriff des „Geistes“ fungiert dabei als Schlüsselbegriff.306 Als Kontrastfolie zum „produktiven Geist“ dient das Bild des „verrosteten Bürokraten“, von dem nicht die Initiative ausgehen kann, deren Staat, Verwaltung und Gesellschaft bedürfen. Die Rationalität in der Verwaltung darf also nicht so weit gehen, daß sie eine „Aushöhlung des Politischen“307 zur Folge hat. Die Aufgabe des Verwaltungsapparates besteht deshalb nach Brecht nicht nur in der Gewährleistung von Effizienz. Damit befindet er sich in genauem Gegensatz zu jenem Bild, das Franz Neumann von der Beamtenschaft in der Ministerialbürokratie der Weimarer Republik zeichnet: „Die Ministerialbürokratie ist eine geschlossene Kaste. In der Weimarer Republik waren ihre Mitglieder scheinbar weder gegen noch für die Demokratie und kümmerten sich wenig um Staats- und Regierungsformen. Der höhere Beamte betrachtet den Staat mehr oder weniger als ein Wirtschaftsunternehmen, das effizient zu betreiben ist. Er hat den Zynismus des erfolgreichen Unternehmers, nur daß an Stelle des Gewinns die administrative Effizienz sein höchstes Ziel ist. Politische Probleme werden auf technische Verwaltungsprobleme reduziert.“308
Brecht geht es dagegen gerade darum, eine Entpolitisierung und die Entwicklung der Beamtenschaft zu einer geistlosen bürokratischen Maschine zu verhindern. Ihm reicht es nicht aus, um auf die Gegenüberstellung von Hans Schneider zurückzukommen, daß das Verfahren korrekt und legal ist, sondern die Technik – hier die Regelung des Geschäftsgangs in den Reichsministerien – unterliegt dem Zweck, ein gutes Ergebnis zu erzielen. Und ein „gutes Ergebnis“ bedeutet für Brecht, daß keine verrostete Bürokratie entsteht und „Geist und Herz“ des Beamten frei werden „für
304
Vgl. etwa Brecht, Nähe, S. 442. So heißt es etwa in § 58, Abs. 1 von Brecht, GGO I: „Zusammenarbeit nützt dem Staat, Gegeneinander schadet ihm“. Auch Brechts im vorherigen Abschnitt erläuterte Ausruf „Der Staat und die Verwaltung bist du!“ ist in diesem Zusammenhang zu sehen. 306 Auch darin zeigt sich eine starke Kontinuität im Brechtschen Werk, denn es ist kein Zufall, daß er vierzig Jahre später den zweiten Band seiner Autobiographie mit dem Titel „Mit der Kraft des Geistes“ überschreibt. Vgl. dazu Brecht, Kraft, S. 10 f. Bevor er zu dieser Formulierung kam, schwebten ihm allerdings noch andere, wenig geglückte Titel vor wie „Gewordenes Werden“, „Dieses Stirb und Werde“ oder „Gedenken und Gedanken“. Vgl. Arnold Brecht an Theodor Eschenburg, New York, 6. 3. 1964, BAK, NLB, N 1089/17 sowie Arnold Brecht an Hans Georg Siebeck, New York, 23. 4. 1963, BAK, NLB, N 1089/26. 307 Jacoby, Henry: Die Bürokratisierung der Welt, Frankfurt/New York 1984, S. 298. 308 Neumann, Franz: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933 – 1944, Frankfurt a. M. 1984 (1942/1944), S. 431. 305
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Wichtigeres“309 als den ministeriellen Geschäftsgang. Aus diesem Grund muß das Regelwerk, die Technik, die Form so gut wie möglich sein, denn erst dann erlangt der Beamte die Freiheit von den Widrigkeiten der Bürokratie. Wiederum geht Brecht von einem starken Idealismus unter den Beamten aus und erklärt: „Gerade wer Geist und Herz hoch über das Geschäftsmäßige stellt – und welcher Beamte hätte es nicht jedenfalls einst in seiner Jugend getan, welcher Beamte trüge nicht diese Sehnsucht immer mit sich herum – der wird zu der Einsicht kommen: daß alle Klugheit darauf verwendet werden sollte, das Geschäftsmäßige so einfach, so wenig geheimnisvoll, so leicht zugänglich, so wirksam wie möglich zu machen.“310
Wichtig zur Erreichung dieses Ziels war für Brecht auch die Sprache, auf die besonderer Wert gelegt werden müsse.311 § 36, Abs. 1 der GGO I führt dazu aus: „Was gesagt wird, soll klar, erschöpfend, aber nicht weitschweifig gesagt werden. Auf eine gedrängte, dem Empfänger leicht verständliche Darstellung in einwandfreier, einfacher Sprache ist besonderer Wert zu legen. Die Kürze darf nicht zur Schroffheit führen. Zu vermeiden sind besonders unberechtigte Fremdwörter und veraltete Kanzleiausdrücke, das Häufen von Hauptwörtern, namentlich solchen auf ,ung‘, die Ausdrücke ,erfolgt‘ usw. an Stelle des einfachen passiven, besser noch aktiven Satzes, lange und ungegliederte Sätze, alle überflüssigen Wörter, die das Verständnis nur erschweren.“312
In diesen Ausführungen spiegelt sich wider, daß es Brecht nicht nur um zügige Verständlichkeit ging, sondern auch um sprachliche Ästhetik. Das korrespondiert mit einer Feststellung, zu der er in seiner Autobiographie gelangt: „Denn der Geist einer Geschäftsordnung färbt auf den Geist einer Beamtenschaft stärker ab als der Geist Goethes und Schillers.“313 Dadurch daß Brecht den Beamten eine so hohe gesellschaftliche Relevanz beimißt, gewinnt somit auch die Geschäftsordnung – bis in ihre sprachliche Form – an Wichtigkeit. Angelika Menne-Haritz sieht unter anderem hierin den Grund dafür, weshalb Brecht „wohl der geeignete Mann für das große kompilatorische Werk der Gemeinsamen Geschäftsordnung“ gewesen sei.314
309
Brecht, GO Büroreform, Vorwort. Brecht, GO Büroreform, Vorwort. 311 Brecht, GO Büroreform, S. 17. 312 Brecht, GGO I, § 36, Abs. 1. Ähnlich auch § 38, in dem „Anreden und Höflichkeitsformen“ geregelt werden. Um die Einhaltung dieser sprachlichen Vorgaben zu gewährleisten, bestimmt § 36, Abs. 3, daß jeder „in das Ministerium neu eintretende Referent und Expedient [..] auf angemessene Zeit Grundzüge für guten deutschen Sprachgebrauch im Schriftverkehr der deutschen Behörden“ erhält. Eine solche Regelung sucht man heute nicht nur in der aktuellen Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (Stand vom 9. Juni 2009) vergeblich. 313 Brecht, Nähe, S. 433. Brecht erklärt, daß er sich deshalb bei der Niederschrift der GGO auch die Zeit genommen habe, „jede Zeile ihres Textes selbst in sprachlich einwandfreie Form zu bringen“. Vgl. ebd. 314 Menne-Haritz, Geschäftsprozesse, S. 216. 310
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Die Geschäftsordnung hat für Brecht darüber hinaus aber auch „staatsrechtlich[e] und staatsformend[e] Bedeutung“315. Im „Geschäftsbetrieb der Ministerien“ seien „seit jeher drei Dinge miteinander eng verflochten“: „staatsrechtliche Fragen“, „formale Gesichtspunkte“ und „geschäftstechnische Probleme“.316 Mit Blick auf das Verhältnis von Reich und Ländern macht Brecht eine deutliche Unterscheidung zwischen dem Aufgabenbereich der Verwaltung und dem der Politik, die jedoch auch grundsätzlich gelesen werden kann: „Sache der großen Politik ist es, Fehler der Konstruktion des Reichs grundsätzlich anzugreifen und darüber zu reden, ob die Verfassung zu unitaristisch oder zu föderalistisch ist. Sache der Verwaltungskunst des Beamten im Dienst ist es, den vorhandenen staatsrechtlichen Zustand als gegeben hinzunehmen, aber jede technische Erleichterung zu gewähren mit dem Ziele, das Formale der Arbeit so einfach und wirkungsvoll wie möglich zu gestalten und Versehen mit ihren störenden Folgen möglichst mechanisch auszuschließen.“317
Wiederum greift Brecht an dieser Stelle auf eine mechanische Metaphorik zurück. Sie dient ihm dazu, die angestrebte Effizienz und Reibungslosigkeit des Geschäftsablaufs abzubilden, die durch die Geschäftsordnung ermöglicht werden soll. Die Geschäftsordnung sorgt für Transparenz: „Der Betrieb wird durchsichtig.“318 Mit ihr ist eine Vorkehrung getroffen, die verhindert, „daß das Deutsche Reich täglich über seine eigenen Beine stolpert“319. Voraussetzung dafür ist ein funktionierendes Beamtentum – und tatsächlich steht hier die reine Funktionalität der Beamten im Vordergrund und nicht, wie Brecht an anderen Stellen so ausdrücklich betont, die ihnen zugeschriebene Aufgabe, „Initiative“ zu übernehmen. Und so rückt auch das Neutralitätsgebot des Beamten ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit, wenn er erklärt: „Spott und Kritik muß der Beamte andern überlassen. Im Dienst hat er nur korrekt zu handeln und will, daß ihm das erleichtert wird.“320 Diese Überlegungen sind auf seinen Ansatz zurückzuführen, daß nur auf der Grundlage eines funktionsfähigen Regelwerkes Freiräume entstehen können, die die Konzentration auf „das Wesentliche“ ermöglichen. Erst wenn das Verfahren reibungslos läuft und Fallstricke entfernt wurden, wird der Beamte frei, jene Eigeninitiative zu übernehmen, die nach Brecht für die Entwicklung einer „geistvollen“ Verwaltung nötig ist. „Staatsformende“ Bedeutung erlangt die Geschäftsordnung für ihn insofern, als sie den 315 Vgl. Arnold Brecht an Oberregierungsrat Peters (Bundesinnenministerium), New York, 5. 12. 1957, BAK, NLB, N 1089/101. Die Korrespondenz bezieht sich auf eine geplante Neuauflage der Kommentierung der GGO, zu der es dann allerdings nicht kam. Dafür hatte Brecht aber schon 1940 gemeinsam mit Comstock Glaser die Geschäftsordnung ins Englische übersetzt und um eine ausführliche Einführung ergänzt. Brecht versuchte damit eine Forschungslücke in den USA zu füllen: „The German administrative establishment has long been the Fata Morgana of English and American political science – often mentioned with baited breath, but rarely discussed in detail.“ Brecht/Glaser, The Art and Technique, S. vii. 316 Brecht, GO Büroreform, S. 1. 317 Brecht, GO Büroreform, S. 8. 318 Brecht, GO Büroreform, S. 8. (Herv. im Orig.) 319 Brecht, GO Büroreform, S. 10. (Herv. im Orig.) 320 Brecht, GO Büroreform, S. 9 f.
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Staatsapparat entlastet und bewirkt, daß nicht die kleingeistigen Bürokraten die Handhabe haben, sondern die Impulsgeber. Wie aber steht es mit dem praktischen Erfolg der Brechtschen Reformarbeiten auf dem Gebiet der Verwaltungstechnik? Michael Ruck kritisiert, daß Brecht keine neuen Konzeptionen entwickelt habe, sondern seine „persönliche Leistung“ vielmehr darin bestanden habe, „vorhandene Ansätze aufzugreifen, um sie dann mit professionellem Blick für das Machbare, für den günstigsten Zeitpunkt der Initiative und für verwaltungsinterne Bündnismöglichkeiten geduldig zu lancieren“321. Auch Angelika Menne-Haritz weist darauf hin, daß Brecht zwar „eine wichtige Rolle als Organisator der interministeriellen Besprechungen und der Kompilation vorliegender Fassungen und Entwürfe“ gespielt, anders als Bill Drews aber keine eigenen Ansätze entwickelt habe.322 Im Gegensatz zu Ruck betont sie allerdings, daß es ohne Brecht „kaum eine Gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien gegeben hätte“323. In der Tat stützte sich Brecht für die Ausarbeitung der Geschäftsordnung auf Vorarbeiten, zu denen an erster Stelle jene von Bill Drews, Hermann Haußmann und Weissenborn gehören; darauf aber weist er in seiner Kommentierung der Geschäftsordnung auch ausdrücklich hin.324 Daß die Geschäftsordnung auch dem besonderen zeitlichen Entstehungskontext geschuldet ist325 und nicht allein auf die Idee Arnold Brechts zurückgeht, schmälert seine Leistung keineswegs. Denn nichtsdestoweniger bleibt die Tatsache bestehen, daß es vor der GGO I von 1927 noch keine geschriebene Geschäftsordnung gegeben hat und Brecht Autor eben dieser Geschäftsordnung ist, auf deren dauerhaftes Fortwirken schon verwiesen wurde.326 321
Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 188. Menne-Haritz, Geschäftsprozesse, S. 184. 323 Menne-Haritz, Geschäftsprozesse, S. 184. 324 Brecht, GO Büroreform, S. 19 ff. Neben den von Brecht angeführten Grundlagen, auf die sich die Geschäftsordnung stützt, nennt Menne-Haritz als weitere Vorläufer der GGO I: die zweite Fassung der ,Anordnungen über den Geschäftsverkehr der Reichsbehörden‘ vom 12. August 1897; die 1912 vom Innenministerium erlassene ,Zusammenstellung von Vorschriften, die für den Dienstbetrieb im Reichsamt des Innern von allgemeiner Bedeutung sind‘, wobei es sich hier aber um „relativ zusammenhanglose Vorschriften“ gehandelt habe; und schließlich der im Januar 1919 vorgelegte Entwurf zu einem ,Plan für den technischen Geschäftsgang bei der Reichsregierung‘. Dieser Entwurf war laut Menne-Haritz „der erste Versuch zur modernisierten Geschäftsordnung auf Reichsebene am Ende des Krieges“; nach ihren Befunden, so die Autorin, sei es nicht auszuschließen, daß Brecht an diesem Entwurf mitgewirkt hat. Vgl. Menne-Haritz, Geschäftsprozesse, S. 192 ff. 325 Zu denken ist hier an den Taylorismus, „die Inkubationszeit des Büroreform-Gedankens“ (Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 188) sowie an die Durchsetzung einer „internationalen Bürowissenschaft“ (Brecht, GO Büroreform, S. 19 und Laux, Entwicklung des Verwaltungsbetriebs, S. 1091). 326 Daran ändert auch die wiederholte Kritik von Michael Ruck nichts: So moniert er, daß „Kennern der Materie nicht verborgen bleiben“ sollte, daß Brecht „hauptsächlich ältere Konzepte aufgenommen und kleingearbeitet hatte“ (Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 192). Kennern von Brecht hingegen sollte nicht verborgen bleiben, daß Brecht dies auch gar 322
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Eberhard Laux macht auf die verwaltungspraktische Bedeutung aufmerksam, die insbesondere die Kommentierung und Erläuterung der GGO I von Arnold Brecht auch über ihre Entstehungszeit hinaus hatte: In ihr sei „das Modell eines modernen Verwaltungsbetriebes enthalten, das erst in unseren Tagen einen wesentlichen Umbruch durch die Büroautomation erfährt“327. Mit dieser immerhin rund 80 Seiten umfassenden Publikation, die, so der Untertitel, „[z]ugleich ein Lehrbuch der Büroreform“ darstellt, eröffnete Brecht die Schriftenreihe des DIWIV, des Deutschen Instituts für wirtschaftliche Arbeit in der öffentlichen Verwaltung. Das DIWIV wurde 1926 „in Kooperation mit dem Deutschen Beamtenbund als zentrale Koordinations-, Informations- und Fortbildungsstelle der Büroreform-Bewegung“ gegründet.328 Gründungsträger war die Verwaltungsakademie Berlin, Vorsitzender des Instituts war Bill Drews, Vorstandsmitglied und sein Stellvertreter Arnold Brecht.329 Das Motiv für die Gründung des DIWIV lag nach Auffassung Brechts darin, bessere „Querverbindungen zwischen Reich, Ländern und Gemeinden“ herzustellen. Er erklärt: „Alle diejenigen, die sich in Deutschland um die technische Verwaltungsreform bemühen, müssen ihren Sammelpunkt haben. Sie müssen sich irgendwo begegnen. Dazu bedarf es eines großen Apparats.“330 Wiederum appelliert Brecht an die Einsatzbereitschaft und Zusammenarbeit der Beamtenschaft;331 ein Anliegen des DIWIV liege ferner – und dies ist mit Blick auf die sonst übliche Hierarchisierung der Beamtenschaft bemerkenswert – in der „Aufhebung aller Rangunterschiede“332. Trotz des Einflusses, den Brecht auf die Gestaltung des DIWIV nehmen konnte,333 blieben der eigentlichen Büroreform nur Teilerfolge beschieden.334 Das übergenicht bestreitet, sondern, wie bereits erwähnt, im Gegenteil explizit darauf hinweist, auf wessen Vorarbeiten sich die Geschäftsordnung stützt (Brecht, GO Büroreform, S. 19 ff) – was Ruck in einer Fußnote schließlich auch selbst zugeben muß (Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 192, Fn. 58). 327 Laux, Entwicklung des Verwaltungsbetriebs, S. 1092. 328 So die Zusammenfassung von Michael Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 198. 329 Laux, Entwicklung des Verwaltungsbetriebs, 1093 f. 330 Brecht, DIWIV, S. 186. 331 So müsse die Beamtenschaft „als ganzes guten Willens“ sein: „Sie muß den Sinn und den Nutzen der Arbeiten in ihrem Zusammenhang verstehen. […] Dazu bedarf es einer Stelle, die mit der Beamtenschaft eng verwachsen ist und die sich auf die technische Reform bei den Behörden beschränkt, deren vielfach von der freien Wirtschaft abweichende Bedürfnisse feststellt und zu befriedigen sucht. Das Diwiv dient dieser Aufgabe.“ Brecht, DIWIV, S. 187. 332 Brecht erläutert: „Jeder kann und soll vom andern aus seiner besonderen Tätigkeit, seinen Erfahrungen und Bedürfnissen lernen.“ Brecht, DIWIV, S. 187. 333 Vgl. dazu Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 199. 334 So zumindest Brecht selbst: Vgl. ders., Nähe, S. 514. Die von ihm und anderen geplante Abschaffung der Registratur konnte durch die Büroreform beispielsweise nicht durchgesetzt werden; vgl. Menne-Haritz, Geschäftsprozesse, S. 15 f. Zur Funktion der GGO I in der NS-Zeit siehe Mühlenfeld, Daniel: Vom Kommissariat zum Ministerium. Zur Gründungsgeschichte des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, in: Hachtmann, Rüdiger/Süß,
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ordnete Ziel einer „unter dem Diktat der Effizienz stehende[n] Bürokratisierung“335 wurde gleichwohl erreicht – und zu den in diesem Zusammenhang wichtigsten Errungenschaften zählt die Gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien.
c) Brecht als „demokratischer Reformator“? In seiner Autobiographie bezeichnet sich Brecht als „eine Art demokratischer Reformator im Reichsinnenministerium“336 und betont die Relevanz, die er in seiner Funktion als Abteilungsleiter bei der Vorbereitung und Umsetzung diverser Reformprojekte im Innenministerium gehabt habe. Brecht erklärt, daß er selber „im Mittelpunkte des Kampfes um die Verfassung, um die Erneuerung der Verwaltung und um den Schutz der Republik“ gestanden habe.337 Michael Ruck kritisiert diese „Selbststilisierung“ scharf und zieht die historische Bedeutung Arnold Brechts – zumindest für die Weimarer Republik – in Zweifel.338 Doch bevor eine eingehende Auseinandersetzung mit Rucks Kritik erfolgt, soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit Brechts Selbstzuschreibung zutreffend und plausibel ist. Hierzu ziehe ich exemplarisch drei seiner Veröffentlichungen bzw. Manuskripte heran, die sich auf verschiedene Weise mit den im Innenministerium bearbeiteten Reformprojekten befassen: Brechts Kommentar zu drei Teilbereichen der Preußischen Verwaltungsgesetze; ein von ihm verfaßter Artikel über die „Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen“ und ein unveröffentlichtes Manuskript über die Weimarer Reichsverfassung. In dem ursprünglich von Max von Brauchitsch herausgegebenen Kommentar der Verwaltungsgesetze339 übernahm Brecht – auf Bitte von Bill Drews340 – die Kommentierung des Vereins- und Versammlungsrechts, des Republikschutzgesetzes341 und des in Art. 48 WRV geregelten Ausnahmerechts.342 Winfried (Hg.), Hitlers Kommissare. Sondergewalten in der nationalsozialistischen Diktatur, Göttingen 2006, S. 72 – 92 (84 ff). 335 Collin, Ökonomisierung, S. 230. 336 Brecht, Nähe, S. 10. 337 Brecht, Nähe, S. 10. An anderer Stelle ergänzt er – etwas bescheidener –, daß er ein ,teilnehmender Beobachter‘ gewesen sei. Vgl. ebd. 338 Vgl. Ruck, Patriotischer Institutionalismus. 339 Vgl. Brauchitsch, Max von: Die Preußischen Verwaltungsgesetze. Neu herausgegeben von Bill Drews und Gerhard Lassar. Zweiter Band. Zwanzigste, vollständig neu bearbeitete Auflage. Neunte Bearbeitung, Berlin 1925. 340 So Brecht in seiner Autobiographie: Brecht, Nähe, S. 423. Drews war einer der Herausgeber der 1932 veröffentlichten Neuauflage des Brauchitsch-Kommentars. 341 In der hier verwendeten Neuauflage ist Gegenstand des Kommentars das Zweite Republikschutzgesetz vom 25. 3. 1930. Zum Vergleich zwischen dem Ersten und dem Zweiten Republikschutzgesetz siehe Gusy, Christoph: Weimar – Die wehrlose Republik? Verfassungsschutzrecht und Verfassungsschutz in der Weimarer Republik, Tübingen 1991, S. 171 ff.
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Bei der Beschäftigung mit dem Vereins- und Versammlungsrecht ist es wichtig, sich dessen Bedeutung für die Demokratie vor Augen zu führen. In seiner Autobiographie erklärt Brecht dazu: „Der Mensch ist von Natur frei, zu denken, was ihm zu denken beliebt, wenn auch das, was ihm zu denken beliebt, von Erbmasse und Umgebung abhängen mag. Von dieser naturgegebenen Freiheit zu denken bis zur gesellschaftlichen Erlaubnis, Gedanken auch zu äußern, ist ein langer, langer Weg. Noch länger ist der Weg zur Gewährung der Freiheit, Gedanken nicht nur als einzelner, sondern auch zusammen mit anderen zu äußern und zu diesem Zweck sich zu versammeln und Vereinigungen zu bilden.“343
Und so spiegelt auch der Gesetzeskommentar Brechts Bemühen wider, mit diesem kostbaren Gut der Demokratie sorgsam umzugehen. Auffällig ist, daß er mit seinen hier formulierten Erläuterungen erneut in die Nähe zum Konzept der wehrhaften Demokratie rückt. Im Kapitel über das Vereinsgesetz erklärt er etwa mit Blick auf die „radikale[n] Parteien“: „Sowohl bei den Kommunisten wie bei den Nationalsozialisten hat die Rechtsprechung wiederholt entschieden, daß der Zweck der Bewegung gegen die Strafgesetze verstößt. […] Da der strafgesetzwidrige Zweck nicht in geschriebenen Satzungen enthalten ist, muß er aus dem tatsächlichen Verhalten nachgewiesen werden, und zwar nicht nur für eine entfernte Vergangenheit, sondern jeweils für die Gegenwart […]. Das tatsächliche Verhalten der Führer sucht sich der Lage jeweils anzupassen. Verschleierungen ändern aber den tatsächlichen Zweck nicht. Es muß sich um eine ernstliche Abkehr nicht nur einzelner Führer, sondern der ganzen Vereine von jedem illegalen Zwecke handeln.“344
In bezug auf das „Vereins- und Versammlungsrecht bei Beamten, Angestellten und Militärpersonen“ betont Brecht, daß der Beamte – dem die Mitgliedschaft auch in einer regierungsfeindlichen Vereinigung nicht verboten werden durfte – sich dennoch „nicht der Achtung unwürdig zeigen [darf], die sein Beruf erfordert“,345 was 342
Den allgemeinen Nutzen für den Beamten, einen Gesetzeskommentar zu schreiben, veranschlagt Brecht als ausgesprochen hoch: „Aber es gibt für einen Beamten kein besseres Mittel, Autorität in seinem Fachgebiet zu erwerben, als wenn er selbst einen guten Kommentar zu den dafür maßgebenden Gesetzen schreibt, weil ihn das zwingt, die ganze Literatur und die Gerichtsentscheidungen sorgfältig zu studieren und so aufzuzeichnen, daß er und andere sich in jeder Lage schnell orientieren. Auch war es wichtig, daß die Kommentierung in diesem einflußreichen Handbuch von einem Freunde und nicht von einem Gegner der staatlichen Neuordnung stammt.“ Brecht, Nähe, S. 423. 343 Brecht, Nähe, S. 421. 344 Brecht, VGA, S. 291. 345 Dies ist eine typische Formulierung, die sich bereits im Reichsbeamtengesetz vom 31. März 1873 findet; so lautet § 10: „Jeder Reichsbeamte hat die Verpflichtung, das ihm übertragene Amt der Verfassung und den Gesetzen entsprechend gewissenhaft wahrzunehmen und durch sein Verhalten in und außer dem Amte der Achtung, die sein Beruf erfordert, sich würdig zu zeigen.“ (Der Gesetzestext ist zu finden in: Summer, Rudolf (Hg.): Dokumente zur Geschichte des Beamtenrechts, Bonn 1986, S. 632 – 666.) Ähnlich, wenn auch unter anderen politischen Vorzeichen, heißt es im „Entwurf eines deutschen Beamtengesetzes“ vom 14. Juni 1928, § 44: „Aus dem Dienstverhältnis entsteht […] die Pflicht, sich in und außer dem Amt der Achtung, die der Beruf erfordert, würdig zu zeigen und das übertragene Amt unter Beobachtung
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bedeute: „Er darf daher nicht in der Öffentlichkeit unsachlich oder mit Beschimpfungen gegen Regierung, Reich, Land, seine Behörde oder öffentliche Einrichtungen auftreten.“346 Der Beamte dürfe „sich nicht durch Handlungen oder Unterlassungen schuldhaft in der Öffentlichkeit hinsichtlich seiner Amtspflichten in ein zweifelhaftes, zweideutiges Licht setzen“, weil dies „nach allgemeiner Beamtenpflicht mit seiner Stellung als Staatsdiener nicht zu vereinen“ sei.347 Diese Erläuterungen können als Versuch verstanden werden, die rechtlichen Lücken der „wertneutralen“ und „wehrlosen“ Demokratie von Weimar348 zu füllen oder zumindest zu minimieren, indem auf das gesellschaftspolitische Verhalten und die politische Haltung des einzelnen gezielt wird. Denn Brecht mahnt zu politischer Wachsamkeit und rechtzeitigem Handeln und appelliert an das Berufsethos der Beamten, um politische „Anständigkeit“ und Verfassungstreue zu gewährleisten. Ähnliches gilt auch für seine Erläuterungen zum Republikschutzgesetz, an dessen Ausarbeitung Brecht im Innenministerium mitgewirkt hatte.349 Wiederum steht die Haltung des einzelnen bzw. die politische Erziehung der Bürger zu Demokraten im Vordergrund.350 In seiner Autobiographie rekapituliert Brecht, worauf es ihm bei den der Verfassung und der Gesetze wahrzunehmen und die für das Amt geltenden Dienstanweisungen zu befolgen.“ (Der Entwurf ist abgedruckt in: Summer, Dokumente, S. 682 – 804.) Zwar ist der Entwurf erst nach Brechts Ausscheiden aus dem Innenministerium datiert und infolgedessen auch nicht von ihm unterzeichnet, doch ist davon auszugehen, daß er maßgeblich daran beteiligt war, da die Arbeit an einem neuen Beamtengesetz eines seiner Hauptanliegen während seiner Amtszeit im Innenministerium war. Vgl. Brecht, Nähe, S. 434 ff. Ein neues Reichsbeamtengesetz ist allerdings bis zum Ende der Weimarer Republik nicht zustande gekommen; erst 1937 trat unter dem NS-Regime das neue Deutsche Beamtengesetz in Kraft (vgl. Summer, Dokumente, S. 34 ff). Brecht schreibt dazu: „Als ich es, damals schon seit vier Jahren in Amerika, las, war es ein seltsames Gefühl für mich, zu entdecken, daß ich den Wortlaut zahlreicher Paragraphen auswendig kannte, weil ich ihn seinerzeit selbst formuliert hatte, mit Ausnahme der Zusätze nationalsozialistischen Inhalts, die man aufgeklebt hatte und die aller deutschen Beamtentradition radikal widersprachen.“ Brecht, Nähe, S. 436. 346 Brecht, VGA, S. 325. 347 Brecht, VGA, S. 326 (Herv. im Orig. fett). 348 Vgl. Brenner, Die wehrhafte Demokratie, S. 95. 349 Vgl. dazu Brecht, Nähe, S. 390 ff. 350 Ein Beispiel hierfür ist die im § 5 RepSchG II getroffene Bestimmung gegen Beschimpfungen der Staatsform. In Brechts Gesetzeskommentar heißt es dazu: „Beschimpfen heißt: hinausgehend über den Rahmen einer bloßen Beleidigung, die Verachtung in besonders verletzender oder in roher Form sprachlich oder gedankeninhaltlich zum Ausdruck bringen […]. Die ,rohe‘ Äußerung braucht keine ,besonders rohe‘ zu sein […] Es kommt nicht allein auf die rohe Form des Angriffs an; vielmehr kann die Beschimpfung auch in der Aufstellung einer besonders ehrenrührigen Behauptung gefunden werden. […] Eine ,formale Beleidigung‘ ist also nicht erforderlich. […] Der beschimpfende Sinn muß verständlich sein […] Berechtigter Unwille entschuldigt nicht […]. Angetrunkener Zustand kann Bewußtsein, daß die Äußerung im beschimpfenden Sinne verstanden würde, ausschließen […]. Es genügt nicht, daß der Täter wußte, was er tat, er muß auch fähig sein, es vernunftgemäß zu wollen, er muß noch Hemmungen zugänglich sein, die ihn von der Tat abhalten […].“ Brecht, VGA, S. 357 f (Herv. im Orig.). Zu den entsprechenden rechtlichen Regelungen im Ersten und Zweiten Republikschutzgesetz vgl. Gusy, Weimar, S. 159 ff sowie S. 179 ff.
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik
Arbeiten zum Schutz der Republik vor allem angekommen sei: auf eine „Erneuerung des Geistes“351. Er führt aus: „Zum Schutze der Republik gehörte mehr als nur der Kampf für die Staatsform. Krieg, Niederlagen der auswärtigen Politik, Inflation, Mörderorganisationen352, Parteikämpfe hatten das seelische Gleichgewicht zerstört. Was konnte geschehen, um seelisches Leben aufzuwecken, zu stützen, zu ermuntern?“353
Folgt man Brecht, ging es – zumindest im Rückblick – also nicht nur um eine rein rechtliche Gewährleistung stabiler demokratischer Strukturen, sondern um etwas viel Grundlegenderes: um die „Seele“ des deutschen Volkes.354 Wissenschaftlich und juristisch sehr viel komplexer argumentiert Brecht in seinem Kommentar zum Ausnahmerecht (Art. 48 WRV), in dem auch eine kurze Auseinandersetzung mit Carl Schmitt zu finden ist. Bemerkenswert ist hieran vor allem, daß dies – neben dem Stenogrammbericht über den Prozeß vor dem Staatsgerichtshof im Oktober 1932 – meines Wissens die einzige Passage in seinem gesamten (veröffentlichten) Werk ist, in der er sich explizit mit Schmitt auseinandersetzt. Brecht kritisiert hier die von Schmitt vorgenommene Trennung von Art. 48 351 Brecht, Nähe, S. 440. Brecht erklärt auch, worin sein eigener Anteil an dieser „Erneuerung des Geistes“ bestanden habe: „Den Schwerpunkt unserer Aufgabe habe ich auch unter den der Republik wohlgesinnten Ministern nie in der Ausgabe von Geldmitteln gesehen. […] Konstruktive Arbeit war wichtiger. Dieser Überzeugung dienten meine eigenen Arbeiten zur Reichsreform und Verwaltungsreform. Die Erneuerung des Geistes in Schulen und Universitäten […], des Geistes der evangelischen Kirche in ihren politischen Äußerungen, ja auch des Geistes in den Parteien selbst lag zum größten Teil außerhalb meiner amtlichen Kompetenz. Aber ich konnte den verantwortlichen Stellen Anregungen geben, und das tat ich fleißig.“ Ebd., S. 440 f. 352 Die Bestimmungen gegen die sog. „Mörderorganisationen“, auf die Brecht hier Bezug nimmt, wurden in den Paragraphen 1 – 6 des Ersten Republikschutzgesetzes festgelegt. Vgl. dazu Gusy, Weimar, S. 149 ff. 353 Brecht, Nähe, S. 442. 354 So argumentiert er auch mit Blick auf die Auswirkungen der Inflation: „Die Inflation nahm ein solches Ausmaß an, daß der seelische Zustand des deutschen Volkes schon aus diesem Grunde dem Wahnsinn nahe kam.“ Brecht, Nähe, S. 402 (Herv. von mir, H.B.). Diese Terminologie hat aber – um Mißverständnissen vorzubeugen – nichts mit nationalsozialistischem Gedankengut zu tun. Der Begriff der „Volksseele“ oder auch des „Volksgeistes“ geht ursprünglich auf Johann Gottfried von Herder zurück und fand vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts im philosophischen Denken und in anderen einzelwissenschaftlichen Disziplinen Verbreitung. Aufgegriffen wurde der Begriff u. a. auch von Hegel und von der Historischen Rechtsschule. Eine Interpretation und Weiterentwicklung eigener Art erfuhr der Begriff in der Völkerpsychologie; politisch instrumentalisiert wurde er schließlich durch die nationalsozialistische Ideologie, in deren Nähe Brecht jedoch keinesfalls gerückt werden kann. Vgl. zur Begriffsgeschichte Grossmann, Andreas: Volksgeist; Volksseele, in: Ritter, Joachim u. a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 11, Basel 2001, Sp. 1102 – 1107. Zum Herderschen Volksbegriff siehe auch Koselleck, Reinhart u. a.: Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: ders./Conze, Werner/Brunner, Otto (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 7, Stuttgart 1992, S. 141 – 431 (316 ff).
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Abs. 2 Satz 1 und Satz 2.355 „Beliebige Durchbrechungen der RV.“, so Brecht, seien dem Reichspräsidenten nicht gestattet. Schmitt hingegen vertrete „grundsätzlich die abweichende Ansicht, daß im Abs. 2 der Satz 2 den Satz 1 nicht modifiziere, sondern selbständig daneben stehe. Der RPräs. könne sich danach auf Außerkraftsetzung der genannten Grundrechte beschränken und das übrige den ordentlichen Behörden überlassen […]. Er könne aber auch aus Satz 1 Maßnahmen treffen, welche andere Verfassungsbestimmungen, ohne sie außer Kraft zu setzen, tatsächlich durchbrächen. Dem ist nicht zuzustimmen.“356
Diese Kritik ist vor dem Hintergrund der „Antastbarkeits-“ oder auch „Durchbrechungslehre“ von Schmitt und Erwin Jacobi zu sehen, die auf der Staatsrechtslehrertagung 1924 in Jena Gegenstand der Debatte war.357 Brecht befindet sich damit im Konsens mit der von Richard Grau formulierten Gegenposition – nämlich der Unantastbarkeitslehre, die von der „Unantastbarkeit der Verfassung außerhalb der in Art. 48 II 2 WRVaufgezählten Fälle“358 ausgeht –, die sich in der Rechtswissenschaft mehrheitlich durchsetzte und bis zum Ende der Weimarer Republik vorherrschend blieb.359
355 Art. 48 Abs. 2 WRV lautet: „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.“ 356 Brecht, VGA, S. 389. Brecht räumt sodann ein, daß nach Schmitt der Reichspräsident aber „das in Art. 48 vorgesehene Mindestmaß an Organisation nicht anrühren“ könne. Ebd. Michael Stolleis faßt zusammen, worum es hier im Kern geht: „Schmitt […] gab dem Reichspräsidenten […] im Ergebnis mehr Befugnisse, begrenzte sie aber sowohl zeitlich als auch inhaltlich durch Aufzählung einer Reihe diktaturfester Elemente.“ Stolleis, Michael: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Dritter Band: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914 – 1945, München 1990, (im folgenden: GÖR III) S. 188 f. 357 In der „Frage der Antastbarkeit von Verfassungsrecht“ geht es nach einer Definition von Kathrin Groh um „die Frage nach der Möglichkeit, die Geltung von Verfassungsnormen zu suspendieren“. Mit der „Durchbrechungslehre“ hätten Schmitt und Jacobi „eine Auslegung“ entwickelt, „die Art. 48 WRV in einen Rechtssatz umformte, der die kommissarische Diktatur zu legitimieren geeignet war“. Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer, S. 538 und 540. Vgl. dazu auch Jahn, Matthias: Das Strafrecht des Staatsnotstandes. Die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe und ihr Verhältnis zu Eingriff und Intervention im Verfassungs- und Völkerrecht der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2004, S. 155 ff. 358 Jahn, Strafrecht, S. 156. Groh faßt es so zusammen: „Die absolut unüberschreitbare Grenze für die Maßnahmen des Reichspräsidenten bildete in der demokratischen Staatsrechtslehre die Unveränderlichkeit der geschriebenen Verfassung selbst.“ Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer, S. 541. 359 Die Debatte über Schmitts und Jacobis Theorie wurde später im Prozeß vor dem Staatsgerichtshof nochmals aufgegriffen; vgl. dazu Kapitel I.3.a).
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik
Um die Frage der Verfassungsgerichtsbarkeit geht es in einem Aufsatz, den Brecht für die sozialdemokratische Zeitschrift „Die Gesellschaft“ verfaßt hat.360 Hintergrund war die Debatte um die richterliche Normenkontrolle und das in diesem Zusammenhang vom Reichsgericht am 4. November 1925 erlassene Urteil, nach dem „jedes Gericht das Recht habe, vor der Anwendung eines Reichsgesetzes dessen Verfassungsmäßigkeit selbständig zu prüfen“.361 Brecht arbeitete daraufhin im Reichsinnenministerium einen Gesetzentwurf aus, nach dem „die Befugnis, Reichsgesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen, beim Staatsgerichtshof monopolisiert werden“ sollte362, was jedoch nicht realisiert wurde.363 Vor diesem Hintergrund also setzte sich Brecht für „ein Gesetz über [die] Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen“ ein und schrieb mit anderen Worten „ein Plädoyer für eine verfassungsgerichtliche Normenkontrolle“364. Eine nicht tragbare Konsequenz des Urteils von 1925 lag für ihn darin,
360
Vgl. Brecht, GüN. Holste, Reichsreform, S. 58; Brecht, GüN, S. 511. Holste erläutert: „Die Weimarer Verfassung hatte mit dem Staatsgerichtshof erstmals ein Verfassungsgericht geschaffen. Ob das Gericht aber auch Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der höherrangigen Verfassung überprüfen und gegebenenfalls für verfassungswidrig erklären konnte, hatte die Nationalversammlung nicht entschieden.“ Holste, Reichsreform, S. 58. Das Urteil des Reichsgerichts löste in der Staatsrechtswissenschaft eine Diskussion aus, die 1926 auch Gegenstand des 34. Deutschen Juristentages (DJT) in Köln war (vgl. dazu Wendenburg, Helge: Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, Göttingen 1984, S. 72 ff). Auch Brecht nahm an dem DJT teil und hob zunächst auf die Verflechtung von Politik und Recht ab: „Den Umstand, daß ich vom Reichsminister des Innern als Leiter der Verfassungsabteilung mit Unterstützung meines Verfassungsreferenten hierher geschickt worden bin, betrachten Sie bitte als Kompliment vor der Tatsache, daß der Juristentag einen erheblichen Einfluß auf die Gesetzgebung nicht nur auf anderen Gebieten, sondern neuerdings immer stärker auch auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts hat und nach unserem Wunsch haben soll. Wir begrüßen diese Entwicklung.“ Sodann versucht er klarzustellen, „daß doch über eine ganze Reihe von Punkten ein Einverständnis besteht: zunächst darüber, daß die Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen einem Gerichtshof besonders übertragen sein soll, zweitens darüber, daß es der Staatsgerichtshof sein soll, drittens sogar über die anrufenden Stellen“. Differenzen bestünden lediglich in der Frage, „wie die Sache an den Staatsgerichtshof gebracht wird“: „der direkte Weg der Anrufung durch das Gericht oder der Weg, daß das Gericht Mitteilung macht und der Reichsregierung dadurch Gelegenheit gibt, den Staatsgerichtshof anzurufen.“ Brechts Beitrag ist abgedruckt in: Verhandlungen des 34. Deutschen Juristentages (Köln), hrsg. v. dem Schriftführer-Amt der ständigen Deputation, 2. Band (Stenographischer Bericht), Berlin/Leipzig 1927, S. 255 f. Siehe dazu auch Wehler, Wolfgang: Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. Die politische Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Zeit der Weimarer Republik, Bonn 1979. 362 Holste, Reichsreform, S. 58 f. 363 Holste macht in diesem Kontext auf eine Kontinuitätslinie zwischen Weimar und Bonn aufmerksam: „Erst dem Grundgesetz von 1949 blieb es vorbehalten, unter unverkennbarem Rückgriff auf die Gedanken und Formulierungen des Gesetzentwurfs von 1926 erstmals in Deutschland eine Verfassungsgerichtsbarkeit mit einer abstrakten und konkreten Normenkontrolle zu verwirklichen.“ Holste, Reichsreform, S. 60. 364 Holste, Reichsreform, S. 59. 361
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„daß in einem künftigen Zweifelsfalle über die Verfassungsmäßigkeit eines gehörig verkündeten, mit einfacher Mehrheit erlassenen Reichsgesetzes nicht der Reichstag und nicht ein höchstes Gericht, sondern eine Vielheit von Gerichten, und zwar unter Umständen verschieden, entscheiden würde“.365
Zur Beseitigung dieser Gefahr habe man nur die Wahl zwischen Ausschluß der Nachprüfung durch die Gerichte oder der Bestimmung einer „einheitliche[n] höchste [n] richterliche[n] Instanz“366. Ein Ausschluß der Normenkontrolle kam für Brecht aber nicht in Frage. Mit Blick auf den kritischen Zustand der Weimarer Demokratie argumentiert er, daß ein solcher Ausschluß „seine bedenkliche Seite gerade vom Standpunkt der Republik“ habe: „Es ist noch nicht lange her, daß mit dem Plan gespielt wurde, mit Hilfe des Artikels 48 der Reichsverfassung eine dauernde Diktatur einzuführen und in gleitender Form vom legalen in den illegalen Zustand überzugehen. Die Gerichte würden solche Verordnungen als verfassungswidrig für ungültig zu erklären haben.“367
Brecht erkennt somit in der gerichtlichen Normenkontrolle einen zentralen Faktor zur Aufrechterhaltung und Stabilität der Demokratie. Und so erklärt er auch: „Die Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit ist unter Umständen ein wichtiger Schutz der Verfassung gegen Verfassungsbrecher!“368 Vergleicht man diesen Standpunkt mit den Positionen der Weimarer Staatsrechtslehre, läßt sich feststellen, daß Brecht mit seiner Skepsis gegenüber einer zu starken Stellung des Reichspräsidenten gegen Schmitt und – zumindest in diesem Punkt – mit Kelsen argumentiert.369 Der 365
Brecht, GüN, S. 511 f. Eine weitere Gefahr bestehe „bei solchen Rechtsfragen, in denen es menschlich und juristisch eine ,örtliche Mentalität‘ gibt, wie z. B. bei Beanstandung von Reichsgesetzen in Bayern wegen vermeintlich verfassungswidrigen Eingriffs in die Landeshoheit“. Ebd., S. 512. 366 Brecht, GüN, S. 512. 367 Brecht, GüN, S. 513. 368 Brecht, GüN, S. 513. 369 Vgl. Schmitt, Carl: Der Hüter der Verfassung (1931), 4. Aufl., Berlin 1996 sowie die Replik von Hans Kelsen: Wer soll der Hüter der Verfassung sein? (1930/31), in: ders., Wer soll der Hüter der Verfassung sein? Abhandlungen zur Theorie von Verfassungsgerichtsbarkeit in der pluralistischen, parlamentarischen Demokratie, hrsg. v. Robert Chr. van Ooyen, Tübingen 2008, S. 58 – 105. In der Debatte um das richterliche Prüfungsrecht muß indes zwischen methodologischen und politischen Gesichtspunkten unterschieden werden: Wendenburg kommt zu dem – auf den ersten Blick überraschenden – Ergebnis, daß die „Vertreter positivistischer Methodologien und Anhänger demokratischer Parteien“ das richterliche Prüfungsrecht ablehnten, „während die Vertreter nichtpositivistischer Methodologien und Anhänger konservativer bis reaktionärer Parteien es befürworten“ (Wendenburg, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 205). Das hängt mit der jeweiligen Bewertung der Richterschaft und des Parlaments zusammen: Die Kritiker des Prüfungsrechts argumentierten, daß „eine weite Auslegung inhaltlich nicht konkret umrissener Grundrechte stark von den persönlichen politischen Argumenten der Richter abhänge, die häufig von der Anschauung der Parlamentsmehrheit abweiche“ (ebd., S. 220.). Die hiermit verbundene Gefahr einer „Politisierung der Justiz“ (ebd., S. 222) war aus ihrer Sicht umso größer, als die Richterschaft vorwiegend konservativ und republikfeindlich war (vgl. Holste, Reichsreform, S. 58). Gegenstand der Argumentation sind in diesem Fall also nicht methodologische, sondern politische Überlegungen. Die politische These der Gegenseite
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Staatsgerichtshof und nicht der Reichspräsident sollte nach Auffassung Brechts Hüter der Verfassung sein. Sein Plädoyer für eine Monopolisierung des Prüfungsrechts beim Staatsgerichtshof ist Ausdruck einer umsichtigen Argumentation, die um die Schwächen der Weimarer Verfassung weiß und ihnen die Idee der wehrhaften Demokratie entgegenstellt: „Ich glaube daher, man sollte das Kind nicht erst in den Brunnen fallen lassen, sondern den Brunnen rechtzeitig zudecken. […] Daß der Staatsgerichtshof nicht mit Gegnern, sondern mit Freunden der Verfassung und mit wirklichen Kennern der großen politischen Tatsachen und Zusammenhänge besetzt wird, das hat die parlamentarische Regierung in der Hand.“370
Heiko Holste kommt in seiner Auseinandersetzung mit den Reformarbeiten Brechts gleichwohl zu dem Ergebnis, daß sich bei Brecht „keine spezifisch demokratischen oder rechtsstaatlichen Motivationen erkennen“ ließen.371 Dies ist mit Blick auf Brechts oben vorgestellte Konzeptionen nicht zu verstehen. Zwar ist Holste dahingehend zuzustimmen, daß insbesondere Brechts Vorhaben im Bereich der Verwaltung „von Vereinheitlichungs- und Vereinfachungsgesichtspunkten getragen“ waren,372 doch entgegen Holstes Annahme erschöpften sie sich nicht in der Rationalisierung und Effizienzsteigerung von Verwaltungsabläufen, sondern unterlagen zugleich dem Ziel der „schöpferischen Initiative“ durch die Beamtenschaft – und das bedeutete für Brecht eben auch den Einsatz für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Gerade in bezug auf sein Plädoyer für eine Verfassungsgerichtsbarkeit läßt sich Holstes These, daß es Brecht an einem spezifischen „Rechtsschutzgedanken“373 gemangelt habe, nicht aufrechterhalten.
bestand in der „Warnung vor einem Parlamentsabsolutismus, gegen den nur das richterliche Prüfungsrecht eine wirksame Schranke aufrichten könne“. Wendenburg, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 220. 370 Brecht, GüN, S. 514. Wenig später ergänzt er: „Die meisten Menschen haben Angst vor ihren Freunden und vergessen darüber leicht ihre Feinde. Auch im Parlament sitzen nicht nur Freunde. Einfache Mehrheiten in verfassungsrechtlich zweifelhaften Fragen sind nicht immer Linksmehrheiten, sondern manchmal auch Rechtsmehrheiten.“ Ebd., S. 515. 371 Holste, Reichsreform, S. 62. 372 Holste, Reichsreform, S. 61. Holste bezieht sich hier auf die Debatte um die Errichtung eines Reichsverwaltungsgerichts (RVG), mit der auch Brecht befaßt war. Art. 107 der Weimarer Reichsverfassung sah die Schaffung eines RVG vor, was jedoch nicht realisiert werden konnte. (Vgl. zum historischen Hintergrund Kohl, Wolfgang: Das Reichsverwaltungsgericht. Ein Beitrag zur Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland, Tübingen 1991, S. 161 ff.) Nach Einschätzung von Kohl spielte Brecht „in wichtigen Phasen der Auseinandersetzung um das RVG eine zentrale Rolle“ (Kohl, Reichsverwaltungsgericht, S. 170; zu Brechts Positionen auch ebd., S. 241 f/275 f/284 f). In der Tat ging es Brecht dabei um Fragen der Vereinfachung: „Es geht nicht an, daß 18 Verwaltungsgerichte der verschiedenen Länder verschieden entscheiden und daß dann noch zwischen ihnen und dem Reichsgericht und zwischen beiden und den Oberlandesgerichten und dem Kammergericht die liebenswürdigsten Gegensätze bestehen.“ Brecht, Verwaltungsreform, S. 83 f. Vgl. auch Brecht, Reichsverwaltungsgericht (1927). 373 Holste, Reichsreform, S. 61.
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Auch in einem unveröffentlichten Manuskript von 1928 kommt deutlich zum Ausdruck, daß Brecht weitaus mehr im Blick hatte als die Herstellung einer effizienten Verwaltungstechnik.374 Sein Anliegen erschöpfte sich gerade nicht in der funktionalen Kategorie der Vereinfachung, sondern war getragen von einem zutiefst politischen Bewußtsein. Gegenstand des Manuskripts sind Reflexionen auf die deutsche Verfassungsgeschichte, denen Brecht – trotz des rednerischen Ursprungs des Textes – „eine mehr als rhetorische Bedeutung beimißt“, handele es sich hier doch um „verfassungsrechtliche und staatspolitische Erkenntnisse“.375 Im Hinblick auf ihre schwierige Entstehungsgeschichte befindet Brecht, daß man bei der Weimarer Reichsverfassung von einem ,Wunder von Weimar‘ sprechen könne.376 Eine Verfassung sei kein bloßes „Stück Papier“, sondern „das Schicksalsbuch des Volkes“377. Das Schicksal, das das Volk durch die Weimarer Reichsverfassung ereilt hat, besteht nach Auffassung Brechts darin, daß sich die vier wesentlichen Bestandteile der Verfassung – „Republik, Demokratie, Grundrechte und Reich und Länder“378 – nicht mehr unabhängig voneinander denken und verwirklichen ließen: „Jetzt ist kein Angriff auf die Republik mehr denkbar, der nicht gleichzeitig ein solcher auf die Demokratie und die Grundrechte, vielleicht379 auch auf die Reichseinheit wäre und umgekehrt.“380 Es lassen sich also auch an dieser Stelle keinerlei Anhaltspunkte dafür finden, an den „demokratischen oder rechtsstaatlichen Motivationen“ Brechts zu zweifeln. Mit Blick auf seine Würdigung der Weimarer Verfassung, die er ja sogar als „Wunder“ bezeichnet, ist auch die Kritik nicht zu verstehen, daß Brecht sich lediglich „in überaus moderater Form“ für die Verfassung eingesetzt habe.381 Problematischer, und in diesem Punkt ist Michael Ruck zuzustimmen,382 muß indes Brechts Position in bezug auf Gebietsansprüche des Deutschen Reichs erscheinen, denn hier, so heißt es zunächst, lag seine „gewisse Hoffnung“ im Zu374
Vgl. Brecht, PuG. Nach Angabe Brechts geht der Text „auf Verfassungsreden zurück, gehalten in Berlin bei der Immatrikulationsfeier der Hochschule für Politik am 15. Nov. 1929 und in Lübeck am Verfassungstage 1928“. Ebd., S. 1. – Zu diesem Zeitpunkt arbeitete Brecht bereits im preußischen Staatsministerium; da hier jedoch eine grundsätzliche Tendenz seiner Ansichten erkennbar wird, wird an dieser Stelle in der Chronologie vorgegriffen. 375 Brecht, PuG, S. 1. 376 Brecht, PuG, S. 1 (im Manuskript durchgestrichen). 377 Brecht, PuG, S. 4. Die in der Literatur häufig aufgegriffene Wendung von der geschriebenen Verfassung als einem „Blatt Papier“ geht auf Ferdinand Lassalle zurück: Lassalle, Ferdinand: Über Verfassungswesen. Ein Vortrag, gehalten in einem Berliner Bürger-Bezirksverein 16. April 1862, in: ders., Reden und Schriften, hrsg. v. Hans Jürgen Friederici, Leipzig 1987, S. 120 – 147 (134 ff). Siehe dazu auch Brecht, Nähe, S. 142. 378 Brecht, PuG, S. 2. 379 Vermerk im Manuskript: „Vielleicht“ statt durchgestrichen „ja wohl“. 380 Brecht, PuG, S. 3. 381 So Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 186. 382 Vgl. Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 198.
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sammenschluß von Deutschland und Österreich.383 An anderer Stelle modifiziert er diese Position jedoch und stellt klar, daß die „Sehnsucht nach einem Nationalstaat […] in den Grenzen des kleindeutschen Reiches im wesentlichen erfüllt“ sei.384 Es läßt sich also festhalten, daß Brecht – dies zumindest spiegeln die hier herangezogenen Texte wider – durchaus um Reformen im Sinne der Demokratie bemüht war und auch seine Selbstbeschreibung, daß er „im Mittelpunkte des Kampfes um die Verfassung, um die Erneuerung der Verwaltung und um den Schutz der Republik“ gestanden habe, nicht abwegig zu sein scheint. Kritik muß allerdings da geübt werden, wo Brechts Selbsteinschätzung als überhöht anzusehen ist. Dies betrifft vor allem Passagen in seiner Autobiographie, in denen es um Reformprojekte geht, die nur wenig erfolgreich waren oder deren Verantwortung nicht allein in Brechts Händen lag.385 Daß Brecht ein überzeugter Demokrat war und es keinen Grund gibt, an seiner politischen Standfestigkeit und historischen Bedeutung386 zu zweifeln, dürfte dennoch außer Frage stehen. Genau das aber zieht Michael Ruck in Zweifel. Zwar gesteht er Brecht punktuell ein glaubhaftes Bekenntnis zur demokratischen Republik zu, „grundsätzlich“ jedoch habe er „seine elitäre Distanz zum parlamentarischen Politikbetrieb und sein utilitaristisches Verhältnis zur Frage der Staatsform nicht verhehlen“ können.387 Worin dieses „utilitaristische Verhältnis“ bestehen soll, wird in den folgenden Ausführungen seiner Kritik deutlich: Politische Motive hätten bei Brechts „Aktivitäten auf dem Feld der technischen Verwaltungsreform“ nicht im Vordergrund gestanden;388 Ruck meint sogar, „eine bemerkenswerte Distanz zu den
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Brecht, PuG, S. 8. Brecht, RuR, S. 7 f. 385 Zu denken ist z. B. an Brechts Arbeit an einem neuen Beamtengesetz, das während seiner Amtszeit nicht mehr zustande kam (vgl. Brecht, Nähe, S. 435 f sowie Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 186 f), oder die Arbeiten zum Schutz der Republik, für die Brecht ja nicht allein verantwortlich war. 386 Die historische Bedeutung, die Brecht für die Weimarer Republik hatte, und das Ansehen, das er während dieser Zeit genoß, zeigt sich auch in der Tatsache, daß ihm das Angebot unterbreitet wurde, eine Berufung als Polizeipräsident von Berlin anzunehmen. Brecht lehnte das Angebot, das auch keinen beruflichen Aufstieg bedeutet hätte, ab. Vgl. dazu Brecht, Nähe, S. 452 f, auch S. 424 f. Im Anhang (S. 515) befindet sich sein Ablehnungsschreiben an das preußische Innenministerium. Daß er diese „überraschende Anfrage“ überhaupt erhalten habe, verdanke er der Autorität, die er „als Kenner der Verfassung, des Vereins- und Versammlungsrechts, des Republikschutzgesetzes und des Ausnahmerechts (Artikel 48) erworben hatte“. Diese wie auch die folgende Selbsteinschätzung Brechts ist – auch wenn sein Eigenlob befremdlich erscheinen mag – sicher zutreffend und bietet in der Tat eine plausible Erklärung für das ihm unterbreitete Angebot: „Auch genoß ich auf beiden Seiten den Ruf, ein erfolgreicher Vermittler in Konflikten zu sein, mit Ruhe und Humor in Verhandlungen und mit Verständnis für Beschwerden, aber mit Festigkeit im Grundsätzlichen und in den Staatsnotwendigkeiten.“ Ebd., S. 453. 387 Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 198. 388 Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 202. 384
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politischen und sozialen Tagesereignissen“ zu erkennen.389 Er begründet dies – ähnlich wie Holste – damit, daß Brechts Interesse lediglich dem Funktionieren der Verwaltungstechnik gegolten habe, und zwar unabhängig von der Staatsform. Daß Brecht sich selbst als „maßgeblicher Erneuerer des politisch-administrativen Systems von Weimar“390 sah, sei nur „auf den ersten Blick“ ein Widerspruch: „Denn bei näherem Hinsehen steht Brecht in der Tradition jener strukturkonservativen Modernisierer, welche die deutsche Verwaltung durch institutionelle Modifikation und interne Optimierung möglichst unbeschadet aus dem ,Dilemma‘ zu befreien suchten, das grassierende Aufgabenexpansion und chronische Ressourcenknappheit unter wechselnden politischen und konstitutionellen Rahmenbedingungen immer wieder heraufbeschworen haben. Administrative Reformen als Antwort auf die Herausforderungen des langfristigen Funktionswandels wie auch temporärer Veränderungsimpulse aus dem politischen Raum sind in Deutschland seit dem frühen 19. Jahrhundert regelmäßig nicht durch revolutionäre Umstrukturierungen, sondern jeweils nur durch graduelle Erweiterung, Ausdifferenzierung und Modifikation der bestehenden Verwaltungen durchgesetzt worden. Arnold Brecht war ein typischer Vertreter dieser evolutionären Modernisierung in bewahrender Absicht.“391
Ruck übersieht dabei, daß Brechts Einsatz in den verschiedenen Bereichen seiner Tätigkeit stets dem Erhalt und der Stabilisierung der Weimarer Demokratie gegolten hat. Brecht arbeitete am Ersten Republikschutzgesetz mit, er war Vorstandsmitglied der Walther-Rathenau-Gesellschaft392, er setzte sich für die Verfassungsgerichtsbarkeit ein, er kämpfte gegen eine zu starke Stellung des Reichspräsidenten und gab an keiner Stelle seines Wirkens Anlaß dazu, an seiner demokratischen Überzeugung zu zweifeln. Wie bereits eingangs erwähnt, wurde Brecht im April 1927 durch Walter von Keudell in den einstweiligen Ruhestand versetzt; Nachfolger von Brecht wurde Oberverwaltungsgerichtsrat von Kameke, der der deutschnationalen Partei angehörte. Im November 1933, nachdem Brecht Preußen vor dem Staatsgerichtshof vertreten und in einer Rede im Reichsrat Hitler ermahnt hatte, sich an die Verfassung zu halten, wurde er entlassen und mußte emigrieren – und all dies geschah sicher nicht, weil er ein „strukturkonservativer Modernisierer“ war, dessen Anliegen sich in einer „evolutionären Modernisierung in bewahrender Absicht“ erschöpfte. Ruck moniert, daß keines der Reformvorhaben Brechts nennenswerten Erfolg gehabt habe.393 Abgesehen davon, daß dies weder für die Geschäftsordnung394 noch 389
Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 193. Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 177. 391 Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 178. 392 Weitere Vorstandsmitglieder waren Edwin Redslob (1884 – 1973) und Hans Simons (1893 – 1972). Bedeutendes Mitglied der Walther-Rathenau-Gesellschaft war darüber hinaus auch Albert Einstein. Vgl. Handbuch für das Deutsche Reich 1926 (Jg. 43), S. 135. Zu Redslob und Simons auch Brecht, Nähe, S. 378 f. 393 Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 187; 200. 394 Zwar gesteht Ruck Brecht zu, daß er „auf dem Feld der Reorganisation verwaltungsinterner Geschäftsabläufe“ praktische Ergebnisse vorweisen konnte (Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 187), doch relativiert Ruck diesen Befund sogleich, indem er kritisiert, daß 390
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik
für das von ihm entwickelte Gesetz für Staatsausgaben395 gilt, geraten hier auch verschiedene Ebenen durcheinander – denn wieviel Erfolg Brecht mit seinen Reformvorhaben hatte, ist für die Frage seiner politischen Einordnung nicht entscheidend. Zwar muß Brechts Selbstbeschreibung als „demokratischer Reformator“ des Innenministeriums in der Tat als überhöht gelten, aber nicht deshalb, weil es ihm an demokratischer Überzeugung gemangelt hätte, sondern weil die Bezeichnung eine Bedeutung suggeriert, welche er, zumindest was die nicht durchsetzbaren Reformvorhaben betrifft, in diesem Ausmaß nicht hatte.396 Ruck verkennt darüber hinaus, daß eine demokratische Orientierung nicht nur in der politischen Praxis, sondern bereits in der Begrifflichkeit kennzeichnend für Brecht ist. Wie dargelegt, enthalten Brechts Vorstellungen von Beamtentum und Verwaltung ein eindeutiges Bekenntnis zur Demokratie; seine theoretische Konzeption ebenso wie deren praktische Umsetzung bewegen sich gerade nicht unabhängig von der Staatsform, sondern sind eng an die der Demokratie gebunden. Zu kurz gegriffen ist daher auch Rucks Versuch, Brechts Ansätze und Tätigkeiten auf vier gemeinsame Nenner zu bringen: „Bestimmend für das Brecht’sche Denken und Handeln bis zum Ende der Weimarer Republik waren vier Triebkräfte: ein tiefverwurzelter Patriotismus und ein etatistischer Institutionalismus, sein individueller Ehrgeiz und administrativer Gestaltungswille, gepaart mit einem ausgesprochenen Pragmatismus in der Sache selbst wie bei der Verfolgung seiner Anliegen.“397 nicht Brecht der maßgebliche Initiator auf diesem Gebiet gewesen sei, sondern die hier wesentlichen Ziele „bereits vor der Revolution von 1918/19 von Bill Drews und anderen formuliert worden“ seien (ebd., S. 202). Geht es nach Ruck, so war Brechts „Stärke nicht so sehr die Formulierung grundlegender Konzeptionen und Ziele; stattdessen konzentrierte er seine Energie in der Hauptsache auf deren Operationalisierung und Implementation“ (ebd., S. 188). 395 1932 formulierte Brecht in einem Vortrag an der Deutschen Hochschule für Politik das „Gesetz von der progressiven Parallelität zwischen Ausgaben und Bevölkerungsmassierung“ (vgl. Brecht, Internationaler Vergleich der öffentlichen Ausgaben), das Eingang in die finanzwissenschaftliche Diskussion fand. Später wurde nach ihm das „Brechtsche Gesetz“ benannt, das noch in der heutigen Finanzwissenschaft Anerkennung findet. Vgl. dazu Kähler, Das Brecht’sche Gesetz der Staatsausgaben. – Zwar formulierte Brecht dieses Gesetz erst während seiner Tätigkeit im preußischen Staatsministerium, doch auch für diesen Zeitraum konstatiert Ruck, daß Brecht kaum praktische Erfolge beschieden wären; vgl. Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 200. 396 Holste pflichtet Ruck bei und erklärt, Ruck habe „nachgewiesen“, daß Brechts eigene Charakterisierung als „demokratischer Reformator“ nicht zutreffend sei. Holste, Reichsreform, S. 56. Von einem „Nachweis“ kann an dieser Stelle allerdings schwerlich die Rede sein, da es sich lediglich um sehr diskussionsbedürftige Thesen handelt. 397 Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 202. Fragwürdig müssen auch die von Ruck angeführten Belege erscheinen, die sämtlich aus Brechts Autobiographie stammen. Vor allem der von Ruck konstatierte „etatistische Institutionalismus“ läßt sich aus der von ihm angegebenen Passage nicht ableiten. Es stellt sich darüber hinaus die Frage, von welcher Ansicht der Begriffe er hier ausgeht; denn man gewinnt an dieser Stelle den Eindruck, daß Ruck die hier aufgezählten Eigenschaften unreflektiert verwendet und nicht aus ihrer Zeit heraus versteht. Dies gilt insbesondere für seine Kritik an Brechts Patriotismus.
2. Verfassung, Verwaltung und Beamtentum
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Geradezu absurd aber ist Rucks These, daß Brecht, „der ebenso befähigte wie karrierebewußte Nachwuchsbeamte“, die Ziele der technischen Verwaltungsreform „mutmaßlich auch unter anderen politischen Auspizien durchzusetzen versucht“ hätte.398 Bereits oben wurde dargelegt, daß sich für eine derartige Vermutung keinerlei Anhaltspunkte finden lassen.399 Und so kann auch Rucks abschließende Feststellung nicht überzeugen, daß Brecht zu „Weimarer Zeiten […] kein genuin ,demokratischer Reformator‘“, sondern „allenfalls ein ,bürokratischer Innovator‘“ gewesen sei – „und auch dies nur mit begrenztem Erfolg“400. Abgesehen davon, daß mit dieser Aussage nicht klar wird, was genau einen „bürokratischen Innovator“ auszeichnen soll, ist diese Charakterisierung Brechts auch im Hinblick auf die Tatsache, daß er überbordende Bürokratie und Bürokratismus in vielen Stellen seines Werks als Schreckensbild zeichnet401, grundlegend verfehlt. Die hohe Anerkennung, die Brecht während der Weimarer Republik genoß, ist ein weiteres Indiz dafür, daß von politischer Bedeutungslosigkeit kaum die Rede sein kann.402 Dies gilt auch für seine Tätigkeit im preußischen Staatsministerium. 398 Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 202. Ruck versucht in einer Fußnote seine Behauptung mit dem Hinweis zu unterfüttern, daß sich „[b]ezeichnenderweise der engste Mitarbeiter Brechts im RIM, Ministerialrat Dr. Kaisenberg, Anfang 1933 – ebenso wie Oberregierungsrat Dr. Medicus aus der Verfassungsabteilung – alsbald aktiv in den Dienst der führerstaatlichen Gleichschaltungspolitik“ stellte. Ebd., Fn. 101. Auch hier kann man über die Schieflage der Argumentation nur staunen – denn wie sich Mitarbeiter von Brecht nach der „Machtergreifung“ politisch verhielten, sagt nichts über seine eigene politische Orientierung aus. Im Hinblick auf die Tatsache, daß Brecht bekanntlich emigrieren mußte, weil er gerade nicht zu den Nationalsozialisten überlief, müssen Rucks Überlegungen umso abwegiger erscheinen. 399 Dies gilt auch trotz einiger Zugeständnisse, die Brecht, wenn auch ohne Erfolg, nach seiner Entlassung im Juli 1933 im Kampf um seine berufliche Position an das NS-Regime gemacht hat. Ruck weist an anderer Stelle kritisch darauf hin (Ruck, Verfassungsentwicklung, S. 213 f). Vgl. zu diesen Zusammenhang ausführlich Kapitel I.3.c) und II.1. 400 Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 202. 401 Vgl. etwa Brecht, Bureaucratic Sabotage (1937); ders., How Bureaucracies Develop and Function (1954); ders., Bürokratie (1958); ders., Nähe, S. 433 ff (1966). 402 Daß Brecht auf allen Seiten Anerkennung genoß, muß auch Ruck eingestehen: Vgl. Ruck, Verfassungsentwicklung, S. 212. Hohes Ansehen hatte Brecht auch bereits während seiner Zeit in der Reichskanzlei, die er, wie er in einem undatierten Lebenslauf angibt, wegen „wirtschaftliche[r] Meinungsverschiedenheiten mit Wirth“ im November 1921 verließ. (Vgl. Lebenslauf II, in: BAK, NLB, N 1089/3. Der Lebenslauf wurde vermutlich kurz vor seiner Emigration im September 1933 verfaßt. Worin die Differenzen zwischen Brecht und dem neu ernannten Reichskanzler Joseph Wirth bestanden, wird aus dem vorhandenen Material nicht eindeutig erkennbar. In seiner Autobiographie widmet Brecht Wirth ein ganzes Kapitel, in dem er zu diesem Sachverhalt jedoch nicht explizit Stellung nimmt. In seiner Beschreibung der Arbeitsweise Wirths ist allerdings Kritik herauszuhören, so etwa in der folgenden Passage: „Gewisse Grenzen seiner [Wirths, H.B.] Führerbegabung zeigten sich sogleich darin, daß er es nicht verstand, mit einer bürokratischen Apparatur zu arbeiten.“ Brecht, Nähe, S. 344. Aus der Sicht von Ruck kaschiert Brecht in seiner Autobiographie den eigentlichen Sachverhalt. Vgl. Ruck, Patriotischer Institutionalismus, S. 181, Fn. 18.) Daß Brecht dieses Ansehen hatte, geht aus Briefwechseln hervor, die er in dieser Sache mit dem ehemaligen Chef der Reichskanzlei
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik „An tragischer Bedeutung für Deutschland steht […] der 20. Juli 1932 dem 20. Juli 1944 kaum nach.“403
3. Preußen contra Reich (Preußisches Staatsministerium) Nachdem Brecht durch von Keudell in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden war,404 holte Otto Braun ihn in das preußische Staatsministerium. In seinen Erinnerungen reflektiert Braun die politischen Hintergründe der Entlassung Brechts: „Brecht, keiner Partei angehörig, aber ein charakterfester Mann von demokratischer Gesinnung, der Prototyp des kenntnisreichen, zuverlässigen Beamten, der der Republik loyal diente, nahm das nicht ohne weiteres hin, sondern versuchte den Minister zur Zurücknahme seiner Anordnung zu bewegen. Als das nicht gelang, da seine berechtigten, sachlichen Gründe den parteipolitischen Erwägungen des deutschnationalen Ministers weichen mußten, trat er in den einstweiligen Ruhestand. Er wurde bezeichnenderweise ersetzt durch einen Mann, der zuvor Ministerialrat in meinem Ministerium war und von dem ich mich nach offener Aussprache getrennt hatte, da er bei seiner stockkonservativen Gesinnung mir nicht loyal dienen konnte, wie ich es von den Beamten meines Ministeriums verlangen mußte.“405
Aus den Akten der Reichskanzlei geht hervor, daß Brauns kritische Einschätzung realistisch war. So wird Vizekanzler Oskar Hergt im Protokoll der Ministerbesprechung vom 7. April 1927 mit den Worten zitiert, „es möchte bei den Personalentscheidungen Rücksicht auf die eben gebildete neue Koalition und den Eintritt der Deutschnationalen Partei genommen werden. Es scheine ihm ein be-
Heinrich Albert und Walter Simons führte (vgl. Heinrich Albert an Arnold Brecht, Berlin, 29. 8. 1921, BAK, NLB, N 1089/3 sowie Walter Simons an Arnold Brecht, Berlin-Lichterfelde, 12. 9. 1921, ebd.). 403 Brecht, Kraft, S. 99. 404 Die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand bewegte sich im Rahmen der Verfassung; vgl. WRV Art. 129, Abs. 2. Wolfgang Runge stellt dies als ein besonderes Merkmal der politischen Beamten heraus: „Ihr Status war von dem der übrigen Beamten dadurch unterschieden, daß sie jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden konnten.“ Dieser besondere Status geht nach Runge auf die Jahre 1848/49 zurück, erfuhr jedoch nach dem 9. November 1918 keine wesentliche Änderung. Vgl. Runge, Politik und Beamtentum S. 21 f. Dies ist bis heute gültig geblieben; so sieht auch das aktuelle Bundesbeamtengesetz eine entsprechende Regelung vor. Vgl. BBG (Stand: 5. 2. 2009), § 54. 405 Braun, Otto: Von Weimar zu Hitler, 2. Aufl., New York 1940, S. 224. Die Annahme Wolfgang Runges, daß Brecht Mitglied der DDP gewesen sei, ist falsch (Runge, Politik und Beamtentum, S. 211). Auch Erich Matthias und Rudolf Morsey ordnen Brecht fälschlicherweise dem „staatsparteilichen Lager“ zu. Vgl. Matthias, Erich/Morsey, Rudolf: Die Deutsche Staatspartei, in: dies. (Hg.), Das Ende der Parteien 1933, Düsseldorf 1960, S. 31 – 97 (43). Daß Brecht in der „öffentlichen Wahrnehmung“ „eher den Deutschen Demokraten“ zugeordnet worden sei, behauptet auch Michael Ruck; Belege führt er dafür allerdings nicht an. Ruck, Verfassungsentwicklung, S. 212.
3. Preußen contra Reich (Preußisches Staatsministerium)
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rechtigtes politisches Verlangen zu sein, daß dort, wo Möglichkeiten bestünden, seitens der Ministerkollegen Entgegenkommen geübt werde.“406
Laut Protokoll hat das gesamte Kabinett darin übereingestimmt, „daß den von Reichsminister Hergt vorgetragenen Wünschen in bezug auf künftige Berücksichtigung deutschnationaler Wünsche […] nach aller Möglichkeit Rechnung getragen werden solle“407. Walter von Keudell, so heißt es weiter, kam sodann auf den aus seiner Sicht notwendigen Wechsel in den Leiterstellen der Abteilungen zu sprechen. Keudells Überlegungen im Hinblick auf den Posten von Brecht gibt das Protokoll wie folgt wieder: „Ministerialdirektor Brecht sei zwar zweifellos ein überaus kenntnisreicher, angesehener und verdienstvoller Beamter; er glaube aber nicht, daß er – der Minister – die zahlreichen in der Verfassungsabteilung anhängigen Probleme in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit Ministerialdirektor Dr. Brecht der Lösung entgegenführen könne. Die besonderen Qualitäten des Ministerialdirektors Dr. Brecht müßten aber in einer seiner bisherigen Stellung würdigen anderweitigen Stellung Verwendung finden. […] Ministerialdirektor Brecht solle als Leiter der Abteilung I durch den preußischen Oberverwaltungsgerichtsrat von Kameke, der der deutschnationalen Partei angehöre, ersetzt werden.“408
Was den hier geäußerten Wunsch betrifft, Brecht möge in einer anderen Stelle untergebracht werden, ergibt sich aus dem Schriftwechsel zwischen Keudell und Brecht ein etwas anderes Bild. Denn zwar bestätigt Brecht, daß ihm eine gleichrangige berufliche Stellung in Aussicht gestellt wurde,409 praktische Folgen hatte dies indes nicht. Als Reichssparkommissar Saemisch ihm ein Angebot unterbreitet, das weit unterhalb seiner bisherigen beruflichen Position lag, schreibt Brecht empört an Keudell: „Dieses Ergebnis der Unterhaltung […] steht in einem scharfen Widerspruch zu den am 14. April vom Deutsch-Nationalen Pressedienst verbreiteten und von sämtlichen Blättern der Rechten und der Mitte ausführlich wiedergegebenen Meldung. Danach bin ich erst in den Ruhestand versetzt worden, nachdem Sie, Herr Minister, für eine anderweitige Verwendung mit gleichem Rang Sorge getragen hätten. […] Diese unrichtige Meldung ist bei vielen Zeitungen das einzige, was sie aus Anlaß meiner Verabschiedung gebracht haben 406
Das Kabinett Marx III/IV, Band 1, Dokument Nr. 221, Ministerbesprechung vom 7. April 1927, in: „Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik“ online (Bundesarchiv); URL: http://www.bundesarchiv.de/ aktenreichskanzlei/1919 – 1933/0010/index.html, aufgerufen am 21. 4. 2010. (Im folgenden abgekürzt als: Kabinett Marx III/IV, ARW.) 407 Kabinett Marx III/IV, ARW. 408 Kabinett Marx III/IV, ARW. Auch der Reichskanzler betonte laut Protokoll, daß Brecht „unter allen Umständen auch künftig in einer seiner ganz besonderen Befähigung entsprechenden Weise verwendet werden müsse“. Ebd. 409 So hält Brecht als Ergebnis einer Unterhaltung zwischen ihm und Keudell zunächst fest: „Sie haben in jener Unterhaltung meine Arbeit auf dem Gebiet der Verwaltung und des Beamtentums ausdrücklich anerkannt und hinzugefügt, daß sowohl das Kabinett wie der Herr Reichssparkommissar auf die Fortsetzung meiner Tätigkeit auf dem Gebiet der Verwaltungsreform Wert legen.“ Arnold Brecht an Walter von Keudell, z. Zt. Köln, 15. 4. 1927, BAK, NLB, N 1089/3.
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik […].410 Mir scheint aber, daß die Meldung des deutsch-nationalen Pressedienstes entweder – in ebenso weit reichender Weise – amtlich dementiert oder durch ein entsprechendes Angebot verwirklicht werden müßte, und daß ich darauf moralischen Anspruch habe.“411
Keudell bestreitet in dem Briefwechsel nicht, daß Brecht aus politischen Gründen entlassen wurde;412 und so liegt Brecht auch mit seiner späteren Einschätzung der 410
Dies bezieht sich allerdings nur auf die politisch rechtsstehende Presse. So berichtet Brecht 40 Jahre später in seiner Autobiographie, daß seine Entlassung einen „politischen Sturm“ ausgelöst habe: „Die Zeitungen brachten die Nachricht unter großen Überschriften und begleiteten sie mit ausführlichen Kommentaren, zum Teil mit langen Artikeln. Die Anonymität des Beamten, der ich mich bisher erfreut hatte und die meiner Staatsauffassung sehr zusagte, war plötzlich beendet. Was meine aktive Tätigkeit nicht vermocht hatte, erreichte das passive Geschick meiner Entlassung von einem Tage zum anderen. Mein Name wurde auch außerhalb der Kreise der Politiker, Beamten und Journalisten plötzlich bekannt und genannt.“ Brecht, Nähe, S. 468. Auch in einem Brief schreibt er, daß seine Entlassung „eine grosse Affäre“ gewesen sei und sehr viel Staub aufgewirbelt habe. Vgl. Arnold Brecht an Eberhard Pikart, New York, 9. 1. 1956, BAK, NLB, N 1089/23. 411 Arnold Brecht an Walter von Keudell, z. Zt. Köln, 23. 4. 1927, BAK, NLB, N 1089/3. – Beschwichtigend antwortet Keudell daraufhin, daß er „grundsätzlich“ Brechts Auffassung zustimme und „gegebenenfalls zu einer entsprechenden Mitteilung an die Presse bereit“ sei. Walter von Keudell an Arnold Brecht, Berlin, 27. 4. 1927, BAK, NLB, N 1089/3. Weitere Briefwechsel zwischen Keudell und Brecht liegen im Nachlaß Brechts nicht vor. 412 So widerspricht Keudell nicht, als Brecht ihn mit den folgenden Worten wiedergibt: „Sie haben ganz allgemein erklärt, daß Sie in der Zwischenzeit meine Arbeit gesehen und schätzen gelernt hätten, daß Sie sich aber gezwungen sähen, die Verfassungsabteilung mit einer Persönlichkeit zu besetzen, mit der Sie ein persönliches politisches Vertrauensverhältnis verbände und daß dies bei meinem Nachfolger der Fall sei, mit dem Sie seit langem befreundet seien. Auf Ihre Eröffnung habe ich geantwortet, daß ich die Entscheidung hiernach als politisch ansähe und als solche entgegennähme. Sie haben dem zugestimmt.“ Arnold Brecht an Walter von Keudell, z. Zt. Köln, 15. 4. 1927, BAK, NLB, N 1089/3. – Damit ist auch Keudells abwegige These widerlegt, die er fast 40 Jahre später in einem Leserbrief an die FAZ aufstellt. Brecht weist im Anhang seiner Autobiographie darauf hin und stellt verärgert klar: „[…] Keudell […] erklärt, er habe mich 1927 in Wirklichkeit nicht deshalb verabschiedet, weil ich zu demokratisch, sondern deshalb, weil ich zu national gewesen sei, nämlich wegen meiner ,Reichsverwaltungstendenzen‘ gegenüber Süddeutschland. Nur aus diesem Grund habe er mich durch einen mehr föderalistisch gesonnenen Beamten ersetzt. Daß ich demokratisch, der andere deutschnational gesonnen war, habe bei dem Wechsel keine Rolle gespielt. Den wirklichen Grund habe er damals weder mir noch der Öffentlichkeit mitgeteilt, vielmehr die heftigen Angriffe wegen seiner angeblich antidemokratischen Beweggründe schweigend auf sich genommen, um die sonst zu erwartenden Angriffe gegen das ,Einschwenken auf die föderalistische Linie‘ zu vermeiden.“ (Brecht, Kraft, S. 407.) Neben dem oben rezipierten Quellenmaterial, das das Gegenteil der Behauptungen Keudells belegt, ist auch ein Blick auf Keudells Biographie aufschlußreich: Ab 1933 war er Mitglied der NSDAP und stieg unter dem NS-Regime zum Generalforstmeister auf. Vgl. Biographien: Keudell, Walter von, in: „Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik“ online (Bundesarchiv); URL: http://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919 – 1933/0010, aufgerufen am 23. 4. 2010 (im folgenden abgekürzt als ARW, Biographien). Brechts Hoffnung indes, die deutschen Historiker mögen „diese Geschichte von dem ein Menschenalter lang schweigend ertragenen Martyrium unberechtigter Vorwürfe und der rein zufällig deutschnationalen Parteifärbung des für mich ernannten Nachfolgers“ nicht „als bare Münze historischer Wahrheit“ annehmen (Brecht, Kraft, S. 407), sollte spätestens hiermit erfüllt sein.
3. Preußen contra Reich (Preußisches Staatsministerium)
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politischen Gesamtsituation, vor deren Hintergrund seine Entlassung zu sehen war, richtig: „Aber im Kalender der Demokratie war es kein Frühlingstag. Denn es handelte sich nicht bloß um ein kleines Mißgeschick, das mir persönlich zugestoßen war. Es war ein neues, weithin sichtbares Symptom der schleichenden Krankheit der deutschen Demokratie, jenes Mangels an demokratisch-republikanischen Mehrheiten im Gesamtreich, der bereits zur Wahl eines nichtdemokratischen Reichspräsidenten und zweimal zur Ernennung deutschnationaler Innenminister geführt hatte, und der sich nun auch auf den Leiter der Verfassungsabteilung auswirkte.“413
Nachdem Brecht von verschiedenen Seiten Stellenangebote bekommen hatte,414 nahm er schließlich das Angebot Otto Brauns an, „als Ministerialdirektor im preußischen Staatsministerium die Vertretung Preußens im Reichsrat als einer der drei hauptamtlich für diese Aufgabe bestimmten stellvertretenden Bevollmächtigten zu übernehmen, besonders die Generalberichterstattung für den Reichshaushalt“415. Dieser Personalwechsel im preußischen Staatsministerium und im Reichsinnenministerium verschärfte die Frontstellung zwischen Preußen und dem Reich; dies umso mehr, als der Vorgänger Brechts zur politischen Rechten gehörte und das Angebot an Brecht damit gleichsam eine „Kampfbasis“ hatte.416 Otto Braun schreibt dazu: „So wurde es dann auch auf der anderen Seite der Wilhelmstraße sozusagen als unfreundlicher Akt gegen das Reich empfunden, als ich die wertvolle Kraft des Ministerialdirektors Brecht, die man aus parteipolitischen Gründen dort abstieß, mir aus staatspolitischen Gründen für Preußen sicherte.“417
Vor dem Hintergrund dieser politischen Ausgangslage, die sich immer mehr zuspitzen sollte, nahm Brecht seine Tätigkeit im preußischen Staatsministerium auf.418 Im Zentrum seiner Arbeit stand das große Projekt der Reichsreform419, an 413 Brecht, Nähe, S. 469. Auch Hagen Schulze betont die hohe Bedeutung, die dieser Vorgang hatte; nach seiner Einschätzung hatte die Entlassung Brechts darüber hinaus eine größere politische Dimension als jene von Heinrich Schulz, einem Kollegen Brechts, der ebenfalls in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden war: „Aber die Entlassung Brechts war mehr; das zeigte sich, als sein Nachfolger ernannt wurde […]. Daß dieser Mann an die Stelle eines der ganz wenigen hohen demokratisch gesinnten Reichsbeamten gerade an die Spitze der Verfassungsabteilung des Reichsinnenministeriums berufen wurde, mußte auf alle Anhänger des Weimarer Staates wie eine Kampfansage wirken.“ Schulze, Hagen: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie, Frankfurt a. M. u. a. 1977, S. 522. 414 So zumindest die Angaben in seiner Autobiographie. Demnach wollte der Leiter des Deutschen Beamtenbundes Flügel ihn „für die Leitung der Rechtsabteilung des Bundes“ gewinnen und die „Frau und Erbin des Gründers und Herausgebers der Weltbühne, Siegfried Jacobson“ ihn zur Herausgabe der Zeitschrift bewegen. Brecht, Nähe, S. 468 f. 415 Brecht, Nähe, S. 469. 416 Brecht, Nähe, S. 469. 417 Braun, Weimar, S. 224. 418 In seiner Autobiographie berichtet Brecht von Schwierigkeiten, die er mit der Umstellung vom Reichsministerium zum preußischen Ministerium hatte: „So war ich nun also preußischer Beamter, nicht mehr Reichsbeamter. Daran konnte ich mich zuerst schwer ge-
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik
deren Vorbereitung er als einer der drei Hauptbevollmächtigten im Reichsrat420 und als Mitglied des Verfassungsausschusses der Länderkonferenz, dem er von 1928 bis 1930 angehörte, maßgeblich beteiligt war.421 Die Motive für die ab 1928 aufkommende Debatte um die Reichsreform422 lagen in dem problematischen Verhältnis zwischen Preußen und Reich.423 Brecht, der von Braun in den Verfassungsausschuß der Länderkonferenz entsandt wurde und damit der einzige unter den anwesenden Ländervertretern war, der nicht das Amt eines
wöhnen. […] Meine innere Heimat war Lübeck, war Berlin, war Deutschland – vor allem Deutschland –, aber nicht Preußen. Ich fühlte mich als ,Muß-Preuße‘ […]. Der Grund war [..] hauptsächlich das Bewußtsein der gesunkenen politischen Bedeutung Preußens und das logische Ergebnis meiner Überlegung, daß Preußen im neuen republikanischen Deutschen Reich als gesonderte Einheit keine dauernde Daseinsberechtigung mehr hatte.“ Brecht, Kraft, S. 17. 419 Heiko Holste definiert den Begriff der Reichsreform wie folgt: „Unter dem Begriff der Reichsreform sind die Bemühungen um eine Veränderung und vermeintliche Verbesserung der Reich-Länder-Strukturen der Weimarer Republik zu verstehen. Reichsreform war vor allem Bundesstaatsreform. In territorialer Hinsicht wurde eine Veränderung des Zuschnitts der räumlichen Gliederung des Reiches und der Länder erstrebt, eine Funktionalreform hatte dagegen die Zuständigkeitsverteilung und Einflussrechte von Reich und Ländern im Blick. Geprägt wurde der Begriff ,Reichsreform‘ zwischen 1928 und 1930, als es zu offiziellen Verhandlungen zwischen Reichs- und Landesregierungen und Vorschlägen für Verfassungsänderungen kam.“ Holste, Heiko: Der deutsche Bundesstaat im Wandel (1867 – 1933), Berlin 2002, S. 322 f. Vgl. zum historischen Hintergrund auch Bracher, Karl Dietrich: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Königstein/Düsseldorf 1978, S. 491 ff. 420 Die genaue Amtsbezeichnung lautete ,Stellvertretender Bevollmächtigter zum Reichsrat im Hauptamt‘. Vgl. Brecht, Kraft, S. 24. Die anderen beiden stellvertretenden hauptamtlich Bevollmächtigten waren Hermann Badt (SPD) und Hermann Josef Coßmann (Zentrum). Vgl. ebd. 421 Neben der Reichsreform war Brecht nach eigenen Angaben mit den folgenden Tätigkeiten befaßt: „Sonst konzentrierte sich meine Arbeit aber bald auf die Teilnahme an den preußischen Kabinettssitzungen und auf den Reichsrat, den Reichshaushalt und die damit zusammenhängenden Aufgaben, besonders die Vertretung des Reichsrats bei den Ausschußund Plenarverhandlungen des Reichstags […]. Außerdem war ich stellvertretender Vorsitzender der Reichsschuldenkommission, Mitglied des Verwaltungsrats der Reichspost […], später Aufsichtsratsmitglied der Gesellschaft für öffentliche Arbeiten, und andres mehr.“ Brecht, Kraft, S. 25 f. 422 Dem voraus gingen mit den Worten Holstes eine „unitarische Frühphase“ und eine Phase der „Reföderalisierungsbestrebungen“. Holste, Bundesstaat, S. 323 ff. Zu den Ursprüngen und ersten Überlegungen zur Reichsreform auch Schulz, Gerhard: Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik. Band I: Die Periode der Konsolidierung und der Revision des Bismarckschen Reichsaufbaus 1919 – 1930, Berlin 1963, S. 453 ff. 423 Holste führt dazu aus: „Preußen empfand die Diskrepanz zwischen ökonomisch-realer Macht und Lastentragung einerseits sowie seiner staatsrechtlich-politischen Bedeutung andererseits als ,Entrechtung‘. Durch den Wegfall der preußisch-reichischen Personalunionen ergab sich ein Dualismus, der im Bereich der Verwaltung für Doppelarbeit und Kompetenzprobleme verantwortlich gemacht wurde.“ Holste, Bundesstaat, S. 328 f.
3. Preußen contra Reich (Preußisches Staatsministerium)
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Regierungschefs bekleidete,424 war „als glühender Befürworter eines deutschen Einheitsstaats bekannt“425. Dies allerdings war zu seiner Zeit nichts Ungewöhnliches und hatte auch keine genuin antidemokratischen Implikationen:426 „Insbesondere bei den republikanischen Parteien SPD und DDP war die Ablehnung des in Deutschland monarchisch geprägten Bundesstaates weit verbreitet. Der Einheitsstaat galt als demokratischer, moderner, effizienter. Anders als etwa in den Vereinigten Staaten von Amerika war der Föderalismus nie als wertvolles Instrument von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, von regionaler Selbstbestimmung und vertikaler Gewaltenteilung verstanden worden.“427
Das Ergebnis der Arbeiten des Verfassungsausschusses war im Juni 1930 der Vorschlag einer ,differenzierten Gesamtlösung‘, wonach „Preußen im Reich aufgehen, Staatsregierung und Landtag mit Reichsregierung und Reichstag vereint und zugleich die bisherigen preußischen Provinzen zu ,Ländern neuer Art‘ gemacht werden“ sollten428 – ein Plan, der zum Scheitern verurteilt war und nicht verwirklicht werden konnte.429 Ungeachtet dieser Tatsache hielt Brecht an seinen Plänen der Reichsreform fest und setzte sich auch dann noch für sie ein, als die politischen
424 Vgl. dazu Schulze, Otto Braun, S. 594 und Holste, Reichsreform, S. 68. In seinen Erinnerungen erklärt Brecht dazu: „Der Grund für diese Ernennung war nicht etwa, wie man oft fälschlich vermutet hat, Abneigung der preußischen Regierung gegen eine Reichsreform, sondern erstens, daß Ministerpräsident Braun eine extrem einheitsstaatliche Grundauffassung hatte und sich von einer ständigen Wiederholung seiner […] Argumente keinen Fortschritt versprach, und zweitens, daß das preußische Kabinett unter sich nicht einig war, weil die dem Zentrum angehörigen Mitglieder föderalistischer gesonnen waren als Braun, während die demokratischen zu Kompromissen neigten. Die preußische Regierung hielt es daher für weiser, zunächst abzuwarten, ob sich durch sachliche und fachliche Arbeit in dem Verfassungsausschuß eine tragfähige Grundlage für eine Reichsreform ergeben würde. Die Auswahl meiner Person als Mitglied sollte zugleich bekunden, daß die Regierung der Reichsreform durchaus positiv gegenüberstand, da ich als leidenschaftlicher Anhänger der Reform bekannt war und zugleich das Ansehen eines guten Verfassungsjuristen genoß.“ Brecht, Kraft, S. 63. 425 So Schulze, Otto Braun, S. 589. 426 Zu den genauen Positionen Brechts vgl. u. a. seine Publikationen Reich und Länder (1928), Neuordnung (1928), Organisationsreferat (1928/29), Organisation der Länder (1929), Traum vom mittleren Typ (1930), Reichsreform und Notverordnung (1931), Reichsreform (1931). Weitere Titel und vollständige Literaturangaben finden sich in der Brecht-Bibliographie im Anhang der Arbeit. Eine Zusammenfassung seiner Positionen findet sich auch in seiner Autobiographie: Brecht, Kraft, S. 60 ff. Ausführlich dazu auch Holste, Reichsreform, S. 62 ff und Schulze, Otto Braun, S. 584 ff. 427 Holste, Reichsreform, S. 67. Auch Karl Dietrich Bracher betont, daß die SPD „von Anfang an konsequent für den ,zentralisierten Einheitsstaat‘ eingetreten“ sei. Bracher, Auflösung, S. 497. 428 Holste, Reichsreform. S. 68. Siehe auch ders., Bundesstaat, S. 332. Vgl. dazu auch Brecht, Föderalismus, S. 134 ff. 429 Vgl. dazu ausführlich Holste, Bundesstaat, S. 332 ff sowie Schulze, Otto Braun, S. 689 ff.
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Vorzeichen sich grundlegend geändert hatten und Hitler an die Macht gekommen war.430 Die politische Lage in Preußen indes wurde immer kritischer; nachdem die „Weimarer Koalition“ bei den preußischen Landtagswahlen im April 1932 die Mehrheit verfehlt hatte und Otto Braun wenig später die laufenden Amtsgeschäfte dem Zentrumspolitiker Heinrich Hirtsiefer übergab,431 blieb eine „[g]eschäftsführende Rumpfregierung“432 zurück, deren Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt war.433 Als schließlich das SA-Verbot von der Reichsregierung aufgehoben wurde und sich die Lage zu einer ,Bürgerkriegssituation‘434 zuspitzte, war der Weg zum Staatsstreich nicht mehr weit – und so fand die politische Entwicklung mit dem „Preußenschlag“ vom 20. Juli 1932 ihren vorläufigen Höhepunkt: An diesem Tag erging eine Verordnung des Reichspräsidenten, mittels derer die gesamte preußische Regierung abgesetzt wurde. Hindenburg berief sich dabei auf Art. 48, Abs. 1 und 2 WRV und erklärte die getroffenen Maßnahmen als notwendig „zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Gebiet des Landes Preußen“.435 Die Verordnung informiert des weiteren darüber, daß Reichskanzler von Papen als Reichskommissar des Landes Preußen eingesetzt werde und „in dieser Eigenschaft ermächtigt“ sei, „die Mitglieder des Preußischen Staatsministeriums ihres Amtes zu entheben“. Dem Reichskanzler stünden „alle Befugnisse des preußischen Ministerpräsidenten“ zu.436 Mit dem Vollzug der Verordnung wurde bereits am Morgen des 20. Juli begonnen: Hirtsiefer und Innenminister Severing wurden ohne vorherige „Mängelrüge“437 in die 430 Holste verzeichnet die letzte Presseveröffentlichung, in der Brecht für sein Projekt warb, im März 1933. Kritisch fügt er hinzu, daß zu diesem Zeitpunkt die Geschichte „längst über Arnold Brecht und sein Projekt einer Reichsreform hinweggegangen“ sei. Holste, Reichsreform, S. 72. 431 In seinen Erinnerungen schreibt Braun dazu: „So gab es aus der unhaltbar gewordenen Situation für mich nur einen Ausweg. Am 6. Juni 1932 trat ich aus Gesundheitsgründen einen Urlaub an mit der festen Absicht, nicht mehr in das Amt zurückzukehren, worüber ich auch meine nähere Umgebung nicht im Zweifel ließ.“ Braun, Weimar, S. 396. 432 Schulz, Gerhard: Von Brüning zu Hitler. Der Wandel des politischen Systems in Deutschland 1930 – 1933, Berlin/New York 1992, S. 882. 433 Vgl. dazu ausführlich Bracher, Auflösung, S. 501 ff; Schulz, Brüning, S. 882 ff und 920 ff sowie Schulze, Otto Braun, S. 725 ff. 434 Schulz, Brüning, S. 921. 435 Der genaue Wortlaut der Verordnung befindet sich im Anhang des Stenogrammberichtes: Preussen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof. Stenogrammbericht der Verhandlungen vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig vom 10. bis 14. und vom 17. Oktober 1932. Mit einem Vorwort von Ministerialdirektor Brecht, Berlin 1933, S. 481 (hier verwendete Ausgabe: Glashütten im Taunus 1976; unveränderter Nachdruck der Ausgabe Berlin 1933; im folgenden: PcR). 436 PcR, S. 481. 437 Das Ausbleiben der „Mängelrüge“, also der vorherigen Verlautbarung der geplanten Maßnahmen, sollte in dem Prozeß vor dem Staatsgerichtshof noch eine wichtige Rolle spielen. Vgl. dazu Kapitel I.3.a)aa) und bb).
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Reichskanzlei zitiert, wo sie mit der Tatsache der Verordnung und den durch sie bewirkten Befugnissen des neu ernannten preußischen Reichskommissars von Papen konfrontiert wurden.438 Braun und Severing wurden sodann mit sofortiger Wirkung des Amtes enthoben, bis zum Abend des 20. Juli auch alle anderen Minister.439 In der amtlichen Verlautbarung durch die Presse gab die Reichsregierung zur Begründung ihrer Maßnahmen an, daß die „blutigen, von kommunistischer Seite hervorgerufenen Unruhen“ sie „vor die schwere Aufgabe gestellt“ habe, „von sich aus für Ruhe und Sicherheit im größten Land Deutschlands zu sorgen“.440 Sie erläutert: „In Preußen hat die Reichsregierung die Beobachtung machen müssen, daß Planmäßigkeit und Zielbewußtsein der Führung gegen die kommunistische Bewegung fehlen. […] Es besteht der begründete Verdacht, daß hohe preußische Dienststellen in Berlin und an anderen wichtigen Punkten nicht mehr die innere Unabhängigkeit besitzen, die zur Erfüllung ihrer Aufgabe notwendig ist. […] Unter diesen unerträglichen Umständen ist die vorübergehende Zusammenfassung der Machtmittel des Reiches und Preußens in der Hand des Reichskanzlers als Reichskommissar für Preußen der einzige Weg zur raschen Befriedung des größten deutschen Landes.“441
Auch Papen, der noch am Abend des 20. Juli eine Rundfunkrede hielt, rekurriert auf die angebliche Abhängigkeit der preußischen Regierung von der kommunistischen Partei.442 Dies allein, so Papen, hätte aber nicht ausgereicht, um einzugreifen; ausschlaggebend sei vielmehr gewesen, daß die preußische Regierung die staatsfeindliche Gesinnung der Kommunisten und das Ausmaß ihrer Gewalttätigkeit und politischen Radikalität nicht erkannt habe. Aus diesem Grund sei auch die von preußischer Seite vorgenommene „politische und moralische Gleichsetzung von Kommunisten und Nationalsozialisten“ nicht hinnehmbar. Papen erklärt:
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Vgl. dazu Schulz, Brüning, S. 930. Siehe dazu auch Braun, Weimar, S. 405. Dies geschah, nachdem die Minister sich geweigert hatten, einer Einladung Papens zu einer Kabinettssitzung nachzukommen. Vgl. dazu und zum gesamten Kontext Bracher, Auflösung, S. 512 ff sowie Schulz, Brüning, S. 930. 440 Als geeigneter Vorwand zum Eingreifen diente der Reichsregierung der Altonaer „Blutsonntag“ am 17. Juli 1932, an dem bei gewalttätigen Auseinandersetzungen 18 Menschen ums Leben kamen (davon zwei SA-Männer und 16 zivile Todesopfer). Vgl. dazu die gründlich recherchierte Studie von Schirmann, Léon: Altonaer Blutsonntag 17. Juli 1932. Dichtungen und Wahrheit, Hamburg 1994. Im Anhang befindet sich eine Tabelle, in der u. a. Name, Alter und Beruf der einzelnen Todesopfer aufgelistet werden. Ebd., S. 152 f. Zur politischen Instrumentalisierung dieses Vorfalls durch die Reichsregierung siehe Schulz, Brüning, S. 929 und Seiberth, Gabriel: Anwalt des Reiches. Carl Schmitt und der Prozess „Preußen contra Reich“ vor dem Staatsgerichtshof, Berlin 2001, S. 68. 441 Die amtliche Begründung der Verordnung ist auszugsweise abgedruckt in: PcR, S. 482. 442 Wie schwer dieser Vorwurf einer fehlenden „innere[n] Unabhängigkeit“ wog, zeigt sich in der Heftigkeit der Kontroverse, die in dem Prozeß vor dem Staatsgerichtshof vor allem zwischen Brecht und den Vertretern der Reichsregierung darüber geführt wurde. Vgl. Kapitel I.3.a)bb). 439
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik „Die Reichsregierung ist frei von parteipolitischen Bindungen, sie ist aber nicht befreit von der sittlichen Pflicht, offen die Feststellung zu treffen, daß durch eine solche gleichberechtigte Einschaltung staatsfeindlicher Elemente in den politischen Kampf die Grundlagen des Staates aufs äußerste gefährdet werden. […] Hier geht es um die Autorität des Staates. Hier durfte nicht gezögert werden, im Interesse des Staates sofort Klarheit zu schaffen. Diese zwingende Notwendigkeit eines Eingriffs hat sich gegenüber der preußischen Staatsregierung ergeben. Es ist kein Zufall, daß nur in Preußen die kommunistischen Kampforganisationen einen Umfang annehmen konnten, der eine ständige Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellt.“443
Nachdrücklich hebt Papen auf den lediglich vorläufigen Charakter der Maßnahmen ab und versichert sodann, daß die Selbständigkeit Preußens durch das Vorgehen der Reichsregierung nicht angetastet werde444 – eine Behauptung, die bald von der politischen Realität eingeholt wurde. Es besteht kein Zweifel, daß das Vorgehen der Reichsregierung machtpolitisch motiviert war445 und mit diesem „kaum getarnte[n] Staatsstreich“ dem „machtstaatlichen vor dem verfassungsrechtlichen Denken“ offen der Vorrang gegeben wurde.446 Gewaltsamer Widerstand blieb auf preußischer Seite indes aus. Es wurde befürchtet, daß die Mobilisierung von Massenprotesten gegen die Reichsregierung in einen blutigen Bürgerkrieg umschlägt; die „militärische Aussichtslosigkeit eines bewaffneten Widerstands und die Problematik von Streikaktionen der geschwächten Gewerkschaften auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise“447 waren sicher 443 Auch die vollständige Rundfunkrede Papens ist im Anhang des Stenogrammberichts abgedruckt: PcR, S. 482 – 484 (hier S. 483). 444 PcR, S. 484. 445 Vgl. z. B. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, S. 283. 446 Bracher, Auflösung, S. 513. Siehe auch Schulz, Brüning, S. 930 f. – In seinen Erinnerungen urteilt Brecht: „[…] dann kam der unsinnige Schlag vom 20. Juli 1932, an dem alle Vorarbeiten für eine verfassungsmäßige, d. h. nicht gewaltsame Reichsreform durch den rohen Schritt des Reichskanzlers v. Papen durchkreuzt wurden, der einen Geniestreich zu tun glaubte, als er den alten Reichspräsidenten veranlaßte, die Vereinigung der preußischen mit der Reichsregierung einfach auf Grund des Artikels 48 der Weimarer Verfassung zu dekretieren. […] Das sah zwar äußerlich sehr einfach aus, war aber rechtlich verfassungswidrig, moralisch verwerflich und politisch überaus naiv. Die preußische Regierung konnte den Verfassungsbruch um so weniger hinnehmen, als Papen seine Maßnahmen nicht nur mit der unwahren Behauptung begründete, Preußen habe seine Pflichten gegen das Reich nicht erfüllt, sondern sein eigentliches Ziel der Kampf gegen die Demokratie, gegen die Weimarer Koalition und besonders gegen die Sozialdemokraten war.“ Brecht, Kraft, S. 93 f. Der Papenstreich, so Brecht weiter, „war nicht nur die größte Tragik meines beruflichen Lebens – das ist historisch unwichtig –, es erwies sich als tödliches Verhängnis für Deutschland. Denn an dem ungelösten Dualismus Reich-Preußen zerbrach die Weimarer Republik.“ Ebd., S. 99. 447 Bracher, Karl Dietrich: Dualismus oder Gleichschaltung: Der Faktor Preußen in der Weimarer Republik, in: ders./Funke, Manfred/Jacobsen, Hans-Adolf (Hg.), Die Weimarer Republik 1918 – 1933. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, 2. Aufl., Bonn 1988, S. 535 – 551 (541).
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weitere ausschlaggebende Faktoren.448 Ihren Protest äußerten die preußischen Staatsminister dafür auf juristischer Ebene – hier allerdings sehr deutlich. In ihrem Auftrag setzte Brecht ein Schreiben an Papen auf,449 in dem er die Maßnahmen der Reichsregierung für verfassungswidrig erklärte und ankündigte, daß die preußische Staatsregierung „daher sofort die Entscheidung des Staatsgerichtshofs angerufen“ habe.450 Aus diesem Grund sähen die Minister sich auch nicht in der Lage, „der an sie ergangenen Einladung zu einer ,Sitzung der Staatsregierung‘ unter dem Vorsitze des Herrn Reichskanzlers oder Reichskommissars Folge zu leisten; eine Sitzung der Staatsregierung kann nur unter Vorsitz eines Preußischen Ministers abgehalten werden“.451
Von der Amtsenthebung war Brecht zunächst nicht betroffen.452 Erst als klar war, daß er die Prozeßvertretung vor dem Staatsgerichtshof übernehmen würde, erging ein Telegramm an Brecht, in dem Papen ihn darüber informierte, daß er „unter Gewaehrung des gesetzlichen Wartegeldes sofort einstweilen in den Ruhestand“ versetzt werde.453 Brecht antwortete, daß er seine Amtsgeschäfte in seinem „Ne448 An diesem Punkt entzündete sich eine Kontroverse zwischen Karl Dietrich Bracher und Arnold Brecht. Siehe dazu Kapitel I.3.b)bb). 449 Vgl. Brecht, Kraft, S. 176. 450 Dies veranlaßt Gerhard Schulz zu dem Urteil, daß sich die entlassenen preußischen Minister nicht „kampflos unterworfen“ hätten: „Jedenfalls wurde statt eines – aussichtslosen – Gewaltaktes gegen den Zwangsakt die in der Tat gravierende Frage aufgeworfen, die seit Jahren über dem Schicksal der Republik schwebte und nun eine äußerste Zuspitzung erfuhr, inwieweit der aus der Diktaturermächtigung des Reichspräsidenten fließende Zwang noch rechtens und mit der Verfassung vereinbar sei. […] Da sie [die preußischen Minister, H.B.] kaum in nennenswertem Umfang über eine zum Gewalteinsatz befähigte Macht geboten, warfen sie in realistischer Konsequenz, die die Nachwelt aus den Augen verloren hat, die entscheidende Frage auf. Damit war vor dem Staatsgerichtshof beim Reichsgericht in Leipzig in juristischer und politischer Hinsicht eine höchst bedeutsame Entscheidung gefordert.“ Schulz, Brüning, S. 931. Siehe zur Diskussion über das Verhalten der preußischen Minister in der späteren Historiographie Kapitel 3.b)aa) und bb). 451 Schreiben der preußischen Minister an den Reichskanzler vom 20. Juli 1932, abgedruckt in: PcR, S. 485. Nachdem Papen die Minister daraufhin mit der Begründung entließ, daß sie seiner Einladung nicht Folge geleistet hätten, stellten sie in einem erneuten Antwortschreiben unmißverständlich klar, daß sie in keinem Fall eine „Verhandlung mit der Reichsregierung oder dem Reichskommissar“ verweigert, sondern es lediglich abgelehnt hätten, „in die Reichskanzlei auf Grund einer Einladung zu gehen, in der als Einladender und betreibender Ressortchef der Preußische ,Ministerpräsident‘ bezeichnet war. […] Auf Grund dieser Erklärung uns von der Führung der laufenden Geschäfte zu entheben, widerspricht der Reichsverfassung selbst dann, wenn man in anderen Fragen eine andere Rechtsauffassung vertreten wollte.“ Antwort der sechs Preußischen Minister vom 21. Juli 1932 an v. Papen, abgedruckt in: PcR, S. 486. Zum ebenfalls in dieser Sache geführten Briefwechsel zwischen Otto Braun und Papen siehe Braun, Weimar, S. 407 ff. 452 Vgl. Brecht, Kraft, S. 178. 453 Telegramm von Franz von Papen an Arnold Brecht, Berlin, 28. 7. 1932, BAK, NLB, N 1089/3 (im Orig. alle Wörter klein geschrieben). In der amtlichen Pressenotiz hieß es einen Tag zuvor: „Ministerialdirektor Dr. Brecht wird mit Rücksicht auf die sich aus der Tatsache der Vertretung der bisherigen preußischen Staatsregierung für sein Amt ergebenden Schwierigkeiten in den einstweiligen Ruhestand versetzt; die Entscheidung über seine spätere Wieder-
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benamt im Preußischen Finanzministerium“ seinem Stellvertreter bereits übergeben habe, selbiges aber nicht für die Amtsgeschäfte seines „Hauptamtes als Bevollmächtigter zum Reichsrat“ gelte, da ihm diese der Reichskanzler „weder als solcher noch auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung als Reichskommissar“ abnehmen könne.454 Brecht führt aus: „Während es im allgemeinen nicht Sache des Beamten ist, dem Befehl eines Vorgesetzten zu widersprechen, ist es in diesem besonderen Falle Pflicht des Beamten zu prüfen, ob der, der ihm den Befehl erteilt, sein Vorgesetzter oder sonst zur Erteilung von Befehlen an ihn befugt ist.“
Die Prüfung, ob Papens Anweisung gültig ist, sei seine „verfassungsmäßig beschworene Dienstpflicht“.455 In einer Abschrift an den Reichspräsidenten bekräftigt Brecht mit Nachdruck, vor welch schwere Aufgabe er durch die ihm obliegende Dienstpflicht des Beamten bei gleichzeitiger Einhaltung der Verfassungstreue in diesem Fall gestellt sei: „Ich bitte ausdrücken zu dürfen, daß es zu den schwersten Entscheidungen meiner Beamtenlaufbahn gehört, wenn ich mich darin in Widerspruch zu einer Anweisung setze, die mir ein von Ihnen, hochverehrter Herr Reichspräsident bestellter Kommissar erteilt. Nach Ihrer hohen Auffassung des Amtes als Reichspräsident bin ich überzeugt, daß Sie selbst es von mir verlangen, auch in einem solchen Falle die Pflichten zu erfüllen, die mir die Reichsverfassung auferlegt.“456
Die preußischen Minister bereiteten daraufhin die Klage vor dem Staatsgerichtshof vor; Brecht und sein Kollege Hermann Badt sollten dabei die Vertretung der preußischen Staatsregierung übernehmen.457 verwendung bleibt vorbehalten.“ Die Pressenotiz ist im Anhang der Autobiographie Brechts abgedruckt: Brecht, Kraft, S. 425. 454 Arnold Brecht an Reichskanzler von Papen, Berlin, 28. 7. 1932, BAK, NLB, N 1089/3. 455 Mit Blick auf die Reichsreform markiert Brecht sodann die Grenzen des Politischen gegenüber dem Recht: „Für eine Personalunion und für eine engere Verbindung von Reich und Preußen bin ich seit Jahren nach Kräften eingetreten. Ich halte dies nach wie vor für ein gesundes und erstrebenswertes Ziel. Ich glaube aber mit dem Herrn Reichspräsidenten und mit Ihnen, Herr Reichskanzler, darin einig zu sein, daß bei der Herbeiführung dieses Zieles die Grenzen der Reichsverfassung gewahrt werden müssen. Jedenfalls ändern diese politischen Wünsche nichts an meinen verfassungsmäßigen Dienstpflichten.“ Arnold Brecht an Reichskanzler von Papen, Berlin, 28. 7. 1932, BAK, NLB, N 1089/3. 456 Arnold Brecht an Reichspräsident von Hindenburg, Berlin, 28. 7. 1932, BAK, NLB, N 1089/3. In seiner Autobiographie erklärt Brecht, worin seine Motive für diesen Brief gelegen hätten: „Zweck dieses Schreibens war nicht nur, dem Reichspräsidenten gegenüber mein eigenes Verhalten zu rechtfertigen, sondern zugleich, wie es von jetzt an meine konsequent verfolgte Linie in der Prozeßführung war, Hindenburgs Gewissen hinsichtlich der Vermeidung von Verfassungsverletzungen zu schärfen. Ich hatte Grund zu vermuten, was spätere Ereignisse bestätigt haben, daß diese Frage sein Gewissen zunehmend belastete.“ Brecht, Kraft, S. 180. 457 Brecht schreibt dazu: „Ich war mir klar darüber, daß die Antwort über meinen Lebensweg entschied, aber ich sagte ohne Zögern ja. Ich hielt es für meine selbstverständliche Pflicht – als Mensch, als Deutscher, als Beamter –, mein Gesicht für die zu Unrecht beschuldigten preußischen Minister hinzuhalten.“ Brecht, Kraft, S. 177. Zu einem sehr überra-
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Zunächst wurde ein „Antrag auf Erlaß einer Einstweiligen Verfügung“ gestellt, wodurch bestimmt werden sollte, „daß die Reichskommissare sich nicht als Minister und Landesregierung bezeichnen dürften, daß sie nicht Preußen im Reichrat vertreten dürften und daß sie auch Beamtenernennungen und -Absetzungen mit dauernder Wirkung nicht vornehmen dürften“458. Bereits am 25. Juli wurde der Antrag mit der Begründung zurückgewiesen, daß eine vom Staatsgerichtshof „zu erlassende Einstweilige Verfügung die endgültige Entscheidung nicht vorwegnehmen darf und insbesondere nicht auf der Grundlage ergehen kann, daß der Staatsgerichtshof sich den Rechtsstandpunkt des einen oder des anderen der streitenden Teile vorläufig zu eigen macht. Dem Wesen und der Bedeutung des Staatsgerichtshofs würde es nicht entsprechen, wenn er sich auf Grund einer vorläufigen Prüfung zu einer Rechtsansicht bekennen wollte, die er nach gründlicherer Erwägung bei der Entscheidung zur Hauptsache wieder aufgeben müßte […].“459
Daraufhin setzte die (rechtmäßige) preußische Regierung die Klage gegen das Reich „mit vielen Anlagen auf“460. Der Klage schlossen sich die Länder Baden und Bayern an; es wurde befürchtet, daß der bundesstaatliche Charakter des Reichs insgesamt gefährdet ist461 und die „Reichsexekution“ gegen Preußen ein Präzedenzfall war, der auch ihre Souveränität in Gefahr bringen könnte.462 Obgleich das Vorgehen der Reichsregierung aus der Sicht der preußischen Minister verfassungswidrig war, bemühten sich Brecht und Hermann Höpker-Aschoff463 nach Absprache mit Otto Braun um einen Vergleich mit dem Ziel, „eine außergerichtliche schenden Urteil in dieser Angelegenheit kam dagegen seine Schwester. So erinnert sich Brecht: „Meine Schwester Gertrud war tief gerührt; sie sah in meinem Entschluß eine imitatio Christi [sic!]. Aber ich folgte nicht – jedenfalls nicht bewußt – einem religiösen Antrieb, sondern einfach meinem Drange nach Gerechtigkeit und Wahrheit.“ Ebd. 458 Braun, Weimar, S. 411. Vgl. dazu auch Brecht, Kraft, S. 178. 459 Entscheidung über den Antrag auf Erlaß einer Einstweiligen Verfügung vom 25. Juli 1932, abgedruckt in: PcR, S. 487 – 491 (489). Vgl. als Kommentar dazu: Friesenhahn, Ernst: Staatsgerichtshof und einstweilige Verfügung. Zu dem Urteil des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich vom 25. Juli 1932, in: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt 53, Nr. 39, 24. 9. 1932, S. 761 – 767. 460 Brecht, Kraft, S. 180. 461 Vgl. PcR, S. 121. 462 Braun stellt klar: „Wenn […] daraus […] geschlossen wird, daß Bayern bei einem gewaltsamen Widerstand Preußen gegen das Reich an der Seite Preußens gestanden hätte, so beruht das auf einem Irrtum. Das Gegenteil ist richtig, wie aus einer vertraulichen Mitteilung des bayrischen Reichsratsvertreters an einen Reichsratsbevollmächtigten Preußens hervorgeht. Danach hatte in jenen bewegten Julitagen der bayrische Ministerpräsident dem Reichskanzler zugesagt, nichts gegen die Reichsexekutive in Preußen zu unternehmen, wenn ihm zufriedenstellende Zusicherungen für Bayern gegeben würde, was auch geschehen wäre.“ Braun, Weimar, S. 411. 463 Hermann Höpker-Aschoff (1883 – 1954) war Mitglied der DDP und von 1925 – 1931 Finanzminister im preußischen Staatsministerium. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er Mitglied im Parlamentarischen Rat und gehörte zu den Mitbegründern der FDP. 1951 wurde er erster Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Vgl. Grünthal, Günther: „Höpker-Aschoff, Hermann“, in: NDB 9, 1972, S. 349 f.
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Einigung“ zu erwirken.464 Dieses Vorhaben scheiterte jedoch an der ausbleibenden Reaktion der Reichsregierung und der laut Seiberth „ablehnenden Haltung“ der preußischen Minister aus der Zentrumspartei.465 Während sich die politische Lage nach dem „Preußenschlag“ zunehmend verschärfte,466 fing am 10. Oktober 1932 schließlich die Verhandlung „Preußen contra Reich“ vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig an – und damit begann nach Einschätzung von Brecht „der größte Verfassungsstreit, den es in Deutschland seit der Gründung des Reiches, ja darüber hinaus, je gegeben hat“467. Das folgende Kapitel konzentriert sich auf den Inhalt des Prozesses. Der Schwerpunkt wird dabei auf die Beiträge Brechts gelegt. Im Vordergrund steht also nicht die Erläuterung der historischen Hintergründe,468 sondern die Frage nach dem 464 Seiberth, Anwalt, S. 119. Nach Einschätzung von Seiberth hätte dies „nichts anderes als eine nachträgliche ,Legalisierung‘ der gewaltsamen Absetzung der preußischen Minister durch eine Quasi-Indemnität des preußischen Landtages“ bedeutet. Ebd., S. 118. Die Motive für die Bemühungen um einen Vergleich waren einerseits darin zu suchen, daß die preußische Regierung ein eminentes Interesse am Gelingen einer ,ordnungsmäßigen Reichsreform‘ (ebd., S. 121) hatte; ihre „Kompromißbereitschaft“ ist andererseits dadurch zu erklären, „daß man den ,Preußenschlag‘ zunehmend als eine Chance verstand, die NSDAP von der Macht fernzuhalten“ (so die Einschätzung Wilfried Nippels: Rezension über Gabriel Seiberth, Anwalt des Reiches (15. 04. 2002), in: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/NG-2002 – 044, aufgerufen am 26. 2. 2011.). Zum gesamten Kontext ausführlich Seiberth, Anwalt, S. 114 ff sowie S. 124 ff. 465 Seiberth, Anwalt, S. 124. Etwas anders schildert Brecht die Zusammenhänge in seiner Autobiographie; von einer ausgebliebenen Reaktion der Reichsregierung ist hier nicht die Rede, und auch auf die ablehnende Haltung der Zentrumspartei kommt er nicht zu sprechen. Laut Brecht ging die Idee des Vergleichsvorschlages auf Höpker-Aschoff zurück; zumindest im Rückblick überwog bei Brecht die Skepsis: „Das war gut gemeint. Aber es verlangte von der preußischen Regierung, daß sie der Regierung Papen-Schleicher, von der sie soeben aufs schwerste beschimpft und der Pflichtverletzung gegenüber dem Reiche beschuldigt worden war, freiwillig das gab, was diese unter Verfassungsbruch sich hatte aneignen wollen.“ Er habe dann mit Staatssekretär Zweigert vom Reichsinnenministerium gesprochen, „der, obwohl er formell auf der Gegenseite stand, mir offen zugab, daß Preußen einen solchen Vergleich nicht schließen konnte“. Daß der Vergleich nicht zustande kam, führt Brecht auf die ablehnende Haltung Brünings zurück, den Otto Braun kontaktiert hatte. Vgl. Brecht, Kraft, S. 221 f. 466 Bis zum Beginn der Verhandlung wurden durch die neu ernannten preußischen Reichskommissare „umfassende Personaländerungen“ durchgeführt: „Zahlreiche leitende politische und sonstige Beamte, deren entschieden demokratisch-republikanische Gesinnung bekannt war, wurden ihrer Aemter enthoben und durch reaktionäre Beamte ersetzt.“ So Braun, Weimar, S. 412. Das Ergebnis dieser „,Säuberung‘ Preußens“ war nach Angabe von Bracher: „Im ganzen wurden 94 Beamte zur Disposition gestellt, 11 weitere zwangsweise beurlaubt. Dem stand die z. T. kommissarische Berufung von 64 höheren Beamten gegenüber, von denen 33 auch endgültig ernannt wurden – die meisten bemerkenswerterweise endgültig erst kurz vor der Verhandlung des Staatsgerichtshofs im Oktober.“ Bracher, Auflösung, S. 517 f. Mit der Reichstagswahl am 31. Juli 1932 spitzte sich die Lage noch mehr zu. Vgl. dazu etwa Möller, Horst: Die Weimarer Republik. Eine unvollendete Demokratie, 9. Aufl., München 2008, S. 181 ff; Bracher, Auflösung, S. 533 ff; Schulz, Brüning, S. 936 ff. 467 Brecht: PcR, S. IX. So auch Bracher, Auflösung, S. 557. 468 Dies legt ausführlich Seiberth dar; vgl. ders., Anwalt, passim.
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Charakter der Argumentation Brechts.469 Darüber hinaus geht es auch um seine wissenschaftlichen Positionen, also um die Frage, welche rechtstheoretischen Ansätze in Brechts Redebeiträgen sichtbar werden. Zunächst erfolgt eine Darlegung der grundlegenden Thesen Brechts, die sodann eingehender diskutiert und kontextualisiert werden sollen. In beiden Abschnitten werden auch einige Argumentationsstränge der anderen Prozeßbeteiligten behandelt, wobei der Schwerpunkt hier erneut auf die Vertreter der preußischen Seite gelegt wird.470 Auf diese Weise soll ein Vergleich zwischen Brecht und seinen Prozeßkollegen ermöglicht werden. Im dritten Abschnitt wird schließlich die Auseinandersetzung zwischen Brecht und Carl Schmitt einer eingehenden Untersuchung unterzogen.
a) Der Prozeß vor dem Staatsgerichtshof Die Verhandlung vor dem Staatsgerichtshof wurde mit einer Unterbrechung von zwei Tagen vom 10. bis zum 17. Oktober 1932 geführt; die Urteilsverkündung fiel auf den 25. Oktober 1932. An dem Prozeß waren beteiligt: für das Land Preußen Arnold Brecht, sein Kollege Hermann Badt471 sowie die Professoren Friedrich Giese472 und Gerhard Anschütz473; für die Zentrumsfraktion Hans Peters474, für die SPD Hermann Heller475; als Prozeßbevollmächtigte für das Land Bayern traten auf476 469 Ähnlich übernimmt dies für Carl Schmitt Wolfgang Schuller: Carl Schmitt in Leipzig, in: Recht und Politik 44, 2008, S. 35 – 43. 470 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Strategie und Sichtweise der Gegenseite, also der Prozeßvertreter des Reichs, findet sich bei Seiberth, Anwalt, passim. 471 Hermann Badt (1887 – 1946) wurde 1919 erster Regierungsassessor jüdischen Glaubens im preußischen Verwaltungsdienst; von 1922 – 1926 war er Mitglied der SPD-Fraktion im preußischen Landtag, 1927 – 1932 Ministerialdirektor im Preußischen Innenministerium, dort Leiter der Rechts- und Verfassungsabteilung; 1932 wurde er in den einstweiligen Ruhestand versetzt, 1933 aus dem Staatsdienst entlassen; er emigrierte anschließend nach Palästina. Die biographischen Angaben sind zu finden in: ARW, Biographien. 472 Der Jurist und Konsistorialrat Friedrich Giese (1882 – 1958) habilitierte sich 1910 an der Universität Bonn und war von 1914 – 1946 Professor in Frankfurt a. M. Nach Angaben von Ernst Klee begründete er nach 1933 „das Recht des Staates auf Gleichschaltung der ev. Kirche“. Er wurde später außerdem Mitglied der Akademie für Deutsches Recht und förderndes Mitglied der SS. Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945?, Frankfurt a. M. 2003, S. 182 sowie ARW, Biographien. 473 Vgl. zu Gerhard Anschütz (1867 – 1966) Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer, S. 42 ff. Siehe auch als Überblick dies.: Anschütz, Gerhard, in: Voigt, Rüdiger/Weiß, Ulrich (Hg.), Handbuch Staatsdenker, Stuttgart 2010, S. 21 – 22. 474 Der Jurist und Verwaltungsbeamte Hans Peters (1896 – 1966) habilitierte sich 1925 an der Universität Breslau, wo er drei Jahre später auch Professor wurde. Während der NS-Zeit gehörte er zum Kreisauer Kreis; nach 1945 war er einer der Mitbegründer der CDU. Vgl. zu Hans Peters ausführlich Trott zu Solz, Levin von: Hans Peters und der Kreisauer Kreis. Staatslehre im Widerstand, Paderborn u. a. 1997. 475 Vgl. zu Hermann Heller (1891 – 1933) Müller, Christoph/Staff, Ilse (Hg.): Staatslehre in der Weimarer Republik: Hermann Heller zu ehren, Frankfurt a. M. 1985; Groh, Staats-
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Staatsrat von Jan477 und Hans Nawiasky478, für das Land Baden Ministerialdirektor Hermann Fecht479 und Oberregierungsrat Ernst Walz480. Vertreter für das Deutsche Reich waren Georg Gottheiner481 und Werner Hoche482 sowie die Professoren Carl rechtslehrer, S. 141 ff; aus handlungstheoretischer Sicht ferner Gassmann, Vera: Institution und Handlung. Hermann Hellers Staatslehre im Lichte analytischer Theorien sozialen Handelns, Frankfurt a. M. u. a. 2008. 476 In seiner Vorstellung der Prozeßbevollmächtigten für das Land Bayern erwähnt Bumke auch Theodor Maunz. Maunz war jedoch nur „stummer Beteiligter“ des Prozesses (so Jellinek in seinem Bericht über den Prozeß: Jellinek, Walter: Der Leipziger Prozeß, in: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt 53, Nr. 46, 12. 11. 1932, S. 901 – 908 (902)); im Stenogrammbericht ist kein einziger Beitrag von ihm enthalten, und auch sein Name fällt nicht noch einmal. Aus diesem Grund wird Maunz an dieser Stelle nicht angeführt. 477 Zu Staatsrat von Jan konnten keine genauen biographischen Informationen ausfindig gemacht werden. Walter Jellinek erwähnt allerdings, daß von Jan die bayerische Verfassungsurkunde und das Reichsvereinsgesetz erläutert habe und aus diesem Grund der Wissenschaft gut bekannt sei. Jellinek, Der Leipziger Prozeß, S. 902. Brechts Vorwort ist zu entnehmen, daß von Jan noch vor Veröffentlichung des Stenogrammsberichts bei einem Unfall ums Leben kam. Brecht: PcR, S. XIII. 478 Hans Nawiasky (1880 – 1961) habilitierte sich 1909 an der Universität Wien. 1928 – 1930 war er Mitglied des Ausschusses für die Reichsreform. Zunehmend den Angriffen der Nationalsozialisten ausgesetzt, mußte Nawiasky fliehen und emigrierte 1933 in die Schweiz, wo er in St. Gallen als Professor tätig war. Vgl. ARW, Biographien; NDB, Bd. 19, Berlin 1999, S. 4 – 6 sowie ausführlich Zacher, Hans F.: Hans Nawiasky (1880 – 1961). Ein Leben für Bundesstaat, Rechtsstaat und Demokratie, in: Heinrichs, Helmut/Franzki, Harald/Schmalz, Klaus/Stolleis, Michael (Hg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S. 677 – 692. 479 Hermann Fecht (1880 – 1952) wurde 1902 zum Dr. jur. promoviert und war seitdem in der badischen Justizverwaltung tätig. 1919 – 1934 war er stellvertretender Bevollmächtigter Badens zum Reichsrat, 1931 – 1933 stimmführend. 1933 wurde er in den einstweiligen Ruhestand versetzt; 1939 – 1944 war er im badischen Finanz- und Wirtschaftsministerium, 1944 – 1945 in der ehrenamtlichen Verwaltung der Polizeidirektion Baden-Baden tätig. Nach 1945 trat er in die CDU ein und war 1948 – 1949 Mitglied des Parlamentarischen Rats. Vgl. ARW, Biographien. 480 Ernst Walz (1859 – 1941) war 1884 – 1886 im badischen Justizdienst und von 1886 bis 1913 Zweiter Bürgermeister von Heidelberg (Nationalliberale Partei). 1900 habilitierte er sich, zwischen 1913 und 1928 war er Oberbürgermeister von Heidelberg. Vgl. ARW, Biographien. 481 Georg Gottheiner (1879 – 1985) war von 1928 bis 1932 Reichstagsabgeordneter der DNVP. 1932 – 1934 leitete er als Ministerialdirektor die politische Abteilung im Reichsinnenministerium. 1934 wurde er in den einstweiligen Ruhestand, 1939 in den Ruhestand versetzt. 1949 wanderte er nach Brasilien aus. Vgl. ARW, Biographien sowie Schumacher, Martin (Hg.): M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933 – 1945, 3. Aufl., Düsseldorf 1994, S. 156 f. – Arnold Brecht datiert den Zeitpunkt der Emigration Gottheiners – wohl unrichtig – auf die NS-Zeit. Gottheiner, so Brecht, „war deutschnational und einst von der Regierung Braun zur Disposition gestellt worden, was in ihm den in solchen Fällen üblichen Groll zurückgelassen hatte. Ihm blühte aus der Sache kein Glück; da er einen jüdischen Vorfahren hatte, wich er unter den Nationalsozialisten nach Südamerika aus.“ Brecht, Kraft, S, 180. 482 Werner Hoche (geb. 1890; Todesdatum nicht ermittelt) war 1920 Regierungsrat im Reichsinnenministerium, 1922 Oberregierungsrat und 1926 Ministerialrat. 1933 trat er in die
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Schmitt483, Erwin Jacobi484 und Carl Bilfinger485. Den Vorsitz der Verhandlung hatte Reichsgerichtspräsident Erwin Bumke486.487 In dem Prozeß trafen also „glänzende, auch forensisch erprobte Juristen“488 aufeinander.489 Ihren Beiträgen ist es zu verdanken, daß „die Verhandlungen überaus reichen Stoff für die Staatsrechtslehre“ enthalten490 und einen Eindruck vermitteln
NSDAP ein. Vgl. ARW, Biographien. Siehe auch Drobisch, Klaus/Wieland, Günther: System der NS-Konzentrationslager 1933 – 1939, Berlin 1993, S. 28. 483 Vgl. zu Schmitt etwa Mehring, Reinhard: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009. 484 Der Staats- und Kirchenrechtler Erwin Jacobi (1884 – 1965) habilitierte sich 1912 an der Universität Leipzig, wo er auch Professor wurde. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft wurde er nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten entlassen. Jacobi war Mitglied der Bekennenden Kirche. Nach 1945 blieb er an der Universität Leipzig. Vgl. ARW, Biographien sowie Otto, Martin: Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb: Erwin Jacobi (1884 – 1965). Arbeits-, Staats- und Kirchenrecht zwischen Kaiserreich und DDR, Tübingen 2008. 485 Carl Bilfinger (1879 – 1958) habilitierte sich 1922 und wurde 1924 Professor für Staatsund Völkerrecht in Halle. 1933 trat er der NSDAP bei, 1934 wurde er Mitglied der Akademie für Deutsches Recht. 1935 wurde er Ordinarius an der Universität Heidelberg, 1943 übernahm er einen Lehrstuhl in Berlin. Ab 1944 war er Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Berlin. Nach 1945 konnte er seine Karriere nahezu ungebrochen fortsetzen: 1949 – 1954 war er Leiter des Max-Planck-Instituts für Völker-, Staats- und Verwaltungsrecht, 1950 – 1958 Senator der Max-Planck-Gesellschaft. Vgl. ARW, Biographien sowie Klee, Personenlexikon, S. 49. 486 Erwin Bumke (1874 – 1945), von 1919 – 1929 Mitglied der DNVP, war seit 1929 Präsident des Reichsgerichts und Vorsitzender des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich. Bumke wurde später förderndes Mitglied der SS und trat 1937 der NSDAP bei. Er war ferner Vorsitzender des 3. Strafesenats bei der Blutschutzrechtsprechung und „Teilnehmer der Tagung der höchsten Juristen des Reiches am 23./24. 4. 1941 in Berlin: Informierung über die Vernichtung lebensunwerten Lebens mittels Gas“. Am 20. 4. 1945 beging Bumke in Leipzig Selbstmord (Klee, Personenlexikon, S. 84). Dieter Kolbe zitiert Bumke mit den Worten: „Es ist für mich ein kaum erträglicher Gedanke, daß mein Name mit einer Periode in der Geschichte des Reichsgerichts verbunden sein soll, die seinen Niedergang bedeuten muß.“ Anders als man erwarten sollte, bezieht sich dieser Ausspruch nicht auf die heraufziehende NS-Diktatur, sondern auf das geplante Pensionskürzungsgesetz. Vgl. Kolbe, Dieter: Reichsgerichtspräsident Dr. Erwin Bumke. Studien zum Niedergang des Reichsgerichts und der deutschen Rechtspflege, Karlsruhe 1975, Vorwort (nicht paginiert). Siehe zu Bumke auch Müller, Ingo: Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, München 1987, S. 48 ff. 487 Die weiteren Richter waren: die Reichsgerichtsräte Schwalb, Triebel, Schmitz und Süsch; der bayerische Oberverwaltungsgerichtsrat Gümbel sowie der preußische Oberverwaltungsgerichtsrat von Müller. 488 Schuller, Schmitt in Leipzig, S. 36. 489 In seinem Prozeßbericht hebt Walter Jellinek hervor: „Das Eigentümliche dieses Prozesses war die Zusammensetzung der Prozeßvertreter: hohe Regierungsbeamte mit einem Gefolge von Staatsrechtslehrern. Anwälte fehlten. Das Auftreten von Professoren vor dem Staatsgerichtshof an sich war allerdings nicht neu. […] Aber nie stand Professor gegen Professor.“ Jellinek, Der Leipziger Prozeß, S. 903. 490 So eine Feststellung Brechts: ders., Vorwort, in: PcR, S. XII.
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„von unterschiedlichen juristischen und forensischen, womöglich sogar politischen Denkstilen am Ende der Weimarer Republik“491. Über die gesamte Verhandlung liegt ein Stenogrammbericht vor. Dies war zunächst nicht zu erwarten, da die Entsendung von Reichstagsstenographen von der Reichsregierung aus Einsparungsgründen abgelehnt worden war. Schlußendlich wurde die Verhandlung aber von einem durch die SPD entsandten Stenographen vollständig aufgenommen.492 Mit einem Vorwort von Brecht versehen, wurde der Stenogrammbericht schließlich im Berliner J.H.W. Dietz-Verlag veröffentlicht.493 Die Verhandlung wurde nach folgenden Themen gegliedert: Nach einleitenden Erklärungen wurden zunächst die „Vorgänge vor dem 20. Juli und am 20. Juli 1932“ erörtert, sodann die „Folgen der Verordnung vom 20. Juli“. Anschließend ging es um den „Bundesstaatliche[n] Charakter des Reichs“, daraufhin waren die „Voraussetzungen des Art. 48“Abs. 1 und 2, die „Befugnisse aus Art. 48“Abs. 1 und 2 sowie die „Richterliche Nachprüfung“ Gegenstand der Debatte. Nach einer Zusammenfassung wurden abschließend die Prozeßvoraussetzungen diskutiert.494
491
Schuller, Schmitt in Leipzig, S. 42. Brecht erzählt: „Von den Stenotypistinnen des Reichsgerichts und einem einzelnen Stenografen, der von privater Seite, nämlich von dem Vorstand der Sozialdemokratischen Partei, entsandt worden war, konnte eine vollständige Niederschrift nicht erwartet werden. Nachträglich stellte sich aber heraus, daß dieser Stenograf, Herr Hans Prengel (Berlin), ganz allein die gesamte sechstätige Verhandlung im Wortlaut vollständig aufgenommen hatte und sie nach und nach so gut wie fehlerlos zu übertragen in der Lage war. Diese bewunderungswürdige Leistung hat wider Erwarten die in menschlichen Grenzen genaue Wiedergabe der Verhandlung ermöglicht.“ Brecht, Vorwort, in: PcR, S. XIII. 493 Vor der Veröffentlichung wurden die Stenogramme den Prozeßbeteiligten zur Durchsicht vorgelegt. Die Vertreter der Reichsregierung lehnten eine Durchsicht ab; nach Auskunft von Brecht lagen die Gründe hierfür „außerhalb der Sache selbst“ (Brecht, Vorwort, in: PcR, S. XIV). Daß von einer Verläßlichkeit des Stenogrammberichts ausgegangen werden kann, führt Schuller aus: Schuller, Schmitt in Leipzig, S. 35. – Der Verlag begründet die Veröffentlichung mit „dem großen Interesse, das dieser Prozeß in der Öffentlichkeit gefunden hat“. Aus Sicht des Verlages durfte „angenommen werden, daß besonders Politiker, Staatsmänner und Juristen die Verhandlungen nicht nur in den kurzen Zeitungsberichten verfolgen, sondern im Wortlaut nachlesen wollen“. Vgl. Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Zum Geleit, in: PcR (nicht paginiert). 494 Bumkes Entscheidung, die Prozeßvoraussetzungen nicht zu Beginn, sondern am Ende der Verhandlung zu erörtern (Bumke: PcR, S. 6), kommentiert Walter Jellinek folgendermaßen: „In einem bürgerlichen Rechtsstreit wären wohl zunächst die Prozeßvoraussetzungen – Parteifähigkeit, Sachbefugnis, Feststellungsinteressen – erörtert worden. Der Vorsitzende setzte aber diesen Punkt mit Vorbedacht an den Schluß aller Verhandlungen aus der richtigen Erwägung heraus, daß es die Öffentlichkeit nicht verstanden hätte, wenn in diesem mit fieberhafter Spannung erwarteten Prozeß zunächst nur die – obschon auch sachlich sehr bedeutsamen – Formalien erörtert worden wären.“ Jellinek, Der Leipziger Prozeß, S. 903. Etwas später fügt er hinzu: „Dies war nicht ganz im Sinne der Vertreter des Reichs, da sie gerade zu diesen Fragen sehr erhebliche grundsätzliche Bedenken vorzutragen hatten.“ Ebd., S. 905. 492
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aa) Brechts Thesen In seiner Schilderung der Ereignisse vor dem 20. Juli – nach der Einleitung also im zweiten Teil der Verhandlung – hebt Brecht darauf ab, daß die Verantwortung für die eingetretenen ,bürgerkriegsähnlichen Zuständ[e]‘495 bei der Reichsregierung zu suchen sei. Er erinnert daran, daß die Reichsregierung 1931 zahlreiche „scharfe Verordnungen zur Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung“ erlassen hatte, wozu auch das allgemeine Uniformverbot gehörte. Im April 1932 folgte das SA-Verbot – und auch dieses Verbot wurde nicht etwa, wie Brecht betont, „von der preußischen Regierung, sondern vom Reichspräsidenten verfügt“496. Zwei Monate später – inzwischen war Franz von Papen zum Reichskanzler ernannt worden – wurden alle zuvor erlassenen Verordnungen nach Antrag der Reichsregierung von dem Reichspräsidenten wieder aufgehoben.497 Brecht kommentiert: „Und was geschah? Es kam, wie es kommen mußte: Die Zusammenstöße steigerten sich!“498 Aus seiner Sicht liegt der „Kausalzusammenhang […] zwischen der Aufhebung des Uniformverbots und der Wiedererlaubnis der Sturmabteilung einerseits und der daraufhin einsetzenden Steigerung der Unruhen andererseits“ für „jeden, der sehen will, klar zutage“499. Ebenso klar sei der „Kausalzusammenhang zwischen den Vorgängen bei der Bildung der Regierung von Papen und ihrer Unterstützung durch die Nationalsozialisten auf der einen Seite und dem Vorgehen gegen die Preußen-Regierung auf der anderen Seite“500. Aus der Sicht von Gabriel Seiberth hatte diese Beschuldigung 495
Brecht: PcR, S. 14. Brecht: PcR, S. 14. 497 Brecht weist darauf hin, daß die Reichsregierung sogar noch einen Schritt weiter gegangen ist: „unter dem 28. Juni wird den Ländern verboten, ihrerseits ein allgemeines Verbot öffentlicher Versammlungen und ein Uniformverbot zu erlassen. Alles dies mitten in einer Bürgerkriegslage!“ Brecht: PcR, S. 15. 498 Brecht: PcR, S. 15. Sehr plastisch beschreibt Brecht die paradoxe Situation, die durch die Aufhebung der Verordnungen eingetreten war: „Mitten in diesem Kampf mußte plötzlich die Polizei herumgerissen werden. […] Bis zu diesem Tage, dem 14. Juni, war die Polizei angewiesen, dafür zu sorgen, daß die Straße frei blieb von Umzügen, frei blieb von Uniformen der Sturmabteilungsleute der NSDAP. Sie sollte also diese Umzüge verhindern. Und nun ganz plötzlich von einem Tage zum andern sollte sie diese Umzüge und Uniformen der NSDAPLeute zulassen und nicht nur zulassen, sondern sie sollte nebenhergehen und sollte sie schützen vor den Angriffen, die nun in der dadurch aufgepeitschten Leidenschaft erfolgten. Leiten Sie einmal eine große Polizeitruppe, eine Polizeitruppe von der Größe, wie sie das Land Preußen besitzt, versuchen Sie, eine solche Polizei nach den erlassenen Vorschriften des Reichs zu erziehen in der Weise, wie das geschehen ist, und reißen Sie dann mitten im Kampf, mitten in der Bürgerkriegslage, von einem Tag zum anderen herum und verlangen Sie von ihr, daß sie von morgen ab die Mitglieder derselben Sturmabteilungen vor Angriffen schützen soll, die sie bis gestern von der Straße zu verdrängen hatte.“ Ebd. 499 Brecht: PcR, S. 17. 500 Brecht: PcR, S. 17. Hintergrund dieser Bemerkung ist die Annahme, daß zwischen Papen und der NSDAP Absprachen stattgefunden haben. So erklärt Brecht: „So liegt es natürlich ganz besonders bei der Frage, wie es mit der Zusage an die Nationalsozialisten für ihre Unterstützung des Kabinetts auf unbestimmte Zeit gewesen ist. Daß die Nationalsozialisten solche Unterstützung versprochen haben, ist unstrittig.“ Ebd., S. 75. Auch Reichsgerichts496
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verfassungsjuristisch den Sinn, „den Verdacht eines Ermessensmissbrauchs501 zu erhärten“502. Ins Zentrum seiner Argumentation rückt Brecht bereits in diesem ersten Teil der Verhandlung die Frage der Pflichtverletzung des Landes Preußen. Da sich die Reichsregierung für ihr Vorgehen nicht nur auf Art. 48 Abs. 2 WRV503, sondern auch präsident Bumke betont: „Danach scheint mir das eine wohl auch kaum bestreitbar zu sein, daß Fäden zwischen der NSDAP. und der Regierung von Papen bestanden haben, und daß innerhalb der NSDAP. einer der wesentlichsten Wünsche war, mit der bisherigen Regierung in Preußen Schluß zu machen.“ Bumke: PcR, S. 74. Die politische Realität war allerdings weitaus komplexer: Laut Brecht gab es von Anfang Juni bis zum 13. August 1932 eine „Episode der Einigung zwischen dem Herrn Reichskanzler von Papen und Herrn Hitler“ (Brecht: PcR, S. 12 f); Brecht rekurriert hier auf die öffentliche Haltung der NSDAP und den „Wandel in der taktischen Zielsetzung der Nationalsozialisten“, nach der „die Einsetzung eines Kommissars durch Papen nicht nur hingenommen, sondern regelrecht gefordert wurde“ (so Seiberth, Anwalt, S. 126). Nach Seiberth ließ sich dieser Vorwurf einer Zusammenarbeit zwischen Papen und der NSDAP „zwar nie beweisen – da er aber auch vom Reich nicht endgültig entkräftet werden konnte, blieb die Frage letztlich ungeklärt“ (ebd., S. 128). Zu einem Bruch zwischen der Reichsregierung und der NSDAP kam es jedoch nach einer amtlichen Verlautbarung der Reichsregierung vom 13. August 1932, nach der eine Regierungsbeteiligung der NSDAP abgelehnt worden war (vgl. zum gesamten Kontext Seiberth, Anwalt, S. 124 – 142). Als Bilanz hält Seiberth fest: „Es lässt sich jedenfalls zusammenfassend feststellen, dass die ,Preußenaktion‘ keinen Erfüllungsdienst an die Adresse der Nationalsozialisten darstellte. Vielmehr hatte die Reichsregierung genuin eigene Interessen der Machtsicherung verfolgt, die den Nationalsozialisten gleichwohl zu Anfang als Erfüllung ihres politischen Machtanspruchs verkauft werden konnten. Spätestens mit dem 13. August 1932 war aber die zuvor latente Dimension der ,Machtsicherung‘ offenkundig geworden, was die NSDAP konsequenterweise in eine erbitterte Gegnerschaft gegenüber der Reichsregierung zwang.“ Ebd., S. 142. 501 Nach einer Definition von Gerhard Köbler steht der aus dem Verwaltungsrecht stammende juristische Begriff des Ermessens, der in dem Prozeß eine wichtige Rolle spielt, für einen „Maßstab für das Verwaltungshandeln. Hat eine Behörde E[rmessen], so ist ihr Handeln nicht (schon) durch die Rechtsvorschriften, welche die Grundlage dafür bilden, eindeutig bestimmt, sondern es besteht ein gewisser Spielraum. Die Behörde ist auf die Lösung verwiesen, die angesichts der besonderen konkreten Umstände des Falles dem Zweck der Handlungsermächtigung am besten gerecht wird.“ Köbler, Gerhard: Juristisches Wörterbuch. Für Studium und Ausbildung, 5. Aufl., München 1991, S. 107 f. Im Falle eines Ermessens „hat der zuständige Beamte oder Richter eine pflichtgemäße Wertung vorzunehmen, daß seine Entscheidung rechtmäßig und zweckmäßig ist. Damit steht es der öffentlichen Verwaltung nicht frei, nach Belieben oder gar nach Willkür zu handeln. Sie muß das E[rmessen] als pflichtgemäßes E[rmessen] entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausüben und die gesetzlichen Grenzen des E[rmessens] einhalten [..].“ So Kaller, Paul: Rechtslexikon für Studium und Ausbildung, Baden-Baden 1996, S. 190 f. Ein Ermessenmißbrauch liegt dann vor, wenn das Ermessen „in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Art und Weise“ gebraucht wird, etwa durch „Berücksichtigung sachfremder Erwägungen“. Köbler, Juristisches Wörterbuch, S. 108. 502 Seiberth, Anwalt, S. 128. Er fügt hinzu, daß dies „allerdings ohne Wirkung“ blieb. Ebd. 503 Der Verfassungstext lautet: „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder gar zum Teil außer Kraft setzen.“
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auf Art. 48 Abs. 1 WRV504 berufen hatte, war damit auch die Beschuldigung ausgesprochen, daß das Land Preußen seine Pflichten nicht erfüllt habe. Brecht moniert, daß ein Nachweis dafür bislang nicht erbracht worden sei, und gelangt auf diese Weise zum eigentlichen Angriffspunkt seiner Kritik: Der Putsch gegen Preußen, so die Stoßrichtung seiner Argumentation, war politisch motiviert und erfolgte nicht, wie von der Reichsregierung angegeben, aus verfassungsrechtlichen Erwägungen. Brecht erklärt: „Es kommt uns nur darauf an, festzustellen, daß andere Gründe als die in der Verfassung vorgesehenen, hier entscheidend mitgespielt haben, und das ist das, was aus dem Sachverhalt – ich kann nur sagen für jeden, der sehen will, – ich kann es nicht anders ausdrücken – offensichtlich ist. […] Für uns ist es der entscheidende Punkt, denn wir behaupten, daß nicht das Motiv der Störung der Ruhe und Ordnung und nicht das Motiv der Pflichtverletzung, wofür gar keine Anhaltspunkte bisher erbracht worden sind, für das Vorgehen des Reichs entscheidend waren, sondern unsachliche, nach der Verfassung nicht zugelassene Motive und damit das, was man Ermessensmißbrauch nennt, vorliegt.“505
Brecht stand mit dieser Argumentation nicht allein. Auch Hermann Heller spricht von einem Ermessensmißbrauch und betont, daß es sich „in erster Linie um den Nachweis [handelt], daß für das Vorgehen der Reichsregierung nicht die allein nach Art. 48 zulässigen Motive entscheidend waren, sondern verfassungswidrige Motive, nämlich bestimmte politische Abmachungen mit Herrn Hitler“506. In einem späteren Teil der Verhandlung betont der Vertreter der Zentrumsfraktion Hans Peters, daß „jeder Unbefangene [..] hier der Meinung sein [muß], daß der Vorwurf des Rechtsmißbrauchs, der Ermessensüberschreitung, des Ermessensmißbrauchs doch im vorliegenden Falle außerordentlich naheliegt, da die Verfolgung anderer Ziele als der angegebenen allzu wahrscheinlich ist“507. Gerhard Anschütz geht noch einen Schritt weiter und zieht in Zweifel, daß es sich hier überhaupt um eine Ermessensfrage handelt; das, worüber der Staatsgerichtshof zu entscheiden habe, sei in erster Linie eine Frage des Rechts, eine Prüfung des rechtlichen Tatbestands und nicht eine Frage des Ermessens.508 504
Der Verfassungstext lautet: „Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten.“ 505 Brecht: PcR, S. 76 f. (Herv. von mir, H.B.) 506 Heller: PcR, S. 37. Reichsgerichtspräsident Bumke erkennt in dieser Äußerung Hellers zunächst einen Gegensatz zu den von Brecht vorgetragenen Ansichten, liegt damit jedoch falsch. Zwar ist es richtig, daß Heller, dessen Reden im Prozeß grundsätzlich von einer starken Polemik geprägt waren, seine Position auch an dieser Stelle sehr viel zugespitzter formuliert als Brecht, in der Sache aber waren sich hier beide im wesentlichen einig. Sowohl Heller als auch Brecht weisen Bumke explizit darauf hin. Vgl. PcR, S. 77 f. 507 Peters: PcR, S. 356. Diese Kritik Peters’ bezieht sich auf Abs. 2 des Art. 48 und ist gegen Schmitt gerichtet, der zuvor bestritten hatte, daß ein Rechtsmißbrauch vorliegt. Vgl. Schmitt: PcR, S. 350 ff. 508 Anschütz erklärt: „der Staatsgerichtshof kann und darf der Prüfung und Entscheidung der Frage, ob im vorliegenden Falle, ganz konkreter gesprochen, das Land Preußen sich einer
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Im dritten Teil der Verhandlung, dessen Gegenstand die Folgen der Verordnung vom 20. Juli 1932 waren, reflektiert Brecht die Tragweite und rechtliche Konsequenz der Handlungen der neu eingesetzten kommissarischen Regierung. Das betrifft aus seiner Sicht erstens die Absetzung der Minister. Die Reichsregierung habe damit – dies habe man nicht anders auffassen können – die Absicht verfolgt, die preußischen Minister „vollständig und endgültig abzusetzen“509. Brecht kritisiert, daß die Reichsregierung diese Absicht im nachhinein habe verschleiern wollen, indem sie vorgab, daß die Minister nur vorläufig abgesetzt bzw. suspendiert werden sollten.510 Er bemängelt sodann, daß die Reichskommissare zweitens „alle Rechte in Anspruch genommen [haben], die aus dem Ministeramt folgen“511. Dies betreffe die Beamtenabsetzung, die Beamtenernennung, die Vertretung im Reichsrat, die Teilnahme in Ausschüssen und im Plenum des Reichstags und die Inanspruchnahme, Landesregierung zu sein. Das eigentliche Motiv der Reichsregierung für die Absetzung512 und Ernennung513 von Beamten vermutet Brecht in dem Versuch einer Einflußnahme auf den Ausgang des Prozesses:
Verletzung der ihm nach der Reichsverfassung und den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten hat zuschulden kommen lassen, meines Erachtens nicht ausweichen mit der Behauptung, es liege eine Ermessensfrage vor. Eine Ermessensfrage kann hier m. E. gar nicht vorliegen, sondern notwendigerweise liegt hier immer eine Rechtsfrage, oder es liegen mehrere oder ein Komplex von Rechtsfragen vor. Es kann sich nur um eine Verletzung von Rechtspflichten handeln, sonst würde die Reichsverfassung nicht sagen: Pflichten, die dem Lande nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen, vielleicht nur ungeschriebenen Rechtsgrundsätzen obliegen. […] Es liegt doch für den Staatsgerichtshof einfach so, daß er zu prüfen hat, ob der Tatbestand bzw. die Tatsächlichkeiten, die ihm von der Reichsregierung unterbreitet worden sind, ob dieser Inbegriff von Tatsachen den rechtlichen Tatbestand einer Pflichtverletzung verkörpern.“ Anschütz: PcR, S. 127 f. 509 Brecht: PcR, S. 88. 510 Brecht erinnert an dieser Stelle an die Notwendigkeit einer juristisch korrekten Auslegung: „Im Rechtsverkehr des Zivilrechts wie des Staatsrechts gilt noch immer der Satz, daß eine Erklärung so auszulegen ist, wie sie objektiv unter Würdigung der Verhältnisse ausgelegt werden muß, und nicht, wie sie allenfalls der eine Teil verstanden haben könnte und später verstanden haben will.“ Und er fügt hinzu: „Nach der Art, wie die Erklärung erfolgte, konnte sie nur so aufgefaßt werden, daß die Minister abgesetzt werden sollten, daß sie restlos und endgültig weg sein sollten.“ Brecht: PcR, S. 88. 511 Brecht: PcR, S. 90. 512 Brecht hält fest: „Es sind nach unserer Zählung nicht weniger als 94 solche Beamte zur Disposition gestellt worden, außerdem 11 zwangsweise beurlaubt. Darunter befinden sich einige aus der Polizei, viele aber auch aus ganz anderen Verwaltungsgebieten. […] es sind z. B. Männer von so hervorragender Sachlichkeit und Unparteilichkeit, die als solche überall anerkannt sind, gleich am ersten Tag zur Disposition gestellt worden […].“ Brecht: PcR, S. 90. 513 Brecht kommt es zunächst darauf an, daß rund die Hälfte der „64 Berufungen in höheren Stellen“ entgegen der Ankündigung der Reichsregierung endgültig und nicht vorläufig erfolgt seien (Brecht: PcR, S. 91). Insbesondere Gottheiner, der seine Vorwürfe bestreitet, führt Brecht regelrecht vor: „Es wäre ziemlich unsinnig zu sagen: Du bist nicht mehr Minister – vorübergehend!, aber wenn die Verordnung wieder aufgehoben wird, dann bist du wieder Minister. Das wäre rechtlich nicht möglich.“ Ebd., S. 98.
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„Wir stehen hier vor einer Vorwegnahme der Entscheidung des Staatsgerichtshofs, hinter der eine bestimmte Methode steckt, nämlich die Meinung, möglichst viele Tatsachen zu schaffen, aus denen es einfach keinen Ausweg mehr gibt. Das wird auch gar nicht geleugnet, das ist die Absicht.“514
Als rechtlich bedeutsame Handlungen der kommissarischen Regierung betrachtet Brecht drittens die von ihr getroffenen Maßnahmen „auf allen Gebieten“515, also, wie er betont, nicht nur jene auf dem Gebiet der öffentlichen Ordnung.516 Es sei „eine logische Folge aus den Grundbegriffen der Verfassung“, daß die Absetzung der Minister rechtlich unzulässig ist, und zwar sowohl gemäß dem ersten als auch dem zweiten Absatz des Art. 48 WRV. Er führt aus: „Niemals kann im rechtlichen Sinne die Landesregierung als solche durch einen solchen Akt verschwinden. Sie kann auch in den Fällen des Abs. 1 unter Umständen höchstens in gewissen Funktionen ersetzt aber nicht selber abgesetzt werden. […] Erst recht aber kann die Reichsregierung niemals ihren Kommissar selbst zur Landesregierung machen.“517
Aus diesem Grund war nicht nur die Frage der Dauer, sondern allein schon die Tatsache der Absetzung an sich das Problem; selbst wenn also – wovon nach Brechts Einschätzung allerdings nicht auszugehen war – die Maßnahmen der Reichsregierung nur vorübergehend hätten gelten sollen, wäre dies nicht mit der Verfassung vereinbar gewesen.518 Brecht erinnert die Reichsregierung daran, daß die Staatssekretäre „den Eid als Minister geschworen“ haben. Dadurch sei „in unzulässiger Weise ein unübertragbares Recht von ihnen in Anspruch genommen“519. Nach der Kategorisierung Bumkes war mit diesem dritten Themenkomplex der „tatsächlich[e] Teil“ der Verhandlung abgeschlossen; Gegenstand der Erörterungen
514 Brecht: PcR, S. 92. Aus diesem Grund sprach Brecht – wie schon in dem abgelehnten Antrag auf eine Einstweilige Verfügung im Juli 1932 – erneut die Bitte aus, der Staatsgerichtshof möge eine vorläufige Entscheidung treffen, daß zumindest für die Dauer des Prozesses keine weiteren Ernennungen erfolgen. Vgl. Brecht: PcR, S. 93. 515 Brecht: PcR, S. 93. 516 Brecht erklärt: „Auf alle Gebiete erstreckt der Reichskommissar seinen Anspruch, das steht ausdrücklich da. Das zeigt sich auch in dem Umfang, in dem tatsächlich auf allen Gebieten der öffentlichen Verwaltung Maßnahmen getroffen werden, auch auf solchen, wo man nicht von Störungen der Ruhe und Ordnung reden kann.“ Brecht: PcR, S. 94. 517 Brecht: PcR, S. 100. Staatsrat von Jan, einer der Vertreter Bayerns, bekräftigt diese Feststellung und erklärt, daß die „Reichskommissariat-Regierung […] keine Landesregierung“ sei. Es sei „ein Mißbrauch des Wortes Regierung, wenn man hier von einer Regierung spricht“. Von Jan: PcR, S. 115. 518 Brecht stellt klar: „Unsere Ansicht geht in erster Linie dahin, daß es unzulässig ist, Minister dauernd rechtlich abzusetzen, aber sie geht auch dahin, daß es unzulässig ist, sie auch nur vorübergehend rechtlich abzusetzen, des Amtes zu entheben.“ Brecht: PcR, S. 98. 519 Brecht: PcR, S. 107.
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sollten nunmehr „Rechtsfragen“ sein.520 Hierbei seien vor allem die folgenden vier Punkte hervorzuheben: „Was heißt Pflichtverletzung eines Landes? Ferner: Erfordert Art. 48 Abs. 1 ein subjektives Verschulden? Ferner: Setzt ein Einschreiten aus Art. 48 Abs. 1, wie in der Wissenschaft behauptet wird, eine Mängelrüge voraus? und schließlich: Erfordert ein Einschreiten auf Grund des Art. 48 Abs. 1, daß zuvor durch den Staatsgerichtshof die Pflichtverletzung festgestellt ist?“521
In der Diskussion über die Voraussetzungen des Art. 48 Abs. 1 – dem fünften Teil der Verhandlung522 – rekurriert Brecht erneut auf die Frage der Pflichtverletzung. Er betont, daß die „materielle Pflichtverletzung“523 Preußen nachgewiesen werden müsse und wirft sodann die Frage des „subjektiven Verschuldens“524 auf. Mit Blick auf die von ihm so unterschiedenen „materiellen Voraussetzungen“ stellt er klar: „Wenn jede objektive Verletzung irgendeiner Pflicht eines Landes gegen das Reich ein Eingreifen auf Grund des Art. 48 Abs. 1 begründete, dann wäre in allen Fällen des Art. 15525, wo Mängelrüge zulässig ist, auch gleichzeitig der Fall der Reichsexekution gegeben. Das hat zweifellos nicht in der Absicht der Verfassungsgesetzgeber gelegen.“526
In seiner Erläuterung der „formalen Voraussetzungen“ betont Brecht zunächst, „daß der Art. 48 Abs. 1 die ultima ratio sein sollte, das letzte schwerste Geschütz“. Es folge aus dem Gesagten, „daß eine Pflichtverletzung des Landes hier offensichtlich gemacht sein muß durch vorherige Auseinandersetzungen, und daß kein anderes Mittel des Anhaltens möglich war als ein solcher Eingriff auf Grund des Art. 48 Abs. 1“527. 520 Bumke: PcR, S. 112. Diese strikte Trennung stand unter dem Vorbehalt, „daß es niemand verwehrt ist, auf die Tatsachen zurückzugreifen, soweit sich das im Rahmen der rechtlichen Betrachtungen als notwendig erweist“. Ebd. 521 Bumke: PcR, S. 112. 522 Zum vierten Teil, dem bundesstaatlichen Charakter des Reichs, nimmt Brecht keine Stellung; in diesem Teil äußern sich lediglich die Vertreter Badens und Bayerns sowie für die Gegenseite Bilfinger. Vgl. PcR, S. 112 ff. 523 Brecht: PcR, S. 157. 524 Brecht: PcR, S. 158. 525 Dies bezieht sich wohl vor allem auf den 3. Absatz des Art. 15 WRV, der lautet: „Die Landesregierungen sind verpflichtet, auf Ersuchen der Reichsregierung Mängel, die bei der Ausführung der Reichsgesetze hervorgetreten sind, zu beseitigen. Bei Meinungsverschiedenheiten kann sowohl die Reichsregierung als die Landesregierung die Entscheidung des Staatsgerichtshofs anrufen, falls nicht durch Reichsgesetze ein andere Gericht bestimmt ist.“ 526 Brecht: PcR, S. 158. 527 Brecht: PcR, S. 158. Das Erfordernis der in diesem Fall ausgebliebenen Mängelrüge erläutert Brecht wie folgt: „Wenn ein Land plötzlich die Waffen gegen das Reich erhebt, wenn es gar keinem Zweifel unterliegt, vielleicht auch gar nicht bestritten wird, daß ein Verstoß des Landes vorliegt, so kann man davon absehen, so weit zu gehen. Aber wenn es aufs alleräußerste zweifelhaft ist, worum es sich in tatsächlicher und in rechtlicher Beziehung handelt, wenn plötzlich ganz neuartige Rechtsgrundsätze zur Anwendung gebracht werden sollen, wie sie bisher von der herrschenden Ansicht und von der Praxis abgelehnt worden sind, wenn man
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Wenn von einer „formale[n] Mängelrüge“ abgesehen wird, müsse doch zumindest – und dies sei „die absolut selbstverständliche Voraussetzung“ – dem Land „ganz genau mitgeteilt werden, das und das ist deine Pflicht, und da und dadurch hast du sie nicht erfüllt“. Die weiteren Voraussetzungen seien außerdem: „Wenn dem Land das mitgeteilt ist, dann muß es sich zweitens dazu äußern, es muß darüber gehört werden. Es muß drittens zur Abstellung aufgefordert werden. […] Ferner muß dem Lande Gelegenheit gegeben werden – das ist das vierte – zur Abstellung nach eigener Wahl.“528
Brecht kritisiert, daß die Vertreter der Reichsregierung der Frage der Pflichtverletzung auszuweichen versuche, indem der erste und zweite Absatz des Artikels 48 miteinander vermischt wird.529 Auf diese Art der Argumentation könnten sich nicht nur die Vertreter Preußens, sondern auch das Gericht nicht einlassen, „wenn es nicht mit den Grundlagen der Weimarer Verfassung brechen will“530. Brecht weist die Reichsregierung darüber hinaus auf Ungenauigkeiten in ihrem Verständnis der Pflichtverletzung hin: Die Annahme, daß die Pflichten des Landes bereits dann verletzt seien, wenn Ruhe und Ordnung nicht aufrechterhalten werden, sei nicht richtig. Die Reichsregierung stelle hier nicht in Rechnung, daß in „jedem Lande der Welt […] ununterbrochen strafbare Handlungen begangen“ werden. Brecht erklärt: „Es wird nicht durch jede strafbare Handlung, die begangen wird, die Pflicht des plötzlich eine völlig neuartige Auslegung der Weimarer Verfassung vornehmen will, dann muß eine vorherige Klärung der Zweifel erfolgend.“ Ebd. Etwas später fügt er hinzu: „Hier liegt einer der schwersten Verstöße gegen die Voraussetzungen vor, daß die Mitteilung auch nicht am nächsten Tag geschah und nicht einmal bei der Verhandlung über die Einstweilige Verfügung hier vor dem Staatsgerichtshof – eine Sache, für die die Öffentlichkeit ein sehr feines Empfinden hatte, daß das Nichtangeben der Gründe kein unwesentliches Moment war.“ Ebd., S. 159. 528 Brecht: PcR, S. 159. Es gelte an dieser Stelle „das gleiche wie sonst im Verwaltungsrecht“. Brecht erklärt: „Wenn ein Brunnen im Hof den Verkehr gefährdet, so kann die Polizei nicht verlangen, daß gerade ein Gitter über den Brunnen gemacht wird, damit das Kind nicht hineinfällt. Es kann der Brunnen zugeschüttet werden, oder es kann ein anderer Weg gewählt werden, um dem Mangel abzuhelfen. Diese Auswahl abzustellen, wie es will, muß das Land haben.“ Ebd. 529 Er reagiert damit auf eine Äußerung von Carl Schmitt, der einen Zusammenhang zwischen den beiden Absätzen konstruierte: Laut Schmitt fließen beide Absätze „in concreto ineinander über“, und „in Wahrheit“ sei es so, daß man „diese beiden Dinge in den meisten Fällen nicht unterscheiden kann“. (Schmitt: PcR, S. 133.) Diese Behauptung führte nicht nur bei Brecht zu Widerspruch, sondern wurde von allen Vertretern der Gegenseite scharf kritisiert. Mit der ihm eigenen Polemik empört sich etwa Hermann Heller: „Es wäre auch juristisch interessant, zu hören, wieso auf einmal eine Vermengung der Absätze 1 und 2 des Art. 48 eintreten soll, während bisher in allen Kommentaren zu lesen ist, daß im Art. 48 Abs. 1 und 2 Dinge geordnet sind, die nichts miteinander zu tun haben. Auf einmal hören wir nun in diesem Falle, es handle sich um zwei Rechtsinstitute, die ineinander überfließen, die man nicht trennen könne. Nein, wir können sie als Juristen ausgezeichnet trennen, und gerade in diesem Falle, den die Reichsregierung selbst anführt, sieht man, daß bei Art. 48 Abs. 1 Voraussetzung ist, daß das Land seine Pflicht nicht erfüllt, und in allen anderen Fällen nach Art. 48 Abs. 2 vorzugehen ist.“ Heller: PcR, S. 138. 530 Brecht: PcR, S. 181.
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Landes verletzt. Die Pflicht des Landes ist es, die Mittel anzuwenden zur Unterdrückung der strafbaren Handlungen, die ihm zur Verfügung stehen im Rahmen der Verfassung.“531 Mit rhetorischem Geschick dreht Brecht sodann die Argumentation der Gegenseite um, indem er daran erinnert, daß nicht nur dem Land Pflichten auferlegt sind: „Den Pflichten des Landes stehen Pflichten des Reiches gegenüber. Das Reich soll das Land dabei unterstützen. Das Reich soll, wenn die Sache anfängt, schwierig zu werden, das Land unterstützen und soll nicht in dem Moment, wo es schwierig wird, dem Lande die Hilfsmittel entziehen […].“532
Auch an anderer Stelle legt Brecht Widersprüche und Inkonsistenzen in der Argumentation der Reichsregierung offen. So schwanke sie zwischen der Position, ihre Handlung gegen Preußen als verallgemeinerungsfähig darzustellen, und der gegenteiligen Haltung, einen Legitimitätsanspruch nur für den konkreten Fall Preußen zu erheben.533 Brecht befürchtet indes, daß der „Preußenschlag“ zu einem Präzedenzfall gemacht werden könnte; er sieht hierin eine akute Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat und argumentiert mit der ihm eigenen Skepsis und politischen Wachsamkeit, die auch im Hinblick auf den zu jener Zeit grassierenden Antisemitismus bemerkenswert ist: „Wenn in Fällen wie diesen und ähnlichen eine Reichsexekution stattfinden kann, dann kann sie künftig, je nach dem, wie eine Reichsregierung politisch gesonnen ist, bald gegen den, bald gegen jenen stattfinden. […] Und ebenso würde einmal eine anders eingestellte Regierung gegen Länder einschreiten können, wo das Zentrum führt, mit der Begründung, daß das augenblicklich die Volksmeinung schwer vertrage, oder weiter gegen ein Land, weil Juden in der Regierung sind. Das ist doch eine unmögliche Rechtsauffassung!“534
Im sechsten Teil der Verhandlung, der der Frage nachgeht, welche Befugnisse sich aus Art. 48 Abs. 1 ergeben, betont Brecht erneut, daß die Absetzung der Minister verfassungswidrig sei.535 Dem Minister könne das Ministeramt rechtlich nicht ent531
Brecht: PcR, S. 182. Brecht: PcR, S. 182. 533 Vgl. Brecht: PcR, S. 190 f. 534 Brecht: PcR, S. 191. Reichsgerichtspräsident Bumke fordert daraufhin, diese Debatte abzuschneiden; es sei „ohne einen rechten Gewinn“ schon zu viel Zeit damit verloren gegangen, obgleich die Lage doch klar sei. Das Reich stehe auf dem Standpunkt, daß „nur solche Fragen entschieden werden dürfen, die durch die Verordnung vom 20. Juli unbedingt praktisch geworden sind, und keine Fragen darüber hinaus“. Bumke: PcR, S. 191. Bumke verkennt dabei – wissentlich oder unwissentlich – die politische und rechtliche Tragweite des Putsches gegen Preußen, die von Brecht ja nicht ohne Grund benannt worden ist. 535 Er stellt klar: „Darum kann […] die Landesregierung nicht im rechtlichen Sinne abgesetzt werden, auch nicht vorübergehend. Das gilt für alle Landesregierungen, die Organe des Landes auf Grund einer Landesverfassung sind, die mit der Reichsverfassung übereinstimmt. Wenn sich in einem Lande eine Landesregierung selbst außerhalb des Rechts setzt, wenn sich in einem Lande eine Regierung nicht als freistaatliche Regierung im Sinne einer mit der Reichsverfassung übereinstimmenden Landesverfassung konstituiert, sondern z. B. als Räte532
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zogen werden; in bestimmten Fällen könnten ihm die Ministerbefugnisse entzogen werden, nicht aber das Amt – genau das sei jedoch geschehen.536 Brecht greift auch die Frage nach der Vertretung Preußens im Reichsrat auf und bekräftigt, daß es „unter keinen Umständen möglich [ist], daß auf Grund des Art. 48 Abs. 1 ein Reichskommissar im Reichsrat die Landesregierung vertritt oder die Landesregierung ausschließt“537. Im vorliegenden Fall komme zudem noch die Schwierigkeit hinzu, daß sich der Reichskommissar und der Reichskanzler in einer Person – in Franz von Papen – vereine, was nach Auffassung von Brecht ein unhaltbarer Zustand ist.538 Brecht faßt für diesen Teil der Verhandlung kritisch zusammen, daß die Frage nach dem ,Anhalten zur Pflichterfüllung‘ unbeantwortet geblieben sei. Diese in Art. 48 Abs. 1 WRV vorgeschriebene Maßnahme sei „in den Handlungen des Reichskommissars“ nicht erkennbar gewesen – damit aber stehe „es eben sehr schlecht mit den Gründen des Reichskommissars, soweit sie sich auf Art. 48 Abs. 1 stützen“539. Ebenso offen sei die Frage der Beamtenentlassungen und -ernennungen geblieben; eine Antwort, wie dieser Schritt rechtlich zu legitimieren ist, sei auf seiten der Reichsregierung bislang nicht vorgebracht worden.540
regierung im Gegensatz zur Reichsverfassung, als faschistische Regierung im Gegensatz zur Reichsverfassung, dann ist sie nicht mehr ,Landesregierung‘ im Sinne der Reichsverfassung, und in diesem Falle kann der Reichspräsident aus Art. 48 Ab. [sic!] 1 vorgehen auch in der Weise, daß diese sogenannte ,Landesregierung‘, die keine ist, entfernt wird.“ Brecht: PcR, S. 194. 536 Brecht: PcR, S. 254. 537 Brecht: PcR, S. 255. Mit Blick auf die historische Entwicklung argumentiert er: „Niemals ist es bisher vorgekommen – weder zur Zeit des alten Belagerungszustands, noch im letzten Jahrzehnt –, daß im Bundesrat oder im Reichsrat von seiten eines militärischen Befehlshabers Stimmrecht oder auch nur Präsenz oder Anhörung beansprucht wurde, niemals, und niemals kann das auch jetzt zugelassen werden.“ Ebd., S. 211. Brecht belegt diese Feststellung mit einem Brief von Bill Drews, dem damaligen Präsidenten des preußischen Oberverwaltungsgerichts, der seine Aussagen bestätigt hatte. Vgl. ebd., S. 258. Siehe dazu auch Brecht, Kraft, S. 216 f. 538 Ironisch bemerkt er: „Nach Ansicht der Reichsregierung hat der Reichskanzler von Papen das Recht entrüstet zu sein über das, was die Landesregierung in Preußen, der Reichskommissar von Papen, macht. Der Reichskanzler von Papen macht eine Reichsratsvorlage, und der Reichskommissar von Papen bekämpft die Reichsratsvorlage, und beide geraten in eine hitzige Auseinandersetzung. (Heiterkeit.) Das soll möglich sein!“ Brecht: PcR, S. 255. Ähnlich auch ebd., S. 284. 539 Brecht: PcR, S. 285. Schon zu Beginn der Diskussion stellte Brecht die Frage: „Ist nicht Art. 48 Abs. 1 und die Reichsexekution ursprünglich anders gedacht, nämlich so, daß der Druck des Militärs, das in das Land einmarschiert, durch psychologische Wirkung indirekt dazu führt, daß das Land und alle, die mitwirken können – wir setzen ja immer voraus, daß es erfüllbare Pflichten sind –, anderen Sinnes werden, als sie bisher waren und die Pflicht nun erfüllen? Das sind dieselben Mittel, wie sie im Kriege wirken und das Land zum Friedensschluß geneigt machen.“ Ebd., S. 210. 540 Vgl. Brecht: PcR, S. 285.
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Im darauf folgenden Teil, der die Voraussetzungen des Art. 48 Abs. 2 reflektiert, faßt Bumke in seinen Eingangsbemerkungen zusammen, welche Punkte in der anschließenden Diskussion zu erörtern seien: „1. die Behauptung, daß das Reich gegen Preußen eingeschritten sei, obwohl in anderen Ländern ein gleiches Maß an Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eingetreten sei; 2. die Behauptung, daß an dieser Gefährdung oder Störung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit das Reich selbst durch Aufhebung des Uniformverbots usw. eine Schuld treffe.“541
Brecht erklärt, daß es zahlreiche Indizien dafür gebe, „daß andere Gesichtspunkte endscheidend [sic!] die Verordnung bestimmt haben als der Gesichtspunkt der Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit, wo sie gestört waren“542. Den Vorwurf Carl Schmitts, daß die preußische Regierung eine „drohende Haltung“ einnehme,543 weist Brecht „mit aller Entschiedenheit namens des Herrn preußischen Ministerpräsidenten und der Staatsminister zurück“544. Für ihn stellt dies auch keine hinreichende Legitimation für das Vorgehen gegen Preußen dar; die Entsendung eines Reichskommissars für die Polizei hätte aus seiner Sicht völlig ausgereicht, um der Lage Herr zu werden.545 In bezug auf die Schuldfrage des Reichs hebt Brecht auf deren rechtliche Bedeutung ab und stellt die grundsätzlichen Pflichten des Reichs und dessen besondere Verantwortung im konkreten Fall in den Vordergrund der Betrachtung: „In dem Moment aber, wo es sich darum handelt, daß der Reichspräsident zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht gegen die Bürger einschreitet, sondern gegen ein Land, tritt rechtlich und materiell noch etwas ganz anderes in die Auseinandersetzung hinein: die Rücksichtnahme auf die Pflichten des Reichs gegenüber dem Land, die rechtlichen Beziehungen, die zwischen beiden bestehen, die Verpflichtung, die Kompetenzverteilung grundsätzlich zu achten, und die Nachprüfung vor dem Staatsgerichtshofs [sic!], ob diese Kompetenzverteilungsgrundsätze angemessen gewahrt worden sind.546 Hierfür ist es von Bedeutung, daß vorher das Reich durch die Aufhebung des Uniformverbots und die Aufhebung des Verbots der SA. selbst die Landesregierung in Verlegenheit gebracht hat.“547 541
Bumke: PcR, S. 286. Brecht: PcR, S. 287. Siehe auch ebd., S. 294. 543 Vgl. Schmitt: PcR, S. 291. 544 Brecht: PcR, S. 294. 545 Er fügt hinzu, daß dieser Gedanke nicht einmal sonderlich originell sei, sondern auf der Hand liege: „Das ist nicht ein Gedanke, der dem Reich nicht eingefallen ist, nicht ein geistreicher Einfall von mir, sondern jeder weiß, das ist das nächstliegende, das ist das, was man in solchen Fällen immer macht. Wenn man es hier nicht gemacht hat, sondern etwas anderes von der Art, wie es geschehen ist, so ist das wieder ein Indiz dafür, daß andere Zwecke dabei verfolgt wurden.“ Brecht: PcR, S. 294. 546 Brecht gibt in einer Fußnote an, daß er an dieser Stelle Überlegungen von Richard Grau gefolgt sei. Vgl. Brecht: PcR, S. 288. 547 Brecht: PcR, S. 288. 542
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In der Diskussion, welche Befugnisse sich aus Art. 48 Abs. 2 ergeben – dem achten Teil der Verhandlung – zieht Brecht absolute Grenzen des Artikels: sie umfaßten „diktaturfeste Verfassungsvorschriften“, „logisch[e] Grenzen der Diktaturgewalt“548 sowie „Maßnahmen, die zu dem in Art. 48 Abs. 2 erlaubten Zweck niemals nötig sein können“549. Mit Ausnahme der Regelungen in Art. 48 dürfe der Reichspräsident nicht in die Reichsverfassung eingreifen.550 Aus Art. 17 und Art. 68 WRV folge zudem, „daß die Landesregierung rechtlich nicht absetzbar ist […], weder auf die Dauer noch auf Zeit“551. Die Wahrung der Verfassung hat für Brecht höchste Priorität – so betont er: „Eine Änderung der Reichsverfassung darf nicht Zweck einer Verordnung aus Art. 48 Abs. 2 sein, darf auch nicht Zweck der einzelnen Maßnahmen weder des Reichspräsidenten noch der von ihm mit Vollmacht versehenen Personen sein. Denn es ist ein vielleicht noch nicht genug ausgesprochener Grundsatz der Weimarer Verfassung, daß der Beauftragte auch nicht mehr kann als Maßnahmen erlassen, die zur Wiederherstellung oder Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung notwendig sind. Er kann nicht mehr als der Reichspräsident selbst.“552
In der Frage der Nachprüfbarkeit der durchgeführten Maßnahmen, dem neunten Teil der Verhandlung, rekurriert Brecht zunächst auf die Bedeutung der Pflichtverletzung – eines Tatbestands, der aus seiner Sicht auf preußischer Seite ja gar nicht vorlag, sondern im Gegenteil durch das Verhalten der Reichsregierung verschuldet wurde:
548 Dies seien „Grenzen, die darin bestehen, daß der Reichspräsident gewisse Dinge logisch nicht ändern kann, z. B. nicht ändern kann, daß eine Verordnung eine Verordnung ist und kein Gesetz, daß das Reich Reich ist und nicht Land im Sinne der rechtlichen Verschiedenheit“. Brecht: PcR, S. 322. 549 Brecht: PcR, S. 322. (Im Orig. einige Wörter hervorgehoben.) 550 Als Beispiel führt Brecht an, daß der Reichspräsident etwa nicht den Staatsgerichtshof verändern oder abschaffen kann. Des weiteren könne er nicht die wohlerworbenen Rechte der Beamte berühren – obwohl, wie Brecht hinzufügt, „man an sich zweifeln könnte, ob das so wichtig ist, daß man, wenn man de lege ferenda spräche, es wirklich auf keinen Fall zulassen sollte.“ De lege lata sei dies jedoch nicht möglich. Vgl. Brecht: PcR, S. 324. Etwas später erläutert er: „Niemals wäre unter anderen Umständen nach der Preußischen Verfassung mit einer Absetzung von mehr als 90 Beamten zu rechnen gewesen. Das ist infolgedessen eine Verletzung der wohlerworbenen Rechte. Darum sind diese Versetzungen in den einstweiligen Ruhestand mit den Folgen, die sie für die Bezüge des Beamten und sein weiteres Aufsteigen in den Altersklassen und dergleichen haben, rechtlich nicht zu halten. Sie stehen mit Art. 129 der Reichsverfassung nicht im Einklang.“ Ferner sei zu beachten: „Fest steht, daß zu den wohlerworbenen Rechten auch das Gleichbleiben des Dienstherrn gehört. Es ist unzulässig, durch einfaches Gesetz oder auf Grund des Art. 48 Abs. 2 zu bestimmen, daß ein Staatsbeamter Reichsbeamter wird oder umgekehrt.“ Brecht: PcR, S. 359 und 360. Jacobi widerspricht Brecht und bezweifelt, „daß hier von einem Eingriff in wohlerworbene Rechte oder von einer Verletzung der in der Verfassung vorgesehenen Formen des Gesetzes für die Entlassung“ die Rede sein könne. Jacobi: PcR, S. 349. Siehe auch ebd., S. 362. 551 Brecht: PcR, S. 325. 552 Brecht: PcR, S. 361.
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„Die Absetzung von Ministerpräsident Braun und von Minister Severing war nicht eine zur Erfüllung der gerade verletzten Pflicht bestimmte Maßnahme, nicht eine Maßnahme, die sie anhalten sollte, ihre Pflicht zu erfüllen. Diese Maßnahme hat sie nicht angehalten, sondern abgehalten, ihre Pflicht zu erfüllen.“553
Sowohl die Dispositionsstellung als auch die Neueinstellungen von Beamten seien „in keinem Fall nötig“ gewesen, „um zur Erfüllung einer Pflicht anzuhalten“. Ebenso wenig lasse sich „das Eindringen der Reichskommissare in den Reichsrat“ legitimieren. Der Nachprüfung unterliege das alles insoweit, „als das Fehlen des Zwecks des Anhaltens oder die Unverhältnismäßigkeit offensichtlich“ sei.554 Dabei komme es auf die Nachprüfbarkeit der „relativen Grenzen“ nicht an, da „die getroffenen Maßnahmen schon wegen der Überschreitung der absoluten Grenzen, die der Anwendung des Art. 48 Abs. 2 gezogen sind, unzulässig“ seien.555 Die „Grenzen des Kausalzusammenhanges“556 seien deutlich überschritten worden; „Kausalzusammenhang“ meint an dieser Stelle das kausale Verhältnis zwischen den in der Verfassung vorgesehenen Befugnissen aus Art. 48 und den getroffenen Maßnahmen der Reichsregierung, die sich auf Art. 48 beruft. Eine Grenzüberschreitung, die der Kausalität dieses Verhältnisses nicht mehr gerecht wird, liegt hier nach Auffassung von Brecht insofern vor, als die Reichsregierung aus Art. 48 mehr Befugnisse ableitet, als ihr nach der Verfassung zusteht. Sie habe das selbst zugestanden, denn in ihren Schriftsätzen sei ausdrücklich betont worden, „daß der Reichskommissar sich gar nicht auf die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung entsprechend der Verfassung“ beschränken soll.557 Es sei offenkundig, daß mit den Maßnahmen andere Zwecke als die vorgegebenen verfolgt wurden – dabei haben die hier verwendete Begrifflichkeiten für Brecht eine besondere Bedeutung: „Andere Zwecke, – das brauchen nicht vom Standpunkt derer, die das anordnen, böse Zwecke oder schlechte Zwecke zu sein – darauf kommt es hier nicht an –, nicht im moralischen oder politischen Sinne zu beanstandende Zwecke – es liegt mir fern, mich auf dies Gebiet zu verlieren, das ist politischen Ansichtssache –, sondern im rechtlichen Sinne andere Zwecke. Auch ein guter Zweck würde rechtlich nicht entschuldigen. Diesen Zweck haben wir genannt: es war die politische Konzession an die äußerste Rechte, an Kräfte, die sich illegal entluden und illegal weiter zu entladen drohten, und denen man durch die Eröffnung eines Ventils Raum schaffen wollte. Man ging nicht gegen den Störer vor, sondern gegen einen anderen Teil, der nicht störte. Das lag außerhalb der Zwecke, die hier zu verfolgen sind.“558 553
Brecht: PcR, S. 383. Brecht: PcR, S. 383. 555 Brecht: PcR, S. 384. 556 Brecht: PcR, S. 384. 557 Brecht: PcR, S. 385. Das werde besonders deutlich „bei der Inbesitznahme der unpolitischen Ministerien. Zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung war die Inbesitznahme des Handelsministeriums, des Landwirtschaftsministeriums, des Kultusministeriums vollständig unnötig.“ Ebd. 558 Brecht: PcR, S. 385. 554
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In seiner Zusammenfassung, die Brecht im vorletzten Teil der Verhandlung vortrug,559 betont er die ausdrückliche Loyalität Preußens gegenüber dem Reich.560 Den Vorwurf der Reichsregierung, daß die preußische Regierung keine richtige Regierung, sondern nur eine Geschäftsregierung sei, weist er mit dem Argument zurück, daß nach dieser Logik auch Papen kein richtiger Reichskanzler wäre.561 Das Ergebnis der Verhandlung lasse sich „in dem einen Satz zusammenfassen, daß Art. 48 Abs. 1 nicht anwendbar war, daß dagegen Abs. 2 zwar anwendbar war, aber nicht so angewendet werden durfte, wie er angewendet worden ist“562. Die rechtliche und politische Tragweite der Entscheidung des Staatsgerichtshofs veranschlagt Brecht als sehr hoch: Es gehe hier „um Sein oder Nichtsein verfassungsmäßiger Zustände“563. Das „juristische Ergebnis“ der Verhandlung sei, daß die „Berufung der Verordnung auf Art. 48 Abs. 1 […] auf jeden Fall gestrichen werden muß“, da eine Pflichtverletzung des Landes Preußens nicht vorliege und die Anwendung des Artikels nicht begründet sei.564 Bliebe die Verordnung unbeanstandet, wären die „politische[n] Folgen“565 nach Brecht „kaum zu ermessen“: „Die Folge wäre, daß jeder Reichspräsident und jeder Reichskanzler von da an nach diesen Maximen regieren könnte. Auch die Linke würde, wenn sie wieder einmal die Macht in 559
Daß es diesen zehnten Teil der Verhandlung gab, der sich der Zusammenfassung der vorgetragenen Thesen und Diskussionspunkte widmete, geht auf Brechts Vorschlag zurück. Bumke erklärte sich damit einverstanden, mahnt jedoch ein wenig scherzhaft: „Was ich nur nicht gern möchte, ist, daß man versucht, das, was wir nach Auffassung der Vertreter noch nicht richtig begriffen haben (Heiterkeit), uns durch eine Zusammenfassung noch einmal nahezubringen.“ Bumke: PcR, S. 390. 560 So erklärt er: „Das gesamte Verhalten der Preußischen Regierung in ihren amtlichen Akten gegenüber der Reichsregierung war in der ganzen Zeit von Anfang Juni bis zum entscheidenden Tage, dem 20. Juli, äußerst loyal. Die Preußische Regierung lehnte stets jedes Ansinnen ab, in ihren amtlichen Handlungen die Reichsregierung zu bekämpfen oder gar gegen sie Opposition oder Obstruktion zu betreiben.“ Brecht: PcR, S. 396. 561 Dies sei „keine billige Redewendung, sondern juristisch durchaus ernsthaft: wenn ein solcher Gedankengang zulässig wäre, daß eine Regierung ohne Mehrheit keine richtige Regierung sei, dann wäre ja die Verordnung vom 20. Juli ungültig, weil sie nicht von einem richtigen Reichskanzler gegengezeichnet wäre.“ Brecht: PcR, S. 398. Gottheiner hatte zuvor kritisiert, daß die kommissarische Landesregierung denselben (provisorischen) Charakter wie die geschäftsführende preußische Regierung habe und ihr deshalb auch dieselben Rechte und Befugnisse zustünden. Vgl. Gottheiner: PcR, S. 284. 562 Brecht: PcR, S. 393. 563 Brecht: PcR, S. 398. Brechts Sorge gilt auch der „weiteren Entwicklung der verfassungsmäßigen Zustände“ (ebd.); es seien zahlreiche Dinge vorgekommen, die mit der Verfassung nicht im Einklang stehen. Vgl. dazu ebd., S. 399. 564 Brecht: PcR, S. 399. 565 Daß Brecht an dieser Stelle auf politische Fragen zu sprechen kommt, mag gemessen an seinem selbst erhobenen Anspruch, Politik und Recht strikt voneinander zu trennen, zunächst überraschen. Und tatsächlich bittet Brecht den Präsidenten des Staatsgerichtshof vorab um Entschuldigung, daß er sich nun dazu äußert. Auch wenn der Staatsgerichtshof nur die rechtliche Seite zu prüfen habe und politische Überlegungen nicht in Betracht kämen, sei es „für die bundesfreundlichen Beziehungen zwischen Reich und Preußen nicht unwichtig, sich noch einmal klarzumachen, worum es sich dabei handelt“. Vgl. Brecht: PcR, S. 400.
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Händen hat, dann Minister absetzen wollen, und ebenso würde die äußerste Rechte handeln, wenn etwa der Führer der äußersten Rechten Reichspräsident würde, und sein Parteigenosse Reichskanzler. Welche Folgen in einem solchen Falle aus einer solchen Rechtssprechung gezogen würden, steht wohl außer allem Zweifel.“566
Am Ende seines Vortrags nimmt Brechts Argumentation, in deren Zentrum nun die Ehre Preußens steht, eine pathetische Wendung. Plötzlich ist die Rede von der „deutsche[n] Mission Preußens“, die darin bestanden habe, „das Reich zu gründen und zu erhalten, und die Klammer von Ost nach West zu werden“. Brecht führt aus: „Die Krönung dieser deutschen Mission Preußens sollte es werden, daß Preußen im Reich aufgeht. Wenn Preußen aber mit diesen Vorwürfen belastet, verschwindet, so ist das nicht die Krönung der deutschen Mission Preußens, sondern ein Untergehen Preußens im Reich.“567
Der Vorwurf der Pflichtverletzung ist aus dieser Perspektive also vor allem deshalb schwerwiegend, weil er die Ehre Preußens und seiner Minister kränkt. Brecht konzentriert hier sein Augenmerk auf das Gelingen einer „wirklich produktiven Reichsreform“568 ; sie könne nur ermöglicht werden, wenn Preußen von dem Vorwurf der Pflichtverletzung befreit wird und parteipolitische Erwägungen zurückgestellt werden.569 bb) Analyse der Argumentation Die Argumentationsanalyse ist auf drei Ebenen zu verorten: Sie fragt nach dem Inhalt, der Rhetorik und dem Theorieverständnis der von Brecht vorgetragenen Argumentation. Nachdem der Inhalt der Brechtschen Argumentation im vorherigen Kapitel bereits im wesentlichen erfaßt worden ist, steht im folgenden vor allem die Frage nach ihrer theoretischen Bestimmung, aber auch der hier verwendeten Rhetorik im Vordergrund. Wenn danach gefragt wird, welches theoretische Rechtsverständnis in den Redebeiträgen der Prozeßvertreter sichtbar wird, muß jedoch zunächst vorangestellt werden, daß hier zwei verschiedene Bereiche des Rechts aufeinandertreffen: Rechtstheorie und Rechtspraxis.570 Methodisch ergibt sich daraus das Problem, daß 566
Brecht: PcR, S. 401 f. Brecht: PcR, S. 402. 568 Brecht: PcR, S. 402. Mit großem Pathos fügt er hinzu: „Möge […] unser ehrwürdiger Herr Reichspräsident […] in der Vollendung der Mission Preußens, in der Vollendung des Reichs als Krönung seines Lebenswerkes noch die Lösung der deutschen Frage erleben. Möge er als gemeinsames Staatsoberhaupt von Reich und Preußen seine Lebensaufgabe in Schönheit vollenden.“ Ebd. 569 Brecht erläutert: „In dieser Frage müssen, so sonderbar es klingt – ob Hitler oder Göring, ob Brüning, von Papen, von Schleicher, ob Braun oder Severing – alle Deutsche Hand in Hand arbeiten unter Zurückstellung von Parteifragen, die sie sonst trennen.“ Brecht: PcR, S. 402. 570 Der Begriff der Rechtstheorie wird im folgenden wortgenau verstanden: als Theorie des Rechts, mithin als eine Beschreibung und Zuschreibung der Bedeutung, der Aufgabe und des Wesens des Rechts. Die zahlreichen Begriffsexegesen, die den Terminus „Rechtstheorie“ bis in alle Einzelheiten zerlegen, nach der Verhältnisbestimmung etwa von Recht und Rechtstheorie, 567
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die rechtspraktische Handlung des jeweiligen Prozeßvertreters nicht unbedingt deckungsgleich sein muß mit seiner rechtstheoretischen Positionierung. Denn die Rechtspraxis vollzieht sich hier in Form einer Gerichtsverhandlung, in der es nicht allein um die Stringenz der eigenen Rechtstheorie geht, sondern auch oder vor allem darum, den Prozeß zu gewinnen. Infolgedessen muß in Rechnung gestellt werden, daß es zu Verschiebungen innerhalb der rechtstheoretischen Annahmen kommen kann, die über die grundsätzliche Standortbestimmung im Feld der Rechtstheorie nicht zwangsläufig etwas aussagen müssen. Gleichwohl operieren auch Vertreter einer Gerichtsverhandlung mit einem bestimmten juristischen Vorverständnis, das es im folgenden offenzulegen gilt.571 Für den Prozeß vor dem Staatsgerichtshof gilt dies in besonderer Weise, denn dank der hochkarätigen Besetzung spiegeln sich in ihm die Grundzüge des Methodenstreits der Weimarer Staatsrechtslehre wider. Auch wenn die darin sichtbar werdende Reflexionstheorie des Rechts aufgrund prozeßtaktischer Erwägungen in ihrer „Reinheit“ getrübt worden sein mag, drücken sich in den Argumentationsmustern der Prozeßvertreter sehr wohl rechtstheoretische Grundauffassungen aus, die zumindest hinsichtlich ihrer inneren Stringenz für den Zeitraum des Prozesses untersucht werden können. Es sollen daher die mit dem Stenogrammbericht vorliegenden Wortbeiträge vor allem Brechts, aber auch die der anderen Redner auf ihre innere Folgerichtigkeit überprüft werden. Obgleich der Schwerpunkt damit auf die Theorieimmanenz der Argumentation gelegt wird, soll die Textanalyse an einigen Diskussionspunkten – soweit es für das Verständnis des jeweiligen Zusammenhangs erforderlich ist – um eine vergleichende Werkkontextualisierung ergänzt werden. Dies gilt insbesondere für die Auseinandersetzung mit Carl Schmitt.
Recht und Rechtswissenschaft, Rechtswissenschaft und Rechtswissenschaftstheorie oder auch Rechtstheorie und Rechtsphilosophie fragen und dabei eine Metatheorie der Rechtstheorie entwickeln, deren Zweck oftmals wohl vor allem in sich selbst zu suchen ist, spielen für die folgenden Überlegungen keine Rolle. Vgl. dazu z. B. Rüthers, Bernd/Fischer, Christian: Rechtstheorie. Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts, 5. Aufl., München 2010; Vesting, Thomas: Rechtstheorie. Ein Studienbuch, München 2007; Kunz, Karl-Ludwig/Mona, Martino: Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie. Eine Einführung in die theoretischen Grundlagen der Rechtswissenschaft, Bern/Stuttgart/Wien 2006; Jestaedt, Matthias/Lepsius, Oliver/Möllers, Christoph/Voßkuhle, Andreas (Hg.): Rechtswissenschaftstheorie, Tübingen 2008. 571 Vgl. dazu Friedrich Müller, der erklärt: „Das Vorverständnis erscheint als das Lebensverhältnis des Verstehenden zu der zu verstehenden Sache: als ein Verhältnis, das die Möglichkeit von Verstehen überhaupt erst begründet. Im Rechtsfall aktualisieren der Normtext und die Bestandteile des Sachverhalts neben den engeren Interpretationsproblemen und dem umfassenden Konkretisierungsvorgang zugleich auch einen vorgängigen Sachbezug des handelnden Juristen zu diesen Problemen. Sprachliche wie inhaltliche Vorverständnisse müssen in ihrer produktiven Funktion als Bedingung und Voraussetzung von Verstehen allgemein wie vor allem auch in der Rechtsarbeit gesehen werden.“ Müller, Friedrich/Christensen, Ralph: Juristische Methodik. Band I: Grundlegung für die Arbeitsmethoden der Rechtspraxis, 10. Aufl., Berlin 2009, S. 273.
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Wenn man einen Blick auf die Argumentationslinien der im Prozeß diskutierten Wortbeiträge legt, fällt zunächst auf, daß vor allem auf preußischer Seite – mit Ausnahme von Heller – immer wieder der Anspruch formuliert wird, Recht und Politik strikt voneinander zu trennen. Zwar ist es in einer Gerichtsverhandlung nichts Ungewöhnliches, sich allein auf Rechtsfragen zu konzentrieren, doch die immer wiederkehrende Betonung dieses Selbstanspruchs scheint über den Charakter einer gewöhnlichen Gerichtsverhandlung hinauszugehen und bietet einen Ansatzpunkt, jene Haltung in den größeren Zusammenhang von Theorie und Praxis einzuordnen. So liegt vor dem Hintergrund der rechts- und wissenschaftstheoretischen Entwicklungen zur Zeit der Weimarer Republik der Schluß nahe, darin eine Nähe zu den rechtspositivistischen Strömungen jener Zeit zu erkennen.572 Dies gilt zumindest dann, wenn man definitorisch jenen Teilaspekt des Rechtspositivismus zugrunde legt, der in Abgrenzung zur Naturrechtslehre573 von der sog. „Trennungsthese“ zwischen Recht und Moral ausgeht: „Die Einstufung der Normen als Recht wird von der Frage, ob es sich dabei um richtige und gerechte oder unsittliche und verwerfliche Regelungen handelt, getrennt.“574 Rechtswissenschaft darf so verstanden keine Aussagen darüber treffen, wie das Recht sein soll, sondern ihre Aufgabe besteht in der reinen Beschreibung und Abbildung dessen, was ist, also des geltenden positiven Rechts.575 Einer Definition von Friedrich Müller folgend wird damit Bezug genommen auf den „Positivismus der Wissenschaftshaltung“576, der sich nach „puristischer“Auslegung so zusammenfassen läßt: „Bei Auslegung und Anwendung von Normen dürfen weder philosophische und weltanschauliche noch historische, politische und soziale Inhalte außerhalb, am Rand oder innerhalb der normativen Regelungsbereiche berücksichtigt werden.“577 In einer solchen Interpretation wird gleichsam die „Auffassung von Wissenschaftlichkeit auf die Welt des Rechts“ 572
Vgl. dazu Stolleis, GÖR III, S. 92 ff und 154 ff. Vgl. dazu etwa Kervegan, Jean-François: Rechtliche und moralische Normativität. Ein „idealistisches“ Plädoyer für den Rechtspositivismus, in: Rechtstheorie 39, 2008, S. 23 – 52. 574 Dreier, Horst: Naturrecht und Rechtspositivismus. Pauschalurteile, Vorurteile, Fehlurteile, in: Härle, Wilfried/Vogel, Bernhard (Hg.), „Vom Rechte, das mit uns geboren ist.“ Aktuelle Probleme des Naturrechts, Freiburg/Basel/Wien 2007, S. 127 – 170 (147). 575 Das bedeutet aber nicht, wie Philippe Mastronardi fälschlicherweise annimmt, daß jegliches ,überpositive Recht‘ als Untersuchungsgegenstand der Wissenschaft ausscheidet. Richtig ist, daß nach positivistischer Auffassung das Recht nicht auf Grundlage von überpositiven oder metaphysischen Annahmen begründet wird, sondern allein kraft seiner positiven Setzung Geltung hat. Auf die Wissenschaft übertragen bedeutet das, daß sie nicht wertend Stellung nehmen darf, sondern nur Aussagen treffen kann zu dem, was ist. Mit dem Gegenstand der Wissenschaft hat das hingegen nichts zu tun; auch wenn man von dem Postulat der Werturteilsfreiheit ausgeht, können Werte sehr wohl Gegenstand der Wissenschaft sein (dies legt bereits Max Weber dar: Vgl. z. B. Weber, Sinn der „Wertfreiheit“, S. 499 f). Wie häufig in der Werturteilsdiskussion geraten auch in Mastronardis These Forscher und Forschungsgegenstand durcheinander. Vgl. Mastronardi, Philippe: Angewandte Rechtstheorie, Bern/Stuttgart/Wien 2009, S. 100 f. 576 Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 113. (Im Original hervorgehoben.) 577 Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 115. 573
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übertragen;578 die wissenschaftstheoretische Entsprechung eines so verstandenen Positivismus liegt in dem Postulat der wissenschaftlichen Wertfreiheit. Wenn im folgenden der Begriff des Rechtspositivismus verwendet wird, wird dabei das eben erläuterte terminologische Verständnis zugrunde gelegt.579 Zugleich bleibt die rechtstheoretische Interpretation der untersuchten Wortbeiträge immer unter dem Vorbehalt formuliert, daß sich diese Feststellungen zunächst nur auf die Aussagen beziehen können, die im Prozeß getroffen wurden. In seinen einleitenden Erklärungen stellt Reichsgerichtspräsident Bumke klar, daß es nicht die Aufgabe des Staatsgerichthofs sei, „zu prüfen und darüber zu entscheiden, ob das, was geschehen und was hier angefochten ist, politisch zweckmäßig, politisch heilsam war oder nicht“. Er fährt fort: „Der Staatsgerichtshof hat darüber zu entscheiden, ob das, was geschehen ist, sich im Rahmen der Verfassung hält. Nur unter diesem Gesichtspunkt allein kann unsere Verhandlung stehen, und ich richte an die Herren Vertreter die Bitte, sich dieses Zieles unserer Verhandlungen bewußt zu sein. Es wird sich selbstverständlich nicht umgehen lassen, daß gewisse Werturteile, gewisse Auffassungen über die politische Lage und die politischen Wirkungen mit in die Verhandlungen hineinspielen, aber alles, was uns nach der Richtung vorgetragen wird, hat für uns nur Bedeutung, soweit es auf diese Frage der Rechtmäßigkeit, der Verfassungsmäßigkeit Bezug hat.“580
Brecht geht von ähnlichen Überlegungen aus und betont immer wieder, daß zwischen Fragen der Politik und jenen des Rechts strikt unterschieden werden müsse;581 und so sei auch Gegenstand der Klage Preußens nicht „die politische Zweckmäßigkeit des Vorgehens der Reichsregierung, […] sondern lediglich die rechtliche Zulässigkeit ihres Vorgehens“582. Weitestgehend Konsens – und zwar auch auf seiten der Reichsvertreter – besteht ferner in dem Anspruch, den Bereich des Rechts von jenem der Tatsachen zu trennen; dies entspricht der üblichen thematischen Gliederung einer Gerichtsverhandlung, in der Rechts- und Tatsachenfragen jeweils gesondert behandelt werden.583 Daß sich 578
Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 117. (Im Original tw. hervorgehoben.) Zu weiteren Bedeutungssträngen des Rechtspositivismus siehe Dreier, Naturrecht. 580 Bumke: PcR, S. 5. Etwas später fügt er hinzu: „Wir sollten uns darüber klar sein, daß hier der Kampf nicht vor einem politischen Gremium geführt wird, sondern vor einer Rechtsinstanz, und daß es andere Orte, andere Gelegenheiten geben wird, um das, was der rein politischen Rechtfertigung dienen kann, zu sagen.“ Ebd., S. 8. 581 Vgl. als eines von vielen Beispielen: Brecht: PcR, S. 17. 582 Brecht: PcR, S. 8. Für Brecht impliziert dies, daß auch Moral und Recht voneinander getrennt werden müssen: „Es ist hier nicht die Rede davon, ob zu irgend welchen Handlungen ein moralisches Recht vorlag, es handelt sich hier nur darum, ob die Grenzen der Verfassung überschritten wurden.“ Ebd., S. 18. 583 Demnach fallen der zweite und dritte Gliederungspunkt (Vorgänge vor dem 20. Juli und am 20. Juli 1932 sowie die Folgen der Verordnung) in den Bereich der Tatsachen, alle anderen Themenblöcke in den Bereich des Rechts. Siehe die bereits oben zitierte Anmerkung von Bumke: PcR, S. 112. 579
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diese Trennung nicht immer in Reinform aufrechterhalten lasse, entgegnet Brecht in seiner Replik auf Bumke: Es werde sich „im Laufe der Verhandlungen auch bei den rechtlichen Ausführungen die Notwendigkeit ergeben, gelegentlich einmal Tatsachen zur Unterstützung vorzubringen“584 – was, so läßt sich annehmen, wohl auch im Umkehrschluß gilt. Auch Bumke räumt mit Blick auf die Tatsachen, „die sich auf Grund der Verordnung vollzogen haben“, ein: „Diese Tatsachen aber können wir nach meiner Ansicht nicht rein als nackte Geschehnisse betrachten, sondern wir müssen, um sie richtig zu würdigen, auch auf die rechtliche Bedeutung der einzelnen Aspekte eingehen, nicht auf die Frage ihrer Zulässigkeit, sondern nur auf die Frage: Was ist geschehen, und welche rechtlichen Wirkungen hat es gehabt?“585
Dem Anspruch nach aber sollte die Trennung zwischen beiden Bereichen grundsätzlich gewahrt werden. Auch Carl Schmitt gibt vor, sich auf das „tatsächlich Wirkliche“ zu konzentrieren und nicht „normativistische“ Ansätze zu verfolgen.586 Hans Peters, von dessen Redebeiträgen Walter Jellinek besonders angetan war,587 wirft Schmitt dagegen vor, diese Unterscheidung gerade nicht zu vollziehen. Schmitt begehe den Fehler, „daß er aus der Tatsachenwelt heraus gewisse Begriffe prägt, in diese gewisse Werturteile hineinlegt, und dann auf Grund dieser Werturteile rechtliche Folgerungen zieht“588 – damit also würde Schmitt das genaue Gegenteil von dem praktizieren, was er im Prozeß für sich selbst in Anspruch nimmt und was darüber hinaus den Kern positivistischer, aber auch dezisionistischer Konzepte ausmacht.589 Kritisch zu fragen bleibt indes, von welchem Verständnis des „Tatsächlichen“ die Prozeßbeteiligten jeweils ausgehen. Im Laufe des Prozesses zeigt sich, daß darüber keineswegs Einigkeit besteht; dies hängt mit den unterschiedlichen politischen Blickrichtungen zusammen. Denn das, was die Prozeßvertreter Preußens als Tatsache betrachten, ist bereits Ausdruck ihrer Kritik an der Reichsregierung; umgekehrt stellt sich die „tatsächliche Lage“ für die Reichsregierung so dar, daß sie ihren politischen Präferenzen entspricht. Während es für die preußische Seite eine Tatsache ist, daß das Einschreiten der Reichsregierung gegen Preußen verfassungswidrig war, steht die „tatsächliche“ Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für die Reichsregierung im Vordergrund; daraus abgeleitet kommt sie zu der Auffassung – aus ihrer Sicht eine Tatsache –, daß sich ihr Vorgehen gegen Preußen im Rahmen der Verfassung bewege. 584
Brecht: PcR, S. 55. Bumke: PcR, S. 88. 586 Schmitt: PcR, S. 290. 587 So kommentiert er: „Ausgezeichnet schnitten Erwin Jacobi und Hans Peters ab, Erwin Jacobi durch die mustergültige Klarheit und Objektivität seiner Darlegungen, Hans Peters durch die Frische, die leichte Verständlichkeit und die Kürze seines Vortrags.“ Jellinek, Der Leipziger Prozeß, S. 904. 588 Peters: PcR, S. 57. 589 Vgl. dazu die Erläuterungen in Kapitel I.3.a)cc). 585
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Besonders deutlich werden diese Differenzen in Peters’ Kritik an Schmitt sowie in den Kommentaren Bumkes. So wirft Peters der Gegenseite vor, „daß hier zum Teil das Tatsächliche in Begriffen dargestellt und eingeordnet wird, die wir schon jetzt grundsätzlich ablehnen müssen. Später werden sich in den rechtlichen Folgerungen daraus die dann kaum abwendbaren Konsequenzen zeigen. Wir lehnen diese Methode ab, weil sie zu Ergebnissen führen [sic!], die gerade vom Standpunkte des geltenden Rechts aus, das es hier auszulegen gilt, unrichtig sind.“590
Bumke moniert daraufhin, daß man darüber streiten könne, ob „das gerade Ausführungen zum tatsächlichen Teil waren“591, und bittet darum, von allgemeinen staatsrechtlichen Betrachtungen in diesem Teil der Verhandlung abzusehen. Erneut wird hier sichtbar, daß nicht nur Uneinigkeiten bestehen in bezug auf die Bestimmung dessen, was als Tatsache gilt, sondern daß auch die Grenzen zwischen Politik, Recht und Wissenschaft nicht immer so klar gezogen werden, wie dies im Vorfeld als Anspruch formuliert worden ist.592 Das hängt aber nicht nur mit der – in der Frage der wissenschaftlichen Wertfreiheit häufig anzutreffenden – Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis zusammen, sondern ist in diesem Fall im Gegenstand selbst begründet. Es kann davon ausgegangen werden, daß Brecht (und auch die anderen Prozeßvertreter) sich der politischen Dimension ihrer Redebeiträge durchaus bewußt waren. Einige Monate nach dem Prozeß bekennt Brecht in einem unveröffentlichten Manuskript: „Als die Preußische Regierung den Staatsgerichtshof anrief, gab sie damit die gewaltsame Auseinandersetzung auf, stellte die politische Auseinandersetzung zurück und setzte an deren Stelle zunächst die staatsrechtliche Auseinandersetzung. Dabei war die Fragestellung nicht die, ob die Reichsregierung ihre Gewalt politisch richtig oder falsch, erfolgreich oder nicht, angewandt hatte, sondern nur, ob sie rechtlich die Grenzen des Zulässigen überschritten hatte oder nicht. Diese Fragestellung hatte jedoch […] für die Zukunft einen tiefen politischen Sinn.“593 590
Peters: PcR, S. 60. Bumke: PcR, S. 60. 592 In Bumkes Vorstellung sehen diese idealtypischen Trennlinien so aus, „daß wir nicht nachher bei der Erörterung der Rechtsfragen ohne Not wieder in die Fragen der Tatsachen zurückgleiten. Ich hatte bei meiner Disposition mir eigentlich vorgestellt, daß es für uns alle und auch für das Bild, das man draußen von der Sache gewinnen kann, am besten wäre, durch diese […] etwas trüben Wellen dieser Brandung der tatsächlichen Vorkommnisse unser Schiffchen zunächst einmal hindurchzusteuern, um dann auf das Meer der reinen Wissenschaft zu gelangen, und ich meine, daß man diesem Plan folgen sollte.“ Bumke: PcR, S. 54. 593 Brecht, RuR, S. 8. Auf dem Titelblatt des Manuskripts findet sich folgende handschriftliche Notiz von Brecht: „Entwurf eines Aufsatzes für das erste Jahrbuch der Hochschule für Politik von Februar 1933 (Die inzwischen gleichgeschaltete Hochschule lehnte den Aufsatz wegen der politischen Lage ab)“ Worin dieser tiefe politische Sinn und vor allem die politische Tragweite des Prozesses bestand, erläutert Brecht bereits im Vorwort des Stenogrammberichts: „Die Tatsache, daß die Deutsche Reichsverfassung in einem Falle wie diesem die Anrufung des Staatsgerichtshofs zuläßt, hat am 20. Juli 1932 Deutschland vor einem Bürgerkrieg bewahrt. Die Tatsache, daß der Staatsgerichtshof eine zwar von beiden Seiten scharf kritisierte, aber 591
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Daß sich Politik und Recht nicht auf kategorische Weise voneinander trennen ließen, belegen auch Äußerungen, die in dem Prozeß mit Blick auf dessen Bedeutung für die Öffentlichkeit gemacht wurden. Brecht diagnostiziert eine Teilnahmslosigkeit der Öffentlichkeit gegenüber dem Prozeß des Staatsgerichtshofs und erkennt darin einen Verlust an Vertrauen in die Bedeutung und Wirkungskraft des Rechts überhaupt. Eindringlich trägt er vor: „Haben wir es überhaupt noch mit dem ernsten Glauben an Rechtszustände in Deutschland zu tun? Es ist doch beschämend, wohin man hört, diese Gleichgültigkeit, die bis zum heutigen Tage über die Entscheidung des Staatsgerichtshofs nicht nur bei der Reichsregierung, sondern in der breiten Öffentlichkeit herrscht. Ich habe mich tief geschämt darüber, denn diese Gleichgültigkeit bedeutet: Glaubt doch bloß nicht, daß der Staatsgerichtshof es wagt, Recht zu sprechen! – Meine Herren, ich kann dieses Mißtrauen nicht teilen und teile es nicht. Es ist der letzte große Kampf um das Recht, der hier ausgefochten wird. Wenn es hier kein Recht gäbe, dann allerdings wäre von da an alles möglich! Aber die Tatsache, daß eine solche öffentliche Meinung besteht – an der der Staatsgerichtshof keine Schuld hat – ist verhängnisvoll.“594
In dieser Verhältnisbestimmung von Recht und Politik wird deutlich, daß das Erfüllen des hehren Selbstanspruchs, eine Debatte führen zu können, die sich nur dem „reinen“, von Fragen der Politik unberührten Recht widmet, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Denn den hier diskutierten verfassungsrechtlichen Fragen ist zwangsläufig eine politische Dimension inhärent, die sich nicht vollständig ausblenden läßt. Der Preußenschlag stellt an sich bereits ein Politikum dar, in dem die Grenzen zwischen Macht und Recht neu gezogen wurden. Die Diskussion über die rechtliche Zulässigkeit dieses Vorgehens auf eine reine Lehre des Rechts zu reduzieren – und damit also weder dessen politische Voraussetzungen noch dessen politische Folgen zu berücksichtigen –, wäre zwar theoretisch denkbar, aber angesichts der politischen Realität des Prozesses praktisch kaum umsetzbar. Mit Blick auf die Argumentationsführung Brechts wird an dieser Stelle zudem deutlich, daß die kategorische Trennung zwischen Recht und Politik auch seinem eigenen – allerdings unausgesprochenen – Rechtsverständnis gar nicht entspricht. Zwar gibt Brecht wie erläutert vor, diese strikte Differenz unbedingt einhalten zu wollen, und stellt sie sogar als theoretische Grundprämisse dar, auf der sich seine weiteren Überlegungen bewegten. Doch in seinen Redebeiträgen argumentiert er gerade nicht mit dem engen Blick eines Rechtspositivisten, sondern bezieht immer wieder politische Überlegungen, die vor allem die politische Bedeutung des Prooffensichtlich auf dem ehrlichen Willen richtiger Rechtsfindung beruhende Entscheidung gefällt hat, wird für die weitere Entwicklung des deutschen Verfassungslebens entscheidende Bedeutung behalten. Wäre der Staatsgerichtshof überhaupt nicht zu einem Spruche gekommen oder hätte dieser Spruch der rechtsuchenden Partei jeden Rechtsschutz versagt, so würde künftig in einer ähnlichen Lage eine gewaltsame Auseinandersetzung schwerlich zu verhindern sein. Schon dies läßt die außerordentliche Bedeutung der sechstägigen Verhandlungen vor dem Staatsgerichtshof erkennen.“ Brecht: PcR, S. XII. 594 Brecht: PcR, S. 92.
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zesses reflektieren, in seine Argumentation mit ein. Wie so oft im Brechtschen Werk klaffen Anspruch und Umsetzung auch an dieser Stelle auseinander. Kunst und Wissenschaft, Pathos und Sachlichkeit, Idealismus und Pragmatismus, Normativität und wissenschaftliche Wertfreiheit, Politik und Recht – immer wieder geht es um den Konflikt zweier Sphären, die zu trennen Brecht strikt für sich in Anspruch nimmt und sie doch immer wieder miteinander vermischt: die Sphäre des Seins und jene des Sollens. Gleichwohl ist davon auszugehen, daß die Einbeziehung politischer Gesichtspunkte sicher nicht allein aus einer unbewußten Vermischung dieser Sphären resultiert, sondern von Brecht ganz bewußt zur Erhöhung der Überzeugungskraft seiner Argumentation eingesetzt wird. Wenn er auf die politische Tragweite des Prozesses zu sprechen kommt, steckt dahinter natürlich auch die Absicht – auch wenn offiziell etwas anderes verlautbart –, daß der Staatsgerichtshof in seine Entscheidung politische Überlegungen einbezieht, denn wäre dem nicht so, könnte sich Brecht seine Erläuterungen zu den politischen Implikationen sparen. Darüber hinaus sah Brecht die Folgen der bereits im Gange befindlichen Schwächung des Rechts gegenüber dem Staat auch für den Prozeß selbst; wenn er die politische Bedeutung des Prozesses unterstreicht, so war damit also auch das Ziel verbunden, genau jener Entwicklung entgegenzuwirken. Während Gottheiner sich auf die Kritik versteift, die Brecht in seinen Ausführungen über die Öffentlichkeit auch an der Reichsregierung geübt hatte,595 ermahnt Reichsgerichtspräsident Bumke Brecht, „Ausführungen solcher Art“ zu unterlassen: „Ich habe wiederholt gebeten, auch einen Appell an den Staatsgerichtshof in dem Sinne, daß er sich bei dieser Entscheidung ausschließlich von rechtlichen Erwägungen und nicht von politischen Absichten möge leiten lassen, zu unterlassen, denn ein solcher Appell wird, so wie jetzt in weitesten Kreisen unsere Rechtspflege angesehen wird, immer nur so verstanden: entscheidest du zu meinen Gunsten, so sprichst du recht, entscheidest du zu meinen Ungunsten, so hat sich gezeigt, daß bei deutschen Gerichten kein Recht mehr zu finden ist. Das wird draußen immer so verstanden, und wenn Sie es hundertmal anders meinen.“596 595 Gottheiner repliziert: „Wenn Herr Brecht in dieser Form der Reichsregierung Gleichgültigkeit vorgeworfen hat, und dieser Gleichgültigkeit diese Interpretation gegeben hat, so muß ich allerdings erklären, daß ich diesen Vorwurf auf das allerentschiedenste zurückweisen muß.“ Gottheiner: PcR, S. 96. Brecht unterbricht Gottheiner daraufhin und wirft in einem Zwischenruf ein, daß er diesen Vorwurf nur gegenüber der Öffentlichkeit erhoben habe – doch an dieser Stelle irrt sich Brecht: Gottheiner erinnert sich richtig, daß in Brechts Beitrag auch der Name der Reichsregierung gefallen war (vgl. Brecht: PcR, S. 92.). Grundsätzlich allerdings ist Wolfgang Schuller in seiner Einschätzung zuzustimmen, daß Gottheiner „im allgemeinen hilflos“ wirkt und „sich, wenn er nicht überhaupt schweigt, nicht selten auf das [beruft], was in den Schriftsätzen steht“. Schuller, Schmitt in Leipzig, S. 43 (Fn. 9). 596 Bumke: PcR, S. 96 f. Er erklärt weiter: „Es liegt unendlich nahe, bei dieser Gelegenheit einmal auf die tieferen Gründe dieser Rechtsnot einzugehen, und auch auf die Frage, von welchen Seiten und von welchen Stellen diese Rechtsnot nicht gelindert, sondern gefördert worden ist. Ich unterlasse das. Das alles führt uns nicht weiter, es kostet uns nur Zeit. Und glauben Sie mir, meine Herren, die Rechtsnot in unserem Volke, die besteht, bessern wir nicht dadurch, daß wir in unserem Gerichtshof Erörterungen über diese Fragen anstellen; um sie zu bessern, wird es ganz anderer, viel tiefer und langsamer wirkender Mittel bedürfen.“ Ebd.,
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Doch auch diese Mahnung kann das unvermeidbare Ineinanderwirken von Recht, Wissenschaft und Politik, das in vielen Redebeiträgen der Prozeßbeteiligten zum Ausdruck kommt, nicht aufheben.597 Hans Nawiasky bringt in einer Antwort auf Bumke auf den Punkt, worum es hier geht: „Weil ja doch in der Brust jedes der beteiligten Professoren zwei Seelen sind: einmal die wissenschaftliche Seele und andererseits die Seele, daß er als Vertreter seiner Regierung dasteht. […] Und trotzdem wir nun gewiß auch hier immer sehr bemüht sein werden – denn das ist ja der Sinn jedes Kampfes um das Recht – dem Recht als solchem zum Siege zu verhelfen, so können wir doch nicht ganz aus der Rolle heraus, die wir dadurch haben, daß wir die Regierung vertreten. Deswegen handelt es sich hier nicht bloß um einen wissenschaftlichen Streit.“598
Auch wenn die Verhandlung also insgesamt von dem Bemühen getragen ist, den Boden des „reinen“ Rechts nicht zu verlassen,599 ist die Aussage Wolfgang Schullers, daß „[s]ämtliche Vertreter“ der Gegenseite des Reichs „positivistisch“ argumentierten,600 nicht ganz richtig. Auf Hermann Heller – einen dezidierten ,Antipositivisten‘ – trifft diese Aussage überhaupt nicht zu,601 und auch Arnold Brecht ist mit S. 97. Schon zu Beginn des Prozesses hatte Bumke erwähnt, daß die „Schwierigkeit“ und „Tragweite“ des Prozesses „in der Öffentlichkeit zu einem großen Teil bisher völlig verkannt worden“ sei. Ebd., S. 4. 597 Jellinek betrachtet das Problem von der entgegengesetzten Seite und äußert sich skeptisch: „Das Auftreten von Staatsrechtslehrern vor dem Staatsgerichtshof als Parteienvertreter bleibt aber auch so noch ein Problem. Können Männer der Wissenschaft sich überhaupt einer Prozeßpartei mit Haut und Haaren verschreiben?“ Jellinek, Der Leipziger Prozeß, S. 904. 598 Nawiasky: PcR, S. 232. Auch Nawiasky hebt die politische Bedeutung des Prozesses hervor: Er sei „der größte und wichtigste Prozeß“, „der je vor dem Staatsgerichtshof des Deutschen Reiches, ja vor einem Staatsgerichtshof der Welt geführt worden ist“; in „diesem Saale“ werde gerade „ein Stück deutscher Geschichte“ gemacht. Ebd., S. 232 f. 599 Am deutlichsten wird dies wohl vertreten von Gerhard Anschütz, der nach einigen Schlagabtauschen unter den Prozeßbeteiligten bemerkt: „Ich beabsichtige keine politischen Ausführungen mehr zu machen und fühle mich wohl dabei, wenn ich sie nicht zu machen brauche. Die Tonstärke der Verhandlungen hat sich gesteigert, die Temperatur der ganzen Atmosphäre im Saal, auch bildlich gesprochen, hat sich so erhitzt durch die zum Teil wenig erfreulichen Ausführungen, die wohl nun glücklicherweise beendet sind, daß es vielleicht ganz gut ist, das Schifflein unserer Debatte von dem stürmischen Meer der politischen Verhältnisse und Streitfragen wieder in den stillen Binnensee einer rein rechtswissenschaftlichen und juristischen Betrachtungsweise hineinzulenken. […] Ich will versuchen, reine Rechtsausführungen zu machen […].“ Anschütz: PcR, S. 301. 600 Vgl. Schuller, Schmitt in Leipzig, S. 39. 601 Vgl. dazu Stolleis, GÖR III, S. 122 und 183 f. Auch in der Rhetorik fällt Heller nicht vor allem durch beherrschte Sachlichkeit auf (worauf auch Schuller hinweist: Schmitt in Leipzig, S. 43, Fn. 9), sondern durch sein mitunter ungezügeltes Temperament, das Reichsgerichtspräsident Bumke mehrmals dazu veranlaßt, Heller zu ermahnen: „Ich darf vielleicht bitten, nicht zu vergessen, daß wir uns nicht im Parlament befinden, sondern vor dem Staatsgerichtshof […].“ Bumke: PcR, S. 38. Siehe auch ebd., S. 65, 411 und 470. Nawiasky pflichtet Bumke bei und bemerkt an einer Stelle scherzhaft: „Mit dem Kollegen Heller will ich mich nicht auseinandersetzen, der ist mir zu temperamentvoll. (Heiterkeit.)“ Nawiasky: PcR, S. 337 f.
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dieser Charakterisierung nicht hinreichend erfaßt.602 Zwar argumentiert er in vielen Passagen in der Tat „hart am positiven Gesetzestext“603, aber genauso entscheidend ist die politische Absicht, die hinter dieser Argumentation auch steckt. Es zeigt sich hier die von Michael Stolleis diagnostizierte „Verflechtung von Staatsrechtslehre und Politik“604, die nicht nur für Brecht, sondern für den gesamten Prozeß charakteristisch ist. Was die Frage der Rhetorik betrifft, lassen sich Brechts Redebeiträge so charakterisieren: Zwar konzentriert Brecht sich darauf, die Diskussion immer wieder auf den Kern der Sache zurückzuführen und kritisch einzugreifen, wenn die Argumentation der Gegenseite von der Sache abweicht.605 Gleichwohl wäre es zu kurz gegriffen, ihn auf die Rolle eines Repräsentanten von nüchterner Sachlichkeit und einem rein pragmatischen Zugriff auf das Thema festzulegen, denn seine Redebeiträge sind – sowohl inhaltlich als auch rhetorisch – oftmals genauso stark durch eine ausgeprägte Normativität und Emotionalität gekennzeichnet.606 Nicht von ungefähr empört sich Gottheiner, daß Brecht „in derartig pathetischer Weise“ vorgetragen habe,607 und auch Carl Schmitt notiert am ersten Verhandlungstag in sein Tagebuch: „Brecht war […], sentimental, sehr gefährlich […].“608 Ebenso erkennt Walter Jellinek in seinem Prozeßbericht „pastoral[e] Registe[r] in der Sprechweise Brechts“609. Am deutlichsten wird dies wohl im schon angesprochenen vorletzten Teil der Verhandlung, in dem Brecht auf die Ehre und die „deutsche Mission Preußens“ zu sprechen kommt.
602 Gerade ihn aber zieht Schuller als Gewährsmann für eine „positivistische“ Argumentation heran. Zutreffend hingegen ist auch in diesem Fall Schullers Beschreibung der Rhetorik: „Besonders klar und eindrucksvoll, aber durchaus nicht temperamentlos, spricht Arnold Brecht.“ Schuller, Schmitt in Leipzig, S. 43 (Fn. 9). 603 Schuller, Schmitt in Leipzig, S. 39. 604 Stolleis, GÖR III, S. 121. Ähnlich auch Bracher, der den Prozeß als „einzigartige[s] Beispiel für den untrennbar engen Zusammenhang von verfassungsjuristischen und politischen Ursachen, Urteilen und Bestrebungen“ beurteilt. Bracher, Auflösung, S. 557. 605 Etwas deutlicher drückt es Jellinek aus: „So hielt sich [..] Ministerialdirektor Brecht noch ganz in den Grenzen berechtigter Vorsicht, wenn er aus alten Regierungserfahrungen heraus jedes Wort der von der Gegenseite abgegebenen Dementis auf die Goldwaage legte […].“ Jellinek, Der Leipziger Prozeß, S. 905. 606 Vgl. als eines von vielen Beispielen etwa Brecht: PcR, S. 47. 607 Gottheiner: PcR, S. 35. 608 Zit. nach Seiberth, Anwalt, S. 179. Über andere Prozeßbeteiligte schreibt er: „[…] Bumke großartig, […] Heller scheußlich, Gottheiner aber auch scheußlich […].“ Ebd. Siehe dazu ergänzend, hier auch zum Forschungsstand über die Tagebücher Carl Schmitts: Pyta, Wolfram/Seiberth, Gabriel: Die Staatskrise der Weimarer Republik im Spiegel des Tagebuchs von Carl Schmitt, in: Der Staat 38 (Heft 3/4), 1999, S. 423 – 448 (Teil 1) und S. 594 – 610 (Teil 2). 609 Diese Charakterisierung erfolgt allerdings in wohlwollender Absicht und wird von Jellinek positiv hervorgehoben im Unterschied zu dem „schneidende[n] preußische[n] Offizierston“, den er Gottheiner attestiert. Vgl. Jellinek, Der Leipziger Prozeß, S. 904.
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Daß Jellinek zu der Einschätzung gelangt, Anschütz, Giese, Peters und sogar Heller träten in dem Prozeß „hinter Brecht etwas zurück“610, mag mit der rhetorischen Brillanz zusammenhängen, die Brecht in seinen Redebeiträgen oftmals vorweisen kann. Seine Entgegnung auf den von Papen und der Reichsregierung erhobenen Vorwurf, es fehle der preußischen Regierung an „innere[r] Unabhängigkeit“ von der kommunistischen Partei, gibt dafür ein besonders eindrucksvolles Beispiel: Zunächst stellt Brecht unmißverständlich klar, daß die preußische Regierung keinerlei Sympathien für die kommunistische Partei gehegt habe und Braun und Severing „ebenso wie ihre bürgerlichen Kollegen stets mit größter Entschiedenheit gegen gesetzeswidrige Ausschreitungen der Kommunisten gekämpft“ hätten.611 Mit Blick auf die mangelnde Stichhaltigkeit in der Argumentation der Gegenseite dreht Brecht sodann den Spieß um und betont, daß – obwohl ihr ein zu scharfes Vorgehen gegen die Nationalsozialisten vorgeworfen wird – es nicht die preußische Regierung gewesen sei, die ein Verbot gegen Organisationen der extremen Rechten erlassen hat, sondern die Reichsregierung und der Reichspräsident. Umgekehrt erging von preußischer Seite sehr wohl ein Verbot gegen den „Rote-Front-Kämpfer-Bund“ der Kommunisten.612 Dies führt ihn schließlich zu der Frage: „Was hat denn inzwischen die Reichsregierung und die kommissarische Regierung in Preußen wesentlich mehr getan zur Bekämpfung der Kommunisten?“613 Genauso wie Brecht den Vorwurf einer fehlenden „innere[n] Unfreiheit“ gegenüber den Kommunisten als „absolut unrichtig“ zurückweist,614 hebt er die Notwendigkeit einer Gleichbehandlung aller extremen Parteien hervor, von der die Nationalsozialisten schon allein aufgrund der verfassungsrechtlichen Bestimmungen nicht ausgeschlossen werden könnten: „Solange Art. 109 der Reichsverfassung besteht, wonach alle Deutschen vor dem Gesetz gleich sind, konnte die Preußische Regierung grundsätzlich nicht gegenüber den Nationalsozialisten ein Auge zudrücken und bei Kommunisten die Augen doppelt aufmachen, sondern sie mußte gleiches Recht gegen Rechtsverletzer auf beiden Seiten anwenden.“615
Der Reichsregierung indes attestiert Brecht einen „Zickzack-Kurs“ im Umgang mit den Nationalsozialisten.616 Genau das aber ist für ihn der Anknüpfungspunkt, die Gegenseite gleichsam mit den eigenen Waffen zu schlagen:
610
Jellinek, Der Leipziger Prozeß, S. 903 f. Brecht: PcR, S. 22. 612 Aus der Ansicht, daß von der extremen Linken eine politische Gefahr ausgehe, macht Brecht kein Hehl: „Was hat denn die Preußische Regierung mit ihrer Haltung nach rechts und links gewollt? Sie stand doch selbst vor der Frage: Wie bekämpft man die bolschewistische Gefahr, wie bekämpft man das Aufflackern der kommunistischen Bewegung innerhalb dieser ungeheuren Not, in der wir in Deutschland leben?“ Brecht: PcR, S. 22 f. 613 Brecht: PcR, S. 23. 614 Brecht: PcR, S. 22. 615 Brecht: PcR, S. 23. 616 Brecht: PcR, S. 23. 611
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„Nun möchte ich fragen, ob irgendjemand noch annehmen kann, daß nach den Verhandlungen zwischen dem Herrn Reichskanzler und Herrn Hitler über die Unterstützung der Reichsregierung der Herr Reichskanzler im Sinne dieser Terminologie noch die volle innere Freiheit gegenüber den Nationalsozialisten gehabt, ob er sich hier nicht vielmehr in einer inneren Unfreiheit befunden hat, wie sie in gleichem Maße zweifellos nicht vorhanden war in dem Verhältnis der Preußischen Regierung zu den Kommunisten.“617
Hans Peters fügt hinzu, daß auch von einer Pflichtverletzung des Landes gegen das Reich – denn darum geht es hier ja eigentlich – nicht die Rede sein könne: „Daß die parlamentarische Basis der geschäftsführenden Regierung in Preußen von der Haltung der Kommunisten abhängig sei – gleichviel, ob das richtig ist oder nicht – kann überhaupt nie einen Grund für eine Reichsexekution abgeben, weil hier eine Pflicht des Landes gegen das Reich gar nicht verletzt sein kann.“618
Auch den Einwand Carl Bilfingers, daß „Gefahr im Verzuge“ bestanden habe und aufgrund dessen das Reich habe eingreifen müssen,619 läßt Brecht nicht gelten, denn auch dies bezieht sich darauf, daß Preußen aufgrund seiner angeblichen Unfreiheit gegenüber den Kommunisten seine Pflichten verletzt habe. Brecht stellt klar: „Art. 48 Abs. 1 setzt voraus, daß das Land seine Pflicht verletzt. Nur dann kann es angehalten werden – wozu? Nicht zu ganz anderen Dingen, sondern dazu, die Pflichten zu erfüllen, die verletzt sind. Die Pflichtverletzungen, die hier behauptet werden, betreffen die Unfreiheit gegenüber den Kommunisten […]. Nur wenn die Erfüllung dieser Pflichten so eilig war, wenn gar keine Zeit mehr war, wenn sofort eine Ersatzvornahme hinsichtlich dieser Pflichten erfolgen mußte, dann konnte man vielleicht sagen, daß Gefahr im Verzuge liege. Aber davon ist hier mit Recht gar nicht die Rede. Hier wird gesagt: Wir fürchten, daß eine ganz andere Pflichtverletzung passierte, daß nämlich plötzlich Preußen die Waffen gegen das Reich ergreifen könnte. Eine solche Pflichtverletzung war aber gar nicht geschehen; zu ihrer Abstellung anzuhalten, gab also Art. 48 Abs. 1 gar keine Handhabe. Denn Art. 48 Abs. 1 verlangt immer eine geschehene Pflichtverletzung, niemals genügt die Gefahr einer künftigen Pflichtverletzung für die Anwendung des Art. 48 Abs. 1.“620
Die hier vorgetragene Argumentation führt zu dem nächsten Punkt, der nicht nur für Brecht, sondern für alle Prozeßbeteiligten eine entscheidende Rolle gespielt hat: der Frage nach den Grenzen und Möglichkeiten des Rechts, also der Verfassungsinterpretation und der Justierung jener Kriterien, die erfüllt sein müssen, um von einer Verfassungswidrigkeit zu sprechen. 617
Brecht: PcR, S. 84. Als Beispiele führt Brecht an: „Befand sich die Reichsregierung etwa in voller innerer Freiheit, das Uniformverbot bestehen zu lassen? Sie hatte zugesagt, es aufzuheben! Das kann man nicht eine innere Freiheit, die volle moralische Freiheit nennen. […] Wo war die völlige innere Freiheit der Reichsregierung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung? Die Länderminister sollten die Ruhe und Ordnung mit der Polizei aufrecht erhalten; das Reich war verpflichtet, sie darin zu unterstützen, und wie wurden sie unterstützt? In einem brennenden Moment wurde das Verbot aufgehoben! Man untersuche, mit welcher moralischen Freiheit!“ Ebd. Vgl. auch Brecht: PcR, S. 167 und 261. 618 Peters: PcR, S. 140 f. 619 Bilfinger: PcR, S. 157. 620 Brecht: PcR, S. 160 f.
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Hermann Heller wirft in diesem Zusammenhang die Frage auf, warum in allen vorherigen Fällen einer Bundes-Exekution die in dem Prozeß diskutierten Punkte nie zur Sprache kamen, und liefert zugleich die polemische Antwort mit: „weil alle Bundes-Exekutionen bisher mit dem Zweck geführt worden sind, einen verfassungswidrigen Zustand möglichst rasch zu beseitigen, die vom 20. Juli aber vom Reich mit dem Zweck geführt wurde, einen verfassungswidrigen Zustand möglichst lange aufrecht zu erhalten.“621
Hans Peters ist zwar weniger polemisch, doch nicht minder deutlich, wenn er auf die politische Bedeutung der von der Gegenseite praktizierten Verfassungsauslegung abhebt: „Also wir müssen uns hier vollkommen klar sein, daß, wenn die Grenze zu weit gezogen wird, letzten Endes die ganze Weimarer Verfassung durch Maßnahmen auf Grund des Art. 48 Abs. 2 außer Kraft gesetzt werden kann.“622 Hans Nawiasky blickt ähnlich skeptisch auf die politischen Intentionen der Gegenseite und sieht darin eine Gefahr für die künftigen Verfassungsentwicklungen: „Wir sehen also hier, daß das Wunschbild in bezug auf die künftige Gestaltung des Deutschen Reiches im Vordergrund steht, und daß daran gearbeitet wird, dies Idealbild zu verwirklichen und faktisch diese Präsidialgewalt zu schaffen, die die Reichsverfassung nicht kennt. […] Aber es ist doch interessant, daß diese Idee der Ausgestaltung der Präsidialgewalt gerade gestern vom Herrn Reichskanzler mit der Verfassungsreform in Verbindung gebracht worden ist. Das ist das Ziel, das man erstrebt. Es handelt sich also hier nicht um das Recht der Gegenwart, sondern es handelt sich dabei um das Recht der Zukunft, und ich bin nicht berechtigt, aus dem Recht der Zukunft das Recht der Gegenwart zu interpretieren.“623
Auch Brecht kritisiert die Aussagen der Vertreter der Reichsregierung als das „Recht der Zukunft“ und führt aus: „Es wurden Auffassungen vertreten, von denen man nur sagen kann: Alles was recht ist, aber geltendes Recht sind sie nicht. Dort drüben (bei der Reichsregierung) sehe ich die Bank der lex ferenda und hier und in der Mitte (Preußen, Bayern und Baden) die Bank der lex lata.“624
621
Heller: PcR, S. 214. Die Deutlichkeit dieser Worte kam vor allem Reichsgerichtspräsident Bumke nicht zupaß, aber tatsächlich ging es im Kern genau um jenen Punkt, auf den Heller am Ende der Verhandlungen erneut ungeduldig aufmerksam macht: „Darf ich fragen, ob wir eigentlich über das Vorgehen der Reichsregierung hier verhandeln oder nicht. Das verfassungswidrige Vorgehen ist ja doch der Gegenstand des Prozesses, und die Klage meiner Fraktion und der Zentrumsfraktion des Preußischen Landtags behauptet, daß das Vorgehen der Reichsregierung nach Art. 48 Abs. 1 und 2 der Reichsverfassung nicht zulässig war. Das nennt man verfassungswidrig.“ Heller: PcR, S. 410. Bumke antwortet daraufhin ebenso ungeduldig: „Ich glaube, Herr Professor, es liegt daran, daß Sie zu meinem Bedauern kein Strafrechtler sind. Es kommt auf die Absicht an, und verfassungswidrige Absicht ist dann da, wenn es jemand gerade darauf ankommt, die Verfassung zu verletzen. Also damit erklärt sich die ganze Geschichte.“ Bumke: PcR, S. 411. Sollte Bumke diese Feststellung ernst gemeint haben, kann man über sein Verständnis des Strafrechts und der Verfassungswidrigkeit nur staunen. 622 Peters: PcR, S. 341. 623 Nawiasky: PcR, S. 235. 624 Brecht: PcR, S. 260 f.
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Die Vertreter des Reichs sahen das naturgemäß anders und legten die Verfassung so aus, daß sie sich mit ihren Legitimationsstrategien für den Preußenschlag noch – vermeintlich – im Rahmen des Rechts bewegten. Erwin Jacobi etwa argumentiert mit Blick auf die von der Gegenseite verwendete Terminologie, in der er eine Verschiebung des eigentlichen juristischen Inhalts zu entdecken glaubt. Als Replik auf Heller moniert er, daß weder der Begriff des Bundesstaates noch jener der Exekution in der Weimarer Reichsverfassung verankert seien und insofern nur darauf beharrt werden müsse, daß das Land bleiben muß, nicht jedoch die Landesregierung.625 Carl Bilfinger hebt darauf ab, daß im Begriff des Bundesstaates das Wort ,Staat‘ unterstrichen werden müsse, nicht das Wort ,Bund‘, „wie das in den Ausführungen der Herren Vertreter der Länder geschehen“ sei. Aufgrund dieser „Durchdringung der Staatsgewalt der Länder durch die Reichsgewalt“ sieht Bilfinger das Vorgehen des Reichs gegen Preußen gerechtfertigt.626 Zusammenfassend ergibt sich aus der Argumentationsanalyse folgendes Bild: Auf der Ebene der Rechtstheorie ist für Brechts Redebeiträge – das eingangs erläuterte Begriffsverständnis vorausgesetzt – die Inanspruchnahme einer rechtspositivistischen Positionierung kennzeichnend, von der er de facto jedoch regelmäßig abweicht. Mit Blick auf die beanspruchte Trennung zwischen Recht und Politik – die im weiteren Sinne auch die im Prozeß geforderte Scheidung zwischen Recht und Tatsachen sowie zwischen dem Recht und der (politischen) Öffentlichkeit umfaßt – ist für Brecht also eine deutliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Umsetzung charakteristisch. Insgesamt tritt er als Verfechter von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf, der die Verfassung vor politischen Demontagen zu schützen versucht. In stilistischer Hinsicht wird Brechts Argumentation sowohl von Nüchternheit als auch von einem starken Pathos getragen. Ohne daß ihn das vor allen anderen Prozeßbeteiligten auszeichnen würde, fällt gleichwohl seine ausgeprägte rhetorische Begabung auf. In den Prozeßbeiträgen wird wiederholt Brechts Eigenschaft sichtbar, mit sehr viel Präzision und Akribie die Diskussion immer wieder zum Kern der Sache zurückzuführen – zugleich jedoch kommt in vielen Passagen seiner Beiträge eine starke Normativität und Emotionalität zum Ausdruck, die den Stil und Inhalt seiner Argumentation ebenso prägen wie seine Sachlichkeit.
625 Zur Frage des Bundesstaates führt Jacobi aus: „Es fragt sich eben gerade, was mit dem bundesstaatlichen Charakter des Reiches vereinbar ist, und da einen Versuch zu machen, aus einem Begriff des Bundesstaates heraus Konsequenzen zu ziehen, muß von vornherein aussichtslos sein, weil wir erstens einen fest abgegrenzten Rechtsbegriff des Bundesstaates nicht haben, und zweitens, weil nirgends in der Reichsverfassung, in irgendeiner Verfassung ausgesprochen ist, daß das Reich ein Bundesstaat ist. […] Von diesem Standpunkt aus muß ich bei der Weimarer Reichsverfassung zu der Konsequenz kommen, das Reich ist überhaupt gar kein Bundesstaat mehr.“ Jacobi: PcR, S. 216. Zum Begriff der Reichsexekution ebd., S. 217. Jacobi folgt mit dieser Ansicht Carl Schmitt. Vgl. dazu den nächsten Abschnitt. 626 Bilfinger: PcR, S. 121 f.
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cc) Brecht contra Schmitt In seiner Autobiographie erinnert sich Brecht an eine gemeinsame Zugfahrt mit Carl Schmitt kurz vor Beginn des ersten Verhandlungstages: „Auf der Fahrt fanden wir uns mit Professor Carl Schmitt von der Gegenpartei im selben Abteil, der eine fotostatische Kopie meiner soeben in neuer Auflage erschienenen Kommentierung des Artikels 48 aus der Tasche zog und erklärte, er halte sie für die beste unter den vorhandenen. Im übrigen blieb die Unterhaltung einsilbig.“627
Diese wenig informative Anekdote ist – mit Ausnahme des Stenogrammberichts und der kurzen Replik in seinem Kommentar zum Ausnahmerecht – die einzige Passage in seinem gesamten veröffentlichten Werk, in der Brecht zu Carl Schmitt Stellung nimmt bzw. überhaupt einmal namentlich Erwähnung findet. Selbst in seiner viele Jahre später erschienenen umfangreichen „Politische[n] Theorie“, in der er sich auch mit einigen Weimarer Staatsrechtslehrern auseinandersetzt, taucht Schmitt auf keiner einzigen Seite auf; ein Hinweis auf Schmitt findet sich nicht einmal im ansonsten sehr umfangreichen Literaturverzeichnis.628 In einem oben bereits zitierten unveröffentlichten Manuskript von 1933, das sich mit dem Thema „Realpolitik und Reichsreform“ nach dem Prozeß vor dem Staatsgerichtshof beschäftigt, ist der Bezug auf Schmitt zwar eindeutig, aber selbst hier kritisiert Brecht Schmitt, ohne seinen Namen zu nennen. Zu Beginn des Textes kommt er auf die Reichsgründung unter Bismarck zu sprechen, hier insbesondere mit Blick auf die Bundesexekution gegen Preußen 1866.629 In diesem Zusammenhang verweist er 627
Brecht, Kraft, S. 223. Dies erstaunt umso mehr, als es nicht nur die von Brecht rezipierte Literatur enthält, sondern auch weiterführende Titel auflistet. Theodor Heuss bedauert diesen Umstand sehr und beklagt sich in einem Brief an Brecht: „Aber ich glaube, ein Mangel Ihres Buches ist doch, dass Sie sich nicht Carl Schmitt und seiner Freund-Feind-Theorie auseinandergesetzt haben [sic!]; auch nicht mit seiner Hoppes [sic!]-Interpretation. Denn mit Schmitt’s Erbschaft haben wir uns wohl noch ziemlich herumzuquälen, nicht im aktuellen politischen Betrieb, sondern in der akademischen Welt.“ Theodor Heuss an Arnold Brecht, 10. 7. 1961 (kein Ort angegeben), BAK, NLH, N 1221/224. Brecht verteidigt sich daraufhin mit dem Hinweis, daß noch ein zweiter Band der „Politischen Theorie“ geplant sei, in dem auch eine Auseinandersetzung mit Schmitt vorgesehen sei, und zwar im sechsten Teil, der die Überschrift „Macht, Recht, Ziele, Methoden“ trägt. (Vgl. dazu Brecht, PT, S. 597.) In seiner Verteidigung hält er sich auch mit Kritik an Schmitt nicht zurück: „Das gilt auch fuer Carl Schmitts jaemmerlich einseitige Freund-Feind Theorie […], die sich Adenauer leider immer mehr zu eigen zu machen scheint. Sie werden das sehen, wenn Sie jemals zu einer etwas eingehenderen Lektuere des Buches kommen werden, und dann mir wohl auch zustimmen, dass die Abtrennung und Vorwegbehandlung der allgemeinen theoretischen Fragen vor den speziellen einen grossen Vorteil fuer die Behandlung der letzteren gibt.“ Arnold Brecht an Theodor Heuss, Klobenstein bei Bozen, 16. 8. 1961, BAK, NLH, N 1221/224. 629 Vgl. zum historischen Hintergrund: Schulze, Hagen: Preußen von 1850 bis 1871. Verfassungsstaat und Reichsgründung, in: Büsch, Otto (Hg.), Handbuch der preußischen Geschichte, Band II: Das 19. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, Berlin/ New York 1992, S. 293 – 372 (333 ff) sowie Clark, Christopher: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600 – 1947, 4. Aufl., München 2007, S. 607 ff. 628
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beiläufig und ohne jede weitere Wertung in einer Klammer auf Carl Schmitt, von dem dieser Hinweis während des Prozesses gekommen sei. Einige Seiten später verwandelt sich seine anfängliche Neutralität in scharfe Kritik – freilich ohne daß der Name Schmitts erneut fallen würde: „In Wirklichkeit ist die Erinnerung an Bismarcksche Reichsgründungsmethoden eine falsche historische Parallele. […] Es gilt nicht mehr, die staatliche Einheit zu erringen, es gilt Schlacken der Organisation zu beseitigen. Aus dem Problem des Nationalstaates ist das Problem der organisatorischen Reform geworden. Das ist etwas vollständig anderes. Das ist kein Ziel, für das man Mittel anwenden darf, wie sie für die Durchführung der staatlichen Einigung 1862 bis 1870 in Frage kommen konnten.“630
Aus den wenigen Informationen, die das vorliegende Material hergibt, läßt sich mindestens eine kritische Distanz gegenüber Schmitt erkennen; auch die auffällige Tatsache der Nichtbeachtung spricht dafür, daß Brecht Schmitt eher skeptisch denn wohlwollend gegenüberstand. Von Schmitt wiederum ist über sein Verhältnis zu Brecht nur wenig zu erfahren. Reinhard Mehring vermutet, daß Schmitt während eines Aufenthalts in Breslau im Oktober 1930 Brecht „näher“ kennenlernte, führt dafür jedoch keine Belege an.631 In Schmitts Tagebucheinträgen findet sich eine kurze Bemerkung zu Brecht: daß er ihn für „sentimental“ und „sehr gefährlich“ hielt, wurde bereits erwähnt. Da aufgrund der dünnen Materialbasis nur wenige Anhaltspunkte zu finden sind, anhand deren sich Brechts Positionierung gegenüber Schmitt näher bestimmen ließe, lohnt es sich umso mehr, die Auseinandersetzungen zwischen Brecht und Schmitt – dem „wichtigste[n] Anwalt des Reiches im wichtigsten politischen Prozess der Weimarer Republik“632 – während des Prozesses vor dem Staatsgerichtshof genauer in den Blick zu nehmen: Situationsrecht, Dezisionismus und der Hüter der Verfassung Ein zentraler Punkt, um den die Auseinandersetzung nicht nur zwischen Schmitt und Brecht, sondern auch zwischen Schmitt und den anderen Prozeßvertretern auf preußischer Seite immer wieder kreiste, ist Schmitts Diktum von der „situationsgemäßen Verfassungsauslegung“. Schmitt selbst verwendet diese Formulierung 630 Brecht, RuR, S. 7 f. Zur Verteidigung Schmitts muß an dieser Stelle erwähnt werden, daß es nicht Schmitt, sondern Brecht selbst war, der als erster den Vergleich zwischen der Bundesexekution von 1866 und dem Preußenschlag von 1932 gezogen hat. Die von Brecht zitierte Passage enthält zwar tatsächlich den „Hinweis“ von Schmitt auf diesen historischen Vergleich, doch kommt Schmitt in diesem Fall nur deshalb darauf zu sprechen, um auf Brechts vorherige Ausführungen zu antworten. Vgl. Schmitt: PcR, S. 469 sowie zu den entsprechenden Passagen bei Brecht: PcR, S. 402. Das bedeutet allerdings auch, daß Schuller in seiner These, Schmitt argumentiere „als einziger auch rechtsgeschichtlich und rechtsvergleichend“, nicht vollständig zuzustimmen ist – zumindest in diesem Punkt zieht auch Brecht einen Vergleich heran. Vgl. Schuller, Schmitt in Leipzig, S. 39. 631 Vgl. Mehring, Carl Schmitt (2009), S. 253 f. 632 Mehring, Carl Schmitt (2009), S. 293.
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während des Prozesses nicht, doch geht sie auf einen zuvor von ihm erschienenen Aufsatz zurück.633 Hans Peters greift diese Formulierung als erster auf und kritisiert, daß mit einer „situationsgemäßen Verfassungsauslegung“ „das Faktische“ zugrunde gelegt werde und nicht „die Rechtsordnung, wie sie in Weimar festgelegt worden ist“. Der von Schmitt präferierte Ansatz stehe darüber hinaus im Widerspruch zu den Ansichten, die er sonst geltend gemacht habe:634 „Auf der einen Seite hält Professor Carl Schmitt mit zähester Festigkeit an den politischen Entscheidungen der Verfassung fest und will sie auch nicht im Wege des Art. 76 abändern lassen. Und plötzlich bei Art. 48 soll fast alles mittels einer situationsgemäßen Verfassungsauslegung möglich sein. Was es dann noch für einen Sinn hat, die geschriebene Verfassung überhaupt anzuerkennen, bleibt wohl unerfindlich. Die Reichsverfassung ,situationsgemäß‘ auszulegen und ,nach ihrem Sinn‘, ist ein Widerspruch.“635
Anschütz, dessen Beiträge Schmitt an anderer Stelle anerkennend für ihre Prägnanz lobt,636 fordert erneut die Trennung zwischen Recht und Politik und betont, daß die Verfassung nicht „situationsgemäß“ ausgelegt werden müsse, sondern so, „wie sie eben gemeint ist“.637 Brecht appelliert an die für den Erhalt der Demokratie notwendige Verfassungstreue und warnt vor gravierenden und langfristigen Folgen, die eine Abkehr von der Verfassung als gesetzte Norm und Rechtsordnung hätte:
633 Vgl. Schmitt, Carl: Reichs- und Verfassungsreform, in: Deutsche Juristen-Zeitung 36 (Heft 1), 1931, S. 5 – 11 (11). 634 Vgl. dazu und auch zu den Leistungen Peters’ insgesamt den sehr informativen Aufsatz von Grigoleit, Klaus Joachim/Kersten, Jens: Hans Peters (1896 – 1966), in: Die Verwaltung 30, 1997, S. 365 – 395 (zum Prozeß S. 372 f). 635 Peters: PcR, S. 58. Hans Nawiasky pflichtet ihm bei und erklärt: „Es handelt sich weiter um Rechte der Länder in dem Sinne, daß Recht allgemeine Normen bedeutet. Das ist wenigstens der prinzipale Begriff des Rechts, der mir vorschwebt. Wenn es sich um allgemeine Normen handelt, so ist klar, daß diese Normen auch für alle Fälle angewendet werden müssen. Die Unterscheidung von verschiedenen Situationen kann hier überhaupt nicht in Frage kommen. Es ist schon gestern von Herrn Professor Peters mit vollem Recht gesagt worden: situationsgemäße Beurteilung und Recht, das sind zwei unvereinbare Gesichtspunkte. Und daraus geht dann weiter hervor: wenn es sich um allgemeine Normen handelt, gelten diese auch für Preußen. Die Auffassung von Herrn Professor Schmitt […], daß die besondere Lage in Preußen hier zu berücksichtigen sei, kann nicht vom Boden des Rechts aus vertreten werden, sondern nur vom Boden der Politik.“ Nawiasky: PcR, S. 120. 636 So spricht er von einer „meisterhaft kurz zusammengefaßten Darlegung“Anschützs; vgl. Schmitt: PcR, S. 311. Auch Bumke hebt die „ungeheuer interessanten Ausführungen von Herrn Professor Anschütz“ hervor. Bumke: PcR, S. 308. Zu dem entsprechenden Beitrag, auf den sich die beiden beziehen, siehe Anschütz: PcR, S. 301 ff. 637 Der genaue Redebeitrag von Anschütz lautet: „Unter keinen Umständen, muß ich sagen, würde ich es als Vertreter der Staatsrechtswissenschaft verantworten können, die Meinung zu vertreten, daß politische Bedürfnisse und politische Situationen irgendwie maßgebend und richtunggebend sein können für die Auslegung der Verfassung von Weimar. Die Weimarer Verfassung ist nicht so auszulegen, wie es jeweils die politische Lage, das politische Situationsbedürfnis erfordert, sondern sie ist so auszulegen, wie sie eben gemeint ist.“ Anschütz: PcR, S. 124.
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„Wenn die Verfassung ,situationsgemäß‘ ausgelegt wird, dann würde das unendliche Gefahren mit sich bringen. Wir müssen dabei nicht nur an die jetzige Reichsregierung und den jetzigen Reichspräsidenten denken, sondern daran, was alles dann noch geschehen kann, wenn sich Änderungen vollziehen. Deshalb haben wir allen Grund, die Verfassung nach jeder Richtung als Grundgesetz zu achten und in ihrer ganzen Strenge zu wahren.“638
Deutlich wird an dieser Stelle die Diskrepanz zwischen den rechtstheoretischen Ansichten Schmitts und jenen seiner Gegner sichtbar. Das zeigt sich auch in seinen Erörterungen über das Verhältnis zwischen dem Recht und dem „Faktischen“. Der von der Gegenseite vollzogenen Trennung zwischen „de jure und de facto“ liege „eine schlimme Verwechslung“ zugrunde.639 Um zu veranschaulichen, worum es bei diesem Gegensatz geht, rekurriert Schmitt auf das angelsächsische Rechtssystem, das von folgender Vorstellung ausgehe: „Im Notfall tritt sozusagen ein rechtsfreier Raum ein, und in diesem freien Raum geschieht etwas Faktisches; die Frage, ob es rechtlich oder rechtswidrig ist, wird nicht erörtert. Der Diktator […] oder die Regierung oder der König geht vor, schafft Ordnung und zieht sich dann, nachdem eine neue Situation geschaffen ist, wieder zurück. Dieser ganze Vorgang steht nur unter dem Gesichtspunkt des Faktischen, aber nicht im Sinne von Rechtswidrigkeit, sondern eines rechtsfreien Raumes. Das Recht und die Verfassung verhüllen sozusagen für einen Augenblick ihr Haupt […], um Ordnung zu schaffen, und dann öffnet das Recht wieder seine Augen und kann wieder zwischen Recht und Unrecht unterscheiden.“640
Aus der Sicht von Schmitt basiert die Interpretation der Gegenseite auf falschen Grundannahmen: Die Unterscheidung zwischen den rechtlichen und tatsächlichen Befugnissen des Reichspräsidenten lege die preußische Seite so aus, daß der Reichspräsident „etwas Tatsächliches machen“ kann, „aber gewisse rechtliche Dinge“ – wie etwa die Absetzung der Landesregierung – nicht darf.641 Dem ursprünglichen Sinn der „strengen Trennung der Sphäre des Rechtlichen vom Tatsächlichen“ entspricht Schmitt zufolge diese Deutung keineswegs. Für ihn hängt das damit zusammen, daß „es sich hier gar nicht um diese Unterscheidung handelt, […] sondern […] um die ganz andersartige Unterscheidung quoad ius und quoad exercitium“. Danach könne sich der Reichspräsident nach Art. 48 Abs. 2 zwar „nicht quoad ius der ganzen Staatsgewalt bemächtigen“, aber „quoad exercitium“ könne er „die Ausübung der Landesstaatsgewalt in allerweitestem Maße übernehmen“. Schmitt stellt mit Blick auf die Befugnisse des Reichspräsidenten klar: „Daraus, daß
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Brecht: PcR, S. 183. Schmitt: PcR, S. 315. 640 Schmitt: PcR, S. 316. 641 Für Schmitt ist das eine absurde Argumentation: Demnach könne der Reichspräsident die Landesregierung „knebeln an Händen und Füßen, kann sie an die Wand stellen, erschießen, aber absetzen kann er sie nicht. Ein hochverräterischer Minister kann tun, was er will, abgesetzt werden kann er nicht. Es kann wer weiß was mit ihm geschehen, er kann totgeschossen werden, aber er kann nicht abgesetzt werden, denn es sind in dieser Hinsicht nur tatsächliche Maßnahmen, die der Diktator vornehmen kann.“ Schmitt: PcR, S. 316. 639
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er faktische Maßnahmen treffen kann, folgt natürlich nicht, daß er rechtliche nicht treffen kann nach unserer Rechtsauffassung des Art. 48.“642 Schmitt sucht mit dieser Argumentation nach einer Legitimation für die faktische Erweiterung der rechtlichen Befugnisse des Reichspräsidenten. Auch wenn er bestreitet, daß es sich um die Unterscheidung zwischen de jure und de facto handelt, läuft die von ihm eingeführte Differenzierung im Kern doch auf dasselbe hinaus: Es geht um die Schaffung eines Ausnahmezustands, den die Situation erforderlich macht und in dem der Souverän eine Entscheidung treffen muß.643 Diese Begriffe führen unmittelbar zur Rechtstheorie Schmitts. Dazu zählt auch sein letzter Redebeitrag im Prozeß, in dem er rechtstheoretische Zusammenhänge erörtert, die für sein verfassungsrechtliches Verständnis grundlegend sind: die Frage nach dem Hüter der Verfassung.644 Der Staatsgerichtshof, so Schmitt, habe nur „den gerichtlichen und justizförmlichen Schutz der Verfassung“ – dies reiche jedoch nicht aus: „Da eine Verfassung ein politisches Gebilde ist, bedarf es außerdem noch wesentlicher politischer Entscheidungen, und in dieser Hinsicht ist […] der Reichspräsident der Hüter der Verfassung, und gerade seine Befugnisse aus Art. 48 haben sowohl für die föderalistischen Bestandteile, wie für die anderen Bestandteile der Verfassung vor allem den Sinn, einen echten politischen Hüter der Verfassung zu konstituieren.“645
Diese Ausführungen entsprechen Schmitts Grundannahme, daß die Rechtsordnung „auf einer Entscheidung und nicht auf einer Norm“ beruhe.646 Um diese Vorrangstellung der Entscheidung besser verständlich zu machen, soll die Theorie des Dezisionismus, auf der sie basiert, kurz erläutert werden: 642 Schmitt: PcR, S. 316 f. Nawiasky wirft ihm vor, daß die Frage, ob es sich um jene oder diese Unterscheidung handelt, „hier gar keine Rolle“ spiele: „Das ist gar nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist immer wieder der Ausgangspunkt, die Kompetenz, und daß die Kompetenz fehlt, habe ich Ihnen nachgewiesen, die Kompetenz, die Landesverfassung als Ganzes, die Landesorgane als Ganzes, die Landesminister als Ganzes zu beseitigen.“ Nawiasky: PcR, S. 335. 643 Während Schmitt im Prozeß zunächst noch beteuert, daß ein solcher Zustand nur als vorübergehend anzusehen sei, „da allerseits der Wunsch besteht, bald wieder in normale Zustände hineinzukommen“, bekundet er schon kurze Zeit später: „Und auch wenn es sich um vorübergehende Maßnahmen handelt, so kann doch ihre Wirkung Rechtswirkung sein und sie können in diesem Sinne auch, weil sie rechtskräftig sind, Dauercharakter haben.“ Schmitt: PcR, S. 311 und 316. 644 Vgl. Schmitt, Hüter der Verfassung (1931) und die ebenso bekannte Replik von Hans Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein? (1930/31). Siehe hier auch die Einführung von van Ooyen: Die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit in der pluralistischen Demokratie und die Kontroverse um den ,Hüter der Verfassung‘, in: ebd., S. VII-XXIII. 645 Schmitt: PcR, S. 469. 646 Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922), 6. Aufl., Berlin 1993, S. 16. Vgl. dazu Stolleis, Michael: Carl Schmitt, in: Sattler, Martin J. (Hg.), Staat und Recht. Die deutsche Staatslehre im 19. und 20. Jahrhundert, München 1972, S. 123 – 146 (131).
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Nach Hasso Hofmann führte Schmitt den Begriff der Dezision ein, „um gegenüber dem juristischen Positivismus und dessen Dogma der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung, d. h. der Behauptung der Möglichkeit, mit den juristischen Erkenntnismitteln jede notwendige Rechtsentscheidung aus dem vorhandenen Rechtsstoff zu deduzieren, das auch für jeden individuellen Rechtsverwirklichungsakt konstitutive, normativ nicht ableitbare voluntative Entscheidungsmoment herauszuheben“.647
In seiner „Politischen Theologie“ konstatiert Schmitt „eine zweifellose Überlegenheit“ des Staates „über die Geltung der Rechtsnorm“: „Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut.“648 Mit diesem Ansatz positioniert sich Schmitt konträr zum Rechtspositivismus, der „den Grund der Geltung des Rechts“ gerade „in rechtlichen Normen“ sucht.649 Worum es im Kern beim „dezisionistische[n] Rechtsbegriff“ von Schmitt geht, faßt Eckard Bolsinger zusammen: „Das normative Nichts aus dem die Entscheidung entspringt, ergibt sich aus dem Phänomen der nicht restlosen Ableitbarkeit der Rechtsnormen aus höheren Rechts- und Gerechtigkeitsbestimmungen. Was jeweils eine Norm und was normative Richtigkeit ist, läßt sich nicht wiederum aus einer weiteren Norm ersehen, sondern erst eine Entscheidung legt fest, was Recht und Unrecht sein soll. Erst eine politische Dezision begründet die Norm. Rechtskraft verleiht nicht die Normbegründung und sei sie noch so ,gelungen‘ oder ,gut begründet‘, sondern allein die Dezision. Der letzte Rechtsgrund aller rechtlichen Geltungen – Normen, Gesetze, und ihre Interpretationen – kann nur in einem politischen Willen, in einer Entscheidung gesehen werden; der politische Wille überhaupt schafft das Recht.“650 647
Hofmann, Hasso: Dezision, Dezisionismus, in: Ritter, Joachim u. a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 2, Basel/Stuttgart 1972, Sp. 159 – 161 (160). 648 Schmitt, Politische Theologie, S. 18. Stolleis erläutert den Begriff der Entscheidung so: „Der Wert des Staates besteht nun nicht mehr darin, zwischen reiner Norm und Realität zu vermitteln, sondern in der Fähigkeit, das Chaos durch eine ,Entscheidung‘, gleich welchen Inhalts, zu überwinden. Nur ein Staat, der hierzu fähig ist, kann Staat genannt werden.“ Stolleis, Carl Schmitt, S. 131. 649 So Eckard Bolsinger: Was ist Dezisionismus? Rekonstruktion eines autonomen Typs politischer Theorie, in: PVS 39, 1998, S. 471 – 502 (480). 650 Bolsinger, Dezisionismus, S. 481. Aus politik- und rechtstheoretischer Perspektive enthält der Dezisionismus noch eine weitere Bedeutungsdimension: Die Frage der Legitimität politischer Entscheidungen wird hier neu justiert. In Schmitts Definition, worin sich die von ihm konstatierten „zwei Arten des modernen Naturrechts“ unterscheiden, wird deutlich, worum es bei der Legitimitätsfrage im Dezisionismus geht: Die Differenz liege darin, „daß das eine System von dem Interesse an gewissen Gerechtigkeitsvorstellungen und infolgedessen von einem Inhalt der Entscheidung ausgeht, während bei dem andern ein Interesse nur daran besteht, daß überhaupt eine Entscheidung getroffen wird.“ Schmitt, Carl: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf (1922), 5. Aufl., Berlin 1989, S. 22 (Hinweis bei Bolsinger, Dezisionismus, S. 471). Maßgabe für den Dezisionismus ist also das zuletzt genannte System: „Die getroffene Entscheidung gilt nicht wegen der guten Gründe, die für sie sprechen mögen, sondern kraft der Legitimität des Verfahrens.“ So die Definition von Hermann Lübbe, der das Modell des Dezisionismus weiterentwickelt hat: Lübbe, Hermann: Dezisionismus – eine kompromittierte politische Theorie (1976), abgedr. in: Oelmüller, Willi u. a. (Hg.), Philosophische Arbeitsbücher 1. Diskurs:
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Robert van Ooyen weist darüber hinaus darauf hin, daß „der Begriff der Verfassung“ bei Schmitt „überhaupt gar kein Rechtsbegriff ist“; der „Hüter der Verfassung“, auf den Schmitt in seinem zuletzt zitierten Redebeitrag während des Prozesses zu sprechen kommt, könne daher „keine ,juristische‘, sondern nur eine ,politische‘ Instanz sein“651. Das führt zur nächsten Schmittschen Grundannahme, die in seiner „Politischen Theologie“ zu finden ist: „Alles Recht ist ,Situationsrecht‘. Der Souverän schafft und garantiert die Situation als Ganzes in ihrer Totalität.“652 An dieser Stelle findet sich damit ein unmittelbarer Anknüpfungspunkt zu Schmitts vielfach kritisiertem Diktum von der „situationsgemäßen Verfassungsauslegung“. Auch hier gilt: Nicht die Rechtsnorm, sondern die Dezision ist das entscheidende Kriterium. Damit aber ist der Staat nicht auf das Recht, sondern umgekehrt das Recht auf den Staat angewiesen.653 „Reichsexekution“ Ein weiterer zentraler Streitpunkt zwischen Schmitt und seinen Gegnern war der Begriff der „Reichsexekution“. Bereits im Vorwort des Stenogrammberichts spricht Brecht von einer „Reichsexekution gegen Preußen“, die die Reichsregierung unter Berufung auf Art. 48 Abs. 1 WRV vollzogen habe.654 Auch alle anderen Prozeßvertreter auf preußischer Seite verwenden diesen Begriff; darüber hinaus ist mitunter die Rede von einer „Sequestration“.655 In der Tat läßt sich das Vorgehen der Reichsregierung als „Reichsexekution“ bezeichnen,656 doch Schmitt kritisiert diese Politik, 5. Aufl., Paderborn u. a. 1996, S. 283 – 296. Aus systemtheoretischer Sicht schließlich noch Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren (1969), 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1997. 651 Van Ooyen, Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. XV. 652 Schmitt, Politische Theologie, S. 19. 653 Vgl. dazu auch Bolsinger, Dezisionismus, S. 479. 654 Brecht: PcR, S. IX. 655 So kommt Staatsrat von Jan auf die „Frage der Sequestration“ zu sprechen und wird dafür von Jacobi und Bilfinger kritisiert, die beanstanden, daß Sequestration ein juristisch „unbestimmter Begriff“ sei, mit dem man in diesem Fall nicht arbeiten könne. Vgl. von Jan: PcR, S. 199 f; Jacobi: PcR, S. 219 sowie Bilfinger: PcR, S. 224. 656 Vgl. etwa Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, S. 269; Stolleis, GÖR III, S. 120; Willoweit, Dietmar: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 6. Aufl., München 2009, S. 305. Dazu ausführlich auch Seiberth, der die „Reichsexekution gegen Preußen“ als „eine Aktion“ beschreibt, „deren Sinn nach der Verfassung darin bestand, ein Land mit Hilfe der bewaffneten Macht zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten“. Seiberth, Anwalt, S. 147 ff (147). Da gerade im Zusammenhang mit der Frage der Reichsexekution von Schmitt und Brecht – wenn auch mit unterschiedlicher Intention – ein historischer Vergleich gezogen wird, bietet es sich an, einen Blick auf die Begriffsgeschichte der Exekution zu werfen. Rotteck und Welcker etwa definieren im Staats-Lexikon von 1846 den Fall, in dem eine Exekution notwendig werde, wie folgt: „Von größerer Erheblichkeit für die allgemeine Staatswissenschaft ist die Vollziehung der Gesetze und gesetzlicher Entscheidungen alsdann, wenn dem Gesetz oder den mit seiner Anwendung beauftragten Behörden der Gehorsam in Masse und auf eine Art verweigert wird, wobei der allgemeine Friede und die
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Terminologie grundlegend und argumentiert mit Blick auf den geschriebenen Verfassungstext: „Demgegenüber muß zunächst festgestellt werden, daß Art. 48 Abs. 1 das Wort Exekution nicht gebraucht. Es ist eine sehr interessante geschichtliche Entwicklung und deren Nachwirkungen, die dazu führt, daß wir diese eigenartige Befugnis des Reichspräsidenten als Exekution bezeichnen. Die geltende Reichsverfassung spricht nicht von Exekution, sie sagt: Anhalten zur Pflichterfüllung. Voraussetzung ist Nichterfüllung einer Pflicht; ich will nicht einmal sagen Pflichtverletzung – auch darin liegt schon eine Unterstellung oder Insinuation. Eine Pflicht wird nicht erfüllt, und daraufhin kann der Reichspräsident zur Erfüllung dieser Pflicht anhalten, eine Zwangsbefugnis des Reichs gegenüber einem Lande, das seine Pflicht nicht erfüllt. – Nur vom Reichspräsidenten ist im Abs. 1 die Rede.“657
Hierzu ist zunächst zu sagen, daß diese Argumentation am Kern der Sache vorbeiführt; der entscheidende Punkt ist für die Prozeßvertreter Preußens nicht der Begriff der Exekution, sondern die Tatsache, daß sich die Reichsregierung für ihr Vorgehen gegen Preußen überhaupt auf den ersten Absatz des Art. 48 WRV beruft.658 Seiberth erkennt hierin eine der größten Schwächen in der Argumentation der Reichsvertreter; die Bezugnahme auf Abs. 1 – die im übrigen einherging mit der Forderung, die strikte Trennung zwischen Abs. 1 und Abs. 2 aufzuheben – sei „taktisch unklug“ gewesen und drücke „eine verfassungsrechtlich unreflektierte Verwendung dieser beiden Rechtsinstitute der Ausnahmegewalt“ aus, „denn darin lag der Vorwurf begründet, die preußische Regierung habe ihre Pflichten nicht er-
öffentliche Ordnung oder Sicherheit gestört erscheint.“ Rotteck, Carl von/Welcker, Carl: Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, Bd. 4, Altona 1846, S. 564. 657 Schmitt: PcR, S. 131. Nach einem historischen Abriß über den verfassungsrechtlichen Stellenwert der Exekution fügt er hinzu: „Die geltende Reichsverfassung, Art. 48 Abs. 1, kennt eine solche Exekution nicht mehr. Das Wort Exekution und die Vorstellung einer Exekutionsordnung, das heißt einer Ausgestaltung des Verfahrens im Interesse des Schutzes gegen eine Machtfülle, diesen Gesichtspunkt hat sie bewußt und absichtlich beiseite gelassen, um […] ein rasches und wirksames Eingreifen des Reichspräsidenten zu ermöglichen, denn in der Situation des Sommers 1919 kannte man ja die Gefahren, die der Einheit des Deutschen Reichs von dieser Seite drohten.“ Ebd., S. 133. Erwin Jacobi pflichtet ihm bei: „Es ist m. E. schon eine gewisse Verfälschung, wenn man immer das Wort Reichsexekution gebraucht. Es steht nichts von Exekution im Art. 48 Abs. 1, sondern es handelt sich um das Anhalten eines Landes zur Pflichterfüllung, und zwar natürlich um das zwangsweise Anhalten eines Landes zur Pflichterfüllung.“ Jacobi: PcR, S. 217. Für Jacobi handelt es sich hier um einen „Reichszwang“. Ebd. 658 Friedrich Giese bemängelt überdies die fehlende Logik in Schmitts Argumentation: „Was heißt denn ,zur Pflichterfüllung anhalten‘? Das bedeutet: Einen, der verpflichtet ist, dazu ermahnen und auf ihn einwirken; es bedeutet aber nicht: Einen, der zur Pflichterfüllung berufen ist, beseitigen und einen anderen an seine Stelle setzen! Das könnte man viel eher vom Standpunkte der nach unserer Auffassung im Art. 48 Abs. 1 normierten Exekution – vielleicht, ich lasse das dahingestellt – für zulässig halten. Aber wenn man unter Berufung auf den Wortlaut sagt, es sei ein bloßes Anhalten zur Pflichterfüllung zulässig, so scheint mir das, was vorgenommen worden ist, noch viel weniger gerechtfertigt werden zu können.“ Giese: PcR, S. 142.
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füllen können oder – schlimmer noch – nicht erfüllen wollen“.659 Die Empörung auf seiten der preußischen Vertreter fällt dann auch entsprechend groß aus: Peters widerspricht Schmitts Darlegung, daß Art. 48 Abs. 1 WRV nicht das Wesen einer Reichsexekution beinhalte, und zieht hierfür einen Vergleich mit der Bismarckschen Verfassung heran.660 Für Nawiasky ist die Leugnung des Begriffs der Exekution Ausdruck der politischen Intention der Reichsvertreter, die Mängelrüge bzw. den „Vollstreckungstitel“, den Rechtsschutz sowie die Gleichstellung zwischen Reich und Ländern zu beseitigen.661 Brecht greift demgegenüber die Diskussion um den Begriff nicht auf, sondern begegnet Schmitts Ausführungen damit, unumwunden an seiner Terminologie festzuhalten und das Vorgehen der Reichsregierung ohne weitere Erklärung oder Verteidigung weiterhin als „Reichsexekution“ zu bezeichnen.662 Ein besonders eindrucksvolles Bild, das im Laufe des Prozesses von vielen Prozeßbeteiligten immer wieder aufgegriffen wurde, liefert Staatsrat von Jan in seinen Reflexionen auf die Rechtswirkungen der „Reichsexekution“. Ausgangsfrage ist für ihn, ob der „Reichsexekutor“ Reichsorgan bleibt oder Landesorgan wird; die Position der Ländervertreter ist dabei klar: „Nach unserer Auffassung kann kein Zweifel sein, daß der Reichsexekutor, wenn er in einem Lande auftritt, Reichsorgan ist und bleibt, daß er sich also nicht in seiner Eigenschaft verändert, wenn er die Grenze des betreffenden Landes überschreitet.“663 Um die Sachlage zu veranschaulichen, kleidet von Jan sie in eine Fabel: „Ich nehme an, der Adler ist beauftragt, im Reich der Tiere in die Höhle des Löwen oder Bären zu gehen, dort nach dem Rechten zu sehen und irgendwelche Maßnahmen vorzu-
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Seiberth, Anwalt, S. 147 f. So führt er aus: „Es ist fehlerhaft, wenn Herr Professor Schmitt eine Wandlung bezüglich der Exekution von der Bismarckschen zur heutigen Reichsverfassung zu erkennen glaubt und meint, daß heute der Reichspräsident irgend welche anderen Befugnisse habe, als sie seinerzeit der Bundesrat hatte. […] Der Art. 67, das ist der jetzige Art. 48 Abs. 1, der die Reichsexekution gegen die Länder vorsieht – der Ausdruck ist nach wie vor in den Verhandlungen gebraucht, er ist nur weggefallen, um das Fremdwort zu vermeiden – entspricht dem Art. 19 der bisherigen Reichsverfassung.“ Peters: PcR, S. 139. 661 Nicht nur an die Adresse von Schmitt, sondern auch gegen Jacobi gerichtet, kritisiert Nawiasky: „Warum ist dieser Gedanke – ,nicht Exekution‘ – festgehalten? Aus drei Gründen: 1. ,Nicht Exekution‘ bedeutet, es ist nicht erforderlich ein Exekutionstitel […] 2. es ist nicht notwendig ein Verfahren und ein besonderer Schutz; […] 3. was das Wichtigste ist, es wird dadurch, wenn wir die Exekution nicht mit dem Zivilprozeß vergleichen, die Lage zwischen Reich und Ländern vollkommen verändert. Denn im Zivilprozeß ist es so, daß der betreibende Gläubiger und Schuldner, gegen den sich die Exekution richtet, sich gleichberechtigt, koordiniert, gegenüberstehen als Privatsubjekte. Das wird natürlich in demselben Augenblick beseitigt, wenn das Wort Exekution hier geleugnet wird. Wir haben allein dadurch, daß entgegen der Entstehungsgeschichte so argumentiert wird, diese dreifache Verschlechterung in der Lage der Länder mit einem Schlage, durch ein einziges Wort.“ Nawiasky: PcR, S. 239. 662 Vgl. etwa Brecht: PcR, S. 157 und 191. 663 Von Jan: PcR, S. 198. 660
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nehmen. Ich glaube nicht, daß dadurch aus dem Adler ein Löwe oder ein Bär wird, er bleibt der Adler und nimmt als solcher die Maßnahmen vor, die er vorzunehmen hat.“664
Die Kritik an Schmitt, die hier am Begriff der Exekution aufgezogen wird, umfaßt also nicht nur den Vorwurf einer fehlenden Pflichtverletzung, sondern auch die unrechtmäßige Beanspruchung der von der Reichsregierung bestellten Reichskommissare, sich als Landesregierung auszugeben. Schmitts Rekurs auf die mehrheitlich verwendete Terminologie der „Exekution“665 muß somit als Eröffnung eines Nebenschauplatzes gewertet werden, der vom eigentlichen Inhalt der Diskussion wegführt bzw. der Sache durch eine begriffliche Korrektur ihre Schärfe zu nehmen versucht.666 Daß Schmitt sich mit seiner Begriffsexegese auf dünnem Eis bewegt, belegt auch eine Feststellung, die er am Ende des Prozesses macht und die im Widerspruch zu seinen bisher geäußerten Ansichten steht: Hier geht es um den schon erwähnten Vergleich, den Brecht zwischen der Bundesexekution von 1866 und der „Reichsexekution“ von 1932 zieht. In seiner Replik greift Schmitt diesen Vergleich auf, um ihn zu seinen Gunsten umzuwenden. Dabei ist jedoch nicht länger die Rede von einem – vermeintlich – fehlgegriffenen Begriff der Exekution, und auch Schmitts zuvor getroffene Feststellung, daß sich das 664
Von Jan: PcR, S. 198 f. Während Walter Jellinek dieses Bild als „sehr hübsch“ hervorhebt, kritisiert er Brecht für einen Vergleich, der in der Tat weitaus weniger treffend ist und erneut ein Beleg dafür ist, daß Brecht grundsätzlich gut daran getan hätte, sich nicht ins Reich der Lyrik zu begeben: „Die Haltung der Gegenseite erinnert mich an eine Anekdote, mit der ich etwas bittere Gefühle, die mich bei manchen Ausführungen befallen haben, abreagieren darf, wenn Sie erlauben, Herr Präsident. Es geht ein Gast in eine Restaurant und bittet um eine Forelle. Der Ober bringt sie. Der Gast gibt sie zurück und sagt: Geben Sie mir dafür lieber einen Eierkuchen. Er bekommt den Eierkuchen, ißt ihn und geht dann weg. Als der Kellner sagt, Sie haben noch nicht bezahlt, sagt er: Wieso denn, was soll ich zahlen? – Den Eierkuchen! – Dafür habe ich Ihnen doch die Forelle gegeben! – Dann die Forelle! – Die Forelle habe ich doch nicht gegessen! (Heiterkeit.)“ Brecht: PcR, S. 473. Zur Kritik von Jellinek, der auch Nawiasky und Schmitt mißlungene Vergleiche vorhält: Jellinek, Der Leipziger Prozeß, S. 905. 665 So z. B. auch in dem Gesetzeskommentar von Anschütz, der im Art. 48 Abs. 1 WRV „die Reichsexekution gegen Länder, die ihre Pflichten nicht erfüllen“ geregelt sieht. Vgl. Anschütz, Gerhard: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Dritte Bearbeitung, 13. Aufl., Berlin 1930, S. 240. Siehe auch ebd., S. 243 ff. 666 Carl Schmitt war sich der hier sichtbar werdenden Schwäche seiner Argumentation offenbar selbst bewußt; dies zumindest legen seine Tagebucheinträge aus diesem Zeitraum nahe. So finden sich dort z. B. Selbstbeschreibungen wie: „schlechte Erwiderung über Abs. 1“ (12.10.32), „Angsttraum vor Bumke, […] sehr deprimiert, in einem scheußlichen Zustand […]. Fühlte mich wie ein zu Tode gehetztes Tier“ (14.10.32); am 15.10.32 erwägt Schmitt sogar, sein Mandat niederzulegen und schreibt: „[…] fühle mich erledigt und erschöpft, Ehre und Bürde des Rechts, lächerlich ein solcher Prozeß, eine Schande für mich selbst.“ Zit. nach Pyta/Seiberth, Staatskrise (I), S. 445. Eine Zusammenstellung der Tagebucheinträge für die Dauer des Prozesses findet sich auch bei Schuller, Schmitt in Leipzig, S. 41 f. – Seiberth schließt aus diesen Tagebucheinträgen, daß Schmitt sich „mit seiner Sache nicht wirklich identifiziert hatte“ und „auch mit seinem eigenen Auftreten vor dem höchsten Gericht unzufrieden“ gewesen sei: „Die entscheidenden Punkte hatte er zwar gestreift, aber nicht in aller wünschenswerten Klarheit vorgebracht […].“ Seiberth, Anwalt, S. 181.
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Wesen der Exekution nicht aus früheren Zeiten auf heute übertragen lasse, scheint für ihn hinfällig geworden zu sein.667 Dafür übernimmt Brecht in seinem nach dem Prozeß verfaßten Manuskript genau diese ehemals für Schmitt gültige Position, daß ein historischer Rückgriff in diesem Fall nicht angebracht sei. In diesem Punkt offenbaren sich also nicht nur bei Schmitt, sondern auch bei Brecht einige Widersprüche. „Diktaturfestigkeit“ Neben der „situationsgemäßen Verfassungsauslegung“ und der „Reichsexekution“ ist die von Anschütz aufgeworfene Frage der „Diktaturfestigkeit“ der Reichsverfassung ein weiterer Punkt, an dem sich die Diskussion zwischen Schmitt und seinen Kontrahenten entzündete. Wird nach diktaturfesten Verfassungsbestimmungen gefragt, wird damit die Frage aufgeworfen, „ob es auch in Fällen des Gesetzesvorbehalts Bestimmungen gibt, in die gleichwohl nicht vom Reichspräsidenten eingegriffen werden kann“668. Gegenstand der Diskussion war hierbei nicht länger der erste, sondern der zweite Absatz des Artikels 48.669 Für Anschütz ist „das gesamte Verfassungsrecht der Länder“ diktaturfest, also „für Diktaturanordnungen unzugänglich“670 – eine Feststellung, die natürlich gegen Schmitts These von der „gegenseitige[n] Durchdringung von Reichs- und Staatsgewalt“671 gerichtet ist. Anschütz stellt unmißverständlich klar: „Und vor allem […] ist diktaturfest das gesamte Verfassungsrecht der Länder. Die Richtlinien und Normativbestimmungen, die Art. 17 der Reichsverfassung für das Landesverfassungsrecht gibt, müssen dann aktualisiert werden, nicht durch Reichsgesetz, sondern durch Landesgesetz, durch Landesverfassung, durch die Recht setzende Gewalt der Länder. Sich hier an die Stelle der Landesgesetzgebung zu setzen, kann ich den Reichsgesetzgeber, infolgedessen auch die Diktatur als Gesetzgeber aus Abs. 2 des Art. 48 nicht für befugt erachten.“672
667 Dies zumindest ist seinem Beitrag zu entnehmen: „Was war 1866 los? Eine Bundesexekution des Deutschen Bundes gegen Preußen? Und der Herr Reichspräsident stand als preußischer Offizier auf der preußischen Seite und verteidigte Preußen gegen diese Bundesexekution. Wenn derselbe Mann, der damals Preußen gegen eine Exekution verteidigt hat, sich jetzt selbst entschließen muß, gegen dasselbe Preußen eine Reichsexekution anzuordnen, so ist das ein bedeutungsvoller, erstaunlicher Vorgang, dessen man sich doch einen Augenblick bewußt werden sollte. Denn hier zeigt sich, daß die Exekution nicht den Sinn haben konnte, das Land zu vernichten, die Existenz des Landes zu zerstören, sondern den Sinn hatte, Preußen zu schützen vor Gefahren, die diesem Staat und diesem Lande drohten.“ Schmitt: PcR, S. 469. 668 So die Definition von Wolfgang Schuller, Schmitt in Leipzig, S. 37. 669 Die Diskussion fiel in den achten Teil der Verhandlung, der sich mit den „Befugnisse[n] aus Art. 48 Abs. 2“ beschäftigte. 670 Anschütz: PcR, S. 306. 671 Schmitt: PcR, S. 318. Wie oben zitiert, so auch schon Bilfinger: PcR, S. 122. 672 Anschütz: PcR, S. 306.
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Brecht subsumiert die „diktaturfesten Verfassungsvorschriften“ unter den Begriff der „absolute[n] Grenzen“, die der Art. 48 Abs. 2 in sich enthalte.673 In seiner Argumentation erinnert er die Reichsvertreter zunächst daran, daß der Gedanke der Diktaturfestigkeit „von der weitaus herrschenden Lehre“, zu der sich die Reichsregierung stets bekannt habe, anerkannt sei.674 Brecht fügt sodann einen rechtstheoretischen Exkurs ein, in dem er auf die „Durchbrechungslehre“ rekurriert, die Schmitt und Jacobi auf der Jenaer Staatsrechtslehrertagung von 1924 entwickelt hatten.675 Er wertet dies als „Einbruchsversuch“ gegenüber der „herrschenden Lehre“, der jedoch ohne Erfolg geblieben sei, da am Ende „auch Herr Professor Carl Schmitt in seinen letzten Veröffentlichungen in gewissem Umfange vor dieser herrschenden Ansicht kapituliert“ habe.676 Es sei „kein Zufall, daß die beiden Herren, die damals mit sehr viel Geist und außerordentlich geschickten Argumenten eine andere Ansicht vertraten […], jetzt auf der Seite der Reichsregierung zur Vertretung der neuen Ansicht der Reichsregierung sitzen“.677 Der Gedanke der Diktaturfestigkeit ist somit Teil der in Abgrenzung zu Schmitt und Jacobi entwickelten Unantastbarkeitslehre, die laut Brecht im Kern besagt, „daß auf Grund des Art. 48 Abs. 2 außer den ausdrücklich erwähnten sieben Grundrechten die Reichsverfassung nicht durchbrochen und nicht geändert werden kann, daß sich lediglich logisch aus Art. 48 ergibt, daß der Reichspräsident in unnormalen Zeiten gewisse Zuständigkeiten bekommt, die in normalen Fällen andere haben, daß seine Zuständigkeiten sich ausdehnen. Es handelt sich also um eine Verschiebung von Zuständigkeiten der im Regelfall zur einfachen Gesetzgebung und zur Exekutive zuständigen Organe, soweit die Zuständigkeiten für vorübergehende, im übrigen nicht in die Verfassung eingreifende Maßnahmen in Anspruch genommen werden.“678
Schmitt war dagegen bereits so weit gegangen, von einer Diktatur zu sprechen und den Reichspräsidenten mit einem Diktator gleichzusetzen.679 Daran anknüpfend argumentiert er, es gehöre zum „Wesen der Diktatur“, daß hier „Ermächtigung und 673
Absolute Grenzen seien außerdem „die logischen Grenzen der Diktaturgewalt“ sowie „Maßnahmen, die zu dem in Art. 48 Abs. 2 erlaubten Zweck niemals nötig sein können“. Brecht: PcR, S. 322. 674 Brecht: PcR, S. 322. 675 Vgl. dazu Kapitel I.2.c). 676 Aus der Sicht von Nawiasky ist Schmitts und Jacobis Abkehr darauf zurückzuführen, daß „die Argumente, die dafür vorgebracht worden sind, so schlagend sind, daß sich ein Jurist ihnen überhaupt nicht entziehen kann“. Nawiasky: PcR, S. 329. 677 Brecht: PcR, S. 323. 678 Brecht: PcR, S. 324. Nawiasky stimmt Brecht in seiner Kritik zu und bringt von einer anderen Seite auf den Punkt, welche Implikationen die „Durchbrechungslehre“ von Schmitt und Jacobi hat: „Die Kollegen Schmitt usw. sagen, es gibt einmal den Art. 48, das ist die Norm für Ausnahmefälle und alle anderen Art. 1 – 47 und 49 – 181 gelten dann nicht. Das ist die Hauptsache an der These, natürlich etwas übertrieben. Die These der anderen geht dahin: Nein, das ist nicht richtig, sondern Art. 48 muß im Zusammenhang mit allen anderen Artikeln ausgelegt werden.“ Nawiasky: PcR, S. 329. 679 Explizit in folgendem Redebeitrag: Schmitt: PcR, S. 316.
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Ermessen in einer sonst nicht vorkommenden Weise zusammenhängen“.680 In bezug auf die „Verfassungsgrenzen im engeren Sinne“681 kommt er zu dem Schluß, daß Art. 48 Abs. 2 (wie auch Abs. 1) als „selbständige Zuständigkeitsnorm“ anzusehen sei, innerhalb derer er nur wenige Grenzen und „diktaturfeste Bestimmungen“ zu erkennen vermag.682 Darüber hinaus widerspricht Schmitt den von der Gegenseite vorgetragenen Argumenten auch deshalb, weil er darin einen unsachgemäßen Gebrauch der Begriffe „Diktaturfestigkeit“ und „Unantastbarkeit“ erkennt, der seine „vielleicht pedantische wissenschaftliche Empfindung“ verletze. Er führt aus: „Es handelt sich also bei diesem Begriff ,diktaturfest‘ nur um den Gesetzesvorbehalt und nichts anderes, und der Gegensatz ist gar nicht der, als ob hier behauptet würde, die Verfassung zerfällt in Art. 48, und alles übrige ist nicht diktaturfest und dergleichen. Ich begnüge mich damit, das als eines Juristen unwürdig zurückzuweisen.“683
Da Schmitt in seinem mit sehr viel Polemik geführten Vortrag684 ferner abstritt, daß ein Rechtsmißbrauch vorliegt, vermochte er seine Gegner jedoch erst recht nicht mit dem Hinweis auf seine „pedantische wissenschaftliche Empfindung“ zu überzeugen. Parteien und Parteiverbot Eine weitere Auseinandersetzung, zu der es bereits am Anfang des Prozesses kam, entwickelte sich zwischen Brecht und Schmitt im Hinblick auf den Stellenwert von politischen Parteien. In seiner Reflexion auf den Umgang mit extremen Parteien – also sowohl den Kommunisten als auch den Nationalsozialisten – äußert sich Brecht hinsichtlich der Frage eines Parteiverbots skeptisch: „Solche Maßnahmen, wie das 680
Er fährt fort: „Das ist fachwissenschaftlich gesprochen das Außerordentliche der Diktatur, daß Inhalt und Umfang dessen, wozu der Diktator befugt ist, in weitestem Maße durch sein Ermessen bestimmt wird, weil das gerade von dieser außerordentlichen, unvorhersehbaren Sachlage bestimmt wird.“ Schmitt: PcR, S. 311. 681 Das bedeute: „wie weit enthalten bestimmte einzelne Regelungen der Reichsverfassung eine unbedingte Grenze auch für die außerordentlichen Befugnisse des Reichspräsidenten und was kann er auch im äußersten Fall nicht tun, wenn es noch so nötig ist, wenn die Gefahr noch so groß ist, was ist das unübersteigliche Hindernis sozusagen für seine Befugnisse?“ Schmitt: PcR, S. 311. 682 Vgl. dazu seine Ausführungen, Schmitt: PcR, S. 313 ff. Siehe dazu auch Schuller, Schmitt in Leipzig, S. 37 f. 683 Schmitt: PcR, S. 351. Schmitt betrachtet die Kritik der Gegenseite auch als „Karikatur der sogenannten Schmitt-Jacobischen Theorie, die hier ad hoc produziert worden ist“. Ebd. Zuvor hatte sich bereits Jacobi darüber empört, daß „die schon beinahe mythisch gewordene Schmitt-Jacobische Theorie“ nicht vom Staatsgerichtshof ferngehalten werde. Die Reichsregierung habe sich „hinsichtlich der Rechtsgrundlagen streng korrekt auf den Boden der jetzt herrschenden Lehre gestellt, und wir glaubten damit die Gefahr beseitigt zu haben, daß der Staatsrechtslehrer-Kongreß von 1924 hier noch einmal auftaucht“. Jacobi: PcR, S. 344. 684 Dies brachte ihm auch eine Rüge des Gerichtspräsidenten ein, der ihn für seine scharfen Ausdrücke ermahnte. Vgl. Bumke: PcR, S. 355 f.
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Verbot einer größeren Bewegung und Partei sind immer sehr zweischneidig. Eine geistige Bewegung kann man auf diesem Wege nicht bekämpfen; da muß man andere Mittel anwenden.“685 Obgleich Brecht also gar kein Parteiverbot fordert, stellt Schmitt in seiner Entgegnung die Frage in den Vordergrund, wer darüber zu entscheiden hat, „ob eine Partei oder eine große Bewegung illegal ist“.686 Die Antwort darauf fällt eindeutig aus: „Die Entscheidung darüber, ob eine Partei legal oder illegal ist, kann nur eine unabhängige Regierung treffen, denn das ist gerade die Quelle all dieses Unheils, daß die eine Partei die andere für illegal erklärt, ja, daß es als unmöglich bezeichnet wird, eine andere als eine parteiische Staatsführung zu haben […].“687
In seiner Replik hält Brecht fest: „Professor Schmitt sagt, ein Urteil darüber, ob eine Partei legal oder illegal ist, kann nur die autoritative Stelle haben, da kann nicht jeder mitreden, also nicht die preußische Regierung, so kann er das doch nur gemeint haben, sondern nur die Reichsregierung. Das ist unrichtig. Darüber entscheiden letzten Endes die Gerichte.“688
Auch die mit Schmitts Aussage verbundene Annahme, daß die Reichsregierung grundsätzlich unparteiisch sei, kritisiert Brecht scharf. Von einer ,unabhängigen, unparteiischen‘ Regierung könne „gar keine Rede“ sein. Das Vorgehen der Reichsregierung sei vielmehr „der Ausfluß einer klaren parteipolitischen Abmachung mit den Nationalsozialisten“ gewesen. Mit einer ironischen Bemerkung fügt er hinzu: „Wie Herr Kollege Schmitt selbst mit vollem Recht – darin stimme ich ihm zu – sonst immer betont, ist ,politisch‘, auch parteipolitisch, immer nur der andere; man selbst ist selbstverständlich gänzlich unpolitisch, nur sachlich und über den Parteien stehend.“689
Die Äußerungen Schmitts sind auch vor dem Hintergrund seiner grundsätzlichen Kritik an Parteien zu sehen. Aus „dem demokratischen Parteiwesen“ entstehe eine „ganz spezifische Gefahr“, die man in Deutschland bislang nicht gekannt habe, nämlich „eine neue Art von Gefahr für die Einheit des Gesamtstaates in einem 685
Brecht: PcR, S. 23. Nach Schmitt hätte eine solche „Illegalitätserklärung“ weitreichende Implikationen: „Es handelt sich um die Frage, ob ein Angehöriger dieser Partei Staatsbeamter sein kann, ob es ein Grund für die Entlassung eines Privatangestellten ist, wenn er dieser Partei oder dieser Bewegung angehört, sich bei ihr betätigt, sich zu ihr bekennt usw.“ Schmitt: PcR, S. 39. 687 Schmitt: PcR, S. 39. 688 Brecht: PcR, S. 41. 689 Brecht: PcR, S. 76. Zuvor hatte bereits Hans Peters klargestellt: „Zunächst hat das Reich auch keine unabhängige Regierung, sondern nach der Reichsverfassung hat es eine parlamentarische Regierung. Es mag gelegentlich Fälle geben, wo das Parlament versagt, aber damit ist noch nicht gesagt, daß dann etwa die Reichsregierung eine ,unabhängige Regierung‘ sei. Der Zustand der unabhängigen Regierung, das heißt wohl: vom Parlament unabhängigen Regierung, wäre jedenfalls ein Zustand, der mit der Reichsverfassung im Widerspruch stände.“ Peters: PcR, S. 56 f. 686
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Bundesstaat“. Durch die sich radikalisierenden „Parteigegensätze“ werde die „innerpolitische Treupflicht zum Reich“ vernachlässigt. Die Situation spitze sich zu, wenn sich darüber hinaus „die Gefahr der Vielstaatlichkeit mit der Gefahr der Parteienzersplitterung“ verbindet.690 Auf der Grundlage dieser Annahmen dreht Schmitt die Argumentation seiner Kritiker um und behauptet das Gegenteil dessen, was ihm vorgeworfen wird – daß der Artikel 48 nicht als Gefahr, sondern als Schutz des politischen Systems anzusehen sei.691 Am Ende des Prozesses formuliert Schmitt seine wiederholte Kritik an dem Parteiwesen der Demokratie so scharf, daß er nicht nur von Heller, sondern auch von Staatsrat von Jan durch Zwischenrufe unterbrochen wird. Schmitt trägt vor: „[…] denn eine der größten und schlimmsten Gefahren für unser bundesstaatliche System, für den Föderalismus und für die Selbständigkeit der Länder liegt doch gerade darin, daß über die Länder hinweggehende, straff organisierte und zentralisierte politische Parteien sich des Landes bemächtigen, ihre Agenten, ihre Bediensteten in eine Landesregierung hineinsetzen (Professor Heller: Das ist unerhört!) und so die Selbständigkeit des Landes gefährden. Von dieser Seite her, von den Parteien her kommt sogar eine ganz besondere Art von Gefahr fortwährender Funktionsstörungen, fortwährender Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und auch Nichterfüllung von Pflichten des Landes gegenüber dem Reich.“692
Mit Blick auf diese Darlegungen ist Pytas und Seiberths Einschätzung, „daß Schmitt die Preußenaktion vor allem begrüßte, weil er in der Inbesitznahme der preußischen Machtmittel eine Plattform für ein mögliches staatliches Vorgehen gegen die extremen Parteien erblickte“693, kritisch hinzuzufügen: nicht nur gegen die extremen Parteien! 690
Schmitt: PcR, S. 180. So führt er aus: „Dann darf man nicht geltend machen, gegenüber dieser Machtfülle des Art. 48 müsse es einen Schutz geben, denn damit zerstört man gerade wieder den Schutz, den die Machtfülle gewähren soll, nämlich den Schutz gegen die Zerstörung des Reichs.“ Schmitt: PcR, S. 181. 692 Schmitt: PcR, S. 468. Was den von der Gegenseite erhobenen Anspruch auf die Selbständigkeit der Länder betrifft, bemerkt Schmitt spöttisch: „Wenn tatsächlich einmal der Bock zum Gärtner gemacht worden ist, und es handelt sich darum, ihn zu beseitigen, so kann man alles Mögliche geltend machen, aber das eine nicht, nämlich die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Gartens! Das ist der Fall einer solchen vom Reichspräsidenten suspendierten Landesregierung, die sich nicht auf die Selbständigkeit des Landes als solches berufen kann.“ Ebd. Bumke ermahnt Schmitt daraufhin erneut und bittet alle Prozeßbeteiligten, von weiteren Äußerungen dieser Art abzusehen. (Bumke: PcR, S. 469 f.) Heller zeigt sich naturgemäß unbeeindruckt davon und schlägt gegen Schmitt unverhohlen zurück: „Ich möchte meinerseits nicht die Rede bringen auf Straßenreden, ich möchte auch nicht vom Bock als Gärtner sprechen, obschon es naheliegt, das Verhältnis gewisser Staatslehrer zur gegenwärtig geltenden Reichsverfassung so zu kennzeichnen, ich möchte auch nicht behaupten, daß eine Beleidigung darin liegen könnte, wenn hier gesprochen wurde von Agenten und Bediensteten, die die Parteien in die Regierung entsenden, denn es ist selbstverständlich, daß die Minister Braun und Severing über derart gröbliche Beschimpfungen turmhoch erhaben sind!“ Heller: PcR, S. 470. Bumke wiederholt anschließend seine Mahnung. 693 Pyta/Seiberth, Staatskrise (I), S. 440. 691
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Die Ehre Preußens Im letzten Teil der Verhandlung kommt Schmitt schließlich noch auf Brechts Ausführungen über die Ehre und die „deutsche Mission“ Preußens zu sprechen. Dabei streitet er den Wert der Ehre selbstredend nicht ab, sondern greift Brechts Vokabular auf, um es zu seinen Gunsten umzumünzen. Ungeachtet der Kritik, die sich Schmitt damit einhandelt, trägt er vor: „Wenn hier von der Staatlichkeit, der Dignität und Ehre Preußens gesprochen wird, so darf ich mir endlich doch die Frage selber stellen – ich stelle sie niemand anders, ich stelle sie aber in aller Öffentlichkeit hier mir selbst: Wo ist dieses alles, die Dignität und die Ehre Preußens besser aufgehoben? Bei den am 20. Juli ihres Amtes enthobenen geschäftsführenden Ministern, die es dank dem Kunstgriff vom 12. April noch sind – (Zuruf: SituationsJurisprudenz!) oder beim Reichspräsidenten von Hindenburg? Diese Frage ist für mich nicht schwer zu beantworten. Es ist wahr, Preußen hat seine Ehre, und hat seine Dignität, und der Treuhänder und der Hüter dieser Ehre ist heute das Reich.“694
Mit diesen Worten endet der letzte Redebeitrag Carl Schmitts, über den Walter Jellinek in seinem Prozeßbericht voller Anerkennung schreibt: „Carl Schmitt, der in allen seinen Ausführungen den einmal aufgenommenen Faden mit unvergleichlicher Kunst weiter und zu Ende spann und dessen seltene Gabe zur Schau überraschender Perspektiven sich auch hier wieder einmal glänzend bewährte, war dem Gericht wohl etwas unheimlich; denn ein Gericht hat den begreiflichen Wunsch, bei der Urteilsfindung festen Boden unter den Füßen zu behalten, und den hätte es nach Meinung der Richter, die ich sprach, verlassen, wenn es sich der Führung dieses ungewöhnlichen Mannes anvertraut hätte.“695
Zusammenfassend sind in der Auseinandersetzung zwischen Brecht und Schmitt also die folgenden Punkte zentral: Während Schmitt davon ausgeht, daß alles Recht Situationsrecht ist und infolgedessen auch eine „situationsgemäße Verfassungsauslegung“ fordert, beharrt Brecht auf der Vorrangstellung des positiven Rechts und den Schutz der geschriebenen Verfassung. Schmitts rechtstheoretischer Ansatz läßt sich als Theorie des Dezisionismus bezeichnen, Brecht geht von rechtspositivistischen Annahmen aus, die allerdings mitunter in einen starken Normativismus umschlagen. Schmitt sieht im Reichspräsidenten den eigentlichen Hüter der Verfassung, Brecht spricht sich gegen eine zu starke Stellung des Reichspräsidenten aus. Daß der „Preußenschlag“ eine „Reichsexekution“ war, versteht sich für Brecht von selbst, Schmitt dagegen streitet die Angemessenheit der hier verwendeten Terminologie ab. Während Schmitt von einer „gegenseitige[n] Durchdringung von Reichs- und Staatsgewalt“ spricht, fordert Brecht das Recht der Länder auf Selbständigkeit. Brecht erkennt in der Weimarer Reichsverfassung diktaturfeste Verfassungsbestimmungen, Schmitt argumentiert mit „selbständiger Zuständigkeitsnorm“ und dem Zusammenfallen von Ermessen 694 695
Schmitt: PcR, S. 469. Jellinek, Der Leipziger Prozeß, S. 904.
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und Ermächtigung. In der Frage eines Parteiverbots der politisch extremen Parteien sucht Brecht einen konstruktiven Weg, während Schmitt von einer naturgemäß unparteiischen Reichsregierung ausgeht und gleichzeitig gegen das Parteiwesen von Demokratien wettert. Nur in einem Punkt sind sich Brecht und Schmitt schließlich einig: Daß es die Ehre Preußens zu verteidigen gilt. Doch während Brecht die Ehre Preußens nur gewahrt sieht, wenn dessen Selbständigkeit erhalten bleibt und vor allem der Vorwurf der Pflichtverletzung zurückgenommen wird, betrachtet Schmitt unter den gegebenen Umständen das Reich als den einzig möglichen „Treuhänder“ und „Hüter“ der Ehre Preußens.
b) Das Urteil des Staatsgerichtshofs und die Debatte über den Preußenschlag Eine gute Woche nach dem letzten Verhandlungstag, am 25. Oktober 1932, wurde das Urteil des Staatsgerichtshofs verkündet. Es fiel ambivalent aus und konnte daher aus preußischer Sicht kaum Anlaß zu unumschränkter Freude sein. Für Michael Stolleis ist das „zwiespältige und scheinbar vermittelnde Urteil, das am Ende doch noch vor den geschaffenen Fakten kapitulierte, [..] ein Markstein der den Untergang der Republik beschreibenden Verfassungsgeschichte“696. Doch bevor es um die Bewertung des Urteils geht, soll zunächst nach seinem konkreten Inhalt und der Urteilsbegründung gefragt werden. Zur besseren Verständlichkeit sei an dieser Stelle der genaue Wortlaut des Urteils wiedergegeben: „Die Verordnung des Reichspräsidenten vom 20. Juli 1932 zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Gebiet des Landes Preußen ist mit der Reichsverfassung vereinbar, soweit sie den Reichskanzler zum Reichskommissar für das Land Preußen bestellt und ihn ermächtigt, preußischen Ministern vorübergehend Amtsbefugnisse zu entziehen und diese Befugnisse selbst zu übernehmen oder anderen Personen als Kommissaren des Reichs zu übertragen. Diese Ermächtigung durfte sich aber nicht darauf erstrecken, dem Preußischen Staatsministerium und seinen Mitgliedern die Vertretung des Landes Preußen im Reichstag, im Reichsrat oder sonst gegenüber dem Reich oder gegenüber dem Landtag, dem Staatsrat oder gegenüber anderen Ländern zu entziehen.“697
Auch wenn der Staatsgerichtshof (StGH) damit den preußischen Ministern in einigen Punkten entgegenkam, wurde der Reichsregierung im wesentlichen recht gegeben. In der Urteilsbegründung stellen die Richter zunächst klar, daß der StGH eine Entscheidung in der Frage, ob „gewisse Maßnahmen auf Grund des Art. 48 RVerf. niemals und unter keinen Umständen getroffen werden dürfen“, ablehne. Dem von Länderseite gestellten Antrag wurde somit nicht stattgegeben. Der StGH, heißt 696
Stolleis, GÖR III, S. 121. Das Urteil und die Urteilsbegründung – „Entscheidung in der Hauptsache vom 25. 10. 1932“ – sind abgedruckt in: PcR, S. 492 – 517 (hier 493). 697
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es in der Begründung weiter, verkenne nicht, daß die Länder „ein Interesse daran haben, die Grenzen, die bei Maßnahmen auf Grund des Art. 48 den Ländern gegenüber eingehalten werden müssen, ein für allemal festgestellt zu sehen“. Dieses Interesse sei aber „politischer Natur“ und reiche nicht aus, „um die Annahme zu begründen, daß eine Streitigkeit im Sinne des Art. 19 RVerf.698 vorliege“699. Eine weitere Zurückweisung erfuhren die Kläger – zumindest was die Forderung nach einem eindeutigen Ausspruch durch den StGH betrifft – in der Frage der Pflichtverletzung. Die Richter argumentieren: „Auch dem Verlangen, ausdrücklich auszusprechen, daß das Reich dem Lande Preußen zu Unrecht eine Nichterfüllung von Pflichten vorgeworfen habe, kann keine Folge gegeben werden. Diese Frage ist eine von den Vorfragen, zu denen der Staatsgerichtshof Stellung nehmen muß, um über die unmittelbar gegen die Verordnung gerichteten Anträge entscheiden zu können. Darauf, daß eine dieser Vorfragen zum Gegenstand eines besonderen Ausspruchs in der Entscheidungsformel gemacht werde, haben die Beteiligten keinen Anspruch; ein solcher kann auch daraus nicht hergeleitet werden, daß eben diese Frage von besonderer politischer Bedeutung ist.“700
Damit wird ein weiteres Mal mit der Trennung zwischen Recht und Politik argumentiert, die der StGH allem Anschein nach strikt einzuhalten gedenkt. Doch auch wenn er in dieser Sache einen besonderen Ausspruch in der Entscheidungsformel ablehnt, ist der Vorwurf der Pflichtverletzung gerade der Punkt, in dem der StGH den Vertretern auf preußischer Seite letzten Endes recht gibt. Auch die von Schmitt anvisierte Aufhebung der Scheidung zwischen Abs. 1 und 2 des Art. 48, die von der Gegenseite scharf kritisiert wurde, lehnen die Richter ausdrücklich ab.701 Was auf der 698 Art. 19 WRV regelt das Verfahren bei Verfassungsstreitigkeiten vor dem StGH. Nach Anschütz – der wiederum Kahl zitiert – sind Verfassungsstreitigkeiten zu verstehen als „Streitigkeiten über die Auslegung oder die Anwendung der Landesverfassung“. Entscheidend sei nicht die „Stellung oder Eigenschaft der Streitteile (Parteien)“, sondern die „Eigenart des Streitgegenstandes“, also die Notwendigkeit, „daß der Gegenstand des Streites die Verfassung betrifft“. Vgl. Anschütz, Verfassung/Kommentar (1930), S. 152. Der genaue Verfassungstext lautet im Abs. 1: „Über Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, in dem kein Gericht zu ihrer Erledigung besteht, sowie über Streitigkeiten nicht privatrechtlicher Art zwischen verschiedenen Ländern oder zwischen dem Reiche und einem Lande entscheidet auf Antrag eines der streitenden Teile der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, soweit nicht ein anderer Gerichtshof des Reichs zuständig ist.“ Abs. 2 lautet: „Der Reichspräsident vollstreckt das Urteil des Staatsgerichtshofs.“ 699 Entscheidung in der Hauptsache: PcR, S. 508. 700 Entscheidung in der Hauptsache: PcR, S. 509. 701 Zwar räumen sie ein, „daß die Vorschriften in einem Artikel der Reichsverfassung aneinandergereiht sind, daß sowohl im Abs. 1 wie im Abs. 2 das Recht zum Handeln dem Reichspräsidenten übertragen ist, daß nach beiden Absätzen der Reichspräsident sich der Hilfe der bewaffneten Macht bedienen darf und daß im Abs. 3 des Art. 48 dem Reichstag gewisse Rechte eingeräumt sind, die sich sowohl auf die Maßnahmen nach Abs. 1 wie auch auf die Maßnahmen nach Abs. 2 beziehen“. Auch könne es mitunter der Fall sein, daß „die Voraussetzungen beider Absätze zugleich gegeben sein werden“. Doch trotz dieser möglichen Einwände stellen die Richter unmißverständlich klar, daß daraus „für eine begriffliche Vermi-
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so geschaffenen Grundlage, beide Absätze voneinander gesondert zu behandeln, die Frage betrifft, „ob die Verordnung vom 20. Juli in dem Abs. 1 des Art. 48 die erforderliche Stütze findet“, fällt die Antwort eindeutig aus: dies sei zu verneinen. Der StGH bestreitet, „daß es sich bei der Voraussetzung dieser Vorschrift – Nichterfüllung der Pflichten eines Landes gegenüber dem Reich – um eine reine Ermessensfrage handle“, und gibt damit unausgesprochen Anschütz recht.702 Die gerichtliche Nachprüfung des StGH, die an die Stelle des Ermessens tritt, kommt darüber hinaus keineswegs zu dem Ergebnis, daß das Land Preußen seine Pflichten nicht erfüllt hätte. Zunächst weist das Gericht der Reichsregierung fehlende Differenzierung nach: „Die Behauptungen, auf die das Reich den Vorwurf der Nichterfüllung von Pflichten gründet, betreffen zu einem Teil Handlungen, die nicht von den verantwortlichen Trägern der Staatsgewalt in Preußen, sondern von nachgeordneten Persönlichkeiten […] vorgenommen worden sind. In solchen Handlungen kann eine Pflichtverletzung des Landes Preußen nicht gefunden werden.“703
Sodann rekurrieren die Richter auf einen Aspekt, der insbesondere für Brechts (Gegen-)Argumentation eine zentrale Rolle gespielt hat: den von der Reichsregierung erhobenen Vorwurf der inneren Unfreiheit der preußischen Regierung gegenüber den Kommunisten. Auch hier kommt das Gericht zu dem Ergebnis, daß aus „den Behauptungen, die zur Begründung dieser Vorwürfe im einzelnen angeführt worden sind, [..] sich für keinen von ihnen eine genügende Stütze“ ergebe. Infolgedessen stellt der StGH klar: „Auf Art. 48 Abs. 1 RVerf. kann hiernach die Verordnung vom 20. Juli 1932 nicht gegründet werden.“704 Die Strategie der Reichsregierung, mit der Berufung auf Art. 48 Abs. 1 WRVeine größere Legitimationsbasis für ihr Vorgehen zu schaffen und, so ist zu vermuten, außerdem ihre Macht „situationsgemäß“ weiter auszubauen, war durch diese Urteilsbegründung also gescheitert. Gleichwohl kann von einer Niederlage der schung der beiden Vorschriften und insbesondere für die Auffassung, daß der Umfang der dem Reichspräsidenten zustehenden Befugnisse nach den beiden Vorschriften der gleiche sei“, nichts abgeleitet werden könne. „Die Prüfung, ob die Voraussetzungen des Art. 48 vorliegen“, sei daher „für jeden der beiden ersten Absätze gesondert vorzunehmen.“ Entscheidung in der Hauptsache: PcR, S. 511. 702 Auch die Begründung ist jener Anschütz’ ähnlich: Die Ermessensfrage sei „mit dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte der Vorschrift unvereinbar und würde mit der in der Reichsverfassung geregelten Rechtsstellung der Länder innerhalb des Reichs nicht in Einklang stehen. Das Vorhandensein des im Art. 48 Abs. 1 aufgestellten Tatbestandes der Nichterfüllung gesetzlicher Pflichten ist wegen des darin enthaltenen rechtlichen Merkmals der gerichtlichen Nachprüfung zugänglich.“ Entscheidung in der Hauptsache: PcR, S. 511. 703 Entscheidung in der Hauptsache: PcR, S. 512. 704 Entscheidung in der Hauptsache: PcR, S. 513. Eine weitere Konsequenz dieser Entscheidung war, daß sich „eine Stellungnahme des Staatsgerichtshofs zu der Frage, welche Befugnisse für den Reichspräsidenten der Abs. 1 in sich schließt und ob und inwieweit bei einem Vorgehen auf Grund dieser Vorschrift gewisse Formen zu beobachten sind“, erübrigte. Vgl. ebd.
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Reichsregierung kaum die Rede sein, denn die Berufung auf den zweiten Absatz des Artikels 48 hielt der StGH durchaus für legitim. Es sei „offenkundig, daß die Verordnung vom 20. Juli 1932 in einer Zeit schwerer Störung und Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erlassen worden ist“ und zugleich „die ernste Gefahr“ bestanden habe, „daß die innerpolitische Spannung sich noch weiter steigern und zu einer Bedrohung der Grundlagen unseres Verfassungslebens auswachsen werde“. Aus diesem Grund seien die „Voraussetzungen für ein Einschreiten auf Grund des Art. 48 Abs. 2 […] ohne weiteres gegeben“ gewesen.705 Für den StGH impliziert diese Feststellung, daß es ebenso legitim gewesen sei, die preußische Landesregierung abzusetzen.706 Hieran würde sich auch dann nichts ändern, so die Richter weiter, „wenn die Behauptung Preußens zuträfe, daß die Gefahrenlage zum mindesten zu einem Teil auf die eigenen innerpolitischen Maßnahmen der Reichsregierung zurückzuführen sei“707. Dieser bemerkenswerte Hinweis ist wohl als Antwort auf Brechts Kritik zu verstehen, in der er genau diesen Sachverhalt mit einiger Plausibilität, doch offenbar vergebens dargelegt hatte. Auch den Vorwurf des Ermessensmißbrauchs – nun bezogen auf den Abs. 2 des Art. 48 – wies der StGH zurück und stritt damit ab, daß andere Zwecke als die von der Reichsregierung angegebenen für ihre Verordnung bestimmend waren.708 Entgegenkommen gegenüber der preußischen Seite zeigte der StGH lediglich in der Frage der Vertretung im Reichsrat. Die Einsetzung eines Reichskommissars zur Vertretung der preußischen Landesregierung im Reichsrat stehe nicht im Einklang mit der Verfassung, weil die Stellung des Landes im Reich dadurch wesentlich beeinträchtigt werde und die Unabhängigkeit gegenüber dem Reich nicht länger gewahrt sei. Reichskommissare könnten daher das Land im Reichsrat nicht vertreten.709 Daraus folge auch, daß dem Reichskommissar nicht das Recht habe über705
Entscheidung in der Hauptsache: PcR, S. 513 f. Zur Begründung heißt es: „Der Reichspräsident konnte in dieser Lage nach pflichtmäßigem Ermessen zu der Auffassung gelangen, daß es geboten sei, zu diesem Zweck nicht nur die polizeilichen Machtmittel Preußens in die Hand des Reichs zu legen, sondern die gesamten staatlichen Machtmittel des Reichs und Preußens in einer Hand zusammenzufassen und die Politik des Reichs und Preußens in einheitliche Bahnen zu lenken.“ Entscheidung in der Hauptsache: PcR, S. 514. 707 Entscheidung in der Hauptsache: PcR, S. 514. 708 Die Richter führen aus: „Eine Ermessensüberschreitung würde dann vorliegen, wenn sich ergäbe, daß in der Verordnung vom 20. Juli 1932 Maßnahmen getroffen seien, die offensichtlich über den Zweck der Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hinausreichen. Für eine solche Annahme fehlt es an einem Anhalt. Insbesondere ist eine Ermessensüberschreitung nicht darin zu erblicken, daß die Verordnung den Reichskommissar nicht nur gegenüber dem preußischen Ministerpräsidenten und dem preußischen Minister des Innern, sondern auch gegenüber allen anderen preußischen Ministern zu einem Einschreiten ermächtigt hat.“ Entscheidung in der Hauptsache: PcR, S. 514. 709 Die Richter erklären: „Die Einrichtung des Reichsrats zielt nach seiner Zusammensetzung und seinen Aufgaben darauf ab, eine Gewähr dafür zu schaffen, daß die besonderen Belange der einzelnen Länder neben denen des Reichs gebührend berücksichtigt werden. Das soll dadurch erreicht werden, daß dort die Stimmen durch die von der Reichsgewalt unab706
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tragen werden können, „die bisherigen Bevollmächtigten im Hauptamt in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen oder neue Bevollmächtigte zum Reichsrat zu bestellen“710. Doch gleich darauf macht der StGH der Reichsregierung gegenüber erneut ein Zugeständnis, indem er – ohne dabei seinen Namen zu nennen – auf das von Schmitt aufgeworfene Konzept der Zuständigkeitsnorm abhebt. Unter „dem Gesichtspunkt der Zuständigkeitsverschiebung“ lasse sich die Verordnung vom 20. Juli 1932 „innerhalb der Grenzen, die sich aus diesem Begriff ergeben“, rechtfertigen. Das bedeutet: „Die Befugnisse der preußischen Minister in Landesangelegenheiten konnten unter Belassung der gegenwärtigen Minister in ihren Amtsstellungen vorübergehend von der Landesstaatsgewalt abgetrennt und dem Reichskommissar als Reichsorgan übertragen werden.“711
Das Urteil des StGH läßt sich also folgendermaßen zusammenfassen: Die Verordnung der Reichsregierung wurde unter Berufung auf Art. 48 Abs. 2 WRV grundsätzlich als rechtlich legitim erachtet. Zurückgewiesen wurde aber die Inanspruchnahme, als Reichskommissar die Landesregierung im Reichsrat vertreten zu können. Die Bezugnahme auf Art. 48 Abs. 1 WRV wurde dagegen ohne Einschränkung als rechtlich illegitim eingestuft. Den Vertretern Preußens wurde damit recht gegeben, daß eine Pflichtverletzung des Landes Preußen nicht vorlag. Die Ausweitung der Macht des Reichs wurde mit diesem Urteil gleichwohl nicht verhindert. Nach Einschätzung von Gabriel Seiberth hatte der StGH in der „Frage der Voraussetzungen des Art. 48 Abs. 1“ mit dem Urteil „eine entscheidende Weichenstellung vorgenommen“; denn, so Seiberth weiter, in „den Kommentaren zur Weimarer Reichsverfassung war nämlich bis zur StGH-Entscheidung die Frage des Verschuldens bei Art. 48 Abs. 1 nicht behandelt worden“. Die Bedeutung des Urteils veranschlagt er als entsprechend hoch: „Der Hintergrund war die Argumentation der Reichsvertreter, dass die Divergenz von Landespolitik und Reichspolitik – in einer Krisensituation eine objektive Gefährlichkeit – die Exekution rechtfertigen konnte. Gemäß dieser Beweisführung bestünde eine Rechtfertigung für eine Exekution selbst dann, wenn das Land keinerlei verfassungsfeindliche Absichten hegte bzw. verfassungsfeindlichen Bestrebungen noch nicht einmal ,innerlich unfrei‘ gegenüberstand, sondern sich lediglich weigerte, seine Politik derjenigen des Rei-
hängigen Landesregierungen geführt werden, Reichskommissare sind Organe des Reichs und von der Reichsgewalt abhängig.“ Entscheidung in der Hauptsache: PcR, S. 516. 710 Entscheidung in der Hauptsache: PcR, S. 517. 711 Entscheidung in der Hauptsache: PcR, S. 516. Wie bereits erwähnt, unterliegt diese „Abtrennung von Zuständigkeiten“ aber der Einschränkung, daß „die verfassungsmäßige Landesregierung als Organ des Landeswillens bestehen bleiben“ und „ihr die Vertretung des Landes gegenüber dem Reich, insbesondere im Reichsrat und Reichstag […] sowie gegenüber anderen Ländern belassen werden“ muß. Ebd.
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ches anzugleichen. Was hier geltend gemacht wurde, war somit eine Grenze des Rechts auf eigene Politik.“712
Geht es nach Seiberth, wurden in dem Urteil des StGH durchaus kritische Akzente gegen die Reichsregierung gesetzt. Aus seiner Sicht hätte der StGH der „Argumentation des Reichs folgen können, ohne dass ihm eine offensichtliche Fehlinterpretation hätte vorgeworfen werden müssen“. Daß er dies nicht tat, sei „ein Ausdruck für die erkennbare Tendenz zur Einengung der Befugnisse des Reiches zugunsten der Möglichkeiten einer eigenständigen Politik der Länder“713. Deutlich kritischer beurteilt Hagen Schulze die Entscheidung des StGH. Für ihn steht fest: „Die eigentliche Macht in Preußen blieb jedoch nach dem wahrhaft salomonischen Leipziger Richterspruch bei der Reichsregierung; da die Rechtmäßigkeit der Einsetzung von Reichskommissaren im Grundsatz, wenn auch nicht in der Art der Durchführung, bejaht wurde, fiel die Exekutivgewalt in Preußen dem weiterbestehenden Reichskommissariat zu […]. In der Praxis bedeutete das: Von nun an gab es in Preußen zwei legale Regierungen.“714
Bracher bemängelt, daß „eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der präsidialen Verordnung selbst“ unterblieben sei, und erkennt in den Ausführungen der Urteilsbegründung ein deutliches „Primat der Staatsräson und bürokratischer Effektivität“715. Ähnlich kritisch äußert sich Heiko Holste, der die Folgen des Urteils in dem Sinne zusammenfaßt, „dass Reichskommissare das Land regierten, ohne Regierung zu sein, und eine Landesregierung bestand, die das Land nicht regieren durfte“. Das Urteil sei „die groteske Konsequenz eines positivistischen Rechtsverständnisses, das die Verfassung allein nach ihren Buchstaben auslegte, die dahinterstehenden Ideen und Sinnzusammenhänge – verächtlich ,Politik‘ genannt – aber völlig ausblendete“716. Weniger negativ konnotiert, doch im Hinblick auf das rechtstheoretische Verständnis der Richter ähnlich argumentiert auch Schuller: „Der Stil des Urteils entsprach ganz überwiegend dem am positiven Gesetz orientierten Stil der Vertreter Preußens […].“717
712 Seiberth, Anwalt, S. 174 f. Aufgrund der in den Verfassungskommentaren fehlenden Auslegung der Frage des Verschuldens in Art. 48 Abs. 1 kritisiert Seiberth auch Brechts Argumentation der Grenzen und Möglichkeiten einer Pflichterfüllung als „nicht überzeugend“ und „nicht schlüssig“. Vgl. ebd. 713 Seiberth, Anwalt, S. 176. Seiberth vermutet, daß „diese für manchen unerwartete Entscheidung der Richter auf Differenzen untereinander zurückzuführen“ ist: „So scheint es etwa, dass der Vorsitzende, Erwin Bumke, prinzipiell durchaus der Auffassung des Reiches zugeneigt war, während Reichsgerichtsrat Schwalb der Preußenaktion kritisch gegenüber stand.“ Ebd., S. 177. 714 Schulze, Otto Braun, S. 762. 715 Bracher, Auflösung, S. 558. 716 Holste, Reichsreform, S. 78. Zur Kritik an diesen und an weiteren Thesen von Holste siehe Kapitel I.3.b)cc). 717 Schuller, Schmitt in Leipzig, S. 41.
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Diesen kritischen Bewertungen des Urteils aus späterer Sicht sollen nun Einschätzungen aus zeitgenössischer Perspektive gegenübergestellt werden. Während Schmitt in sein Tagebuch notiert, daß er über das Urteil und den verlorenen Reichsrat so traurig gewesen sei, daß er „kaum sprechen“ konnte,718 berichtet Brecht in seiner Autobiographie, daß es ihm nach Vernehmen der Entscheidung des StGH „glücklich über den Rücken“ gerieselt habe.719 Überraschend ist hier weniger die ausgeprägte Emotionalität auf beiden Seiten – denn daß sie dazu neigen, haben sowohl Brecht als auch Schmitt bereits während des Prozesses mehrfach unter Beweis gestellt – als ihre Beurteilungen der Entscheidung. Es wäre zu erwarten gewesen, daß die Reaktionen genau gegenteilig ausfallen, denn in der Hauptsache hatte sich nicht die preußische Regierung, sondern die Reichsregierung durchgesetzt. Eine solche Einschätzung findet sich etwa bei Walter Jellinek, der in seinem Prozeßbericht bilanziert: „Bei unbefangener Betrachtung sollte man meinen, daß die auf der Seite der Reichsregierung Stehenden mit dem Urteil zufrieden waren, da es dem Reiche im wesentlichen gab, was dieses für sich beansprucht hat, und da es der kommissarischen Regierung auch für ihre künftigen Maßnahmen eine vor Anzweiflungen im wesentlichen geschützte Grundlage bietet. Wenn man vom Gefühlswert der Ehrenrettung der preußischen Minister absieht, hatte das Reich, realpolitisch betrachtet, zu 95 v. H. gesiegt.“720
Von hoher Relevanz scheint für Brecht gleichwohl jenes Argument gewesen zu sein, das Jellinek eher beiläufig erwähnt: der „Gefühlswert der Ehrenrettung der preußischen Minister“. Hier bietet sich also ein Ansatzpunkt, von dem aus Brechts zunächst positive Bilanzierung der Prozeßergebnisse zu erklären ist.721 Doch wie argumentiert er hier genau, und welche Schwerpunkte setzte er darüber hinaus in seiner rückblickenden Bewertung des Prozesses? Um diesen Fragen nachzugehen, 718
Eintrag vom 25. 10. 1932, zit. nach Pyta/Seiberth, Staatskrise (I), S. 447. Brecht, Kraft, S. 229. 720 Jellinek, Der Leipziger Prozeß, S. 908. Die Zweifel seitens der Reichsregierung hält Jellinek demzufolge für unangebracht: „Aber einige Freunde der Reichsregierung hatten mehr erhofft, und einer von ihnen meinte nach der Urteilsverkündung, ein wahrhaft salomonisches Urteil zerschneide nicht das Kind, sondern gebe es der einen von den Müttern ungeteilt. Für ein solches Urteil fehlte es aber hier am Verzicht der echten Mutter. Jedenfalls entsinne ich mich nicht, an den sechs Verhandlungstagen gehört zu haben, daß die Vertreter Preußens oder die des Reichs den Gerichtshof baten, Preußen lieber der andern Partei ganz zu überlassen als zwischen Kommissariatsregierung und alter Regierung zu teilen. Aber noch aus einem anderen Grunde stimmt der Vergleich nicht. Der Gerichtshof hat ja gar nicht das Kind geteilt, sondern ihm nur eine Locke abgeschnitten und das Kind dem Reichskommissar gegeben und der alten Regierung nur die Locke überreicht.“ Ebd. Mit dieser Anspielung ist wohl Carl Schmitt gemeint, der in sein Tagebuch schrieb, daß er nach dem Urteil zu Bumke gesagt habe: „Die echte Mutter erkennt man daran, daß sie keine Teilung des Kindes zuläßt.“ Eintrag vom 25. 10. 1932, zit. nach Pyta/ Seiberth, Staatskrise (I), S. 447. Diese deutlichen Worte von Jellinek sprechen keineswegs dafür, daß er die skeptische Sicht Carl Schmitts teilte; dies vermutet aber – auf der Grundlage der Tagebucheinträge Schmitts – Wolfgang Schuller (Schmitt in Leipzig, S. 42). 721 Erklärungsmöglichkeiten für Schmitts negative Sicht auf das Urteil des StGH kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden; vgl. dazu aber Seiberth, Anwalt, S. 173 ff und 260 ff. Kritisch dazu allerdings Nippel, Rezension Seiberth (2002). 719
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sollen im folgenden Kapitel Ausschnitte aus zwei Monographien von Brecht herausgegriffen werden, die sich mit dem Prozeß vor dem StGH auseinandersetzen: Seine Autobiographie und seine Schrift „Vorspiel zum Schweigen“. aa) Brechts Urteil im Rückblick „Ich hatte alles erreicht, was ich erwartet hatte. Denn mehr als dies hatte ich nicht erwartet.“722 Mit diesen Worten beschreibt Brecht seine erste Reaktion auf die Entscheidung des StGH. In seiner Autobiographie widmet er dem Urteil ein ganzes Kapitel, das den kämpferischen Titel trägt: „Der Mythos von dem Versagen des Staatsgerichtshofs: Kritik der Entscheidung und ihrer Ausführung.“ Zu Beginn des Kapitels reflektiert Brecht die Bedeutung des Prozesses und beschreibt mit dem ihm eigenen Pathos, daß er auf der Rückfahrt nach der Urteilsverkündung „von dem Bewußtsein“ erfüllt gewesen sei, „dem größten Verfassungsprozeß in der Geschichte beigewohnt und einen Sieg für Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit, meine alten Lebensideale, errungen zu haben“723. Anlaß für diese großen Worte ist wohl auch die negative Bewertung des Urteils, die Brecht stark kritisiert. Den Vorwurf, daß es unmöglich sei, unter der durch den StGH ausgesprochenen „Teilung der Gewalten zwischen dem Reichskommissar und der alten preußischen Regierung“ zu regieren, weist Brecht zurück: „Wenn das ein Vorwurf gegen den Staatsgerichtshof und nicht gegen die Verfassung sein soll, so geht er fehl. Denn jede dieser beiden extremen Entscheidungen wäre mit der Verfassung nicht vereinbar gewesen. Der Gerichtshof hätte zwar, wie Preußen es beantragt hatte, wegen der Vermischung zulässiger und unzulässiger Maßnahmen die Verordnung so, wie sie stand, im ganzen für verfassungswidrig, aber er hätte sie nicht für verfassungsmäßig erklären können. Hätte er sie aber, wie sie war, für verfassungswidrig erklärt, so hätte es doch dem Reichspräsidenten freigestanden, darauf sofort eine neue Verordnung zu erlassen, die nur das enthielt, was er tun durfte […]. Das Ergebnis wäre dieselbe Gewaltenteilung gewesen wie nach der Entscheidung des Staatsgerichtshofs.“724
Brechts Kritik gilt demnach zwar nicht der Entscheidung des StGH, aber doch der Ausführung dieser Entscheidung durch Papen und Franz Bracht, den stellvertretenden Reichskommissar Preußens.725 Beide hätten „alle nur denkbaren Schikanen“ benutzt, „um ihre illegitimen politischen Absichten durchzuführen“.726 Neben dieser 722
Brecht, Kraft, S. 229. Brecht, Kraft, S. 233. 724 Brecht, Kraft, S. 234. 725 Vgl. zu Bracht ARW, Biographien. 726 Brecht, Kraft, S. 235. Brecht erläutert: „Zu einer loyalen Ausführung der Entscheidung hätte es gehört, daß der Reichspräsident die Verordnung in neuer Fassung veröffentlichte und dabei die vom Staatsgerichtshof für unberechtigt erklärte Bezugnahmen auf Artikel 48 Absatz 1 (Pflichtverletzung des Landes Preußen) und Ermächtigung des Reichskommissars zur Amtsenthebung der Minister wegließ und die vom Staatsgerichtshof aufgezählten übrigen Beschränkungen in den Wortlaut aufnahm. Das geschah aber nicht. Der Reichspräsident ließ den 723
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Korrektur der Urteilsbewertung ist für Brecht vor allem der folgende Punkt zentral: die Diskussion über den nach Bekanntgabe der Verordnung vom 20. Juli 1932 ausgebliebenen gewaltsamen Widerstand der preußischen Minister. Brecht verteidigt das Verhalten der preußischen Minister mit der schon vorgetragenen Begründung, daß andernfalls ein Bürgerkrieg ausgebrochen wäre. Der vielzitierte Ausspruch Carl Severings, ,er weiche nur der Gewalt‘727, der im Kontrast steht zu der Kritik, daß Severing kampflos das Feld geräumt habe,728 ist für Brecht Anlaß, dem von ihm hochgeschätzten Innenminister729 zur Seite zu stehen: „Als […] Papen den Belagerungszustand über Berlin verkündete und Bracht mit einem von ihm ernannten neuen Polizeipräsidenten und zwei Polizeioffizieren im Amtszimmer Severings erschien, betrachtete dieser das als genügenden Beweis der Gewaltanwendung und verließ das Haus. Eine heroische Szene, die mit einer körperlichen Überwältigung oder gar Mißhandlung, Verwundung oder Niederschießung geendet hätte, ließ sich in diesem Augenblick leicht aufführen. Jeder, der Severing kannte, weiß, daß kein Mangel an persönlichem Mut ihn davon abgehalten hat. Was ihn abhielt, war die verantwortliche Erkenntnis eines alten Gewerkschaftsführers, daß ein solcher Vorgang das Signal zu einem Aufstand der Arbeiter gewesen wäre, daß dieser Aufstand militärischer Gewalt begegnet und am nächsten Morgen eine Militärdiktatur Hindenburg-Schleicher-Rundstedt errichtet worden wäre.“730
Während Willy Brandt, der nach dem Zweiten Weltkrieg mit Brecht in durchaus freundschaftlichem Kontakt stand,731 sich darüber empört, „daß nichts wert ist, wer Text ruhig unverändert stehen. Es hätte sich weiter gehört, nachdem der Staatsgerichtshof die Amtsenthebung der Minister als verfassungswidrig annulliert hatte, daß ihnen der Reichskommissar ihre Amtsräume wieder zur Verfügung stellte und die Kommissare sich mit anderen geeigneten Räumen begnügten. […] Nichts hätte eine friedliche Ausführung der Staatsgerichtsentscheidung in diesem Punkt verhindert. Es wäre ferner ein selbstverständlicher Akt guter Manieren gewesen, daß die Reichskommissare die preußischen Minister aufgesucht und so mindestens die rudimentärsten persönlichen Beziehungen aufgenommen hätten, wie das selbst bei feindlicher Besatzung üblich ist. Auch das geschah nicht. […] Nichts verhinderte die Reichskommissare, sich ziviler zu verhalten.“ Ebd., S. 235 f. 727 Hier zit. nach Bracher, Auflösung, S. 512. 728 So etwa Willy Brandt, der ihm in seinen Erinnerungen eine „kampflose Entsagung der Macht“ vorwirft. Vgl. Brandt, Willy: Erinnerungen, Frankfurt a. M. 1989, S. 95. 729 In seiner Autobiographie schreibt Brecht über Carl Severing voller Bewunderung: „Aber seine kurzen Äußerungen waren immer sachlich prägnant und relevant. Ihre Bescheidenheit erhöhte nur die Wirkung. Ich hatte ihn schon vom Reiche aus oft beobachtet. Sein Kopf war für mich einer der schönsten, ausdrucksvollsten Männerköpfe, denen ich begegnet bin. In der immer enger werdenden Beziehung zu ihm im preußischen Kabinett, wo ich neben ihm saß, ferner bei den Reichsreformarbeiten und schließlich bei der Auflösung des preußischen Kabinetts unter den Nationalsozialisten und hinterher, entwickelte sich diese Zuneigung zu einem Gefühl, das ich nur als Liebe bezeichnen kann.“ Brecht, Kraft, S. 21. 730 Brecht, Kraft, S. 211. 731 Dies geht aus dem Briefwechsel zwischen Brandt und Brecht hervor, der sich im Nachlaß von Brecht befindet. Vgl. BAK, NLB, N 1089/16. In einem Brief an Eberhard Schmidt erklärt Brecht, es sei „ein Glücksfall für die Bundesrepublik und die ganze westliche Welt“ gewesen,
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sich nicht wehrt“732, bekundet Brecht seine Verwunderung darüber, daß in den Kritiken der Historiker „gewöhnlich nur von der Passivität der Sozialdemokraten, nicht der Bürgerkreise die Rede“ sei. Er fährt fort: „Sind es immer nur die Arbeiter, die die schmutzige Arbeit tun müssen? Am 20. Juli 1944, zwölf Jahre später, dachte man nicht so. Warum in Betrachtungen über den 20. Juli 1932?“ Als besonders störend empfindet Brecht dabei den Anachronismus, der hier aus seiner Sicht zum Ausdruck kommt. Für „die Erörterung der Frage schuldhafter Verursachung“ gälten Grundsätze, die in diesem Fall mißachtet worden seien: „Es ist eine Grundforderung historischer und politischer Wissenschaft, daß bei der Zumessung schuldhafter Verantwortung der Kritiker von der Lage auszugehen hat, wie sie zur Zeit der Handlung oder Unterlassung aussah, nicht, wie sie sich nachher tatsächlich entwickelt hat, ohne daß dies vorhergesehen werden konnte.“733
Zwar sei es von heute aus betrachtet „vielleicht besser gewesen, wenn die preußischen Minister trotz der voraussichtlichen Niederlage zum aktiven Widerstand aufgerufen hätten“, aber es sei „ungerechtfertigt, aus diesen Gründen den Ministern jene bitteren Vorwürfe zu machen“734. Das wichtigste Argument, das Brecht hierzu vorbringt, ist die These, daß Hindenburg, Papen und Schleicher noch nach dem „Preußenschlag“ eine Machtübernahme Hitlers hätten verhüten wollen; sie hätten gar „in einem durchaus ernst gemeinten Kampf gegen eine totale nationalsozialistische Herrschaft“ gestanden.735 Hitlers Machtergreifung sei „noch bis Anfang 1933 unwahrscheinlich“ gewesen;736 infolgedessen ist für Brecht klar: „Wenn das aber so war, warum sollten dann die preußischen Minister durch gewaltsamen Widerstand ein Blutbad der Arbeiter und die Errichtung einer Militärdiktatur provozieren, statt den Staatsgerichtshof anzurufen? Sie konnten damals noch nicht wissen, daß Papen im Januar 1933 Schleicher in seinem Kampf gegen Hitler in den Rücken fallen würde [..].737 Dagegen konnten sie mit Sicherheit voraussehen, daß ihr gewaltsamer Widerstand mit der Niederwerfung der aufgerufenen Polizei und Arbeiter enden werde; ja, sie hatten allen Grund zu fürchten, daß dieser Kampf zum Einsatz nicht nur des Stahlhelms, sondern auch der SA zusammen mit der Reichswehr, und damit zur Teilnahme der Nationalsozialisten an der Diktatur führen werde. Gewaltsamer Widerstand würde also gerade das herbeigeführt haben, was sie verhindern wollten. Es ist unlogisch, ihnen Pflichtverletzung vorzuwerfen, weil sie sich dazu nicht provozieren lassen wollten.“738
daß Brandt „die Leitung der Politik übernahm“. Arnold Brecht an Eberhard Schmidt, München, 26. 5. 1972, BAK, NLB, N 1089/25. 732 Brandt, Erinnerungen, S. 95. Hinweis auch bei Holste, Reichsreform, S. 75. 733 Brecht, Kraft, S. 212. 734 Brecht, Kraft, S. 213. 735 Brecht, Kraft, S. 212 f. 736 Brecht, Kraft, S. 213. (Im Orig. hervorgehoben.) 737 Vgl. dazu Brechts Ausführungen in ders., Kraft, S. 250 f. 738 Brecht, Kraft, S. 213 f.
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Bereits in seiner 1948 ins Deutsche übersetzten Studie „Vorspiel zum Schweigen“ hatte Brecht der Kritik an den preußischen Ministern vehement widersprochen. Nur wenige hätten sich „die Mühe gegeben, die Sachlage so zu rekonstruieren, wie sie damals war“ – um diesen Mangel zu beheben, rekapituliert Brecht: „Es war gewissermaßen ein dreieckiger Kampf. Die demokratischen Parteien bekämpften Papen. Aber vor allen Dingen kämpften sie gegen Hitler. Papen kämpfte in erster Linie gegen die Kommunisten und Sozialdemokraten. Aber er bekämpfte auch Hitlers Streben nach unbeschränkter Gewalt.“739
Mit der Anrufung des Staatsgerichtshofs sei die Absicht verbunden gewesen, „die verfassungsmäßigen Grundlagen der Regierungsgewalt in Deutschland aufrecht zu erhalten und Hindenburg in verfassungsmäßige Grenzen zurückzuzwingen“740. Die preußischen Minister seien gewiß gewesen, „daß der Aufruf zu aktivem Widerstand das sofortige Ende der Republik und die Niedermetzelung der waffenlosen Arbeiter zur Folge haben würde“. Die Legitimation ihres Verhaltens war damit nach Brecht eindeutig gegeben: „Sie glaubten, die Verantwortung für diesen sicheren Ausgang nicht übernehmen zu können, solange es eine Alternative gab, die für die demokratische Republik ein besseres Ergebnis versprach. Und eine solche Alternative schien es zu geben. Man konnte hoffen, daß Mäßigung und die Anrufung des Staatsgerichtshofs Papen, und mit ihm die Nationalsozialisten, in eine kritische Situation hineinmanövrieren würden.“741
Geht es nach Brecht, wurde diese Hoffnung auch nicht enttäuscht. So seien Hindenburg und Papen bis zur Entscheidung des Gerichts „zu großer Vorsicht in ihren weiteren Maßnahmen“ gezwungen gewesen und hätten beinahe täglich „ihre besondere Verfassungstreue“ zu zeigen versucht.742 Darüber hinaus habe das Urteil des StGH „einen erheblichen Einfluß auf die Wahlergebnisse“ der Reichstagswahlen im November 1932 gehabt, die für die Nationalsozialisten „der erste große Rück739
Brecht, VzS, S. 99. Brecht, VzS, S. 99. 741 Brecht, VzS, S. 100. In seiner Schrift „Föderalismus, Regionalismus und die Teilung Preußens“ (amerik. 1945; dt. 1949) fiel Brechts Urteil noch zögerlicher aus: „Man kann darüber streiten, ob die Maßnahmen der preußischen Regierung stets weise gewesen sind und ob nicht am Schluß diese Regierung besser auch mit anderen als nur mit verfassungsmäßigen Mitteln gekämpft hätte […].“ Er betont allerdings auch, daß der Kampf der Preußen „gegen den Faschismus ernst war und selbst dann noch fortgesetzt wurde, als die Reichsregierung und die meisten Länderregierungen schon dem Druck nachgegeben hatten“. Vgl. Brecht, Föderalismus, S. 53. Gegenüber Carl Severing erklärt Brecht seine Position damit, daß dieses Buch – ebenso wie sein Buch „Vorspiel zum Schweigen“ – „nicht für Deutschland sondern mitten im Kriege für Amerikaner und Engländer“ geschrieben worden sei. Er fährt fort: „Grösste Kürze und grösste Klarheit der Darstellung und Herauslassung alles nebensächlichen und verwirrenden waren unumgänglich notwendig, und ebenso eine klare Trennung zwischen Dummheit und Gemeinheit, da man hier dazu gekommen war, das ganze Deutschland sittlich abzuschreiben, und jeden politischen Idioten für einen absichtlichen Lumpen zu halten.“ Arnold Brecht an Carl Severing, 6. 3. 1950 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/26. 742 Brecht, VzS, S. 101. 740
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schlag“ gewesen seien.743 Auch aus diesem Grund hätten die „preußischen Demokraten“ also recht getan, den StGH anzurufen, denn nicht nur die Nazis hätten „eine schwere Niederlage“ erlitten, sondern auch Papen „war durch seine Niederlage in dem preußischen Rechtsstreit und in den Wahlen so sehr in Mißkredit gekommen, daß der Reichspräsident ihn fallen lassen mußte“744. Nicht erst in seiner Autobiographie, sondern bereits in dieser frühen Studie hatte Brecht erklärt, daß Hindenburg und Papen den Nationalsozialismus hätten bekämpfen wollen: „sie wollten die Nationalsozialisten überwinden, indem sie ihnen den Wind aus den Segeln nahmen und einen konservativeren Kurs steuerten, als er bisher eingehalten worden war“745. In eine ähnliche Richtung geht seine Einschätzung Kurt von Schleichers. Ohne in seiner Beurteilung unkritisch zu sein,746 ist für ihn klar, daß eine mögliche Diktatur Schleichers immer noch besser gewesen wäre als die Diktatur Hitlers: „Was man auch von Schleichers Charakter und von seinem Anteil an Intrigen denken mag, so war er doch zweifellos entschlossen, Faschismus und Totalitarismus abzuwenden. Er war bereit, sich mit den Gewerkschaften, mit der preußischen Regierung und mit dem gemäßigten Flügel der Nationalsozialisten unter Gregor Strasser zu verständigen, aber nicht mit Hitler.“747
Aus diesem Grund, so Brecht in seinen Erinnerungen, habe er es für gut befunden, „Schleicher zu ermutigen und ihm keine Schwierigkeiten zu bereiten“.748 In seinen 743 Brecht, VzS, S. 104. Die NSDAP hatte bei den Wahlen am 6. 11. 1932 33,1 % erzielt; bei den vorherigen Wahlen am 31. 7. 1932 war sie auf 37,3 % gekommen. Gleichwohl blieb sie auch nach den Novemberwahlen immer noch die stärkste Fraktion. Vgl. zur Übersicht der Wahlergebnisse Kolb, Weimarer Republik, S. 316 f. Für weitere Erläuterungen zu den Wahlen siehe ebd., S. 143 ff sowie Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914 – 1949, München 2003, S. 569 ff. 744 Brecht, VzS, S. 105. 745 Brecht, VzS, S. 92 f. Zum Ende seiner Amtszeit allerdings veränderte sich laut Brecht Papens Haltung gegenüber den Nationalsozialisten. So habe Papen sich selbst und Hindenburg weisgemacht, „der Rückgang der nationalsozialistischen Stimmen sei sein, Papens, Verdienst gewesen, während er tatsächlich eine Folge der barbarischen Untaten war, die soeben im Prozeß vor dem Staatsgerichtshof eine durch die ganze Presse verbreitete Belichtung erfahren hatten. Papen war nur dadurch beteiligt, daß er seit Anfang August endlich seine Pflicht getan hatte, diese Verbrechen nicht mehr zu beschönigen, sondern […] anzuprangern und zu bekämpfen.“ Brecht, Kraft, S. 244. 746 So konstatiert er etwa, daß Schleicher frei von jeglicher „innere[n] Bindung an die Demokratie und ihre Ideale“ gewesen sei, da er sie „ganz einfach niemals ernst nahm“: „Verfassung, Parlament, Parteien, Kabinette waren für ihn nur Hindernisse oder Umwege, die es zu überwinden galt. […] Was dabei die rechtliche und moralische Seite anging, so heiligte für ihn der Zweck, wenn der Zweck vaterländisch oder Stärkung der Armee war, die Mittel. Was vaterländisch gut oder schlecht war, entschied er selbst oder ,die Armee‘.“ Brecht, Kraft, S. 246. 747 Brecht, VzS, S. 105. 748 Er fährt fort: „Als ich daher an einem der ersten Tage seiner Regierung mit zwei oder drei anderen Vertretern des Reichsrats zu der üblichen ersten Begrüßung ins Reichskanzlerhaus
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Überlegungen, welche Alternativen es im Januar 1933 gegeben hätte, sieht Brecht die „beste Zwischenlösung“ denn auch in der fortgesetzten „Präsidialregierung mit Schleicher als Reichskanzler, nötigenfalls unter Auflösung des Reichstags und der totalitären Parteien“.749 Er sei damals wie heute davon ausgegangen, „daß diese Zwischenlösung nach dem Rückschlag, den die Nationalsozialisten in den Novemberwahlen erlitten hatten, möglich gewesen wäre“; doch ihr Erfolg sei dadurch, „daß Papen Hitler aufgewertet und ihn Hindenburg empfohlen hatte, erheblich gefährdet“ gewesen.750 Aus diesem Grund könne man auch den Sozialdemokraten nicht den Vorwurf machen, daß sie einen besseren Ausweg hätten ermöglichen können, etwa durch Verhandlungen mit Schleicher, denn das hätte laut Brecht das Ergebnis nicht verändert: „Ihre Zurückhaltung mag grundsätzlich tadelnswert sein, hat aber an dem negativen Ausgang keinen Anteil gehabt.“751 Es kann hier nicht ausführlich diskutiert werden, was von diesen Einschätzungen zu halten ist, doch ein kurzer Kommentar scheint an dieser Stelle notwendig zu sein – dies allerdings nur exemplarisch und ohne den Anspruch zu erheben, damit Brechts Geschichtsschreibung hinreichend zu kontextualisieren. Zunächst muß vorangestellt werden, daß Brecht mit diesen Äußerungen auf die Historiographie seiner Zeit reagiert. Eberhard Kolb weist in seinem Überblick zur Forschungsgeschichte darauf hin, daß „die Haltung von Preußen-Regierung, SPDund Gewerkschaftsführung“ lange Zeit umstritten war.752 Im Verlauf der 1950er und 1960er Jahre habe sich unter den Historikern die Auffassung durchgesetzt, daß der Verzicht Preußens auf gewaltsamen Widerstand ein Fehler gewesen sei, während die heutige Kritik nach derzeitigem Stand sehr viel gemäßigter ausfalle und das Verhalten der preußischen Minister als „eine – unter den gegebenen Umständen – realistische und verantwortungsvolle Entscheidung“ bewerte.753 Mit seinen Posiging, sagte ich Herrn v. Schleicher, daß die bestehenden Differenzen zwischen den preußischen Ministern und dem Reichskommissariat, die für ihn die Lage erschwerten, nach meinem Urteil sehr leicht ausgeglichen werden könnten, und daß ich ihm dabei gerne behilflich sein würde.“ Brecht, Kraft, S. 247. 749 Diese Feststellung trifft er allerdings nur unter Berücksichtigung der zu diesem Zeitpunkt gegebenen und möglichen Alternativen. Und so stellt er seinen Überlegungen auch voran: „Als ,nächstbeste Regierungsform‘ – nächstbest nach der unmöglich (oder noch nicht möglich) gewordenen echten Demokratie – betrachtete ich (und tue das noch heute) eine Art ,oligarchische Demokratie‘, in der die legale Herrschaftsgewalt den konstitutionellen Kräften gegen totalitäre Gegner verfassungsmäßig vorbehalten wird […].“ Brecht, Kraft, S. 255. 750 Brecht, Kraft, S. 255. 751 Brecht, Kraft, S. 256. 752 Er führt aus: „Die Kontroverse um Möglichkeiten und denkbare Formen des Widerstands gegen die Absetzung der Preußen-Regierung begleitet die Weimar-Historiographie seit ihren Anfängen, denn in der Retrospektive ließ sich die Gleichschaltungsmaßnahme Papens als Auftakt der nationalsozialistischen Machtübernahme deuten.“ Kolb, Eberhard: Die Weimarer Republik, 7. Aufl., München 2009, S. 237. 753 Kolb, Weimarer Republik, S. 238. In „Teilen der Forschungsliteratur“, so Kolb weiter, werde allerdings immer noch „Kritik am Verhalten von Preußen-Regierung und SPD-Führung geübt“ (ebd.). Dem ist hinzuzufügen, daß darunter Positionen zu finden sind, bei denen von
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tionen bewegte sich Brecht also außerhalb vom damaligen geschichtswissenschaftlichen Konsens und reihte sich damit zugleich in die Gruppe der an dem historischen Geschehen „unmittelbar Beteiligte[n]“754 ein, die der Kritik am ausgebliebenen Protest mit dem Hinweis auf dessen Aussichtslosigkeit widersprachen.755 Doch wie verhält es sich mit Brechts Stellungnahmen zu Papen und Schleicher? Inwieweit ist seine These von den (zunächst) antinationalsozialistischen Implikationen des Preußenschlags plausibel? Nach Auffassung von Hans-Ulrich Wehler ist – mit Blick auf die Frage, ob es Alternativen zum NS-Regime gab – „die Alternative einer Militärdiktatur“ nicht „ganz so schnell“ von der Hand zu weisen, obwohl, wie Wehler hinzufügt, „auch hier der Wunsch, man hätte damit die NS-Diktatur vermeiden können, oft der Vater des Gedankens ist“. Kurt von Schleicher habe jedoch durch „seine törichte ,Querfront‘Strategie“ die Möglichkeit einer „lebensfähigen Militärdiktatur“ verhindert, weshalb hier kaum von einer realistischen Gegenoption gesprochen werden könne.756 Überdies habe Schleicher sowohl Hitler als auch Hindenburg radikal unterschätzt, weshalb seine politischen Absichten von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen seien.757 Was Franz von Papen betrifft, konstatiert auch Wehler, daß „nicht nur der Kanzler, sondern auch das Zentrum noch immer mit dem illusionären Vorhaben“ geliebäugelt habe, „den Nationalsozialismus durch die Regierungsbeteiligung zähmen zu können“758. Über die antidemokratische Ausrichtung Papens besteht gleichwohl kein einer „weniger harsche[n]“ und „gerechtere[n]“ Beurteilung (ebd., S. 240) kaum die Rede sein kann. Vgl. dazu die Ausführungen auf den folgenden Seiten. 754 Vgl. Kolb, Weimarer Republik, S. 237 755 So beklagt sich etwa Otto Braun in seinen Erinnerungen: „Nur wer die Sachlage völlig verkennt, sein Wunschbild für Wirklichkeit hält, kann so urteilen. Denn erstens hatte die sozialdemokratische Arbeiterschaft keine Waffen […]. Und zweitens sollte sie sich auflehnen gegen eine vom Reichspräsidenten erlassene Verordnung, die später wohl vom Staatsgerichtshof z. T. aufgehoben, aber in ihrem wesentlichsten und wirksamsten Teil als mit der Verfassung in Einklang stehend von ihm aufrecht erhalten wurde. […] Unter solchen Umständen die treuen Republikaner zum Kampfe mit den Waffen rufen, wäre verbrecherischer Wahnwitz gewesen.“ Mehr auf seine Person bezogen, erklärt Braun schließlich noch: „Freilich, die Welt liebt bei solchen Anlässen dramatische Szenen und pathetische Posen. Aber mir sachlichem Wirklichkeitsmenschen liegt nichts ferner als das. […] Mag mein Tun in jenen schicksalsschweren Tagen Vielen, die lieber dramatisches Auftreten und heldisches Unterliegen bedichten und besingen, nicht ,heroisch‘ erscheinen. Darüber möge die Nachwelt urteilen. So schmerzlich und niederdrückend dieses Verzichten für mich war, vor meinem Gewissen kann ich es verantworten.“ Braun, Weimar, S. 409 f. Siehe dazu auch Schulze, Otto Braun, S. 745 ff. 756 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte IV, S. 587. Zu Erläuterungen der „QuerfrontStrategie“ ebd., S. 533 f. 757 Wehler, Gesellschaftsgeschichte IV, S. 534. 758 Wehler, Gesellschaftsgeschichte IV, S. 532.
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Zweifel,759 und Wehler würde hier wohl auch nicht so weit gehen, von einer willentlichen „Bekämpfung“ des Nationalsozialismus zu sprechen. Dennoch erweist sich die Motivlage der beteiligten Protagonisten bei näherer Betrachtung als außerordentlich komplex, so daß auch Brechts Annahmen nicht ohne weiteres als Fehleinschätzung abgetan werden können. Aus der Sicht von Seiberth ist es naheliegend, „dass die Preußenaktion – zumindest für Schleicher und seinen Kreis – von Anfang an unausgesprochen auch die Funktion hatte, den Nationalsozialisten eine Plattform für ihren Kampf zu entziehen und sich selbst eine Machtbasis für eine drohende Auseinandersetzung zu schaffen“760. Er weist dabei auf Wolfram Pyta hin, der die „Komplexität der Motivlage“ folgendermaßen zusammenfaßt: „[E]inerseits stand der ,Preußenschlag‘ inhaltlich in der Tradition der Reichsreformpläne, wie sie bereits unter Brüning erörtert wurden. Andererseits gehörte die Eliminierung der SPD in Preußen neben der Aufhebung des SA-Verbots zum Antrittsprogramm der Regierung Papen. Schleicher wiederum suchte eine Heranführung der NSDAP an den Staat, zugleich sollte der ,Preußenschlag‘ eine Auslieferung Preußens an die NSDAP und eine drohende Konfrontation verhindern.“761
Aus diesem Grund ist nach Seiberth „die Behauptung zu kurz gegriffen, dass die ,Gleichschaltung‘ Preußens im Juli 1932 der NSDAP den Weg zu ihrer Machtergreifung geebnet hätte“762. In diesem Rahmen kann es nicht darum gehen, die Frage zu beantworten, welcher der hier nur rudimentär skizzierten Sichtweisen763 die höchste Plausibilität zugesprochen werden kann. Gleichwohl sollte deutlich geworden sein, daß es viele Argumente gibt, die für Brechts Sichtweise sprechen, und daß eine allzu rasche Verurteilung der preußischen Minister gerade in Kenntnis des späteren Verlaufs der Geschichte nicht angebracht ist. In dieser Hinsicht müssen die Thesen von Heiko Holste mindestens diskussionswürdig erscheinen: Zwar verurteilt er nicht „den Verzicht auf handfesten Widerstand“, betont aber dennoch, daß eine „deutlichere 759
Vgl. etwa die folgenden Ausführungen Wehlers zum Preußenschlag: „Diese furchterregende Bilanz [des ,Altonaer Blutsonntags‘ vom 17. Juli 1932, H.B.] diente v. Papen am 20. Juli als durchsichtiger Vorwand, die preußische Regierung in einem Staatsstreich zu entmachten. Damit konnte er den stärksten institutionellen Widersacher des autoritären Regimes ausschalten. Das war, für alle Augen erkennbar, die offene Machtprobe im Verhältnis zur Linken.“ Wehler, Gesellschaftsgeschichte IV, S. 531. 760 Seiberth, Anwalt, S. 141. 761 Diese Stellungnahme Pytas findet sich in einem Tagungsbericht von Andreas Rödder, der die hier diskutierten Beiträge zusammengestellt hat: Rödder, Andreas: Reflexionen über das Ende der Weimarer Republik. Die Präsidialkabinette 1930 – 1932/33. Krisenmanagement oder Restaurationsstrategie?, in: VfZ 47, 1999, S. 87 – 101. Hinweis bei Seiberth, Anwalt, S. 141. 762 Seiberth, Anwalt, S. 141. 763 Vgl. zu weiteren Ansätzen etwa den Sammelband von Winkler: Die deutsche Staatskrise 1930 – 1933. Handlungsspielräume und Alternativen, hrsg. v. Heinrich August Winkler unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, München 1992.
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Geste der Selbstbehauptung auf Seiten der verfassungstreuen Kräfte“ geboten gewesen wäre; die „verbliebenen Demokraten“ seien „durch die Passivität ihrer Führer demoralisiert und die Gegner der Verfassung geradezu ermutigt“ worden.764 Daß Holste für seine Thesen Willy Brandt als Gewährsmann heranzieht, schwächt seine zunächst vorgetragene Relativierung der Kritik an den preußischen Ministern sogleich wieder ab, denn Brandt gehört gerade zu jenen Kritikern, die das „passive“ Verhalten der preußischen Regierung scharf verurteilt haben.765 Im Hinblick auf Brechts Verteidigung, daß die Anrufung des StGH notwendig und der einzig gangbare Weg gewesen sei, kommt Holste sodann zu folgendem Urteil: „Dieser heute fast naiv anmutende Glaube an die Verfassung, ihre Institutionen und an die Verfassungstreue ihrer Repräsentanten offenbart nicht nur die tiefverwurzelte rechtsstaatliche Gesinnung, sondern auch die – damals freilich verbreitete – Unterschätzung der Feinde der Republik. Bei einem parteilosen Juristen und Staatsdiener wie Brecht mag dies erklärbar, ja vielleicht verzeihlich gewesen sein, von den politischen Köpfen jener Zeit hat die Geschichtsschreibung später mit Recht mehr Sinn für die realen politischen Machtverhältnisse abverlangt.“766
Abgesehen davon, daß Brecht zwar parteilos, doch keineswegs unpolitisch gewesen ist, fällt Holste mit diesen Behauptungen hinter den aktuellen Erkenntnisstand der historischen Forschung zurück. Denn die These eines angeblich „verhängnisvollen Legalitätsglaubens“ stellte schon Karl Dietrich Bracher – und nicht, wie Eberhard Kolb fälschlicherweise annimmt, Hans-Peter Ehni767 – im Jahr 1956 auf,768 was Holste freilich nicht erwähnt. Inzwischen jedoch hat sich größtenteils eine andere Bewertung der Vorgänge durchgesetzt, so daß die hier vorgetragene Kritik als überholt gelten muß.769 Eine besonders intensive Kontroverse entfachte sich in diesen Fragen zwischen Arnold Brecht und Karl Dietrich Bracher. Damit trafen also nicht einfach zwei Historiker aufeinander, sondern die Analysen eines gleichermaßen historisch wie politikwissenschaftlich orientierten Wissenschaftlers wurden mit dem Urteil eines Beamten und Ministerialdirektors konfrontiert, der an den Geschehnissen, die hier 764
Holste, Reichsreform, S. 75. Vgl. Brandt, Erinnerungen, S. 95. 766 Holste, Reichsreform, S. 75. 767 Vgl. Kolb, Weimarer Republik, S. 238. Kolb nimmt auf folgenden Titel Bezug: Ehni, Hans-Peter: Bollwerk Preußen? Preußen-Regierung, Reich-Länder-Problem und Sozialdemokratie 1928 – 1932, Bonn-Bad Godesberg 1975, S. 271. Zwar zitiert Kolb die entsprechende Passage von Ehni richtig, doch ihm ist wohl entgangen, daß es sich bei Ehnis Dissertationsschrift in Teilen um ein Plagiat handelt. So stammen die zitierten Worte nicht von Ehni, sondern von Bracher. Zum Plagiatsfall von Hans-Peter Ehni vgl. Bethke, Hannah: Die Zahl der originellen Beiträge schrumpft täglich. Manche Plagiate bleiben jahrzehntelang unentdeckt: Zum Beispiel dieses aus der historischen Politikwissenschaft, in: FAZ, Nr. 115, 18. 5. 2011, Beilage Natur und Wissenschaft, S. N5. 768 Vgl. Bracher, Karl Dietrich: Der 20. Juli 1932, in: ZfP 3, 1956, S. 243 – 249 (248). 769 Vgl. Kolb, Weimarer Republik, S. 238 f. Dies gilt auch für Holstes Kritik am Rechtspositivismus, die ebenfalls als veraltet gelten muß. Siehe dazu Kapitel I.3.b)cc). 765
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zur Diskussion stehen, mehr oder weniger unmittelbar beteiligt gewesen ist und darüber hinaus zum Zeitpunkt jener Kontroverse bereits selbst zu einem anerkannten Politikwissenschaftler avanciert war. Um so mehr lohnt es sich, den Gang der Kontroverse genauer in den Blick zu nehmen: bb) Die Kontroverse zwischen Karl Dietrich Bracher und Arnold Brecht In seiner Rezension über „Die Auflösung der Weimarer Republik“ von Bracher wiederholte Brecht einige seiner Ansichten, die er bereits in seiner Schrift „Vorspiel zum Schweigen“ vorgetragen hatte. Bereits der Titel seiner Rezension verrät jedoch, daß es ihm hier um weitaus mehr ging: um einen „Beitrag zur Wissenschaft von der Politik“.770 In diesem Sinne – und nicht als eine „Einschränkung“ seiner „hohen Wertung des Buches“ – sei auch seine Kritik zu verstehen.771 Das „gewaltige Werk“ Brachers, das nicht leicht zu lesen sei,772 sei inhaltlich so umfangreich, „daß die verhältnismäßig einfachen Grundstriche des Gesamtbildes verloren gehen“773. Infolgedessen macht Brecht es sich zur Aufgabe, diese selbst herauszustellen: Ausgehend von der „tragische[n] Grundtatsache“, daß die demokratischen Parteien im Reichstag der Weimarer Republik „niemals die Mehrheit hatten“774, kritisiert Brecht, daß die Fragestellung an einer ganz anderen Stelle anzusetzen sei: Man müsse sich nicht darüber wundern, daß das Regierungssystem zusammenbrach – 770
Der genaue Titel der Rezension lautet: „Die Auflösung der Weimarer Republik und die politische Wissenschaft“. Vgl. Brecht, Auflösung (Rezension), S. 291. Die Redaktion der Zeitschrift maß sowohl dem Werk Brachers als auch der Stellungnahme Brechts so hohe Bedeutung bei, daß sie seine siebzehnseitige Rezension, die eher den Charakter eines Aufsatzes hatte, an die „Spitze der Nummer“ setzte. Der Grund sei unter anderem darin zu suchen, daß „bei dieser Gelegenheit ein so fundamentales Problem, wie das der Berechtigung undemokratischer, illegaler und revolutionärer Maßnahmen zur Rettung zwar nicht einer chemisch reinen Demokratie, aber doch der elementaren Menschenrechte zur Sprache kommt. Es steht […] auch hier reale gegen formale Demokratie, eine innere Legalität gegen eine äußere, und es erhebt sich die Frage, ob man einem Ideal, das zu gewisser Zeit vielleicht nur ein Fetisch ist, die Vernichtung aller menschlichen Werte, wie sie der Nationalsozialismus gebracht hat, opfern darf. [sic!]“ Anmerkung der Redaktion, ebd. 771 Brecht, Auflösung (Rezension), S. 296. 772 So seufzt er, daß man „kaum mehr als zehn bis zwanzig Seiten an einem Tage aufnehmen“ könne (Brecht, Auflösung (Rezension), S. 292). Auch dem Redaktionschef der „Zeitschrift für Politik“ gesteht er, daß Brachers Buch zwar „schon allein wegen seiner sorgfältigen Verarbeitung der gesamten Literatur eine gewaltige Leistung sei“, doch, „die Wahrheit zu sagen, es im Zusammenhange ganz und sorgfältig zu lesen, ist eine erkleckliche Arbeit, selbst für jemanden, der sich für alle Einzelheiten interessiert und den Stoff gut kennt“. Der „kleine Druck“ erschwere das zusätzlich. Arnold Brecht an Dietrich Mende, New York, 10. 1. 1956, BAK, NLB, N 1089/17. (Da Brechts Rezension bereits im Dezember 1955 erschienen ist, sie zum Zeitpunkt seines hier zitierten Briefes hingegen noch nicht fertig war, ist die im Brief angegebene Jahreszahl vermutlich falsch und wohl eher auf das Jahr 1955 zu datieren.) 773 Brecht, Auflösung (Rezension), S. 296. 774 So auch schon Brecht, VzS, S. 170 ff.
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denn in einer solchen Konstellation fehlender Mehrheiten sei dies „nach seinen eigenen Spielregeln gewiß“ –, sondern „daß es so lange am Leben blieb“. Diese Einsicht hat für Brecht unmittelbare Konsequenzen für die Schuldfrage: „Es ist daher grundsätzlich fast widersinnig, nach einzelnen Ereignissen oder Personen zu suchen, die am Scheitern der Demokratie Schuld waren. Es wäre logischer, danach zu suchen, welche Ereignisse und Personen dazu beigetragen haben, daß die Dinge trotz des Widerspruches zwischen Spielregeln und tatsächlichen Mehrheitsverhältnissen so lange angingen.“
Wütend fügt er hinzu: „Geschichte würde wieder Geschichte werden, statt in eine wilde Jagd nach Sündenböcken zu degenerieren. Nicht der Zusammenbruch der Demokratie zugunsten einer mehr autoritären Regierungsform würde als solcher das Rätsel sein, das einer Aufklärung bedarf, sondern die Tatsache, daß von allen in Frage kommenden Lösungen die allerschlimmste, Hitlers totale Machtergreifung, Wirklichkeit wurde. Die Frage nach der Verantwortung hierfür bleibt um so berechtigter.“775
In dieser deutlichen Zurückweisung der von Bracher erhobenen Vorwürfe kommt zum Ausdruck, daß es sich für Brecht nicht nur um einen Disput über wissenschaftliche Detailfragen handelt, sondern ganz grundlegend um das Bild, das von der Weimarer Republik gezeichnet wird. Geht es nach Brecht, so steht das Ansehen der Demokraten jener Zeit auf dem Spiel – und zwar zu Unrecht. Den Wunsch, ein positiveres Bild von der Weimarer Demokratie zu zeichnen, entwickelte er allerdings nicht erst während der Kontroverse mit Bracher, sondern schon in seinem Buch „Vorspiel zum Schweigen“, dessen amerikanische Erstausgabe noch vor Ende des Zweiten Weltkrieges erschienen ist. Anders als bei Bracher ist in der Auseinandersetzung mit Brecht zu berücksichtigen, daß seine Argumentation beeinflußt wird von dem unmittelbaren Miterleben dessen, was hier aus der Perspektive des Historikers auf dem Prüfstand steht. In einem Brief an Brecht brachte Hermann Heimpel auf den Punkt, um welche Differenz es in diesem Fall geht: „Es ist wohl der erste, für den Historiker außerordentlich lehrreiche Fall, daß die Ergebnisse eines nur aus den Akten arbeitenden Historikers, und das sind wir für die ältere Zeit alle, mit den Einsichten eines Handelnden konfrontiert werden.“776 Aus diesem Grund muß davon ausgegangen werden, daß Brecht – knapp 40 Jahre älter als Bracher – seine Kritik auch in der Absicht vortrug, sein eigenes Verhalten zu verteidigen, und das bedeutet in diesem Fall auch: Schuld von sich zu weisen.777 775
Brecht, Auflösung (Rezension), S. 297. Hermann Heimpel an Arnold Brecht, Göttingen, 11. 6. 1956, BAK, NLB 1089/20. Brecht hatte Heimpel seine Rezension über Bracher geschickt, die dieser „mit großer Zustimmung“ gelesen habe. 777 Um einer vorschnellen Kategorisierung vorzubeugen, sei an dieser Stelle daran erinnert, daß hier nicht eine – nicht eingestandene – Affinität zu den Nationalsozialisten zur Diskussion steht, sondern die Frage, an welchen Stellen die Schwächen der Weimarer Demokratie so eklatant wurden, daß es zum Zusammenbruch des demokratischen Systems kam. Wie Brecht 776
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Gleichwohl argumentiert Brecht nicht nur mit den Einsichten, die er „als Handelnder“ gewonnen hat, sondern auch mit Blick darauf, vor welche Aufgabe die Wissenschaft in diesen Fragen gestellt sei. Anknüpfungspunkt ist für ihn dabei nicht die Geschichtswissenschaft, sondern die politische Wissenschaft. Auf Grundlage des von ihm erörterten Tatbestands fehlender Mehrheiten müsse die politische Wissenschaft sich im Rückblick auf zwei Fragen konzentrieren. Die erste Frage laute: „Was hätte man tun können, und wer hätte es tun können, um aus der demokratischrepublikanischen Minderheit eine Mehrheit zu machen?“ Bracher begehe dabei gelegentlich den Fehler, „die mangelnde große demokratisch-republikanische Linie in der Regierungspolitik zu tadeln, die doch nur möglich gewesen wäre […], wenn es eine demokratische-republikanische Mehrheit gegeben hätte“. Die zweite Frage müsse für die politische Wissenschaft lauten: „Was kann und soll eine demokratischrepublikanische Minderheit unter einer demokratischen Verfassung tun, wenn sie die Mehrheit nicht gewinnen kann?“ Darauf könne es nur eine – „furchtbar harte, aber einzig logische“ – Antwort geben: Die Minderheit sei dann gezwungen, „das nächstbeste System“ einzuführen, „ehe die Gegner die Möglichkeit haben, das vom demokratischen Standpunkte schlechtestes an die Stelle zu setzen“. Ein Zugeständnis gegenüber Bracher macht Brecht an dieser Stelle insofern, als jener kritisiert hatte, daß die preußischen Minister „zu lange an dem Postulate der Legalität festhielten“, was ja nichts anderes heißt, als die Forderung aufzustellen, sich außerhalb des rechtlichen Systems zu bewegen.778 Neben den fehlenden demokratischen Mehrheiten sieht Brecht eine weitere „Grundtatsache“ der Weimarer Demokratie darin, „daß diejenigen, die die persönliche Verantwortung für die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler tragen […] in gutem Glauben handelten insofern, als keiner von ihnen wollte, daß Hitler die totale Macht bekommen […] sollte“779. Die leichte Ambivalenz, die für Brechts Auseinandersetzung mit der Frage von Verantwortung und Schuld – im vorliegenden Fall allerdings ausschließlich bezugnehmend auf die Zeit vor Hitlers „Machtergreifung“ – grundsätzlich charakteristisch ist, zeichnet sich auch hier ab, denn obwohl er betont, daß die Verantwortlichen780 in gutem Glauben gehandelt hätten, attestiert er ihnen zugleich einen gewissen Grad an „politische[r] Dummheit“ angesichts der verheerenden Unterschätzung der tatsächlichen Machtkonstellationen. Auch damit müsse sich die politische Wissenschaft beschäftigen: sich darüber hinaus der Frage nach dem Umgang mit der NS-Vergangenheit stellt, wird ausführlich in Kapitel II.2 untersucht. 778 Brecht, Auflösung (Rezension), S. 297 f. (Hier auch alle vorherigen Zitate.) 779 Brecht, Auflösung (Rezension), S. 299. Diese Überlegungen griff Brecht zwölf Jahre später in seinem Aufsatz „Gedanken zur Verantwortung für Hitlers Ernennung zum deutschen Reichskanzler“ wieder auf (zur vollständigen Literaturangabe siehe die Brecht-Bibliographie im Anhang). 780 Als Personen, die für die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler verantwortlich waren, nennt Brecht Papen, Hugenberg, Oskar von Hindenburg, Meißner, Schacht und Hindenburg. Brecht, Auflösung (Rezension), S. 299.
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„Das zuzugeben mag nicht leicht sein; aber Wissenschaft muß Wahrheit zugeben. Was übrig bleibt, ist also partielle politische Dummheit plus menschliche Eitelkeit, einmündend in grobe Fahrlässigkeit. Dies aufzuzeigen ist ebenfalls die Aufgabe politischer Wissenschaft.“781
Abgesehen von der Kritik an der fehlenden Berücksichtigung der von ihm dargelegten „Grundtatsachen“ moniert Brecht auch, daß Bracher sich in einige grobe Widersprüche verstrickt habe.782 Am meisten Anstoß nimmt er dabei an Brachers These, daß das Ausbleiben eines gewaltsamen Widerstands auf seiten der preußischen Minister ein entscheidender Fehler gewesen sei. Seine Argumentation sei „dreimal unlogisch und widerspruchsvoll“. Bracher sei selbst „mit Recht überzeugt, daß der gewaltsame Widerstand, den er empfiehlt, aller Wahrscheinlichkeit nach niedergeschlagen worden wäre“; und so kann auch die Argumentation, die er trotz dieser Einsicht vorträgt,783 nach Brecht nicht überzeugen. Zwar sei es von heute aus gesehen „durchaus gerechtfertigt, zu sagen, daß eine gewaltsame Erhebung der Arbeiter am 20. Juli 1932 für Deutschlands künftiges Geschick besser gewesen wäre“ – und zwar auch deshalb, weil dies „schon im Juli 1932 zu einer Militärdiktatur Schleicher […] geführt hätte, die erheblich erträglicher gewesen wäre, als später Hitlers totalitärer Wahnsinn“784. Doch wie bereits auf der Grundlage seiner Autobiographie dargelegt, in der er diese Überlegungen nochmals aufgriff, betont Brecht auch, daß eine Machtübernahme Hitlers – wie Bracher selbst erkläre – bis Anfang Januar 1933 noch unwahrscheinlich gewesen sei. Da die preußischen Minister dies nicht hätten wissen können, sei es unlogisch, ihnen einen Vorwurf zu machen. Besonders eklatant sei darüber hinaus jener Widerspruch, der sich in der Frage des Legalitätsprinzips offenbare. So werfe Bracher insbesondere den Sozialdemokraten auf der einen Seite vor, „daß sie an Legalitätsprinzipien festhielten, statt aus der Erkenntnis der tatsächlichen Machtverhältnisse […] die Konsequenz zu ziehen, eine nichtparlamentarische Herrschaft (also, parlamentarisch gesprochen, eine Diktatur) aufzurichten, die, gestützt auf das Militär, die totalitären Parteien niederhalten konnte“.785
Auf der anderen Seite aber verlange er von ihnen in bezug auf den 20. Juli „gerade das Umgekehrte, daß sie den Reichspräsidenten und Schleicher bei den Versuchen, 781
Brecht, Auflösung (Rezension), S. 300. Brecht leitet dies mit den bemerkenswerten Sätzen ein: „Denken ist nicht schwer. Auch viel denken und klug denken ist für einen gescheiten Kopf nicht schwer. Aber folgerichtig und ohne Widerspruch denken ist furchtbar schwer. […] Auch Bracher ist dem nicht entgangen.“ Brecht, Auflösung (Rezension), S. 300. Kritisch müßte hier hinzugefügt werden: Dasselbe gilt – insbesondere für sein Hauptwerk „Politische Theorie“ – auch für Brecht. Vgl. Kapitel II.3.a). 783 Brecht faßt Bracher so zusammen: Als Fehler sei der ausgebliebene Widerstand deshalb anzusehen, „weil ein heroischer Kampf und Untergang der künftigen deutschen Geschichte eine bessere Grundlage gegeben hätte als die gemeinhin als schwächlich empfundene Passivität unter bloßer Anrufung gerichtlicher Entscheidung“. Brecht, Auflösung (Rezension), S. 301. 784 Brecht, Auflösung (Rezension), S. 301. 785 Brecht, Auflösung (Rezension), S. 302. 782
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diktatorisch Ordnung herzustellen, mit einem aussichtslosen Bürgerkrieg bekämpften“786. Brecht hält diesen Thesen entgegen, daß die preußischen Minister alles ihnen Mögliche getan und verantwortungsvoll gehandelt hätten; ihr Ziel sei gewesen, „Hindenburg und die Reichsregierung (das Militär eingeschlossen) […] von den Nationalsozialisten fern und im Rahmen der Verfassung zu halten“787. Damit seien sie nicht nur „konsequentere Denker als ihre späteren Kritiker“, sondern auch „bessere Christen als ihre damaligen Gegner“ gewesen.788 Weitere – im Vergleich zur Hauptkritik jedoch ungleich kleinere – Mängel des Buches sieht Brecht ferner in einigen Punkten der Darstellung über folgende Themen: Reichsreform, Gesetzgebung und Verwaltung, Arbeitslosigkeit, Präsidentenwahl von 1932, Wahlgelder, Deutschlandbund sowie allgemein verfassungsrechtliche Fragen.789 Eher am Rande, für den Verlauf der Kontroverse jedoch vermutlich weitaus entscheidender, als es hier den Eindruck erweckt, reflektiert Brecht darüber hinaus das Verhältnis von Geschichtsschreibung und selbst erlebter Geschichte – und damit auch die Frage der Generationen, mithin die Differenz, die zwischen seiner Generation und jener Brachers liegt. Bracher komme das Verdienst zu, „der erste Geschichtsschreiber der Weimarer Republik aus der jüngeren Generation zu sein, welche die Ereignisse nicht selber erwachsen miterlebt und die leitenden Persönlichkeiten nicht persönlich gekannt hat“. Den noch lebenden Zeitgenossen erwachse demgegenüber die Pflicht, die in der Geschichtsschreibung naturgemäß – da die Historiker sich nur auf gedrucktes Material berufen könnten – bestehenden Lücken zu füllen, um der Entstehung von historischen Zerrbildern entgegenzuwirken.790 786
Brecht, Auflösung (Rezension), S. 302. Brecht, Auflösung (Rezension), S. 302. In einer Fußnote ergänzt Brecht ein Detail in bezug auf den Ablauf des 20. Juli. So habe er bei der Entscheidung, den StGH anzurufen, selbst nicht mitgewirkt: „Sie war schon getroffen, als ich – durch eine andere Sitzung aufgehalten – zu der Sitzung der preußischen Staatsminister im preußischen Innenministerium […] dazukam. Sie fragten mich, was voraussichtlich der Staatsgerichtshof sagen werde, und ich sagte ihnen das, ziemlich genau im Einklang mit dem, was tatsächlich geschah; nur habe ich nicht angenommen, daß es bis zum Oktober dauern würde. Dann entwarf ich auf Wunsch der Minister die Antwort an Papen, und führte später den Prozeß. Aber die Entscheidung war schon getroffen, als ich hinkam.“ Ebd., S. 302 f. 788 Brecht, Auflösung (Rezension), S. 304. 789 Vgl. zu weiteren Ausführungen Brecht, Auflösung (Rezension), S. 305 ff. Eine für Bracher (wie auch für den Verlag) etwas peinliche Korrektur fügt Brecht außerdem noch in einer Fußnote an: „Ein Pogrom ist kein Progrom, wie das Wort hartnäckig bei Bracher gedruckt ist.“ Ebd., S. 308. 790 Brecht, Auflösung (Rezension), S. 305. Auch Bracher ist sich der Bedeutung dieses Generationengefälles bewußt. So erklärt er in einem späteren Brief an Brecht, er bedauere es, „daß so viele der damals Beteiligten […] bis jetzt noch so wenig zur Ausfüllung der mir durchaus bewußten Lücken getan haben. Mein Buch war nicht zuletzt auch als Provokation in diesem Sinn gemeint.“ Karl Dietrich Bracher an Arnold Brecht, Berlin-Dahlem, 31. 7. 1956, BAK, NLB, N 1089/16. In eine ähnliche Richtung geht das Urteil von Hermann Mosler, dem Direktor des Max-Planck-Institus für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in 787
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Bracher zeigte sich von dieser kritischen Stellungnahme zu seinem Buch wenig begeistert und antwortete Brecht in einer kurzen Abhandlung, die ebenfalls in der „Zeitschrift für Politik“ erschien. Daß Brecht ihn kaum zu überzeugen vermochte, zeichnete sich bereits in einem Briefwechsel ab, den die beiden in dieser Sache führten. Hier versichert Brecht zunächst, daß trotz seiner Kritik an Bracher „die bei weitem dominierende Note die der Anerkennung und des hoechsten Lobes“ sei. In bezug auf die Frage des ausgebliebenen Widerstands der preußischen Minister sei es jedoch notwendig gewesen, „ganz deutlich zu sein, um ueberhaupt verstanden zu werden“ – wenn sich auch seine Zuversicht in dieser Hinsicht eher in Grenzen hält: „[I]ch bin mir bewusst, dass ich hier einen fast aussichtslosen Kampf kaempfe (jedenfalls fuer den Augenblick) und dass Sie die ueberwaeltigende Zahl der Leser auf Ihrer Seite haben und behalten werden.“791 In seiner Antwort bekräftigt Bracher seine These, „daß die verantwortliche Regierung in Preußen keineswegs den einzig richtigen, sondern eben einfach den bequemsten und gewissermaßen konventionellen Ausweg gewählt habe: die juristische anstelle der politischen Entscheidung“. Hinsichtlich des offenbar von Brecht unterbreiteten Vorschlags, eine Erwiderung auf seine Rezension in derselben Zeitschrift zu veröffentlichen, äußert Bracher sich in seinem Brief noch skeptisch: da keine neuen Gesichtspunkte „im Hinblick auf die strittige Beurteilung des 20. Juli 1932 in der Diskussion aufgetreten“ seien, würde dies wenig Sinn ergeben.792 Diese Ansicht scheint er wenig später revidiert zu haben, denn noch im selben Jahr wurde seine Replik auf Brecht veröffentlicht.793 Hier reagiert Bracher zunächst auf Brechts Kritik, daß es wissenschaftlich unsauber sei, mit den Maßstäben der Gegenwart – und ausgestattet mit dem Privileg, den späteren historischen Verlauf zu kennen – geschichtliche Begebenheiten zu messen. Bracher hält ihm entgegen, „daß eine nachträglich zusammenfassende Beurteilung vom historischen und noch mehr vom politisch-wissenschaftlichen Standpunkt nicht von der weiteren Entwicklung, den Folgen und vollends nicht von den zusätzlichen Kenntnissen absehen kann, die uns heute Heidelberg, der in einem Brief an Brecht konstatiert: „Ihre so einleuchtende Feststellung, dass jetzt eine Generation die Geschichte dieser Zeit schreibt, die nur aus dokumentarisch festliegenden Quellen schöpfen kann, ist tatsächlich alarmierend. Diejenigen, die sich noch an die Vorgänge erinnern, erhalten ein anschauliches Beispiel für die begrenzte Erkenntnis der Geschichtswissenschaft überhaupt. Auf der anderen Seite sind die Urteile aller Beteiligten und aller Beobachter subjektiv verengt. Vielleicht lockt das Brachersche Buch noch die Zeugnisse einiger Überlebender heraus, um für einen späteren Geschichtsschreiber das Bild abzurunden. Das wäre dann ein weiterer Erfolg des Buches.“ Hermann Mosler an Arnold Brecht, Heidelberg, 30. 6. 1956, BAK, NLB, N 1089/22. 791 Arnold Brecht an Karl Dietrich Bracher, z. Zt. Wyk auf Foehr, 16. 7. 1956, BAK, NLB, N 1089/16. 792 Karl Dietrich Bracher an Arnold Brecht, Berlin-Dahlem, 31. 7. 1956, BAK, NLB, N 1089/16. Auch Bracher beteuert allerdings ebenso seine Wertschätzung gegenüber Brecht und betont mehrmals, daß er seine Rezension als „außerordentliche Anregung“ empfunden habe. Ebd. 793 Vgl. Bracher, Karl Dietrich, Der 20. Juli 1932, in: ZfP 3, 1956, S. 243 – 249.
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anders als damals eine überschauende Analyse der Auflösung der Weimarer Republik und ihrer Ursachen erlauben“.794
Nach seiner Auffassung hat jeder Historiker eine „Urteilspflicht“795, von der er auch dann nicht entbunden ist, wenn es um die Frage nach Handlungsmöglichkeiten innerhalb eines bereits vergangenen Zusammenhangs geht. Brecht berücksichtige das nicht, sondern denke statt dessen in „starren Alternativkategorien“, was dem „verwirrenden Gefüge des geschichtlich-politischen Geschehens“ nicht entspreche und auch Brachers Gedankengänge verfehle.796 Interessanterweise sieht Bracher an dieser Stelle die Ursache für den Dissens zwischen ihm und Brecht nicht etwa in dem schon erwähnten Gefälle zwischen erlebter und geschriebener Geschichte, sondern in einer fachlichen Differenz – nämlich jener zwischen der Politikwissenschaft und der Geschichtswissenschaft. Die aus seiner Sicht bedenkliche Konstruktion von „Alternativkategorien“ weist er dabei dem Feld der Politikwissenschaft zu, während er sich selbst als Historiker versteht, für den andere wissenschaftliche Prämissen gälten.797 Auf diese Weise gerate „der politische Wissenschaftler“ – also Brecht – „in einen aussichtslosen Streit mit dem Historiker, der hier die konkrete Beweismöglichkeit vermißt“798. Diese Entgegensetzung ist um so erstaunlicher, als Bracher – von Haus aus Althistoriker – bereits 1950 an das Institut für Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin gewechselt war und mit seinem Forschungsprojekt über das Ende der Weimarer Republik „eine Tradition fruchtbarer Kooperation zwischen Politikwissenschaft und Zeitgeschichte“ begründet hatte.799 Aus diesem Grund liegt die Vermutung nahe, daß es hier – wenn die Ursache für die differierenden Urteile überhaupt darin zu suchen ist – weniger um die Differenz zwischen der Politik- und Geschichtswissenschaft geht als um eine uneinheitliche Bestimmung dessen, was 794
Bracher, 20. Juli, S. 243. Bracher, 20. Juli, S. 247. 796 Bracher, 20. Juli, S. 246 und 244. 797 Ähnlich argumentiert er mit Blick auf Brechts Kritik, seinen Ausführungen mangele es an Logik. Bracher zieht demgegenüber in Zweifel, „ob Geschichte und die geschichtlich Handelnden wirklich (und vollends in dem bewegten Jahr 1932) stets am Maßstab strenger Logik gemessen werden können“. Er erläutert: „Papen und Schleicher haben sich gewundert, daß ihr Vorgehen so widerstandslos hingenommen wurde. Ist es nun logisch, dies nicht etwa als Beweis für die überraschende Widerstandslosigkeit und also für die Versäumnisse der Gegenseite zu nehmen, sondern mit Brecht daraus zu schließen, die Papen-Seite sei eben so gut auf alle Eventualitäten vorbereitet gewesen, daß die Kapitulation zu Recht erfolgte?“ Bracher, 20. Juli, S. 245. 798 Bracher, 20. Juli, S. 244. 799 So Süß, Winfried: Zeitgeschichte als Demokratiewissenschaft. Karl Dietrich Bracher und das Ende der Weimarer Republik, in: Danyel, Jürgen/Kirsch, Jan-Holger/Sabrow, Martin (Hg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, S. 47 – 51 (48). Zur Gründungsgeschichte des Berliner Instituts für Politische Wissenschaft siehe Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft, S. 284 ff. Ende der 1950er Jahre ging Bracher an das Seminar für politische Wissenschaft der Universität Bonn und war damit „alleiniger Ordinarius und Gründungsvater“ des Instituts. Vgl. Quadbeck, Ulrike: Karl Dietrich Bracher und die Anfänge der Bonner Politikwissenschaft, Baden-Baden 2008, S. 208. 795
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unter Politikwissenschaft bzw., nach zeitgenössischer Terminologie, unter „politischer Wissenschaft“ zu verstehen ist. Auch dies muß auf den ersten Blick verwundern, denn Bracher hatte nach einem einjährigen Studienaufenthalt an der Harvard-Universität die amerikanische Political Science kennengelernt und für sein Buch über die „Auflösung der Weimarer Republik“ sogar auf ihr Methodenrepertoire zurückgegriffen.800 Damit stand auch er genau wie Brecht unter dem Einfluß amerikanischer Wissenschaftstraditionen, so daß eher zu erwarten gewesen wäre, daß zwischen ihnen ein Konsens im Hinblick auf das Selbstverständnis der Politikwissenschaft besteht. Ungeachtet dieser vorerst ungelösten Differenz801 betraf der wichtigste Konfliktpunkt gleichwohl nach wie vor die Frage, inwieweit der ausgebliebene Widerstand der preußischen Minister als legitim anzusehen ist – mehr noch: zur Debatte stand, ob die Ereignisse am 20. Juli 1932 als ursächlich für den Untergang der Weimarer Republik anzusehen sind. Bracher bekräftigt in seiner Replik erneut seine Thesen, die er bereits in der „Auflösung der Weimarer Republik“ dargelegt hatte, und faßt seine Argumente wie folgt zusammen: Er erkennt in dem „passiven“ Verhalten der preußischen Minister eine „Paralysierung der Widerstandskräfte“, die für die politische Entwicklung jener Zeit symptomatisch sei, da sie als „Symbol jener Aushöhlung und Schwäche“ anzusehen sei, „an der allerdings die Weimarer Republik schon damals, ein halbes Jahr vor Hitlers Machtantritt, zugrunde zu gehen begann“802. Für überraschend und kaum beweisbar hält er Brechts Argument, der Papen-Putsch habe antinationalsozialistische Implikationen enthalten. Die Papenaktion sei „gerade keine Lösung des Dilemmas und schon gar kein Versuch zur Rettung der Weimarer Republik“ gewesen, sondern im Gegenteil als Bemühen zu werten, „den Forderungen der von Papen so intensiv umworbenen Nationalsozialisten entgegenzukommen“803. Die „Kräfteverhältnisse“ seien keineswegs so aussichtslos gewesen, wie von Brecht angenommen, und so sei auch das Ausbleiben von Widerstand nicht als alternativlos anzusehen, sondern vielmehr Ausdruck der „verhängnisvolle[n] Renitenz der demokratischen Gruppen, insbesondere der SPD und der Gewerkschaften“804. Den „Immobilismus“805 der 800
So zumindest Winfried Süß, Zeitgeschichte, S. 48. Wenige Jahre später funktionierte die Verständigung über diese Fragen sehr viel besser. So geht aus einem Briefwechsel hervor, den Bracher und Brecht anläßlich des Erscheinens seiner „Politischen Theorie“ führten, daß sie sich weitestgehend einig darüber waren, worin das Wesen und die Aufgaben der Politikwissenschaft bestehen sollten. Vgl. Karl Dietrich Bracher an Arnold Brecht, Bonn, 7. 4. 1959, BAK, NLB, N 1089/16 sowie Arnold Brecht an Karl Dietrich Bracher, New York, 1. 5. 1959, ebd. 802 Bracher, 20. Juli, S. 244. 803 Bracher, 20. Juli, S. 248 und 245. – Daß die Lage nicht so eindeutig war, wie Bracher hier annimmt, und Brechts Argument nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist, hat die weitere Forschung – wie bereits erwähnt – inzwischen gezeigt. 804 Bracher, 20. Juli, S. 246. 805 Bracher, 20. Juli, S. 244. 801
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Sozialdemokraten wertet Bracher als Ausdruck ihrer „Verantwortungsmüdigkeit“806, mit der sie die tatsächlichen Machtverhältnisse nicht mehr zu erkennen vermochten: „Die Anrufung des Staatsgerichtshofs war in dieser Lage keine politische Antwort, sondern nur eine Flucht in wirkungslose juristische Scheinlösungen. Es war vorauszusehen, daß dadurch vollzogene Tatsachen auch nicht mehr rückgängig gemacht werden konnten.“807
Diese Darlegungen führen ins Zentrum seiner Kritik, die im Kern um die Frage der „Legalität“ kreist. Wie bereits zitiert, erkennt Bracher in dem Verhalten der preußischen Minister einen „verhängnisvollen Legalitätsglauben“, dessen verheerende Konsequenzen ein halbes Jahr später sichtbar geworden seien: So habe die sozialdemokratische Führung geglaubt, „durch die Parole des Stillhaltens auch die Regierung Hitler zu beschwichtigen, so das Verbot der Partei zu verhindern und schließlich sogar die nationalsozialistische Machtergreifung in den Formen der demokratischen ,Legalität‘ halten zu können“808. Brechts Gegenargumentation vermochte Bracher auf der Grundlage dieser Annahmen kaum zu überzeugen – ganz im Gegenteil macht auch er vor scharfer Kritik an Brecht nicht halt und bezeichnet seine Darlegungen als „militante[n] Entlastungsangriff“809. Während die Kontroverse zwischen Brecht und Bracher ungelöst blieb,810 finden sich in der Forschungsliteratur bis heute Ansätze, die in dieselbe Stoßrichtung gehen wie Brachers Kritik – interessanterweise jedoch oftmals, ohne sich dabei explizit auf Bracher zu beziehen.811 Damit zeichnet sich das Bild ab, daß sich Brechts Argumentation keineswegs überall durchgesetzt hat, geschweige denn auf mehrheitliches Verständnis gestoßen ist.812 Bracher war überdies nicht sein einziger Kontrahent – ein 806
Bracher, 20. Juli, S. 248. Bracher, 20. Juli, S. 248. 808 Bracher, 20. Juli, S. 248. 809 Bracher, 20. Juli, S. 249. 810 Gleichwohl bemühte sich Bracher um eine Entschärfung des entstandenen Konflikts und beteuert in einem Brief, „wie dankbar ich für die vielen Anregungen bin, die Sie mir gegeben haben, u. zugleich für das Interesse, das Sie meinen vielleicht etwas stürmisch vorgetragenen Meinungen entgegengebracht haben. […] Vor allem aber bitte ich Sie, meine Antwort in der Zeitschrift für Politik richtig zu verstehen. […] Meiner aufrichtigen Verehrung für Ihr Wirken in der Weimarer Republik und meiner Dankbarkeit für die vielfältige Unterstützung und Anregung, die ich ebenso wie viele andere non-participant observers aus Ihren Schriften erfahren durfte, wollte ich […] wenigstens auf diesem Wege Ausdruck verleihen.“ Karl Dietrich Bracher an Arnold Brecht, Berlin, 5. 7. 1957, BAK, NLB, N 1989/16. 811 Mit Heiko Holste wurde bereits ein Beispiel dafür genannt. Franz Walter liefert ein weiteres Beispiel: In seiner allzu selbstgewissen Verurteilung der angeblich so „passiven“ preußischen Minister verweist er zwar in vorherigen Ausführungen auf Bracher, aber genau in dem Zusammenhang, in dem es um seine Hauptthesen geht, gerade nicht. Als Gewährsmann zieht er statt dessen Hans-Peter Ehni heran – freilich ohne zu merken, daß dessen Worte in Wirklichkeit aus der Feder von Bracher stammen (zum Plagiatsfall von Hans-Peter Ehni siehe oben Fn. 767). Vgl. Walter, Franz: Vom Milieu zum Parteienstaat. Lebenswelten, Leitfiguren und Politik im historischen Wandel, Wiesbaden 2010, S. 103. 812 Vollständig anders verhält sich dies lediglich bei denjenigen, die an dem historischen Geschehen beteiligt waren. Neben Otto Braun findet auch Carl Severing sehr deutliche Worte 807
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ausführlicher Briefwechsel, der in leicht überarbeiteter und gekürzter Form im Kontext der Bracher-Brecht-Kontroverse ebenfalls in der „Zeitschrift für Politik“ abgedruckt wurde, fand in dieser Angelegenheit auch zwischen Brecht und Eberhard Pikart, dem späteren Herausgeber der Tagebuch-Briefe von Theodor Heuss, statt.813 In einem vierseitigen Brief an Brecht greift Pikart im wesentlichen dieselben Argumente wie Bracher auf und kritisiert, daß die preußische Regierung vor dem 20. Juli 1932 „nichts unternahm, um den Massnahmen Papens zuvorzukommen“. Es sehe „vorläufig“ so aus, „als ob man wohl in Preussen das Übel kommen sah, aber trotzdem im Immobilismus verharrte“. Zu einer äußerst scharfen Kritik kommt Pikart sodann mit Blick auf die Anrufung des StGH: „Folgte aber der Prozess auf eine Zeit der Verwirrung und der Ratlosigkeit so lag die Gefahr nahe, dass er so aufgefasst würde, als versuche die Preussische Staatsregierung ihre Ohnmacht hinter Rechtschaffenheit […] und Legalität zu verbergen, denen dann die offenkundige Illegalität des Vorgehens Papens gegenübergestellt wurde.“814
In seiner Antwort stellt Brecht zunächst klar, daß Pikart mit seiner Kritik, es seien keine rechtzeitigen Maßnahmen gegen Papen ergriffen worden, wohl nur Bezug nehmen könne auf die „kurz[e] Zeit vom 1. Juni bis zum 20. Juli“ – dies jedoch, so Brechts Haupteinwand, ohne daß er konkrete Handlungsalternativen nennen würde. Wenn man die preußischen Minister „jetzt nachträglich wegen unterlassener Massnahmen in dieser kurzen Zeit anklagen will, müsste man doch auch sagen, was sie hätten tun können und sollen“ – das gehe aus Pikarts Brief aber nicht hervor. Der „blosse Stossseufzer, es hätte etwas getan werden müssen, ohne dass gesagt wird, was“, und „bloss gefühlsmässig begründete allgemeine Vorwürfe“ hälfen hier nicht weiter. Brecht betont erneut, daß es für die preußischen Minister keine Alternativen gegeben habe, und sieht die Ursachen für den Zusammenbruch der Weimarer Republik an anderen Stellen. So lägen „die entscheidenden Fehler auf der Seite der demokratischen Parteien und Regierungen weiter zurück, ohne Zusammenhang mit dem Papencoup“. Dazu zählen für Brecht unter anderem „Fehler in der Verfassung“, die Verzögerung der Reichsreform und die „Auflösung des Reichstages im Juli und läßt in einem Brief an Brecht seiner Verärgerung freien Lauf: „Ich habe vom Jahre 1945 an sozusagen allein den posthumen Kritikern an den Entscheidungen der Preussen-Regierung Rede und Antwort stehen müssen. […] im Ausland war nach 1933 eine ganze Literatur entstanden, deren Verfasser alle hinterher alles besser wussten, die aber zum grossen Teil in den gefahrvollen Jahren von 1919 bis 1933 durch ihr Verhalten viel dazu beigetragen haben, die Nazis erst in den Sattel zu bringen. Eine Berichtigung der Geschichtsklitterung in dieser Emigrantenliteratur auch durch andere wäre ein verdienstvolles Werk gewesen.“ Carl Severing an Arnold Brecht, Bielefeld, 8. 2. 1950, BAK, NLB, N 1089/26. 813 Vgl. Pikart, Eberhard: Offener Brief an Staatssekretär Prof. Dr. Arnold Brecht: Zum Problem der Ereignisse des 20. Juli 1932, in: ZfP 3, 1956, S. 181 – 183 sowie Brechts Antwort in: ebd., S. 250 – 251. 814 Eberhard Pikart an Arnold Brecht, z. Zt. Berlin, 3. 8. 1956, BAK, NLB, N 1089/23. – Der Brief ist nicht nur an den hier zitierten Stellen, sondern insgesamt ein Paradebeispiel dafür, was Severing wohl meinte, als er in dem oben zitierten Brief von jenen Autoren sprach, die „alle hinterher alles besser wussten“.
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1930“. Wiederum geht es Brecht auch darum, die Kategorie des Fehlers von jener der Schuld zu trennen – denn aus seiner Sicht liegt eine schuldhafte Handlung nicht vor: „[A]lles dies waren vielleicht Fehler, politische Fehler, gegründet auf gutgläubigem Irrtum im Urteil, aber nicht begangen, um die Nationalsozialisten in die Regierung zu bringen. Keiner dieser Fehler berechtigt uns, von moralischer Schuld zu sprechen. Wenn wir von Schuld reden, müssen wir uns an die halten, die wissentlich die Macht und die Regierung an die Nationalsozialisten ausgeliefert haben, einschliesslich derer, die bewusst ihnen und ihren Helfern ihre Wahlstimmen gegeben haben. Auch von ihnen haben viele im Irrtum gehandelt; aber in der Demokratie sind die Wähler politisch verantwortlich dafür, wie sie ihre Stimmen abgeben.“815
Seine Gegner indes zeigten sich auch von dieser Argumentation unbeeindruckt. Bracher moniert, „daß Brecht die klar gestellten Sachfragen Pikarts nicht etwa durch eine Sachantwort widerlegt, sondern sich mit Gegenfragen und mit summarischen Hinweisen auf den Rückgang der republikanischen Wählerstimmen und die bekannten Strukturfehler der Weimarer Republik“ begnügt habe.816 Interessanterweise pflichtet ihm selbst die Redaktion der „Zeitschrift für Politik“ bei – hier vertreten durch Adolf Grabowsky – und meint in einer Anmerkung erklären zu müssen, daß, was „den auch nach unserer Meinung am 20. Juli unbedingt gebotenen Widerstand betrifft, […] die Würde des Widerstandsrechts über jedem formalen Recht stehe und sich nicht formalisieren und legalisieren lasse“. Das deutsche Volk sei „auf Hitlers abgefeimte Benutzung der Legalität hereingefallen“ – oder, so die Redaktion weiter, „wollten Volk und Parteien geradezu darauf hereinfallen, weil sie sich allzu schwächlich zum Widerstand fühlten?“.817 Diese für eine Zeitschriftenredaktion ungewöhnlich offene Parteinahme irritiert auch deshalb, weil sie mit Adolf Grabowsky ausgerechnet durch eine Person repräsentiert wird, deren Einsatz für die Weimarer Demokratie zu wünschen übrig ließ818 – umso mehr hat die sich darin ausdrückende Selbstgewißheit einen äußerst negativen Beigeschmack. Insgesamt wertet Horst Möller die Kontroverse zwischen Brecht und Bracher als eine rein „politische Auseinandersetzung“, während er die Debatte über methodische Fragen den Historikern zuweist, allen voran Werner Conze, mit dem Bracher eine 815
Arnold Brecht an Eberhard Pikart, 19. 10. 1956 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/23. Hier auch die vorherigen Zitate. 816 Bracher, 20. Juli, S. 244. 817 Vgl. Anmerkung der Redaktion, in: Bracher, 20. Juli, S. 249 f. Mit Blick auf die Frage, inwieweit man am 20. Juli 1932 den Weg der Legalität hätte verlassen müssen, heißt es an anderer Stelle auf seiten der Redaktion: „Von der Situation hängt die Maßnahme ab – eine politische Grundwahrheit.“ (Anmerkung der Redaktion, in: Brecht, Auflösung (Rezension), S. 291.) Es erscheint äußerst diskussionswürdig, ausgerechnet in diesem historischen Zusammenhang das Argument der Situationsabhängigkeit heranzuziehen, denn das erinnert doch sehr an Schmitts Theorie des Situationsrechts, die das genaue Gegenteil dessen beinhaltete, was den Verfechtern jener Widerstandsphantasien hier vorschwebt: Nicht die Stabilisierung oder gar Rettung der Demokratie war das Ziel, sondern ihre Aushebelung und Abschaffung. Vgl. dazu Kapitel I.3.a)cc). 818 Vgl. zu Grabowsky Kapitel I.1.c).
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weitere Kontroverse über sein Buch führte.819 Dem Einwand Sebastian Ullrichs, daß diese Zuweisung zu kurz gegriffen sei, da auch die Methodenkritik von Conze einen politischen Hintergrund habe,820 ließe sich hinzufügen, daß dies im Umkehrschluß ebenso für die Kontroverse mit Brecht gilt, denn sie erschöpfte sich genau so wenig in politischen Fragen wie die Conze-Kontroverse in methodischen. Daß die Methodik zumindest eine untergeordnete Rolle spielte, zeigen Brachers kritische Bemerkungen über Brechts „politikwissenschaftliches“ Vorgehen, analytische Kategorien aufzustellen. Umgekehrt läßt auch Brecht erkennen, daß er mit seiner Kritik nicht nur genuin politische Intentionen verfolgt hat – versteht er seine Rezension doch als einen „Beitrag zur Wissenschaft von der Politik“. Darüber hinaus ist interessant, daß Bracher mit seiner Legalitätsthese unausgesprochen genau jene rechtstheoretische Grundannahme zur Voraussetzung macht, von der auch die Rechtspositivisten ausgehen: daß Recht und Politik als strikt voneinander getrennte Bereiche betrachtet werden müßten. Nur so läßt sich erklären, daß Bracher zu dem Ergebnis kommt, die preußischen Minister hätten „die juristische anstelle der politischen Entscheidung“ gewählt. Damit unterliegt er demselben Irrtum wie die Anhänger der rechtspositivistischen Trennungsthese im Prozeß vor dem StGH, die, wie dargelegt wurde, an ihren eigenen Ansprüchen oftmals scheiterten. Denn auch gegenüber Bracher wäre einzuwenden: Es besteht hier nicht, wie von ihm angenommen, ein Ausschlußverhältnis, sondern die von den preußischen Ministern gewählte juristische Entscheidung war eine politische Entscheidung.821 cc) „Fanatiker des Rechts“ oder Opportunist der Macht? Zur Bewertung Brechts als Prozeßvertreter Preußens „Bracht bricht Brecht.“ Diese abgewandelte Formulierung des Rechtssprichworts „Macht bricht Recht“ setzte sich in den Wochen nach der Urteilsverkündung in der politischen Öffentlichkeit durch.822 Sie spiegelt die Entwicklung wider, zu der es 819
Vgl. Möller, Horst: Die Weimarer Republik in der zeitgeschichtlichen Perspektive der Bundesrepublik Deutschland während der fünfziger und sechziger Jahre: Demokratische Tradition und NS-Ursachenforschung, in: Schulin, Ernst (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (1945 – 1965), München 1989, S. 157 – 180 (164). Zur Kontroverse zwischen Conze und Bracher siehe Ullrich, Sebastian: Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945 – 1959, Göttingen 2009, S. 595 ff sowie Kolb, Weimarer Republik, S. 229 ff. 820 Ullrich, Weimar-Komplex, S. 602, Fn. 246. 821 An anderer Stelle sieht Bracher die Komplexität der Sachlage sehr viel klarer und kommt – entgegen seinen hier entwickelten Annahmen – mit Blick auf Verlauf und Ausgang des Prozesses vor dem StGH zu dem Ergebnis: „Die Verhandlung einer schweren politischen Krise im Gerichtsverfahren hatte sich nur scheinbar auf die Auslegung der Rechtsnormen zu beschränken vermocht. In Wirklichkeit stand sie dem politischen Machtkampf zweier in ihren politischen Grundanschauungen prinzipiell verschiedenen Regierungen gegenüber.“ Bracher, Auflösung, S. 559 f. 822 Vgl. Brecht, Kraft, S. 234; Schulze, Otto Braun, S. 767; Bracher, Auflösung, S. 518.
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik
nach den mehr oder weniger ergebnislosen Verhandlungen zwischen Brecht, der sich inzwischen zu einer Art von „Generalbevollmächtigte[m]“ Otto Brauns entwickelt hatte,823 und Franz Bracht, als Reichskommissar zuständig für das preußische Innenministerium,824 gekommen war.825 Brechts Hoffnung, daß sich das Recht gegen die Macht durchsetzen werde,826 konnte nicht erfüllt werden, und auch sein Optimismus, mit dem er bis zuletzt auf eine Reichsreform hinzuwirken bemüht war,827 wurde alsbald von der Realität eingeholt. Ungeachtet der politischen Erfolglosigkeit der um das Recht kämpfenden demokratischen Kräfte stellt sich die Frage, welche Bedeutung Brecht als Prozeßvertreter vor dem StGH beigemessen wurde und inwieweit aus seinen Wortbeiträgen im Prozeß Aussagen über seine rechtstheoretischen und politischen Positionen gewonnen werden können. Exemplarisch sollen dazu vier Quellen herausgegriffen werden, die Brechts Prozeßrolle auf unterschiedliche Weise bestimmen: ein Zeitungsartikel von 1932, die Stellungnahme von Heiko Holste, die Memoiren von Anschütz, Friedensburg und Grzesinski sowie der Briefwechsel zwischen Brecht und Manfred Friedrich. Aufschlußreich ist zunächst ein kurzer Blick in die politisch rechtsstehende Presse. Wenige Tage nach dem „Preußenschlag“ kommentierten die „Deutschen Führerbriefe“: „Für bedauerlich würden wir es halten, wenn der um Preußen, insbesondere um die Fragen der Staats- und Reichsreform sehr verdiente Ministerialdirektor Brecht endgültig aus dem Staatdienst scheiden sollte. Brecht mag persönlich links stehen, aber nach unserer Kenntnis ist diese private politische Überzeugung bei diesem Fanatiker des Rechts und der Staatsautorität in seiner Amtsführung nicht zum Ausdruck gekommen.“828
Für Michael Ruck ist diese Einschätzung eine Bestätigung seiner These, daß es Brecht nicht in erster Linie um den Wert der Demokratie gegangen sei, sondern ein „patriotischer Institutionalismus“ und ein „utilitaristisches Verhältnis zur Frage der Staatsform“ charakteristisch für ihn gewesen sei.829 Demgegenüber sollte zunächst einmal festgehalten werden, für welches Recht Brecht hier eigentlich einzustehen versucht: es ist das geschriebene Recht des demokratischen Verfassungssystems. So gesehen ist sein in den „Führerbriefen“ beschriebener Einsatz für das Recht gerade
823
So Schulze, Otto Braun, S. 776. Ende Oktober 1932 wurde er von Papen außerdem zum Reichsminister ohne Geschäftsbereich ernannt; unter Kurt von Schleicher war er ferner für zwei Monate Reichsinnenminister. Vgl. ARW, Biographien. Siehe dazu auch Bracher, Auflösung, S. 562. 825 Zum Ablauf der Verhandlungen vgl. Brecht, Kraft, S. 236 ff. 826 So Brecht, Kraft, S. 234. 827 Vgl. dazu auch Schulze, Otto Braun, S. 776. 828 Deutsche Führerbriefe vom 2. 8. 1932, Nr. 59, Auszug abgedr. in: BAK, NLB, N 1089/3; kürzerer Auszug auch abgedr. in: Brecht, Kraft, S. 425. 829 Vgl. dazu Kapitel I.2.c). 824
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nicht ein Beleg für mangelnde demokratische Standfestigkeit, sondern genau gegenteilig zu bewerten.830 Ungeachtet dessen geht die Kritik von Heiko Holste in dieselbe Stoßrichtung. So moniert er, daß Brecht sich zwar bemüht habe, „darzulegen, dass das Reich unter Papen letztlich aus illegitimen politischen Motiven gehandelt hatte, doch“, so Holste weiter, „den Kern des Prozesses erblickte er – anders als sein Kollege Hermann Heller – nicht im juristischen Kampf gegen die Feinde der Republik“831. Holste rekurriert dabei auf das von Brecht vorgetragene Argument, der Vorwurf der Pflichtverletzung kränke die Ehre Preußens und die seiner Minister, weshalb es auch darum gehen müsse, diese Ehre wiederherzustellen. Holste zieht daraus den Schluß, daß der Prozeß für Brecht „kein juristischer Kampf um die Macht und die Verteidigung der Republik, sondern ein bloßer Streit um die gekränkte Ehre“ gewesen sei.832 Dazu ist zu sagen, daß diese Behauptung schlichtweg falsch ist. Aus den Redebeiträgen im Stenogrammbericht des Prozesses geht deutlich hervor, daß Brecht sich unermüdlich für die Verteidigung der Republik und ihrer Verfassung eingesetzt hat; nichts rechtfertigt es, Brechts Anliegen auf eine „bloße“ Ehrenrettung zu reduzieren. Genauso falsch ist es, ihn als „typische[n] Repräsentant[en]“ des „juristischen Positivismus“ zu klassifizieren,833 denn wie oben bereits dargelegt wurde, greift diese Kategorisierung viel zu kurz. Doch Holste setzt sogar noch nach und erklärt: „Aber Brechts Glaube an Recht und Staat war verknüpft mit einem bürokratischen Institutionendenken und dem zeittypischen juristischen Positivismus, der das Recht strikt formal und nicht wertorientiert betrachtete. Deshalb war sein reformerisches Wirken in der Verwaltung und beim Verfassungsrecht nicht von einem genuin demokratischen Impetus bestimmt.“834
Abgesehen davon, daß Holste offen läßt, was man sich genau unter einem „genuin demokratischen Impetus“ vorzustellen hat, und er mit dieser Feststellung der längst überholten „Positivismuslegende“ huldigt,835 geht er darüber hinaus auch fehl in der 830
Abgesehen davon läßt sich das Zitat aus den „Führerbriefen“ auch so interpretieren, daß von Brecht vor allem kein politischer (radikaler) Aktionismus zu erwarten war. Dies sagt jedoch nichts über mangelnde Verbundenheit mit der Demokratie aus. 831 Holste, Reichsreform, S. 77. 832 Holste, Reichsreform, S. 77. Etwa später führt er aus: „Aber weil es Brecht gar nicht um die Macht gegangen war, konnte er das fragwürdige Urteil als einen Sieg verbuchen. Die Ehre der preußischen Minister war durch das Urteil wiederhergestellt, die Form war gewahrt.“ Ebd., S. 79. 833 Holste, Reichsreform, S. 78. 834 Holste, Reichsreform, S. 82. 835 Vgl. dazu Dreier, Horst: Rezeption und Rolle der Reinen Rechtslehre. Festakt aus Anlaß des 70. Geburtstages von Robert Walter mit Laudationes von Clemens Jabloner und Ludwig Adamovich sowie einer Bibliographie des Jubilars, Wien 2001 (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Band 22), S. 17 – 34 (30); ders., Naturrecht, S. 138 sowie Heun, Werner: Der staatsrechtliche Positivismus in der Weimarer Republik. Eine Konzeption im Widerstreit, in: Der Staat 28, 1989, S. 377 – 403. – Jener „Legende“ zufolge „trifft den Rechtspositivismus“
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik
Annahme, daß Brecht das Recht nicht wertorientiert betrachte. Zwar formuliert Brecht den Anspruch, Recht und Politik strikt voneinander zu trennen, doch seine gesamte im Prozeß vorgetragene Argumentation ist darauf angelegt, das Recht gerade nicht rein „formal“ zu verstehen, sondern in seinem Bezug auf die Demokratie, die es hier zu verteidigen gilt. Deutlicher wird Brechts Haltung, wenn man den Versuch unternimmt, ihn im Kontext der Weimarer Staatsrechtslehre einzuordnen – wobei es für diese Zwecke ausreicht, sich auf einen Vergleich mit Hermann Heller und Hans Kelsen zu beschränken. Grob zusammengefaßt ergibt sich danach folgendes Bild: Richtig ist, daß eine Parallele zu dem rechtstheoretischen Ansatz von Kelsen insofern besteht, als auch Brecht dem Anspruch nach von rechtspositivistischen Grundannahmen ausgeht. Doch in der Umsetzung zeigt sich, daß von einer Wertneutralität des Rechts bei Brecht kaum die Rede sein kann. Anders als Kelsen836 betrachtet er das Recht nicht losgelöst von der Staatsform, und es ist auch kein Zufall, daß er ihn knapp dreißig Jahre später genau dafür kritisiert: Mit Blick auf Kelsens Theorie der Grundnorm837 moniert Brecht, daß demnach „die Verfassung eines Landes, wie barbarisch sie auch sein mag, juristisch gültig ist und daher alle in Übereinstimmung mit ihr unternommenen Schritte ebenfalls juristisch gültig sind“838. Zwar ist bei dieser Beurteilung die zeitlich spätere Perspektive zu beaufgrund seiner vielfach kritisierten „Wertneutralität“ „eine gleichsam historisch nachweisbare Schuld am wehrlosen Untergang der Weimarer Republik“. Diese These läßt sich nach Dreier jedoch leicht widerlegen, denn „der Rechtspositivismus bildete insbesondere gegen Ende der Weimarer Republik keineswegs die innerhalb der Richterschaft wie in der Zunft der Rechtswissenschaftler vorbehaltlos dominierende Sichtweise der Grundhaltung; vielmehr lässt sich ein dramatisches Erstarken von Richterrecht und naturrechtlichen oder anderen nicht-positivistischen Positionen verzeichnen“. Dreier, Naturrecht, S. 137 f. 836 Vgl. Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre (1934), ND Wien 1967. 837 Vgl. dazu Kelsen, Rechtslehre, S. 23: „Vor allem aber ist zu beachten, daß die Akte, durch die Rechtsnormen erzeugt werden, vom Standpunkt juristischer Erkenntnis überhaupt nur insoferne in Betracht kommen, als sie durch Rechtsnormen bestimmt sind, und daß die Grundnorm, die der letzte Geltungsgrund dieser Normen ist, überhaupt nicht durch einen Willensakt gesetzt, sondern im juristischen Denken vorausgesetzt ist.“ Siehe dazu auch ebd., S. 8 f. Über Kelsen z. B. Dreier, Horst: Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Baden-Baden 1986 sowie Paulson, Stanley L./Stolleis, Michael (Hg.): Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005. Brecht faßt Kelsens Ansatz so zusammen: „Die Geltung des positiven Rechts kann nach Kelsen nur aus einer fiktiven Grundnorm abgeleitet werden, die als Hypothese postuliert wird und vorschreibt, daß die in der Verfassung des jeweiligen Landes enthaltenen Normen befolgt werden sollen. Auf diesem Wege über die Verfassung führt die Grundnorm durch Delegierung der Autorität Stufe für Stufe hinab zu den niedrigeren Rechtsquellen (Stufentheorie).“ Brecht, PT, S. 286. 838 Brecht, PT, S. 192. In Abgrenzung zu Kelsen erklärt Brecht weiter: „Nichts kann uns davon abhalten, unsere Rechtslehre auf die Fiktion einer anderen Grundnorm zu gründen, nach der die Verfassung jedes Landes gültig ist, so weit sie nicht die Verletzung von Mindestgrundsätzen (minimum standards) über die Achtung der Menschenwürde zuläßt. Mehr als das ist nicht nötig, um die Lehren eines modernen Hobbes, wie Kelsen es ist, zu der eines modernen Locke zu entwickeln.“ Brecht, PT, S. 192 f. (Zur Einordnung dieser Überlegungen in Brechts
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rücksichtigen, aus der Brecht seine Auseinandersetzung mit Kelsen vornimmt, doch es wird bereits im Prozeß klar, daß er mit dem so ausgelegten radikalen Rechtspositivismus eines Hans Kelsens nichts gemein hat. Folgt man jedoch Holstes Argumentation, ist in der Frage der Wertgebundenheit des Rechts kaum ein Unterschied zwischen Brechts Ansatz und jenem Kelsens zu erkennen. Holste übersieht die Differenz, die zwischen Brecht und den Verfechtern eines „reinen Rechtspositivismus“ besteht, und verkennt die Komplexität, innerhalb derer Brechts ungeschriebene Theorie des Rechts zu verorten ist. So wäre es zum Beispiel umgekehrt auch zu kurz gegriffen, Brecht auf eine Ebene mit Hermann Heller zu stellen. Hellers Konzept der „Wirklichkeitswissenschaft“ und sein Ansatz, die Staatslehre als politische Wissenschaft bzw. „Politikologie“ zu begründen,839 unterscheidet sich von Brechts Grundannahmen insoweit, als Heller hier eine bewußte Normativierung vornimmt, während dies bei Brecht eher unbeabsichtigt erfolgt und er den normativen Umschlag seiner eigenen Theorie gar nicht bemerkt. Heller kritisiert, daß die gegenwärtige Staatslehre die politische Wirklichkeit ausklammere, und wendet sich strikt gegen die von Kelsen vollzogene Trennung zwischen dem Bereich des „Seins“ und jenem des „Sollens“.840 Um die „Wirklichkeit des uns umgebenden staatlichen Lebens“841 ergründen zu können – denn eben darin liege die Aufgabe der Staatslehre –, müsse diese Kluftlehre überwunden und gleichsam eine Verbindung zwischen Normativität und Empirismus gesucht werden.842 eigene politische Theorie siehe Kapitel II.3.a).) – Brecht spricht damit einen Hauptaspekt an, für den Kelsen oftmals kritisiert worden ist. So ist in bezug auf seine „Reine Rechtslehre“ häufig die Rede von einer ,Staatslehre ohne Staat‘ oder ,Rechtslehre ohne Recht‘ (so z. B. Sontheimer, Kurt: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1978, S. 68). Dazu kritisch allerdings Dreier, der eine solche Auslegung für „haltlos“ erklärt und sie auf eine mangelnde Differenzierung zwischen Rechtsgeltung und Rechtsgehorsam zurückführt: „Die Einstufung einer Norm als ,geltendes Recht‘ sagt danach über die Frage einer Pflicht zur Befolgung und zum Rechtsgehorsam dieser Norm gegenüber gar nichts aus.“ Dreier, Naturrecht, S. 140. 839 Vgl. Heller, Hermann: Staatslehre (1934), in der Bearbeitung von Gerhart Niemeyer, 6. Aufl., Tübingen 1983, S. 12 ff sowie S. 50 ff. 840 Mit der Trennung zwischen „Sein“ und „Sollen“ hebt Kelsen auf die von ihm proklamierte Wertfreiheit der Rechtswissenschaft ab. Als Theorie wolle die „Reine Rechtslehre“ „ausschließlich und allein ihren Gegenstand erkennen. Sie versucht, die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll. Sie ist Rechtswissenschaft, nicht aber Rechtspolitik.“ (Kelsen, Rechtslehre, S. 1.) Diese Kluftlehre ist das Ergebnis der logischen Gesetzmäßigkeit, „daß daraus, daß etwas ist, nicht folgen kann, daß etwas sein soll, so wie daraus, daß etwas sein soll, nicht folgen kann, daß etwas ist“ (ebd., S. 5). 841 Heller, Staatslehre, S. 12. 842 So moniert Heller: „Gegenwärtig ist der Fragebereich der politischen Wissenschaft dadurch eingeschränkt, daß unser Interesse seit etwa einem Jahrhundert fast ausschließlich auf die Frage nach dem empirischen politischen Sein und in viel geringerem Grade auf die Frage gerichtet ist: was soll der Staat sein.“ Er spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „Immanenzauffassung der politischen Welt“. Heller, Staatslehre, S. 33. Siehe dazu auch ebd., S. 36 ff.
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik
Vergleicht man diese Annahmen mit Brechts Ansatz, muß zunächst eine Unterscheidung vorgenommen werden zwischen dem Bereich des Rechts und jenem der Wissenschaft. Auf der Grundlage dieser Differenzierung ließen sich Brechts Positionen so zusammenfassen, daß er die von Heller geschlagene Brücke zwischen „Sein“ und „Sollen“ für das Recht befürworten würde, aber nicht für die Wissenschaft. Brecht war ein strikter Anhänger der wissenschaftlichen Wertfreiheit, doch gleichzeitig ging er von der juristischen Gültigkeit – und auch Begründbarkeit – von universellen Normen wie der Gerechtigkeit und dem Schutz der Demokratie aus.843 Auch diese Ideen brachte er erst in seiner „Politischen Theorie“ zur vollständigen Entfaltung,844 doch mit Blick auf das rechtstheoretische Selbstverständnis, das in seinen Redebeiträgen im Prozeß sichtbar wird, lassen sich bereits zu diesem Zeitpunkt einige Schnittpunkte zu Hellers Ansatz erkennen – auch wenn eine vollständige Entsprechung der theoretischen Positionierungen hier genau so wenig gegeben ist wie bei Kelsen und Brecht. Heiko Holste indes erkennt auch in dieser Hinsicht weder die Ambivalenzen noch die Potentiale der Theorieanlage Brechts und beharrt statt dessen auf eindeutigen Zuweisungen, die ihm eine einfache, aber eben ungenügende Kategorisierung ermöglichen. Darüber hinaus ist nicht nur seine Grundannahme falsch, sondern auch die Schlußfolgerung, die er daraus zieht; denn selbst wenn Brecht ein solcher Anhänger eines reinen Rechtspositivismus gewesen wäre, für den Holste ihn hält, ist daraus logisch nicht der Schluß zu ziehen, daß seine praktische Tätigkeit als Ministerialdirektor und Verwaltungsbeamter nicht von einem „genuin demokratischen Impetus“ bestimmt gewesen sei – und zwar aus dem einfachen Grund, daß hier logisch kein Ausschlußverhältnis besteht. Sehr wohl kann man strikter Rechtspositivist sein und sich gleichzeitig für die Demokratie einsetzen; das eine schließt das andere nicht aus. Aus diesem Grund ist der Kausalnexus, den Holste herzustellen versucht, weder logisch korrekt noch inhaltlich überzeugend. Zwar bemüht er sich in seinem Fazit, Brechts Leistungen zu würdigen: „Im Unterschied zu vielen seiner Kollegen aus der hohen Ministerialbürokratie war Brecht kein bloßer Vernunftrepublikaner, sondern stellte sich mit Überzeugung in den Dienst der jungen Republik und sorgte mit seinem Engagement für die Festigung des demokratischen Staates, dem er bis zum Untergang die Treue hielt.“845
Holste hebt außerdem hervor, daß „Brecht für das Recht der abgesetzten Preußenregierung ohne Rücksicht auf seine berufliche Karriere“ gestritten habe.846 Doch erheblich relativiert wird diese Feststellung dadurch, daß Holste Brecht zugleich
843
Vgl. Brecht, PT, S. 191 ff. Ansätze dafür finden sich zum Teil bereits in früheren Aufsätzen von ihm. Vgl. etwa seinen 1939 erschienenen Aufsatz über „Relative and Absolute Justice“ (vollständiger Literaturnachweis in der Brecht-Bibliographie im Anhang der Arbeit). 845 Holste, Reichsreform, S. 81. 846 Holste, Reichsreform, S. 82. 844
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attestiert, daß dessen Blick durch seine rechtspositivistische Verhaftung gleichsam verengt sei und die politischen Zusammenhänge dabei unberücksichtigt blieben. Daß Brecht nach seiner endgültigen Entlassung im September 1933 einen Brief an das Reichsinnenministerium schrieb, in dem er sich gegen den Vorwurf zur Wehr setzte, er sei „national unzuverlässig“, ist für Holste ein weiterer Beleg für seine These. In der Tat kommt Brecht in diesem Brief den neuen Machthabern so weit entgegen, daß man schon fast von einer Anbiederung an das neue Regime sprechen muß – und nichts davon soll an dieser Stelle beschönigt werden847 –, doch Holste geht fehl in der Annahme, wenn er dies als Ergebnis seines Rechtsverständnisses wertet. So gesehen kann auch sein abschließendes Fazit keineswegs überzeugen: „So zeigt sich bei Arnold Brecht zugleich, wie schwer es auch einem demokratisch gesinnten, bürgerlichen Juristen fiel, mit dem positiven Recht und seinen Institutionen selbst dann zu brechen, als die Gesetze immer mehr zum legalisierten Unrecht und der deutsche Staat zum Instrument der nationalsozialistischen Diktatur wurde.“848
Abgesehen davon, daß wie dargelegt die logische Herleitung dieser Thesen nicht korrekt ist, erweckt Holste mit seiner Argumentation auch den Eindruck, als ginge er von einer Monokausalität der Handlungsabfolge aus; die in diesem Fall offenbar zugrunde gelegte Annahme würde dann also lauten: Strikter Rechtspositivismus führt zwangsläufig zur Beugung vor diktatorischem Recht. Mit einer solchen Reduktion der Handlungsmotive wird Holste jedoch weder Brecht noch dem Bedeutungsgehalt des Rechtspositivismus gerecht, denn es sind zahlreiche Erklärungsmöglichkeiten denkbar, die Brecht zu diesem Schritt bewogen haben mögen. Bevor dieser Aspekt im nächsten Kapitel ausführlicher erörtert wird, soll noch kursorisch untersucht werden, ob es Hinweise gibt, wie Brechts Kollegen seine Prozeßführung beurteilten und wie er sich darüber hinaus selbst eingeschätzt hat. In seinen Memoiren erinnert sich Gerhard Anschütz: „Ich hatte […] öfters die erfreuliche Gelegenheit, mit Dr. Brecht bei der Erörterung staatsrechtlicher und politischer Fragen zusammenarbeiten zu können […], ein Zusammenwirken, das uns auch menschlich immer näher brachte. Der nicht nur durch Klugheit, Wissen und Bildung, sondern auch durch hervorragende Charaktereigenschaften ausgezeichnete Mann ist mir stets als das Musterbild eines hohen Staatsbeamten erschienen.“849
Ferdinand Friedensburg erwähnt in seinen Erinnerungen, daß Brecht die preußische Regierung im Prozeß vor dem StGH „brillant“ vertreten habe,850 und Albert Grzesinski konstatiert mit Blick auf die Reichsreform – die ja für den Prozeß eine entscheidende Rolle gespielt hat –, daß Brecht der einzige Beamte gewesen sei, der 847
Vgl. dazu ausführlich Kapitel I.3.c); dort auch die Zitierangaben. Holste, Reichsreform, S. 82. 849 Anschütz, Gerhard: Aus meinem Leben, hrsg. und eingeleitet von Walter Pauly, Frankfurt a. M. 1993, S. 282. 850 Friedensburg, Ferdinand: Lebenserinnerungen, Frankfurt a. M./Bonn 1969, S. 210. Zum Verhältnis zwischen Brecht und Friedensburg vgl. Depkat, Autobiographie, S. 441 ff. 848
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik
sich „mit dem Problem ,Reich und Länder‘ ernstlich befaßte“, und daß er „vielleicht auch der einzige war, der es vollkommen beherrschte“851. Erneut findet sich hier also eine Bestätigung dafür, daß Brecht in seiner Zeit auf allen Seiten hohe Anerkennung genoß und wohl auch niemand an seiner politischen Standfestigkeit zweifelte. Einen weiteren Einblick in diese Fragen bekommt man in einem Briefwechsel, den der Staatsrechtler Manfred Friedrich mit Brecht geführt hat: Nach Friedrich war Brecht nicht nur einer unter anderen Prozeßbeteiligten, sondern die tragende Figur des Prozesses. So kommt er in seinem Brief an Brecht zu dem überraschenden Ergebnis: „Heller ist keine Zentralfigur im Prozeß gewesen […]. Um Ihre Person ließe sich eine Darstellung des Leipziger Prozesses gruppieren, schon nicht um die des Bürokraten Gottheiner und auch nicht um die Carl Schmitts.“852 Trotz dieser Feststellung, die vor allem deshalb so erstaunlich ist, weil Friedrich damit Brecht eine höhere Relevanz zumißt als Carl Schmitt, erkennt Friedrich eine Besonderheit in der Prozeßrolle Hellers, die sich von der der anderen unterscheide: „Daß Hellers Plädoyers von allen Professorenplädoyers am stärksten eine kämpferische Note trugen, steht wohl außer Zweifel.853 Und auch, daß er wie kein Zweiter die politische Wendepunktbedeutung eines sich der Staatsräson beugenden Urteils des Staatsgerichtshofes – Auslöschung der 14jährigen Erziehungsarbeit der Sozialdemokratie – dem Gerichtshof vor Augen stellte.“854
Auf Friedrichs Frage, wie Brecht Hellers Funktion im Prozeß einschätze, antwortet Brecht zunächst mit Blick auf Hellers grundsätzliche Haltung gegenüber der Weimarer Demokratie: „Heller war […] durchaus eine treibende Kraft in den letzten zwei Jahren der Weimarer Republik in der staendigen Mahnung, dass mehr im Kampfe gegen den Nationalsozialismus
851
Grzesinski, Albert: Im Kampf um die deutsche Republik. Erinnerungen eines Sozialdemokraten, hrsg. v. Eberhard Kolb, München 2001, S. 197. Grzesinski verfaßte seinen Erinnerungsbericht bereits 1933; dieses deutschsprachige Manuskript ist jedoch zu Lebzeiten nicht veröffentlicht worden und wurde erst 2001 von Eberhard Kolb herausgegeben. Siehe die dort enthaltene Einleitung von Kolb (S. 11 – 40). 852 Manfred Friedrich an Arnold Brecht, Frankfurt a. M., 4. 2. 1966, BAK, NLB, N 1089/19 (S. 3). Aus dem Brief geht hervor, daß Friedrich eine Habilitationsschrift über Hermann Heller geplant hatte; er bat Brecht dabei um eine Stellungnahme zu seiner Gliederung und Fragestellung. Trotz der positiven Rückmeldung von Brecht ist aus Friedrichs Vorhaben dann allerdings nichts geworden. 853 An dieser Stelle des Briefes findet sich zustimmend der handschriftliche Vermerk von Brecht: „ja“. 854 Manfred Friedrich an Arnold Brecht, Frankfurt a. M., 4. 2. 1966, BAK, NLB, N 1089/19 (S. 4).
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geschehen muesse, dass man die Gefahr ernster nehmen muesse, als viele sie bis dahin genommen hatten.“855
Hellers aktives Bestreben, „andere fuer diese Arbeit zu gewinnen oder sie anzustacheln“, habe Brecht mit ihm zusammengebracht. Brecht betont – und dies ist für die Beurteilung seiner Prozeßführung von Bedeutung –, daß ihn mit Heller nicht nur die gleiche Gesinnung verbunden habe: „Aber in der Verfolgung dieses Rechtstreits waren wir Bevollmaechtigten alle grundsaetzlich einer Meinung, niemand bedurfte besonderer Anfeuerung, und es handelte sich mehr um eine Rollenverteilung in der Prozessfuehrung, deren Oberleitung ich von Braun fuer die Vertreter des preussischen Staates erhalten hatte. Heller war als Vertreter der SPD mir zwar nicht unterstellt, fuegte sich aber freiwillig voellig ein. Es gab dabei auch keinerlei Misshelligkeiten zwischen uns.“
Im direkten Vergleich mit Heller kommt Brecht außerdem zu dem Ergebnis: „In seiner Prozesshaltung spielte Heller mehr auf das Publikum und die Aussenwelt hin, ich mehr auf die Richter, aber das war eine natuerliche Rollenverteilung, keine sachliche Differenz. Ich war mir von vornherein ziemlich genau klar, was das Maximum war, das ich von dem Staatsgerichtshof erreichen konnte (naemlich das, was wir tatsaechlich erreichten). Was darueber hinausging, liess ich zwar Heller und Badt ungehindert vertreten, blieb aber selbst in der Tonart gemaessigter als sie.“
Diese Selbsteinschätzung deckt sich im wesentlichen mit dem Inhalt des Stenogrammberichts. Interessant ist allerdings der bekundete Konsens mit Heller, der ja aufgrund seines Temperaments und seiner teils äußerst polemischen Redebeiträge nicht unumstritten war. Neben diesen Details zur „Rollenverteilung“ in der Prozeßführung kommt Brecht außerdem noch auf die Entwicklungen der Weimarer Staatsrechtslehre zu sprechen. So erkennt er „in dem Ausbruch des Prozesses“ „die aktuelle Kulminierung dieser latenten theoretischen Krise“, in der sich die Staatslehre zu dieser Zeit befunden habe. Insgesamt zeigt sich, daß Brecht durchaus ein „Fanatiker des Rechts“ war, dabei jedoch nicht die politischen Zusammenhänge aus den Augen verlor. So verstand er seine Rolle im Prozeß als Anwalt des Rechts und damit implizierend als Verteidiger der Demokratie und Republik. Sein Rechtsverständnis bewegte sich nicht auf wertneutraler Grundlage, sondern war eng gekoppelt an die Staatsform der Demokratie. Da jedoch auch Brecht die Wertfreiheit der Rechtswissenschaft als Ideal formulierte, ist seine rechtstheoretische Positionierung nicht anhand einseitiger Kategorien erfaßbar, sondern muß in einem komplexen Wechselspiel zwischen Hellers und Kelsens Ansätzen verortet werden.
855 Arnold Brecht an Manfred Friedrich, New York, 24. 3. 1966, BAK, NLB, N 1089/19. Hieraus auch die nachfolgenden Zitate.
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c) Finale im Reichsrat „Der dilettantische Maler, der ,böhmische Gefreite‘, der hemmungslose Hetzredner, Judenhasser, Schirmherr von Raufbolden und Feme-Mördern, Nationalist, Urheber des Bürgerbräu-Putsches von 1923, Häftling von Landsberg, Verfasser von Mein Kampf mit seiner grotesken Verherrlichung der politischen Lüge und Gewalt – er war nun legitimer deutscher Reichskanzler.“856 Mit diesen Worten kommentiert Brecht in seiner Autobiographie die „Machtergreifung“ Hitlers am 30. Januar 1933.857 Bereits am 2. Februar 1933 stellte sich Hitler, wie es nach altem Brauch üblich war, dem Reichsrat als neu ernannter Reichskanzler vor. Dies war, wie Brecht betont, „sein erstes amtliches öffentliches Auftreten in seiner Eigenschaft als deutscher Reichskanzler“858. Der Reichsrat habe sich jedoch „durch die Spannung nicht von seinen gewöhnlichen Umgangsformen abbringen“ lassen, und es habe auch niemand „besonderes Aufsehen“ gemacht, als Hitler eintrat. Brecht erinnert sich, wie er von dem Gesandten Boden Hitler vorgestellt wurde: „Hitler hielt meine Hand lange fest und sah mich mit freundlichem Ausdruck unbeweglich an, ohne etwas zu sagen. Diese Geste dauerte so lange, daß sie allgemein auffiel und allmählich peinlich wurde. Sein Blick schien zu fragen: Ist mit dir nicht vielleicht doch etwas zu machen? […] Wollte er seinen Magnetismus wirken lassen? Ich spürte keinen. Schließlich zog ich meine Hand langsam zurück, wir setzten uns, und die Sitzung begann.“859
Zunächst folgte die Ansprache Hitlers: Nachdem er darin die Vorzüge des deutschen „völkischen Daseins“ hervorgehoben hatte,860 machte er den Anschein, als wollte er den Ländervertretungen im Reichsrat entgegenkommen, doch bei genauerer Betrachtung war aus seinen Formulierungen bereits hier eine deutliche Distanz herauszuhören.861 Gleichwohl ist seine Rede als „maßvoll“ anzusehen; nach 856
Brecht, Kraft, S. 269. Im Hinblick auf das Problem der Legalität bilanziert Brecht in seiner Studie „Vorspiel zum Schweigen“: „Hitler kam also damals nicht als Usurpator zur Macht […]. Er wurde in sein Amt berufen, weil er der Führer der größten Partei im Reichstag war. Er wurde durch den legitimen Präsidenten der Republik ernannt, der das verfassungsmäßige Recht besaß, jeden zu ernennen, von dem er dachte, daß er vielleicht die nötige Unterstützung im Reichstag finden könnte, und sicherlich dies mit dem Leiter der stärksten Gruppe zu versuchen. […] So war Hitler jetzt legitimer Reichskanzler geworden nach der formalistischen Auslegung der Verfassung, die schon früher so oft angewandt worden war.“ Brecht, VzS, S. 106 f. Vgl. dazu auch ebd., S. 109 ff. 858 Brecht, Kraft, S. 276. 859 Brecht, Kraft, S. 276. 860 So ist die Rede von der „Kraft des deutschen Volkes an sich“, von dem „Fleiß des deutschen Volkes“ und seinen weiteren Fähigkeiten, die auf den „ewigen Fundamenten unseres völkischen Daseins“ gründeten; trotz aller Krisen sähen „wir“ „noch unverändert die deutsche Erde, den deutschen Lebensraum, den deutschen Boden“. Vgl. Niederschriften über die Vollsitzungen des Reichsrats. Jahrgang 1933, § 67, Berlin 1933, S. 38. 861 Hitler führt aus: „Wir wollen nicht in den Fehler verfallen, zu reglementieren und zu zentralisieren, was man nur reglementieren und zentralisieren kann, sondern wir wollen uns 857
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Brechts Befinden unterschied sie sich „wenig von anderen Reden, wie sie oft bei ähnlichen Gelegenheiten von der gleichen Stelle aus gehalten worden waren“862. Als Hauptbevollmächtigtem im Reichsrat oblag Brecht die Aufgabe, für das Land Preußen die Antwort auf Hitlers kurze Einführungsrede zu übernehmen. Das war an sich nichts Ungewöhnliches, doch Brechts Replik erschöpfte sich nicht in dem sonst üblichen formalen Akt, sondern enthielt unmißverständlich kritische Töne. Nach seinen Ausführungen über Sinn und Funktion des Reichsrates863 wandte er sich mahnend an Hitler: „Wir bitten Sie, Herr Reichskanzler, sich des hohen Wertes dieser Einrichtung bewußt zu sein und sich ihrer so zu bedienen, wie es dem Reichsrat nach der Verfassung und seinen Aufgaben zukommt.“864 Anschließend rekurrierte Brecht auf den „Preußenschlag“ und sparte auch hier nicht mit Kritik an der Reichsregierung.865 Entscheidend aber ist vor allem jener Abschnitt der Rede, in der Brecht auf den Verfassungseid zu sprechen kam: „Sie haben, Herr Reichskanzler, den schweren Schritt vom Führer einer in starker Opposition gewachsenen Bewegung zum verantwortlichen Leiter der Politik des Deutschen Reiches getan. Das ist […] ein überaus ernster Entschluß. Denn er bedeutet, daß Sie die schwere Pflicht übernommen und durch Ihren feierlichen Eid bekräftigt haben, Ihre Kraft für das Wohl des ganzen Volkes einzusetzen, die Verfassung und die Gesetze des Reiches zu wahren, die Ihnen danach obliegenden Pflichten gewissenhaft zu erfüllen und Ihre Geschäfte unparteiisch und gerecht gegen jedermann zu führen.“866
Theodor Eschenburg bezeichnet Brechts Rede als „ein kleines Meisterstück in der deutschen politischen Literatur“867 – und dies zu Recht. Denn zwar hatte Brecht „streng die Form gewahrt“868, aber seine Mahnung, daß Hitler sich auch wirklich an die Verfassung halten solle, deren Eid er ja gerade erst geschworen hatte, war – in immer vor Augen halten, daß einheitlich das gemacht werden muß, möchten dabei selbstverständlich gern auf die Mithilfe der Länder rechnen […].“ Wenig später fügt er mahnend hinzu: „Ich glaube, es wird dies um so eher, um so leichter gelingen, je mehr Reich und Länder in der großen Erkenntnis der zwingenden Not unserer Zeit zusammengehen.“ Niederschriften, S. 38. 862 Brecht, Kraft, S. 277. 863 Brecht erklärt: „Der Reichsrat soll der Anker im deutschen Uhrwerk sein. Motor, Feder und Unruhe zu sein, ist nicht seine Aufgabe. Er soll ein Hort strenger Sachlichkeit sein. Er soll das Gewissen in unruhigen und leidenschaftlichen Zeiten sein. Kein Hemmschuh für energischen Fortschritt, aber ein Hemmschuh für Ausbrüche der Leidenschaft und des überhitzten Kampfs. Eine Stütze für alle sachliche Arbeit, besonders aber eine Stütze für die Reichsregierung in solcher Arbeit.“ Niederschriften über die Vollsitzungen des Reichsrats. Jahrgang 1933, § 67, Berlin 1933, S. 38 f. 864 Niederschriften, S. 39. 865 So moniert er: „Durch das Vorgehen des Reichs in Preußen ist nicht nur das Verhältnis des Reichs zu Preußen, sondern auch zu anderen Ländern in Mitleidenschaft gezogen. Der Reichsrat hat den Wunsch, daß diese unnormale Lage so schnell wie möglich verfassungsmäßig bereinigt wird.“ Niederschriften, S. 39. 866 Niederschriften, S. 39. 867 Eschenburg, Arnold Brecht, S. 400. 868 Eschenburg, Arnold Brecht, S. 400.
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diesem Punkt ist Heiko Holste zuzustimmen – „eine gezielte Provokation“869. Über Hitlers unmittelbare Reaktion auf seine „letzte freie Rede im Reichsrat“ weiß Brecht zu berichten: „Hitler antwortete nicht. Es war wohl das einzige Mal, daß er eine Antwort schuldig blieb. Er erhob sich zögernd, machte dem Reichsrat eine leichte, etwas steife Verbeugung, gab mir kurz die Hand, ohne mich dabei anzusehen, sehr im Gegensatze zu seiner Begrüßung vor der Sitzung, und verließ mit den vier oder fünf Parteigenossen, die ihn begleitet hatten, den Saal.“870
In der nationalsozialistischen Presse löste Brechts Rede am Folgetag eine Welle der Empörung aus. Der „Völkische Beobachter“ entrüstete sich: „Als Vertreter der immer noch ein Scheindasein fristenden ,Regierung‘ Braun-Severing antwortete dem Reichskanzler der sozialdemokratische Staatssekretär Brecht, der sich schon wiederholt im Reichsrat durch seine taktlosen Reden ausgezeichnet hat. Herr Brecht hielt es für angebracht, den Reichskanzler in unglaublich bevormundender Weise über das Verhältnis des Reiches zum Land Preußen, wie er es auffaßt, zu belehren. Diese Rede des Herrn Brecht war eine letzte Lebensäußerung der Ära Braun-Severing, die, in dieser Form vorgebracht, schärfste Zurückweisung verdient. Ausgerechnet Herr Brecht glaubte die ,besondere deutsche Tradition im Reichsrat‘ betonen zu müssen. […] Der Vertreter des abgewirtschafteten Systems Braun-Severing ist wahrhaftig der letzte, der das Recht hat, in dieser ebenso taktlosen und plumpen, wie törichten Form dem Reichskanzler, der Reichsregierung dem Reichspräsidenten Belehrungen zu erteilen. Er hat damit nur nochmals die Notwendigkeit der endgültigen Ausschaltung derjenigen Kräfte nachgewiesen, deren Zeit abgelaufen ist, weil sie Deutschland 14 Jahre lang in Grund und Boden ,regiert‘ haben.“871
Diese heftige Reaktion belegt, daß die Provokation von Brechts Seite nicht nur bewußt erfolgt war, sondern von seinen Gegnern auch als solche empfunden wurde. Brecht hatte eigentlich nur „blanke Selbstverständlichkeiten“ formuliert,872 doch seine „Ermahnungen mit ihrer wörtlichen Wiederholung von Hitlers Eid waren klar und eindeutig“873 – nämlich klar und eindeutig in der sich darin ausdrückenden Skepsis, daß Hitler die Verfassung wirklich einhalten wird.874 Von Staatssekretär Lammers hatte Brecht bereits erfahren, daß Hitler über seine Rede „sehr ungehalten und seine Begleiter wütend“ gewesen seien;875 und so zögerten die neuen Macht869
Holste, Reichsreform, S. 80. Brecht, Kraft, S. 279. 871 Das Bekenntnis des Reichskanzlers zur Einheit von Tradition und Zukunft. Aufbau auf ewigen Fundamenten – Die Länder als Bausteine des Reichs, in: Völkischer Beobachter (Norddeutsche Ausgabe), 4. 2. 1933, 35. Ausgabe, 46. Jahrgang, S. 2. (Hervorhebungen im Original gesperrt.) Hinweis und Zitat in Auszügen auch bereits bei Holste, Reichsreform, S. 80. 872 Holste, Reichsreform. S. 80. 873 So Brechts Selbstbeschreibung in: Brecht, VzS, S. 116. 874 Nach Einschätzung von Brecht glaubte gar niemand daran – und „am allerwenigsten […] seine eigenen Anhänger“. Brecht, VzS, S. 107 f. 875 Brecht, Kraft, S. 279. 870
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haber auch nicht mit einer schnellen Reaktion: Schon wenige Tage später wurde Brecht in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Zuvor war der preußische Landtag erneut aufgelöst worden: Am 6. Februar 1933 erließ Reichspräsident von Hindenburg eine Verordnung „zur Herstellung geordneter Regierungsverhältnisse in Preußen“. Unter Berufung auf Art. 48 Abs. 1 WRV hieß es dort in § 1: „Durch das Verhalten des Landes Preußen gegenüber dem Urteil des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich vom 25. Oktober 1932 ist eine Verwirrung im Staatsleben eingetreten, die das Staatswohl gefährdet. Ich übertrage deshalb bis auf weiteres dem Reichskommissar für das Land Preußen und seinen Beauftragten die Befugnisse, die nach dem erwähnten Urteil dem Preußischen Staatsministerium und seinen Mitgliedern zustehen.“876
Mit dieser Begründung wurden – so der Kommentar von Hagen Schulze – die Tatsachen erneut „direkt auf den Kopf“ gestellt, „denn soweit Reibungen vorgekommen waren, waren sie durch das absichtsvoll provokative Vorgehen der Reichsregierung verursacht worden“877. Darüber hinaus wurde der preußischen Regierung durch die Berufung auf den ersten Absatz des Artikels 48 wiederholt eine Pflichtverletzung unterstellt, was in diesem Kontext noch absurder war als in der Verordnung vom 20. Juli 1932.878 Brecht setzte daraufhin mit seinen Kollegen eine neue Klageschrift auf, die eine weitere Verhandlung vor dem StGH zum Ziel hatte. Hier stellten die Autoren klar, „daß das Land Preußen nach der Entscheidung des Staatsgerichtshofs sich sofort voll auf den Boden der Entscheidung gestellt und über Meinungsverschiedenheiten eine friedliche Verständigung angestrebt“ habe.879 Kritik müsse dagegen an der Reichsregierung geübt werden: „Schwieriger gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dem Reichskommissar von Papen und dessen Stellvertreter Dr. Bracht. Diese vertraten den Standpunkt, daß sie von allen Möglichkeiten, die ihnen die Entscheidung beließ, bis zum äußersten Gebrauch machen und möglichst auch äußerlich aus Gründen des Prestiges den gleichen Zustand aufrecht erhalten müßten, wie er vor Erlaß der Entscheidung bestand.“880
Die Klage der Minister blieb indes ohne Erfolg – eine Verhandlung vor dem StGH fand nicht statt; die „preußische Regierung existierte nur noch in einem rechtlichmoralischen Schattenreich“881. 876
RGBl 1933, I, Nr. 9 (6. 2. 1933), S. 43. Schulze, Otto Braun, S. 780. 878 Brecht kommentiert dieses Vorgehen so: „Da der Staatsgerichtshof festgestellt hatte, daß Preußen seine Pflichten dem Reich gegenüber nicht verletzt hatte [..], behauptete die Begründung der neuen Verordnung kühn, die preußischen Minister hätten dies inzwischen nachträglich getan, und zwar durch ihr Verhalten gegenüber dem Urteil des Staatsgerichtshofs und dadurch, daß sie die Auflösung des preußischen Landtags verweigerten, obwohl Neuwahlen unbedingt erforderlich geworden seien, weil der Landtag sich schon fast ein Jahr unfähig gezeigt hatte, ein neues Kabinett zu bilden.“ Brecht, Kraft, S. 280. 879 So zumindest Brechts Wiedergabe der Klageschrift in seiner Autobiographie: Brecht, Kraft, S. 281. 880 Brecht, Kraft, S. 281 f. 881 Schulze, Otto Braun, S. 781. Siehe dazu auch Brecht, Kraft, S. 283. 877
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Am 10. Februar 1933 – also acht Tage nach Brechts Rede und vier Tage nach der Landtagsauflösung – erging an Brecht ein Schreiben, in dem von Papen, kraft seines Amtes als Reichskommissar für das Land Preußen, ihn ersuchte, „sich jeder Dienstausübung zu enthalten“882. Einen Tag später erhielt Brecht erneut einen Brief, in dem er darüber in Kenntnis gesetzt wurde, daß er „auf Grund § 3 der Verordnung vom 26. Februar 1919883 […] unter Gewährung des gesetzlichen Wartegeldes sofort einstweilen in den Ruhestand“ versetzt wird.884 Was davon aus rechtlicher Sicht zu halten war, bringt Brecht klar zum Ausdruck: „Beide Akte waren, soweit sie meine Dienste bei den preußischen Ministern und im Reichsrat betrafen – und andere Dienste übte ich ja nicht mehr aus –, verfassungswidrig und rechtlich ungültig. Papen hatte darüber nicht zu bestimmen.“885 Nach der erneuten Absetzung seiner Minister verfaßte Otto Braun ein Schreiben an von Papen, in dem er monierte, daß der Beschluß, „die Preußischen Bevollmächtigten zum Reichsrat im Hauptamt in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen“, nicht rechtsgültig sei. Er verwies dabei auf das Urteil des StGH vom 25. Oktober 1932, gegen das von Papen verstoßen habe.886 Papen zeigte sich unterdessen von Brauns Kritik unbeeindruckt und erwiderte, daß die Rechtsauffassung, von der Braun ausgehe, unzutreffend sei; er sehe jedoch davon ab, „näher darauf einzugehen“887. Brauns Protest kam zu spät – die „Gleichschaltung“ der Länder durch die Nationalsozialisten hatte bereits begonnen. Mit dem Reichstagsbrand Ende Februar 1933 spitzte sich die politische Lage immer mehr zu. Otto Braun wurde von seinen Vertrauten nahegelegt, das Land zu verlassen, da seine Verhaftung unmittelbar bevorstehe; Braun beherzigte diesen Rat und floh Anfang März 1933 ins Exil in die Schweiz.888 Wenige Tage später schrieb er Brecht, daß er nicht die Absicht habe, nach Deutschland zurückzukehren. Zwar sei es ihm nicht leicht gefallen, Brecht „als letzten Verteidiger der staatsrechtlich unangreifbaren, aber machtpolitisch unhaltbar gewordenen preussischen Tradition zurück zu lassen“. Doch was die politische Lage in Deutschland betraf, sah Braun kaum Anlaß zur Hoffnung: „[…] ich habe es satt, ohne Rücksicht auf meine und die Gesundheit meiner Frau noch länger Sklave einer verlogenen Demagogie meiner hassverblendeten politischen Gegner zu sein. 882
Franz von Papen an Arnold Brecht, Berlin, 10. 2. 1933, BAK, NLB, N 1089/3. Die von der preußischen Regierung am 26. Februar 1919 erlassene Verordnung betraf „die einstweilige Versetzung der unmittelbaren Staatsbeamten in den Ruhestand“. § 3 regelte, wer „jederzeit einstweilig in den Ruhestand versetzt werden“ konnte. Dazu zählten „Unterstaatssekretäre; Ministerialdirektoren; Oberpräsidenten; Regierungspräsidenten […]; Beamte der Staatsanwaltschaft bei den Gerichten; Vorsteher staatlicher Polizeibehörden; Landräte; Gesandte und andere diplomatische Agenten“. Vgl. Verordnung, betreffend die einstweilige Versetzung der unmittelbaren Staatsbeamten in den Ruhestand. Vom 26. Februar 1919, in: Preußische Gesetzsammlung 1919, Nr. 13, S. 33 – 36 (33). 884 Franz von Papen an Arnold Brecht, Berlin, 11. 2. 1933, BAK, NLB, N 1089/3. 885 Brecht, Kraft, S. 284. 886 Otto Braun an Franz von Papen, Berlin, 15. 2. 1933, BAK, NLB, N 1089/3. 887 Franz von Papen an Otto Braun, Berlin, 21. 2. 1933, BAK, NLB, N 1089/3. 888 Vgl. Schulze, Otto Braun, S. 785 ff. 883
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[…] Das deutsche Volk hat sich nun einmal in seiner Mehrheit für Hitler und Hugenberg entschieden und diese haben sonach nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht die Geschicke des deutschen Volkes entscheidend zu bestimmen. Hoffen wir, dass die Folgen für Volk und Vaterland nicht zu schlimm werden.“889
Nachdem auch Brecht und die anderen preußischen Minister endgültig abdanken mußten,890 rückten die Folgen dieses politischen und biographischen Einschnitts für Brecht immer näher. Zunächst jedoch überblickte er die Konsequenzen noch nicht, die der Machtwechsel auch unmittelbar für ihn hatte. So erinnert er sich: „Auch war ich damals Außenseiter nur insofern, als ich seit dem 1. April 1933 keinen Fuß mehr in einem Regierungsamt hatte. Ich stand aber im übrigen noch mittendrin in den Ereignissen, mitten in Berlin, mit vielfacher Fühlung zu vielen Beamten in vielen Ämtern, zu solchen, die blieben, und solchen, die abgingen oder entfernt wurden, zu Journalisten und Politikern, zu meiner weitverzweigten Familie, zu Nachbarn und Freunden. Noch hatte ich nicht den leisesten Gedanken, Deutschland zu verlassen, nicht einmal vorübergehend, geschweige denn auszuwandern.“891
Wenig später holte ihn allerdings die Realität ein: Am 6. April wurde Brecht kurzzeitig von der Polizei verhaftet. Ihm wurde unter anderem die unrechtmäßige „Verausgabung von Staatsgeldern zur Bekämpfung des Nationalsozialismus“ vorgeworfen,892 woraufhin er den ganzen Tag verhört wurde; da die Polizei ihm jedoch nichts nachweisen konnte, wurde er schließlich wieder freigelassen.893 Nachdem
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Otto Braun an Arnold Brecht, Ascona, 9. 3. 1933, BAK, NLB, N 1089/9. Vgl. dazu Brecht, Kraft, S. 295 ff. 891 Brecht, Kraft, S. 309 f. Das bedeutete allerdings nicht, daß Brecht die politischen Entwicklungen nicht kritisch betrachtete; so rekapituliert er: „In jenen ersten Monaten des Hitlerregimes in Deutschland und in Berlin zu leben, war für jemanden, der sich in keiner Weise von dem ,neuen Geiste‘ angezogen fühlte, sondern Ungeist, Irrtum, Betrug, Roheit und Barbarei über Deutschland hereinbrechen sah, natürlich eine sehr andere Erfahrung als für diejenigen, die sich einbildeten, daß es umgekehrt war, daß seit dem November 1918 Ungeist, Irrtum, Betrug, Roheit und Barbarei über ein vorher ideales Deutschland geherrscht hätten und nun durch ein besseres, edleres, erfolgreicheres Regime abgelöst wurden. Für diese war es – gigantische Illusion – eine Zeit des Erwachens, der Erneuerung von Grund aus. […] Für uns andere war es ein schwerer Alpdruck, von dem man vergeblich durch Aufreißen der Augen aufzuwachen suchte. War es wirklich wahr? War das Deutschland?“ Brecht, Kraft, S. 317 f. 892 In seiner Autobiographie gibt Brecht an, daß drei Vorwürfe gegen ihn erhoben worden seien: „erstens hätte ich mich im Reichsrat der ,Beförderung jüdischer Einwanderung aus dem Osten‘ schuldig gemacht, zweitens hätte ich mich beim preußischen Innenministerium zu der Zeit, als ich noch im Reichsinnenministerium gewesen sei (also vor mehr als sechs Jahren), einmal dafür verwandt, daß ein begnadigter jüdischer Zuchthäusler polnischer Herkunft nicht nach seiner Freilassung aus Deutschland ausgewiesen werden sollte, und drittens hätte ich an der unrechtmäßigen Verausgabung von Staatsgeldern zur Bekämpfung des Nationalsozialismus mitgewirkt.“ Brecht, Kraft, S. 321. 893 Siehe dazu auch die von Brecht so betitelte „Aufzeichnung über meine Verhaftung und Vernehmung am 6. April 1933 (anscheinend unmittelbar hinterher handschriftlich zu Papier gebracht)“ im Anhang seiner Autobiographie: Brecht, Kraft, S. 456. 890
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Brecht anschließend einige Wochen außerhalb von Berlin verbrachte,894 erhielt er Ende Juli 1933 ein Schreiben von Hermann Göring – zu diesem Zeitpunkt preußischer Ministerpräsident –, in dem er davon in Kenntnis gesetzt wurde, daß er „auf Grund des Paragraphen 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums als ,national unzuverlässig‘“ entlassen werde.895 Kurz darauf erhielt Brecht eine Einladung von Alvin Johnson, dem Präsidenten der New School for Social Research in New York, an seiner Hochschule als visiting professor zu lehren. In seiner Autobiographie erinnert sich Brecht an seine zunächst zögernde Reaktion: „Ich hatte bisher nie an Auswanderung gedacht, wußte wenig von Amerika und nichts von der New School for Social Research.“896 Und so konzentrierte sich Brecht auch vorerst darauf, seine bevorstehende Entlassung rückgängig zu machen und sich gegen die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zur Wehr zu setzen. Anfang August verfaßte er ein Schreiben an den preußischen Staatssekretär Körner, in dem er um eine Unterredung in dieser Angelegenheit sowie hinsichtlich seiner Überlegungen bat, das Angebot von Johnson anzunehmen. Offen trägt er seine Bedenken vor: „Obwohl ich glaube, daß ich auf diesem Wege Möglichkeiten fände, für mein Vaterland im Ausland in bescheidenem Umfange nützlich wirken zu können, hatte ich doch die Absicht, dieses Angebot unter den augenblicklichen Verhältnissen abzulehnen, da ich mich keiner [..] [Wort unleserlich] Schwierigkeit aussetzen und Deutschland gerade jetzt ungern verlassen möchte. Es war mir zwar natürlich klar, daß ich für politische Aufgaben natürlich nicht mehr in Betracht komme [letzter Nebensatz durchgestrichen; Korrekturen darüber unleserlich], ich nahm aber an, daß ich – jedenfalls nach einiger Zeit – mich auf fachlichem Gebiete wieder würde betätigen können, z. B. durch einen Lehrauftrag zur Finanzwissenschaft an der Universität.“897
Körner lehnte eine Unterredung jedoch aus Zeitgründen ab.898 Einen Tag später verfaßte Brecht einen Brief an den preußischen Ministerpräsidenten Göring, in dem er darum bat, „den § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ nicht auf ihn anzuwenden. Sollte dennoch „eine Maßnahme“ für ihn „erforderlich gehalten werden“, so bitte er darum, „nicht den § 4, sondern den § 6 des Gesetzes
894 Aus Angst, erneut einer ähnlichen Situation ausgesetzt zu werden, fuhr er erst nach Köln und im Sommer an die Nordsee. Vgl. Brecht, Kraft, S. 324 ff. 895 Brecht, Kraft, S. 326. Der genaue Gesetzestext des § 4 lautet: „Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden. Auf die Dauer von drei Monaten nach der Entlassung werden ihnen ihre bisherigen Bezüge belassen. Von dieser Zeit an erhalten sie drei Viertel des Ruhegeldes (§ 8) und entsprechende Hinterbliebenenversorgung.“ Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Vom 7. April 1933, abgedr. in: RGBl 1933, Nr. 34 (7. 4. 1933), S. 175 – 177 (175). 896 Brecht, Kraft, S. 326. 897 Arnold Brecht an Staatssekretär Körner, Berlin-Steglitz, 8. 8. 1933, BAK, NLB, N 1089/ 3. 898 Vgl. Staatssekretär Körner an Arnold Brecht, Berlin, 11. 8. 1933, BAK, NLB, N 1089/3.
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anzuwenden“.899 Im Anhang des Briefes befindet sich eine ausführliche Stellungnahme, in der sich Brecht für seine politischen Tätigkeiten zu rechtfertigen und klarzustellen versucht, daß er keinesfalls als „national unzuverlässig“ angesehen werden könne. Dabei sind seine Erklärungen deutlich von dem Bemühen getragen, seinen kritischen Blick auf die Schwächen der Weimarer Demokratie zu betonen und seine nationale Gesinnung hervorzuheben. Die dahinter stehende Absicht, dem neuen Regime gegenüber Zugeständnisse zu machen, um die eigene berufliche Stellung zu retten, wirft – es ist bereits darauf hingewiesen worden – in der Tat einen Schatten auf Brecht, da dies kaum der politischen Geradlinigkeit entspricht, die er sonst für sich geltend machen konnte. Gleichwohl fällt auf, daß er sich darin schwer getan haben muß, denn an einigen Stellen weicht er in der Eindeutigkeit seiner Aussagen etwas zurück – etwa um seine Loyalität gegenüber Otto Braun und den anderen preußischen Ministern zu bekunden. So erklärt er zu Beginn der Stellungnahme: „Ich habe, wie viele andere, auch Mitglieder der Regierungen, immer wieder darauf hingewiesen, daß das System, das sich unter der Weimarer Verfassung bei der Zersplitterung der autoritären Kräfte und der gegenseitigen Aufhebung guter Kräfte herausbildete, beklagenswerte Folgen habe. Ich habe auf meinen Fachgebieten für Änderungen gekämpft, wie viele andere auch. […] Soweit ich mich hierbei in Meinungsverschiedenheit mit meinen Vorgesetzten befand […], habe ich es nach guter alter Beamtentradition für meine Pflicht gehalten, solchen Widerspruch nicht nach aussen dringen zu lassen. Diese Pflicht habe ich erfüllt. Das wurde mir oft schwer. Es wurde mir andererseits dadurch erleichtert, dass ich vor den [sic!] Ministerpräsidenten Braun, ebenso wie beispielsweise den Finanzminister Höpker-Aschoff und den Minister des Innern Severing, bei aller Verschiedenheit der Persönlichkeit, grosse Achtung hatte, die besonders darauf beruhte, dass ich in vielen Lagen ihre Vaterlandsliebe kennen gelernt hatte.“900
899 Arnold Brecht an den preußischen Ministerpräsidenten, Berlin-Steglitz, 12. 8. 1933, BAK, NLB, N 1089/3. Der von Brecht präferierte Paragraph 6 des Gesetzes lautet: „Zur Vereinfachung der Verwaltung können Beamte in den Ruhestand versetzt werden, auch wenn sie noch nicht dienstunfähig sind. Wenn Beamte aus diesem Grund in den Ruhestand versetzt werden, so dürfen ihre Stellen nicht mehr besetzt werden.“ Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Vom 7. April 1933, abgedr. in: RGBl 1933, Nr. 34 (7. 4. 1933), S. 175 – 177 (176). 900 Arnold Brecht an den preußischen Ministerpräsidenten (Anhang), Berlin-Steglitz, 12. 8. 1933, BAK, NLB, N 1089/3. (Die nachfolgenden Zitate sind, wenn nicht anders gekennzeichnet, derselben Quelle entnommen.) Die „Vaterlandsliebe“ Otto Brauns war selbstredend ganz anders zu verstehen als nach der Ideologie der Nationalsozialisten – und Brecht wußte das sehr genau. Wenige Monate zuvor hatte er einen Brief von Braun erhalten, in dem er seinen Unmut über die politische Lage in Deutschland schilderte: „Allerdings stehen mir auch noch ausländische Zeitungen zur Verfügung […] es wird naturgemäß Vieles übertrieben. Aber was dann noch als authentisch bleibt, ist hinreichend geignet [sic!], in jedem, der seine Heimat liebt, Bitterkeit und Beschämung auszulösen. […] Wie wird das einmal Alles zu reparieren sein, wenn das deutsche Volk über kurz oder lang aus seinem Feuerwerkstaumel erwacht. Doch es hat zur Zeit wohl wenig Sinn, sich darüber Gedanken zu machen, denn vorläufig beherrscht der Glaube die deutsche Seele und die Vernunft ist in Schutzhaft genommen.“ Otto Braun an Arnold Brecht, Ascona, 14. 5. 1933, BAK, NLB, N 1089/9.
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Brecht kommt sodann auf seine Prozeßvertretung Preußens vor dem StGH zu sprechen. Zwar bestreitet er seine dort vorgetragenen Ansichten nicht, doch formuliert er sie nun weitaus vorsichtiger. Um seine Haltung zu rechtfertigen, argumentiert Brecht in erster Linie mit Blick auf das Berufsbeamtentum, dessen Pflichten für ihn stets die höchste Priorität hätten und aus dem seine Rechts- und Amtsauffassung erwachse, die ihm Maxime seines Handelns gewesen sei. So erklärt er: „Tatsächlich war es stets mein festes Bestreben, im Dienste nur dem Staat und den Pflichten als Berufsbeamter zu gehören. Auch ausserhalb des Dienstes habe ich mich von jeder aktiven Betätigung, die nicht mit dieser allgemeinen Grundlage vereinbar war, ferngehalten. Wenn es meine Beamtenpflicht war, die Regierung zu unterstützen, habe ich das getan; ich habe es eines Beamten nicht für würdig gehalten, dabei einer Verantwortung auszuweichen, auch nicht, wenn der Auftrag unbequem war.“
Ungeachtet der Tatsache, daß er im Prozeß unter Beweis gestellt hat, daß es ihm hier sehr wohl auch um politische Fragen – nämlich den Kampf um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – ging, hebt Brecht in seiner Stellungnahme gegenüber Göring erneut auf seine rechtspositivistischen Ideale ab und vermittelt damit den Eindruck, sich auch stets daran gehalten zu haben: „Den Rechtsstreit selbst habe ich durch mehrere Erklärungen ausdrücklich auf die Rechtsfrage beschränkt, ob nach der damaligen Reichsverfassung die weitgehenden Maßnahmen voll zulässig waren oder nicht. Ob die Maßnahmen politisch zweckmässig waren oder nicht, und ob moralische Gründe für sie angeführt werden konnten, habe ich ausdrücklich aus meinen Ausführungen herausgelassen, weil darüber das Gericht nicht zu entscheiden hatte, und habe im Gegenteil die Notwendigkeit einer Änderung des Verhältnisses von Reich und Preussen auch hier betont […].“
Politisch hingegen argumentiert er in der Frage der nationalen Gesinnung: Er sei „im Dienst und ausserhalb des Dienstes niemals gehässig gegen die nationale Bewegung aufgetreten“, er habe „niemals ihre Führer beschimpft“ und niemals seine „dienstliche Stellung dazu missbraucht, um nationalgesinnte Beamte zu verfolgen oder sonst zu schädigen“. Vor allem aber wendet Brecht sich dagegen, daß ausgerechnet gegen ihn, den gewissenhaften und pflichtbewußten Beamten, Vorwürfe „vom Standpunkte des Berufsbeamtentums“ erhoben worden sind. Auch nach dem Regimewechsel sieht er dazu keinerlei Veranlassung: „Ich bin mir vom Standpunkt des Berufsbeamtentums keiner Schuld bewusst. Das ist meine Ehre. Es ist mein Stolz, dass meine berufsbeamtliche Gesinnung in der Beamtenschaft in weitem Maße anerkannt wird. Meine bisherige Tätigkeit und Dienstauffassung rechtfertigt nicht die Annahme, dass ich die Pflichten des Berufsbeamten jetzt weniger ernst erfüllen würde, einschliesslich der Aufgabe […], dem Staate rückhaltlos zu dienen, und dass ich im nationalen Staat kein seine Pflichten voll erfüllender Beamte wäre. Dass Deutschland sich unter Einschluss der Arbeiterschaft zu einem Nationalstaat entwickeln möge, in dem es nicht mehr die Trennung zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft gibt, war zeitlebens mein heisser Wunsch. Ich bin immer der Meinung gewesen, dass der grösste Teil der Arbeiterschaft im Grunde glühende Patrioten seien, und ich habe mich hierin nicht getäuscht gesehen.
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Wenn mir im neuen Staat Aufgaben, auch solche rein fachlicher Art, nicht übertragen werden, habe ich mich darin zu schicken. Aber ich bitte, mich deshalb nicht als national unzuverlässig zu erklären. Das bin ich nicht. Für das Vaterland zu wirken, werde ich nicht aufhören, namentlich auf dem Gebiet der moralischen und finanziellen Auseinandersetzung mit dem Auslande. Für den Nutzen, den ich dabei noch erbringen kann, ist die Anwendung des § 4 auf mich nicht dienlich.“
Brechts Bemühungen, mit Hilfe dieser Erklärungen seine bevorstehende Entlassung rückgängig zu machen, blieben indes ohne Erfolg901 – am 30. August 1933 wurde er unter Anwendung von § 4 des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus dem Dienst entlassen. Nichtsdestoweniger ließ Brecht nichts unversucht und probierte es an anderer Stelle erneut: Mitte September 1933 verfaßte er ein Rechtfertigungsschreiben an Reichsinnenminister Wilhelm Frick, in dem er den politischen Präferenzen der Nationalsozialisten noch sehr viel deutlicher entgegenzukommen versuchte als in seinem Brief an Göring. Als Leitmotive seines Handelns nennt Brecht hier unter anderem seine parteipolitische Neutralität,902 Dienstpflicht, Kameradschaft sowie – in bezug auf Fragen der Reichsreform – die Vertretung des Reichsgedankens. Mit Blick auf seine Entlassung aus dem Reichsinnenministerium durch von Keudell 1927 betont er nun nicht mehr die politischen Differenzen zwischen seinen Auffassungen und jenen der deutschnationalen Partei, sondern hebt Keudells Aussage hervor, daß dieser „Hochachtung“ vor Brechts „berufsbeamtlicher Arbeit“ gehabt habe. Die Prozeßvertretung vor dem StGH habe er nicht übernommen, „um Personen zu verteidigen, sondern aus dem schweren Gefühl der Pflicht heraus wegen der Grenzen der Verfassung, die ich zu schützen verpflichtet war“. Plötzlich ist von Brecht zu erfahren, daß diese Aufgabe für ihn nicht nur deshalb „besonders schwer“ gewesen sei, weil er „eine engere Zusammenfassung zwischen Reich und Preussen für dringend erforderlich hielt“, sondern auch deshalb, weil er „eine Änderung der politischen Zusammensetzung der Re901 Auch ein Brief seines Bruders Gustav blieb wirkungslos. Dieser hatte Generaldirektor Vögler geschrieben, um sich für seinen Bruder einzusetzen. Darin betont er, daß Arnold Brecht „niemals Mitglied der Sozialdemokratischen oder einer anderen politischen Partei gewesen“ sei, sondern „vielmehr aus seiner Vorkriegstradition heraus, wie die meisten von uns, immer für die parteipolitische Neutralität des Berufsbeamten eingetreten“ sei. Mit Blick auf Brechts Rechtsvertretung vor dem StGH erklärt er außerdem: „Ich finde aber, man kann als Mann trotzdem nur Hochachtung vor jemand empfinden, der Charakter genug besitzt, auch unter widrigen Umständen und den sicheren persönlichen Nachteil vor Augen, das zu tun, was er für seine berufsmässige Pflicht hält.“ Gustav Brecht an A. Vögler, 24. 8. 1933 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/3. 902 So führt er aus: „Ich bin niemals Mitglied der Sozialdemokratischen Partei gewesen. Ich habe sozialdemokratischen Führern wiederholt erklärt, dass ich insbesondere Gegner des Klassenkampfes und Klassenhasses sei. Ich bin auch niemals Mitglied einer anderen Partei gewesen und habe Parteiversammlungen gemieden. Ausserdienstlich habe ich mich politisch – abgesehen von der Frage der Reichsreform – aus grundsätzlicher Beamteneinstellung auch sonst zurückgehalten.“ Arnold Brecht an den Reichsinnenminister, Berlin-Steglitz, 17. 9. 1933, BAK, NLB, N 1089/3. Die nachfolgenden Zitate sind, wenn nicht anders angegeben, derselben Quelle entnommen.
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik
gierungen“ für notwendig erachtet habe. Der Vorwurf der „nationalen Unzuverlässigkeit“ wiege aus dem folgenden Grund besonders schwer: „Das Entscheidende ist dabei für mich nicht die finanzielle Frage, sondern der Umstand, dass die Anwendung des § 4, wie sie nun einmal in der Öffentlichkeit aufgefasst wird, mich mit dem Stempel der nationalen Unzuverlässigkeit versehen würde. Dadurch wird gerade einem Beamten, dessen Name in schwerer Facharbeit allmählich weiter bekannt geworden ist, nicht nur der Staatsdienst, sondern praktisch jede Form der Arbeit unmöglich gemacht.“
Am Ende des Briefes trifft Brecht schließlich Aussagen, die angesichts seines bisher eingeschlagenen Wegs kaum glaubwürdig erscheinen können: „Für mich selbst habe ich von jeher – auf Grund der Tradition meiner Familie – die strengste berufsbeamtliche Pflichtauffassung gehabt, auch im Verhältnis des Beamten zu seinen Vorgesetzten. Gerade das konnte mich Fernerstehenden zuweilen als identisch mit einem System erscheinen lassen, das ich im Inneren in wesentlichen Beziehungen heftig bekämpft habe.“
Schon früher hätten seine „nationale Einstellung“ und sein „Wunsch nach einer entschlossenen nationalen Staatsführung“ außer Zweifel gestanden. Damit nicht genug, beendet Brecht seinen Brief mit den Worten: „Die das ganze Volk umfassende Idee des Nationalsozialismus schliesst den edlen Gedanken in sich, dass dem aufrechten und lauteren Beamten der früheren Zeit Achtung und Entgegenkommen nicht versagt wird. Wenn Sie mir, Herr Reichsminister, ein solches Zeugnis nicht ganz absprechen, so bitte ich Sie, meinen Antrag wohlwollend zu erwägen und, wenn Sie noch Zweifelspunkte haben, mich zu einer ergänzenden Besprechung in dem Rahmen, den Sie für richtig halten, persönlich empfangen zu wollen.“
Diese opportunistischen Anwandlungen müssen in der Tat befremdlich erscheinen und hinterlassen einen äußerst negativen Eindruck. Dennoch muß auch an dieser Stelle differenziert werden: Bis zu Brechts Entlassung durch die Nationalsozialisten gibt es keine Anhaltspunkte, die an seiner demokratischen Standfestigkeit zweifeln lassen. Es wäre demnach falsch, aus diesen beiden Briefen auf sein gesamtes Schaffen und seine grundsätzlichen Anschauungen zu schließen.903 Es zeichnet sich an dieser Stelle vielmehr eine Diskrepanz zwischen den dort getroffenen Aussagen und Brechts vorherigen Positionen ab. Daß er mit seinen Zugeständnissen gegenüber dem NS-Regime zu weit gegangen ist, läßt sich kaum bestreiten, doch gilt es sich vor Augen zu führen, vor welch veränderten Tatsachen Brecht zu diesem Zeitpunkt stand: Er wurde aus seinem Amt entlassen, und dabei haftete ihm der Makel der „nationalen Unzuverlässigkeit“ an, was für einen pflichtbewußten Beamten seiner Zeit das berufliche Ende bedeutet hat. Es wurde ihm dadurch nicht nur die Existenzgrundlage entzogen, sondern es stand auch sein Ruf als Beamter auf dem Spiel. Es bedarf keines ungewöhnlich großen Vorstellungsvermögens, um sich zu verge903 Dies gilt auch für seine Bemühungen nach der Emigration, durch erneute Rechtfertigungsschreiben die Anwendung des § 4 des Berufsbeamtengesetzes auf ihn rückgängig zu machen und sich von dem Vorwurf der „nationalen Unzuverlässigkeit“ zu befreien. Vgl. dazu Kapitel II.1.
3. Preußen contra Reich (Preußisches Staatsministerium)
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genwärtigen, daß es wohl niemandem leicht fallen kann, im Alter von fast fünfzig Jahren seinen bisher eingeschlagenen Lebensweg ohne Zögern zu verlassen und nicht einmal den Versuch zu unternehmen, seine berufliche Stellung zu retten. Die Mittel, die Brecht dabei einsetzt, gehören zweifellos nicht zu den ruhmvollen Kapiteln seiner Biographie, doch sie sind nicht als Ausdruck seiner „schon immer“ vorhandenen Neigung zu politischem Opportunismus zu werten,904 sondern genau in jenem eng umgrenzten biographischen Zusammenhang zu sehen, der zuvor geschildert worden ist. Daß seine verbalen Annäherungsversuche an das NS-Regime von den neuen Machthabern nicht als glaubwürdig eingestuft worden sind – eben weil sie im Widerspruch zu seinen bisherigen politischen Positionen stehen –, wird überdies durch die Tatsache belegt, daß all seine Bemühungen erfolglos blieben.905 Als Brecht sich der Aussichtslosigkeit seiner Situation bewußt wurde,906 faßte er den Entschluß, auf die Einladung Alvin Johnsons zurückzukommen und das Angebot einer Gastprofessur an der New School for Social Research anzunehmen. Mittels verklausulierter Telegramme nahm er Kontakt mit Johnson auf,907 der ihm in einem 904 So jedoch Michael Ruck, der zu dem äußerst diskussionsbedürftigen Urteil kommt: „Mochte die Distinktion dieser Zeilen auch der bedrängten Lage geschuldet sein – in der Substanz standen sie durchaus im Einklang mit der etatistisch-patriotischen Grundhaltung ihres Urhebers.“ Ruck, Verfassungsentwicklung, S. 214. Erneut wird hier eine begriffliche Unschärfe sichtbar: „Patriotismus“ – und auch ein „etatistischer Patriotismus“ (eine Zuschreibung, die auf Brecht darüber hinaus nicht zutrifft) – ist nicht gleichzusetzen mit „Nationalsozialismus“, der ebensowenig zwangsläufig aus ihm folgt. Ruck übergeht den unterschiedlichen Bedeutungsgehalt dieser Begriffe und legt statt dessen einen Maßstab an, der heutigen Auffassungen entspricht, dem historischen Sachverhalt aber kaum gerecht zu werden vermag. Seine Argumentation ist an dieser Stelle anachronistisch. 905 Daran konnten auch die Schreiben und Zeugnisse des Gesandten Boden sowie von Walter Simons nichts ändern. Beide hatten versucht, sich auf diesem Wege für Brecht einzusetzen. Vgl. Boden an Arnold Brecht, Berlin, 23. 9. 1933, BAK, NLB, N 1089/3 (darin enthalten die Abschrift des Briefes von Boden an Reichsinnenminister Frick) sowie die Abschrift des Zeugnisses von Walter Simons, 19. 9. 1933, in: BAK, NLB, N 1089/3. 906 So erinnert er sich: „Es wurde mir immer deutlicher, daß ich in Deutschland nur noch in einem Zustande völliger Unfreiheit würde leben können, auf Schritt und Tritt bewacht, unfähig einen freien Beruf auszuüben, öffentlich zu sprechen, Bücher oder Aufsätze zu veröffentlichen oder auch nur unbewacht mich mit Freunden zu treffen, jeden Tag dem Abtransport in ein Konzentrationslager ausgesetzt.“ Brecht, Kraft, S. 327. – Zuvor hatte Brecht noch beim preußischen Innenministerium die Genehmigung einer Reise nach Italien beantragt. Darin erklärt er, daß er sich „im Ausland als Deutscher und Angehöriger des neuen Staates in jeder Beziehung korrekt verhalten“ und sich „insbesondere nicht staatsfeindlich“ betätigen werde. Seine dort geplanten „wissenschaftlichen Arbeiten sollen vielmehr weiter dem Zweck dienen, Deutschland gegenüber dem Ausland zu verteidigen und das Verständnis für die besondere Lage Deutschlands zu fördern“. Die Ausreisegenehmigung wurde jedoch verweigert und die Pässe von ihm und seiner Frau einbehalten. Vgl. Arnold Brecht an den preußischen Innenminister, Berlin-Steglitz, 24. 9. 1933, BAK, NLB, N 1089/3 sowie Brecht, Kraft, S. 327. 907 So schreibt Johnson, vermittelt über Edith Richter Friedrich: „Tell Arnold Mueller start immediately = Uncle Alvin“. Arnold Brecht antwortet daraufhin: „Arnold glad about cable will answer soonest after arrangements with father.“ Alvin Johnson an Edith Richter Friedrich, New York, 4. 10. 1933 sowie Arnold Brecht an Alvin Johnson, Berlin, 6. 10. 1933, BAK, NLB, N 1089/3.
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I. Staatsdienst und Wissenschaft in der Weimarer Republik
späteren Brief seine Zusage versicherte.908 In seiner Antwort informierte Brecht Johnson darüber, daß er – um seinen Paß wiederzubekommen909 – noch die folgenden Punkte in den Vertrag mit der New School aufnehmen müsse: „1. – that the Institute does not concern itself with politics and is not an ,University in Exile‘, as sometimes termed in the press, for neither am I nor are most of my colleagues exiles from our country or wish to be considered as such. 2. – that my duties at the Institute will not involve expression on current political issues. 3. – that I am free to return to Germany in May or June next year.“910
Johnson sicherte Brecht daraufhin in einem Telegramm alle drei Forderungen zu,911 und so ging Brechts Plan auf: das Auswärtige Amt bewilligte seine Ausreise und die seiner Frau und händigte wenig später beiden ihre Pässe wieder aus.912 Damit waren alle Voraussetzungen dafür geschaffen, das Land zu verlassen. Am 9. No908 Zugleich machte er Brecht auf die Dringlichkeit seiner Ausreise aufmerksam: „Our term has already opened, but we shall be able to organize additional courses early in November. It is, however, very urgent that you should come as soon as practicable.“ Alvin Johnson an Arnold Brecht, New York, 4. 10. 1033, BAK, NLB, N 1089/3. 909 Entgegen der Annahme von Claus-Dieter Krohn ist davon auszugehen, daß diese von Brecht angegebene Begründung der Realität entsprochen hat. Krohn moniert: „In seinen Lebenserinnerungen stellt Brecht die Vorbereitungen der Ausreise als quasi konspirativen Akt dar, der von eingezogenen Pässen, als Familiennachrichten getarnten Korrespondenzen mit Alvin Johnson und anderen dramatischen Zuspitzungen begleitet wurde. In seinem Nachlass finden sich dafür allerdings keine entsprechenden Belege, so dass von einer griffigen Konstruktion auszugehen ist, mit der sich Brecht Jahrzehnte später seine selbstverordneten Legalitätsbindungen und Loyalitätsbekundungen schön zu reden suchte.“ Krohn, Claus-Dieter: „Refugee scholar“ an der New School for Social Research in New York nach 1933, in: ders./Unger, Corinna R. (Hg.), Arnold Brecht 1884 – 1977. Demokratischer Beamter und politischer Wissenschaftler in Berlin und New York, Stuttgart 2006, S. 107 – 127 (111). Krohns Behauptung, daß sich im Nachlaß Arnold Brechts keine getarnten Korrespondenzen mit Johnson fänden, ist falsch; aus den entsprechenden verklausulierten Telegrammen, die sich sehr wohl im Nachlaß finden, wurde oben bereits zitiert. Auch Krohns Vermutung, Brechts Hinweis auf die einzuholenden Pässe sei lediglich eine „griffige Konstruktion“, um sich selbst ins rechte Licht zu rücken, scheint sich anhand des vorliegenden Aktenmaterials nicht zu bestätigen. In dem Brief an Johnson erklärt er, daß die Aufnahme der angeführten Punkte in den Vertrag „essential for me in my present situation“ sei; dies allein muß noch nichts heißen, doch es befindet sich auf dem Briefbogen darüber hinaus eine handschriftliche Notiz von Brecht, in der er erläutert: „Dieses Schreiben hat der später hingerichtete frühere Generalkonsul in New York, Dr. Kieß, mir geholfen, aufzusetzen. Es sollte mir helfen, meinen mir von der Reichsregierung weggenommenen Paß wiederzubekommen mit Hilfe des AA [Auswärtigen Amts, H.B.], was auch gelang. AB“ Es ist ausgesprochen unwahrscheinlich, daß Brecht sich diese Sache ausgedacht und sich dann auch noch die Mühe gemacht hat, den Brief nachträglich mit einer – vermutlich für das Bundesarchiv bestimmten – Notiz zu versehen, die die Wahrheit zu verschleiern sucht. Dies gilt umso mehr, als er in anderen Briefen, die ihn politisch in ein viel fragwürdigeres Licht rücken, keinerlei Versuche unternommen hat, durch nachträglich handschriftlich hinzugefügte Erklärungen irgendetwas zu begradigen. 910 Arnold Brecht an Alvin Johnson, Berlin-Steglitz, 13. 10. 1933, BAK, NLB, N 1089/3. 911 Vgl. Alvin Johnson an Arnold Brecht, New York, 26. 10. 1933, BAK, NLB, N 1089/3. 912 Vgl. Schreiben des Auswärtigen Amts an Arnold Brecht, Berlin 11. 10. 1933, BAK, NLB, N 1089/3.
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vember 1933 fuhren Brecht und seine Frau mit dem Schiff nach Amerika – ohne zu wissen, daß sie dort endgültig bleiben würden. Erst im Rückblick erkannte Brecht, daß die politischen Weichen zu diesem Zeitpunkt bereits längst gestellt waren: „der faschistische und totalitäre Staat [war] fest begründet. Der offene Kampf gegen ihn war zu Ende. Der Vorhang war gefallen. Das große Schweigen hatte begonnen.“913
913
Brecht, VzS, S. 162.
II. Zwischen zwei Welten – Emigration und politische Wissenschaft nach 1933 „A ,University in Exile‘ – that sounded good. For it was the university itself that was being exiled from Germany.“1 „This youngest American institution of higher learning is in an interesting way connected with a strange incident, which should put every German to shame, an incident that happened at, or I should rather say was inflicted on, the oldest German university, Heidelberg. There the great lecture hall […] bore the inscription: ,To the Living Spirit.‘ The inscription – unbelievable as it seems – has been removed from the building. Thus the regime itself has declared that there is – for the time being – no home for the living spirit in Germany’s universities. Now I suggest that your faculty take these words and make them your motto, to indicate that the living spirit, driven from Germany, has found a home in this country.“2
Die Exiluniversität der New School for Social Research Im Oktober 1933 nahm die „University in Exile“ der New School for Social Research in New York erstmals ihren Lehrbetrieb auf.3 Sie beheimatete zu diesem Zeitpunkt vierzehn Wissenschaftler, die nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten aus Deutschland geflohen waren, darunter so bedeutende Persönlichkeiten wie Emil Lederer, Frieda Wunderlich, Max Wertheimer und Gerhard Colm.4 1
Johnson, Alvin: Pioneer’s Progress. An autobiography, Nebraska 1960 (1. Aufl. New York 1952), S. 338. 2 Mann, Thomas: The Living Spirit, in: Social Research 4, 1937, S. 265 – 272 (271 f). Der Text geht auf eine Rede zurück, die Thomas Mann anläßlich des vierjährigen Bestehens der Graduate Faculty der New School for Social Research gehalten hat. 3 Grundlegend zur Geschichte der New School: Rutkoff, Peter M./Scott, William B.: New School. A History of the New School for Social Research, New York/London 1986. Daraus auch ein von Mara Luckmann übersetztes Kapitel: Rutkoff, Peter M./Scott, William B.: Die Schaffung der „Universität im Exil“, in: Srubar, Ilja (Hg.), Exil, Wissenschaft, Identität. Die Emigration deutscher Sozialwissenschaftler 1933 – 1945, Frankfurt a. M. 1988, S. 106 – 141. 4 Die genaue Zahlenangabe zu den ersten emigrierten Wissenschaftlern ist einem Aufsatz Krohns entnommen: Krohn, Claus-Dieter: „Weimar“ in Amerika: Vertriebene deutsche Wissenschaftler an der New School for Social Research in New York, in: Lehmann, Hartmut/Oexle, Otto Gerhard (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Band 2: Leitbegriffe – Deutungsmuster – Paradigmenkämpfe. Erfahrungen und Transformationen im Exil, Göttingen 2004, S. 289 – 304 (295). Anders allerdings Rutkoff und Scott, die für diesen Zeitraum nur von
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Die Idee, eine Universität zu gründen, die eine neue Heimatstätte für die Emigranten werden könnte, geht auf Alvin Johnson zurück. Ihm ist es zu verdanken, daß sich die New School – anfangs lediglich „eine kleine Reforminstitution der Erwachsenenbildung“5 – zu einer einzigartigen Hochschule entwickelte, die „ins Bildungssystem des Asyllandes eingegliedert wurde, um die Erkenntnisse einer spezifischen Wissenschaftstradition im Rahmen einer eigens dafür geschaffenen Institution aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln“6. 1919 zählte Alvin Johnson neben John Dewey, Charles Beard, Harold Laski und einigen anderen „Liberalen und Radikaldemokraten“7 zu den Mitbegründern der New School for Social Research. „The need of a new institution which should be honestly free“, gehörte nach Auskunft von Alvin Johnson zu den Gründungsimpulsen der Initiatoren. Das vorrangige Ziel bestand zunächst darin, „to create a true school of advanced adult education“, was auch die Arbeiterbildung einschloß.8 Nach Einschätzung von Claus-Dieter Krohn war dies gleichsam einer Not der Zeit geschuldet, „denn Angebote dieser Art gab es bis dahin angesichts der verbreiteten Aufstiegserwartungen in der bis Anfang des Jahrhunderts offenen dynamischen Gesellschaft Amerikas kaum“9. Die New School hatte damit eine gewisse Ähnlichkeit mit der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin;10 und zwölf Wissenschaftlern sprechen. Vgl. Rutkoff/Scott, Schaffung der „Universität im Exil“, S. 109. 5 So Rutkoff/Scott, Schaffung der „Universität im Exil“, S. 106. 6 So die Charakterisierung von Luckmann, Benita: Eine deutsche Universität im Exil: Die „Graduate Faculty“ der „New School for Social Research“, in: Lepsius, M. Rainer (Hg.), Soziologie in Deutschland und Österreich 1918 – 1945. Materialien zur Entwicklung, Emigration und Wirkungsgeschichte, Opladen 1981, S. 427 – 441 (427). 7 Krohn, Claus-Dieter: Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research, Frankfurt a. M./New York 1987, S. 71. 8 Johnson, Pioneer’s Progress, S. 273. Monika Plessner erläutert: „Nach europäischen Vorstellungen handelt es sich um eine – allerdings sehr anspruchsvolle – Abendvolkshochschule mit Schwerpunktprogrammen in den Gesellschaftswissenschaften.“ Plessner, Monika: Die deutsche „University in Exile“ in New York und ihr amerikanischer Gründer, in: Frankfurter Hefte 19 (Heft 3), 1964, S. 181 – 186 (182). 9 Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 71. So auch Gerhard Colm in seinem Handbuch-Artikel über Alvin Johnson: „The New School was probably the first institution in America designed to enable mature adults to deal with the intellectual challenges of time.“ Colm, Gerhard: Johnson, Alvin, in: Sills, David L. (Hg.), International Encyclopedia of the Social Sciences, Vol. 7, New York/London 1968, S. 260 – 262 (261). 10 So weist Benita Luckmann etwa auf folgende Parallelen zwischen den beiden Hochschulen hin: „Sie sind beide in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden und stellten sich die Aufgabe, den Wiederaufbau oder die Weiterentwicklung ihrer jeweiligen Gesellschaften zu unterstützen. Beide waren sozialwissenschaftliche Hochschulen außerhalb des offiziellen Universitätssystems, sie waren Privatgründungen, finanziell unabhängig und der akademischen Freiheit verpflichtet. Für beide war Lehr- und Forschungsziel die Erfassung und Lösung von Gegenwartsproblemen. Beide führten neue Lehrmethoden ein: Zusammenarbeit mit den Studenten; Weiterbildung von Erwachsenen; es wurde kein Nachweis über vorherige Ausbildung verlangt. Der Unterricht wurde am Nachmittag und Abend erteilt.“ Luckmann, Eine deutsche Universität im Exil, S. 433.
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so war es sicher auch kein Zufall, daß sieben frühere Mitarbeiter der DHfP – darunter auch Brecht – an der späteren „Graduate Faculty of Social and Political Sciences“ vertreten waren.11 In politischer Hinsicht war die New School ausdrücklich antikommunistisch ausgerichtet; so legte Johnson beispielsweise viel Wert darauf, daß die New School nicht mit der sozialistischen Rand School of Social Science verwechselt wurde,12 und machte auch aus seiner scharfen Kritik am Marxismus kein Hehl: „The fact is that from the very beginning the New School has been what the Marxians call ,bourgeois‘. We believed in free and untrammeled teaching. We wished to understand the other party’s point of view as well as our own. But that, the Marxians said, was a typical bourgeois attitude. Where were our views different from the professed views of any ordinary university? At no point, except that we were trying to work out an educational plan under which professions of academic liberty could be taken seriously. But to the Marxians there is no truth but their truth, and the whole duty of a teacher is indoctrination.“13
Doch auch wenn in dieser Hinsicht das Profil der New School bereits in ihren Anfangsjahren geschärft war, erlangte sie zunächst noch keine größere Bedeutung.14 Das änderte sich erst mit der Gründung der „University in Exile“, mit deren Konzipierung Johnson im April 1933 begann. Erste Kontakte mit deutschen Wissenschaftlern entstanden jedoch bereits im Laufe der Arbeit an der „Encyclopedia of the Social Sciences“, deren Herausgeber er gemeinsam mit Edwin R.A. Seligman war.15 Die Arbeitsaufteilung zwischen Seligman und Johnson beschreibt Gerhard Colm dabei so: „Seligman conducted all external relations with foundations and other domestic and foreign organizations, while Johnson primarily directed the staff work. He became, indeed, the main architect and the guiding force of that ambitious project […].”16 Am Ende kam dabei heraus, daß über „600 Wissenschaftler aus aller Welt“17 11 Angaben nach Luckmann, Eine deutsche Universität im Exil, S. 434. Hier auch weitere Erläuterungen. 12 In seiner Autobiographie berichtet er von der Verärgerung, die er im nachhinein über seine eigene Namensgebung der Hochschule empfunden habe: „For this is New York, where people are too busy to distinguish between terms that look somewhat alike. The New School for Social Research looked somewhat like the Rand School of Social Science. Hundreds of thousands of New Yorkers […] assumed that the two institutions were the same. And as the Rand School was a socialist institution – and a very distinguished one – it was assumed that the New School was socialist. […] But the delusion […] has cost us tens of thousands of students and hundred of thousands in contributions.“ Johnson, Pioneer’s Progress, S. 275. 13 Johnson, Pioneer’s Progress, S. 275. 14 Dies galt nach Auskunft von Rutkoff und Scott auch für den fest angestellten Lehrkörper, der sich bis Anfang 1933 „keiner berühmten Mitglieder brüsten“ konnte. Vgl. Rutkoff/Scott, Schaffung der „Universität im Exil“, S. 106. 15 Der erste Band der insgesamt fünfzehnbändigen Enzyklopädie erschien 1930, abgeschlossen wurde das Projekt 1935. Vgl. Seligman, Edwin R.A./Johnson, Alvin (Hg.): Encyclopedia of the Social Sciences, Vol. 1 – 15, New York 1930 ff. 16 Colm, Johnson, S. 261. 17 Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 72.
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an dem Projekt mitarbeiteten und damit die Weichen gestellt waren für einen Prozeß, den man unter dem Begriff der transatlantischen Wechselbeziehungen subsumieren kann. Denn aufgrund der zahlreichen Beiträge, die vor allem aus Deutschland kamen, bekam Johnson einen „detaillierten Einblick“ in die dortigen Forschungsschwerpunkte und „in den Stand der sozialwissenschaftlichen Diskussion“18. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen und zahlreiche Professoren und Beamte entlassen wurden, reagierte Johnson, der einige unter ihnen ja bereits durch ihre Arbeit für die Encyclopedia kannte, mit Bestürzung: „I was deeply distressed, not only for my friends who had been cashiered, but for an institution which had stood out before the world as the most secure fortress of intellectual freedom, the German university. The imperious Hohenzollerns had never laid an impious hand on the university; Bismarck, who respected, as a rule, nothing that might stand in his way, respected the universities. Even the disastrous World War had left the universities fundamentally unscathed.“19
So entstand Johnsons Idee, eine „Universität im Exil“ zu gründen. „Für eine bessere Welt zu kämpfen, die sich jetzt und hier verwirklichen muß, war der starke Antrieb seines Lebens.“ Mit diesen Worten charakterisiert Monika Plessner Johnsons Einsatz für die aus Deutschland vertriebenen Wissenschaftler.20 Joachim Radkau sieht dagegen das leitende Handlungsmotiv Johnsons eher in strategischen Überlegungen und konstatiert weitaus weniger euphorisch, daß Johnson „sofort die Chance begriffen haben“ müsse, „die die NS-Machtergreifung in Deutschland für ihn bedeutete“. Denn, so Radkau weiter, „nachdem durch den Weggang der anspruchsvollen Koryphäen der ersten Jahre der Betrieb an der New School alltäglicher geworden war, bot sich hier die Gelegenheit, sie erneut zu einem Mittelpunkt zu machen“21. Auch Claus-Dieter Krohn betont, daß Johnsons Initiative „nicht allein als solidarischer Akt gedacht“ war,
18 Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 72. Welche Konsequenzen dieser Wissenstransfer auf sprachlicher Ebene hatte, erzählt Johnson cum grano salis in seinen Erinnerungen: „In comparing the translation with the original I sometimes experienced disagreeable surprises – especially with the Germans. I’d read an article that looked good in the original. In the translation there was not a thing in it. I would compare the original and the translation, sentence by sentence. The translation had been faithful. And my respect for the German would rise. With that wonderful language you can make something out of nothing.“ Johnson, Pioneer’s Progress, S. 311. 19 Johnson, Pioneer’s Progress, S. 337. Die deutsche Universität genoß zu dieser Zeit in Amerika einen ausgezeichneten Ruf. Benita Luckmann führt dazu aus: „Die deutsche Universität hatte im amerikanischen Universitätsleben des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine besondere Rolle gespielt. Sie galt als Symbol wahrer Gelehrtheit und reiner Wissenschaft und wurde zur Pilgerstätte vieler amerikanischer Studenten.“ Luckmann, Eine deutsche Universität im Exil, S. 428. 20 Plessner, „University in Exile“, S. 181. 21 Radkau, Joachim: Die deutsche Emigration in den USA. Ihr Einfluß auf die amerikanische Europapolitik 1933 – 1945, Düsseldorf 1971, S. 36.
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„sondern sein Engagement für die deutschen Wissenschaftler sollte der isolationistischen Öffentlichkeit auch vor Augen führen, daß solche Aktionen Amerika nicht zu einem Flüchtlingsland machten, sondern zu einem Zentrum internationaler Forschung mit höchsten Qualifikationsstandards“.22
Die Emigranten ließen sich als „die größte Ansammlung von umgesiedelter Intelligenz, Begabung und Gelehrsamkeit“ beschreiben, „die die Welt jemals gesehen hat“23. In seiner Festrede für Alvin Johnson hob Thomas Mann hervor, worin die Bedeutung der Rettungsaktion Johnsons zu sehen sei: „Er hat damit den ganzen Kulturkreis zu Dank verpflichtet, hat den geistigen Antrieb dieses Landes verstärkt und dem obdachlosen europäischen Gedanken eine Stätte zum Überwintern, zum Überleben gegeben, wo er seinerseits sich bereichern, sich mit Welt und Weite erfüllen kann; und er hat damit aus dem Instinkt eines im tiefsten Sinn klugen Menschen eine Tat vollbracht, die sich wunderbar den großen und wesentlichen Forderungen der Weltstunde anpaßt.“24
Nachdem Johnson nach einigen Mühen genügend Gelder aufgetrieben hatte, um sein Vorhaben zu finanzieren,25 stand dem Aufbau der neuen Universität nichts mehr im Weg. Die sorgfältige Auswahl jener Wissenschaftler, die Johnson an sein Institut zu holen versuchte, erfolgte fachlich nach ähnlichen Kriterien wie bei der Konzipierung der „Encyclopedia of the Social Sciences“. Johnson erinnert sich:
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Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 70. Siehe dazu auch ders., „Weimar“ in Amerika, S. 295. Rutkoff und Scott drücken es so aus: „In Alvin Johnson fanden die Emigranten einen vertrauenswürdigen und verläßlichen Freund und Beschützer; Alvin Johnson seinerseits fand in den Emigranten das Werkzeug für die Erfüllung seines Traums für die New School.“ Rutkoff/ Scott, Schaffung der „Universität im Exil“, S. 107. 23 Krohn, „Weimar“ in Amerika, S. 290. 24 Mann, Thomas: Alvin Johnson – World Citizen (1943), abgedr. in: ders., Tagebücher 1940 – 1943, hrsg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1982, S. 1093 – 1098 (1096). Thomas Mann hielt diese Rede anläßlich des bevorstehenden siebzigjährigen Geburtstages von Alvin Johnson und des 25jährigen Bestehens der New School. Anders als bei seiner ersten Rede an der New School, die er 1937 hielt (s. Eingangszitat), bedurfte es diesmal nicht mehrerer Telegramme, bis Mann sich zu einer Zusage entschließen konnte. 1937 hatte Johnson Thomas Mann in zwei Telegrammen erklärt, daß sein Kommen von ,vitaler Wichtigkeit‘ sei. Als er ein weiteres langes Telegramm erhielt, das von der gesamten Belegschaft der New School unterzeichnet war, sagte Mann schließlich zu und notierte seufzend in sein Tagebuch: „Was soll man machen. Wenn ein gutes Schiff zum rechten Zeitpunkt geht, werden wir reisen.“ (Mann, Thomas: Tagebücher 1937 – 1939, hrsg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1980, S. 36 f (Einträge vom 5. 3. 1937 sowie vom 7. 3. 1937).) Johnson hatte wohl auch deshalb ein solch „vitales“ Interesse an Manns Kommen, weil ein „reiche[r] Mann namens Littauer“ versprochen hatte, der Graduate Faculty „hunderttausend Dollar zu stiften“, wenn Mann „nach New York komme und bei der Feier die Festrede halte“ – ein Versprechen, das er dann auch hielt. Vgl. ebd., S. 67 (Eintrag vom 29. 5. 1937) sowie S. 593 (Anmerkungen). 25 Vgl. dazu Johnson, Pioneer’s Progress, S. 339 ff; Rutkoff/Scott, Schaffung der „Universität im Exil“, S. 115 ff; Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 74 f sowie 79 f.
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„In the political sciences the scholars we regarded as most promising were those who drew their inspiration from Max Weber, the most creative thinker of our time. In psychology we rated highest Max Wertheimer and his associates in the Gestalt school, Wolfgang Köhler and Kurt Koffka.“26
In der Philosophie war eine weitere Bezugsgröße die Phänomenologie Edmund Husserls, die an der New School durch Alfred Schütz vertreten wurde.27 Damit waren die weltanschaulichen Positionen klar abgesteckt: Nicht der Marxismus, sondern die Soziologie Max Webers, nicht die Psychoanalyse Sigmund Freuds, sondern die Gestaltpsychologie Max Wertheimers waren die wissenschaftlichen und politischen Bezugspunkte der New School.28 Sie bot dadurch das genaue Kontrastprogramm zur Frankfurter Schule und ihrem Institut für Sozialforschung, deren Anhänger bekanntlich auch emigrieren mußten; von einem freundschaftlichen Verhältnis zwischen den beiden Instituten konnte also nicht die Rede sein.29 In der neuen Lehrstätte der Emigranten entstand zwangsläufig ein transatlantischer Wissenstransfer, in dem europäische Denktraditionen in das amerikanische Wissenschaftssystem hinübergeführt wurden. Von seiner Auswahl an emigrierten Wissenschaftlern versprach sich Johnson daher auch neue Impulse für die amerikanischen Sozialwissenschaften. Nach Einschätzung von Monika Plessner ging es Johnson „um den Kampf gegen das Überhandnehmen des angelsächsischen Pragmatismus, dem er andersgeartete theoretische und spekulative Impulse zuführen wollte“30. Damit, so die Bewertung Krohns, war die Absicht verbunden, „unübersehbare Zeichen auf vernachlässigten Gebieten der amerikanischen Gesellschaftswissenschaften zu setzen“31. Doch auch politische Motive spielten für Johnson eine Rolle. So betonen Rutkoff und Scott, „daß die an die New School geladenen Sozialwissenschaftler nicht nur ihrer wissenschaftlichen Bedeutung wegen, sondern auch wegen ihrer Verbindung von wissenschaftlicher Tätigkeit mit politischem Engagement ausgewählt worden waren. Ganz ähnlich wie Johnson selbst glaubten diese Europäer, daß Sozialwissenschaft sich mit politischen und 26
Johnson, Pioneer’s Progress, S. 336. Vgl. Plessner, „University in Exile“, S. 184. Siehe dazu auch Marcuse, Herbert: Der Einfluß der deutschen Emigration auf das amerikanische Geistesleben: Philosophie und Soziologie, in: Jahrbuch für Amerikastudien 10, 1965, S. 27 – 33 (27 ff). 28 Eine wichtige Rolle spielte an der New School darüber hinaus die Nationalökonomie. Vgl. dazu Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 105 ff. Siehe auch ders., Die Emigration deutschsprachiger Ökonomen, in: Strauss, Herbert A./Fischer, Klaus/Hoffmann, Christhard/Söllner, Alfons (Hg.), Die Emigration der Wissenschaften nach 1933. Disziplinengeschichtliche Studien, München u. a. 1991, S. 183 – 192. 29 Das Urteil Joachim Radkaus, der Horkheimer-Kreis sei im Vergleich zur New School „damals radikaler, in den Methoden moderner und auf die Dauer weit erfolgreicher“ gewesen, entspricht zwar seinem insgesamt recht skeptischen Blick auf die New School, doch es fällt mit Blick auf die Leistungen der New School zu negativ aus. (Vgl. Radkau, Emigration, S. 38.) Sehr viel differenzierter dazu aber die Ausführungen von Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 213 ff. 30 Plessner, „University in Exile“, S. 182. 31 Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 73. 27
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sozialen Reformen befassen sollte. Als Intellektuelle hatten sie in der Gesellschaft ihrer Heimatländer ähnliche Positionen eingenommen wie die New School in den USA.“32
Um sich fachkundigen Rat einzuholen, setzte Johnson sich mit Emil Lederer in Verbindung, der im Herbst 1933 erster Dekan der exilierten Universität wurde. Während Lederer Johnsons „Berater und Vermittler“ wurde, diente sein früherer Assistent Hans Speier als „Kurier“ und „übermittelte Angebote, Zusagen und Anfragen“33. Zwischen 1933 und 1945 nahm die „University in Exile“ insgesamt 178 Wissenschaftler aus Deutschland und anderen Teilen Europas auf.34 Schon kurze Zeit nach ihrer Gründung kam der Name „University in Exile“ außer Gebrauch und wurde durch die Bezeichnung „Graduate Faculty of Political and Social Science“ ersetzt. Dies geschah nach Auskunft der „Social Research“ – der fakultätseigenen Zeitschrift, die bereits Anfang 1934 gegründet worden war35 – aus dem folgenden Grund: „But it soon appeared that the combination of these two words, university and exile, excellent as it was in descriptive value, held in itself the elements of contradiction. A university, that is, a collective attempt to make the universality of culture productive und useful, can hardly be in exile. Especially it cannot be in exile in a country like the United States. The American vision and generosity which made the institution possible have from the beginning precluded the danger that it might have a precarious and secluded life.“36
Hinsichtlich der Struktur und des Innenlebens der Graduate Faculty war es eines der wichtigsten Anliegen Johnsons, den Emigranten das Einleben in der neuen Arbeitsstätte zu erleichtern und den Prozeß der Akkulturation37 voranzutreiben. Es waren zunächst drei Ziele, die Johnson sich setzte: 32
Rutkoff/Scott, Schaffung der „Universität im Exil“, S. 108. Luckmann, Eine deutsche Universität im Exil, S. 430. 34 Zahlenangabe bei Rutkoff/Scott, Schaffung der „Universität im Exil“, S. 107. Eine detaillierte Auflistung aller von der New School aufgenommenen Emigranten findet sich bei Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 227 ff. 35 Vgl. dazu Krohn, Claus-Dieter: Social Research. Zeitschriftenporträt, in: GuG 12, 1986, S. 274 – 281. Zur Erläuterung des Ziels und Anliegens der Zeitschrift vgl. auch das Vorwort in der ersten Ausgabe der „Social Research“: Johnson, Alvin: Foreword, in: Social Research 1, 1934, S. 1 – 2. 36 Foreword, in: Social Research 4, 1937, S. 263 – 264 (263). Siehe dazu auch Krohn, der die Namensänderung so erklärt: „einmal sperrten sich die deutschen Wissenschaftler gegen jenen mehr auf ein vorübergehendes Provisorium und ihren Außenseiter-Status im amerikanischen Hochschulsystem verweisenden Reklame-Begriff, zum anderen war die Benennung nur einer einzigen sozialwissenschaftlichen Fakultät als Universität auch mißverständlich.“ Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 81. 37 Vgl. zum Begriff der Akkulturation den sehr informativen Überblick von Hoffmann, Christhard: Zum Begriff der Akkulturation, in: Krohn, Claus-Dieter u. a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933 – 1945, Darmstadt 1998, S. 117 – 126. In bezug auf die Wissenschaftsemigration rekurriert der Begriff vor allem auf „die Veränderung im akademischdisziplinären Selbstverständnis, die aus dem unmittelbaren Kontakt zu anderen Wissenschaftskulturen entsteht“. Ebd., S. 123. Im Kern geht es bei dem Akkulturationsansatz darum, 33
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„First, the plan would promote the unity of the social sciences within our faculty. Second, the several members would appear repeatedly, not only before their colleagues as in faculty meetings, but before a public including professors from other institutions. Thus they would come to be known to an expanding circle of Americans and would soon feel at home.“38
Das dritte Ziel bestand in der Etablierung eines „General Seminar“, an dem alle Mitglieder der Fakultät teilnehmen sollten.39 Neben der verpflichtenden Mitarbeit an der „Social Research“40 war dies ein weiteres Mittel zur Integration der Emigranten, die „nicht einfach eine weitere ausländische Enklave in der Stadt New York“ sein sollten.41 Die regelmäßige Zusammenkunft und Zusammenarbeit der emigrierten Mitarbeiter hatte nach Johnson dabei eine wichtige Funktion: „To function perfectly in an American institution, the foreign professors have to go through a process of assimilation. But assimilation by individuals, in America, has always involved much amputation of virtues as well as vices. A coordinated faculty of German scholars would adapt itself to America, but as a group, retaining in its inner structure the strength of its original discipline.“42
Des weiteren legte Johnson Wert darauf, „daß die Fakultät ihre akademischen Tätigkeiten selbst verwalten konnte“,43 und setzte sich für die Unabhängigkeit und
daß „nicht mehr nur nach der einseitigen Assimilation der Zuwanderer“ gefragt, „sondern deren Wirkungen und dem darauf basierenden Wandel der amerikanischen Kultur und Gesellschaft in einem interaktiven Prozeß des Gebens und Nehmens“ nachgegangen wird. So die Zusammenfassung von Krohn, Claus-Dieter: Zufluchtsländer: Arbeits- und Lebensbedingungen im Exil. Vereinigte Staaten von Amerika, in: ders. u. a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933 – 1945, Darmstadt 1998, S. 446 – 466 (447). 38 Johnson, Pioneer’s Progress, S. 345. 39 Alvin Johnson führt dazu aus: „Friction inevitably develops in every faculty group. Strong characters are prone to doctrinal disagreement, and these exiled professors were all strong. In most universities professors criticize one another severely in their offices and more or less furtively in their lectures. By the institution of a general seminar disagreement and criticism would be drawn out into the open.“ Johnson, Pioneer’s Progress, S. 345. 40 Benita Luckmann kommt in diesem Zusammenhang auf die Schwierigkeiten zu sprechen, die den Emigranten vor allem die englische Sprache bereitete: „Der Zwang zur Mitarbeit an Social Research war lange Zeit eine Quelle großer Bitternis für Mitglieder der Fakultät. Wenn es schon schwierig war, englisch zu unterrichten, wie viel schwieriger war es, seine Gedanken, seine Argumente, seine Forschungsergebnisse in einer fremden Sprache darzustellen. Es folgte ein langer Leidensweg der Autoren – und der Lektoren.“ Luckmann, Eine deutsche Universität im Exil, S. 438. 41 Rutkoff/Scott, Schaffung der „Universität im Exil“, S. 134. 42 Johnson, Pioneers’s Progress, S. 339 f. Etwas später fügt er hinzu: „In setting up the University in Exile I conceived that while the faculty as a unit world become assimilated to American conditions, the group organization would protect the individual member against the conventional mutilating process of individual assimilation. I hoped that these European scholars would retain the values of the European university discipline.“ Ebd., S. 347. 43 Rutkoff/Scott, Schaffung der „Universität im Exil“, S. 132. Die Autoren führen aus: „Um die akademische Freiheit zu garantieren, überließ Johnson den Mitarbeitern die Kontrolle über Organisation, Lehrplan und Anstellungs- und Beförderungsverfahren. Die Lehrenden wählten
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wissenschaftliche Freiheit seiner Mitarbeiter ein. „Equality, academic freedom, autonomy, have been the principles of the Graduate Faculty“, resümiert Johnson in seiner Autobiographie.44 Dies entsprach auch der Verfassung der Fakultät, die besagte, „daß ihre Politik nicht nach Kriterien von Rasse, Religion oder politischen Überzeugungen, sondern allein von wissenschaftlichen Maßstäben sowie der Kompetenz und Integrität ihrer Mitglieder bestimmt werde“45. Von der Xenophobie und dem oftmals antisemitischen Klima, die an den amerikanischen Universitäten in den 1930er Jahren keine Seltenheit waren,46 hob sich die New School besonders positiv ab. Krohn bilanziert, daß es nicht übertrieben sei, „wenn die New School in jenen Jahren von sich behauptete, die einzige Institution der höheren Bildung in Amerika zu sein, in der es absolut keine rassische Diskriminierung“ gegeben habe.47 Und auch insgesamt sind die Leistungen der New School und ihrer Graduate Faculty beachtlich. Sie lassen sich – wiederum mit den Worten von Krohn – so zusammenfassen, „daß die deutschen Wissenschaftler genau zur richtigen Zeit mit den richtigen Botschaften an den richtigen Ort kamen und so in den dreißiger Jahren mit dazu beitrugen, daß die USA zu einer intellektuellen Großmacht wurden“48. Mit der Aufnahme seiner Tätigkeiten an der New School hatte auch Brecht einen Anteil an dieser transatlantischen Wissenschaftsentwicklung. Amerika und die deutschsprachige Emigration: Forschungsperspektiven Doch welche Bedeutung hatte die Auswanderung nach Amerika für die Emigranten generell? Bei der Beantwortung dieser Frage kann es zunächst nur darum gehen, einige allgemeine Tendenzen aufzuzeigen, um in den nachfolgenden Kapiteln vor diesem Hintergrund Brechts Umgang mit der Emigrationserfahrung untersuchen zu können. Die Vereinigten Staaten von Amerika gelten als „das klassische Einwanderungsland“49 ; gleichwohl unterlag die amerikanische Flüchtlingspolitik seit dem Ersten Weltkrieg einem strengen Quotierungssystem, nach dem nur eine begrenzte Zahl an Zuwanderern in das Land gelassen wurde.50 Umgekehrt war auch das Bild, selbst ihren Dekan auf zwei Jahre, unterlagen keiner Zensur durch die Verwaltung und konnten ohne Beschränkung politisch tätig sein.“ Ebd., S. 133. 44 Johnson, Pioneer’s Progress, S. 346. 45 So die Zusammenfassung von Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 81. Siehe dazu auch Rutkoff/Scott, Schaffung der „Universität im Exil“, S. 133. 46 Vgl. dazu Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 28 ff. 47 Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 81. 48 Krohn, Weimar in Amerika, S. 304. Zu den fachlichen Leistungen und der wissenschaftlichen Reputation sowohl des Instituts insgesamt als auch seiner einzelnen Mitglieder ausführlich Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 177 ff. 49 Krohn, Zufluchtsländer, S. 446. 50 Interessanterweise galt die Quotierung allerdings nicht für den Bereich der Wissenschaften. Vgl. dazu Krohn, Zufluchtsländer, S. 448 ff und 457 f. Insgesamt läßt sich nach Krohn besonders in den Jahren nach 1938 von einem „isolationistischen und fremdenfeindlichen
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das sich einige Emigranten von ihrem neuen Zufluchtsland machten, anfangs noch sehr negativ. So erinnert sich etwa Carl Zuckmayer, mit welcher Abscheu er zunächst Amerika betrachtete: „Warum sollten wir uns, in peinlicher und würdeloser Hast, nach einem Lande drängeln, in das wir nicht gehören, das uns nichts zu geben hat, von dem wir nichts lernen können und dem wir nichts zu sagen haben? Ich war noch nie […] drüben gewesen. Aber wir wußten alles ganz genau, was es da drüben gab oder nicht gab, vom schlechten Essen bis zur seelischen und erotischen Frigidität […]. Ein Land der phantasielosen Standardisierung, des flachen Materialismus, der geistfremden Mechanik. Ein Land ohne Tradition, ohne Kultur, ohne Drang nach Schönheit oder Form, ohne Metaphysik und ohne Heurigen, ein Land des Kunstdüngers und der Büchsenöffner, ohne Grazie und ohne Misthaufen, ohne Klassik und ohne Schlamperei, ohne Melos, ohne Apoll, ohne Dionysos. Sollten wir der Versklavung europäischer Massendiktatur entrinnen, um uns unter die Tyrannei des Dollars, des ,business‘, der Reklame, der gewaltsamen Veräußerlichung zu begeben?“51
Häufig jedoch wurden Einschätzungen solcher Art nach einigen Jahren des Exils und im Rückblick auf die Emigrationsgeschichte revidiert, so daß am Ende doch ein positives Urteil überwog.52 Und so wird man auch generell sagen müssen, daß der Meinungsklima“ sprechen, in dem eine „restriktive Flüchtlingspolitik“ vorherrschte; aus diesem Grund fiel die Flüchtlingspolitik während dieser Zeit überwiegend in die Hände privater Hilfsorganisationen. Ebd., S. 451 f. 51 Zuckmayer, Carl: Als Emigrant in Amerika (1948), in: Schwarz, Egon/Wegner, Matthias (Hg.), Verbannung. Aufzeichnungen deutscher Schriftsteller im Exil, Hamburg 1964, S. 148 – 154 (149 f). Ein solches Urteil war keine Seltenheit unter den Emigranten; die Tendenzen lassen sich etwa so zusammenfassen: „Eine rechte Vorstellung vom Leben in den Vereinigten Staaten haben allerdings nur die wenigsten Flüchtlinge des Dritten Reiches mitgebracht. Ihre fehlerhaften Kenntnisse stützten sich auf die Lektüre von unrealistischer Literatur wie den Büchern von Karl May und Hollywood-Filme, wonach Amerika hauptsächlich von Indianern und Gangstern, Missionaren und Cowboys bewohnt wurde und wo es außer Wolkenkratzern und Wüsten keinerlei Landschaft gab.“ Pfanner, Helmut F.: Eine spröde Geliebte. New York aus der Sicht deutscher und österreichischer Exilanten, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Band 5 (1987): Fluchtpunkte des Exils und andere Themen, hrsg. im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung, München 1987, S. 40 – 54 (41). Zu einem etwas differenzierteren Urteil kommt Ernst Bloch: „Alles in diesem Land hat seinen eigenwilligen Zuschnitt, überall ist das große amerikanische Gesicht. […] Man sieht ein Land ohne feudale Vergangenheit, doch auch ohne irgendeine Bewegung größerer Art, die den Kapitalismus etwa als vergangen ansähe. Man sieht Pionierland mit einem bis vor kurzem fast ungebrochenen Glauben an prosperity innerhalb des Kapitalismus. Hier ist das Land der schärfsten und ungezügeltsten Kapitalinteressen, der illegalen und legalen Gangster, der Erfolgsanbetung, der atemlosen Jagd nach Beziehungen, der schrankenlosen Verwandlung alles Daseins zur Ware. Hier ist aber auch das Land einer sehr demokratischen, sehr humanistischen Ideologie von ehemals…“ Bloch, Ernst: Zerstörte Sprache – zerstörte Kultur (1939), in: Schwarz, Egon/Wegner, Matthias (Hg.), Verbannung. Aufzeichnungen deutscher Schriftsteller im Exil, Hamburg 1964, S. 178 – 188 (182). 52 So korrigiert etwa Zuckmayer seine oben zitierten Ausführungen grundlegend: „Nichts liegt mir ferner, als Amerika auf Kosten oder zu ungunsten Europas herausstreichen zu wollen. Denn ich bin ja selbst ein geborener, ausgewachsener und eingefleischter Europäer. Und Amerika hat mir die Chance gegeben, in meinem Beruf, in meinem Denken und Schaffen, in meiner Voraussetzung und meiner Arbeit, europäisch, ja sogar deutsch zu bleiben, und doch von ganzem Herzen ein Bürger Amerikas zu sein – ein Nachbar in einem nachbarschaftlichen Land,
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Einwanderungs- und Akkulturationsprozeß der Flüchtlinge in den USA insgesamt eine „Erfolgsgeschichte“ war,53 deren Ergebnis in dem wechselseitigen Wissens- und Kulturtransfer auf beiden Seiten des Atlantik abzulesen war. Das damit angedeutete Thema „transatlantische Wechselbeziehungen“ führt zu der Frage, welche Ansatzpunkte für die Forschung sich in diesem Kontext ergeben. Hierfür muß der Forschungsgegenstand zunächst noch klarer umrissen werden: In der Literatur beschreiben sich viele Emigranten oft als „Wanderer zwischen zwei Welten“.54 Diese Selbstbezeichnung bringt auf den Punkt, worum es in der Emigrationsforschung geht. Sie versucht jene „Komplexität des Identitätswechsels“ sichtbar zu machen, die „Exil bzw. Emigration schon immer bedeutet hat“55. In der Anfangszeit des Exils unterlagen die Emigranten „den üblichen Amerikanisierungsprozessen“, deren Hürde zunächst im Erlernen der englischen Sprache beeinem Land, dessen Leidenschaft und dessen Abenteuer die Zukunft ist, einem Land voll klarer, sauberer, einfacher Menschlichkeit, in dessen Ursprache ja ja ist und nein nein, einem Land, das aus unserer europäischen Zukunft nie mehr wegzudenken ist, nicht als unser Beherrscher, sondern als unser Weggenosse, und mit dessen freiem Volk wir gemeinsam eine freie und brüderliche Welt erstreben wollen.“ Zuckmayer, Als Emigrant in Amerika, S. 154. 53 Krohn, Zufluchtsländer, S. 463. Dies ist laut Krohn nicht zuletzt auf „eine Welle der Hilfsbereitschaft und ein Ausmaß spontanen Engagements“ zurückzuführen, „die für die Europäer unvorstellbar“ seien. Er fährt fort: „Anders wäre nicht zu erklären, daß die USA trotz aller administrativen Behinderungen im Vergleich zu anderen Ländern die meisten Flüchtlinge aufnahmen. In keinem Land hatte es nach 1933 so viele private Initiativen zur Rettung der Flüchtlinge gegeben wie dort, aus keinem Land sind auch so viele begeisterte Zeugnisse von immigrierten Flüchtlingen überliefert, insbesondere von denjenigen, die zuvor Erfahrungen mit anderen Exilländern gemacht hatten.“ Ebd., S. 456. 54 So z. B. Paul Tillich in einem Gespräch mit Radio Bremen, das 1962 eine Sendereihe mit und über Emigranten ausstrahlte, die während der NS-Zeit fliehen mußten: „Ich glaube, wenn man als Emigrant so gewaltsam von seinem Heimatland abgeschnitten worden ist, sich dann eine neue Heimat suchen muß, sie auch gefunden hat, dann hat man im Grunde keine Heimat mehr im Sinne des etwas romantisch-gefühlsmäßigen Heimatbegriffs, sondern man ist Wanderer zwischen zwei Welten. Und ich würde sagen, daß ich weder Amerika ganz als meine Heimat empfinde, noch daß ich Deutschland noch als meine Heimat ansehe, sondern: ich fühle mich zwischen den Welten.“ Paul Tillich, in: Radio Bremen (Hg.), Auszug des Geistes. Bericht über eine Sendereihe (Bremer Beiträge IV), Bremen 1962, S. 104. Während Tillich diese Identitätsfragen theologisch zu lösen versucht („ich bejahe diese Stellung, weil sie mit dem christlichen Grundgedanken, daß wir Pilger auf Erden sind, sehr viel Ähnlichkeit hat“, ebd.), kommt Louise Holborn zu einer Deutung, die um eine konstruktive Haltung bemüht ist, aber in ihrer ausschließlichen Positivität etwas zu einseitig ausfällt: „Wenn sich die Emigranten als ,Wanderer zwischen zwei Welten‘ ansehen, so bedeutet das nicht, daß sie gleichsam heimatlos zwischen zwei Welten stehen, sondern daß sie sich der Brücke bewußt sind, die zwischen Europa und Amerika geschlagen worden ist.“ Holborn, Louise W.: Deutsche Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten in den Jahren nach 1933, in: Jahrbuch für Amerikastudien 10, 1965, S. 15 – 26 (26). Bekannt wurde die oft zitierte Wendung schon vor dem Ende des Ersten Weltkrieges durch das „Kultbuch“ von Walter Flex, das den gleichnamigen Titel trug: Flex, Walter: Der Wanderer zwischen beiden Welten. Ein Kriegserlebnis, München 1917. 55 So Söllner, Alfons: Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration. Studien zu ihrer Akkulturation und Wirkungsgeschichte. Mit einer Bibliographie, Opladen 1996, S. 6.
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stand.56 Dennoch läßt sich nicht von einem einseitigen Assimilationsprozeß sprechen, sondern es muß von einem wechselseitigen Prozeß der Akkulturation und der „intellektuellen Transferleistungen“ ausgegangen werden.57 In der Frage, inwieweit der Einfluß der Emigration auf die Wissenschaftsentwicklung eines Landes demonstrierbar ist, zeigt sich die Notwendigkeit eines solchen Ansatzes, der die Interdependenz zwischen Heimat- und Zufluchtsland voraussetzt: „Was die Demonstrierbarkeit des Einflusses noch schwerer macht, ist, daß es jetzt schon beinahe unmöglich ist, zu unterscheiden, was Rezeption ist und was das amerikanische Geistesleben von sich aus beigesteuert hat. Wir sollten eigentlich nur von einer Wechselwirkung zwischen Gast- und Wirtsland sprechen.“58
Mit Blick auf die Wissenschaftsemigration bedeutet das also, daß Wissenschaftstraditionen von dem einen in das andere Land hinübergeführt werden und einem wechselseitigen Beeinflussungsverhältnis unterliegen – ein Prozeß, der sich im Falle einer Remigration noch verstärkt.59 Mit der Formulierung „ ,Weimar‘ in Amerika“ werden genau jene Transferleistungen zum Ausdruck gebracht: sie umschreibt „das Fortleben, ja vielleicht sogar die Blütezeit der sogenannten ,Weimarer Kultur‘ jenseits der Grenzen“ und will „darauf aufmerksam machen, in welchem Ausmaß eine in Deutschland zerstörte Tradition außerhalb der Grenzen fortgewirkt 56 Zur Bedeutung der Sprache vgl. etwa die eindrucksvollen Ausführungen von Ernst Bloch, Zerstörte Sprache. 57 Vgl. Hoffmann, Akkulturation, S. 121. Ein Überblick über vergangene und aktuelle Entwicklungslinien in der Emigrationsforschung findet sich bei Söllner, Alfons: Die Emigration im Kontext – Eine Skizze zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Bluhm, Harald/Gebhardt, Jürgen (Hg.), Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik, Baden-Baden 2006, S. 181 – 197; Söllner, Alfons: Neumann als Archetypus – Die Formierung des „political scholar“ im 20. Jahrhundert, in: ders., Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Baden-Baden 2006, S. 60 – 78 (74 ff) sowie bei Lang, Loewenstein, S. 9 ff. 58 Marcuse, Einfluß der deutschen Emigration, S. 27. Gerald Stourzh weist in diesem Zusammenhang auf die „Absorptionsfähigkeit“ der amerikanischen Gesellschaft hin: „Es ist schon öfters darauf hingewiesen worden, in welch hohem Ausmaß das amerikanische Hochschulwesen und die amerikanische Forschung sich ausländische Begabungen, ausländische ,Talente‘ geholt haben, und wie neidlos und selbstverständlich die Leistungen der eingewanderten Wissenschaftler jenseits irgendwelcher nationalistischer oder nativistischer Ressentiments anerkannt werden – aber eben nicht mehr als Leistungen von ,Ausländern‘, sondern als bereits absorbierte Leistungen der amerikanischen Wissenschaft.“ Stourzh, Gerald: Die deutschsprachige Emigration in den Vereinigten Staaten: Geschichtswissenschaft und Politische Wissenschaft, in: Jahrbuch für Amerikastudien 10, 1965, S. 59 – 77 (59 f). In der Frage des Einflusses durch die Emigration plädiert Stourzh allerdings für eine begriffliche Differenzierung. So sei es präziser, nicht vom Einfluß, sondern „von der Wirksamkeit, vom Beitrag der Emigration zum amerikanischen Geistesleben zu sprechen“. Ebd., S. 63. 59 Vgl. dazu den Sammelband von Krohn, Claus-Dieter/Schumacher, Martin (Hg.): Exil und Neuordnung. Beiträge zur verfassungspolitischen Entwicklung in Deutschland nach 1945, Düsseldorf 2000 sowie Söllner, Alfons: Normative Verwestlichung. Der Einfluß der Remigranten auf die politische Kultur der frühen Bundesrepublik, in: Bude, Heinz/Greiner, Bernd (Hg.), Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999, S. 72 – 92.
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hat“60. Damit ist ein weiteres Merkmal angesprochen, das die Auswirkungen der Wissenschaftsemigration kennzeichnet: die Grenzen „geistiger Kontinuitäten“ werden neu gezogen, aber auch die Rahmenbedingungen für „ideelle Brüche“ verändern sich.61 Um diese Zusammenhänge näher bestimmen und kategorisieren zu können, greift Alfons Söllner auf das Konzept des „political scholar“ zurück, das er für die Emigrationsforschung fruchtbar zu machen versucht. Der Begriff des „political scholar“, der ursprünglich auf Franz Neumann zurückgeht, dient Söllner zur Beschreibung der „Synthese aus Altem und Neuem“, die ein Ergebnis der durch die Emigration verursachten transatlantischen Wechselbeziehungen sein kann.62 Die Voraussetzungen für den Status eines „political scholar“ sind dann erfüllt, „wenn er gewisse Errungenschaften der deutschen akademischen Tradition mit spezifisch angelsächsischer Professionalität vermischt, wenn er weder in dem einen noch in dem anderen aufgeht, wenn er die antidemokratischen Ambitionen des ,German Mandarin‘ hinter sich läßt und gleichwohl nicht dem Szientismus und Fortschrittsglauben der amerikanischen social science verfällt, wenn er sich dem Anspruch der demokratischen Praxis stellt, aber unbeirrbar am eigensinnigen Recht kritischer Theoriebildung festhält“.63
In der Wissenschaftsemigration nimmt die Politikwissenschaft dabei eine spezifische Stellung ein. Denn hier haben wir es mit der paradoxen Situation zu tun, daß die emigrierten Politikwissenschaftler „alle erst in Amerika zu Politikwissenschaftlern im eigentlichen Sinne geworden sind“64. Dadurch, daß die Politikwissenschaft in der Weimarer Republik noch nicht als eigenständige Fachdisziplin existierte,65 ist der Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand nicht von vornherein so klar definiert wie bei anderen Wissenschaftsdisziplinen. Grob zusammengefaßt verlaufen die Entwicklungslinien der politikwissenschaftlichen Emigration „[v]om Staatsrecht zur ,political science‘“66. Denn es waren mehrheitlich Juristen, die nach 60
Krohn, „Weimar“ in Amerika, S. 290. Vgl. Söllner, Emigration im Kontext, S. 181. Für Söllner stehen Exil und Emigration nach 1933 gar für „einen Epochenbruch in der deutschen und europäischen Zeitgeschichte“. Ebd. 62 Söllner, Politikwissenschaftler, S. 27. Zum entsprechenden Text von Neumann siehe Söllner, Neumann als Archetypus, S. 61 f. 63 Söllner, Politikwissenschaftler, S. 27 f. Söllner erkennt darin das Potential für ein Forschungsprogramm, das der Emigrationsforschung eine neue Orientierung geben könnte: „Es könnte also sein, dass man in der Reflexion einer exemplarischen Biographie nicht nur auf das ,Individuum‘ trifft, d. h. auf die ,Unteilbarkeit‘ einer Lebensgeschichte, sondern dass dabei auch die Faktoren greifbar werden, die diese Unteilbarkeit erklärbar machen, und zwar für die formative Periode des 20. Jahrhunderts, in der der ,political scholar‘ als moderner Typus Gestalt annimmt.“ Söllner, Neumann als Archetypus, S. 62. Dieser Ansatz zielt auf eine Abwendung „von der Individual- zur Kollektivbiographie der intellektuellen Emigration“. Ders., Politikwissenschaftler, S. 5 f. 64 Stourzh, Emigration, S. 70. 65 Vgl. dazu Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft, S. 198 ff. 66 So der Titel eines Aufsatzes von Söllner, Alfons: Vom Staatsrecht zur „political science“ – die Emigration deutscher Wissenschaftler nach 1933, ihr Einfluß auf die Transformation einer 61
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ihrer Emigration in die USA zu Politikwissenschaftlern avancierten; und unter ihnen gab es nur einen kleinen Teil, der bereits vor der Emigration eine Universitätsprofessur innehatte.67 Ausgehend von der Annahme, daß die Emigration der Politikwissenschaftler – „[d]eutlicher als bei anderen Wissenschaftsemigranten“ – „in hohem Maße politisch konditioniert war“,68 erkennt Söllner darin eine gelungene „Übersetzung der Existenzbedrohung in wissenschaftliche Objektivierung“69. Unter den Schlagwörtern der „Politisierung“, der „Internationalisierung“ und der ideenpolitischen „Hegemoniebildung“ subsumiert Söllner ferner drei große Tendenzen im politischen Denken, deren Träger die emigrierten Politikwissenschaftler gewesen seien.70 Damit erlangt die Emigrationsgeschichte über ihren spezifischen Bezugskontext hinaus Bedeutung, denn in ihr zeichnet sich ein Modell ab, in dem ideengeschichtliche Entwicklungen des 20. Jahrhunderts – beeinflußt durch die beschriebenen transatlantischen Wechselwirkungen – „besonders scharf sichtbar“ werden.71 Die folgenden drei Kapitel widmen sich ausgewählten Schriften und unpublizierten Texten und Briefen, die Brecht nach seiner Emigration verfaßt hat. Auf die vorgestellten Kategorien der Emigrationsforschung wird dabei nur dann zurückgegriffen, wenn sie dazu beitragen können, den jeweiligen Sachverhalt zu erhellen; eine grundsätzliche Diskussion über die Frage ihrer praktischen Anwendbarkeit und Tragfähigkeit ist für den Gang der Untersuchung nicht relevant und erfolgt deshalb nicht.72 Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht das wissenschaftliche Werk von Arnold Brecht; im Unterschied zum ersten Teil der Arbeit erfährt seine politische Tätigkeit nunmehr keine gesonderte Darstellung.73 Disziplin, in: Strauss, Herbert A./Fischer, Klaus/Hoffmann, Christhard/Söllner, Alfons (Hg.), Die Emigration der Wissenschaften nach 1933. Disziplinengeschichtliche Studien, München u. a. 1991, S. 137 – 164. 67 Vgl. dazu Söllner, Alfons: Politikwissenschaften, in: Krohn, Claus-Dieter u. a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933 – 1945, Darmstadt 1998, S. 836 – 845. Zu weiteren Parallelen in den Lebensläufen der emigrierten Politikwissenschaftler siehe auch ders., Emigration im Kontext, S. 182 ff. 68 Söllner, Emigration im Kontext, S. 184 und 182. 69 Söllner, Politikwissenschaften, S. 841. Er führt aus: „Wenn irgendwo, dann wird hier jene durchaus einmalige Vermittlung von Theorie und Praxis greifbar, die die Politikwissenschaftler von den anderen Sparten der Wissenschaftsemigration, aber auch vom literarischen und vom politischen Exil unterscheidet.“ Ebd. 70 Vgl. Söllner, Emigration im Kontext, S. 186 ff. Vgl. auch ders., Neumann als Archetypus, S. 77. Siehe dazu außerdem Markus Lang, der die Internationalisierung, die Akkulturation und die „normative Verwestlichung“ als die drei wichtigsten Kategorien der Emigrationsforschung herausstellt. Lang, Loewenstein, S. 12 ff. 71 Vgl. Söllner, Neumann als Archetypus, S. 77. Söllner zählt dazu etwa die Tendenz der ,Amerikanisierung‘ und ,Verwestlichung‘. Ebd. 72 Am Beispiel von Karl Loewenstein unternimmt dies Markus Lang, Loewenstein, S. 16. 73 Brechts Beratertätigkeiten für die amerikanische Regierung werden also beispielsweise nicht untersucht. Dies wurde bereits gründlich erarbeitet von Unger, Corinna R.: Wissenschaftlicher und politischer Berater der US-Regierung im und nach dem Zweiten Weltkrieg, in:
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Das erste Kapitel fragt danach, was in Brechts Briefen über seinen Umgang mit der Emigration zu erfahren ist. Besonders deutlich wird der sich als schwierig gestaltenden Einlebungsprozesses an der New School in dem Briefwechsel zwischen Brecht und Alvin Johnson sichtbar, mit dessen Untersuchung aus diesem Grund begonnen werden soll. Im darauf folgenden Abschnitt werden sodann auch Briefwechsel mit anderen Korrespondenzpartnern hinzugezogen. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit Brechts Haltung in der Schuldfrage nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Auseinandersetzung erfolgt dabei nicht nur, aber auch vor dem Hintergrund der Emigrationsgeschichte Brechts. Im dritten Kapitel wird schließlich Brechts Hauptwerk „Politische Theorie“ einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Neben einer ausführlichen systematischen Analyse des Werks soll gezeigt werden, inwieweit sich in der politischen Theorie Brechts die von Söllner diagnostizierten transatlantischen Wechselwirkungen zweier Wissenschaftstraditionen – des deutschen Staatsrechts und der amerikanischen political science – widerspiegeln. Vor dem Hintergrund der Spezifika in der Entwicklungsgeschichte der deutsch-amerikanischen Politikwissenschaft wird darüber hinaus ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, in welches Verhältnis Brecht Politik und Wissenschaft setzt und inwieweit dieses Verhältnis aufgrund der besonderen historischen Erfahrungen neu justiert wird. Das abschließende Teilkapitel der Arbeit beschäftigt sich mit der letzten, posthum erschienenen Monographie von Arnold Brecht.
1. Exil – Die fremde Heimat: Eine Dokumentation in Briefen „Halb Deutscher, halb Amerikaner … aber in Wahrheit nicht zwei halbe Menschen, sondern ein ganzer Mensch, der unentrinnbar beiden Welten angehörte […].“74
a) Arnold Brecht und Alvin Johnson Am 20. Mai 1938 schrieb Alvin Johnson an Arnold Brecht:
Krohn, Claus-Dieter/Unger, Corinna R. (Hg.), Arnold Brecht, 1884 – 1977. Demokratischer Beamter und politischer Wissenschaftler in Berlin und New York, Stuttgart 2006, S. 129 – 150. Das gleiche gilt für Brechts Stellungnahmen zur deutschen Verfassungsentwicklung und zur Ost-West-Politik nach 1945. Auch hier liegen bereits Beiträge vor: Ruck, Michael: Wider den „unvollkommenen Alternativismus“. Arnold Brechts Empfehlungen zur Deutschland- und Entspannungspolitik nach 1945, in: ebd., S. 151 – 195; ders., Verfassungsentwicklung sowie jetzt neu ders., Deutsch-amerikanische Perspektiven. 74 Brecht, Kraft, S. 350.
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„[…] The last thing I want is to appear interfere with the freedom of action of my friends on the faculty. At the same time I do not count it fair to conceal my real attitude. The Graduate Faculty, mortally the University in Exile, was set up as a determined, persistent protest against the policy of the Hitler government in suppressing freedom of teaching and research. This is its reason for existence. I should not have had the effrontery to ask people to support a faculty that was not to embody this protest, express this belief in freedom of thought and teaching, at whatever cost to themselves. Nor would the faculty last long if its patrons thought we had ceased embody this protest. […] If all on Faculty went back to Germany every year, this would be interpreted as meaning that they met all the requirements the Nazis chose to impose on them. Immediately the reason for existence of the Faculty would disappear. […] But every member of the Faculty ought to feel absolutely free to criticize the Nazi Regime as any other. […] I am sure that you yourself realize that the time comes when a man must definitely choose.“75
Was war der Anlaß für diese deutlichen Worte? In einem vierseitigen Brief an Johnson hatte Brecht zuvor seine Position gegenüber der Graduate Faculty dargelegt – ein Thema, das immer wieder zu Konflikten zwischen ihm und Johnson geführt hatte. Seit seiner Ankunft in New York im November 1933 war Brecht jeden Sommer für mehrere Wochen nach Deutschland zurückgefahren. Als er nach Amerika reiste, hatte er zunächst gar nicht vor, dauerhaft dort zu bleiben;76 auch seine Wohnung in Berlin hatte er behalten, während er in New York mit seiner Frau in zwei möblierten Hotelzimmern wohnte – und zwar nicht nur in der Anfangszeit, sondern so lange er in Amerika lebte; eine eigene Wohnung hatte er sich in New York nie gemietet.77 Gegenüber Johnson rechtfertigte er seine Deutschlandbesuche damit, daß er nicht jene Menschen aufgeben wolle, die dort hatten bleiben müssen. Brecht versicherte ihm: „I did not make politics, when I visited Germany. I rather tried to understand what was really going on and to correct any potential misconception for good and bad. But I visited my friends, Jewish and others, and walked through the country not concealing that I was a member of the Graduate Faculty for conscience’s sake.“78 75
Alvin Johnson an Arnold Brecht, New York, 20. 5. 1938, BAK, NLB, N 1089/84. Vgl. Brecht, Kraft, S. 339: „Daß ich mir vom amerikanischen Konsulat nur ein Besuchervisum, kein Immigrationsvisum hatte geben lassen, war keine bloße List gegenüber den Nationalsozialisten gewesen. Ich wollte, sobald es die Lage zuließ, nach Deutschland dauernd zurückkehren.“ 77 In seinen Erinnerungen erzählt Brecht: „Wir hatten (und haben auch heute noch) nicht einmal eine Küche, sondern nur eine sogenannte ,Kitchenette‘ mit einer elektrischen Heizplatte als einzigem Herd […] und keinem Spülbecken; die Schüsseln müssen wir im Badezimmer über dem Waschbecken abwaschen. Diese Primitivität und die relativ niedrige Miete erlaubten uns die langen sommerlichen Reisen ohne Skrupel über unangebrachten Luxus.“ Brecht, Kraft, S. 383. Siehe auch ebd., S. 339. 78 Arnold Brecht an Alvin Johnson, New York, 16. 5. 1938, BAK, NLB, N 1089/84. Diese Erklärung deckt sich mit den Selbstbeschreibungen in Brechts Autobiographie. Zwar hätten sich seine Reisen unter den politischen Umständen „nur mit großen Gefahren“ durchführen lassen, aber sein „Verlangen, mit eigenen Augen hinter den Vorhang zu sehen, mit eigenen Ohren das große Schweigen zu durchdringen, mit den Menschen, die in Deutschland geblieben waren, ihr tägliches Leben, ihre Ängste und Hoffnungen jedenfalls für eine Weile zu teilen und 76
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Johnson indes mißfielen Brechts Deutschlandbesuche und sorgten für erhebliche Irritationen. Schon zwei Jahre zuvor war es zu einem Streit zwischen Johnson und Brecht gekommen, nachdem Brecht wiederholt die Teilnahme an einem der Dinner abgesagt hatte, die die Fakultät regelmäßig veranstaltete. In einem erzürnten Brief legte Johnson ihm daraufhin ausführlich dar, worin der Sinn dieser Zusammenkünfte und der Graduate Faculty überhaupt bestehe; denn aus der Sicht von Johnson war die widerstrebende Haltung Brechts mit den Grundsätzen der Fakultät nicht vereinbar. Johnson warf ihm vor, daß er noch immer Interesse an seinen Ruhestandsbezügen aus Deutschland habe und infolgedessen eine öffentliche Kritik an der Politik der Nationalsozialisten scheue. Damit aber füge er dem Ansehen der Fakultät erheblichen Schaden zu und befördere sich auch gegenüber den anderen Fakultätsmitgliedern ins Abseits: „From the beginning your position with the Faculty was ambiguous because you alone of the group had not broken with Germany.“ Johnson empfinde die größte Achtung vor Brecht, doch unvermeidbar drängten sich ihm Fragen auf, die zu stellen er ihm nicht ersparen könne: „How is it possible for you, ethically, to remain a member of the Faculty, when your position is antagonistic to its existence and would be ruinous to its existence if publicly known? How is it possible for you, who can somehow live and function in Germany, to occupy a chair which would maintain some other distinguished scholar who is desperately in need?“79
Brecht zeigte sich von den Vorwürfen Johnsons tief getroffen; Johnson habe ihn grundlegend mißverstanden. Brecht stellt klar: „I am here, as all my friends are, because I declined and refused to live in Germany in accordance with the present political situation. You say I am able to function in Germany. But such is not the case. I cannot function in Germany now anyhow either as an official or as a professor, either as an author or as anything else. […] Further, I cannot live in Germany for any longer period of time. After some period of living there in whatever place the antagonism between my existence and that of the government would have consequences. I tried, others tried – we know.“80
Im Hinblick auf seine Pension aus Deutschland entgegnet Brecht, daß er nicht glauben könne, „that you really think my personal attitude here would be directed by material interests of this or another kind“81. Tief beschämt räumt Johnson daraufhin ein, daß er Brecht mit seinem Brief großes Unrecht zugefügt habe, und bittet ihn um Entschuldigung; nicht Brecht, sondern er sei dafür verantwortlich, daß ein so großes Mißverständnis zwischen ihnen entstanden sei.82 Doch der Konflikt zwischen Johnson und Brecht brach immer wieder durch, und dies nicht ohne Grund, denn Brecht tat sich nach wie vor schwer damit, sich in die Gemeinschaft der Graduate die Möglichkeiten des inneren Umsturzes an Ort und Stelle abzuschätzen, war größer als die Furcht“. Brecht, Kraft, S. 339. 79 Alvin Johnson an Arnold Brecht, New York, 3. 1. 1936, BAK, NLB, N 1089/84. 80 Arnold Brecht an Alvin Johnson, New York, 5. 1. 1936, BAK, NLB, N 1089/84. 81 Arnold Brecht an Alvin Johnson, New York, 5. 1. 1936, BAK, NLB, N 1089/84. 82 Alvin Johnson an Arnold Brecht, New York, 6. 1. 1936, BAK, NLB, N 1089/84.
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Faculty an der New School zu integrieren. Dies wird auch durch die Tatsache belegt, daß er im September 1934 erneut ein Schreiben an den preußischen Ministerpräsidenten Göring aufsetzte, in dem er darum bat, die Anwendung des § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums auf ihn nachzuprüfen. Zur Begründung seines Gesuchs bemühte er sich erneut darum, seine angebliche Nähe zum NSStaat zu beteuern. So erklärt er etwa: „Ich habe niemals Beamte wegen ihrer nationalen Gesinnung benachteiligt und, soweit ich jemals Beamte für Ernennungen in Vorschlag gebracht habe, was nur vereinzelt in Frage kam, nur nationalgesinnte Beamte vorgeschlagen, die auch heute als solche anerkannt werden. […] Ich bin gegen Beamte, von denen ich wusste, dass sie Mitglieder der NSDAP waren, in keiner Weise eingeschritten.“
Und am Ende des Briefes heißt es schließlich: „Ich trete jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat ein.“83 Im Hinblick auf seine Tätigkeit an der New School versichert er, daß er deshalb dort Vorlesungen gehalten habe, „um für Deutschland tätig zu sein“. Zuvor hatte er sich vom deutschen Generalkonsulat eine Bescheinigung ausstellen lassen, in der bestätigt wird, daß er von November 1933 bis Juni 1934 an der New School gelehrt hat. Die Bescheinigung enthält außerdem die Erklärung: „Während seines hiesigen Aufenthaltes hat er mit dem Deutschen Generalkonsulat regelmässig Verbindung gehalten und sich bemüht, Deutschland nützlich zu sein, insbesondere falschen Nachrichten und der Boykottbewegung entgegenzutreten.“84 83 Arnold Brecht an den preußischen Ministerpräsidenten, Berlin-Steglitz, 28. 9. 1934, BAK, NLB, N 1089/3. In seiner Autobiographie verschweigt Brecht sein Gesuch nicht, sondern erwähnt, daß er eine „Wiederaufnahme des Verfahrens“ gegen ihn verlangt habe; freilich ohne den genauen Wortlaut seines Briefes wiederzugeben. Vgl. Brecht, Kraft, S. 342 f. 84 Deutsches Generalkonsulat (gez. Dr. Borchers), New York, 11. 6. 1934, Anlage 3 zu: Arnold Brecht an den preußischen Ministerpräsidenten, Berlin-Steglitz, 28. 9. 1934, BAK, NLB, N 1089/3. In seiner Autobiographie rechtfertigt Brecht die Erklärung des Konsulats damit, daß er sie nur zum Schein habe ausstellen lassen, um sich nicht in Gefahr zu bringen – wenngleich er die Urkunden nie habe vorzeigen müssen: „Für alle Fälle führte ich immer freundliche Schreiben des deutschen Generalkonsuls in New York, Dr. Borchers, und der Botschafter Dr. Luther und später Dieckhoff – die damals alle drei heimliche Gegner des Hitlerregimes oder doch seiner Greuel waren – in der Tasche mit, in denen sie mir den rein wissenschaftlichen Charakter meiner Tätigkeit und der Tätigkeit der Graduate Faculty bescheinigten und erklärten, daß ich ,Lügen über Deutschland‘ entgegengetreten sei. Das war ein höchst zweideutiges Lob, da ja die Hauptlügen über Deutschland, denen ich entgegentrat, von den Nationalsozialisten selber ausgingen […].“ Brecht, Kraft, S. 340. Es sind einige Zweifel angebracht, ob die behauptete Gegnerschaft seiner Gewährsmänner gegenüber dem NS-Regime der Realität entsprechen; dies gilt umso mehr mit Blick auf Brechts positive Bewertung des Auswärtigen Amts, die nachweislich das Ergebnis einer grundlegenden Fehleinschätzung ist. So führt Brecht aus: „Im Auswärtigen Amt saßen noch viele Beamte, besonders in der Kulturabteilung, die im Grunde ebensosehr Gegner des totalitären Regimes waren wie ich und sich freuten, wenn sie aus dem Auslande Material bekamen, das ihnen dazu dienen konnte, zur Einsicht und zur Mäßigung zu mahnen.“ Ebd. Daß das Auswärtige Amt entgegen dieser Darstellung tief in die Machenschaften der nationalsozialistischen Machthaber verstrickt war, zeigt die jüngste Veröffentlichung von Conze, Eckart/Frei, Norbert/Hayes, Peter/Zimmermann, Moshe: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, 4. Aufl., München 2010. Zur Anfangsphase des Auswärtigen Amtes unter dem
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Brechts Bemühungen blieben jedoch auch dieses Mal erfolglos, und sein Gesuch wurde abgelehnt;85 auch die Tatsache, daß er noch 1934 in die Reichsschrifttumskammer eintrat, der er bis zum Frühjahr 1938 angehörte, änderte daran nichts.86 Vor diesem Hintergrund scheinen Johnsons Zweifel also nicht unberechtigt gewesen zu sein. Nichtsdestoweniger waren auch Brechts Darlegungen gegenüber Johnson von einiger Plausibilität, und er gab nicht auf in seinem Bemühen, Johnson seine Befindlichkeiten verständlich zu machen. In dem schon erwähnten Brief vom Frühjahr 1938, in dem er in zehn Punkten seine Standpunkte darlegt,87 versucht Brecht erneut zu verdeutlichen, daß es keinen Anlaß gebe, an seiner politischen Standfestigkeit zu zweifeln.88 Was seine regelmäßigen Sommerbesuche in Deutschland betrifft, sei er zu dem Schluß gekommen, daß sie mit seiner Mitgliedschaft an der Graduate Faculty durchaus vereinbar seien: „There is nothing in them that does not follow a straight and upright line in the interest of truth and humanity.“ Diese Vereinbarkeit gelte umso mehr, als seine Deutschlandbesuche – die er nicht mit seinen Einkünften aus der New School, sondern mit seinen Pensionsbezügen aus Deutschland finanziert habe89 – zu keinem Zeitpunkt zu einer Vernachlässigung seiner Pflichten an der New School geführt hätten. Am Ende des Briefes kommt Brecht schließlich zu grundsätzlichen Erörterungen über das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik; dies ist wohl als Reaktion auf Johnsons Vorwurf zu verstehen, daß er an der Fakultät zu wenig Präsenz zeige, wenn
NS-Regime, hier auch zu der von Borchers erwähnten „Boykottbewegung“ ebd., S. 25 ff; zu den Botschaftern Hans Luther und Hans Heinrich Dieckhoff ebd., S. 57 und S. 93 f sowie S. 459. Zu dem Generalkonsul Hans Borchers vgl. Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871 – 1945. Band 1, hg. vom Auswärtigen Amt, Historischer Dienst, Maria Keipert und Peter Grupp, Paderborn u. a. 2000, S. 229 f. 85 Vgl. Der preußische Ministerpräsident an Arnold Brecht, Berlin, 10. 10. 1934, BAK, NLB, N 1089/3. 86 Angaben bei Ruck, Verfassungsentwicklung, S. 214 (Fn. 19). 87 Diese ausführliche Stellungnahme erklärt Brecht Johnson so: „I have sometimes the feeling that you suppose something to be back of my mind that is not there […]. I have tried therefore to write my simple views down.“ Arnold Brecht an Alvin Johnson, New York, 16. 5. 1938, BAK, NLB, N 1089/84. 88 So stellt er an erster Stelle klar: „That I am in the deepest conflict with the dictatorial ideals by conviction, by habit of thinking and feeling, and by my ideas of justice und objectivity, is familiar to every member of the Faculty and does not need lengthy explanation.“ Zuweilen neigt er allerdings dazu, sich ein wenig zu überschlagen. So lautet etwa der zweite Punkt: „When the German National Socialist Government issued its decrees diffaming [sic!] the Jews indiscriminately I was deeply hurt as if I were a Jew myself.“ Arnold Brecht an Alvin Johnson, New York, 16. 5. 1938, BAK, NLB, N 1089/84. Wenn nicht anders gekennzeichnet, hieraus auch die folgenden Zitate. 89 Daß Brecht die Pensionsbezüge überhaupt noch annahm, rechtfertigte er damit, daß sie im Falle eines Verzichts an die deutsche Regierung gegangen wären. Er fügt hinzu: „The surplus of the pension I distributed to those who were hit by the new regulation.“ Dazu zählten auch jüdische Hilfsorganisationen.
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es um die Kritik an der Politik der Nationalsozialisten geht.90 Brecht verweist dagegen auf die Trennlinien zwischen Wissenschaft und Politik, die aus seinem Wissenschaftsverständnis zwangsläufig resultierten: „I have always held the ideal of the expert who as a professor or civil servant, while closely watching politics, had better not engage in politics himself too much, except for a firm stand in moral questions and as an adviser. He may have political functions in his official capacity, as in the German civil service I had the function to defend democracy and fight National Socialism to the last ditch, which I did. But my private personality has always been that of a scholar or student. I cannot change this basic attitude without falsifying my personality. By the way I consider it the best policy for emigrees.“
Johnson ging Brechts fehlende Bereitschaft, auf seine Deutschlandbesuche zu verzichten, mit diesem Brief endgültig zu weit; und so stellte er ihn in seiner eingangs zitierten Antwort vor die Wahl: entweder würde er seine Fahrten nach Deutschland einstellen, oder er könnte nicht länger Mitglied der Graduate Faculty sein. Erst diese deutlichen Worte veranlaßten Brecht dazu, seine Haltung zu überdenken und von künftigen Besuchen in Deutschland vorerst abzusehen. Wenige Tage nach Erhalt des Briefes von Johnson informierte Brecht ihn in seiner Antwort, daß er und seine Frau nicht, wie ursprünglich geplant, nach Deutschland gefahren seien. „There is no quarrel between you and me in our basic views on freedom of science and research“, versicherte Brecht. Gleichwohl konnte er auch in diesem einlenkenden Brief einen von Johnson kritisierten Punkt nicht unwidersprochen stehenlassen: „I feel absolutely free to ,criticize the National Socialist government as any other.‘ Every student of mine will assure you that I have lent frankest expression to my conviction on fascism […].“ Nach dieser Klarstellung schloß Brecht mit den versöhnlichen Worten: „After all, the common basis of our views is well established. We differ with respect to their best application, as free men are allowed to differ. But a friend may act sometimes with regard to his friend’s view even if he is not convinced on all counts – and so I did.“91 Erst nach dieser Erklärung, auf die Johnson in einer kurzen Antwort dankend reagierte,92 begann sich das Verhältnis zwischen Brecht und Johnson merklich zu entspannen.93 Wenn Brecht in seiner Autobiographie schreibt, daß sich zwischen ihm 90 Bereits zwei Jahre zuvor hatte Johnson an Brecht geschrieben: „If all the members of the Faculty took the position that you do, that it would be personally unsafe for them to be present when that German policy is criticized, and personally painful besides to hear the government of one’s country attacked, no one in this country would feel that the Faculty had any claim to support whatsoever.“ Alvin Johnson an Arnold Brecht, New York, 3. 1. 1936, BAK, NLB, N 1089/84. 91 Arnold Brecht an Alvin Johnson, New York, 29. 5. 1938, BAK, NLB, N 1089/84. 92 Vgl. Alvin Johnson an Arnold Brecht, New York, 31. 5. 1938, BAK, NLB, N 1089/84. 93 Lediglich einige Jahre später entspann sich erneut ein kurzer Streit, der aber eine andere Ursache hatte. Hier ging es um einen Artikel von Brecht, über dessen verspäteten Abdruck in der „Social Research“ er sich beklagte, was zu einer Grundsatzdiskussion zwischen ihm und Johnson führte, die allerdings nur von kurzer Dauer war. Vgl. die vier Briefe von Johnson und Brecht vom Februar 1946, BAK, NLB, N 1089/84.
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und Johnson nach anfänglichem Zögern eine „echte Freundschaft“ entwickelt habe,94 so scheint sich das anhand des vorliegenden Briefwechsels, den sie nach der Bereinigung ihres Konflikts führten, zu bestätigen. Denn diese Briefe sind voll von Freundschaftserklärungen, mit denen sich Johnson und Brecht immer wieder ihre gegenseitige Achtung und Dankbarkeit versichern. Während Brecht sich von Jahr zu Jahr immer mehr mit seiner Tätigkeit an der New School zu identifizieren schien, wurde Johnsons Bewunderung für Brecht – zumindest nach dem Tonfall seiner Briefe zu urteilen – zunehmend größer. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür liefert der folgende Brief: „Dear Arnold: I’ve been trying for days to write a letter to you. […] Great honors have come to me, through you and my other colleagues, great honors to one more conscious of his sins of omission and commission than of his deserts. For that I am grateful. But I am most grateful to you, Arnold, for being yourself, for raising the value I have formed through life of man. For you, Arnold, are the noblest figure of a man I have encountered in these eighty years of my life. Physically, mentally, morally, you are very tall; but you do not look down from your great height but lift up by the force of your presence. You can not know, how often in perplexity I have come back to serenity with the magic word, Arnold. God bless you, Arnold. In great things and small, you are great. Who but you would have come to my birthday morning, to the party of women, really to give your great human hand to my wife, poor captive of a mental palsy that has robbed her of words but not of sensibility and sense. Your warm brave hand, your true eyes set up a warmth in her heart that still burns. God bless you again, my beloved friend Arnold. With devotion Alvin“95
Auch Brecht drückte Johnson gegenüber immer wieder seine Dankbarkeit aus96 und setzte sich in den 1950er Jahren mit Erfolg dafür ein, daß ihm von der Universität Heidelberg die Ehrendoktorwürde verliehen wurde.97 Und so entwickelte sich nach 94
Vgl. Brecht, Kraft, S. 374. Alvin Johnson an Arnold Brecht, New York, 24. 12. 1954, BAK, NLB, N 1089/84. Anwandlungen dieser Art scheinen Johnson um die Weihnachtszeit öfter überfallen zu haben. So gibt es einen weiteren Brief, in dem Johnson in ähnlichem Tonfall – und ebenfalls an einem Weihnachtstag – Brecht seine Bewunderung ausspricht. Vgl. Alvin Johnson an Arnold Brecht, New York, 26. 12. 1944, BAK, NLB, N 1089/84. 96 Vgl. etwa die folgenden Briefbeispiele: „You have encouraged hundreds and thousands when they bent their knees before powerless values, that there was no reason for despair, and have reassured them that the child would grow. That it was growing while they were teaching at the New School; Our [sic!] New School, powerless, but beautiful because of what is going on there under your guidance.“ Arnold Brecht an Alvin Johnson, New York, 15. 12. 1942, BAK, NLB, N 1089/84. „[…] but what years, and how big has been your name written in our hearts, dear, good, wise Alvin. Love and gratitude surge up whenever we think of you, or of our own lives […].“ Arnold Brecht an Alvin Johnson, New York, 14. 12. 1966, BAK, NLB, N 1089/84. „I was not really a scholar yet when I joined the Graduate Faculty, at least not a theorist. I have been growing up to be something of that sort only thereafter, and so I have to thank you, Alvin, for it in the first place.“Arnold Brecht an Alvin Johnson, New York, 29. 1. 1969, BAK, NLB, N 1089/84. 97 Seinem Heidelberger Kollegen Alexander Rüstow berichtet Brecht von der Feier, die an der New School anläßlich der Verleihung des Ehrendoktors und des 80. Geburtstages von Johnson stattgefunden hat: „Dank der wundervollen Heidelberger Urkunde darf ich wohl sagen, dass für die Anwesenden dieser Teil der Feier der eindrucksvollste war. Da war die älteste 95
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den anfänglichen Schwierigkeiten zwischen Johnson und Brecht allem Anschein nach in der Tat eine tiefe und prägende Freundschaft, der beide eine besondere Bedeutung zumaßen. Brechts Rolle an der New School: Bewertung und Kritik Welche Aussagen lassen sich nun auf der Grundlage der ausgewerteten Briefe über Brechts „Akkulturationsprozeß“ und seinen Umgang mit dem Exil treffen? Für Claus-Dieter Krohn ist die beschriebene Entwicklung zwischen Brecht und Johnson symptomatisch für Brechts gesamten Einlebungsprozeß, den er als „Akkulturation mit Widerständen“ bezeichnet.98 Krohn hebt dabei auf die Schwierigkeiten ab, die Brecht damit hatte, die Vereinigten Staaten von Amerika als sein neues Heimatland zu akzeptieren. Aus Krohns Sicht hat es ungewöhnlich lange gedauert, bis Brecht sich aus seiner „lange aufrecht erhaltenen ambivalenten Haltung gegenüber Deutschland und seiner Rolle in den USA“ gelöst hat. Das zeige sich zum Beispiel daran, daß Brecht erst 1946 – und damit einige Jahre später als seine emigrierten Kollegen – die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hat.99 Geht es nach Krohn, hat sich Brecht jedoch nicht nur in diesem Punkt von den anderen Emigranten unterschieden, sondern auch in seinem grundsätzlichen Verhalten – gegenüber der New School, gegenüber Deutschland, gegenüber den eigenen Kollegen. Deren Selbstverständnis habe „in auffallendem Kontrast zu seinem eigenen“ gestanden; auch sei Brecht an der New School stets ein „Solitär“ gewesen, „der peinlich darauf bedacht blieb, seine Unabhängigkeit zu bewahren“.100 Brechts „Akkulturationsprobleme“101 erklärt sich Krohn damit, daß er einen „offenbar quälenden Ablösungsprozess von seiner Vergangenheit“ durchgemacht habe und „das starre Beamtenethos oder die emotionalen Bindungen“ wohl stärker gewesen seien als alle Appelle Johnsons, in denen er ihn aufforderte, sich stärker zu integrieren.102 Nach Auffassung von Krohn entspricht das dem spezifischen „Persönlichkeitsprofil“103 Brechts, das er bereits für die Weimarer Zeit diagnostiziert. Dieses deutsche Universität, die Alvin Johnson den Dank dafür aussprach, was er zur körperlichen und geistigen Erhaltung der deutschen und ausländischen Wissenschaftler getan hatte, als sie von ihren Lehrstühlen vertrieben worden waren, und die sich damit führend an die Spitze der detuschen [sic!] Universitäten stellte, sich zu diesem Rettungswerk dankbar zu bekennen, die aber auch gleichzeitig die grosse Integrationsleistung der Encyclopedia of the Social Sciences durch diese Ehrung anerkannte, und der menschlichen Persönlichkeit des Achtzigjährigen gerecht wurde.“ Arnold Brecht an Alexander Rüstow, New York, 20. 12. 1954 [im Original falsch auf das Jahr 1945 datiert], BAK, NLB, N 1089/24. Daß Brecht sich zuvor für Johnson eingesetzt hatte, geht aus einem Brief an Hans Simons hervor: Arnold Brecht an Hans Simons, 26. 8. 1954, BAK, NLB, N 1089/12. 98 Krohn, „Refugee scholar“, S. 124. 99 Krohn, „Refugee scholar“, S. 123 f. 100 Krohn, „Refugee scholar“, S. 111 und 121. 101 Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 210. 102 Krohn, „Refugee scholar“, S. 124 und 125. 103 Krohn, „Refugee scholar“, S. 109.
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„Persönlichkeitsprofil“ sei zunächst durch das „erstaunliche Unvermögen Brechts“ gekennzeichnet, „die Realitäten selbst in den äußersten existenziellen Krisen zu erkennen“; die „tiefen gesellschaftspolitischen Veränderungen“ habe Brecht nicht sofort erkannt oder erkennen wollen. Zwar war er bei weitem nicht der einzige, der die Folgen der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ unterschätzt hat, doch die politische Illusion über ein baldiges Ende des neuen Regimes, der auch andere „Ausgestoßene“ unterlagen, ist aus der Sicht von Krohn nicht die alleinige Ursache für Brechts Fehleinschätzung. Krohn führt dies vielmehr auf Brechts Selbstverständnis als Beamter zurück: „Augenscheinlich wurde er von dem traditionellen Selbstbild des deutschen Beamtentums beherrscht, das unparteiisch und loyal der Gesellschaft und ihren politischen Repräsentanten dienen müsse.“104 Krohn argumentiert hier in eine ähnliche Richtung wie Michael Ruck und Heiko Holste, deren Ansicht nach es Brecht aufgrund seines starren Beamtenbildes und seines „Institutionalismus“ gleichsam an politischer Aufmerksamkeit und Geradlinigkeit gemangelt habe.105 Für Krohn ist das nicht nur ein Erklärungsansatz für Brechts Unterschätzung der politischen Lage in Deutschland, sondern auch für seine Schwierigkeiten im Umgang mit der Emigration in die USA: „Und dieses Persönlichkeitsprofil erklärt auch die gewundene, lange Zeit unentschiedene Abkehr von Deutschland nach seiner schließlich doch erfolgten Übersiedlung in die USA. Als Emigrant oder gar Exilant hat er sich dabei nicht definiert.“106 Auch Michael Ruck moniert, daß Brecht sich hartnäckig geweigert habe, „sich mit allen Konsequenzen als Emigrant zu verstehen“, was ihn auch „je länger desto spürbarer von seinen Kollegen“ isoliert habe.107 Wenn nach der Plausibilität dieser Einschätzungen gefragt wird, muß an vielen der hier vorgestellten Thesen Kritik geübt werden. Das angeführte Argument von Ruck und Krohn läßt sich zunächst mit einem Zitat von Alfred Polgar kontrastieren: „Abel, wenn er vor den Mordabsichten seines Bruders Kain geflohen wäre, wäre ,Emigrant‘ geschimpft worden und hätte als solcher bittere Unannehmlichkeiten zu erdulden gehabt. Er wäre sein Leben lang in der Welt herumgelaufen mit dem Abel-Zeichen auf der Stirn.“108 104
Etwas differenzierter und zurückhaltender formuliert Krohn diesen Zusammenhang in seiner Monographie Wissenschaft im Exil, S. 207 f: „Kaum wird sich im einzelnen nachvollziehen lassen, was in einem Menschen vorging, der nicht einmal ausgesprochener Vertreter des Weimarer ,Systems‘ gewesen war und nach 25jähriger Tätigkeit im öffentlichen Dienst […] entlassen worden war, nur weil er sich rechtskonform verhalten hatte. Unmittelbar nach 1933 verstellte Brechts bürokratische Sozialisation offenbar die Einsicht in die neue Qualität des NSSystems und führte mit zu seinen Schwierigkeiten, sich von Deutschland zu trennen.“ Die Aussage, daß Brecht kein „ausgesprochener Vertreter des Weimarer ,Systems‘“ gewesen sei, ist allerdings auch an dieser Stelle fragwürdig. 105 Vgl. Kapitel I.2.c) sowie I.3.b)cc). 106 Krohn, „Refugee scholar“, S. 107 ff. 107 Ruck, Verfassungsentwicklung, S. 215. 108 Polgar, Alfred: Der Emigrant und die Heimat (1945/47), in: ders., Anderseits. Erzählungen und Erwägungen, Amsterdam 1948, S. 219 – 233 (231). Wenn im folgenden auch Einschätzungen von emigrierten Schriftstellern hinzugezogen werden, so geschieht das als
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Auch Klaus Mann schreibt: „Die Emigration war nicht gut. Das Dritte Reich war schlimmer. Die Emigration war nicht gut. In dieser Welt der Nationalstaaten und des Nationalismus ist ein Mann ohne Nation, ein Staatenloser, übel dran.“109 Diese Vorbehalte, sich als Emigrant zu definieren, waren unter den Betroffenen keine Seltenheit. Aus vielen Briefwechseln geht hervor, daß auch Brecht die Sorge hatte, ihm könne durch die Tatsache seiner Emigration gleichsam ein Makel anhaften.110 Auch im Vorwort zur deutschen Ausgabe seiner „Politische Theorie“ äußert er die Befürchtung, sein Buch könnte als „das anachronistische ,Zurückgebliebensein eines Emigranten hinter der neueren Entwicklung‘“ aufgefaßt werden.111 Es sind damit zwei Gesichtspunkte, auf die hier aufmerksam gemacht werden soll: Erstens muß bei einer Bewertung Brechts die beschriebene Selbstwahrnehmung berücksichtig werden, mit dem Status des Emigranten fortan einem bestimmten gesellschaftlichen Ausgrenzungsmechanismus zu unterliegen. Zweitens ist außerdem anzumerken: Wenn Krohn und Ruck – in kritischer Absicht – hervorheben, daß Brecht sich nicht als Emigrant habe verstehen wollen, so ist zunächst danach zu fragen, warum dieser Tatbestand eigens einer kritischen Hervorhebung bedarf. Es ist als bekannt vorauszusetzen, daß die Emigration nicht etwas ist, zu dem man sich leichtfertig und ohne Überwindung entschließen kann. Um zu verdeutlichen, worum es dabei eigentlich geht, sei an dieser Stelle nochmals Alfred Polgar zitiert: „[…] In einem solchen Klagebrief ruft der Absender, seine Schicksale mit denen der Emigranten vergleichend, aus: ,Ihr habt nur die Heimat verloren.‘ Nur. Es geht überdies die Sage, ein oder der andere Emigrant hätte, indem er das werden mußte, außer der Heimat noch ein paar Kleinigkeiten verloren, wie etwa sein Leben oder seine Gesundheit, Familie und Freunde, Beruf und Besitz, die Atmosphäre der Muttersprache (für den Geist, was Luft
Entgegnung auf die Tendenz einiger Wissenschaftler wie Krohn oder Ruck, die biographischen Folgen der Emigration zu leicht zu nehmen. Es ist klar, daß den Literaten aus der Emigration in einigen Punkten mehr Nachteile erwuchsen als etwa den Sozialwissenschaftlern, weshalb man an der Vergleichbarkeit zweifeln mag. Nichtsdestoweniger gibt es zwischen beiden Berufsgruppen auch Überschneidungsfelder, so daß die angeführten Zitate der Schriftsteller insofern verallgemeinerbar sind, als sie die grundsätzliche, gleichsam „lebensweltliche“ Bedeutung der Emigration aus Sicht der Betroffenen klar vor Augen führen. 109 Mann, Klaus: Rechenschaft (1949), in: Schwarz, Egon/Wegner, Matthias (Hg.), Verbannung. Aufzeichnungen deutscher Schriftsteller im Exil, Hamburg 1964, S. 279 – 283 (280). 110 Vgl. etwa Arnold Brecht an Alexander Rüstow, 13. 1. 1953 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/24 sowie Arnold Brecht an Hans Kutscher, New York, 16. 5. 1953, BAK, NLB, N 1089/21. Auch die von Brecht und Hans Staudinger im Jahr 1972 angestoßene Hochschuldiskussion ist für diese Fragen aufschlußreich: BAK, NLB, N 1089/104. Siehe dazu außerdem den Briefwechsel zwischen Artur Hesse und Brecht, auf den in Kapitel II.2.b) ausführlich eingegangen wird. 111 Brecht, PT, S. XIV.
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für die Lungen), die Zukunft, für die er vorgebaut hatte, die Vergangenheit, an die ein Wiederanknüpfen nicht möglich ist.“112
Wenn sich Brecht nun also schwer damit getan hat, sich als Emigrant zu verstehen, so ist das einzig Erstaunliche daran das Erstaunen selbst, das dadurch bei seinen Kritikern hervorgerufen wird.113 Der Ansatz, Brechts Haltung auf einen angeblichen „patriotischen Institutionalismus“, ein „starres Beamtenethos“ oder gar ein spezifisches „Persönlichkeitsprofil“ zurückzuführen, greift aus diesem Grund daneben. Abgesehen davon, daß diese Zuschreibungen in vielen Punkten auf Brecht gar nicht zutreffen, bedarf es auch grundsätzlich keines ausgeprägten Patriotismus, um Widerstände zu entwickeln, sein Heimatland zu verlassen. Überdies stand Brecht mit seiner in der Anfangszeit noch entwickelten Vorstellung, daß er nicht endgültig auswandern, sondern über kurz oder lang wieder zurückkommen werde, keineswegs allein. Benita Luckmann weist darauf hin, daß es unter den Emigranten an der New School einige gab, die ein ambivalentes Verhältnis „zu ihrem Heimatland und somit zu Amerika“ hatten. Nicht alle seien als Auswanderer gekommen; es habe viele gegeben, „die an eine Möglichkeit einer baldigen Rückkehr glaubten“: „Diese befanden sich somit in einem Zustand zwischen Exil und Emigration.“114 Den Schlußfolgerungen, die aus Brechts Einlebungsschwierigkeiten gezogen werden, gilt somit mein Haupteinwand. In der Tat war Brecht an der New School zunächst isoliert, doch die Beurteilung dieses Tatbestands muß anders ausfallen, wenn man seiner Person und seinem Werk gerecht werden will. Richtig ist, daß Brecht anfangs Schwierigkeiten hatte, sich mit seiner Tätigkeit an der New School dauerhaft anzufreunden und in die Gruppe der anderen Emigranten zu integrieren. Dies belegt nicht nur der Briefwechsel zwischen Alvin Johnson und Brecht, sondern ein weiterer Brief, den vermutlich Karl Brandt an Heinrich Brüning geschrieben hat.115 Brandt, ein deutscher Agrarwissenschaftler aus Berlin, mußte 1933 emigrieren und war dann an der New School tätig, die er allerdings bereits fünf Jahre später wieder verließ, um an die Stanford University zu gehen. Nach Einschätzung von Krohn galt Brandt in der Weimarer Republik „als kritischer Linker“, entwickelte sich jedoch in der Emigration „zum rabiaten Deutschnationalen“.116 112
Polgar, Der Emigrant und die Heimat, S. 226. Das gilt auch für Krohns Feststellung, daß Brecht einen „offenbar quälenden Ablösungsprozess von seiner Vergangenheit“ durchgemacht habe. (Krohn, „Refugee scholar“, S. 124.) Kritisch wäre hier zu fragen: Wie kann ein solcher Ablösungsprozeß denn anders als quälend sein? Diese Frage drängt sich umso mehr auf, als Brechts vier Geschwister noch in Deutschland lebten. 114 Luckmann, Benita: New School – Varianten der Rückkehr aus Exil und Emigration, in: Srubar, Ilja (Hg.), Exil, Wissenschaft, Identität. Die Emigration deutscher Sozialwissenschaftler 1933 – 1945, Frankfurt a. M. 1988, S. 353 – 378 (355 f). 115 Außer einem schwer zu entziffernden handschriftlichen Kürzel enthält der Brief keinen Absender, es deuten aber viele darin enthaltene Angaben auf Karl Brandt. 116 Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 205. Brandt war auch der erste, der die Fakultät verließ. Vgl. zu weiteren Erläuterungen ebd., S. 206 f. 113
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Wenn diese Einschätzung richtig ist, scheint der folgende Brief von Brandt Krohns Argumentation auch in bezug auf einige seiner Aussagen über Brecht recht zu geben: „Nachdem ich mich innerlich schon von der New School geloest habe, liegt mir aber unendlich viel an dem Schicksale einzelner Kollegen, mit denen ich mich in der geistigen Haltung und freundschaftlich sehr verbunden fühle. Am allernaechsten stehen meiner Frau und mir beide Brechts. Wenn mich bei meinem Weggang von der New School etwas sehr bedrueckt, so ist es die Tatsache, dass durch mein Ausscheiden das Gleichgewicht in der Gruppe gestoert ist und Brecht dadurch in eine viel schwierigere Situation gebracht ist. Es besteht die ernsthafte Gefahr, dass sich sehr unangenehme S… [Wort unvollständig] entwickeln. Brecht ist ein aufrechter Charakter, dem faule Kom[promisse] unmoeglich sind. Er wird nach meinem Ausscheiden bemueht s[ein], das Gleichgewicht in der politischen und weltanschaulichen Ha[ltung] dadurch zu restaurieren, dass er unsere gemeinsame Position [in] doppelter Staerke vertritt und ich befuerchte dass das zu Sp… [Wort unvollständig] fuehrt, die ihm und den andern das Leben verbittern. Brecht hat hier im Lande eine grosse Aufgabe. Das was er zur Zeit am meisten braucht, ist Klarheit ueber Moeglichkeiten, aus dem unerhoerten Schlendrian und der Wurstelei in der Verwaltung der Bundesregierung herauszukommen. Man setzt immer neue Kommissionen ein, die das studieren sollen. Er kann hier einen ausseror[dent]lich wertvollen Beitrag leisten, indem er die lehrreichen deutschen Erfahrungen darlegt. Aber Brecht kann das nicht von der isolierten Position der New School aus. Ich habe durch meine alten Beziehungen und Freundschaften diese Isolrierung [sic!] durchbrechen koennen. Aber fuer alle anderen besteht sie eisern. Die New School befindet sich wie in einem Freihafen, d. h. in einem autonomen und somit isolierten Gebiet. Sie wird ein Schiff von Einwanderern bleiben, das an der Reede verankert liegt aber das seine Einwanderer nicht ausbootet.“117
Brandt wendet sich sodann mit der Bitte an Brüning, der nach seiner Emigration in die USA an die Harvard Universität gegangen war, ob er nicht, bei seinem „grossen Einfluss auf die entscheidenden Leute an der Harvard Universitaet“, Brecht eine Berufung an die Littauer School beschaffen könne. Er wisse „von verschiedenen Leuten von Harvard, dass Brecht dort einen ausgezeichneten Eindruck hinterlassen hat und dass sein kurzes Wirken ein wirklicher Erfolg war“.118 Wenn Brandts Einsatz für Brecht vor dem Hintergrund dessen bewertet wird, was von Krohn über Brandts politische Einstellung zu erfahren ist, liegt es nahe, daraus auch auf Brechts Haltung zu schließen. Krohns These, daß Brecht deshalb „Akkulturationsprobleme“ hatte, weil er den politischen Verhältnissen in Deutschland zu unkritisch gegenüberstand, würde damit also Bestätigung finden. Doch es bleiben selbst in Kenntnis dieser Zusammenhänge einige Fragen offen. So wäre zunächst kritisch danach zu fragen, was Krohn genau unter dem Begriff eines „rabiaten 117 Karl Brandt an Heinrich Brüning, 30. 5. 1938 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/ 11. (Soweit sich der Sinn unmittelbar erschloß, habe ich die unvollständigen Wörter im Brief in eckigen Klammern ergänzt, H.B.) 118 Eine Antwort von Brüning ist im Nachlaß Brechts nicht vorhanden; es ist aber davon auszugehen, daß er der Bitte entweder nicht nachgekommen ist oder seine Bemühungen – zumindest für einen dauerhaften Verbleib Brechts an der Harvard Universität – erfolglos blieben.
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Deutschnationalen“ versteht. Zwar weist er auf einen Vorfall hin, der 1937 aufgrund der unkritischen Haltung Brandts gegenüber dem NS-Regime unter den Emigrantenkreisen in New York einen „handfesten Skandal“ provozierte, und attestiert ihm auch insgesamt eine konservative Einstellung.119 Doch offensichtlich ist Brandts tatsächliche politische Haltung damit längst nicht erschöpfend charakterisiert. Denn in den Korrespondenzen zwischen Karl Brandt und Brecht finden sich Briefe, die auf eine völlig gegenteilige politische Haltung und keinesfalls darauf schließen lassen, daß Brandt ein „rabiater Deutschnationaler“ war. So schreibt er etwa kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges: „Ich rechne damit das [sic!] der Mordrausch, in dem sich das brutale Gesindel, das heute das Dritte Reich regiert, sich aller alten Leute, aller Juden, aller politisch verdaechtigen, aller Krueppel entledigen wird. Man wird ihnen die Rationen so beschneiden, dass sie an Schwaeche sterben. Die Menschen in den Konzentrationslagern wird man massenweise liquidieren. […] Mir fehlen die Worte, um zu sagen, was ich empfinde. Ist es vorstellbar, dass ein grosses Volk sich so von einer Verbrecherbande in den Selbstmord treiben laesst und vorher noch die halbe Welt ruiniert??? Es ist eben leider doch nicht eine Verbrecherbande – sondern im Volke selbst ist beinall [sic!] seinen guten Qualitaeten etwas nicht in Ordnung. Warum hat keiner von uns den Schneid gehabt, den Wahnsinnigen zu ermorden! Weil wir die Soehne des Soldatenkoenigs sind und weil man uns eben doch etwas wegerzogen hat, was andere Voelker haben. Wir lieben die ,Ordnung‘ und koennen nicht mehr in vitalem Impuls zur Verteidigung der Freiheit handeln.“120
Aufgrund der Widersprüche, die sich damit in bezug auf die politische Verortung Karl Brandts abzeichnen, kann sein Einsatz für Brecht nur in Unkenntnis der zuletzt zitierten Briefe als Beleg dafür gewertet werden, daß eine unkritische Haltung gegenüber Deutschland ihn und Brecht gleichsam verbunden hätte. Auch an dieser Stelle findet sich also kein eindeutiges Indiz für den von Krohn hergestellten Kausalnexus. Des weiteren muß bedacht werden, daß auch ganz andere als politische Beweggründe denkbar sind, die zu einer skeptischen Haltung gegenüber der New School geführt haben können. Welcher Art diese Motive sein können, schildert 119 Verursacht wurde der Skandal durch einen Artikel, den Brandt 1937 in der Frankfurter Zeitung veröffentlichte – also einer Zeitung, die von den Nationalsozialisten inzwischen „gleichgeschaltet“ worden war. Vgl. dazu Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 206 f. 120 Karl Brandt an Arnold Brecht, Palo Alto, 4. 9. 1939, BAK, NLB, 1089/9. Wenige Tage später folgt ein ähnlicher Brief, der überdies belegt, daß Brandt sich sehr wohl mit seinem neuen Zufluchtsland identifizierte: „Fuer mich steht es leider eisern fest, dass wenn dieses verkommene und moralisch voellig verluderte Deutschland den Krieg gewinnt oder auch nur mit einem blauen Auge davon kommt dieselbe Barbarei sich schnell ueber den Rest der Welt verbreitet. Das ist eine Pest, die schlimmer wie Bakterien und Virusinfektion um sich greift. Vergessen wir doch nicht, dass die Existenz solcher Gangstersysteme an sich die Welt barbarisiert und verroht einfach durch unvermeidlichen Reflex. […] Leider ist dieses an sich mit vielen Tugenden ausgestattete Volk geistig nicht mehr zurechnungsfaehig, nachdem es sechs Jahre von einem der gefaehrlichsten Faelle unerkennbarer Geisteskrankheit ,gefuehrt‘ wird. […] Mein persoenlicher Standort, mein Wahlvaterland, die Heimat meiner Kinder ist dies grosse und schoene freie Amerika. […] Es muss dem deutschen Volk klar gemacht werden, dass es von einem Geisteskranken ,gefuehrt‘ war. Das ist der erste Punkt eines Friedensprogramms.“ Karl Brandt an Arnold Brecht, Stanford (Kalifornien), 14. 9. 1939, BAK, NLB, N 1089/9.
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Brandts Ehefrau Anitta Brandt in einem Brief an Brecht, nachdem dieser eine Einladung nach Harvard erhalten hatte: „Hoffentlich geht die Abwicklung mit der New School friedlich von Statten. Karl haben es doch manche damals uebel genommen, dass es die Schicksalsgemeinschaft verliess. Aber es ist ja indessen ein solcher Strom neuer Kraefte an Land geschlagen, dass die New School am Abgang eines alten Stammgastes nicht mehr zugrunde geht. […] wie gut passt Ihr beide in die neue Atmosphaere. […] Karl und ich haben es nie bereut, dass wir heruebergewechselt haben, im Gegenteil, es erscheint uns immer mehr als eine Unmoeglichkeit, wieder nach dort zurueckzugehen. So wird es auch Euch gehen. Das Leben wird so viel leichter, wenn man in amerikanischer Umgebung lebt, als in dieser unentrinnbaren Emmigrantenluft der New School, unter der ich besonders stark gelitten habe.“121
Unabhängig davon, was von Karl Brandt zu halten ist, belegt sein oben zitierter Brief allerdings ebenfalls, daß Brecht in der Tat „Akkulturationsprobleme“ hatte. Grund zu großer Verwunderung ist dies indes nicht – und zwar auch dann nicht, wenn das bei anderen Emigranten anders ausgesehen haben mag und ihr Einlebungsprozeß schneller verlaufen sein sollte als bei Brecht.122 Darüber hinaus ist zu berücksichtigen – Krohn weist selbst darauf hin –, daß Brecht trotz seiner anfänglichen Widerstände und Konflikte mit Alvin Johnson wissenschaftlich außerordentlich produktiv war, viele Aufsätze publizierte und Gastprofessuren an den Universitäten von Harvard und Yale hatte.123 Und so wie Brecht sich mit Johnson schließlich versöhnte, versöhnte er sich auch mit seinem Beruf an der New School, die ihm, wie seine Widmung in der „Politischen Theorie“ zeigt,124 zum Leitstern seines Handelns wurde und ihn wissenschaftlich tief geprägt haben dürfte.125
121 Anitta Brandt an Carla und Arnold Brecht, Palo Alto, 18. 6. 1941, BAK, NLB, N 1089/9. (Rechtschreibfehler im Original; reine Tippfehler an dieser Stelle von mir korrigiert, H.B.) 122 Krohn betont, daß die Mehrheit der Fakultätsmitglieder nicht „solche Umstellungs- und Eingewöhnungsschwierigkeiten“ wie Brecht hatte. Krohn, Wissenschaft im Exil, S. 211. 123 Vgl. Krohn, „Refugee scholar“, S. 117 ff. Hier findet sich auch ein Überblick über einige Themen der von ihm in diesem Zeitraum verfaßten Aufsätze. 124 Die Widmung lautet: „Zu Ehren der NEW SCHOOL FOR SOCIAL RESEARCH IN NEW YORK die im Schicksalsjahre 1933 25 Jahre vor Vollendung dieses Buches aus deutschen Nationalökonomen, Philosophen, Psychologen, Soziologen und Juristen die Fakultät für fortgeschrittene Studien in der politischen und Sozialwissenschaft (Graduate Faculty of Political and Social Science) begründete und ihr gab, was sie für ihre Arbeit brauchte: ein Dach über dem Kopf und Freiheit“. Vgl. Brecht, PT. 125 Das läßt sich zum Beispiel daran erkennen, daß Brecht der Phänomenologie Husserls in seiner „Politischen Theorie“ einen wichtigen Stellenwert einräumt. Vgl. Brecht, PT, S. 453 ff. Die Graduate Faculty der New School galt als eines der wenigen Zentren in Amerika, an denen die Husserlsche Phänomenologie gelehrt und erforscht wurde. Vgl. dazu Marcuse, Einfluß der deutschen Emigration, S. 27 ff.
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b) Zwischen Identitätsverlust und Neubeginn In seiner Autobiographie verwendet Brecht häufig eine Formulierung, die wohl als Anspielung auf eine Liedzeile von Paul Gerhardt zu verstehen ist: „Ich bin ein Gast auf Erden.“126 Das Gefühl von Heimatlosigkeit, über das Brecht sich damit offenbar hinwegtrösten wollte, spiegelt sich in vielen seiner Briefe wider; gleichwohl gelangt er in einem Brief an Hermann Kesten zu der Feststellung: „Die Wahl des Wohnortes sollte man nicht zu wichtig nehmen. Beibehaltung des Wohnortes in Amerika bedeutet nicht schon eine Absage an Deutschland. Ebensowenig das Zögern derer, die in der Hitlerzeit die amerikanische Staatsbürgerschaft erworben haben, sie wieder aufzugeben. Daß jemand, der in zwei Welten zu Hause ist, Staatsangehörigkeit juristisch nur in einer haben kann, ist eine Rückständigkeit des öffentlichen Rechts gegenüber der Wahrheit des Lebens.“127
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges hatte Brecht sich gegen eine Rückkehr nach Deutschland entschlossen. Durch die Annahme der amerikanischen Staatsangehörigkeit 1946 hatte er seine deutschen Pensionsansprüche verloren;128 doch es waren nicht nur ökonomische Gesichtspunkte, die bei seiner Entscheidung eine Rolle gespielt haben. Im Sommer 1947 bekam Brecht eine Anfrage des Hamburger Bürgermeisters Max Brauer, ob er nach Deutschland zurückkehren wolle, um Hamburg im Wirtschaftsrat der britischen und amerikanischen Besatzungszone zu vertreten. In seiner abschlägigen Antwort weist Brecht auf seine enge Bindung gegenüber der Graduate Faculty hin, in der er inzwischen bereits ebenso lange gearbeitet habe wie „von 1918 bis 1932 im Dienste der deutschen Republik“.129 Er könne die Fakultät „nicht einfach von heute auf morgen in Stich lassen“. Zwar sei seine Liebe zu Deutschland die gleiche geblieben, doch könne er die Verpflichtungen, die er sich in den Vereinigten Staaten in den vergangenen Jahren erworben habe, nicht ohne weiteres ignorieren. Brecht erklärt außerdem:
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Vgl. z. B. Brecht, Nähe, S. 375 sowie Brecht, Kraft, S. 383. Brecht, Brief an Kesten, S. 32. Dieser Brief wurde in einem von Hermann Kesten herausgegebenen Sammelband 1964 veröffentlicht. Vgl. die vollständigen Angaben in der Brecht-Bibliographie im Anhang der Arbeit. 128 An seinen Lübecker Jugendfreund Georg Pfuhl schreibt Brecht: „Dass ich nach Deutschland zurückkehren kann, weiss ich natürlich, lieber Georg, und bin mir auch klar, dass ich mich darüber mit den verschiedenen Würdenträgern in Berlin, Bonn und Frankfurt verständigen kann. Aber zur Zeit gibt es für Berliner und Reichsbeamte noch keine Pensionsansprüche, und am wenigsten für Ausländer. Ob das noch einmal anders wird, steht noch im Dunkeln. Zur Zeit zurückzukehren, würde mich hier der kleinen Pension berauben, die ich erhalte, wenn ich noch drei oder vier Jahre hier bleibe. Das ist zwar zu wenig, um davon zu leben, aber besser als nichts.“Arnold Brecht an Georg Pfuhl, New York, 15. 4. 1950, BAK, NLB, N 1089/23. 129 Einige Jahre später kommentiert er diesen Umstand in einem Brief an Jürgen Fehling so: „Wir sind jetzt solange in New York, wie ich von meinen ersten Referendartagen bis 1933 in Deutschland war – unvorstellbar für mich selbst. Es ist gewissermassen nicht wahr.“ Arnold Brecht an Jürgen Fehling, New York, 25. 2. 1960, BAK, NLB, N 1089/18. 127
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„Vor allem aber kann ich nicht von heute auf morgen auf meine amerikanische Staatsangehörigkeit verzichten, zumal ich Deutschland nach dem Kriege noch nicht wiedergesehen habe und nicht weiss, ob ich mich in der deutschen Welt wieder zurecht finde und ob meine deutschen Brüder (denn das sind sie noch heute) mich in den oberen und mittleren Schichten jetzt besser verstehen als damals.“130
Auch seinem früheren Berliner Kollegen Karl Wever berichtet er von seinen Zweifeln: „Die langsam wachsenden Möglichkeiten, die ich mir hier allmählich erworben habe, dass meine Stimme gehört wird, wenn auch nicht immer sofort, hat mich veranlasst, hier zu bleiben. Das war eine schwere Entscheidung, im Hinblick auf unsere tiefe Verwurzelung mit und in Deutschland und auf die völlige Abwesenheit jedes persönlichen Grolles. Aber ich habe den Entschluss gefasst aus der Überzeugung, dass jetzt jeder da, wo er am besten wirken und am schwersten durch andere ersetzt werden kann, wirken sollte, ohne Rücksicht auf Stellung und ähnliches. Jedenfalls ist es in diesem Sinne, dass ich meine Tätigkeit einrichte, mit voller Liebe für beide, Amerika und Europa – Vereinigte Staaten und Deutschland. Wie wenig kann der Einzelne aber überhaupt tun. Und doch setzt sich das, was geschieht, aus dem Tun vieler Einzelner zusammen, und der kleinste Beweis von Charakter und Liebe ist oft mehr wert als vermeintliche ,Wichtigkeit‘ von Amtsträgern. Das haben Sie und ich gelernt.“131
Er bilde sich nicht ein, daß er in Deutschland „eine Aufgabe hätte“;132 zwar sei es nicht einfach für ihn und seine Frau gewesen, sich in Amerika zu verankern, und „selbst in der jetzigen Lage Deutschlands“ würde er gerne dort leben, doch seine Wirkungsmöglichkeiten seien in Deutschland äußerst begrenzt: „Aber helfen könnte ich nicht viel, da ich weder Ingenieur (wie schreibt man das?) [sic!] noch Zauberer von Brot und Kohlen bin, noch Holz fällen könnte. Alles andere zählt wenig, besonders wenn man so lange fort war.“133 Die „natürliche Aufgabe“134, die Brecht demgegenüber in seinem Wirkungskreis in den USA sah, bestand unter anderem darin, nach den Geschehnisses des Zweiten Weltkrieges das Ansehen Deutschlands im amerikanischen Ausland wiederherzustellen. „Wie die Dinge stehen“, erklärt Brecht Hermann Höpker-Aschoff, „ist der Nutzen, den wir in der Aufklärung von Missdeutungen und Irrtümern hier im allseitigen Interesse geben können, wohl grösser als der bescheidene Nutzen, den wir bei einer Rückkehr nach Deutschland stiften könnten“.135 Seinem ehemaligen Mitschüler Erich Boettcher, dem späteren Bürgermeister von Lübeck, berichtet er: 130 Arnold Brecht an Max Brauer, New York, 14. 7. 1947, BAK, NLB, N 1089/16. Vgl. zu Brauers Anfrage: Max Brauer an Arnold Brecht, Hamburg, 11. 6. 1947, BAK, NLB, N 1089/16. 131 Arnold Brecht an Karl Wever, New York, 15. 4. 1950, BAK, NLB, N 1089/34. 132 Arnold Brecht an Emanuel Benda, New York, 15. 11. 1946, BAK, NLB, N 1089/16. Emanuel Benda war ein weiterer Jugendfreund Brechts, den er noch aus Lübeck kannte. 133 Arnold Brecht an Georg Pfuhl, New York, 15. 11. 1946, BAK, NLB, N 1089/23. 134 So die Formulierung in dem schon zitierten Brief an Benda. 135 Arnold Brecht an Hermann Höpker-Aschoff, New York, 11. 6. 1947, BAK, NLB, N 1089/20. Gleichwohl schätzte Brecht seine Einflußmöglichkeiten auch in Amerika eher als
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„Manches habe ich hier tun können, um mit dem mir hier erworbenen Ansehen falsche und übertriebene Verallgemeinerungen im Urteil über Deutschland und alle Deutschen richtig zu stellen. So habe ich im Geiste der Wahrheit und Liebe meinem alten Vaterlande noch manchen Dienst tun können.“136
So tue er, was er könne, „dass man die anständigen Leute in Deutschland verstehen lernt“. Das, was ihn dabei antreibt, umschreibt Brecht in zahlreichen Briefen immer wieder mit ähnlichen Formulierungen wie dieser: „Eine Zusammenarbeit der Guten für das Gute überall in der Welt ist jetzt nötiger denn je, und das einzig Sinnvolle.“137 Trotz seiner Entscheidung, seinen Wohn- und Lebensort in den Vereinigten Staaten auch nach 1945 nicht dauerhaft zu verlassen,138 war Brechts Verbundenheit gegenüber Deutschland weiterhin stark ausgeprägt. Das wird nicht nur dadurch deutlich, daß er nach dem Krieg seine regelmäßigen Deutschlandbesuche wieder aufnahm,139 sondern es zeigt sich auch darin, daß er sich aktiv in die Politik der begrenzt ein: „Überhaupt ist mir die hoffnungslose Grenze dessen, was der einzelne tun kann, nie so bewusst geworden. Denn es gibt viele Schritte, die ich hier tun könnte, wenn meine Kräfte ausreichten, und ich arbeite immer bis nah an die Erschöpfungsschwelle, nur um zu sehen, dass viele Dinge ungetan bleiben, die ich sonst ganz gut tun könnte.“ Ebd. 136 Arnold Brecht an Erich Boettcher, New York, 26. 8. 1951, BAK, NLB, N 1089/16. 137 Arnold Brecht an Emanuel Benda, New York, 10. 8. 1946, BAK, NLB, N 1089/16. Schon während des Krieges hatte Hertha Vogelstein Brecht dazu ermutigt, sich als Deutscher in Amerika „für das Gute“ – in diesem Fall für die Demokratie – einzusetzen und bekundet damit großes Vertrauen in die Wirkungsmöglichkeiten Brechts: „Schreiben Sie die Gedanken über Demokratie nieder, an die Sie neulich flüchtig rührten; weisen Sie auf, was Demokratie im Wechsel der Zeiten und für die wechselnden Zeiten bedeutet hat; zeigen Sie, warum Demokratie den Menschen hinausweist über sich selbst – Menschenwürde –; lassen Sie den Zusammenhang mit echtem Christentum – oder mit jeder echten Religion? – sichtbar werden, und wie der Humanismus des 16. Jahrhunderts und aller Jahrhunderte mit Demokratie verbunden ist. Die Menschen brauchen heute mehr denn je eine Deutung dieses Begriffes im Lebendigen, sodaß der Begriff wieder zur Idee wird, zum Leitbild, das sie führen kann. Wenn ein Deutscher diesem Lande die Deutung unserer Zeit brächte, – es wäre ein würdiges Gastgeschenk an die Nation, die uns als Freie aufgenommen hat in ihre Mitte.“ Hertha Vogelstein an Arnold Brecht, New York, 25. 1. 1942, BAK, NLB, N 1089/10. 138 In seiner Autobiographie gibt Brecht dafür auch gesundheitliche Gründe an; nach einem durch Überarbeitung verursachten Zusammenbruch im Frühjahr 1944 habe ihm der Arzt davon abgeraten, seine Gesundheit durch die Strapazen einer Übersiedlung nach Deutschland erneut aufs Spiel zu setzen. Wiewohl ihm die Entscheidung sehr schwer gefallen sei und er sich habe Mühe geben müssen, an ihrer Last nicht zu zerbrechen, wußte er sehr genau, was ihn in Amerika hielt: „Meine Arbeit in Amerika und unsere dort gewonnenen Freundschaften, besonders das Gemeinschaftswerk der Graduate Faculty, hatten uns inzwischen eng mit Amerika verknüpft. In New York fühlte ich mich mehr zu Hause als in irgendeiner deutschen Stadt außerhalb Berlins.“ Brecht, Kraft, S. 355. Siehe auch ebd., S. 353. 139 In einem Brief an Otto Braun schreibt Brecht dazu: „Denn ich denke, wir, die wir aus verschiedenen Gründen ausserhalb leben, odergar [sic!] fremde Staatsangehörigkeit erworben haben, sollten so oft wie möglich nach Deutschland gehen und wie in alter Zeit mit ihnen dort zusammenleben und -planen, sorgen und lachen. Das ist gut für uns, und für sie, und alles andere ist grausam unnatürlich.“ Arnold Brecht an Otto Braun, New York, 21. 10. 1949, BAK, NLB, N 1089/9.
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deutschen Bundesrepublik einzumischen versuchte. Sein Interesse galt dabei sowohl der westdeutschen Verfassungspolitik140 als auch der Ost-West-Politik141 sowie der Reform des öffentlichen Dienstes in der Bundesrepublik142. Brechts Ankündigung, daß er sich nicht mehr in die deutsche Politik einmischen werde, entspricht also nicht ganz der Realität.143 Auch in der Wissenschaft konnte Brecht seinen Einfluß über die Grenzen des Atlantik hinaus geltend machen, denn in den 1950er Jahren war er für mehrere Sommersemester als Gastprofessor an der Universität Heidelberg tätig.144 Brecht betrachtete sich daher als eine Art „transatlantischer Mittler“145 zwischen Deutschland und Amerika und fühlte sich nach eigenen Angaben als „Buerger beide Laender“146 : „Meine amerikanische Staatsbuergerschaft bedeutet ja kein Hindernis fuer meine taetige Anteilnahme und unveraenderliche Liebe zu Deutschland, die ich in Freiheit und Verantwortung hege und pflege […].“147 Seine „Liebe und Sorge“ gehöre „unveraendert weiter Deutschland“148, denn er sei „mit der alten Heimat“ „unzerstoerbar verbunden geblieben“149. Die Schwierigkeiten indes, die das Einleben in Amerika nach sich zog, demonstrieren viele Briefe genau so stark wie jene dort getroffenen Aussagen, die als „gelungene Akkulturation“ gewertet werden können. Die Ambivalenz, in der sich Brecht als „Wanderer zwischen den Welten“ befunden haben mag, bringt Benita 140 Brecht führte in dieser Sache unter anderem einen Briefwechsel mit Theodor Heuss. Vgl. BAK, NLH, N 1221/74. Vgl. dazu auch Ruck, Verfassungsentwicklung. 141 Siehe dazu zum Beispiel den Briefwechsel mit Willy Brandt, BAK, NLB, N 1089/16, und mit Gustav Heinemann, BAK, NLB, N 1089/20. Brecht veröffentlichte dazu im Jahr 1957 auch eine kleine Schrift, die aus seinen Gastvorlesungen an der Universität Heidelberg hervorgegangen ist. Vgl. Brecht, Wiedervereinigung. 142 Vgl. dazu Unger, Beamtenrecht. Siehe dazu auch Kapitel II.2.b). Vgl. zu allen drei genannten Bereichen auch Brecht, Kraft, S. 357 ff. 143 Auch von seinem alten Idealismus hatte Brecht nichts verloren. So schreibt er, Heinrich Heine zitierend, etwa Theodor Heuss nach einem seiner Deutschlandbesuche: „Es war trotz allem schön, wieder in Deutschland zu sein, und ich fühle mich neu gekräftigt von meinem Besuch für den Kampf gegen Unkenntnis, Torheit und Hass für guten Willen, Weisheit und Liebe. ,Und ruhig fliesset der Rhein.‘“ Arnold Brecht an Theodor Heuss, New York, 23. 10. 1948, BAK, NLH, N 1221/74. 144 Zu seiner Tätigkeit an der Universität Heidelberg liegt umfangreiches Aktenmaterial vor. Die Erschließung und Auswertung des Materials konnte in diesem Rahmen nicht erfolgen, ist aber einer späteren Studie vorbehalten. 145 So Michael Ruck, der sich damit allerdings auf Brechts politische Rolle und weniger auf sein wissenschaftliches Wirken bezieht. Ruck, Deutsch-amerikanische Perspektiven, S. 359. 146 Arnold Brecht an Heinrich Lübke, 7. 2. 1964 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/ 21. 147 Arnold Brecht an Eugen Gerstenmaier, New York, 17. 9. 1959, BAK, NLB, N 1089/19. 148 Arnold Brecht an Walther Schreiber, Kampen auf Sylt, 12. 8. 1962, BAK, NLB, N 1089/ 25. 149 Arnold Brecht an Gustav Heinemann, New York, 28. 1. 1970, BAK, NLB, N 1089/20. Diese Worte richtete Brecht an Heinemann, nachdem er das Große Verdienstkreuz mit Stern bekommen hatte; 1959 hatte er bereits das Bundesverdienstkreuz erhalten.
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Luckmann mit der folgenden Beschreibung auf den Punkt: „Von Arnold Brecht kann man sagen, daß er Deutschland nie endgültig verlassen hat. Er ist aber auch bis zu seinem Tod nie wirklich und nie endgültig nach Deutschland zurückgekehrt.“150 „Natürlich ist man nie mehr irgendwo ganz zu Hause“, schreibt Brecht an seinen Freund Eduard Heimann, der wie er 1933 in die USA emigriert und an die New School gekommen war, allerdings 1963 nach Hamburg zurückkehrte. Doch darauf komme es nicht an, fährt Brecht fort, „wenn man nur nicht ganz in die Irre geht“.151 Das „schwere Schicksal der Emigration“152 spiegelt sich auch in Brechts Umgang mit der neuen Sprache wider. In seinen Erinnerungen an Alexander Rüstow, der kurz zuvor verstorben war, spricht Brecht bewundernd von Rüstows herrlichem „Rausch des maechtigen Gebrauchs der geliebten deutschen Sprache nach Jahren erzwungenen Stammelns in fremden Zungen“.153 Brecht muß den Verlust des aktiven Gebrauchs der Muttersprache als schmerzlich empfunden haben – umso mehr, als er sich zeit seines Lebens als „verhinderter Poet“ betrachtete –, doch er scheint recht schnell einen unbeschwerten Zugang zur englischen Sprache entwickelt zu haben. Denn auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen fast alle seine Monographien zunächst auf englisch, bevor sie – teilweise, wie bei seinem Hauptwerk „Politische Theorie“, von Brecht selbst154 – ins Deutsche übersetzt wurden.155 Erstaunlich ist, daß Brecht sogar einige seiner Briefe mit anderen deutschen Emigranten trotz der gemeinsamen Muttersprache auf englisch verfaßte.156 Es geht sicher 150 151
32.
Luckmann, New School, S. 363 f. Arnold Brecht an Eduard Heimann, New York, 29.19.[sic!] 1963, BAK, NLB, N 1089/
152 So Arnold Brecht in einem Brief an Hannah Tillich, 21. 11. 1965 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/39. Ähnlich äußert er sich in Briefen an Max M. Warburg, New York, 2. 1. 1943, BAK, NLB, N 1089/8 sowie an Julius Flechtheim, New York, 1. 2. 1962, BAK, NLB, N 1089/18. Seinem Freund Georg Pfuhl aus Lübeck erklärt er: „Amerikaner, die mir für mich oder jemanden anders Geld geben würde, habe ich in den 21 Jahren hier noch nicht gefunden. Wir haben alles auf harte Weise uns erdienen müssen, in völlig neuen Tätigkeiten (meine deutsche Jura war hier weniger als nichts wert) und in fremder Sprache, mit schweren Krankheiten dazwischen, und jetzt emeritiert.“ Arnold Brecht an Georg Pfuhl, New York, 24. 10. 1954, BAK, NLB, N 1089/23. 153 Arnold Brecht an Frau Rüstow, München, 4. 7. 1963, BAK, NLB, N 1089/24. 154 Theodor Litt stellt daraufhin mit Bestürzung fest: „Der ganze Widersinn des deutschen Schicksals trat mir vor Augen. Da findet sich ein guter Sohn Deutschlands genötigt, seine Gedanken in englischer Sprache niederzuschreiben. Indem er sie später ins Deutsche zurückübersetzt, nimmt das Buch eine ganz andere Gestalt an, als es erhalten hätte, wenn es von vorne herein deutsch niedergeschrieben worden wäre (wobei ich nicht leugne, dass die Beschäftigung mit den Begriffen und Ausdrücken des Auslandes auch ihr Belehrendes haben kann). Wir sind ein verkorkstes Volk.“ Theodor Litt an Arnold Brecht, Bonn, 13. 7. 1961, BAK, NLB, N 1089/21. 155 Eine Ausnahme stellt lediglich seine Autobiographie dar. Hier erschien zuerst die zweibändige deutsche Ausgabe und erst drei Jahre später die amerikanische, auf einen Band zusammengekürzte Version. Vgl. Brecht, The Political Education of Arnold Brecht. 156 So z. B. in einigen der Korrespondenzen zwischen Brecht und Hans Simons: BAK, NLB, N 1089/12. Bei Rüstow entschuldigt er sich allerdings, daß er seine Ansprache aus Gewohnheit
1. Exil – Die fremde Heimat: Eine Dokumentation in Briefen
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nicht zu weit, diese sprachliche Entwicklung als Ausdruck einer gewachsenen Identifikation mit Amerika zu interpretieren. Davon legt auch ein weiterer Brief an Hans Simons Zeugnis ab, in dem Brecht zu dem Schluß kommt: „Denn ein Leben ohne unser grosses Erlebnis von Amerika und von Neuanfangen wuerde mir schal erscheinen, und der Genuss provinzieller Macht hat etwas fuer Dich und mich, worueber wir laecheln muessen.“157 Die positive Identifikation mit den Vereinigten Staaten schlägt sich ebenso in den Worten nieder, die Brecht an Frieda Wunderlich richtet: „Aber jedesmal haelt die Einfahrt in den New Yorker Hafen uns wieder den Atem an. Jedssmal [sic!] erscheint mir die Statue of Liberty physisch groesser als ich sie in Erinnerung hatte, und immer wieder symbolisch als ein ueberwaeltigend mitreissender Empfang.“158
Wenngleich Brecht nach langwierigen Einlebungs- und Identifikationsprozessen159 ein positives Verhältnis zu seinem Leben in Amerika gewonnen hatte, blieb er in der Tat ein „Gast auf Erden“: Nichts legt davon deutlicher Zeugnis ab als die Tatsache, daß Brecht mit seiner Frau in New York bis zu seinem Lebensende in Hotelzimmern wohnte. Doch trotz des irreparablen Bruchs, der mit dem Jahr 1933 in seinem eigenen Leben entstanden war, gibt Brecht in seiner Autobiographie an, daß sein „Identitätsbewußtsein“ darunter nicht gelitten habe; es sei „nicht gespalten oder verschüttet, sondern im Gegenteil verstärkt“ worden.160 Er führt aus: „Aber trotz der Teilung meines Lebens zwischen Epochen, in denen das Fühlen, Handeln oder das Denken im Vordergrunde stand, zwischen Werden, Gewordensein, Absterben, Neuwerden und Neugewordensein, zwischen Deutschland und Amerika, zwischen Jugend, Mannheit und Alter, habe ich doch das unbeirrte Gefühl meiner Identität behalten.“161 versehentlich auf englisch verfaßt hat, „was in einem Brief von mir zu Ihnen lächerlich ist, obwohl wir beide die Sprache beherrschen und lieben. Aber der deutsche Ausdruck quillt doch irgendwie von tieferen natürlichen Wurzeln in uns, die ich pflege und mich hüte, abzuschneiden.“ Arnold Brecht an Alexander Rüstow, 9. 3. 1955 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/24. 157 Arnold Brecht an Hans Simons, München, 23. 6. 1963, BAK, NLB, N 1089/12. Zu einer ähnlichen Feststellung gelangt Brecht in einem Brief an Eduard Spranger: „Bei aller unveraenderter Verbundenheit mit Deutschland habe ich doch zu viel Tiefe und Groesse, Bildung und Verantwortung in anderen Laendern gefunden, um irgend einem Volke irgend eine geistige Monopolstellung zuzuerkennen.“ Arnold Brecht an Eduard Spranger, (o.D.; kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/26. 158 Handschriftlich dazugeschrieben: ,Wie damals!‘. Arnold Brecht an Frieda [Wunderlich], New York, 19. 10. 1964, BAK, NLB, N 1089/39. 159 Davon berichtet er auch in seiner Autobiographie: „Trotzdem blieb uns die große neue Welt lange Zeit innerlich fremd. […] ,Es wird zehn Jahre dauern, ehe Sie Ihr Bestes für Amerika geben können‘, sagte Alvin Johnson zu uns. Mir schien das zu lang, ich dachte, das könne ich schneller tun. In Wirklichkeit war es noch zu kurz bemessen. Heute kann ich dem großen Historiker Charles Beard nicht unrecht geben, der mir einmal sagte, um Amerika ganz zu verstehen, müsse man 300 Jahre dort gelebt haben.“ Brecht, Kraft, S. 376. 160 Brecht, Kraft, S. 404. 161 Brecht, Kraft, S. 401. Ähnlich äußert sich Brecht in einem Brief an Heinrich Lübke: „Sie haben meiner Frau und mir erneut gezeigt, dass die Einheit unseres Lebens durch die unfrei-
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
Nach Ansicht von Volker Depkat sind diese Aussagen typisch für das Wesen von Autobiographien, deren Autoren der Generation von Brecht angehören. Demnach hat auch Brechts Autobiographie die Funktion, Kontinuität zu schaffen „angesichts tatsächlich erfahrener biographischer und historischer Diskontinuität“162. Für diese Interpretation spricht auch der folgende Satz, hinter dem man gleichsam Brechts Leitmotiv für die Niederschrift seiner Autobiographie erkennen kann: „Mein Leben war mehrfach auseinandergefallen; ich wollte es wieder zusammenflicken.“163 Daß ihm dies nicht hinreichend gelingen konnte, zeigen nicht nur seine Briefe, sondern es läßt sich auch an der inhaltlichen Gewichtung seiner Autobiographie ablesen: Von dem rund tausendseitigen Werk nehmen seine Schilderungen ab dem Zeitpunkt seiner Emigration gerade einmal siebzig Seiten ein. Wenn auch verschiedene Beweggründe dabei eine Rolle gespielt haben dürften,164 wird doch klar, daß sich die Ambivalenz dieser doppelten Identifikation auf beiden Seiten des Atlantik nie ganz aufheben ließ. Brechts Umgang mit der Emigration, sein Akkulturationsprozeß und sein Entschluß gegen eine Remigration stellen Themen dar, die zunächst vor allem in biographischer Hinsicht relevant erscheinen. Doch die Kenntnis dieser Entwicklungslinien in der Biographie Brechts ist erforderlich, um sowohl seine politische Haltung angemessen beurteilen als auch sein Werk kontextualisieren zu können. Daß seine „Akkulturationsschwierigkeiten“ nicht als Indiz für mangelnde politische Standwillige Flucht aus Deutschland im Unheilsjahre 1933 nicht endgueltig zerstoert worden ist.“ Arnold Brecht an Heinrich Lübke, 7. 2. 1964 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/21. 162 Depkat, Volker: Arnold Brecht als Autobiograph, in: Krohn, Claus-Dieter/Unger, Corinna R. (Hg.), Arnold Brecht 1884 – 1977. Demokratischer Beamter und politischer Wissenschaftler in Berlin und New York, Stuttgart 2006, S. 15 – 44 (21); siehe auch ders., Autobiographie, S. 460 sowie ders., Lebenswenden, S. 117 f. 163 Brecht, Nähe, S. 8. Depkat erkennt hierin „das Moment der Selbsttherapie als Motiv für den Entschluss zur Autobiographie“; vgl. Depkat, Brecht als Autobiograph, S. 21. 164 In vielen seiner Briefe erwähnt Brecht, daß es ihm bei seiner Autobiographie auch darum gegangen sei, das schlechte Bild, das viele von der Weimarer Republik hätten, zu korrigieren. (Vgl. z. B. Arnold Brecht an Erich Boettcher, New York, 16. 2. 1960, BAK, NLB, N 1089/16.) Das würde die vorgenommene Gewichtung zumindest in Teilen erklären. In einem Brief an Berthold Spangenberg findet sich sogar der Hinweis, daß Brecht ursprünglich geplant hatte, seine Memoiren bereits mit dem Jahr 1921 enden zu lassen. Vgl. Arnold Brecht an Berthold Spangenberg, New York, 17. 3. 1964, BAK, NLB, N 1089/22. Die Notwendigkeit, die Memoiren in absehbarer Zeit zu einem Ende zu bringen und damit also zwangsläufig Kürzungen vorzunehmen, mag eine weitere Erklärung sein. So seufzt Brecht etwa in einem Brief an Hans Simons: „Der tote Punkt der ueberwunden werden musste, war das verzweifelte Gefuehl, dass die ganze Arbeit eine zwecklose Sisyphusaufgabe ist, die ich niemals haette beginnen sollen, und der voellig, oder fast voellig unueberbrueckte Hiatus zwischen der Jugendzeit bis zum 30. Lebensjahr und der spaetern Taetigkeit. Beides involvierte schwierige Fragen des Stils und der Gewichtsverteilung. Ich war aber viel zu weit, um einfach aufgeben zu koennen. Also musste ich die Zaehne zusammenbeissen und weitermachen, um mir wieder meine Freiheit zu erobern, immer noch in dem Gefuehl, dass es ein Wunder waere, sollte ich fuer das ganze, das jetzt schon 850 Schreibmaschinenseiten umfasst, einen Verleger finden.“ Arnold Brecht an Hans Simons, New York, 25. 2. 1964, BAK, NLB, N 1089/12.
2. Brecht und die Schuldfrage nach 1945
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festigkeit gewertet werden können, wurde im ersten Teilkapitel dargelegt. Seine Biographie liefert darüber hinaus Erklärungsansätze für die inhaltliche Schwerpunktsetzung seiner wissenschaftlichen Arbeit: War Brecht nach seiner Emigration gezwungen, sich einen neuen Wirkungskreis aufzubauen, so aktualisierte sich die Reflexion auf seine Wirkungsmöglichkeiten mit seiner Entscheidung, nicht nach Deutschland zurückzukehren. Dies schlug sich unmittelbar in seinem Werk wieder: Daß er das Ansehen Deutschlands im Ausland wiederherstellen wolle, bekundete er nicht nur in seinen Briefen, sondern er veröffentlichte dazu zwei Bücher, die in Kapitel II.2. untersucht werden. Wenn Brecht sich ferner als „Bürger zweier Länder“ gefühlt hat und zwischen den USA und Deutschland zu vermitteln suchte, so findet auch diese Haltung Eingang in sein wissenschaftliches Werk. Seine „Politischen Theorie“, die Gegenstand von Kapitel II.3. ist, stellt aus dieser Perspektive eine Synthese von europäischen und amerikanischen Wissenschaftstraditionen dar, die gleichsam als Spiegelbild seines Lebensgefühls „zwischen zwei Welten“ gelesen werden kann. „Inzwischen geht es weder darum, das Selbstverständliche zu beweisen, nämlich daß Deutsche nicht seit Tacitus Zeiten bereits latente Nazis waren, noch das Unmögliche zu demonstrieren, daß alle Deutschen eine nazistische Gesinnung haben; sondern darum sich zu überlegen, welche Haltung man einnehmen kann, wie man es ertragen kann, sich mit einem Volk konfrontiert zu finden, in welchem die Linie, die Verbrecher von normalen Menschen, Schuldige von Unschuldigen trennt, so effektiv verwischt worden ist, daß morgen niemand in Deutschland wissen wird, ob er es mit einem heimlichen Helden oder einem ehemaligen Massenmörder zu tun hat.“165
2. Zwischen Entlastungssehnsucht und Anklage: Brecht und die Schuldfrage nach 1945 Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte die Schuldfrage zu den wichtigsten Themen, die in Deutschland bereits vor Gründung der Bundesrepublik intensiv diskutiert worden sind.166 Die Debatte über die These von der deutschen Kollektivschuld spielte 165
Arendt, Hannah: Organisierte Schuld (1946), in: Glaser, Hermann (Hg.), Bundesrepublikanisches Lesebuch. Drei Jahrzehnte geistiger Auseinandersetzung, Frankfurt a. M. 1980, S. 227 – 235 (227). 166 Vgl. Lammersdorf, Raimund: Verantwortung und Schuld. Deutsche und amerikanische Antworten auf die Schuldfrage, 1945 – 1947, in: Bude, Heinz/Greiner, Bernd (Hg.), Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999, S. 231 – 256 (231). Siehe dazu auch Schildt, Axel: Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Öffentlichkeit der Nachkriegszeit, in: Loth, Wilfried/Rusinek, Bernd-A. (Hg.), Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt a. M./New York 1998, S. 19 – 54 (26 ff).
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
dabei eine besondere Rolle.167 In seinem berühmten Essay über „Die Schuldfrage“ konstatiert Karl Jaspers: „Angesichts der Verbrechen, die im Namen des deutschen Reiches verübt worden sind, wird jeder Deutsche mitverantwortlich gemacht. Wir haften kollektiv.“168 Der Vorwurf der Kollektivschuld wurde auf seiten der Alliierten indes nie offiziell erhoben, auch wenn dies in der Öffentlichkeit der Nachkriegszeit so kolportiert wurde.169 Dem also „im wesentlichen eingebildeten“ Kollektivschuldvorwurf galt allerdings eine umso größere kollektive Abwehr.170 Es entwickelte sich ein Mechanismus, den Adorno unter Rückgriff auf psychoanalytische Kategorien als Projektion bezeichnet hat: „Wenn die Wahrheit oder zumindest Elemente der Wahrheit von den Abwehrmechanismen verarbeitet werden, vollzieht sich durchweg eine Verschiebung. Man verkehrt die eigene Schuld in die der anderen, indem man Fehler, welche diese begangen haben oder begangen haben sollen, zur Ursache dessen erklärt, was man selbst getan hat.“171
Verbreitet war – um nochmals Adorno zu zitieren – eine „Aufrechnung der Schuld“, die sich des Mittels bediente, „durch Gegenvorwürfe von der Selbstbesinnung sich zu dispensieren“.172 In der gesellschaftlichen Realität sah das dann so 167 Vgl. als Überblick Friedmann, Jan/Später, Jörg: Britische und deutsche KollektivschuldDebatte, in: Herbert, Ulrich (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945 – 1980, Göttingen 2002, S. 53 – 90. 168 Jaspers, Karl: Die Schuldfrage, Heidelberg 1946, S. 56. Für Jaspers bedeutet das: „Weil wir die Kollektivschuld fühlen, fühlen wir die ganze Aufgabe der Wiedererneuerung des Menschseins aus dem Ursprung – die Aufgabe, die alle Menschen auf der Erde haben, die aber dringender, fühlbarer, alles Sein entscheidend, dort auftritt, wo ein Volk durch eigene Schuld vor dem Nichts steht.“ Ebd., S. 72. Eingangs hatte er erläutert: „Fast die gesamte Welt erhebt Anklage gegen Deutschland und gegen die Deutschen. Unsere Schuld wird erörtert mit Empörung, mit Grauen, mit Haß, mit Verachtung. Man will Strafe und Vergeltung. Nicht nur die Sieger, auch einige unter den deutschen Emigranten, sogar Angehörige neutraler Staaten beteiligen sich daran. In Deutschland gibt es Menschen, welche Schuld, sich selber einschließend, bekennen, gibt es viele, die sich für schuldfrei halten, aber andere für schuldig erklären.“ Ebd., S. 29. 169 Norbert Frei weist darauf hin, „daß kein einziges offizielles Dokument überliefert ist, in dem die Siegermächte eine solche Kollektivschuld postulieren“. Vgl. Frei, Norbert: Von deutscher Erfindungskraft. Oder: Die Kollektivschuldthese in der Nachkriegszeit, in: ders., 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2009, S. 159 – 169 (159). Lammersdorf erklärt die diesbezügliche Zurückhaltung der Alliierten so: „Der Versuch, ein kollektives Bewußtsein von Schuld zu schaffen, hätte nur die Vorstellung von einer entindividualisierten Gesellschaft bestätigt. […] Von amerikanischer Seite wurde daher sehr schnell auf die Fiktion einer kollektiven Schuld verzichtet.“ Lammersdorf, Verantwortung, S. 255. 170 Vgl. Frei, Erfindungskraft, S. 168. 171 Adorno, Theodor W.: Schuld und Abwehr. Eine qualitative Analyse zum Gruppenexperiment (1955), in: ders., Soziologische Schriften II. Zweite Hälfte (Gesammelte Schriften, Bd. 9.2), Frankfurt a. M. 1975, S. 121 – 324 (232). 172 Adorno, Theodor W.: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit (1959), in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe, Stichworte, Anhang (Gesammelte Schriften, Bd. 10.2), Frankfurt a. M. 1977, S. 555 – 572 (557). Das ging so weit, daß das Selbstverständnis
2. Brecht und die Schuldfrage nach 1945
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aus, daß der vermeintliche Kollektivschuldvorwurf beantwortet wurde „mit dem Hinweis auf die alliierten ,Terrorangriffe‘ gegen deutsche Städte und die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den ehemaligen Ostgebieten“173. Die Funktion einer solchen „Mentalität der Aufrechnung“174 bestand in der Ausblendung individueller Schuld: „Denn mit dem Insistieren auf der Behauptung, von den Siegermächten in der Stunde der Niederlage kollektiv für schuldig erklärt worden zu sein, gebot man über einen trefflichen Vorwand, sich ungerecht behandelt zu fühlen – und die Frage nach der persönlichen Schuld beiseite zu schieben.“175 Das Ausmaß des individuellen Schuldgefühls ebenso wie der tatsächlichen Schuld konnte durch dieses Verhalten jedoch nicht verdeckt werden, sondern wurde im Gegenteil noch deutlicher sichtbar. So vermutet etwa Norbert Frei in dieser Abwehrhaltung wie auch im gesamten vergangenheitspolitischen Diskurs176 des frühen Nachkriegsdeutschlands, der sich in erster Linie als Verdrängung charakterisieren läßt,177 ein „indirektes Eingeständnis der gesamtgesellschaftlichen Verstrickung in den Nationalsozialismus“ – oder „anders gesagt: eine unbewußte Anerkennung der Kollektivschuldthese“178. In den USA hatte es – so die Darstellung Raimund Lammersdorfs – „schon seit 1933 zahlreiche sehr aufmerksame Beobachtungen und Analysen zur DeutschlandProblematik gegeben, die sich nach der Niederlage, als es zur Umsetzung von Veränderungsplänen kommen sollte, auch mit der Schuldfrage beschäftigten“.179 Die Skepsis gegenüber den Deutschen war auf amerikanischer Seite groß: „Es ergab sich ein paradoxes und widersprüchliches, oft kafkaeskes, an nationale Schizophrenie grenzendes Bild von völlig unschuldigen Deutschen. Mit Erstaunen und Abscheu entstand, „daß die Amerikaner um Sympathien bei den Deutschen zu werben haben und nicht umgekehrt“. Adorno, Schuld und Abwehr, S. 247. 173 Schildt, Umgang, S. 30. 174 Schildt, Umgang, S. 30. 175 Frei, Erfindungskraft, S. 168. Friedmann und Später beschreiben diesen auch von anderen Historikern thematisierten Zusammenhang als „Obstruktionswirkung des Schuldtopos“: „Eigene Schuld und Verstrickung konnten mit der Zurückweisung eines Vorwurfs, der als unerträglich empfunden wurde, verborgen werden.“ Friedmann/Später, Kollektivschuld-Debatte, S. 53 f. Hier auch weitere Literaturhinweise. – Eng damit verknüpft ist überdies die Haltung, das Schuldgefühl als „Geschwätz“ abzutun: „Latent ist gemeint, daß man, weil einen doch niemand von außen zum Schuldgefühl zwingen könne, bereits unschuldig sei.“ Adorno, Schuld und Abwehr, S. 180. 176 Zum Begriff der Vergangenheitspolitik vgl. Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, 2. Aufl., München 2003. 177 Vgl. dazu den „Klassiker“: Mitscherlich, Alexander und Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1968. Als prominenten Vertreter, der der Verdrängungsthese widerspricht, siehe z. B. Lübbe, Hermann: Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein, in: HZ 236, 1983, S. 579 – 599. Für einen Überblick zur Thematik vgl. Berghoff, Hartmut: Zwischen Verdrängung und Aufarbeitung. Die bundesdeutsche Gesellschaft und ihre nationalsozialistische Vergangenheit in den Fünfziger Jahren, in: GWU 49, 1998, S. 96 – 114. 178 Frei, Erfindungskraft, S. 169. 179 Lammersdorf, Verantwortung, S. 244.
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wurde die Uneinsichtigkeit und vor allem das gegenwärtige Selbstmitleid als deutsche Grundstimmung beobachtet. Die Deutschen schienen unfähig zu akzeptieren, daß ihre Situation nicht aus dem verlorenen Krieg entstanden war, sondern aus ihrem eigenen unverantwortlichen und verbrecherischen Handeln.“180
Daraus resultierte das Bedürfnis vieler Deutscher, das beschädigte Ansehen Deutschlands im Ausland wiederherzustellen – allerdings weniger aufgrund der nun gewonnenen Einsicht in die eigene Schuldigkeit, sondern ausgehend von dem Selbstverständnis, der Welt „müsse jetzt vor allem bewiesen werden, daß die Deutschen nicht schuldig, sondern nach wie vor ein anständiges und ehrenwertes Volk seien“181. Vor dem Hintergrund der hier nur skizzenhaften Darstellung der Schuldfrage sind auch Brechts Analysen und Reflexionen zum Umgang mit der NS-Vergangenheit zu sehen. In den folgenden zwei Kapiteln soll der Frage nachgegangen werden, wie sich Brecht gegenüber der Schuldfrage positioniert. Dazu wird zunächst mit seiner Studie „Vorspiel zum Schweigen“ eine Monographie herausgegriffen, die in der amerikanischen Erstauflage bereits vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1944 erschienen ist, allerdings noch vier Jahre später unverändert ins Deutsche übersetzt wurde. Im sich daran anschließenden Kapitel wird Brechts 1951 erschienene Studie „Das deutsche Beamtentum von heute“ unter der Fragestellung untersucht, welche Positionen hinsichtlich des Umgangs mit der Schuldfrage hier sichtbar werden. Der politische Hintergrund der dort unterbreiteten Vorschläge zu einer Reform des öffentlichen Dienstes spielt für dieses Kapitel also keine Rolle.182 Neben den beiden Monographien werden außerdem ergänzend weitere Korrespondenzen von Brecht und Ausschnitte aus seiner Autobiographie in den Blick genommen.
a) „Vorspiel zum Schweigen“ (1948; amerik. 1944) Über die deutsche Ausgabe der Studie „Vorspiel zum Schweigen“ schreibt Gustav Radbruch an Arnold Brecht: „Ich habe es inzwischen zweimal gelesen und bin überzeugt, dass es – wäre es nicht in Wien erschienen – viel gelesen werden und heilsam wirken würde. Es ist sehr wirksam, wie Sie ohne die übliche Beschuldigung einzelner die Verhältnisse und Zufälle schildern, welche dieses Unheil ermöglicht haben.“183
Ähnlich positiv äußert sich Robert Ulich nach Erhalt der amerikanischen Originalausgabe: 180 181 182 183
Lammersdorf, Verantwortung, S. 251 f. Lammersdorf, Verantwortung, S. 252. Siehe dazu aber eingehend Unger, Beamtenrecht. Gustav Radbruch an Arnold Brecht, Heidelberg, 5. 9. 1949, BAK, NLB, N 1089/24.
2. Brecht und die Schuldfrage nach 1945
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„Ich habe das Buch schon ein wenig ueberflogen und kann Ihnen schon soviel sagen, dass ich nach all dem Quatsch, der von Emigranten und Angehoerigen der feindlichen Nationen ueber Deutschland fabriziert worden ist, Ihr Buch geradezu als eine Wohltat empfinde. Es weist auf Factoren [sic!] des politischen Lebens hin, die viel realer sind als sich die meisten vorstellen.“184
Um welche „Faktoren des politischen Lebens“ es sich in Brechts Buch handelt, was mithin sein Untersuchungsgegenstand ist und welches Ziel er dabei verfolgt, soll im folgenden erörtert werden. Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe schildert Brecht sein Anliegen so: „Dieses Buch erzählt – und analysiert – noch einmal die Geschichte des Verlustes der persönlichen Freiheit in Deutschland. Genauer gesagt beschreibt es den politischen Kampf gegen die Errichtung einer faschistischen und totalitären Regierung in Deutschland bis zu dem Zeitpunkt – etwa ein halbes Jahr nach Hitlers Machtergreifung –, wo diese Regierungsform institutionell voll verwirklicht war.“185
Die bisherigen Schriften hätten sich zumeist bald „angreifend, bald entschuldigend […] auf einzelne Ereignisse, Parteien oder Personen“ konzentriert; ihm dagegen gehe es um eine „zusammenhängende Darstellung der Grundtatsachen“. Brechts Ziel ist es dabei auch, die Umstände zu beschreiben, „die jeweils den Sinn der Ereignisse für die handelnden Personen bestimmten und die Bedingungen, welche Möglichkeiten ihres Handelns begrenzten“.186 Daran anknüpfend thematisiert er das Verhältnis von Verantwortung, Schuld und Zufall. „Wenn jemals der Zufall eine Rolle in der Geschichte gespielt hat, so war es damals“, konstatiert Brecht. Es sei davon auszugehen, daß Hitler nicht an die Macht gekommen wäre, „wenn auch nur einige von vielen Faktoren anders gelegen hätten“. Er fährt fort: „Nur wenige dieser Faktoren waren in der historischen Entwicklung oder in der Natur des deutschen Volkes begründet. Viele waren rein zufällig.“ Wenn es um die Frage der Schuld geht, sei zu beachten, daß eine Handlung oder Unterlassung „auch das Ergebnis einer irrtümlichen Beurteilung der Lage“ gewesen sein könne; demnach dürfe also nicht in jedem Fall automatisch davon ausgegangen werden, daß eine verbrecherische Absicht vorlag.187 Mit einer intendierten Verharmlosung der Geschehnisse hat das für Brechts indes nichts zu tun: „Aber deswegen sollen in diesem Buch die gutgläubig begangenen Irrtümer keineswegs verschwiegen oder verkleinert werden. Im Gegenteil, die Tatsache, daß sie in gutem 184 Robert Ulich an Arnold Brecht, Cambridge, 27. 6. 1944, BAK, NLB, N 1089/39. Ulich, ein Erziehungswissenschaftler aus Dresden, mußte 1934 in die USA emigrieren und war dort bis 1960 an der Harvard Universität tätig. Zu einer ausführlichen Darstellung seiner Biographie von Heather Miller vgl. http://www.harvardsquarelibrary.org/unitarians/ulich.html, aufgerufen am 15. 6. 2011. 185 Brecht, VzS, S. 11. 186 Brecht, VzS, S. 11. 187 Brecht, VzS, S. 12 f. Etwas später fügt er hinzu: „Die unterschiedslose Verurteilung ist der Behandlung des Schuldproblems nicht dienlich. Auch läßt sie weder der deutschen Republik noch der Demokratie im allgemeinen Gerechtigkeit widerfahren.“ Brecht, VzS, S. 14.
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Glauben begangen wurden, hebt ihre verhängnisvolle Bedeutung erst voll heraus. Wer überall Verrat sieht, geht leicht an den Lehren der Geschichte vorbei. Ihre größten Lehren enthält die Geschichte für Menschen, die mit gutem Willen irren. Wir müssen diese Lehren lernen, wenn wir nicht in gutem Glauben wieder stolpern wollen.“188
Im Vorwort zur vier Jahre später erschienenen deutschen Ausgabe189 konstatiert Brecht, daß die Schuldfrage „oder, besser gesagt, die Frage nach dem Anteil von Schuld, Irrtum, Zufall und Notwendigkeit an den Ereignissen“ noch immer „der endgültigen Analyse“ harre. Der darauf folgende Zusatz ist unmißverständlich als Kritik an den bisher geführten Diskussionen zu verstehen – auch wenn Brecht eine nähere Explikation und Konkretion vermissen läßt: „Hier ist ein bescheidener Beitrag, der jedenfalls das Eine für sich anführen kann, daß er sich von Schlagworten und summarischen Urteilen freihält und Tatsachen sprechen läßt.“ Er erklärt sodann, daß er die amerikanische Originalfassung des Buches mitten im Krieg geschrieben habe, und zwar aufgrund des Umstandes, daß sich zu diesem Zeitpunkt „in den Vereinigten Staaten die Empörung über die Untaten des Nationalsozialismus zu einer Verbitterung gegen das ganze deutsche Volk gesteigert“ habe. Sein Buch habe „eine bessere Grundlage nicht nur zur moralischen Beurteilung des Volkes, sondern auch zur Kritik seiner Einrichtungen legen“ sollen. Da die Frage, wie das NS-Regime an die Macht kommen konnte, auch drei Jahre nach dem Krieg nicht an Relevanz verloren habe, habe er den Entschluß gefaßt, das Buch „nunmehr unverändert in deutscher Sprache so herauszugeben, wie es im Tumult des Krieges in englischer erschienen ist“.190 In seiner Untersuchung konzentriert sich Brecht in erster Linie auf den Zeitraum zwischen 1930 und 1933. Innerhalb dieser Zeitspanne sieht er zahlreiche Versuche seitens der Politik, auf verschiedenen Wegen den Faschismus zu bekämpfen; dem „Kampf gegen den Faschismus“ sind infolgedessen gleich fünf (der insgesamt vierzehn) Kapitel gewidmet. Hierbei richtet er sein Augenmerk allerdings ausschließlich auf die Regierungen und ihre Verwaltung und nicht auf andere politische Organisationen wie etwa das „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“.191 Schon im Vorwort erläutert Brecht, welche Begriffsdefinitionen er seiner Untersuchung zugrunde legt. So stellt er als Charakteristika des Faschismus die folgenden Merkmale heraus: „Der Ausdruck Faschismus soll hier immer das besondere Merkmal einschließen, daß physische Gewalt oder systematische Androhung physischer Gewalt (Terror) zur Unter188
Brecht, VzS, S. 14 f. Brecht hatte das Buch selbst und unter Mitarbeit von seinem Bruders Gustav sowie von Karl Cornides übersetzt. 190 Brecht, VzS, S. 9 f. 191 Darauf macht Max Rheinstein in seiner Rezension aufmerksam: Vgl. Rheinstein, Rezension Prelude to Silence, S. 106. Eine Auflistung aller Rezensionen mit den vollständigen Zitierangaben befindet sich in der Brecht-Bibliographie im Anhang der Arbeit; hier auch die im weiteren Verlauf des Kapitels zitierten Rezensionen (im folgenden abgekürzt mit Rez-PtS). 189
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drückung von Meinungsäußerungen gebraucht wird, die den von der Faschistengruppe vertretenen oder geduldeten Anschauungen zuwiderlaufen. Kennzeichnend für Faschismus ist es, daß Gewalt im einzelnen wie in Massen demonstriert wird und daß die Benutzung des physischen Zwanges nicht bloß als bedauerliche Notmaßnahme entschuldigt, sondern als ein den Methoden der Diskussion und friedlichen Überredung überlegenes Prinzip verherrlicht wird.“192
Vom Kommunismus unterscheide sich der Faschismus „nicht nur durch die Verschiedenheit der Ziele, für welche die Gewalt eingesetzt wird, sondern auch dadurch, daß der Kommunismus, so sehr er in der Praxis sich der physischen Gewalt bedient, doch ihre Anwendung nicht grundsätzlich verherrlicht“193. Die Gemeinsamkeit zwischen Faschismus und Kommunismus liegt nach Brecht in ihrem potentiell totalitären194 Charakter; darin sieht er auch die grundlegende Differenz gegenüber Humanismus, Demokratie und wahrem Christentum (wie auch den „anderen großen Religionen“), die niemals totalitär sein könnten.195 Auf der Grundlage dieser Definitionen widmet Brecht sich den für ihn zentralen Aspekten in der Endphase bis kurz nach dem Zusammenbruch der Weimarer Republik. Dazu zählen unter anderem die Wirtschaftspolitik, die Rolle der Weimarer Reichsverfassung, die Auslegung des Legalitätsprinzips, der Reichstagsbrand, das Ermächtigungsgesetz sowie die Rolle der Richter und Beamten. Hinsichtlich der von Brecht getroffenen Aussagen zur Schuldfrage sind vor allem die folgenden drei Punkte von Belang: Erstens: Der Kampf gegen den Faschismus. – In seiner Einleitung unterteilt Brecht den „Kampf gegen den Nationalsozialismus in Deutschland“ in drei Abschnitte: „Der erste umfaßt die Zeit bis zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler; der zweite die Periode bis zum Verbot aller politischen Parteien mit Ausnahme der NSDAP ein halbes Jahr später; der dritte die darauf folgende Zeit.“196 Die „offizielle Rechtsauslegung“ der dritten Phase habe sich auf die beiden Prämissen gestützt: „erstens, Recht ist, was dem deutschen Volk nützt, und zweitens, der Nationalsozialismus nützt dem deutschen Volke. Daraus folgt dann logisch, daß Recht sei, was dem Nationalsozialismus nütze.“197 Das deutsche Volk habe demgegenüber „in allen drei Abschnitten mehr gekämpft, als im Ausland allgemein anerkannt wird“. Rhe192
Brecht, VzS, S. 21 f. Brecht, VzS, S, 22. 194 Der Totalitarismus ist nach Brechts Definition dadurch gekennzeichnet, daß er „keine Grenze für die Befugnisse, die sich die Regierung zur Durchsetzung der von ihr gesetzten Ziele vorbehält“, erkennt. Brecht, VzS, S. 22. 195 Er führt aus: „,Totalitäre Demokratie‘ ist daher eine contradictio in adjecto. Wenn in einem demokratischen Lande die Mehrheit im Gebrauch ,totaler Mittel‘ zur Erreichung ihrer Zwecke […] auch einmal weit gehen mag, so muß sie doch stets sittliche und institutionelle Grenzen für die Gewaltanwendung anerkennen, oder sie hört auf, demokratisch zu sein.“ Brecht, VzS, S. 23. Vgl. zu diesen und weiteren Begriffsdefinitionen auch Kapitel II.3.b). 196 Brecht, VzS, S. 27. 197 Brecht, VzS, S. 28. 193
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torisch stellt Brecht infolgedessen die Fragen: „Warum wissen wir so wenig über den Kampf für die Freiheit vor der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus? Gab es keinen Kampf für die Freiheit? Gab es keine Menschen, die die Freiheit liebten?“198 Daran anknüpfend kommt Brecht sogleich auf den nächsten Punkt zu sprechen: Zweitens: Die politische Einstellung der Bevölkerung. – Es sei ein verbreiteter Standpunkt, „die demokratische Republik in Deutschland als eine bloße Episode und als eine mit den Charakteranlagen des deutschen Volkes grundsätzlich unvereinbare Anomalie“ anzusehen.199 Unter Rückgriff auf eine Analyse der Wahlergebnisse während dieser Zeit unternimmt Brecht den Versuch, seine Leser vom Gegenteil zu überzeugen. Nach seiner Auswertung der Zahlen200 kommt er zu dem Ergebnis, „daß von der Zeit vor dem ersten Weltkrieg bis zum Ende der demokratischen Periode eine Majorität des deutschen Volkes in offenbarer Gegnerschaft zu faschistischen Doktrinen stand“. Denn wenn man „die Zahlen der Sozialisten, einschließlich der Kommunisten, und des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei“ zusammenzähle, so stellten diese Parteien „jeweils die Mehrheit aller abgegebenen Stimmen“ dar.201 Zugleich konstatiert Brecht allerdings auf seiten der Liberalen ab 1930 einen Zuwachs an Sympathie für die Nationalsozialisten. Es geht ihm also nicht darum, die wachsende Anhängerschaft der Nationalsozialisten in der Endphase der Weimarer Republik und nach der „Machtergreifung“ zu bestreiten, sondern darum, darauf aufmerksam zu machen, daß die These vom „deutschen Nationalcharakter“ durch Fakten zu widerlegen ist. Die Zuwendung zum Nationalsozialismus ist für Brecht nicht das Ergebnis einer langen geistigen Traditionslinie, die gleichsam den Keim totalitärer Ideologien schon immer in sich trug, sondern sie stellt einen Bruch in der Entwicklung der deutschen Geschichte dar. Die Liberalen seien „in der Vergangenheit entschieden antitotalitär eingestellt gewesen“ und hätten „ihren traditionellen Überzeugungen bis zu dem Ende der zwanziger Jahre treu Ausdruck verliehen“. Brecht betont: „Was auch immer die Gründe für ihren Abfall vom Liberalismus waren, dieser Abfall stand im Widerspruch zu einer über hundert Jahre alten liberalen Entwicklung.“202 Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt Brecht auch im Hinblick auf die anderen Parteien aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik – die 198 Brecht, VzS, S. 29 f. Brecht beschränkt sich an dieser Stelle deshalb auf die Zeit vor der „Machtergreifung“ – und damit auf die ersten beiden Phasen –, weil das mangelnde Wissen um den „Kampf für die Freiheit“ in der dritten Phase einen einfachen Grund habe: „Dies erklärt sich […] aus der lückenlosen Kontrolle des persönlichen und öffentlichen Verkehrs und Nachrichtenwesens durch das Regime. […] In Deutschland selbst wurde die Überwachung so streng, daß jede Widerstandsaktion sich auf Einzelpersönlichkeiten oder kleine Gruppen beschränken mußte. Die weitere Öffentlichkeit in Deutschland hörte nicht einmal davon, außer in den wenigen Fällen, wo das Regime die Verbreitung der Nachricht nicht verhindern konnte oder es selbst für angebracht hielt, auf die Tatsachen irgendwie Bezug zu nehmen.“ Ebd. 199 Brecht, VzS, S. 31. 200 Vgl. Brecht, VzS, S. 32 ff. 201 Brecht, VzS, S. 35. 202 Brecht, VzS, S. 37.
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Konservativen und Reaktionären eingeschlossen.203 Im Gesamtergebnis sieht die „politische Struktur des deutschen Volkes“204 demnach so aus: „Angesichts dieser Tatsachen und Zahlen und ihrer kontinuierlichen Entwicklung ist es offenbar abwegig zu sagen, die Deutschen seien immer totalitär gewesen, und das demokratische Regime habe nur zur Verschleierung dieser Grundtatsache gedient. Am Ende der Monarchie und während der republikanischen Periode war die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes in Anschauungen und Grundsätzen entschieden antitotalitär und antifaschistisch. Das blieb so zumindest bis zum Ende der zwanziger Jahre.“205
Drittens: Die Rolle der Beamten und Richter. – Das Kapitel, in dem Brecht sich mit der Rolle der Beamten und Richter in der Anfangsphase des NS-Regimes auseinandersetzt, läßt schon im Titel seine Argumentationsrichtung erkennen: „Irrtum, Schuld oder – Pflicht“206 Daß die Beamten und Richter auch nach dem Zusammenbruch der Weimarer Republik den neuen Machthabern ihre Gefolgschaft gewährten, führt Brecht darauf zurück, daß sich der Machtwechsel „im Gewande der Legalität“ vollzogen habe. Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler sei innerhalb des verfassungsmäßigen Rahmens erfolgt; infolgedessen „schien es für Beamte und Richter keine andere Wahl zu geben als zu gehorchen“. Der Beamte habe in seiner „amtlichen Eigenschaft“ die Pflicht, Gesetzesverordnungen ohne Rücksicht auf „eigene Billigung oder Mißbilligung“ anzuwenden – und dieser Grundsatz habe auch nach dem Ermächtigungsgesetz nicht an Geltung verloren: „Wenn er im Amte blieb“, – und nach Brechts Auffassung hatte der Beamte fast keine andere Wahl, „da er bei freiwilligem Ausscheiden keine Pension beanspruchen konnte“ und dadurch hätte in Kauf nehmen müssen, „eventuell zu verhungern“ – „konnte er bei der Vorbereitung neuer Maßregeln raten und warnen. Er konnte versuchen, die Durchführung so milde wie möglich zu gestalten. Wenn aber einmal eine Verordnung auf Grund des Ermächtigungsgesetzes erlassen war, war es seine Berufspflicht, sie durchzuführen, wo dies in seine Zuständigkeit fiel.“207 Tatsächlich sei es jedoch so gewesen, daß „die Durchführung moralisch anfechtbarer Maßregeln“ – Brecht zählt dazu etwa die spätere „Austreibung und Vertilgung der Juden“ – „nur selten zur Zuständigkeit des Berufsbeamten“ gehört habe.208 Dasselbe gelte für die Richter, die es für ihre berufliche Pflicht gehalten hätten, Verordnungen selbst dann anzuwenden, „wenn sie einzelne Maßnahmen aufs tiefste mißbilligten“. Die sich daran anschließenden Überlegungen sind nicht nur für den Kontext der Schuldfrage von Belang, sondern sie geben auch einen weiteren Einblick in Brechts Theorie des Rechts. Vor dem Hintergrund dessen, was darüber vor allem im Prozeß vor dem Staatsgerichtshof zu erfahren war, sind die nun hier getroffenen Aussagen 203 204 205 206 207 208
Vgl. dazu Brecht, VzS, S. 37 ff. Brecht, VzS, S. 31. Brecht, VzS, S. 39. Brecht, VzS, S. 144. Brecht, VzS, S. 144 f. Brecht, VzS, S. 145.
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besonders aufschlußreich. Seit dem Prozeß waren rund zwölf Jahre vergangen209 – Hitler war an die Macht gekommen, der Zweite Weltkrieg war ausgebrochen, und Brecht lebte nunmehr schon ein Jahrzehnt in den Vereinigten Staaten. Mit Blick auf diesen tiefen biographischen Einschnitt drängt sich die Frage auf, ob sich Brechts Haltung gegenüber seinen in der Weimarer Republik geäußerten Ansichten verändert hat. Für das zuvor beschriebene Verhalten der Richter bietet Brecht nun also die folgende Erklärung an: „Das war die letzte Konsequenz der unbeschränkten Lehre vom Positivismus, wie sie von den Berufsjuristen aller westlichen Länder schon so lange allgemein angenommen war. Nach dieser Lehre muß der Jurist Verfassung und Gesetz so anwenden, wie sie sind. Er kann vielleicht die Vereinbarkeit eines Gesetzes oder einer Verordnung mit der Verfassung, wo es eine geschriebene Verfassung gibt, nachprüfen; aber es ist keinem Richter erlaubt, seine eigenen Ansichten von Gerechtigkeit und höherem Recht im Widerspruch mit dem geschriebenen Recht anzuwenden, wo dieses mit der Verfassung im Einklang steht.“210
Der Positivismus sei eine „furchtbare Lehre“, die zu dem „Berufsethos“ der deutschen Richter geführt habe, „daß sie den Verordnungen von Hitlers Kabinett […] nicht die eigenen Ansichten, die der mißbilligende Richter von höherem Recht hatte, substituierten“. Brecht zufolge erwächst der Wissenschaft aus diesem Umstand gleichsam eine politische Aufgabe: „Es wäre zu wünschen, daß eine gründlichere Untersuchung, als wie sie im letzten Jahrhundert üblich gewesen ist, Juristen und Wissenschaftler zu einer Revision ihres extremen Positivismus brächte und sie veranlaßte, wieder den Gedanken aufzunehmen, daß es Grundsätze gibt, die so heilig und fundamental sind, daß es die Pflicht jedes Richters ist, sie zu jeder Zeit auch gegen technisch rechtsgültige Weisungen seiner Regierung anzuwenden.“211
Vergleicht man diese Aussagen mit den Feststellungen, die Brecht vor seiner Emigration getroffen hat, zeichnet sich folgendes Bild ab: Das anfangs aufgestellte Postulat einer strikten Trennung zwischen Recht und Politik wird hier insofern relativiert, als mit der Forderung nach rechtlichen Mindestgrundsätzen – wozu Brecht
209 Es wird hier von dem Erscheinungsjahr der amerikanischen Ausgabe ausgegangen. Der an dieser Stelle erörterte zeitliche Entstehungskontext hat jedoch auch für die spätere deutsche Ausgabe Geltung, da sie wie erwähnt eine unveränderte Übersetzung der amerikanischen Version darstellt. 210 Brecht, VzS, S. 146. 211 Brecht, VzS, S. 146. Dies allerdings sei „eine sehr umstrittene Forderung, wenn man sie angesichts der vorherrschenden positivistischen Lehre überhaupt als umstritten bezeichnen kann“. Seine daraus abgeleitete Schlußfolgerung betrifft einen Gegenstand, mit dem er sich an anderer Stelle bereits ausführlich auseinandergesetzt hatte: „Es scheint beinahe, als ob nur übernationale Verfassungen, die für Gerichte und Verwaltungen aller Mitgliedstaaten unmittelbar bindend gemacht werden, uns noch aus den Fängen des unbeschränkten Staatspositivismus retten können.“ Ebd., S. 146 f. Zu den entsprechenden Aufsätzen Brechts aus den Jahren 1942 und 1943, auf die er in einer Fußnote selbst hinweist, siehe Brecht, Limited-Purpose Federations; ders., European Federation; ders., Distribution of Powers.
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etwa die Wahrung der Menschenrechte zählt212 – politische Elemente in die Rechtsauslegung einfließen; und zwar anders als noch im Prozeß vor dem Staatsgerichtshof nicht erst in der Umsetzung, sondern bereits dem theoretischen Anspruch nach. Die Deutlichkeit und Schärfe, mit der Brecht seine Kritik am Positivismus vorträgt, hebt sich darüber hinaus von seinen in der Weimarer Republik vertretenen Positionen ab, denn eine derartige Explikation ist in früheren Äußerungen nicht zu finden.213 Mit dem Problem des Positivismus hatte Brecht sich nach seiner Emigration schon einige Jahre vor seiner Studie „Vorspiel zum Schweigen“ auseinandergesetzt; hier legte er allerdings den Schwerpunkt auf den philosophischen Positivismus, dem er einen anderen Bedeutungsgehalt als dem Rechtspositivismus zuweist.214 Seine Erörterungen zum Rechtspositivismus fallen nur knapp aus, doch allem Anschein nach geht er davon aus, daß die Dominanz der rechtspositivistischen Lehre den Zusammenbruch der Weimarer Demokratie begünstigt habe.215 Das, was in Brechts Wortbeiträgen im Gerichtsprozeß immer wieder mehr oder weniger ungewollt durchbrach, wird hier nun explizit: die Normativierung des Rechtsbegriffs, der nicht länger „inhaltsleer“ ist, sondern auf dem Grundsatz beruht, daß der Schutz der Menschenrechte und der Demokratie unantastbar ist.216 Trotz dieser Anklage bleibt Brecht zugleich bei seiner Verteidigung der Richter. Die ordentlichen Gerichte in Deutschland hätten ebenso wie die Verwaltungsbeamten „mit den faschistischen Methoden nur wenig zu tun“ gehabt. Er verweist dabei
212
Vgl. z. B. Brecht, European Federation (1942). Siehe auch Brecht, PT, S. 192. Das kann allerdings auch damit zusammenhängen, daß Brecht zu dieser Zeit noch nicht hauptberuflich als Wissenschaftler tätig war und infolgedessen keinen äußeren Anlaß hatte, Texte zu publizieren, die sich mit rechtsphilosophischen Themen beschäftigen. Es lassen sich daher für den Weimarer Zeitraum nur auf der Grundlage des Stenogrammberichts Anhaltspunkte für seine rechtstheoretischen Positionen gewinnen. 214 Vgl. Brecht, The Rise of Relativism (1939) sowie Relative and Absolute Justice (1939). In seiner „Politischen Theorie“ griff er diese Überlegungen nochmals auf; vgl. Brecht, PT, S. 206 ff. 215 Dies legt auch Brechts spätere Feststellung nahe, daß Kelsen, den er für seinen radikalen Rechtspositivismus kritisiert, schließlich selbst „ein Opfer des Hitlerschen Positivismus“ geworden sei. Brecht, PT, S. 286. 216 Aus der Perspektive der Wissenschaft muß das nach Brecht trotzdem nicht bedeuten, in die Begründungszusammenhänge der Naturrechtslehre zurückzufallen. In seiner Autobiographie erläutert er: „Ich halte es zwar für einen Irrweg, wenn man es daraufhin im Anschluß an die alte Naturrechtslehre heute wieder versucht hat, die ewige Gültigkeit gewisser moralischer Grundsätze aus der ,Natur‘ heraus ,wissenschaftlich zu beweisen‘. Das könnte man, ohne in Zirkelschlüsse zu geraten, erfolgreich nur tun, wenn man den göttlichen Ursprung der Natur wissenschaftlich bewiese. Aber es ist durchaus unnötig, einen solchen wissenschaftlichen Beweis aus der Natur abzuleiten, um gewissen Regierungsanordnungen juristische Gültigkeit, rechtliche Verbindlichkeit abzusprechen. Welche Regierungen als legitim und welche ihrer Anordnungen als juristisch gültig, rechtlich verbindlich angesehen werden und welche nicht, ist eine menschliche Willensentscheidung.“ Brecht, Kraft, S. 314. In seiner „Politischen Theorie“ hatte Brecht diesen Gedankengang bereits ausführlich expliziert. Vgl. dazu Kapitel II.3.a). 213
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auf die „Februar-Verordnung“217, infolge derer alle polizeilichen Maßnahmen der Kontrolle der ordentlichen Gerichte entzogen gewesen seien, sowie auf die Schaffung des Volksgerichtshofs, der ihnen weitere Befugnisse entzogen habe.218 „Innerhalb der ihnen verbliebenen engen Grenzen“, so Brecht weiter, „haben sich die Richter in Deutschland mutiger benommen, als das allgemein bekannt geworden ist.“ Er erklärt: „Sie haben den Nazistaatsanwälten oftmals durch Freispruch von Angeklagten oder durch Verhängung der gesetzlichen Mindeststrafen getrotzt. Sie haben die Anerkennung unschlüssigen Beweismaterials abgelehnt, strafbare Äußerungen in harmloser Weise ausgelegt oder sonst Mittel und Wege gefunden, die rechtlichen Folgen zu mildern.“219
Als Beleg für diese bemerkenswerten Thesen führt Brecht Hitlers Reichstagsrede vom 26. April 1942 an, in der Hitler erklärt hatte, daß er ,das gesetzliche Recht‘ habe, „,Richter, die ersichtlich das Gebot der Stunde nicht erkennen‘, ,ohne Rücksicht auf sogenannte wohlerworbene Rechte und ohne Einleitung vorgeschriebener Verfahren aus dem Amte zu entfernen‘“220. Brecht wertet das als Zeichen für den „Mut“, den viele Richter bewiesen hätten, indem sie für die Unabhängigkeit der Justiz eingetreten seien. Er hebt außerdem hervor, wie beachtlich es sei, daß es zu dieser Maßnahme Hitlers erst im Jahr 1942 kam;221 weniger deutlich bringt er dagegen zur Sprache, daß die Justiz im Anschluß daran vollends „vor SS und Polizei“ kapitulierte.222 Mit Blick auf die Anfangsphase des NS-Regimes kommt Brecht erneut auf den Stellenwert der Legalität zu sprechen, innerhalb derer sich der Machtwechsel – zumindest dem Anschein nach – vollzogen habe. Der äußerlich legale Rahmen ist für Brecht nicht nur ein Grund, warum ein geschlossener Widerstand auf seiten der Verwaltungsbeamten ausblieb,223 sondern er bietet ihm auch insgesamt eine Erklärung dafür, daß die Folgen der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler anfangs vollkommen unterschätzt worden seien. Auf diese Weise versucht er, das Verhalten der deutschen Bevölkerung in Schutz zu nehmen und verständlich zu machen: 217
Gemeint ist die am 28. Februar 1933 erlassene Reichstagsbrand-Verordnung, mit der – so die Zusammenfassung von Michael Hensle – wesentliche Grundrechte außer Kraft gesetzt wurden. Vgl. Hensle, Michael: Reichstagsbrandverordnung, in: Benz, Wolfgang/Graml, Hermann/Weiß, Hermann (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, 5. Aufl., München 2007, S. 760. Siehe dazu auch Broszat, Martin: Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, 15. Aufl., München 2000, S. 404 f. 218 Vgl. zum Volksgerichtshof Broszat, Staat Hitlers, S. 409 ff sowie Schlüter, Holger: Die Urteilspraxis des nationalsozialistischen Volksgerichtshofs, Berlin 1995. 219 Brecht, VzS, S. 147 f. 220 Zit. nach Broszat, Staat Hitlers, S. 421. 221 Brecht, VzS, S. 148 f. 222 So die Formulierung von Ritter, Ernst: Justiz und innere Verwaltung, in: Benz, Wolfgang/Graml, Hermann/Weiß, Hermann (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, 5. Aufl., München 2007, S. 87 – 101 (100). 223 Vgl. Brecht, VzS, S. 149 f.
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„Wenn man indessen damals nach vorwärts blickte, so war die große Mehrheit des Volkes weit davon entfernt, die wirklichen Wirkungen vorauszusehen. Ernste Befürchtungen bestanden allerdings bei vielen, und einige haben mit ihren finstersten Voraussagen recht behalten. Aber es besteht doch ein großer Unterschied zwischen bloßen Befürchtungen und feststehenden Tatsachen. Befürchtungen können irrig sein.“224
Die Annahme, daß all jene Beamten, die nach Erlaß des Berufsbeamtengesetzes vom April 1933 in ihren Ämtern verblieben waren, Nationalsozialisten gewesen seien, sei darüber hinaus unberechtigt: „In der großen Mehrheit waren sie es sicherlich nicht, besonders nicht in der ersten Zeit.“ Sie hätten in ihrer Stellung bleiben können, „weil ihre Funktionen politisch neutral waren“. Für den Nationalsozialismus seien sie keine Gefahr gewesen, „da die technische Legalität des neuen Regimes sie als Verwaltungsbeamte auf nichtpolitischen Posten hinreichend verläßlich machte. Eher hätte ihre Entlassung eine Gefahr für das Regime bedeutet.“225 Brechts Bemühungen, Kritik an der Beamtenschaft abzuwehren, gehen am Ende so weit, daß er eine Charakteristik entwickelt, die „den“ deutschen Beamten nach seiner Auffassung auszeichnet. Hier ist zu erfahren, daß „die überwältigende Mehrheit der Beamten“ es begrüßt haben würde, „wenn sittliche Grundsätze in Übereinstimmung mit den Traditionen des Christentums und der Humanität in der deutschen Politik wieder hergestellt worden wären“. Diese Einstellung sei „besonders vorherrschend“ gewesen „hinsichtlich der Methoden, die bei der Judenverfolgung, den Konzentrationslagern und ungewöhnlichen Formen des Strafvollzuges angewandt wurden“. Die richterliche Unabhängigkeit sei „das gemeinsame Ideal“ fast aller Beamten gewesen, und sie hätten sich überdies „immer die Wiederherstellung eines sogenannten Rechtsstaates gewünscht“. Die nationalsozialistische Doktrin sei bei ihnen auf Ablehnung gestoßen: „Man kann ferner mit Sicherheit sagen, daß die älteren (vor 1933 ernannten) Beamten und Richter Gegner des Grundsatzes waren und blieben, daß jede Handlung für recht anzusehen sei, wenn sie dem deutschen Volke nütze. Sie lehnten diese nationalsozialistische Maxime entweder ab oder stimmten ihr nur in der Auslegung zu, daß eine Verletzung ethischer Grundsätze niemals gut für das deutsche Volk sein kann.“
Dasselbe stellt Brecht sodann auch für die jüngeren, also nach 1933 ernannten Beamten fest, und schließt seine Betrachtungen mit dem mahnenden Satz: „Nur jemand, der die deutschen Beamten gut kennt, kann den inneren Leidensweg ermessen, den viele von ihnen seit Hitlers Machtergreifung gegangen sind.“226 Auswertung und Vergleich mit Brechts Autobiographie Bei einer ersten Auswertung der von Brecht getroffenen Aussagen fällt zunächst in rein sprachlicher Hinsicht auf, daß er die Begriffe Nationalsozialismus und Faschismus synonym verwendet. Trotz gegenteiliger Ankündigung zeigt sich hier also 224 225 226
Brecht, VzS, S. 109. Brecht, VzS, S. 151. Brecht, VzS, S. 153 f.
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
eine gewisse begriffliche Unschärfe.227 Sodann wird ersichtlich, daß das Buch dem Zweck dienen soll, das Ansehen der deutschen Bevölkerung und insbesondere des höheren Beamtentums zu rehabilitieren. Das schlägt sich bereits in der Wortwahl der Kapitelüberschriften nieder, in denen zum Beispiel wie erwähnt von einem „Kampf“ gegen den Faschismus die Rede ist. Das, was Brecht unter diesen Begriff subsumiert, stellt jedoch nicht einen im eigentlichen Sinne aktiven Kampf dar, sondern es beschreibt lediglich einzelne von den demokratischen Regierungen getroffene politische Maßnahmen, die der Stabilisierung der Demokratie dienen sollten und damit auch einen Widerpart gegen die Nationalsozialisten darstellten. Bei Brecht klingt es dagegen so, als sei – vor allem in den letzten drei Jahren der Republik – alles darauf ausgerichtet gewesen, die Nationalsozialisten zu bekämpfen, während die Erfolglosigkeit dieses Kampfes das Ergebnis wachsender Ohnmacht – aber eben nicht: eines schuldhaften Verhaltens – gewesen sei. In bezug auf die Rolle der Beamten und Richter muß kritisch eingewendet werden, daß Brechts Urteil zu euphemistisch ausfällt. Ernst Ritter weist darauf hin, daß der öffentliche Dienst „schon vor 1930 stärker als der Bevölkerungsdurchschnitt in der NSDAP vertreten“ war,228 und auch wenn es im Hinblick auf die Bewertung der Beamtenschaft durch die NS-Machthaber zwei gegenläufige Tendenzen gegeben haben sollte229 und „die innere Geschlossenheit der Beamtenschaft“ auch nach 1933 erhalten blieb, da „im Behördenapparat des Reiches und der Länder noch lange meist mehr auf Fachqualifikation als auf politisches Engagement geachtet“ wurde,230 so entspricht das Bild einer gegenüber dem NS-Regime überwiegend kritisch eingestellten Beamtenschaft bei weitem nicht der Realität. Richard Evans hebt hervor, daß „die Gleichschaltung des Beamtenapparats“ bereits Mitte Februar 1933 eingesetzt hatte, was im Ergebnis bedeutete: 227 Vgl. zum Begriff des Faschismus als Überblick Saage, Richard: Faschismus. Konzeptionen und historische Kontexte. Eine Einführung, Wiesbaden 2007. 228 Er fügt allerdings einschränkend hinzu, daß sich dieser Umstand nur wenig bemerkbar gemacht habe, weil den Beamten „jede ,Betätigung‘ für diese Partei (und die KPD) untersagt war und in Preußen darüber hinaus schon durch die einfache Mitgliedschaft bis 1932 Nachteile drohten“. Ritter, Justiz, S. 89. 229 So die Feststellung von Martin Broszat: Die eine Tendenz, „besonders von Reichsinnenminister Frick, dem NS-Beamtenbund, aber auch von jungen, mit der NS-Bewegung sympathisierenden Kräften der Staatsverwaltung vertreten, ging von einer grundsätzlich positiven Einschätzung des Berufsbeamtentums aus und suchte die schon in der Zeit des Präsidialsystems herausgebildete Tendenz zum autoritären Beamtenstaat aufzunehmen und, in Verbindung mit dem nationalsozialistischen Führerprinzip, in Richtung auf eine elitäre Führungsrolle des Beamtentums im nationalsozialistischen Staat fortzuentwickeln“. Die andere Tendenz sei „von grundsätzlichem Mißtrauen gegen das Beamtentum“ ausgegangen und „bei der Mehrzahl der ,Alten Kämpfer‘ und Funktionäre der NSDAP“ vorherrschend gewesen: „In den besonderen Rechten des Berufsbeamtentums, seinem traditionell starken Zusammenhalt, der Homogenität des Beamtentums auf Grund ähnlicher Ausbildung und Herkunft, in dem vielfach üblichen Kooptionsverfahren bei der Besetzung der Beamtenstellen des höheren Dienstes sowie in der überwiegend konservativen Grundeinstellung der Beamten sah man eher einen dem nationalsozialistischen Führungsanspruch entgegenstehenden ,Staat im Staat‘.“ Broszat, Staat Hitlers, S. 301 f. 230 So Ritter, Justiz, S. 89.
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„Beamte wurden vor die Wahl gestellt, ihre Ämter aufzugeben oder in die Partei einzutreten. Wer beides ablehnte, dem drohte Gewalt und Haft.“231 Mit dem Erlaß des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zwei Monate später wurde diese Tendenz noch verstärkt, da das NS-Regime bekanntlich nun die Möglichkeit hatte, „jeden Beamten zu entlassen oder in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen, der sich politisch zu einer anderen Partei bekannte als der NSDAP“. Die Folgen sind für Evans klar ersichtlich: „Aus Angst vor dieser Bedrohung ihrer Existenzgrundlage taten viele Beamte alles, um ihre Loyalität gegenüber dem neuen Regime unter Beweis zu stellen.“232 In Brechts hartnäckigem Bemühen, ein positives Bild von den Beamten und Richtern zu zeichnen und sie vor dem Vorwurf der Systemkonformität in Schutz zu nehmen, spiegelt sich eine starke Entlastungssehnsucht wider. Dabei geht es nicht um die Abwehr eigener Schuld – denn Brecht selbst war ja gar nicht schuldig geworden –, sondern wohl eher um das Ansehen seines Berufsstandes wie auch Deutschlands überhaupt. Genauso deutlich finden sich in seinen Ausführungen jedoch auch Worte der Anklage. Die Tragik seines eigenen Schicksals spiegelt sich bereits im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe seiner Monographie „Vorspiel zum Schweigen“ wider. Hier ist am Ende seiner Erläuterungen zu erfahren, daß er das Buch seiner Schwester Gertrud und ihrem jüdischen Mann Ossip Schnirlin widmet; beide hatten sich im Juli 1939 aufgrund der wachsenden Repressalien durch die Nationalsozialisten das Leben genommen.233 Das Buch steht damit unter einem besonderen Vorzeichen, das die Geschehnisse nicht auszublenden versucht, sondern im Gegenteil deren Deutung
231
Evans, Richard J.: Das Dritte Reich. Band I: Aufstieg, München 2004, S. 499. Evans, Das Dritte Reich (I), S. 500. 233 Brecht war zu diesem Zeitpunkt gerade auf dem Weg nach Deutschland und hatte für seine Schwester und ihren Mann ein Affidavit besorgt. Im Vorwort erzählt er: „Bis zum Ausgang des Jahres 1938 hatten beide mit großem Mut und mit fast übermenschlicher Geduld ausgehalten, indem sie sich ganz auf die ,wirklichen‘ Werte konzentrierten – die Werte der menschlichen Seele, die sie in der Musik und Dichtkunst fanden, aber auch in den Beweisen treuer Freundschaft, die sie bis zu ihrem letzten Lebenstage empfingen. Im Frühjahr 1939 hatten die Nerven des Mannes unter der ständigen geistigen Folter zu versagen begonnen. Er wollte lieber sterben als abwarten, was noch kommen würde. Als sie sah, daß sie ihn nicht länger halten konnte, ging sie mit ihm, um ihm den Weg zu erleichtern. Wir waren zu ihnen geeilt, um mit ihnen zu planen. Wir kamen einen Tag zu spät.“ Brecht, VzS, S. 25. In vielen seiner Briefe berichtet Brecht von der anhaltenden Trauer, die er darüber empfunden habe. In einem Beileidsschreiben an Kurt von Fritz, dessen Schwester ebenfalls verstorben war, schreibt Brecht: „Wir haben etwas aehnliches durchlitten, als wir 1939 nach Deutschland kamen und einen Tag zu spaet nach Berlin kamen, um meine Lieblingsschwester zu sehen, die sich am Tag vorher mit ihrem Manne das Leben nahm. Ich habe diese Verkettung nie ueberwunden, und als erwachsener Mann Baeche und Stroeme von Traenen geweint.“ Arnold Brecht an Kurt von Fritz, Heidelberg, 7. 7. 1954, BAK, NLB, N 1089/19. Else Breuning berichtet er einige Jahre später: „Gertruds Tod und seine besondere Tragik waren der schwerste, nie zu überwindende Schatten auf meinem Leben. Aber ich habe mich niemals abseits in mich selbst zurückgezogen.“ Arnold Brecht an Else Breuning, New York, 18. 3. 1960, BAK, NLB, N 1089/16. Siehe dazu auch Brecht, Kraft, S. 345 ff. 232
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als „Zivilisationsbruch“234 noch hervorhebt. Gleichwohl ist der Massenmord an den Juden nicht das Thema, dem Brecht in seinem Werk einen zentralen Stellenwert einräumt. Tatsächlich kann diese Aussage für sein gesamtes Werk getroffen werden, denn dies gilt auch für seine späteren Publikationen.235 Hinsichtlich der Frage, an welchen Stellen im Kontext der Schuldfrage Brecht nicht um Rechtfertigung bemüht ist, sondern deutlich Kritik übt, sind besonders die folgenden Punkte zu nennen: Eine der wichtigsten Ursachen für den Zusammenbruch der Weimarer Demokratie sieht Brecht in Fehlern der Weimarer Reichsverfassung. Als „Ganzes genommen“ sei die Verfassung „vom demokratischen Standpunkt aus ein verehrungswürdiges Dokument“ gewesen. Doch das Zusammenwirken einer Reihe von Faktoren hätte zu „einigen verhängnisvollen Fehlern in der Verfassungsurkunde“ geführt. Neben fehlender Zeit und mangelnder Erfahrung der Verfassungsväter zählt Brecht dazu auch „das Fehlen – nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt – einer wirklich fortgeschrittenen politischen Theorie“.236 Als Schwachpunkte der Verfassung betrachtet Brecht vor allem das Verhältniswahlrecht, die Wahl des
234
Vgl. Diner, Dan (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a. M. 1988, hier das Vorwort von Diner: „Das Ereignis Auschwitz rührt an Schichten zivilisatorischer Gewißheit, die zu den Grundvoraussetzungen zwischenmenschlichen Verhaltens gehören. Die bürokratisch organisierte und industriell durchgeführte Massenvernichtung bedeutet so etwas wie die Widerlegung einer Zivilisation, deren Denken und Handeln einer Rationalität folgt, die ein Mindestmaß antizipatorischen Vertrauens voraussetzt; ein utilitaristisch geprägtes Vertrauen, das eine gleichsam grundlose Massentötung, gar noch in Gestalt rationaler Organisation, schon aus Gründen von Interessenkalkül und Selbsterhaltung der Täter ausschließt. Ein sozial gewachsenes Vertrauen in Leben und Überleben bedingende gesellschaftliche Regelhaftigkeit wurde ins Gegenteil verkehrt: Regelhaft war die Massenvernichtung – Überleben hingegen dem bloßen Zufall geschuldet.“ Ebd., S. 7. 235 Brecht stand damit im historiographischen Trend seiner Zeit. So konstatiert Ulrich Herbert in seiner Analyse der Forschungsentwicklung eine „Marginalisierung des Massenmords, die sich in nahezu allen deutschsprachigen Gesamtdarstellungen des ,Dritten Reichs‘ bis in die späten 80er Jahre findet“. Sie spiegele „zum einen die Konzentration der Forschung wie der öffentlichen Debatte auf die Frage nach den Ursachen für die ,Machtergreifung‘, der gegenüber Krieg und Genozid lange Jahre zurückstanden. Andererseits schlug sich darin aber auch der vergleichsweise geringe Grad von differenzierten Kenntnissen über Entstehung und Ablauf des Massenmords nieder, denn der ,Holocaust‘ hat bis Mitte der 80er Jahre nie zu den Forschungsschwerpunkten der deutschen Zeitgeschichte gehört […].“ Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik. Neue Antworten und Fragen zur Geschichte des „Holocaust“, in: ders. (Hg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939 – 1945. Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt a. M. 1998, S. 9 – 66 (15). 236 Brecht, VzS, S. 77. Aus dieser Argumentation wird ersichtlich, daß Brecht von einem empirischen Theorieverständnis ausgeht. Die politische Theorie hat demnach den Zweck, das politische System zu analysieren und Handlungsmöglichkeiten sowie Risiken aufzuzeigen. In seinen späteren Monographien hält Brecht an diesem Theoriebegriff fest; hier allerdings offenbaren sich etliche Inkonsistenzen und Widersprüche, die mit der ungewollten Vermischung von Normativität und Wertfreiheit zusammenhängen. Vgl. dazu ausführlich Kapitel II.3.a) und b).
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Reichspräsidenten durch Volksabstimmung sowie die zu weitgehenden Machtbefugnisse des Reichspräsidenten.237 Während Brecht es in seiner Studie „Vorspiel zum Schweigen“ bei dieser Analyse von Strukturfehlern im politischen Verfassungssystem beläßt, erweitert er seine Reflexionen über Ursachen, Verantwortung und Schuld in seiner rund zwanzig Jahre später erschienenen Autobiographie um eine Dimension, die bereits in der Kontroverse mit Bracher zum Tragen kam: die Rolle des Wählers.238 Der Frage nach dem Wahlverhalten der deutschen Bevölkerung, die er in dem Kapitel über die „Gedanken zur Verantwortung für Hitlers Ernennung zum deutschen Reichskanzler“ erörtert,239 stellt Brecht eine Interpretation des Schuldbegriffs voran. Der Begriff enthalte „implicite drei Behauptungen“: erstens setze er voraus, daß die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler „damals etwas Verwerfliches oder doch ein Fehler war“, denn andernfalls könne man nicht nach Schuld fragen. Zweitens impliziere die Schuldfrage die Behauptung, „daß derjenige, der zur Ernennung beigetragen hat, die bösen Folgen voraussehen konnte und mußte, wenn auch nicht notwendig alle bösen Folgen, aber doch genug davon, um ihn subjektiv ,schuldig‘ zu erklären“. Und drittens müsse bei der Frage nach Schuld davon ausgegangen werden, „daß ein anderer Ausweg möglich gewesen wäre, der weniger böse Folgen gehabt hätte, und daß der Angeschuldigte das hätte wissen können und müssen“. Diese Feststellungen ergänzt Brecht durch eine weitere begriffliche und inhaltliche Differenzierung, um die er schon in der Kontroverse mit Bracher bemüht war: „Außerdem darf man die Frage, wer an Hitlers Ernennung schuld war, nicht verwechseln mit der anderen, wer nach der Ernennung durch Handeln oder Unterlassen an Hitlers späterer totaler Machtübernahme und an seinen Verbrechen mitschuldig geworden ist.“240
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Vgl. Brecht, VzS, S. 77 ff. Siehe dazu auch ebd., S. 182 ff. In einem Brief an Otto Braun gibt Brecht an, daß er schon in seiner frühen Studie auf diesen Aspekt eingegangen sei. Das „Legalitätsmanöver“ sei nur möglich gewesen „infolge des Versagens der deutschen Wähler gegen diesen Missbrauch technischer Lücken in der Weimarer Verfassung durch die Art ihrer Stimmabgabe klar Stellung zu nehmen“. Dieses Thema habe er in seinem Buch „Vorspiel zum Schweigen“ grundsätzlich erörtert. (Arnold Brecht an Otto Braun, New York, 21. 10. 1949, BAK, NLB, N 1089/9.) Auf den von Brecht zu diesem Zweck angegebenen Seiten findet sich jedoch vorwiegend eine Auseinandersetzung mit den Folgen der Entlassung Brünings. Zwar erwähnt er hier auch die Rolle der Wähler, ist aber in seiner Kritik längst nicht so deutlich wie später in seiner Autobiographie. So erklärt er, daß das wählende Volk nach der Entlassung Brünings die Gelegenheit gehabt habe, „einen Präzedenzfall gegen Hindenburgs Auslegung der Verfassung durch die Art zu schaffen, in der es die Herausforderung in den Wahlen beantwortete“. Weitere Ausführungen folgen darauf aber nicht. Vgl. Brecht, VzS, S. 91. 239 Vgl. Brecht, Kraft, S. 257. Das Kapitel erschien zunächst unter dem gleichnamigen Titel als Vorabdruck in der Festschrift für Heinrich Brüning zu seinem 80. Geburtstag. Vgl. zu den vollständigen Angaben die Brecht-Bibliographie im Anhang der Arbeit. 240 Brecht, Kraft, S. 257. 238
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Die Intention der dargestellten Überlegungen wird schnell erkennbar: Brecht will deutlich machen, daß sich der Schuldbegriff für die Debatte über die Ursachen des Zusammenbruchs der Weimarer Demokratie nicht eignet. Die der Schuldfrage inhärenten Behauptungen führten bei der Suche nach dem „objektiven Kausalzusammenhang“ zu logischen Schwierigkeiten, die einer Aufklärung der Geschehnisse im Wege stünden. Aus diesem Grund schlägt Brecht vor, „nicht nach der ,Schuld‘, sondern nach der ,Verantwortung‘ des einzelnen Beteiligten und der besonderen Art seiner Verantwortung“ zu fragen.241 Dies gilt Brecht zufolge auch für die nun zu erörternde Rolle der Wähler: nicht deren Schuld, sondern ihre Verantwortung steht auf dem Prüfstand; Bezugspunkt sind dabei ausschließlich die Wahlen vor der Machtübernahme Hitlers. Indem Brecht darauf aufmerksam macht, daß in einer Demokratie „die letzte Verantwortung dafür, welche Regierung das Volk bekommt“, auf das Volk selbst zurückgeht, versucht er auch, das von ihm bemängelte Geschichtsbild von der Weimarer Republik anders zu akzentuieren: „Es wird merkwürdigerweise meist vergessen – besonders in der mündlichen Überlieferung der Weimarer Geschichte –, diese Verantwortung der Wähler für das Debakel aufzuzeigen. Man spricht verächtlich von dem Versagen der Weimarer Republik, von ihrer unfähigen Außen- oder Innenpolitik, man kritisiert einzelne Politiker oder besonders gern ,die Sozialdemokraten‘ – von der einen Seite, weil sie zu radikal, von der andern, weil sie nicht radikal genug gewesen seien –; das findet in den bürgerlichen Kreisen immer ein bereitwilliges Echo. Aber man vergißt die Wähler.“242
Zwar räumt Brecht auch ihnen gleichsam das Recht auf Irrtum ein, insoweit für ihn die Möglichkeit besteht, daß „viele Wähler“ in gutem Glauben handelten und die (ungewollten) Folgen ihrer Wahl nicht hatten abschätzen können – von ihrer Verantwortung entbindet sie das nach Brecht gleichwohl nicht: Ob in gutem Glauben, durch Irrtum oder aus böser Absicht – die „verfassungsmäßige Verantwortung“ dafür, welche Mehrheiten sich im Parlament bilden, bleibt bei den Wählern. „Ihr guter Glaube“, so Brecht weiter, „kann höchstens das Maß ihrer moralischen ,Schuld‘ beeinflussen, nicht das ihrer verfassungsmäßigen Verantwortung.“243 Deutlicher wird Brecht in einem Brief an Paul Löbe, in dem er die Wähler beschreibt 241
Brecht, Kraft, S. 258. Brecht, Kraft, S. 261. Auch in einem Brief an Heinrich Brüning beklagt sich Brecht darüber, daß „fast niemand an die Schuld des Volkes denkt, oder der Teile des Volkes, die in absoluter Mehrheit ihre Stimmen den Vertretern des Nationalsozialismus und (in kleinerem Masse) des Kommunismus gaben und dadurch nach den Spielregeln der Demokratie den demokratischen Regierungen die Möglichkeit zum Regieren und zur Rettung nahmen“. Daraufhin wiederholt er seine Kritik an der Geschichtsschreibung über die Weimarer Republik, die bereits in der Kontroverse mit Bracher erkennbar geworden ist: „Unter dieser Verkennung dessen, was eigentlich so offenbar ist, hat die Einschätzung aller Gestalten der Weimarer Zeit und dieser Zeit selbst schwer zu leiden, sogar in der älteren Generation und noch mehr in der jüngeren. Jeder Schwachkopf weiss es besser, wie man es hätte machen sollen, ohne sich die Mühe zu nehmen, die jeweilige Lage und ihre Möglichkeiten genau einzukalkulieren.“ Arnold Brecht an Heinrich Brüning, New York, 22. 11. 1960, BAK, NLB, N 1089/11. 243 Brecht, Kraft, S. 261. 242
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als „die allergrössten Kälber, die ihre Schlächter selbst wählten“.244 Doch auch in seiner Autobiographie finden sich im Vergleich zum „Vorspiel zum Schweigen“ weitaus kritischere Töne, die sich von seiner früheren Studie vor allem dadurch unterscheiden, daß Brecht der Bevölkerung ein größeres Wissen unterstellt: „Wenn jemand nach der Veröffentlichung von Hitlers Mein Kampf, nach den Reden von Goebbels, Streicher, Kube usw. und Hitler selbst, nach ihren fürchterlichen Drohungen gegen bestimmte Bevölkerungskreise noch für die Partei stimmte, so bezeugt das seinen eigenen partiellen dolus oder jedenfalls verantwortungslosen Leichtsinn mehr, als seine guten Absichten ihm als Entschuldigung dienen können. […] wer Hitler wählte, wählte einen Mann, der nicht kontrolliert sein wollte, und seine Wähler wußten das. Daß die Wähler Stresemann, Brüning oder die Sozialdemokraten nicht leiden konnten und sie für die schlechte politische Lage verantwortlich machten, ist keine Entschuldigung dafür, daß sie Hitler, Goebbels, Frick, Streicher, Himmler, Heydrich und Heines wählten. Ebensowenig entschuldigt es sie, daß sie eine Erneuerung Deutschlands ,von Grund auf‘ wünschten. Erneuerung durch wen?“245
Trotz dieser deutlichen Kritik bleibt die Ambivalenz in Brechts Haltung gegenüber der Schuldfrage bestehen. Denn aus individueller Perspektive hält er das „Beschweigen“246 der NS-Vergangenheit durchaus für legitim. Die gängige Ausklammerung der Rolle der Wähler erklärt sich Brecht damit, „daß andernfalls die Kritiker die Verantwortung im eigenen Haus aufdecken müßten“ – denn in fast jeder Familie habe es schon vor 1933 nationalsozialistische Wähler gegeben. Dennoch sei es „menschlich, um des Friedens willen darüber in gesellschaftlichen Gesprächen und Familienunterhaltungen den Mantel des Schweigens zu breiten“. Dagegen habe er nichts einzuwenden, sondern halte sich vielmehr selbst daran. Anders verhalte es sich allerdings mit den Debatten über die Schuldfrage; hier sei das Verschweigen „der primären Verantwortung der Wähler“ nicht angebracht.247 Die Ehre der deutschen Republik: Kontextualisierung und Rezeption In einem Brief an Arnold Brecht bemängelt Otto Braun, daß Brecht in seinem Buch über das Ende der „deutschen Republik“248 „manches Vorgehen der Vernichter der Weimarer Republik“ legalisiere, das er selbst „als staatsstreichlerisch und verbrecherisch beurteile“. So drücke Brecht „den Massnahmen Hitlers zur Durchsetzung des Ermächtigungsgesetzes im Reichstag den Stempel der Legalität auf und damit auch allen jenen Verbrechen, für die dieses Gesetz Ausgangspunkt und 244
Arnold Brecht an Paul Löbe, Klobenstein bei Bozen, 27. 8. 1964, BAK, NLB, N 1089/21. Brecht, Kraft, S. 262. 246 Vgl. Frei, Norbert/Steinbacher, Sybille (Hg.): Beschweigen und Bekennen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und der Holocaust, Göttingen 2001. 247 Brecht, Kraft, S. 261. 248 Brechts Schrift „Vorspiel zum Schweigen“ trägt im Untertitel die von Braun aufgegriffene Formulierung: „Das Ende der deutschen Republik.“ Diese sprachliche Wendung ist für diese Zeit als typisch anzusehen; so weist Sebastian Ullrich darauf hin, daß die im Exil publizierten Darstellungen lange Zeit nicht den Namen „Weimarer Republik“ gebrauchten, sondern von der „deutschen Republik“ sprachen. Vgl. Ullrich, Weimar-Komplex, S. 84. 245
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Handhabe war“. Braun führt dies darauf zurück, daß Brecht die Ereignisse „vornehmlich formell juristisch“ betrachte und werte, „was instrucktiv [sic!] wertvoll ist, wobei aber die politischen Motive, Triebkräfte und Auswirkungen etwas zu kurz kommen“.249 Brecht bestreitet daraufhin die von Braun erhobenen Vorwürfe und stellt klar, daß nicht er, sondern Hitler den angesprochenen Maßnahmen den „Stempel der Legalität“ aufgedrückt habe. Insgesamt gewann Brecht wohl den Eindruck, daß Braun nicht verstanden hat, für welchen Adressatenkreis sein Buch bestimmt war, denn er erklärt ihm ausführlich: „Es ist mir dabei aber so, als ob Sie das Buch so gelesen hätten, als sei es von mir für Deutsche und zwar entweder vor oder nach dem Kriege geschrieben worden. Es ist aber für Amerikaner geschrieben, und zwar mitten im Kriege (1943), zu einer Zeit, wo die Amerikaner in einen Taumel des moralischen Entsetzens nicht nur über die Nazis, sondern über das gesamte deutsche Volk zu geraten begannen. Alle anderen Fragen der innerdeutschen Auseinandersetzungen mussten da zurückstehen hinter der grundsätzlichen Notwendigkeit einzuschreiten gegen die vollständige Verkennung der Unterschiede zwischen moralischer Verruchtheit und Dummheit, Gemeinheit und Irrtum, grosser Gemeinheit und kleiner politischer ,Gemeinheiten‘, wie sie in [sic!] politischen Leben aller Völker gang und gäbe sind.“
Von diesem Standpunkt aus, so Brecht weiter, sollte sich Brauns „scharfes negatives Urteil“ „eigentlich notwendigerweise“ ändern, denn nicht ihre Ansichten seien verschieden, sondern nur „die Taktik und das positive oder negative Interesse an gewissen Dingen“.250 Es ist somit nicht nur das negative Geschichtsbild von der Weimarer Republik, das Brecht zu korrigieren versucht, sondern auch das schlechte Ansehen der deutschen Bevölkerung überhaupt. In einem Brief an Ernest Spiegelberg spricht Brecht sich gegen die Theorie der Kollektivschuld aus,251 und im Anhang seiner Schrift „Vorspiel zum Schweigen“ finden sich weitere Erörterungen, in denen er die These von einem zutiefst nazistisch geprägten „Nationalcharakter“ des deutschen Volkes zu widerlegen versucht. Als „Trugschlüsse der Geistesgeschichte“ bezeichnet Brecht das Vorgehen, „aus dem geistigen Ursprung des Nationalsozialismus auf die Zusam249
Otto Braun an Arnold Brecht, Ascona, 20. 9. 1949, BAK, NLB, N 1089/9. Arnold Brecht an Otto Braun, New York, 21. 10. 1949, BAK, NLB, N 1089/9. In seiner Antwort, die sich krankheitsbedingt mehrere Monate verzögerte, gibt Braun Brecht zu verstehen, daß er ihn mißverstanden habe, da seine Kritik längst nicht so „scharf“ gemeint sei, wie Brecht sie aufgefaßt habe. Umgekehrt könne er ihn nun besser verstehen: „Ihre neuerliche Mitteilung über den Zeitpunkt der Niederschrift Ihres Buches und der amerikanischen Zweckbestimmung lässt mir manches in anderem Licht erscheinen, wenngleich meine zum Teil abweichende Auffassung dadurch nicht aufgehoben wird.“ Otto Braun an Arnold Brecht, Ascona, 4. 1. 1950, BAK, NLB, N 1089/9. 251 Vgl. Arnold Brecht an Ernest Spiegelberg, New York, 23. 3. 1945, BAK, NLB, N 1089/ 13: „The fundamental point to me seems to be the fatal mistake of public opinion that the moral guilt of criminals and fellow-criminals deserves a punishment of the whole nation to which the criminals and their abettors belong. […] Another basic mistake of public opinion is to take it for granted that all Germans are guilty because they are fighting ,for the Nazis‘.“ 250
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mensetzung des deutschen Volkes“ zu schließen.252 Er wendet sich damit gegen die Behauptung, daß die deutsche Geistesgeschichte schon seit geraumer Zeit den Keim totalitärer Ideologien in sich getragen habe und der spezifische Charakter des deutschen Volkes zwangsläufig zum Nationalsozialismus habe führen müssen.253 Brecht reagiert damit auf Äußerungen, die während des Krieges und in der Nachkriegszeit in Großbritannien und in den USA tatsächlich verbreitet waren. Friedmann und Später fassen die Entwicklungen so zusammen: „Zum einen wurde die vielfach bemühte Unterscheidung zwischen Deutschen und Nationalsozialisten im Laufe des Krieges zunehmend fallengelassen. Zum anderen gerieten die deutsche Geschichte und die politischen und geistigen Traditionen Deutschlands in Verdacht, den Nationalsozialismus ermöglicht zu haben.“254
Diese „antideutsche“ Stoßrichtung in den öffentlichen Debatten war ein Thema, mit dem sich die deutschen Emigranten seit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in besonderer Weise konfrontiert sahen. Dem vorausgegangen war eine Phase, die innerhalb der Exildebatten durch eine vorwiegend negative Beurteilung der Weimarer Republik gekennzeichnet war. Daß „die Verteidiger der Republik zunächst in der Minderheit“ waren, erklärt Sebastian Ullrich mit der unter den Emigranten vorherrschenden „Enttäuschung über das kampflose Ende der Republik“: „Der fehlende Widerstand gegen die Machtübertragung an Hitler hatte einen Schock ausgelöst. Anstatt den Untergang der ersten deutschen Demokratie zu betrauern, zeigten sich viele Emigranten erbittert über das ,Versagen‘ der ,schwächlichen‘ Republik.“255 Eine Wendung trat erst mit der wachsenden „antideutschen“ Stimmung in den Exilländern ein. Laut Ullrich befürchteten nun viele, daß dies „die künftigen Friedensbedingungen negativ beeinflussen würde“. Diese Sorge führte zu einer veränderten Haltung gegenüber Weimar: 252
Brecht, VzS, S. 163. Brecht konstatiert: „Als geistige Vorväter faschistischer und totalitärer Gedanken in Deutschland hat man unter anderem aufgeführt: Luther, weil er Staatsautorität in weltlichen Dingen predigte; Kant, weil er die Pflicht an die Spitze stellte; Fichte, weil er die Nation verherrlichte; Hegel, weil er den Staat idealisierte; Nietzsche, weil er den Rationalismus verachtete; und sogar Goethe, weil er Ordnung und innere Freiheit als Vorbedingung schöpferischer Arbeit über Gleichheit und äußere Unabhängigkeit stellte.“ Er stellt sodann klar: „In einigen von diesen Ideen und Überlieferungen kann man mit vollem Recht eine politische Gefahr erblicken, und man kann auch mit Recht feststellen, daß die Nationalsozialisten sie alle für ihre eigenen Zwecke gebraucht haben. Aber es wäre doch ein schwerer Trugschluß, diese Gedanken deshalb selbst als faschistisch und totalitär zu bezeichnen.“ Brecht, VzS, S. 164 f. 254 Friedmann/Später, Kollektivschuld-Debatte, S. 89. Siehe zu den Debatten in Großbritannien auch Später, Jörg: Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902 – 1945, Göttingen 2003. 255 Ullrich, Weimar-Komplex, S. 49. Er fügt hinzu, daß „viele Emigranten zum Teil ungerecht harte Kritik an der Republik und ihren Repräsentanten“ geübt hätten. Manche unter ihnen hätten „ein Bild der Weimarer Zeit“ gezeichnet, „das dem nationalsozialistischen Zerrbild gar nicht so unähnlich war“: „Anstatt der Verunglimpfung durch die Nationalsozialisten entgegen zu treten, verbanden sie die Republik ebenso wie Hitler mit Begriffen wie ,Versagen‘, ,Schwäche‘ und ,Unfähigkeit‘.“ Ebd., S. 51. 253
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„Eine Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, sahen einige darin, die Öffentlichkeit ihrer Gastländer über die demokratischen Traditionen Weimars aufzuklären. Denn je deutlicher die Existenz eines ,anderen Deutschland‘ herausgestellt wurde, desto unglaubwürdiger musste die These vom grundsätzlich antidemokratischen deutschen Nationalcharakter erscheinen.“256
Brechts Schrift ist ganz klar in diesem Kontext zu verorten. Zu einer Verurteilung der Weimarer Republik ließ sich Brecht allerdings in keiner Phase seiner Exilzeit herab. Die „Ehrenrettung der Weimarer Zeit“257 war ihm vielmehr seit Beginn des Exils ein Anliegen, das durch die geschilderten Entwicklungen noch forciert wurde. Doch wie wurde sein Buch in der akademischen Öffentlichkeit aufgenommen? Ullrich konstatiert im Hinblick auf die nicht nur von Brecht, sondern auch von anderen Emigranten unternommenen Versuche einer „geschichtspolitische[n] Nutzung der Weimarer Republik“ ein geringes Interesse der angloamerikanischen Öffentlichkeit.258 Wenngleich diese Diagnose grundsätzlich plausibel ist, wäre in bezug auf Brecht noch zu diskutieren, ob sich seine Motive tatsächlich in einer geschichtspolitischen Nutzung der Weimarer Republik erschöpfen; Zweifel sind hier insofern angebracht, als Brecht in seinem Urteil über die Weimarer Zeit nie die Fronten gewechselt hat und es ihm nicht in erster Linie darum ging, das Geschichtsbild von der Weimarer Demokratie für aktuelle politische Fragen zu instrumentalisieren. Sein Einsatz für Weimar ist nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, daß er in die Geschehnisse mehr oder minder unmittelbar involviert war – es ging ihm also nicht nur um die Ehre der deutschen Republik, sondern auch um seine eigene Ehre. Unabhängig von der Frage nach den persönlichen Motiven Brechts bleibt noch zu untersuchen, ob das von Ullrich konstatierte Desinteresse auch für Brechts Buch zutrifft. Um das beantworten zu können, soll im folgenden ein Überblick über die in amerikanischen und deutschen Fachzeitschriften veröffentlichten Rezensionen gegeben werden.
256 Ullrich, Weimar-Komplex, S. 62. Nach Einschätzung von Ullrich blieb das Bild der Weimarer Republik unter den Emigranten trotzdem mehrheitlich negativ besetzt. „Positive Äußerungen über Weimar“, so Ullrich weiter, „konnten nur dann auf Zustimmung rechnen, wenn es darum ging, die erste deutsche Demokratie gegen die Attacken von Nationalsozialisten und ,Vansittartisten‘ in Schutz zu nehmen. Dies mag der Grund dafür sein, dass die Berufung auf Weimar stärker wurde, je näher das Kriegsende und mit ihr die Frage nach den Friedensbedingungen rückte.“ Ebd., S. 72. Zum Phänomen des „Vansittartismus“ siehe Später, Vansittart; als Überblick auch Ullrich, Weimar-Komplex, S. 62 ff sowie Radkau, Emigration, S. 204 ff. 257 So Brecht in einem Brief an Paul Löbe; er bezieht sich hier jedoch nicht auf sein Buch „Vorspiel zum Schweigen“, sondern auf seine Autobiographie. Das Projekt der Ehrenrettung schien ihn also rund 20 Jahre nach Erscheinen seiner früheren Weimar-Studie noch immer nicht losgelassen zu haben. Vgl. Arnold Brecht an Paul Löbe, Klobenstein bei Bozen, 27. 8. 1964, BAK, NLB, N 1089/21. 258 Ullrich, Weimar-Komplex, S. 71.
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Totalitarismus und Legalität: Rezensionen im amerikanischen Raum In den amerikanischen Fachzeitschriften fiel das Echo fast ohne Ausnahme sehr positiv aus. „This is a remarkable book, written by a distinguished lawyer with a good instinct for history“, urteilt etwa Veit Valentin in der American Historical Review;259 das Buch sei „a thoughtful and suggestive study“, schreibt William Halperin im Journal of Modern History und fährt fort: „Despite its extreme brevity, it enriches our understanding of some of the crises that marked Germany’s descent into the abyss.“260 Und F.W. Pick fordert in der Zeitschrift International Affairs: „Coming from a great jurist this book ought to be read with much care.“261 Fast alle Rezensenten heben hervor, daß Brecht sich aufgrund seiner Lebensgeschichte besonders gut für das Thema seines Buches eigne, denn er hatte die politischen Geschehnisse der Weimarer Republik ja „aus nächster Nähe“262 miterleben können. Für positiv wurden ferner die folgenden Punkte befunden: William Sollmann, der Brecht noch aus Weimarer Zeiten kannte und ebenfalls 1933 emigrieren mußte,263 betont in der American Political Science Review, daß sich Brechts Studie von den anderen bislang vorgelegten Publikationen zu diesem Thema wohltuend unterscheide. Während durch die bisherigen Abhandlungen eine wachsende Konfusion und Oberflächlichkeit in den Diskussionen über die deutsche Frage eingetreten sei, bewirke Brechts Buch das Gegenteil: „It is probably the first successful attempt at re-telling and re-analyzing the story of the loss of personal freedom in Germany as a problem of constitutional law and fateful mistakes and shortcomings in the German parliamentary and party system.“ Positiv sei außerdem hervorzuheben, daß Brecht nicht zu den Anhängern jener These gehöre, „that the Germans are inclined toward totalitarianism“. Und so lautet auch das Fazit Sollmanns: „Brecht makes a splendid, scholarly contribution to the understanding of German politics.“264 259
Valentin, Rez-PtS, S. 334. Halperin, Rez-PtS, S. 363. 261 Pick, Rez-PtS, S. 414. 262 So lautet der Titel des ersten Bandes seiner Autobiographie; vgl. die Brecht-Bibliographie im Anhang. 263 Wilhelm, später William Sollmann (1881 – 1951) war von 1920 bis 1933 Reichstagsabgeordneter der SPD und unter Stresemann drei Monate lang Reichsinnenminister. Nach seiner Verhaftung und Mißhandlung durch die Nationalsozialisten floh Sollmann 1933 zunächst nach Saarbrücken, zwei Jahre später nach Luxemburg und weitere zwei Jahre später schließlich in die USA. Hier wurde er Dozent für politische Wissenschaft und internationale Politik am Quaker College in Pendle Hill. Angaben entnommen aus: ARW, Biographien. – In seiner Autobiographie schreibt Brecht über Sollmann: „Sollmann […] war einer der prächtigsten Menschen, die ich kennengelernt habe, mannhaft, mutig und direkt. Er fühlte sich beglückt, in einem um Erneuerung ringenden Deutschland Zeitgenosse vieler bedeutender Menschen zu sein, auch anderer Parteien und Klassen.“ Niemand habe den amerikanischen Soldaten besser zeigen können als er, „daß nicht alle Deutschen Nazis seien“. Brecht, Nähe, S. 409 f. Brecht gibt hier auch Sollmanns Bericht über die Mißhandlungen wieder, die dieser durch die Nationalsozialisten erfahren mußte. 264 Sollmann, Rez-PtS, S. 1006 f. 260
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Sollmanns Urteil ist aus der Perspektive seiner Emigrationsgeschichte besonders aufschlußreich, denn hier scheint sich Ullrichs Analyse zu bestätigen, daß in der Frage der Abgrenzung von antideutschen Stimmungen und der These eines deutschen Nationalcharakters weitestgehend ein Konsens unter den Emigranten bestand. Mit der Besprechung von Max Rheinstein liegt eine weitere Rezension vor, die aus der Feder eines Emigranten stammt.265 In der Chicago Law Review stimmt auch Rheinstein Brecht in seiner Feststellung zu, daß die Weimarer Republik zu Unrecht so stark kritisiert worden sei. Er begrüßt dabei die gesamte Stoßrichtung der Argumentation: Ausgangspunkt sollte nicht die Frage sein, warum der „Faschismus“ in Deutschland die Macht gewann,266 sondern warum die Demokratie trotz aller widrigen Umstände wie Inflation und Arbeitslosigkeit so lange am Leben bleiben konnte.267 Es sei verdienstvoll, daß Brecht darauf aufmerksam gemacht habe, wie stark die Opposition gegen Hitler in der Weimarer Republik gewesen sei. Rheinstein, der im übrigen als einziger unter den Rezensenten Brechts Widmung an seine Schwester und ihren jüdischen Mann erwähnt, bekräftigt: „It took its enemies fourteen years to subvert that democratic German Republic, which is so often now vilified as weak, or, even worse, as insincere.“268 Des weiteren lobt er Brecht für seine präzise politische Terminologie269 und für die Klarstellung, daß nicht alle Feinde der Weimarer Republik automatisch Faschisten oder Anhänger totalitärer Ideologien gewesen seien. Ein letztes Verdienst komme Brecht schließlich dadurch zu, daß er die „Mythen“ über die deutsche Verwaltung und Justiz zerstreue.270 Das Bestreben, die „Ehre“ der Weimarer Republik zu retten, ist also auch in dieser Rezension zu erkennen. Das gleiche gilt für Carl Joachim Friedrich, der ebenfalls nach Amerika übergesiedelt war und mit Brecht fachlich und freundschaftlich verbunden war.271 In der Columbia Law Review bilanziert Friedrich: „It is the best documented and most closely reasoned account of how the government of the Weimar Republic collapsed, focusing attention on the strictly governmental and
265 Max Rheinstein (1899 – 1977), habilitierter Jurist aus München und später Berlin, emigrierte mit Hilfe eines Rockefeller-Stipendiums im September 1933 in die USA. An der Chicago Law School hatte er bis zu seiner Emeritierung 1968 die Max Pam-Professur für Rechtsvergleichung inne. Vgl. Lepsius, Oliver: „Rheinstein, Max“, in: NDB 21, 2003, S. 493 – 494. 266 Denn dies habe in den vergangenen Jahren bereits zu den absurdesten Antworten geführt: „that National-Socialism is the creature of the German General Staff or the Junkers, that it is the genuine expression of the true spirit of the Germans, that it constitutes a desperate attempt of dying capitalism to establish a last bulwark against the onslaught of communism, etc., etc.“ Rheinstein, Rez-PtS, S. 106. 267 Das berührt also jenen Ansatzpunkt, den Brecht in der Kontroverse mit Bracher erneut aufgreift; vgl. Kapitel I.3.b)bb). 268 Rheinstein, Rez-PtS, S. 105 f. 269 Rheinstein, Rez-PtS, S. 106. 270 Rheinstein, Rez-PtS, S. 107. 271 Vgl. Brecht, Kraft, S. 379.
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constitutional process involved in that collapse.“272 Für Friedrich hat das Buch auch über den konkreten Bezugsfall der Weimarer Republik hinaus einen genuin politikwissenschaftlichen Wert, und zwar im Bereich „constituional theory and comparative government“.273 Er lobt Brechts Bescheidenheit und Objektivität und betont, daß er sich dadurch von vielen anderen Autoren unterscheide: „In keeping with his emphasis on constitutional and structural aspects, Brecht minimizes the personal factor. […] This tendency makes the author characteristically modest about himself.“ Und schließlich kommt auch Friedrich auf die „deutsche Frage“ zu sprechen, zu deren Klärung Brecht aus seiner Sicht erheblich beigetragen hat: „It will, one hopes, also help as an antidote to the generalizations of self-appointed experts on the question of ,What to do with Germany?‘ They all seem to know just why things happened the way they did. Brecht has the wisdom to be modest in the face of the greatest tragedy of our civilization.“274
Eine weitere Rezension aus der Perspektive eines Emigranten stammt von Ferdinand A. Hermens. In der Review of Politics begrüßt auch er es, daß Brecht zu jenen gehöre, die „instead of looking for guilt and spreading blame as promiscuously as is so easily done in regard to the ,statesmen of a lost cause‘ (and, nowadays, also in regard to their peoples), turn their attention to the impersonal factors involved“275. Brecht habe zu Recht darauf hingewiesen, daß Irrtum, Zufall und guter Glauben eine wichtige Rolle im Verlauf der historischen Entwicklung gespielt hätten. Auch in seiner Auslegung des Positivismus pflichtet Hermens ihm bei: „Dr. Brecht is quite aware, however, of the fact that the attitude of the German courts and the civil service under Hitler constitutes a reductio ad absurdum of legal positivism.“276 Herrschte unter den emigrierten Kollegen im Hinblick auf die als notwendig erachtete Rehabilitierung der Weimarer Demokratie also überwiegend Einigkeit, stellt sich die Frage, wie es sich mit jenen Rezensionen verhält, die nicht von deutschen Emigranten geschrieben worden sind. Anders als vielleicht zu erwarten gewesen wäre, zeichnet sich hier ein ganz ähnliches Bild ab: Pick erklärt seine positive Beurteilung des Buches etwa so: „What makes this book interesting is its detached summary of pre-Nazi politics and its careful analysis of the steady growth of the anti-totalitarian parties up to 1930.“277 Brechts Argumentation, daß die Deutschen nicht „schon immer“ totalitär gewesen seien, überzeugt auch Halperin, der darüber hinaus unterstreicht: „The author is at his best in discussing Hitler’s assumption of power and in tracing the establishment of Nazi 272 Friedrich, Rez-PtS, S. 800 f. Friedrich rezensierte im übrigen fast alle Monographien von Brecht; siehe dazu die Auflistung der Rezensionen in der Brecht-Bibliographie im Anhang der Arbeit. 273 Friedrich, Rez-PtS, S. 802. 274 Friedrich, Rez-PtS, S. 801 f. 275 Hermens, Rez-PtS, S. 111. 276 Hermens, Rez-PtS, S. 112. 277 Pick, Rez-PtS, S. 414.
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totalitarianism.“278 Ähnlich wie Friedrich hebt Veit Valentin die Sachlichkeit, Objektivität und Fairneß Brechts hervor.279 Eine weitere Erklärungsmöglichkeit für die positive Resonanz des Buches liefert Valentin mit dem Hinweis, daß Brecht einige wichtige Quellen übersetzt hat, die selbst unter amerikanischen Experten nicht hinreichend bekannt gewesen seien.280 Kritischer fällt demgegenüber das Urteil von George N. Shuster in der Political Science Quarterly aus: „The analysis is of no great value; the explanation is plausible and significant.“ Aus Shusters Sicht befaßt sich Brecht zu wenig mit der Dynamik der antidemokratischen Kräfte, die nach 1918 immer stärkeren Zulauf bekommen hätten. Von besonderem Interesse sei seine Studie jedoch insofern, als er die Ereignisse in ihrem „juridical setting“ betrachte und zur Klärung oft mißverstandener Aspekte in der Geschichtsschreibung der Weimarer Republik beigetragen habe.281 Während John H. Hallowell im Journal of Politics hervorhebt, daß „Arnold Brecht’s sober, factual, and scholarly analysis of the political fight in Germany against fascism should do much to dispel the half-truths and hysterical accusations that war inevitably brings in its wake“282, bemängelt James W. Pollock im American Journal of International Law – wenngleich er das Buch insgesamt positiv bewertet –, daß Brecht zu wenige Erklärungen liefere, warum die Beamten und auch die deutsche Bevölkerung insgesamt einem Mann wie Hitler hatten vertrauen können, obwohl sie es hätten besser wissen müssen.283 In der Cornell Law Quarterly lobt Stanley M. Brown Brechts Buch ebenfalls für seine Objektivität 278
Halperin, Rez-PtS, S. 363 sowie 362. So führt er aus: „His book is a most valuable contribution to the history of our time. It avoids any personal touch, any emotional attitude; it cannot be regarded as a volume of memoirs. But it is full of new colorful details, it combines individual impressions with historical facts, and it is inspired by the careful judgement of a highly conscientious jurist. Just because of its cool reserve and strict fairness the book is strong.“ Valentin, Rez-PtS, S. 334. Auch Halperin schreibt: „Despite his proximity to the event he describes, he writes with admirable fairness.“ Halperin, Rez-PtS, S. 362. 280 Valentin, Rez-PtS, S. 335. 281 Shuster, Rez-PtS, S. 616. 282 Hallowell, Rez-PtS, S. 466 f. 283 Pollock, Rez-PtS, S. 761. Pollocks abschließendes Urteil lautet dennoch: „Whether one agrees with its opinions or not, the book has recaptured so much of the sad story of Germany’s failure to measure up to the requirement of democratic government, that it forms an indispensable part of the record which no serious student can overlook.“ Ebd., S. 762. In einem Brief an Pollock, der auf diese Rezension Bezug nimmt, versucht Brecht zu verdeutlichen, daß seine Sichtweise sehr viel kritischer sei, als Pollock offenbar annehme: „We even seem to be closer in our views than you thought we were. I fully agree, for example, that ,a sufficient body of Germans supported Hitler to make possible his rise to power.‘ My essay was not meant as an apology for the grave mistakes made by the German democrats. On the contrary, I thought that these mistakes would come out more boldly, and I said so expressly on p.XII of the Preface. This was also the meaning of the title – a warning that, if a democracy behaves in this way, even if most of the actors are in good faith, it may only be a prelude to silence. I left the drawing of the critical conclusions to the reader. Perhaps I should have drawn them expressly myself – as I did in Germany during the fight, when I was one of the severest critics.“ Arnold Brecht an James Pollock, New York, 17. 1. 1945, BAK, NLB, N 1089/36. 279
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und für seine gehaltvollen Analyse, die für jeden Studenten von großem Wert seien. Im Hinblick auf die aktuelle Lage im Jahr 1944 jedoch hätten Brechts Darlegungen nur geringen Aussagewert. Als Anknüpfungspunkt für die künftige Konzipierung einer Nachkriegsordnung eignet sich das Buch für Brown demnach nicht.284 Trotz der hier vorgetragenen Kritikpunkte wurde das Buch insgesamt positiv aufgenommen; unter den Buchbesprechungen sticht lediglich eine Rezension in den Annals of the American Academy of Political and Social Science heraus, in der Brecht in vielen Punkten scharf kritisiert wird. Oscar Jászi – ein Politikwissenschaftler aus Budapest, der 1925 in die USA übersiedelte285 – konstatiert bereits im ersten Satz: „This is an original and significant book, though not for the thesis which the author intended to prove.“286 Jaszi ist unter den amerikanischen Rezensenten der einzige, der Brechts These, daß die Mehrheit der deutschen Bevölkerung „never have been fascist or totalitarian“, in Zweifel zieht. Bemerkenswert ist hier bereits die von Jaszi gewählte Formulierung, denn sie unterstellt Brecht eine Absolutheit in seinen Positionen, die er in dieser Weise gar nicht vertritt. Brecht schreibt in seinem Buch nicht, daß die Deutschen niemals Faschisten gewesen seien, sondern er wendet sich gegen die These, daß sie es schon immer gewesen seien. Ungeachtet dessen fährt Jaszi fort: „This can be easily granted, because until the advent of Hitler only a few people realized what the Nazi program meant. However, Brecht forgets to emphasize that very influential reactionary forces had continuously agitated the country without being severely checked by halfhearted social democrats and liberals.“287
Jaszi kritisiert weiter: „It is really out of place – some exceptions granted – to speak, as the author does, of German liberals in the Western sense of term.“288 Auch im Hinblick auf die Grundanlage seiner Arbeit vermag Brecht ihn nicht zu überzeugen, denn seiner Auffassung nach bekräftigen die dort aufgeführten Argumente Brechts These nicht, sondern bewirken eher das Gegenteil. Die Darlegungen von 284 Brown erklärt: „Professor Brecht shows that prior to 1933 the majority of the German people were not Fascists, and not Totalitarians. We have no means of gauging the extent to which that situation has changed under eleven years of Nazi rule, Nazi indoctrination, and Nazi pressure. We can deplore the Fascist methods, but we must face the results of those methods. We cannot blithely assume that the Germans are still of similar political makeup as when the curtain fell in 1933. Nor can we appraise the political situation for post-war reconstruction without considering the extent to which the leaders of the German military, although perhaps not Fascists, are inclined to foster repeated assaults on any peace that descends on the European scene. Fascism and Totalitarianism we fight because they recognize no limitation as to the means they employ. Prussian militarism we fight because it is the means. Peace for Germany must be based on Germany’s being divorced from the will to transgress and also from the means to transgress. Prelude to Silence cannot be used as a Prelude to Peace.“ Brown, Rez-PtS, S. 262 f. 285 Vgl. zu Jaszi Bakisian, Nina: Oscar Jászi in Exile: Danubian Europe Reconsidered, in: Hungarian Studies 9, 1994, S. 151 – 159. 286 Jaszi, Rez-PtS, S. 187. 287 Jaszi, Rez-PtS, S. 187. 288 Jaszi, Rez-PtS, S. 187 f.
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
Brecht zeigten – unfreiwillig –, „how perverted, cowardly, or naïve the anti-Hitler forces were“. Als Beispiel – für ihn „the most incredible one“ – führt Jaszi Brechts Beurteilung des Röhm-Putsches an. Tatsächlich kommt Brecht zu dem aus heutiger Sicht erstaunlichen Urteil, daß Hitler „nach dem Blutbad vom 30. Juni 1934“ „zunächst Hoffnungen erweckt hatte, daß er sich nunmehr endgültig von den extremen und unmoralischen Elementen in seiner Partei befreien wollte“289. Diese in der Tat hoffnungslose Fehleinschätzung290, die auch Ferdinand Hermens kritisiert,291 veranlaßt Jaszi zu der etwas sarkastischen Bemerkung: „Needless to say, with a public opinion of such immaturity the advent of Nazism was morally and logically inevitable.“292 Obgleich Jaszi dem Buch durchaus auch positive Seiten zuerkennt,293 bezieht er in seiner Bilanz eine weitere Überlegung mit ein, die eine ausbleibende Rezeption des Buches geradezu wünschenswert machen würde: So prognostiziert er, daß die Nazis oder „crypto-Nazis“ nach Kriegsende eine Unmenge an „KriegsUnschulds-Literatur“294 produzieren würden, wie es bereits nach 1918 der Fall gewesen sei. Brechts Buch könne sich in diesem Zusammenhang als gefährliches Produkt erweisen: „It is to be feared that the legalistic and well-meaning arguments of the author will be used by ruthless propagandists to whitewash those who are chiefly responsible for the Second World War.“295 Insgesamt läßt sich festhalten, daß Brechts Studie in der amerikanischen akademischen Öffentlichkeit – die Annahme vorausgesetzt, daß die ausgewerteten Fachzeitschriften ein hinreichendes Indiz dafür sind296 – mit Interesse und in vielen Punkten auch mit Zustimmung aufgenommen worden ist. Daß die Motive der Darlegungen Brechts auch in der Abwehr von Schuldzuweisungen zu suchen sind – und zwar auch in jenen Fällen, in denen von einer Unschuldsvermutung sicher nicht ausgegangen werden kann – und es dabei nicht ausbleibt, daß er einige Zusammenhänge wie etwa die Rolle der Beamten beschönigend darstellt, wurde mit Ausnahme von Jaszi offenbar nicht so wahrgenommen. Nicht nur unter den Emigranten wurde vielmehr begrüßt, daß Brecht zum Abbau verbreiteter Vorurteile 289
Brecht, VzS, S. 159. Vgl. zu den Hintergründen des Röhm-Putsches Herbst, Ludolf: Das nationalsozialistische Deutschland 1933 – 1945. Die Entfesselung der Gewalt: Rassismus und Krieg, Frankfurt a. M. 1996, S. 111 ff. 291 Vgl. Hermens, Rez-PtS, S. 112. 292 Jaszi, Rez-PtS, S. 188. 293 So lobt er etwa, daß das Buch klarer als andere Analysen den Charakter und die Arbeitsmethoden der deutschen Verwaltung zeige; auch bekomme man eine Vorstellung von „the moral malaise in which the better type of German intellectuals have lived“. Jaszi, Rez-PtS, S. 188. 294 Bereits im Original hervorgehoben und auf deutsch. 295 Jaszi, Rez-PtS, S. 188. 296 Zwar gibt es unter den Rezensenten auch einige unbekannte Namen, so daß die Relevanz ihres Urteils vielleicht nicht zu hoch veranschlagt werden kann, beachtlich ist aber doch die hohe Anzahl an Besprechungen und auch die Tatsache, daß es sich bei den Publikationsorganen durchweg um renommierte Fachzeitschriften handelt. 290
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gegenüber den Deutschen beigetragen habe. So gesehen konnte Brecht also zufrieden sein, denn die in den Rezensionen sichtbar werdenden Bewertungen und Interpretationen seines Buches entsprachen in vielen Punkten genau jenem Ziel, das er sich mit der Veröffentlichung seiner Studie gesetzt hatte. Als die deutsche Übersetzung vier Jahre später erschien, fiel die Resonanz ungleich geringer aus. Es ließen sich lediglich zwei deutschsprachige Rezensionen ausfindig machen,297 deren Inhalt allerdings um so mehr von Interesse ist: Schuldfrage und wissenschaftliche Objektivität: Rezensionen im deutschsprachigen Raum Als „eine Darstellung der Tragödie des deutschen Rechtspositivismus, wie sie anschaulicher nicht geschildert werden könnte“, interpretiert W.M. Plöchl Brechts Buch in der Österreichischen Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht.298 Wie bereits in der Rezension von Hermens wird auch hier der Rechtspositivismus als ursächlich für den Zusammenbruch der Weimarer Republik erachtet. Man lese das Buch „mit sehr gemischten Gefühlen“, denn es sei ein Beweis dafür, „in welche Atmosphäre der Ohnmacht der Staatsapparat der Weimarer Republik durch den nahezu zum Götzen erhobenen rein formalistischen Begriff einer innerlich hohlen Legalität gegenüber der anstürmenden Sturzflut des Nationalsozialismus gebracht wurde und wie es dann die geschickt demagogische Anwendung dieses positivistischen Legalitätsbegriffs war, die Hitlers Machtergreifung mit dem Mantel einer anscheinenden Rechtmäßigkeit umgab, die ihm die Gefolgschaft und das Funktionieren des Staatsapparates sicherte.“299
Es ist somit vor allem die Schilderung der „Rechtsentwicklung“, die Plöchl überzeugt und aufgrund von deren Plausibilität er Brechts Buch „weiteste Verbreitung“ wünscht.300 Eine positive Begutachtung findet sich auch in der Historischen Zeitschrift. Kurt Borries begrüßt Brechts „vorbildliche Objektivität“ und seine „kluge Beschränkung auf ein allerdings zentral gelegenes Sachgebiet“, das Brecht als „eine Art Erlebnisbericht“ zu schildern vermöge. Man beschließe die Lektüre „mit der teils befreienden, teils beklemmenden Erkenntnis, daß es durchaus nicht so hätte kommen brauchen, wie es gekommen ist“.301 Borries’ uneingeschränkte Unterstützung findet Brechts Bemühen, die These von dem deutschen Nationalcharakter zu widerlegen. Brecht habe mit seinem Buch „eine deutliche und wohlbegründete Absage an alle diejenigen“ vorgelegt, die zum Beispiel „Friedrich den Großen, Bismarck und Hitler 297 Das hängt allerdings vermutlich auch damit zusammen, daß sich zum Erscheinungstermin des Buches viele Fachzeitschriften noch in der (Neu-)Gründungsphase befanden oder sich noch gar nicht gegründet hatten. Die Zahl an möglichen Rezensionsorganen war daher sehr viel niedriger als in den USA. 298 Plöchl, Rez-VzS, S. 611. 299 Plöchl, Rez-VzS, S. 611 f. 300 Plöchl, Rez-VzS, S. 612. 301 Borries, Rez-VzS, S. 398.
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in einem Atemzug nennen“ oder eine anders gelagerte „geistesgeschichtliche Ahnenreihe des Nationalsozialismus aufstellen“.302 Eines solchen Vorgehens bezichtigt Borries „etwa Karl Barth“. Dies ist für die gesamte Stoßrichtung seiner Argumentation sehr aufschlußreich, denn er gibt Barth vollkommen sinnentstellend wieder. In seiner kurzen Abhandlung über „Die Deutschen und wir“, auf die sich Borries vermutlich bezogen hat,303 schreibt Barth das genaue Gegenteil dessen, was Borries ihm in den Mund legt; so konstatiert Barth in bezug auf die Geschehnisse im „Dritten Reich“: „Konsequenter konnte das Werk Friedrichs des Großen und Bismarcks nicht vollendet, und gründlicher konnte es nicht zerstört werden als es durch Adolf Hitler geschehen ist.“304 Zeichnet sich hier bereits ab, daß die Grundtendenz der Darlegungen Borries’ in der Abwehr von Schuld liegt, wird diese Feststellung in seinen weiteren Ausführungen bestätigt. Die Ursachen für den „furchtbaren Umbruch der dreißiger Jahre“ sieht Borries vorrangig in solchen Zusammenhängen, die ein schuldhaftes Verhalten von vornherein ausschließen. Es habe Ursachen gegeben, „die gar nicht ausschließlich in deutscher Macht standen“305, und solche, „die sich als Mißgriffe und Irrtümer einzelner Personen, wie sie überall vorkommen, in Deutschland zu einem wahren Schicksalsknoten schürzten“.306 Brechts Verteidigung der deutschen Beamten wie auch der gesamten deutschen Bevölkerung begrüßt Borries und betont, daß das Volk „so, wie die Dinge sich vor seinen Augen abspielten, die katastrophalen Folgen von Hitlers Ernennung bis zu Verbrechen und Wahnsinn hin“ gar nicht habe voraussehen können. Am Ende resümiert er schließlich, daß Brecht mit den Hauptgedanken seines „vortrefflichen Büchleins“ verdeutlicht habe, „wie schwer es für den Historiker der jüngsten deutschen Vergangenheit ist und immer sein wird, den Anteil von Irrtum und Schuld an den Ereignissen richtig zu bestimmen“. Der Versuch von Brecht zeige, „wie bitter wenig bisher in dieser Hinsicht geleistet worden ist“.307 Neben den beiden Rezensionen gibt es aus dem Jahr 1955 noch eine weitere Abhandlung eines Historikers, in der Brechts Buch Erwähnung findet und die auch die Frage nach dem wissenschaftsgeschichtlichen Kontext jener Zeit zu beantworten hilft: Einen Schlüssel zum Verständnis der geschichtswissenschaftlichen Diskurse jener Zeit, die zugleich Spiegel der gesellschaftspolitischen Realität im West302
Borries, VzS, S. 398 f. Er führt in seinem Text keinen Beleg von Barth an, sondern setzt das Wissen über Barths – vermeintliche! – Thesen offenkundig als bekannt voraus. 304 Barth, Karl: Die Deutschen und wir, 5. Aufl., Zürich 1945, S. 16. Siehe auch Barths weitere Abhandlung, die als Fortsetzung der ersten erschienen ist: Wie können die Deutschen wieder gesund werden? 5. Aufl., Zollikon-Zürich 1945. 305 Borries nennt hier den Versailler Vertrag, die Weltwirtschaftskrise, „die sich mit der Geißel der Arbeitslosigkeit in Deutschland viel schlimmer auswirkte als in den anderen hochentwickelten Industrieländern“, sowie die „Rolle der russischen Politik zwischen den Kriegen“. Borries, Rez-VzS, S. 399. 306 Borries, Rez-VzS, S. 399 f. 307 Borries, Rez-VzS, S. 401. 303
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deutschland der 1950er Jahre sind, liefert Karl Dietrich Erdmann mit dem Satz: „Es ist nicht die Aufgabe des Historikers, anzuklagen und zu verteidigen, sondern zu verstehen.“308 Diesen Grundsatz scheint Brecht aus Erdmanns Sicht offenbar optimal erfüllt zu haben, denn für ihn gehört Brechts Untersuchung „zu dem besten“, „was über die Geschichte der Weimarer Republik geschrieben worden ist“309. Die enge Verzahnung zwischen der Geschichtsschreibung und den gesellschaftlichen Diskursen der Gegenwart zeigt sich in diesem Kontext in besonderer Weise; eine Geschichte der Weimarer Republik zu schreiben, bedeutete immer auch, zu den gesellschaftspolitischen Fragen der Gegenwart Stellung zu nehmen. Die Objektivität und Distanz, die Erdmann vom Historiker fordert, begründet sich aus eben dieser Konstellation: „Es wäre eine Illusion zu glauben, daß sich ein Bild der deutschen Geschichte von 1918 bis 1933 gewinnen ließe, das nicht auf unser eigenes Schicksal heute bezogen wäre.“310 Und so ist es auch kein Zufall, wenn Bernhard Schwertfeger, der nach Auskunft von Gustav Radbruch „sehr günstig“ über Brechts Buch geurteilt habe und dem Radbruch im Hinblick auf die thematische Anlage seiner Darlegungen eine gewisse Nähe zu Brecht unterstellt,311 in seinem eigenen Buch über die Weimarer Republik dem Kapitel über das Deutschlandbild im Ausland das berühmte Ranke-Zitat voranstellt, nach dem die Historie nicht die Vergangenheit richten, sondern bloß zeigen wolle, „wie es eigentlich gewesen“.312 Objektivität, Nüchternheit und Distanz sind aus dieser Perspektive die Leitlinien, an denen sich die Geschichtsschreibung zu orientieren hat. Die Ursache für diese Explikation und Re-Aktualisierung wissenschaftlicher Grundsätze ist – dieser Verdacht drängt sich zumindest auf – in den Diskursen über die Schuldfrage und den Umgang mit der NS-Vergangenheit zu suchen. So ließe sich die Betonung des Objektivitätspostulats, die zumeist mit der ausdrücklichen Kritik an erhobenen Schuldzuweisungen einhergeht, als ein Mittel zur Abwehr von Schuld verstehen. An Plausibilität gewinnt diese Interpretation dann, wenn man einen Blick auf die Biographien der hier zitierten Rezensenten wirft. Kurt Borries trat 1932 dem „Kampfbund für deutsche Kultur“ und der NSDAP bei und konnte seine akademische Karriere im NS-Regime ungebrochen fortsetzen.313 Auch im Hinblick auf Erdmann steht fest – unabhängig davon, was von den Diskussionsbeiträgen über ihn 308 Erdmann, Karl Dietrich: Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft, in: VfZ 3, 1955, S. 1 – 19 (13). 309 Erdmann, Geschichte der Weimarer Republik, S. 12. 310 Erdmann, Geschichte der Weimarer Republik, S. 3. 311 Dies allerdings kann bei näherer Durchsicht der Monographie Schwertfegers „Rätsel um Deutschland“, auf die sich Radbruch hier bezieht, nur in Teilen bestätigt werden. Vgl. Gustav Radbruch an Arnold Brecht, Heidelberg, 5. 9. 1949, BAK, NLB, N 1089/24 sowie Schwertfeger, Bernhard: Rätsel um Deutschland. 1933 bis 1945, Heidelberg 1947. 312 Vgl. Schwertfeger, Rätsel, S. 491. 313 Vgl. Klee, Personenlexikon, S. 66. In dem in der „Historischen Zeitschrift“ erschienenen Nachruf auf Borries wird seine Parteimitgliedschaft und seine opportunistische Haltung gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern nicht erwähnt. Vgl. Naujoks, Eberhard: Kurt Borries, in: HZ 207, 1968, S. 787 – 789.
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im einzelnen zu halten ist –, daß seine Haltung unter dem NS-Regime zumindest umstritten ist.314 Seine Forderung, als Historiker weder anzuklagen noch zu verteidigen, erscheint vor diesem Hintergrund ebenso wie die Darlegungen Borries’ in einem anderen Licht. Die beiden Autoren stehen damit allerdings nicht allein, denn die Ausklammerung des Schuldbegriffs aus der Arbeit des Historikers ist als typisch für den geschichtswissenschaftlichen Trend der 1950er Jahre anzusehen.315 „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet“, schreibt auch Brecht in Anspielung auf das bekannte Zitat aus dem Matthäus-Evangelium in seiner Autobiographie.316 Daß er nichts davon hält, in der Geschichte nach „Sündenböcken“ zu suchen, hatte er bereits in der Kontroverse mit Bracher unter Beweis gestellt. Und auch seine noch früher zurückliegende Studie „Vorspiel zum Schweigen“ ist allem Anschein nach in dem geschilderten geschichtswissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Kontext zu sehen. Gleichwohl erschöpfen sich seine Ausführungen nicht darin, daß er sich von Schuldzuweisungen enthält, denn in vielen Punkten ist auch anklagende Kritik von ihm zu vernehmen. Dies zeigt sich besonders deutlich in seiner Schrift über „Das deutsche Beamtentum von heute“ und in dem zu diesen Fragen geführten Briefwechsel zwischen ihm und Artur Hesse:
b) „Das deutsche Beamtentum von heute“ (1951) Gleich zu Beginn seiner Abhandlung317 übt Brecht ohne Umwege scharfe Kritik an einer Errungenschaft des Beamtentums, die in Weimarer Zeiten noch als unan314 In der einst von Erdmann herausgegebenen Zeitschrift „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht“ wurden die Diskussionen ausgetragen, die im wesentlichen zwischen Eberhard Jäckel und Agnes Blänsdorf auf der einen und Winfried Schulze, Martin Kröger und Roland Thimme auf der anderen Seite verliefen. Interessanterweise macht sich Jäckel, der Erdmann verteidigt, in diesem Zusammenhang dessen Grundsatz zu eigen. So wirft er seinen Kritikern vor, daß sie „nicht wie Historiker vorgegangen“ seien, „die etwas verstehen wollen, sondern wie Ankläger, die auf schuldig präferieren.“ Vgl. Karl Dietrich Erdmann und der Nationalsozialismus, in: GWU 48 (Heft 4), 1997, S. 220 – 240 (mit Beiträgen von Winfried Schulze, Eberhard Jäckel, und Agnes Blänsdorf), hier S. 224. Zum weiteren Diskussionsverlauf: Kröger, Martin/ Thimme, Roland: Karl Dietrich Erdmann im „Dritten Reich“. Eine Antwort auf Eberhard Jäckel und Agnes Blänsdorf, in: GWU 48 (Heft 7/8), 1997, S. 462 – 478; Kröger, Martin/Thimme, Roland: Karl Dietrich Erdmann. Utopien und Realitäten, in: ZfG 46, 1998, S. 602 – 621; Jäckel, Eberhard/Blänsdorf, Agnes: Noch einmal zu Karl Dietrich Erdmann. Eine Erwiderung auf Martin Kröger und Roland Thimme, in: GWU (Heft 12) 48, 1997, S. 744 – 747. Eine Zusammenfassung und Bewertung der früheren und jetzigen Debatte liefert Cornelißen, Christoph: Karl Dietrich Erdmann: Fortsetzung einer Debatte und offene Fragen, in: GWU 61 (Heft 12), 2010, S. 692 – 699. (Auf den folgenden Seiten weitere Beiträge von Hartmut Lehmann, Agnes Blänsdorf und Eberhard Jäckel.) 315 Vgl. dazu Berg, Holocaust, S. 220 ff. 316 Brecht, Kraft, S. 312. 317 Vor dieser in deutscher Sprache erschienenen Schrift hatte Brecht sich bereits in einigen Aufsätzen mit den Problemen des öffentlichen Dienstes auseinandergesetzt. Vgl. dazu etwa
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tastbar galt: den wohlerworbenen Rechten der Beamtenschaft.318 Brecht schreibt dazu: „Diese Garantie war etwas Einzigartiges in modernen demokratischen Verfassungen. Sie war ein schwerwiegender Fehler. Denn sie legte der jungen deutschen Demokratie von Anbeginn an ein grosses Hindernis in den Weg, weil sie jede durchgreifende Reform sowohl der Struktur des Beamtentums wie in der Personalbesetzung einzelner Amtsstellen unmöglich machte. Alle alten Beamten blieben im Amte, wenn sie nur einen formalen Eid auf die neue Verfassung leisteten.“319
Seitdem habe die deutsche Beamtenschaft „eine Wolke des Misstrauens“ umgeben. Der gute Ruf der deutschen Beamten320 sei jedoch erst vollends zerstört worden, „als Hitler sie geschickt für seine eigenen amoralischen Pläne benutzte“.321 In seiner darauf folgenden Verteidigung der Beamten wiederholt Brecht einige der Argumente, die er bereits im „Vorspiel zum Schweigen“ vorgebracht hatte. So rekurriert er auf das Unwissen und Pflichtbewußtsein der Beamten, auf ihre angeblich ablehnende innere Haltung gegenüber dem NS-Regime und ihre gleichzeitige Machtlosigkeit.322 Zugleich weicht Brecht mit seinen Rechtfertigungsbemühungen aber auch immer wieder zurück, etwa wenn er kritisiert: „Wenn auch der einzelne nicht bestochen werden konnte, so hatte sich die Beamtenschaft als Ganze die Korruption ihrer Arbeit durch die Regierungspartei gefallen lassen. Als schliesslich die Hitlerregierung zusammenbrach, war auch die Bewunderung der Welt für das deutsche Beamtentum mit dem Winde verweht.“323
Es könne „vielen der unter Hitler im Amte verbliebenen Beamten der Vorwurf nicht erspart werden, dass sie den Vertretern einer Partei, deren unethische Grundsätze sie kannten und missbilligten, unwürdig und unmannhaft geschmeichelt haben“. Zugleich habe es jedoch auch andere gegeben, die „unter schwierigsten Verhältnissen einen bemerkenswerten Mut an den Tag gelegt“ hätten. Damit kehrt Brecht, Civil Service Abroad (1947) sowie ders., What Is Becoming of the German Civil Service? (1951). 318 In der Weimarer Republik waren sie durch Art. 129 WRV noch verfassungsrechtlich garantiert. Siehe dazu Kapitel I.2.a). 319 Brecht, DB, S. 1. 320 Das deutsche Beamtentum habe lange Zeit „die Achtung, ja die ausgesprochene Bewunderung der Welt besessen. Der deutsche Beamte genoss den Ruf der Unbestechlichkeit, der unermüdlichen anonymen Arbeit für Vaterland und Amt bei bescheidenem Gehalt, und der schnellen Anpassung an die stets wechselnden Anforderungen des industriellen Zeitalters.“ Brecht, DB, S. 1. 321 Brecht, DB, S. 1. 322 Er erklärt zum Beispiel: „Von denen, die unter diesen Umständen im Amte blieben, taten die meisten das ,schweren Herzens‘. Aber sie arbeiteten ebenso unermüdlich und anonym wie zuvor. Sie glaubten, noch für ihr Vaterland zu arbeiten, aber in Wirklichkeit diente ihr Schaffen dem Ruhme der NSDAP und schliesslich dem Zusammenbruch des Vaterlandes und der Zerstörung ihres eigenen Ansehens.“ Brecht, DB, S. 2. 323 Brecht, DB, S. 2.
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Brecht zu dem Grundtenor seiner früheren Arbeit zurück; im Zentrum seiner Aufmerksamkeit steht nun erneut der „Leidensweg“ der deutschen Beamten: „Es ist kein Zweifel, dass die Mehrheit der Beamten unter dem amoralischen Regime und dem Gefühl ihrer eigenen Schwäche schwer gelitten hat. Man muss rückblickend auch verstehen, dass sie einem sehr starken Druck ausgesetzt waren. Offene Auflehnung war mit so grausamen Folgen bedroht, dass man nur von Heiligen aktiven Widerstand im Amte erwarten konnte.“324
Als würden ihm diese Ausführungen selbst zu weit gehen, fügt er einschränkend hinzu, daß all „diese entschuldigenden Überlegungen“ nicht „die tiefen Schatten zu beseitigen“ vermochten, „die das einst so leuchtende Bild des deutschen Beamtentums verdunkelten“. Diese Einsicht allerdings verknüpft Brecht mit einer harschen Kritik an den Entnazifizierungsmaßnahmen: Habe Hitler dem Beamten „das Rückgrat gebrochen, so schlugen ihm die Besatzungsbehörden vollends den Kopf ab“.325 Klingt es hier noch so, als seien die deutschen Beamten nach 1945 aus seiner Sicht zu Unrecht „bestraft“ worden, stellt sich wenig später heraus, daß ihm die Maßnahmen offenbar nicht weit genug gingen. So moniert er: „Es sollte auf der Hand liegen, dass jemand noch nicht allein deshalb politisch geeignet ist, innerhalb einer demokratischen Verwaltung während der Übergangsperiode nach dem Zusammenbruch eines totalitären Regimes eine massgebende Stellung einzunehmen, weil er sich nicht strafbar gemacht hat. […] Sonderbestimmungen über die Entnazifizierung der Beamtenschaft hätten […] festlegen können, dass bestimmte Personengruppen, darunter alle diejenigen, die während der demokratischen Aera vor 1933 der NSDAP beigetreten waren oder irgendwann der SS angehört hatten, ein Amt in der demokratischen Verwaltung nicht oder nur mit besonderer Genehmigung bekleiden dürfen. Aber nichts Derartiges geschah.“326
Gleichwohl sieht Brecht die Ursache für die Bedrohung demokratischer Strukturen nicht vorrangig im Nazismus. Während er nicht bestreitet, daß ein großer Prozentsatz der deutschen Beamten noch immer „in autoritären Begriffen“ denkt, zieht er doch in Zweifel, daß diese autoritären Tendenzen so weit gehen, daß die Beamten „die Aufhebung des Rechtsstaates und der menschlichen Grundrechte wünschen“.327 Der Keim des Übels liegt für Brecht demnach woanders: „Nicht Nazifizierung, sondern Bürokratisierung ist die wirkliche Gefahr für das deutsche Beamtentum, nicht Sympathie für totalitäre Grundsätze, sondern Neigung zu bürokratischer Autorität und zu bürokratischen Privilegien, Mangel an Verständnis nicht so sehr für die Ideale der Freiheit als für die Praxis der Gleichheit.“328 324
Im Anschluß daran hebt Brecht hervor, daß sich trotz dieser schwierigen Umstände unter den Widerständlern vom 20. Juli 1944 eine Reihe von Beamten befunden habe. Brecht, DB, S. 3. 325 Brecht, DB, S. 3. 326 Brecht, DB, S. 6. 327 Brecht, DB, S. 8. 328 Brecht, DB, S. 9.
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Im internationalen Vergleich zeichnet sich das deutsche Beamtentum Brecht zufolge durch eine hohe Anzahl an „strukturellen Eigenheiten“ aus,329 die zu einer grundlegenden Differenz sowohl gegenüber den Vereinigten Staaten als auch gegenüber anderen europäischen Ländern geführt habe. Diese Spezifika betrachtet Brecht jedoch durchaus nicht als einen Vorzug des deutschen Beamtentums, sondern in vielen Punkten eher als dessen schwere Vorbelastung: „Dank dieser Eigentümlichkeiten und seiner autoritären Tradition hat sich das deutsche Beamtentum weniger demokratisch und stärker bürokratisch entwickelt als andere Systeme des öffentlichen Dienstes in westlichen Demokratien – weniger demokratisch in dem Sinne, dass die Kluft zwischen Beamten und anderen Staatsbürgern hier am tiefsten gewesen ist, und stärker bürokratisch deshalb, weil die Struktur des deutschen Beamtentums autoritäre und ,klubmässige‘ Anschauungen gefördert hat.“330
Für „das deutsche Beamtentum von heute“ ebenso wie für die demokratische Gesellschaft erwächst nach Brechts Auffassung aus diesem Kräfteverhältnis die schwierige Aufgabe, den „Widerspruch zwischen seiner autoritären Überlieferung und bürokratischen Struktur auf der einen Seite und den Grundprinzipien einer demokratischen Gesellschaft auf der anderen“ durch wachsende Demokratisierung auszugleichen.331 Insgesamt zeigt der Text einige Ambivalenzen. Während Brecht mit seiner Kritik an den wohlerworbenen Rechten gleichsam ein Heiligtum der Beamten infragestellt, bemüht er sich zugleich, um Verständnis für die Beamtenschaft zu werben und etwaige Schuldzuweisungen abzuwehren. Mit Blick auf seine eigene Lebensgeschichte ist diese Gleichzeitigkeit von Anklage und Abwehr allerdings nicht schwer nachzuvollziehen: Sein Einsatz für die Beamten resultiert aus der Identifikation mit seinem ehemaligen Berufsstand. Er sei „stolz darauf, selbst aus dem deutschen Beamtentum hervorgegangen zu sein“, und sei „mit ihm während seines ganzen Lebens vertraut gewesen und geblieben“, schreibt Brecht im Vorwort seiner Beamtenschrift.332 Nach der NS-Zeit sei der gute Ruf der Beamtenschaft nur noch eine geplatzte Legende gewesen;333 so gesehen nimmt es nicht wunder, wenn Brecht dafür kämpft, das Ansehen der Beamten wiederherzustellen. Seine Vorschläge indes, die er für eine Reform des öffentliches Dienstes nach 1945 unterbreitete, sind nicht Ausdruck einer Verschleierung oder Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit, sondern enthalten im Gegenteil die Forderung nach einem tatsächlichen Neuanfang, der ungebrochene Kontinuitäten vom „Dritten Reich“ in die Bundesrepublik zu verhindern hilft. Seine Kritik und Anklage der Beamtenschaft trägt er damit genau so deutlich vor wie seine Verteidigung. Auch dies läßt sich aus seiner Biographie erklären, denn er war ja selbst ein Opfer des NS-Regimes geworden, weil 329 330 331 332 333
Vgl. Brecht, DB, S. 26 f. Brecht, DB, S. 27. Brecht, DB, S. 73. Brecht, DB, S. II. Brecht, DB, S. 4.
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
er im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen einer der wenigen Beamten war, die aktiv für die Demokratie gekämpft haben. Zu der Frage des deutschen Beamtentums in der NS-Zeit und nach 1945 hat Brecht einen ausführlichen Briefwechsel mit Artur Hesse geführt,334 der einen weiteren Einblick in die hier zur Diskussion stehende Thematik gibt: Der Briefwechsel zwischen Artur Hesse und Arnold Brecht Während es im Laufe der Korrespondenzen zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Hesse und Brecht kommen sollte, waren die ersten Briefe noch in durchaus freundlichem Ton gehalten. In seinem ersten Brief erkundigt sich Hesse mit wohlwollendem Interesse, ob Brecht Unterlagen „über die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der öffentlichen Verwaltung“ vorliegen, da er sich im Zuge der Neuregelung des Beamtentums in Deutschland darüber orientieren wolle.335 Neben seinen daraufhin erfolgenden Empfehlungen geht Brecht auch auf die von Hesse angesprochenen „Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Beamtenbund und den Besatzungsmächten“ ein. Es sei „überaus natürlich, dass alles, was von den Besatzungsmächten zu kommen scheint, auf einen instinktmässigen, patriotischen Widerspruch stösst“. Demgegenüber sei es jedoch nötig, „die gegenseitigen Einrichtungen zu studieren und von ihren Vorzügen zu lernen und Gebrauch zu machen, wo immer sich dazu Anlass bietet“. Am Ende des Briefes fordert er Hesse schließlich auf: „Versuchen Sie ohne Voreingenommenheit für jeden guten, freien Fortschritt einzutreten, und mit allen Fachleuten aller Welt darin zusammenzuarbeiten. Dann kann sich aus der Besatzungszeit eine gegenseitige Befruchtung der Nationen entwickeln.“336 In seiner Antwort bedankt sich Hesse zunächst für Brechts Interesse, das er „heute noch“ seinem „alten Heimatlande und insbesondere dem Beamtentum in Deutschland“ entgegenbringe. Er habe allerdings den Eindruck, „dass die Verwaltung in den Vereinigten Staaten noch sehr im Argen liegt und dass sie uns durchaus nicht richtunggebend für eine Modernisierung einer Institution in Deutschland sein kann, um die uns heute noch die ganze Welt beneidet“.337 Daß Brecht die Dinge anders sah, deutet sich bereits hier an, denn den zuletzt zitierten Nebensatz Hesses hat er handschriftlich markiert und mit einem Fragezeichen versehen.338 Zwei Monate später holte Hesse noch weiter aus und hinterließ keinen Zweifel mehr, wo er politisch einzuordnen war: Die „völlig missglückte Entnazifizierung“ habe dazu geführt, daß für die entlassenen Beamten kein gleichwertiger Ersatz 334 Hesse, ein früherer Kollege von Brecht aus dem Reichsinnenministerium, war während der Weimarer Republik Mitglied im Vorstand des Deutschen Beamtenbundes. Nach 1945 wurde er Oberregierungsrat und war darüber hinaus Vorsitzender der Gewerkschaft Deutscher Beamtenbund sowie 1. Vorsitzender des Beamtenrechtsausschusses der CDU. Die Angaben sind den im folgenden ausgewerteten Korrespondenzen entnommen. 335 Artur Hesse an Arnold Brecht, Bad Harzburg, 21. 11. 1949, BAK, NLB, N 1089/17. 336 Arnold Brecht an Artur Hesse, New York, 31. 1. 1950, BAK, NLB, N 1089/17. 337 Artur Hesse an Arnold Brecht, Bad Harzburg, 13. 2. 1950, BAK, NLB, N 1089/17. 338 Eine Antwort auf Hesses Brief liegt im Nachlaß Arnold Brechts allerdings nicht vor.
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geschaffen werden konnte, sondern „auf Nichtjuristen einerseits und verwaltungsfremde Kräfte andererseits“ zurückgegriffen werden mußte. Besonders schlimm sei die Lage in den Bundesländern, in denen die Sozialdemokraten die Regierungsmehrheit stellten oder diese doch maßgeblich beeinflußten. Die SPD von heute sei „überhaupt nicht vergleichbar“ mit der SPD vor 1933: „Die verantwortungsvollen und masshaltenden Persönlichkeiten vom Schlag eines Ebert, Severing, Braun, Sollmann, Löbe und vielen anderen fehlen der SPD. Dafür sind Heißsporne vom Schlage Schumacher an die Leitung gekommen und geben dieser Partei heute ein Profil, dass in toto nur noch mit dem der NSDAP verglichen werden kann.“
Er habe einen „schweren Kampf“ zu führen, „um die alten erprobten Grundsätze des Berufsbeamtentums, worauf Deutschland so lange stolz sein konnte, wieder zur Geltung zu bringen“; so müsse er sich durchsetzen gegen den „Terror der Betriebsräte“ und die durch die Sozialdemokraten und den Deutschen Gewerkschaftsbund einseitig bestimmte Personalpolitik. Und so setzt er seinen Angriff auf die SPD fort: „Die SPD vertritt heute skrupellos den Standpunkt, dass sie unter allen Umständen versuchen muss, den Staatsapparat in ihre Hand zu bekommen entsprechend dem bewährten Muster der NSDAP, und dass es bei der Auswahl der Personen gar nicht mehr auf die Qualität des einzelnen ankommt, sondern lediglich darauf, ob der Betreffende das Mitgliedbuch der SPD in der Tasche hat.“339
In seiner höflichen und vorerst noch freundlichen Antwort ist Brecht um eine Differenzierung der Sachlage bemüht. Es seien drei Kategorien voneinander zu unterscheiden: Im Hinblick auf die parteipolitische Personalpolitik in der Gemeindeverwaltung bestehe wenig Gefahr, daß frühere Nationalsozialisten besetzt werden, dafür aber trete hier das Problem mangelnder fachlicher Kompetenz auf. In solchen Fällen dagegen, „wo parteipolitische Ernennungen grundsaetzlich vermieden oder eingeschraenkt werden, und wo die an sich lobenswerte Absicht besteht, Fachbeamte zu ernennen, besteht die umgekehrte Gefahr, dass sich das Spiel von Weimar in verstaerkter Form wiederholt, indem innerlich ganz undemokratisch denkende Menschen in hohe Verwaltungsstellen berufen werden, und zwar auf Lebenszeit“.
Und schließlich gebe es noch Gemeinden, die von ihrem „Wahlrecht zur Bestellung von nationalsozialistischen oder reaktionaeren Buergermeistern oder Gemeindevorstehern Gebrauch machen“. Während Brecht in diesen Punkten Hesse zu korrigieren versucht, äußert er sich nicht zu dessen Gleichsetzung von SPD und NSDAP. Der Brief endet lediglich mit dem kurzen Vermerk, daß er „nie Mitglied der SPD oder irgendeiner anderen Partei“ gewesen sei: „Alles Doktrinaere der Parteiprogramme hat mich davon abgehalten, als Beamter in eine Partei einzutreten.“340
339 340
Artur Hesse an Arnold Brecht, Bad Harzburg, 17. 4. 1950, BAK, NLB, N 1089/17. Arnold Brecht an Artur Hesse, Engadin (Schweiz), 26. 7. 1950, BAK, NLB, N 1089/17.
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
Auf diese Replik antwortet Hesse wenige Tage später mit einem siebenseitigen Brief, in dem er seine Thesen über die SPD vollends auf die Spitze treibt. „In weiten Teilen des deutschen Volkes“, so Hesse, „hat die Überzeugung Raum gewonnen, dass die SPD heute in ihrer Taktik dieselben Wege zu beschreiten versucht wie ehemals die NSDAP“; dasselbe gelte für den Deutschen Gewerkschaftsbund. Diejenigen, die hinter der SPD und dem DGB stehen, seien „in der überwiegenden Mehrzahl Menschen ähnlichen Formats“, „die vor 1933 der NSDAP sich zugewandt hatten“. Heute wie damals handele es sich dabei um solche Personen, „deren fachliche Leistungen unter Durchschnitt oder höchstens Durchschnitt sind und die als Konjunkturritter glauben, ein besseres Fortkommen innerhalb dieser grossen Partei und Gewerkschaft zu finden“. Hesse bezweifelt sodann Brechts Feststellung, daß es viele Beispiele gebe, wo ehemalige Nationalsozialisten leitende Funktionen in den Gemeinden innehaben. Die meisten Beamten seien zu Unrecht für schuldig erklärt worden, was auf die verbreitete Praxis zurückzuführen sei, „in jedem ehemaligen Pg, selbst in dem harmlosesten Mitläufer einen Nationalsozialisten zu sehen, oder sonstwie einen politischen Gegner als Reaktionär zu bezeichnen“. Geht es nach Hesse, hat es in der Bevölkerung ohnehin so gut wie gar keine Nazis gegeben. So ist von ihm zu erfahren: „Die allermeisten sahen sich aus Sorge um ihre Existenz und um die ihrer Familie s. Z. genötigt, den Übergang zum Nationalsozialismus mitzumachen, ohne jemals die innere Bindung zu ihm zu erlangen. Für so degeneriert sollte man gerade die intelligenten Mittelschichten in Deutschland nicht halten, wozu auch die Beamten des höheren und gehobenen Dienstes zählen, dass sie sich irgendwie derartigen inferioren Naturen eines Hitler, Goebbels oder eines Himmler verbunden fühlten. Kommt aber einer von diesen mehr als belanglosen Mitläufern heute an die Oberfläche, dann wird aus demagogischen Gründen ein ungeheures Geschrei gemacht.“
Damit nicht genug, unterstreicht Hesse, daß die von der SPD praktizierte „Demagogie“ nichts weiter sei „als der Ausfluss des Machtstrebens einer autoritären Richtung, die gern in die Fußstapfen des Nationalsozialismus treten möchte“. Um das Berufsbeamtentum aufrechtzuerhalten, sei deshalb „mit aller Schärfe“ der Kampf „gegen diese Entartungen [sic!] auf personalpolitischem Gebiet“ vonnöten.341 Diese – man kann es nicht anders sagen – unverschämten Behauptungen ließ Brecht unbeantwortet.342 Zu einer heftigen Kontroverse kam es jedoch in den darauf folgenden Briefen: Im Spätsommer 1951 kontaktierte Hesse Brecht, um sein Bedauern auszudrücken, daß er ihn während seines Deutschlandbesuchs nicht habe treffen können. Denn sonst hätte er hoffen können, Brecht „von einer Idee abzubringen, die sich 341
Artur Hesse an Arnold Brecht, Bad Harzburg, 3. 8. 1950, BAK, NLB, N 1089/17. Im Nachlaß Brechts liegt zumindest kein Antwortschreiben vor. Auch diesen Brief von Hesse hat Brecht allerdings am Rand mit etlichen Fragezeichen und Unterstreichungen versehen. 342
2. Brecht und die Schuldfrage nach 1945
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immer mehr und mehr für deutsche parteipolitische Verhältnisse gesehen als das grösste Unglück für Deutschland herausstellen muss“. Dies betreffe „die Frage des Aussenseitertums“, die zunehmend „als Schicksalsfrage für das deutsche Beamtentum“ anzusehen sei.343 Hesse bezieht sich hier auf Brechts Forderung, daß offene Beamtenstellen auch für freie Bewerber, die keine Laufbahnvorbildung und -ausbildung haben, zugänglich gemacht und öffentlich ausgeschrieben werden. Diese Position hatte Brecht auf der Weinheimer Tagung des Instituts zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten vorgetragen, die zum Thema der „Neuordnung des Beamtenwesens“ im Dezember 1950 stattfand. Nach seiner Auffassung sollten die mit „Außenseitern“ zu besetzenden Stellen „im allgemeinen nicht mehr als die Hälfte der freien Stellen umfassen, damit den Laufbahnbewerbern genügend Aussichten gesichert bleiben, und nicht weniger als ein Viertel, damit freien Bewerbern genügend Wettbewerbsmöglichkeiten gewährt werden“.344 In seiner Schrift über das deutsche Beamtentum hatte Brecht diesen Vorschlag erneut expliziert. So kritisiert er: „Die Neigung, jeden innerhalb der Beamtenschaft als Aussenseiter abzulehnen, der nicht von Anfang an dazu gehört hat, ist eine der unerfreulichsten Begleiterscheinungen des Berufsbeamtentums, weil sie Klasseninstinkte nährt. Dabei rechtfertigt tatsächlich keiner der Gründe, die für die Eröffnung geregelter Zugangswege zum öffentlichen Dienst angeführt werden können, den Ausschluss oder auch nur die Vernachlässigung aller anderen Quellen von Kenntnissen und Fähigkeiten.“345
Hesse betont, daß Brecht zwar dahingehend zuzustimmen sei, „dass hervorragend befähigte Aussenseiter ohne weiteres in den öffentlichen Dienst aufgenommen werden sollen“, doch müßten diese „Außenseiter“ stets eine Ausnahme bleiben und nur dann auf sie zurückgegriffen werden, „wenn aus den Reihen der alten Berufs-
343
Artur Hesse an Arnold Brecht, Bad Harzburg, 31. 8. 1951, BAK, NLB, N 1089/17. Im Nachlaß Brechts liegen seine Aufzeichnungen zur Weinheimer Tagung vor; ihnen ist das eben gebrachte Zitat entnommen. Vgl. Arnold Brecht: Neuordnung des Beamtenwesens, Weinheimer Tagung des Instituts zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten, 2. und 3. Dezember 1950. Leitsätze des Berichterstatters Professor Dr. Arnold Brecht, in: BAK, NLB, N 1089/101 (S. 3). An Wilhelm Sollmann schreibt Brecht dazu: „Die Reform des Beamtenwesens, der ich mich hauptsächlich gewidmet habe, auf dem Wege freundschaftlicher Überredung in Gang zu bringen, scheint beinahe aussichtslos, aber ich habe es doch mit aller Kraft versucht, und am Schlusse auf einer dreitägigen Tagung in Weinheim noch einmal als früherer deutscher Beamter zu alten Kollegen gesprochen und sie mitzureissen versucht. Das ist zu einem gewissen Teil auch gelungen, wie sich in den angenommenen Resolutionen zeigt. Ich weiss natürlich, dass es dabei noch viele Rückschläge geben wird, und dass eine wirkliche Demokratisierung des Beamtentums seine dreissig Jahre dauern wird, wie es ja auch in Frankreich nach [sic!] 70 gedauert hat. Es kommt also wesentlich darauf an, ob es für dreissig Jahre prodemokratische Regierungen in D. geben wird. Die Weimarer Jahre waren zu kurz, und es fehlte ja auch an Mehrheiten, die eine demokratische Politik unterstützten.“ Arnold Brecht an Wilhelm Sollmann, New York, 6. 1. 1951, BAK, NLB, N 1089/13. 345 Brecht, DB, S. 70. 344
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
beamten nicht gleichartige Könner vorhanden sein sollten“. Geht es nach Hesse, findet dieser Aspekt bei Brecht keine Berücksichtigung.346 Bezugnehmend auf Hesses Vorwurf, daß sich seine Idee „als das grösste Unglück für Deutschland“ herausstellen müsse, entgegnet Brecht empört: „Es ist nicht gerade meine Eigenart, Ideen zu produzieren, die in diese Kategorie fallen.“ Es sei bedauerlich, „dass in diesen Fragen eine solche Verbitterung eingezogen ist, dass man garnicht mehr genau liest, sondern jeden, der an irgendetwas rüttelt, was morsch ist, sofort mit den finstersten Ausdrücken belegt“. In seinen darauf folgenden Erläuterungen faßt Brecht erneut seine Positionen zusammen und verweist Hesse auf seine zu diesen Fragen publizierten Schriften. Wütend hält er ihm vor: „Mit welcher Berechtigung können Sie da unterstellen, dass ich Vorschläge gemacht habe, die sich als das grösste Unglück Deutschlands herausstellen müssen? Was das grösste Unglück Deutschlands war und werden mag, darüber sollten wir beide doch andere Auffassungen haben.“
Er sehe „die Gefahren der Inzucht im Beamtentum“ richtiger, „als es innerhalb der Beamten im Übereifer des Selbstlobs oft geschieht“. Es sei „unerträglich, dass jeder, der nicht die normale Vor- und Ausbildung hat, naserümpfend als Aussenseiter hinter seinem Rücken bezeichnet wird“.347 Am Ende holt Brecht schließlich noch zu einer grundlegenden Kritik der Zeitschrift „Beamten-Warte“ und des hierin sich ausdrückenden Selbstbildes der Beamtenschaft aus: „Was ich aber bei der Beamten-Warte und auch bei Ihnen immer wieder vergeblich suche, ist eine Selbstkritik des Beamtentums. Immer wird alles gelobt. Nie wird von Schwächen und Engheiten gesprochen, nie von den vielen (wenn auch gewiss in der Zahl nicht überwiegenden) reaktionären und halbfaschistischen Beamten, sondern immer nur von den ,Aussenseitern‘.“
Die „Einseitigkeit des Eigenlobs der Beamtenschaft“ werde alle noch in große Schwierigkeiten bringen, die es vorauszusehen gelte. Brecht fährt fort: „Jedenfalls, wahre Vaterlandsliebe, von der Ihr doch im tiefsten beseelt seid, sollte Euch die Feder auch in der Selbstkritik führen, und sollte Eure Sprache gegen jeden, der in ernster Sorge versucht, Wege zu einer schonenden Reform unter Erhaltung der grossen guten Ei-
346
Vgl. Artur Hesse an Arnold Brecht, Bad Harzburg, 31. 8. 1951, BAK, NLB, N 1089/17. Mit Unverständnis begegnet Brecht Hesses Kritik auch aufgrund der von diesem selbst eingeschlagenen beruflichen Laufbahn: „Verehrter Herr Hesse, Sie müssten diesen meinen Kampf doch besonders gut verstehen. Denn Sie sind doch selbst ein Aussenseiter im höheren Beamtentum. Da ich selber damals führend dabei mitgewirkt habe, Sie in das höhere Beamtentum hineinzubekommen, weiss ich das noch sehr gut.“ Ein „Außenseiter“ war Hesse insofern, als er anfangs als mittlerer Beamter in die höhere Verwaltung kam. Brecht erläutert: „Sie kennen doch die höheren Beamten. Für die höheren Beamten der regulären Laufbahn sind Beamte der niedereren Gruppen, wenn sie in den höheren Dienst übernommen werden, Aussenseiter. Das sagt Ihnen jetzt keiner ins Gesicht. Aber das ist doch die allgemeine Ansicht der höheren Beamten.“ Arnold Brecht an Artur Hesse, New York, 20. 9. 1951, BAK, NLB, N 1089/ 17. (Reine Tippfehler im Original hier korrigiert, H.B.) 347
2. Brecht und die Schuldfrage nach 1945
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genschaften des deutschen Beamtentums zu zeigen, verständnisvoller und kooperativer machen.“348
In seiner Antwort widerspricht Hesse Brecht in fast allen Punkten. In der Frage der „Außenseiter“ sei nach wie vor festzustellen, daß sie „nahezu ausschliesslich auf Grund ihrer Parteizugehörigkeit ausgewählt wurden“; als Hauptverantwortliche für dieses „Beutesystem“ nennt Hesse wiederholt die SPD. Er bestreitet, daß es den Beamten an Selbstkritik mangele; aus seiner Sicht verkennt Brecht die Lage, in die die Beamten hineingestellt seien: „Da nun der Beamte in Deutschland genau so wie in allen anderen Ländern unbeliebt ist, weil er hauptsächlich nur Aufgaben zu erfüllen hat, die dem einzelnen Staatsbürger lästig sind, so muss die Beamtenschaft selbstverständlich den allergrössten Wert darauf legen, von den Elementen befreit zu werden, die systematisch ihr Ansehen untergraben. […] Wir wollen unser Ansehen rein halten und glauben, dass es unser gutes Recht ist, wenn wir danach streben.“
Es werde keineswegs verkannt, „dass auch in der Beamtenschaft zahlreiche Nieten vorhanden sind“. Entscheidender ist für Hesse allerdings, „dass gerade unter den Beamten so unendlich viele strebsame und charaktervolle Persönlichkeiten sind, die ausreichen, um nahezu jede einzelne Stelle in der öffentlichen Verwaltung auszufüllen“. Vehementer Widerspruch erfolgt sodann mit Blick auf Brechts Ansichten zum deutschen Pensionssystem. In seiner Beamtenschrift hatte Brecht gefordert, die Pensionen der Beamten zu kürzen und im Gegenzug ihre Gehälter nominell zu erhöhen.349 Nach Ansicht von Hesse hat sich Brecht mit dieser Forderung, die in der Beamtenschaft „[a]usserordentliche Erregung“ ausgelöst habe, „für einen glatten Rechtsbruch eingesetzt“ – und dies, wie er betont, „als Jurist“.350 In seiner Antwort zeigt sich Brecht von den Anschuldigungen Hesses tief gekränkt. Statt einer Entschuldigung, die er von ihm erwartet habe, habe Hesse „in einer noch viel krasseren Weise“ als bereits in seinem Brief zuvor Brechts Vorschläge „unter völliger Entstellung“ wiedergegeben – und zwar offenbar nicht nur ihm gegenüber, sondern auch öffentlich innerhalb seiner Beamtenorganisation. 348
Arnold Brecht an Artur Hesse, New York, 20. 9. 1951, BAK, NLB, N 1089/17. In dem Pensionswesen des deutschen Beamtentums sah Brecht „eines der entscheidenden Probleme in der Reform des öffentlichen Dienstes in Deutschland“. Das „ungewöhnliche Verhältnis zwischen Gehalt und Pension“ sei „irreführend und für die Harmonie des Gemeinschaftslebens nachteilig“: „Es ist irreführend, weil es die im Haushalt ausgewiesenen Gehälter weit niedriger erscheinen lässt, als sie in Wirklichkeit sind, wenn man sie mit dem Einkommen gewöhnlicher Staatsbürger vergleicht, die sich, wenn überhaupt, nur unter grossen Opfern bei privaten Versicherungen Pensionen in ähnlicher Höhe wie ein Beamter sichern können. Es ist für die demokratische Harmonie schädlich, weil danach die Pensionsrechte den Charakter eines einzigartigen Privilegs angenommen haben, das die Beamten von gewöhnlichen Sterblichen und besonders von einfachen Angestellten unterscheidet.“ Das jetzige System führe geradezu zu „einer Art Pensionshörigkeit“. Brecht, DB, S. 52 f. So auch in seinem einige Jahre später erschienenen Handbuchartikel über Bürokratie: Brecht, Bürokratie, S. 331. 350 Artur Hesse an Arnold Brecht, Bad Harzburg, 17. 1. 1952, BAK, NLB, N 1089/17. Aufgrund einer schweren Erkrankung hatte sich Hesses Antwort einige Monate verzögert. 349
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
Eine Gegenüberstellung der von Brecht dargelegten Positionen und ihrer Wiedergabe durch Hesse, die Brecht dem Brief anfügt, ergibt in der Tat, daß die Wiedergabe vor allem aufgrund von Auslassungen nicht korrekt und in einigen Punkten sinnentstellend ist. Gleichwohl resultierte Hesses harsche Kritik sicher nicht aus dem Umstand, daß er Brechts Differenzierungen nicht hinreichend berücksichtigt hatte; denn selbst wenn man Brechts diesbezügliche Ausführungen in Rechnung stellt, ändert das nichts an der Tatsache, daß er grundlegende Einrichtungen des deutschen Beamtentums infragestellt. Der springende Punkt liegt demnach woanders: es geht nicht um eine ungenaue oder gar falsche Textwiedergabe, sondern um die von Brecht kritisierten Pfründen des Beamtentums. Daraus entwickelte sich ein Schlagabtausch zwischen Hesse und Brecht, in dem besonders letzterer sich zutiefst persönlich angegriffen fühlte. Mir ist kein weiterer Brief bekannt, in dem Brecht seiner Verletzung und Verärgerung dermaßen freien Lauf läßt. So hält er Hesse vor: „Finden Sie, dass es Ihnen gut ansteht, sich mir gegenüber aufs hohe Pferd zu setzen, der ich ja wohl gegen glatte Rechtsbrüche in meinem Leben unter Einsatz meiner Person und meines Besitzes öffentlich protestiert habe? Haben Sie ähnliche Briefe, wie jetzt an mich, auch zu jener Zeit geschrieben, als glatte Rechtsbrüche zum Beispiel gegen Dietrich und gegen mich, wie gegen die ganze Beamtenschaft und die wehrlosesten der wehrlosen begangen wurden? Nur ganz nebenbei bemerkt, ich bin mit zehn Mark nach Amerika gegangen, habe Haus und alles in Deutschland lassen müssen, habe mir hier wegen meines Alters keine Pensionsrechte mehr verdienen können, und habe auch heute noch keine Entschädigung. Haben Sie protestiert? Ich habe trotzdem hier, wie Sie wissen, für Deutschland und die deutschen Beamten gegen falsche Verallgemeinerungen gekämpft, als das durchaus nicht bequem war. Sehen Sie denn nicht, welchen Dienst ich den Beamten mit den obigen objektiven Darstellungen entgegen den landläufigen Anschauungen hier mit meiner hier mühsam erworbenen Arbeit auch jetzt noch geleistet habe?“
Anschließend räumt Brecht Hesse die Möglichkeit ein, sich zu erklären und zu entschuldigen; andernfalls – dies bringt Brecht unmißverständlich zum Ausdruck – ist die Bekanntschaft mit Hesse für ihn zu Ende.351 Wenige Tage später entschuldigt sich Hesse bei Brecht und erklärt ausführlich und beschwichtigend, daß offenbar unzählige Mißverständnisse entstanden seien, die teilweise auf eine mangelnde Gründlichkeit seinerseits bei der Lektüre der Texte zurückzuführen sei. Gleichwohl – und dieser Hinweis ist eindeutig gegen Brechts heftige Reaktion gerichtet – lägen die Dinge nun einmal so, „dass im politischen Leben Deutschlands ein etwas rauher Ton herrscht, den man nicht allzu tragisch nehmen sollte“. In seinem – scheinbaren – Entgegenkommen geht Hesse so weit, daß er sich gleichsam in den Widerstand gegen den Nationalsozialismus hineinphantasiert. So ist von ihm zu erfahren, daß er „eines der schwersten Opfer des Nationalsozialismus in der Beamtenschaft“ gewesen sei. Dies begründet er damit, daß er
351
Arnold Brecht an Artur Hesse, New York, 5. 2. 1952, BAK, NLB, N 1089/17.
2. Brecht und die Schuldfrage nach 1945
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neun Jahre lang eine Degradierung seiner Beamtenstelle habe hinnehmen müssen.352 Darüber hinaus habe er auch deshalb „sorgenvolle Jahre durchlebt“, weil er „nachweislich verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht werden sollte“.353 Die Glaubwürdigkeit dieser Aussagen ist indes als ausgesprochen gering zu veranschlagen. Es sind einige Zweifel angebracht, daß ein „Nachweis“ für die angeblich drohende Verhaftung tatsächlich existiert, denn immerhin konnte Hesse während der gesamten NS-Zeit im Amt bleiben. Und auch insgesamt müssen seine Behauptungen nach allem, was bisher von ihm und seinen Ansichten über das Beamtentum in der NS-Zeit zu vernehmen war, wie eine Ohrfeige gegenüber all jenen erscheinen, die tatsächlich Widerstand geleistet haben und Opfer des Nationalsozialismus geworden sind. Hesses Erklärungen beantwortet Brecht mit dem knappen Hinweis, daß er sie zur Kenntnis genommen habe. Wenngleich er versichert, daß die Verstimmungen zwischen ihm und Hesse ausgeräumt seien, sofern Hesse seinen Vorsatz einhält, die falschen Textwiedergaben richtigzustellen, ist der Tonfall seines Briefs deutlich distanziert. Daß seine Verärgerung noch nicht verflogen war, zeigt auch seine erneute Kritik an Hesse: „Ich kann aber nicht verschweigen, dass mich die Ansicht, deutsche Beamten brauchten es im politischen Kampf mit der Wahrheit nicht genau zu nehmen, weil es im politischen Kampf ,rauh‘ zugehe, mit Besorgnis erfüllt. Die Integrität des Beamtentums kann nur dadurch aufrechterhalten werden, dass die Beamten, und besonders die höheren Beamten, die allerstrengsten Massstäbe an Wahrhaftigkeit und Rücksicht auf die Ehre anderer praktisch fordern und verwirklichen. Der Kampf mag mit grosser Schärfe geführt werden, aber die Schärfe darf doch nicht in der Entstellung der Tatsachen bestehen, am wenigsten auf Kosten des Rufes eines Kollegen.“
Brecht beklagt sich darüber hinaus, daß in der letzten Ausgabe der „BeamtenWarte“ wiederum ein „arg entstellender Vorstoss“ gegen ihn zu finden sei. Man habe es dort für richtig gehalten, „von mir, nach allem, was ich hier für die deutschen Beamten getan habe, als ,dem deutschen Emigrantenprofessor‘ zu sprechen, der ,noch nicht umgelernt‘ habe, und einen Vorstoss für die Einführung ,amerikanischer Beamtenverhältnisse in Deutschland‘ unternehme. Wer die kleinste Ahnung von Amer. Beamtenverhältnissen hat muss doch wissen, dass meine Vorschläge im Gegenteil auf die Erhaltung des deutschen Berufsbeamtentums im Gegensatz zu dem amerikanischen Beamtenwesen gerichtet sind.“
352
Es konnten außerhalb der Korrespondenzen leider keine biographischen Angaben über Hesse ausfindig gemacht werden, doch wenn man seinen Ausführungen Glauben schenken darf, wurde er nach dem Beamtengesetz vom April 1933 entlassen, wogegen er „mit den schärfsten Waffen“ angekämpft habe und die Dienstentlassung in die schon angesprochene Degradierung umwandeln konnte. 353 Artur Hesse an Arnold Brecht, Bad Harzburg, 11. 2. 1952, BAK, NLB, N 1089/17.
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
Er habe alles dafür getan, um mit dem deutschen Beamtenbund sachlich und persönlich auf „freundschaftlichem Fusse“ zu bleiben, doch dies setze auch Gegenseitigkeit voraus.354 Wie sehr Brecht die erneuten Anschuldigungen gegen ihn, für die sich Hesse abermals zu entschuldigen versuchte,355 gekränkt haben müssen, zeigt ein Brief an Hans Kutscher356, den er über ein Jahr nach dem Disput mit Hesse verfaßte: Da er von Deutschland abwesend gewesen sei, habe er nicht „den groben Entstellungen entgegentreten“ können, „deren sich der Beamtenbund dauernd schuldig gemacht hat“. Für Brecht besteht kein Zweifel, daß der Widerstand gegen seine Reformvorschläge mit seinem Emigranten- und „Auslands“-Status zusammenhängt: „Obwohl meine Anregungen ganz allein mit meinem deutschen Herzen und unabhängig von Amerika gemacht waren, hat doch die Tatsache, dass ich jetzt nun einmal in Amerika lebe und dass sich die amerikanische Besatzungsbehörde der Verteilung meiner Ausarbeitung in gut gemeinter aber ungeschickter Weise annahm, meinen Bemühungen den zur Zeit tötlichen [sic!] Stempel des ,ausländischen‘ Einflusses aufgedrückt. Das ist dann auch, zusammen mit unrichtiger Darstellung, weidlich ausgenutzt worden.“357
Ein weiteres Mal wird hier erkennbar, daß Brecht den „Emigranten-Status“ als schwere Belastung und Benachteiligung empfunden haben muß. Fast ein halbes Jahr später nahm Hesse erneut Kontakt mit Brecht auf. Im Rückblick führt er die „Meinungsverschiedenheiten“ zwischen ihm und Brecht nun auf seine „ungeheure Arbeitsüberlastung“ und seinen schlechten Gesundheitszustand zurück; seine beschwichtigenden Worte verknüpft er mit einem erneuten Lob für Brechts Buch „Vorspiel zum Schweigen“, das sich besonders durch seine „große Sachlichkeit in der Beurteilung der Beamtenschaft unter dem Nationalsozialismus“ auszeichne. Es folgen sodann wiederholt lange Ausführungen, wie sehr Hesse unter dem Nationalsozialismus gelitten habe und wie tragisch es aufgrund der damaligen Degradierung „vom Oberregierungsrat zum Regierungsrat“ um sein Schicksal bestellt gewesen sei. Gefüllt von Selbstanpreisungen berichtet Hesse, daß er wegen der erfolgten Herabstufung im NS-Regime nun ein Wiedergutmachungsverfahren in die Wege geleitet habe. Aus diesem Grund richtet er an Brecht die Bitte, „mir gütigst eine Bescheinigung ausstellen zu wollen, wonach ich im Hinblick auf meine exponierte Stellung und meine Qualifikationen es nach menschlichem Ermessen erreicht haben würde, in die Stellung eines Ministerialrats zu gelangen, wenn nicht der Nationalsozialismus dies verhindert haben würde, indem er meine Karriere zerstörte“.358 354
Arnold Brecht an Artur Hesse, 1. 3. 1952 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/17. Vgl. Artur Hesse an Arnold Brecht, 15. 4. 1952, BAK, NLB, N 1089/17. 356 Seine Frau Irmgard Kutscher übersetzte später Brechts „Political Theory“ ins Deutsche. Auch die nach seinem Tod erschienene Monographie „Kann die Demokratie überleben?“ übertrug sie ins Deutsche. Siehe dazu Kapitel II.3.b). 357 Arnold Brecht an Hans Kutscher, New York, 16. 5. 1953, BAK, NLB, N 1089/21. 358 Artur Hesse an Arnold Brecht, Baden-Baden, 13. 10. 1953, BAK, NLB, N 1089/20. 355
2. Brecht und die Schuldfrage nach 1945
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Brecht bestätigt Hesse daraufhin, daß er sich während seiner Tätigkeit als Ministerialdirektor im Reichsinnenministerium dafür eingesetzt habe, Hesse zum Regierungsrat zu befördern. Für die Zeit nach 1927 könne er jedoch keine Auskunft geben. In seiner höflichen, aber sehr deutlichen Zurückweisung erklärt Brecht: „Da ich selber den Reichsdienst im Jahre 1927 verliess und seit 1933 in den Vereinigten Staaten lebe, kann ich über Ihren weiteren Werdegang, Ihre Haltung unter der Regierung Hitler, und die Aussichten, die Sie im Falle der Fortdauer demokratischer Verfassungsreformen in Deutschland gehabt haben würden, aus eigener Kenntnis nichts aussagen.“359
Drei Jahre später bat Hesse Brecht erneut um eine Fürsprache, da seine Wiedergutmachungsangelegenheit „unter einem ungünstigen Stern“ stehe.360 Brecht kam dieser Bitte erneut nur in Teilen nach und hielt selbst die knappe Bestätigung, die er für Hesse schrieb, allgemein und ohne dabei Hesses Namen zu nennen; von einer richtigen Fürsprache kann daher in diesem Fall sicher nicht die Rede sein. Alle anderen, auch persönlichen Fragen von Hesse ließ Brecht unterdessen unbeantwortet.361 Die Kontroverse zwischen ihm und Hesse hatte allem Anschein nach tiefe Spuren hinterlassen. Unbewältigte Vergangenheit? Beamtentum und Schuldfrage Wenn nach Brechts Positionen zum deutschen Beamtenrecht nach 1945 gefragt wird, so ist hervorzuheben, daß sein Einsatz in erster Linie einer umfassenden Demokratisierung des Beamtentums galt: „Die demokratischen Ideale der buergerlichen Freiheit und Gleichheit koennen nicht verwirklicht werden, solange sich die im oeffentlichen Dienst stehenden Personen nicht selbst diesen Idealen entsprechend verhalten.“362 Vor welch schwere Aufgabe er damit gestellt war, war Brecht durchaus bewußt: dies könne „in Wirklichkeit nur in Jahrzehnten geleistet werden, zumal kostbare Zeit seit 1945 durch ungenuegende Handhabung verloren gegangen ist“, schreibt er in einem Brief an Gerhard Scherk.363 Mit seiner Forderung, ehemalige Nazis – und zwar auch jene, die nicht von den Entnazifizierungsmaßnahmen betroffen waren – in keinem Fall ohne vorherige Prüfung auf ihre politische Verläßlichkeit wieder einzustellen, grenzte Brecht sich strikt von den richtungsweisenden Tendenzen seiner Zeit ab. Denn die personelle Kontinuität vom „Dritten Reich“ zur Nachkriegszeit war bekanntlich im Beamten-
359
Arnold Brecht an Artur Hesse, New York, 9. 11. 1953, BAK, NLB, N 1089/20. Artur Hesse an Arnold Brecht, Baden-Baden, 5. 4. 1956, BAK, NLB, N 1089/20. 361 Arnold Brecht an Artur Hesse, New York, 8. 5. 1956, BAK, NLB, N 1089/20. 362 Dieser Satz findet sich in einem im Nachlaß vorliegenden Manuskript mit dem Titel: „Voraussetzungen fuer die Aufgabe der Einmischung der Militaer-Regierung in das deutsche Beamtenwesen“ Das Manuskript ist weder mit einem Namen noch mit einem Datum versehen, es ist jedoch davon auszugehen, daß es von Brecht stammt und er es in der unmittelbaren Nachkriegszeit angefertigt hat. Vgl. BAK, NLB, N 1089/101. 363 Arnold Brecht an Gerhard L. Scherk, Engadin, 11. 8. 1950, BAK, NLB, N 1089/38. 360
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
und Verwaltungsapparat überdurchschnittlich stark ausgeprägt.364 In einem weiteren Brief stellt Brecht klar: „Auch ein moralischer Anspruch auf Wiedereinstellung kann doch hoechstens dann in Anspruch genommen werden, wenn der fruehere nationalsozialistische Beamte jetzt die Gewaehr bietet, dass er in solcher Weise im demokratischen Staatswesen positiv mitarbeiten wird. Sie schreiben, dass die frueheren nationalsozialistischen Beamten ihre Ansichten alle, oder meistens, geaendert haetten. Soweit das wirklich der Fall ist, sollte man sie auch wieder beschaeftigen und da nicht kleinlich sein. Aber ich hoffe, dass gerade die frueheren Nationalsozialisten das Verstaendnis haben werden, dass eine demokratische Verwaltung nicht ohne weitere Pruefung jeden Gegner der demokratischen Regierungsform in ein Amt einsetzen kann. Das wird von meinem Gerechtigkeitsgefuehl jedenfalls nicht gefordert.“365
Auch gegenüber der Süddeutschen Zeitung erwähnt er: „Gestatten Sie mir daher, hier noch einmal zu betonen, dass ich es bedaure, wenn vielfach Bewerber als politisch geeignet zur Anstellung angesehen worden sind, bloss weil das Suehneverfahren negativ abgeschlossen worden war. Ohne einer rachsuechtigen oder engherzigen Personalpolitik irgendwie das Wort zu reden, muss man doch grundsaetzlich darueber klar sein, dass die Frage, ob jemand Vertrauen als demokratischer Beamter beanspruchen kann, unter Umstaenden ganz verschieden ist von der Frage, ob er verdient, wegen seiner Handlungsweise in einem Suehneverfahren belangt zu werden. Das gilt besonders fuer Stellen, die fuer die Entwicklung einer demokratischen Politik und Verwaltung von Bedeutung sind.“366
Zu einem demokratischen Neuanfang des Beamtentums gehörten nach Brechts Ansicht auch einige grundlegende Änderungen im Beamtenrecht. Dazu zählte er etwa die Abschaffung der wohlerworbenen Rechte, die Herabstufung der Beamtenpensionen (bei Aufstockung der Gehälter) sowie die Zulassung freier Bewerber. In einem Handbuchartikel über das Wesen der Bürokratie bekräftigt Brecht seine schon in früheren Schriften entwickelten Thesen und diagnostiziert gewisse „Eigenheiten des deutschen Beamtenrechts“, die „bürokratische Tendenzen“ unterstützten.367 In der Bürokratie sieht Brecht die eigentliche Gefahr, die für eine De-
364 Corinna Unger faßt zusammen: „1950 waren mehr als ein Viertel aller Abteilungsleiter der Bundesministerien frühere NSDAP-Mitglieder, mehr als drei Viertel der Bereichsleiter im Außenministerium hatten vor 1945 dem Auswärtigen Dienst angehört, und zwei Drittel der Referenten waren ehemalige Parteimitglieder […].“ Unger, Beamtenrecht, S. 87. 365 Arnold Brecht an Hans Martin Schmidt, Frankfurt, 19. 12. 1950, BAK, NLB, N 1089/ 101. 366 Arnold Brecht an die Süddeutsche Zeitung, Manor House/Bad Soden, 17. 6. 1950, BAK, NLB, N 1089/26. 367 Dies seien: die „Privilegierung der juristischen Ausbildung für den höheren Dienst“; „das Titelwesen“; die „Steilheit der beamtlichen Pyramide“; die unbefristete Sicherung von Amt und Bezügen; „die scharfe Unterscheidung zwischen Beamten und Angestellten“; „die Abschließung gegen Außenseiter“; das bereits erwähnte Pensionssystem und schließlich „die autoritäre Tradition, soweit sie noch besteht“. Brecht, Bürokratie, S. 331.
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mokratie vom Beamtentum ausgehen kann.368 Seinem Idealismus treu bleibend, schlägt er in dem erwähnten Handbuchartikel als „Abhilfe“ gegen die Gefahren des Bürokratismus unter anderem die folgende Maßnahme vor: „Pflege freundlicher Hilfsbereitschaft, menschlicher Umgangsformen, unmißverständlicher Haltung als Gleiche unter Gleichen; Bekämpfung des Kastengeistes und des Privilegienstolzes; freiwilliger Verzicht auf Titelgebrauch im gesellschaftlichen und amtlichen Verkehr, außer bei formellen Anlässen; Mischung mit anderen Kreisen im öffentlichen Leben.“369
Mit seinen Reformvorschlägen, die als ausgesprochen progressiv zu bewerten sind, zeigte Brecht, daß er durchaus bereit war, sich den Konsequenzen der NSVergangenheit zu stellen. Auch wenn in einigen Punkten die Ambivalenzen im Umgang mit der Schuldfrage bestehen bleiben, ist, wie aus seinen Darlegungen deutlich wird, für ihn völlig klar, daß aus den vergangenen Geschehnissen im „Dritten Reich“ eine besondere politische und moralische Verantwortung für die Gegenwart erwächst. Im Gegensatz zu seinem Kollegen Artur Hesse ist Brecht unumwunden bereit, sich dieser Verantwortung zu stellen. Nicht nur in der Beamtenfrage, sondern auch insgesamt ist festzustellen, daß Brecht sich der Dimension der Schuld offenbar viel stärker bewußt war, als es in einigen seiner veröffentlichten Darlegungen mitunter den Eindruck erweckt. Dies legen jedenfalls einige seiner Briefe nahe. Ein besonders eindrückliches Beispiel gibt dafür ein Brief, den Brecht rund zehn Jahre nach dem Krieg an seinen Jugendfreund Georg Pfuhl schrieb. Kurz zuvor – dies zumindest ist seinen Ausführungen zu entnehmen – hatte er erfahren, daß Pfuhl Mitglied der NSDAP gewesen ist, woraufhin sich offenbar eine heftige Auseinandersetzung zwischen ihm und Pfuhl entwickelt hatte. In seinem sehr tiefgehenden und offenen Brief reflektiert Brecht auch seinen eigenen Umgang mit Schuld und Verantwortung und offenbart sein Unverständnis gegenüber all jenen, die sich ihr schuldhaftes Verhalten nicht eingestehen: „Es tut mir vieles sehr leid, was ich im Leben getan habe, und ich bin mir bewusst, dass ich noch jetzt ein Bündel von Unvollkommenheiten bin. Den Gedanken, dass ich nicht verantwortlich bin für das, was ich vor 30 oder 40 Jahren getan habe, teile ich ganz und gar nicht. Nur auf dem Wege über eine zerknirschte Reue und, ja, Busse, um die kirchlichen Ausdrücke zu gebrauchen, die durchaus den Kern treffen, kann etwas wie eine Entlastung eintreten.“370 368 So führt er aus: „Der unaufgelöste Widerspruch zwischen der bürokratischen Struktur und autoritären Tradition eines Beamtenkörpers einerseits und den allen Privilegien und autoritären Ansprüchen entgegengesetzten Grundprinzipien der demokratischen Gesellschaftsordnung andererseits bedeutet eine latente Gefahrenquelle für die Demokratie. Es ist Aufgabe der Beamten […] selbst, die in der Spannung zwischen B[ürokratie] und Demokratie liegende Gefahr zu erkennen und zu überwinden.“ Brecht, Bürokratie, S. 333. 369 Brecht, Bürokratie, S. 332 f. 370 Arnold Brecht an Georg Pfuhl, New York, 14. 11. 1954, BAK, NLB, N 1089/23.
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
Brecht beließ es nicht bei diesen persönlichen Bekundungen, sondern versuchte auch, auf die Politik der deutschen Bundesregierung Einfluß zu nehmen. So schrieb er 1951 an Konrad Adenauer: „Da das Schicksal mich hier mit unzähligen Juden zusammengeführt hat, die – innerlich und äusserlich elend – aus Deutschland vertrieben waren und ich Zeuge der – inneren und äusseren – Schwierigkeiten gewesen bin, unter denen sie sich ein neues Leben zu zimmern versucht haben, während fast alle von ihnen nahe Familienmitglieder in den Vergasungskammern oder ähnlichen Vertilgungsanstalten verloren, bin ich auch ständig der Tatsache gewahr, wie sehr diese Greuel der Vergangenheit immer weiter Deutschland’s Namen im Lichte stehen. Könnten Sie nicht […] den diesjährigen Busstag im Einvernehmen mit den Kirchen als einen Tag der Busse oder der inneren Reinigung des ganzen Volkes für die an den deutschen Juden im Namen Deutschlands verübten Greuel erklären? Solche Aktionen innerlicher Art haben eine grössere Macht in der Welt als manches andere, weit über den einzelnen Anlass hinaus.“371
Pfuhl gegenüber drückt Brecht sein Unverständnis aus, daß jener sich wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft keine Vorwürfe mache, sondern sie bis heute verteidige: „Das geht bei mir sehr tief, im Hinblick auf alles, was Deutschland und der Welt, meinen tiefsten Idealen, und ganzen grossen Gruppen von Menschen, wie den Juden, von der NSDAP, der Du angehört hast, angetan worden ist, einschliesslich meiner geliebten Schwester, und ganz nebenbei gesagt auch mir und Clara.“
Pfuhl habe es nicht für unter seiner „Ehre und Würde gehalten, in die NSDAP einzutreten“, aber halte es für unter seiner Ehre und Würde, zu sagen, daß er das bedauert. Daraus könne „nichts Gesundes“ kommen, jedenfalls nicht zwischen ihm und Brecht. Ohne Buße und Reue sehe er keine „Grundlage für ein ehrliches Weiterleben – das bisschen, was wir noch weiterzuleben haben“.372 In seinen Bekenntnissen geht Brecht allerdings nicht so weit, seine eigenen Fehler beim Namen zu nennen und offenzulegen. Zwar schließt er sich von der geforderten Buße nicht aus, doch er bleibt dabei trotzdem allgemein und erwähnt gegenüber seinem Freund Pfuhl etwa nicht die Briefe an Göring und Frick, die er kurz vor seiner Emigration verfaßt hat.
371
Arnold Brecht an Konrad Adenauer, New York, 6. 10. 1951, BAK, NLB, N 1089/15. (Reine Tippfehler im Original hier korrigiert, H.B.) Daran anknüpfend schreibt er einige Jahre später an Hermann Kesten: „Manchmal denke ich, es würde helfen, wenn man in Deutschland den 30. Januar jeden Jahres zum ,Nationalen Bußtag‘ erklärte, zu einem Tag also, der dem Gedanken der Buße gehört – nicht für unsere persönlichen Sünden, sondern für das, was im Namen Deutschlands gesündigt worden ist. (Ich bin bereit, mitzubüßen.) Das würde symbolisch, läuternd und befreiend etwas ausdrücken, was auf vielen Seelen lastet und nach einem kultisch allgemeinen Ausdruck zu verlangen scheint.“ Brecht, Brief an Kesten, S. 32. 372 Arnold Brecht an Georg Pfuhl, New York, 14. 11. 1954, BAK, NLB, N 1089/23.
2. Brecht und die Schuldfrage nach 1945
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Welche Tragweite die „Erfahrung mit Weltkriegen, Emigration und Wahnsinn“373 für Brecht hatte, spiegelt sich auch darin wider, daß er den parteipolitischen Unterschieden nach 1945 eine andere Bedeutung als vorher zumaß. Die Gewichtung hatte sich durch die vergangenen Geschehnisse verschoben: „Die Hitlerperiode hat alle Unterschiede in den Ansichten unter denen, die aufrichtig und aus tiefstem Herzen sich gegen die Greuel und Niedrigkeiten des Regimes empörten, weniger wichtig gemacht als die Übereinstimmung in dem Wunsche, dass Deutschland wieder ehrlich wird.“374
Aus diesen Reflexionen folgt für Brecht die Notwendigkeit, tätig zu werden und die aus der Anerkenntnis von Schuld erwachsene Verantwortung sichtbar zu machen. Mit Blick auf die deutschen Verwaltungsstrukturen setzt er diese Einsicht dadurch um, daß er für eine Reform des öffentlichen Dienstes und die Demokratisierung der Beamtenschaft eintritt. „Wir wissen alle, daß sich die Vergangenheit nicht ungeschehen machen läßt“, schreibt Brecht an Hermann Kesten.375 Umso mehr ist es aus seiner Sicht erforderlich, Initiative zu zeigen – wozu für ihn zum Beispiel auch gehört, NS-Verbrechen zu ahnden.376 An anderer Stelle fordert er: „Die tiefe Kluft, die die Untaten der Nationalsozialisten gegen das Judentum in der Welt zwischen den anderen Völkern und Deutschland geschaffen haben, kann nur durch Taten überbrückt werden. Diese Taten müssen nicht individuell gerecht sein. Sie müssen staatsmännisch dazu beitragen, dass eine Situation vermieden wird, in der unausgesetzt neue Herde von Zwietracht und Demütigung entstehen.“377
In Kenntnis dieser Darlegungen ergibt sich im Gesamtergebnis, daß die Tendenz zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit bei Brecht stärker ausgeprägt war als jene zur Verdrängung. Ambivalenzen im Umgang mit der Schuldfrage zeichnen sich in seinen Texten vor allem dann ab, wenn es darum geht, das Verhalten der Beamten im NS-Regime zu schildern. Läßt sich hier eine latente Entlastungssehnsucht erkennen, können die vergangenheitspolitischen Konsequenzen, die er nach 1945 mit seinen Reformvorschlägen für den öffentlichen Dienst fordert, deutlicher kaum sein. In seinen Reflexionen über Schuld und Buße wird darüber hinaus sichtbar, daß für ihn 373 So Arnold Brecht in einem Brief an Max M. Warburg, New York, 2. 1. 1943, BAK, NLB, N 1089/8. 374 Arnold Brecht an Minister Gessler, New York, 1. 2. 1955, BAK, NLB, N 1089/19. 375 Brecht, Brief an Kesten, S. 32. 376 Vgl. dazu etwa den Brief an Julie Braun-Vogelstein, in dem Brecht begrüßt, „dass der Eichmann-Prozess durchgeführt wird“. Arnold Brecht an Julie Braun-Vogelstein, New York, 17. 4. 1961, BAK, NLB, N 1089/10. 377 Arnold Brecht an Bürgermeister Dr. Schreiber, New York, 22. 1. 1954, BAK, NLB, N 1089/25. Brecht nimmt hier offensichtlich Bezug auf das sog. „Luxemburger Abkommen“, in dem die Regierung Adenauer Israel und der Jewish Claims Conference Entschädigungsleistungen zusicherte; gegenüber dem Berliner Bürgermeister Schreiber begrüßt Brecht die Wiedergutmachungspolitik. Vgl. zu den Hintergründen Goschler, Constantin: Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005, S. 159 ff.
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
nicht die Abwehr, sondern das Eingestehen von Schuld die Voraussetzung dafür ist, daß „Deutschland wieder ehrlich wird“ und damit auch die langfristige Stabilität der Demokratie gesichert ist. „Wenn wir aus einer Position der Stärke operieren oder verhandeln wollen, so muß es zuerst und vor allem die Stärke des Geistes sein. Um das zu vollbringen, muß sich der Staatsmann darauf besinnen, daß er Geist hat (wenn er ihn hat), und sich die Zeit, Sammlung und Geduld nehmen, dem Geist wegweisenden Ausdruck und mitreißende Wirkung zu geben.“378
3. Politische Theorie, Demokratie und Gerechtigkeit Die Emigration in die Vereinigten Staaten markierte für Brecht nicht nur zwangsläufig eine grundlegende Veränderung in seiner beruflichen Ausrichtung, sondern auch einen Wechsel in der gedanklichen Motivierung seiner Tätigkeit, einen, wie er schreibt, „Rollentausch in Lebensmitte“379. So habe er nach seiner Entlassung aus dem deutschen Staatsdienst „eine aktive politische Rolle nicht mehr gespielt, weder in Amerika, noch in Deutschland“, denn an deren Stelle sei seine wissenschaftliche Laufbahn getreten. Ausgesprochenes Ziel Brechts war es, sich „mit Leib und Seele der Wissenschaft“ zu verschreiben – ein Unterfangen, dessen Umsetzung aus seiner Sicht die strikte Trennung zwischen Wissenschaft und Politik voraussetzt: „Die Ausführung dieses Vorsatzes erforderte den ganzen Mann und war mit dem Bestreben, gleichzeitig eine aktive politische Rolle zu spielen, unvereinbar. Man kann streng wissenschaftlich arbeiten, bevor man eine politische Rolle spielt oder nachdem man sie gespielt hat, aber nicht während man sie spielt.“380
Das bedeutete für Brecht jedoch nicht, unpolitisch zu sein – im Gegenteil: Im Unterschied zu seinen Jugendjahren sei seine „Enthaltung von aktiver Politik“ nicht mehr die Folge seiner „Politikferne“ gewesen, sondern umgekehrt seines Entschlusses, „durch wissenschaftliche Untersuchungen einen möglichst wesentlichen politischen Beitrag zu leisten“381. Diese Selbstbeschreibung ist insofern nicht ganz zutreffend, als sich Brechts politisches Engagement in den Vereinigten Staaten durchaus nicht in einer wissenschaftlichen Abbildung politischer Problemstellungen erschöpfte. Während des Krieges wurde Brecht als Berater der US-Regierung herangezogen,382 und auch nach 1945 versuchte er seinen Einfluß in der Politik – hier vor allem Westdeutschlands – 378 379 380 381 382
Brecht, Kraft, S. 11. Brecht, Kraft, S. 333. Brecht, Kraft, S. 333. Brecht, Kraft, S. 333 f. Vgl. dazu Unger, Berater.
3. Politische Theorie, Demokratie und Gerechtigkeit
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geltend zu machen.383 Während viele seiner mit deutschen Politikern geführten Briefwechsel einen überaus ambitionierten Eindruck erwecken,384 räumt er diesem Engagement in seiner Autobiographie nur marginale Bedeutung ein: so spricht er lediglich „von gelegentlichen Ratschlägen politischen Inhalts“, die er „mündlich, schriftlich oder gedruckt zuständigen Stellen oder der Öffentlichkeit unterbreitet“ habe.385 Nichtsdestoweniger stand durch seinen Wechsel vom Beamten der höheren Verwaltung zum deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftler fortan die Wissenschaft im Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Daß er diesem gewichtigen Abschnitt seines Lebens nur einen sehr geringen Teil seiner Autobiographie widmet, erklärt er so: „Das hat seinen Grund nicht nur in der Rücksicht auf Raum und Maß des Ganzen, sondern vor allem darin, daß mein Leben hinfort nicht mehr so eng mit dem politischen Geschehen verflochten war und daher, so wichtig Wissenschaft auch ist, nicht das gleiche allgemeine Interesse erwarten kann. Verglichen mit den früheren Teilen des Gesamtwerkes bilden die Kapitel über mein Leben in Amerika bloße Nachworte. Hätte ich die Hauptabsicht gehabt, über Amerika und meine wissenschaftliche Arbeit dort zu schreiben, so wäre es umgekehrt gewesen; dann hätte der Bericht über mein Leben vor dem Jahre 1933 nur die Bedeutung eines Vorwortes gehabt.“386
Aus dieser vorgenommenen Gewichtung und aus dem Umstand, daß Brecht auch als Wissenschaftler nicht aufhörte, den Kontakt zu deutschen Politikern zu suchen und sich in ihre Debatten einzuschalten, zieht Michael Ruck in seinem neuesten Aufsatz die Schlußfolgerung, daß „Brecht den unfreiwilligen Wechsel von der vita activa des politischen Beamten hin zur vita contemplativa des Wissenschaftlers nicht wirklich akzeptiert“ habe.387 Die Frage beiseite gelassen, inwieweit man das Leben eines Wissenschaftlers tatsächlich als „vita contemplativa“ bezeichnen kann, sind auch hinsichtlich der Einschätzung Brechts einige Zweifel angebracht. Die zahlreichen Korrespondenzen, in denen Brecht sich über wissenschaftliche und philosophische Fragen austauschte,388 deuten keineswegs darauf hin, daß ihn seine Tätigkeit als Wissenschaftler „nicht wirklich“ ausfüllte.389 Die Gründlichkeit, mit der Brecht fortan seine wissenschaftlichen Studien betrieb – wovon seine zahlreichen 383
Vgl. dazu kritisch Ruck, Verfassungsentwicklung. Vgl. z. B. die Briefwechsel mit Konrad Adenauer (BAK, NLB, N 1089/15), Willy Brandt (BAK, NLB, N 1089/16) oder Herbert Wehner (BAK, NLB, N 1089/27). 385 Brecht, Kraft, S. 333. 386 Brecht, Kraft, S. 333. Volker Depkat bedauert zu Recht, daß Brecht darauf verzichtet, „den 1933 beginnenden zweiten Teilen seines Lebens auf die gleiche Art in seiner Epochensignifikanz zu reflektieren, wie er es für den ersten getan hat“. Depkat, Arnold Brecht als Autobiograph, S. 43. 387 Ruck, Deutsch-amerikanische Perspektiven, S. 361. 388 Vgl. etwa, um nur wenige Beispiele zu nennen, die Briefwechsel mit Theodor Eschenburg (BAK, NLB, N 1089/17), Gustav Radbruch (BAK, NLB, N 1089/8), Theodor Litt (BAK, NLB, N 1089/21), Carl Joachim Friedrich (BAK, NLB, N 1089/24) und Karl Engisch (BAK, NLB, N 1089/17). 389 So Ruck, Deutsch-amerikanische Perspektiven, S. 383. 384
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
Publikationen ein beredtes Zeugnis ablegen –, erhöht darüber hinaus die Glaubwürdigkeit seiner Selbstbeschreibungen:390 „Es war mein größtes persönliches Glück im Unglück, daß die Berufung mir die Gelegenheit gab, mich der Wissenschaft zu widmen. Das habe ich mit Leidenschaft getan, nicht nur, weil ich aus Dankbarkeit gegen das Gastland unsere Aufgabe gegenüber den amerikanischen Studenten sehr ernst nahm, sondern noch mehr um der Sache selbst willen. Endlich konnte ich meinem Hang zu wissenschaftlichem Denken voll nachgeben.“391
Wiederholt reflektiert Brecht in diesem Zusammenhang das Spannungsfeld zwischen politischer Theorie und politischer Praxis, das für ihn auch rein biographisch von Bedeutung war: „So ergab sich die paradoxe Lage, daß viele aus rein akademischer Laufbahn hervorgegangene Wissenschaftler sich nach Praxis sehnten, ich aber, der Praktiker, nach Theorie.“392 Einen praktischen Nutzen sah Brecht gleichwohl auch in der politischen Theorie: „Aber wir Wissenschaftler“, schreibt er in einem Brief an Herbert Kappstein, „machen uns ja ein Geschaeft daraus, mehr auf lange Sicht als auf die augenblicklichen Beduerfnisse der Politik zu sehen, die dem Praktiker oft die Haende binden. Das mag dann manchmal doch zur Klaerung beitragen.“393 Die Rückkopplung zur Politik war sicher ein weiterer Aspekt, der ihm den Zugang zur wissenschaftlichen Tätigkeit erleichtert hat. So erklärt er Paul Löbe: „Der Übergang zur Wissenschaft ist mir nicht schwer geworden, da ich immer einen Hang in dieser Richtung gehabt habe, aber für mich bedeutete er hauptsächlich eine Suche nach der Antwort auf die Frage, ob und in welcher Weise Wissenschaft, wirkliche Wissenschaft, echte und zuverlässige Beiträge zur Entscheidung politischer Fragen leisten kann. Da musste vieles ausgeschaltet werden, was keine objektive Wissenschaft, sondern private oder gruppenmässig akzeptierte Lebensanschauungen, Meinungen, Werturteile usw. waren. Aber es blieb doch etwas Wesentliches übrig, dessen Bedeutung noch wuchs dadurch, dass man es von unwissenschaftlichen Schlacken befreite.“394
Doch was bedeutet für Brecht überhaupt „politische Theorie“, und was versteht er unter Wissenschaft? Dieser Frage ist er in seinem gleichnamigen Werk nachgegangen, das 1959 in amerikanischer und zwei Jahre später in deutscher Sprache erschienen ist und den Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Leistung darstellt. Brechts rund 700 Seiten umfassende „Politische Theorie“ behandelt im wesentlichen 390
Ruck vermag auch dann nicht zu überzeugen, wenn er den Antrieb für Brechts wissenschaftliche Produktivität ausschließlich in extrinsischen Motiven sucht – so etwa, wenn er Brechts „publizistische Aktivitäten“ darauf zurückführt, „seine zunächst vertagte, dann aufgegebene Remigration nach Deutschland vor sich selbst und vor anderen zu rechtfertigen“. (Ruck, Deutsch-amerikanische Perspektiven, S. 364 f.) Selbst wenn das für Brecht eine Rolle gespielt haben sollte, ist daraus nicht die Schlußfolgerung zu ziehen, daß ihn sein Beruf als Wissenschaftler nicht trotzdem ausgefüllt hat. 391 Brecht, Kraft, S. 386. 392 Brecht, Kraft, S. 388. 393 Arnold Brecht an Herbert Kappstein, 9. 2. 1964 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/21. 394 Arnold Brecht an Paul Löbe, Klobenstein bei Bozen, 27. 8. 1964, BAK, NLB, N 1089/21.
3. Politische Theorie, Demokratie und Gerechtigkeit
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Grundzüge der politischen Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die historisch entwickelt und an ihrem jeweiligen Wissenschaftsverständnis festgemacht werden. Dreh- und Angelpunkt des gesamten Buches ist das Problem der wissenschaftlichen Wertfreiheit. „Es war die Sache selbst, Wissenschaft“395, deren Wesen er ergründen und deren Grenzen und Möglichkeiten er zum Gegenstand seiner Untersuchung machen wollte. Von besonderem Interesse sind Brechts wissenschaftliche Explikationen auch deshalb, weil er selbst das erläuterte Spannungsfeld zwischen politischer Praxis und politischer Theorie in einer Person verkörpert. Da die „Politische Theorie“ als sein wissenschaftliches Hauptwerk anzusehen ist und seine Überlegungen auf politikwissenschaftlichem, wissenschaftstheoretischem und philosophischem Gebiet zusammenführt, lohnt sich eine genauere Betrachtung dieses Werks. Die Auseinandersetzung soll dabei unter der Fragestellung erfolgen, welches Wissenschaftsverständnis Brecht hat und wie er das Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft innerhalb des noch zu ergründenden Begriffs der Politikwissenschaft oder der politischen Wissenschaft bestimmt. Auf der Grundlage des so erarbeiteten Wissenschaftsbegriffs wird darüber hinaus Brechts Gerechtigkeitstheorie, die er im letzten Teil seiner „Politischen Theorie“ entfaltet, einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Nach der Auseinandersetzung mit der „Politischen Theorie“ wird schließlich noch seine letzte Monographie „Kann die Demokratie überleben?“ in den Blick genommen. Hier wird die Untersuchung um die Fragestellung erweitert, inwieweit Brechts Demokratietheorie seinem Wissenschaftsbegriff standhalten kann.
a) „Politische Theorie“ (1961; amerik. 1959): Gerechtigkeit, Anthropologie und das Problem einer normativen Wissenschaft Es ist nicht einfach, eine angemessene Kategorie zu finden, mittels derer sich die „Politische Theorie“ Arnold Brechts396 zutreffend beschreiben und einordnen ließe. 395
Brecht, Kraft, S. 388. Materialgrundlage dieser Arbeit ist die erste deutsche Auflage der „Political Theory“ (vgl. die Brecht-Bibliographie im Anhang der Arbeit). Die Verwendung der deutschen Ausgabe und nicht der amerikanischen Originalausgabe ist insofern zu rechtfertigen, als Brecht sie – zusammen mit Irmgard Kutscher – selbst übersetzt hat. Der Vorschlag, Irmgard Kutscher als Übersetzerin hinzuzuziehen, geht auf Theodor Eschenburg zurück; vgl. Theodor Eschenburg an Arnold Brecht, Tübingen, 12. 1. 1960, BAK, NLB, N 1089/17. Über die sich mitunter als schwierig gestaltende Übersetzungsarbeit schreibt Brecht an Theodor Heuss: „Die beiden Sprachen sind so verschieden, dass es mich immer wieder erstaunt. Man merkt das erst so recht, wenn man ein eigenes Werk hin- oder herübersetzt.“ Arnold Brecht an Theodor Heuss, New York, 26. 1. 1960, BAK, NLH, N 1221/224. Bei Irmgard Kutscher bedankte er sich nach vollendeter Arbeit für die „grosse Muehe“, die sie auf sich genommen habe – nicht zuletzt auch deshalb, weil er davon ausgeht, daß ihr Mann im Laufe der Übersetzungsarbeit einen gewissen Groll gegen ihn gehegt haben muß: „Kein Mann mag gern, wenn sich seine Frau so lange und 396
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
Im Vorwort zur ersten amerikanischen Ausgabe, im Jahre 1959, bemerkt Brecht zur Zielsetzung seines Buches: „Es gibt noch keine umfassende Abhandlung, die einen jungen Forscher, der sich ernstlich dem wissenschaftlichen Studium der Politik widmen will, mit der fundamentalen Wendung der politischen Theorie am Anfang dieses Jahrhunderts systematisch und historisch-genetisch vertraut macht, ihn in die theoretischen und philosophischen Probleme, um die es sich dabei handelt, mit zureichender Klarheit und Tiefe einweiht und es ihm so ermöglicht, das, was heute in der politischen Theorie vor sich geht, in seinen positiven und negativen Auswirkungen voll zu verstehen. Es ist dieses Bandes erstes, zugleich bescheidenes und hochgestecktes Ziel, ein solcher Führer zu sein.“397
Der Intention des Autors nach handelt es sich bei seiner „Politischen Theorie“ also um ein Einführungs- und Überblickswerk zur Politikwissenschaft, genauer: zur „politischen Theorie“. Diese Kategorisierung legt auch der Untertitel des Werks nah: „Die Grundlagen politischen Denkens im 20. Jahrhundert“. Und trotzdem will Brecht seine „Politische Theorie“ nicht als gewöhnliches Lehrbuch verstanden wissen. Die Spezifik seiner Vorgehensweise sieht er vielmehr darin, daß er verschiedenste Problem- und Fragestellungen der Sozialwissenschaften miteinander zu verbinden suche. Zu jenen sozialwissenschaftlichen Themenfeldern zählt er „wissenschaftliche Methoden“, politische Werte und Relativismus, Rechtsphilosophie und „politische Theorie“, „die philosophischen Grundlagen der Wissenschaft“ und „die wissenschaftlichen Grundlagen der Philosophie“.398 Zu jedem dieser Themen existierten gesonderte Einzeluntersuchungen, aber, so Brecht, „es gibt innerhalb keiner der sozialwissenschaftlichen Disziplinen ein Buch, das alle diese innerlich miteinander verknüpften Probleme und Sichten sozusagen auf der gleichen Ebene behandelt, jedem volle Aufmerksamkeit widmet und dem Ganzen eine in sich einheitliche und konsequente Darstellung gibt. Für ein solches Buch besteht, glaube ich, ein Bedürfnis.“399 intensiv mit den Gedanken anderer Maenner befasst, wie diese Arbeit Sie zwang es zu tun […].“ Daß Brecht – was für seine Generation allerdings nicht überraschend ist – einen nur wenig emanzipierten Blick auf die Frauen hatte, zeigt sich auch in seiner folgenden Bemerkung: „Mir als Mann scheint es, dass nur die Hingabe der Frau an die Arbeit und das Lebenswerk des Mannes eine natürliche Überwindung der Öden und Sinnlosigkeiten gewährt, wenn sich die Frau nicht eine eigene, selbständige Aufgabe schafft und für sie lebt.“ Arnold Brecht an Kurt von Fritz, New York, 11. 1. 1955, BAK, NLB, N 1089/19. Im Rückblick auf die Zusammenarbeit mit Irmgard Kutscher war er folgerichtig auch bemüht, das Heft in der Hand zu behalten und letztendlich vor allem sich selbst zu loben: „Oft muessen Sie sich gesagt haben, dass Ihre Uebersetzung doch viel richtiger sei als meine, oder jedenfalls um nichts schlechter, und mir sehr boese gewesen sein. Sie haben das tapfer heruntergeschluckt und mich gewaehren lassen. Dem verdanke ich, dass nun das Buch so einheitlich im Stil dasteht, als sei es von mir zuerst deutsch gedacht und geschrieben und nicht aus einer anderen Sprache – sei es noch so gut und richtig – uebersetzt.“ Arnold Brecht an Irmgard Kutscher, München, 5. 7. 1961, BAK, NLB, N 1089/21. 397 Brecht, PT, S. VIII. 398 Vgl. Brecht, PT, S. VIIIf. 399 Brecht, PT, S. IX.
3. Politische Theorie, Demokratie und Gerechtigkeit
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Eines der proklamierten Ziele der „Politischen Theorie“ besteht also darin, eine Forschungslücke zu schließen, die nach Auffassung Brechts auf zwei Ebenen zu verorten ist: „Was fehlt, ist nicht nur eine umfassende systematische Darstellung, sondern ebensosehr auch eine adäquate Beschreibung der jüngsten historischen Genesis des heutigen wissenschaftlichen Denkens über diese Fragen. Dies Buch sucht die genetische Lücke ebenso zu schließen wie die systematische.“400
Ein zweites Motiv für das Schreiben der „Politischen Theorie“ habe darin gelegen, „Kapitel für Kapitel das hinzuzufügen, was ich als Ergebnis fünfzigjähriger Arbeit, die etwa zu gleichen Teilen politischer Theorie und politischer Praxis gehört hat, zur Verbesserung theoretischen Denkens beizutragen mich fähig fühlte.“401
Ein weiteres Anliegen des Werks sei es außerdem, „auf einer so sorgfältig vorbereiteten Grundlage die Hauptprobleme der politischen Praxis im Lichte einer politischen Theorie, die ihre Orientierung gewonnen hat, methodisch zu erörtern“402. Der Zweck seiner „Politischen Theorie“ ist nach Brechts eigenem Bekunden also keineswegs auf theoretische Erörterungen bzw. auf „Fortschritte“ im theoretischen Denken beschränkt. Den zitierten Ausführungen Brechts ist vielmehr zu entnehmen, daß er, wenn er nicht gar eine Interdependenz zwischen „politischer Theorie“ und „politischer Praxis“ annimmt, so doch zumindest beide Teile als zusammengehörig betrachtet. Gleichwohl gehe es in seinem Werk nicht um die Auseinandersetzung mit politischen Einzelfragen: „Der vorliegende Band befaßt sich in erster Linie mit allgemeiner politischer Theorie unter Einschluß ihrer philosophischen und wissenschaftlichen Grundlagen, ihrer Methoden, ihres Gebrauches und Nutzens, ihrer Stärken und ihrer Schwächen und auch dessen, was man ihre Weisheit nennen könnte.“403 400
Brecht, PT, S. IX. Brecht, PT, S. IX. Warum er solch einen Beitrag als notwendig erachtet, begründet Brecht mit der lapidaren Feststellung, daß „Mangel an Klarheit und Konsequenz ein schleichendes Übel in der zeitgenössischen politischen Theorie“ sei, vgl. ebd. 402 Brecht, PT, S. X. 403 Brecht, PT, S. X. Für die Erörterung politischer Einzelprobleme plante Brecht einen zweiten Band, dessen Entwurf im Appendix seiner „Politischen Theorie“ (S. 597 ff) bereits enthalten war, aber nicht umgesetzt wurde. Der zweite Band sollte nach ursprünglichem Plan vier Teile umfassen, die sich den folgenden Themen widmen: „Die rivalisierenden Staats- und Regierungsformen“; „Macht, Recht, Ziele, Methoden“; „Organisation und Verwaltung“; „Souveränität und internationale Organisation“. Vgl. ebd., S. 597 ff. Schon kurz nach Erscheinen der „Political Theory“ kamen Brecht Zweifel, ob er den zweiten Band tatsächlich verwirklichen will. Theodor Heuss erklärt er, daß er sich noch nicht entschieden habe, ob er statt des zweiten Bandes nicht lieber „eine wissenschaftliche Verfassungsgeschichte der Menschheit“ oder aber Memoiren schreiben solle. (Arnold Brecht an Theodor Heuss, New York, 29. 12. 1959, BAK, NLH, N 1221/224.) Daß seine Wahl schließlich auf die Memoiren fiel, erklärt er im Vorwort seiner Autobiographie damit, daß für seine eigenen Erinnerungen nur er selbst als 401
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
Im Vordergrund seiner Betrachtung steht das Wissenschaftsverständnis in der politischen Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Neben der wissenschaftsgeschichtlichen und -theoretischen Deskription jenes Themenfeldes entwickelt Brecht im Laufe seines Buches, ohne dies zu beabsichtigen oder zumindest ohne diese Absicht explizit zu machen, eine eigene „politische Theorie“, deren wissenschaftstheoretische Präferenzen – zumindest dem Anspruch nach – auf dem Gebot des „wissenschaftlichen Wertrelativismus“ fußen. Die wissenschaftliche Wertfreiheit und der ihr zugrundeliegende Wissenschaftsbegriff ist somit nicht nur („objektiver“) Gegenstand der Erörterungen Brechts, sondern zugleich Ausdruck seiner eigenen wissenschaftstheoretischen Position, seines („subjektiven“) Verständnisses von Wissenschaft. Die „Politische Theorie“ umfaßt vier Teile. Deren jeweilige Konzeption und inhaltliche Ausrichtung deutet Brecht bereits in den Überschriften an: „Systematisch“ (Teil I), „Genetisch“ (Teil II), „Polemisch“ (Teil III) und „An der Grenze der Metaphysik“ (Teil IV). Im ersten, dem Umfang nach stärksten Teil entwickelt Brecht als thematische Grundlage und Ausgangsbasis die „Theorie“ der von ihm so bezeichneten „wissenschaftlichen Methode“. Es handelt sich hierbei um einen Abriß der empirischlogischen Methode, nach der, wie Brecht zusammenfaßt, „die charakteristischen Werkzeuge der Wissenschaft qua Wissenschaft Beobachtung von Tatsachen, Messungen und logisches Denken sind“404. Die „wissenschaftliche Methode“ dient Brecht nicht nur als Kriterium von Wissenschaftlichkeit, sondern sie ist wesentlicher Bestandteil dessen, was nach seiner Auffassung Wissenschaft ausmacht. Als „Kehrseite“ jener Methode erscheint ihm der „wissenschaftliche Wertrelativismus“, also eine wertfreie Wissenschaft, die den Anspruch auf die Beweisbarkeit von „letzten“, „höchsten“, „absoluten“ Werten oder Wertmaßstäben aufgibt und das Ideal einer größtmöglichen Objektivität anstrebt. Im Rekurs auf die entsprechenden philosophischen und politischen Denkströmungen beschreibt Brecht im zweiten Teil seiner „Politischen Theorie“ die geschichtliche Vorbereitung – die „historische Genesis“ – und moderne Ausprägung des wissenschaftlichen Wertrelativismus.
Autor in Frage komme, was für die anderen beiden Vorhaben jedoch nicht gelte, insbesondere nicht für den zweiten Band der „Politischen Theorie“: „Aber der zweite (spezielle) Band ist in solchem Maße durch den ersten vorgezeichnet, daß ein tüchtiger Meister der politischen Wissenschaft, der sich an die Grundsätze und Richtlinien des ersten zu halten gewillt ist, den zweiten im gleichen Geiste hervorbringen kann.“ Brecht, Nähe, S. 7. Es ist davon auszugehen, daß Brecht das ernst gemeint hat – ein Umstand, den sein Verleger Georg Siebeck bedauert haben wird. Denn während Siebeck bekundete, auf den zweiten Band der „Politischen Theorie“ „sehnsüchtig“ zu warten, lehnte er nach Durchsicht der Manuskripte die Veröffentlichung der Memoiren Brechts in seinem Verlag ab. Vgl. Georg Siebeck an Arnold Brecht, Tübingen, 9. 7. 1963, BAK, NLB, N 1089/26. 404 Brecht, PT, S. 3.
3. Politische Theorie, Demokratie und Gerechtigkeit
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Der dritte Teil setzt sich mit der „Revolte“ gegen den wissenschaftlichen Wertrelativismus auseinander, mit Versuchen also, „Wertungen wissenschaftliche Stringenz zu verleihen“405 – verklausuliert als methodologischen Einwand gegen den wissenschaftlichen Wertrelativismus oder, in direkterer Form, als Deklaration der wissenschaftlichen Beweisbarkeit von politischen Spitzenwerten.406 Im vierten und letzten Teil sucht Brecht die systematische Behandlung seiner Themen auf anderer Ebene wieder aufzunehmen. Im Vorwort seiner „Politischen Theorie“ beschreibt er es als eine der Aufgaben seines Buches, „Ziele und Werte wieder, wie in alter Zeit, in den Mittelpunkt der politischen Theorie zu stellen, sie aber, anders als in früheren Jahrhunderten, wissenschaftlich unzweideutig mit wissenschaftlichen Mitteln zu behandeln“.407 Der letzte Teil des Buches kann als praktische Umsetzung eben jener Vorstellung verstanden werden, als Exemplifikation, wie Brecht „sich den Umgang des Wissenschaftlers mit den Werten praktisch vorstellt“408. Um die „Politische Theorie“ richtig verstehen und einordnen zu können, reicht es jedoch nicht aus, die wissenschaftstheoretischen Positionen Brechts zu reflektieren, da dem Werk darüber hinaus eine politische Ausgangsposition zugrunde liegt, deren Kenntnis sich als äußerst relevant für das Verständnis des Werks erweist: das Versagen der Wissenschaft gegenüber dem Totalitarismus. Unverkennbar wirkt das politische Erleben der NS-Zeit auch innerhalb der wissenschaftlichen Denkungsart Brechts nach. Die politische Erfahrung des Totalitarismus hat sein Wissenschaftsverständnis nicht nur – unvermeidbar – entscheidend mitgeprägt, sondern sie ist Ausgangspunkt all seines wissenschaftlichen Denkens: Der seit dem Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert sich durchsetzende wissenschaftliche Wertrelativismus machte die wissenschaftliche Verifizierbarkeit absoluter Werte unmöglich. Für Brecht bedeutet das, daß der Totalitarismus wissenschaftlich, also mit den Mitteln der „wissenschaftlichen Methode“, nicht widerlegbar war – genauso wie er dessen Doktrinen nicht beweisen konnte. Nach seiner Einschätzung hinterließ diese Neujustierung der Wissenschaft, infolge derer ein politisches oder ethisches Urteil zu fällen und damit eine wissenschaftliche Stütze für klare, „prinzipielle“ Wertorientierungen zu sein sie nicht mehr imstande war, ein „wissenschaftliche[s] Vakuum“409. Eine bedingungslose Verurteilung totalitärer Systeme sei der Wissenschaft, wollte sie wissenschaftlich bleiben, mithin nicht 405 So die Zusammenfassung in der Rezension von Adrian Braunbehrens. Vgl. ders., RezPT, S. 228. (Alle im folgenden zitierten Rezensionen zur „Politischen Theorie“ werden mit „Rez-PT“ abgekürzt. Die vollständigen Angaben sind in der Brecht-Bibliographie im Anhang der Arbeit zu finden.) 406 Zu solchen Werten zählt Brecht u. a.: Gleichheit, Freiheit, „Gottes Wille“, Natur, Demokratie, Glück, Gesellschaft, Nation, Macht und Kultur. Vgl. Brecht, PT, S. 364 f. 407 Brecht, PT, S. XIV. 408 So die Zusammenfassung in der Rezension von Waldemar Besson, Rez-PT, S. 1001. 409 Brecht, PT, S. 6.
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möglich gewesen. Das aber heißt, wie Brecht betont, daß die Wissenschaft nicht fähig war, „die westliche Kultur durch den Hinweis auf grundlegende moralische Prinzipien zu verteidigen“410. Brecht erkennt hier, in der Unfähigkeit, für ein Wertesystem wissenschaftliche Autorität zu beanspruchen, einen „tragischen Riß zwischen Wissenschaft und Moral“ und damit einhergehend eine „Krise der politischen Theorie“411 des 20. Jahrhunderts, mehr noch: eine für die politische Wissenschaft so ernste „Tragödie“, „wie es je eine in der Geschichte der Wissenschaft gegeben hat“412. Diese Überlegungen kulminieren in der für seine Zeit nicht ungewöhnlichen Überzeugung, „daß der Relativismus ein ideeller Vorläufer des Totalitarismus und die Basis für die Tragödie der Politikwissenschaft sei“413. So führt Brecht aus: „Die eigentliche Krise in der wissenschaftlichen Theorie des Westens darf also nicht erst in dem Auftauchen totalitärer Ideologien gesehen werden, sondern sie war schon etwa zwanzig Jahre vorher eingetreten, nämlich mit dem Aufkommen der theoretischen Auffassung, daß zwischen letzten Werten keine wissenschaftliche Wahl getroffen werden kann.“414
An dieser Stelle sei bereits vorweggenommen, daß Brecht den Wertrelativismus trotzdem nicht als unbrauchbar verwirft, sondern auf dessen Richtigkeit vertraut und ihn sogar als einzig „wahre“ Form der Wissenschaft deklariert. Hieraus resultiert auch die Besonderheit, die er der deutschen Ausgabe seiner „Politischen Theorie“ zuweist. Das Buch sei in Deutschland – „und nur in Deutschland“, wie Brecht betont – einer „sonderbaren Gefahr“ ausgesetzt: „[…] daß nämlich mein ungeschminktes Zurückgreifen auf gewisse Grundsätze der Relativität in der wissenschaftlichen Behandlung politischer Ziele und Werte […] nicht verstanden wird – wie man es in Amerika verstanden hat – als das Ergebnis schweren wis-
410
Brecht, PT, S. 7. Brecht, PT, S. 8. 412 Brecht, PT, S. 7. Interessanterweise verwendet Gerhard Schulz zwei Jahre später eine fast wortgleiche Formulierung, um die Auswirkungen der NS-Zeit auf das politische Denken zu beschreiben – freilich ohne sich dabei auf Brecht zu beziehen. So spricht er von einer durch den Totalitarismus eingetretenen „Tragödie des politischen Denkens“ und einer „Tragödie der Moral“. Vgl. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, S. 608. Daß die notwendige Verarbeitung der NS-Zeit nicht nur Folgen für das politische Handeln, sondern zwangsläufig auch für das politische Denken hat, brachte Hannah Arendt kurz nach Kriegsende am deutlichsten auf den Punkt: „Denn der systematische Massenmord, der die reale Konsequenz aller Rassentheorien und aller Ideologien von dem ,Recht des Stärkeren‘ in unserer Zeit ist, sprengt nicht nur die Vorstellungskapazität des Menschen, sondern auch den Rahmen der Kategorien, in welchen politisches Denken und politisches Handeln sich vollziehen.“ Das Begreifen, „wessen alles der Mensch fähig ist“, sei nunmehr „eine Vorbedingung modernen politischen Denkens“. Arendt, Organisierte Schuld, S. 228 und 235. 413 Bluhm, Harald: Die Ordnung der Ordnung. Das politische Philosophieren von Leo Strauss, Berlin 2002, S. 202. 414 Brecht, PT, S. 9. 411
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senschaftlichen Ringens mit den noch ungelösten Problemen, sondern als das anachronistische ,Zurückgebliebensein eines Emigranten hinter der neueren Entwicklung‘ […].“415
Diese Bemerkung wurde bereits aus der Perspektive der Emigrationsgeschichte Brechts kontextualisiert und bewertet. Doch die Art und Weise, wie Brecht zu diesem Vorwurf Stellung nimmt, ist nicht nur hinsichtlich seiner biographischen Verarbeitung und politischen Verortung von Belang, sondern sie erhellt auch die Bedeutung seines Wissenschaftsbegriffs: „Ich will nur soviel dazu sagen, daß jemand eine Theorie, statt sie sachlich zu widerlegen, mit biographischen Erklärungen abzutun versucht, als Wissenschaftler versagt, ganz abgesehen davon, daß meine Erlebnisse mich doch genau wie meine deutschen Kollegen […] gerade dahin beeinflussen mußten – und auch beeinflußt haben –, nach größerem Schutz der Menschenrechte zu suchen.416 Auch sollten solche Kritiker nicht vergessen zu erwähnen, […] daß ich ferner außerhalb der reinen Wissenschaft jeden Wertrelativismus als zwingende Lehre ablehne, und zwar nicht nur für die Religion und die Philosophie, sondern auch für die Jurisprudenz […].“417
Die Kenntnis dieser Überlegungen Brechts, die seiner „Politischen Theorie“ und damit seinem Wissenschaftsverständnis gleichsam vorgeordnet sind, ist notwendig,
415
Brecht, PT, S. XIV. In der Tat reflektierte Brecht diese Zusammenhänge nicht nur wissenschaftlich, sondern versuchte auch, auf die Politik Einfluß zu nehmen. Als die ersten Verfassungsentwürfe im Parlamentarischen Rat diskutiert wurden, schrieb er an Konrad Adenauer: „In den bisherigen Verfassungsentwürfen habe ich Mindestbedingungen menschlicher Rechte vermißt, die sebst [sic!] in Notständen und durch Verfassungsänderung nicht beseitigt werden können. […] Solche Klausel würde in der Welt einen grossen Eindruck machen, und einen wirklichen Fortschritt in der Verfassungstechnik bedeuten.“ Arnold Brecht an Konrad Adenauer, 11. 10. 1948 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/15. An Theodor Heuss richtete Brecht wenige Tage später dieselben Worte (vgl. Arnold Brecht an Theodor Heuss, New York, 23. 10. 1948, BAK, NLH, N 1221/74). Beiden Briefen hatte Brecht eine von ihm verfaßte Skizze zu diesen Fragen beigefügt. Sie enthält die Forderung, jedem Menschen „das Mindestmass von Recht und Gerechtigkeit“ zu garantieren, „auf das er als Mensch Anspruch hat“; dieses Menschenrecht müsse änderungsfest gemacht und dürfe auch in Notständen nicht aufgehoben werden. Als Heuss daraufhin etwas zögerlich reagierte, (vgl. Theodor Heuss an Arnold Brecht, StuttgartDegerloch, 15. 11. 1948, BAK, NLH, N 1221/74) beharrte Brecht erneut auf seinem Vorschlag, „änderungsfeste Mindestgrundsätze für die Behandlung rein präventiv festgenommener Häftlinge in Notständen durch die Bundesverfassung festzulegen“. Mit Blick auf die Weimarer Republik mahnt er: „Der Fehler der Weimarer Reichsverfassung, nicht solche Mindestgarantien diktatur- und änderungsfest zu machen, hat doch die ganze Tragödie überhaupt erst möglich gemacht, jedenfalls aber den Nazis das Spiel ungeheuer erleichtert. Nur die verfassungsmässige Aufstellung absoluter Mindestgrundsätze anständiger Behandlung kann dieses Loch stopfen, und dies muss in ganz konkreten Worten geschehen, denn sonst lassen sich ja diese Mindestgrundsätze wieder weginterpretieren.“ Die Aufnahme einer solchen Klausel „würde ein grosses Beispiel für alle künftige Verfassungsgebung in der Welt sein, und direkt einen grossen Eindruck von der Ernsthaftigkeit des deutschen Freiheitswillens und der Bekämpfung von Tyrannei und Terror überall in der Welt machen“. Arnold Brecht an Theodor Heuss, New York, 3. 1. 1949, BAK, NLH, N 1221/74. 417 Brecht, PT, S. XIVf. 416
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um seinen Wissenschaftsbegriff zu verstehen – ebenso wie sein Scheitern daran. Dies detailliert zu erörtern, soll Gegenstand der folgenden Unterkapitel sein. aa) Was ist Wissenschaft? Der erste Teil der „Politischen Theorie“ führt bereits ins Zentrum der Fragestellung. Hier stehen, wie Alfons Söllner bemerkt, „einfache, aber auch wuchtige Fragen: Was Wissenschaft überhaupt ist, wodurch sie sich von allen anderen Formen der Welterkenntnis unterscheidet und was ihr spezifisches Wesen definiert“418. Zur Beantwortung dieser Fragen greift Brecht auf seine „Theorie der wissenschaftlichen Methode“ zurück. Der Terminus fungiert für ihn nicht nur im weitesten Sinne als Abgrenzung gegenüber jenen Methoden, die als „nichtwissenschaftlich“ gelten (wobei hier vorerst ungeklärt ist, nach welchen Kriterien Wissenschaftlichkeit sich bemißt), sondern auch als Ausdruck eines bestimmten „Typus“ von Methode: Sie sei „die einzige Methode […], die den Anspruch erheben kann, wissenschaftlich zu sein“419. Das bedeutet, „daß alle Ideen, einerlei, ob sie ihrem Ursprung nach zufällig, mechanisch oder schöpferisch sind, schließlich den Prozeß der wissenschaftlichen Methode durchmachen müssen, um ein solider Teil der Wissenschaft zu werden; bis dahin besitzen sie bestenfalls vorbereitenden Charakter“.420
Als „,wissenschaftliche Akte‘, ,wissenschaftliche Operationen‘ oder ,Schritte des wissenschaftlichen Verfahrens‘“421 innerhalb der wissenschaftlichen Methode gibt Brecht folgende zehn Punkte an: „1. Beobachtung, 2. Beschreibung, 3. Messung, 4. Akzeptierung/Nicht-Akzeptierung der Ergebnisse als Tatsachen, 5. Induktive Generalisierung, 6. Erklärungsversuch (,theoretische Hypothese‘), 7. Logische Deduktion, 8. Nachprüfung, 9. Korrektur, 10. Voraussage.“422
418
Söllner, Alfons: Zwischen Wissen und Glauben? – Ein Versuch über Arnold Brechts „Politische Theorie“, in: Krohn, Claus-Dieter/Unger, Corinna R. (Hg.), Arnold Brecht, 1884 – 1977. Demokratischer Beamter und politischer Wissenschaftler in Berlin und New York, Stuttgart 2006, S. 197 – 212 (199). 419 Brecht, PT, S. 29. 420 Brecht, PT, S. 34. Kursive Hervorhebung im Original durch andere Schriftart hervorgehoben; Brecht wendet diese Form der Hervorhebung zur Bezeichnung der „wissenschaftlichen Methode“ in dem von ihm gemeinten Sinn in seinem gesamten Buch durchgängig an. Da die Arbeit lediglich Bezugnahmen auf Brechts Definition der „wissenschaftlichen Methode“ enthält – bzw. andernfalls eine andere Terminologie verwendet –, wird auf die Übernahme seiner Schreibweise verzichtet. Zur besseren Lesbarkeit sollen im folgenden auch die Anführungszeichen um den Ausdruck „wissenschaftliche Methode“ entfallen. 421 Brecht, PT, S. 30. 422 Vgl. Brecht, PT, S. 31 f (Zusammenstellung der von Brecht verwendeten Überschriften von mir, H.B.).
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Brechts wissenschaftliche Methode zeigt somit eine innere Verwandtschaft zu jener wissenschaftstheoretischen Strömung auf, die sich mit dem logischen Empirismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchzusetzen begann und in ihren wesentlichen Zügen wie dem der wissenschaftlichen Wertfreiheit, der Intersubjektivität und Überprüfbarkeit wissenschaftlicher Forschung bis heute nicht nur Geltungskraft besitzt, sondern mehrheitlich als Kriterium von Wissenschaftlichkeit fungiert.423 Der argumentative Aufbau seiner Erörterungen enthält gleichwohl eine besondere Nuance, die den inneren Kern seiner Gedankenführung bereits im Methodik-Kapitel erkennen läßt und deutlich macht, daß seine wissenschaftliche Methode und aus ihr folgend sein Wissenschaftsbegriff mit dem Hinweis auf den logischen Empirismus keineswegs hinreichend beschrieben ist: In der Reflexion auf den Prozeß empirischer Beobachtung thematisiert Brecht nicht nur den gleichsam definitorischen Rahmen dessen, was Wissenschaft in seinem Sinn erst möglich macht, sondern er verweist auch auf die Grenzen von Wissenschaft. „Jede empirische Beobachtung“ unterliege „zunächst einmal der Kritik ihrer Genauigkeit“. Das heißt für ihn: „Der Wissenschaftler kann sie als genau akzeptieren oder nicht.“424 Mit dieser Aussage, die fast schon Züge eines Axioms trägt, wird das Problem der „Standortgebundenheit“ wissenschaftlicher Forschung in das Zentrum der Betrachtung gerückt. Sie zielt auf die Interdependenz zwischen Wissenschaft und dem Wissenschaftler selbst, auf die Abhängigkeit wissenschaftlicher Ergebnisse von demjenigen, der Wissenschaft betreibt. Es geht, mit anderen Worten, um nichts anderes als um die Relativität von Wissenschaft, in diesem Fall von empirischer Beobachtung. Bei empirischen Beobachtungen handelt es sich nach Brecht immer um „Beobachtungen durch eine bestimmte Person, und zwar nur durch eine einzige“425. Daraus aber folgt, daß der Prozeß des Beobachtens und infolgedessen das vorgewiesene Ergebnis der Beobachtung relativ sind: „Andere können ähnliche Beobachtungen machen, jedoch niemals identische, weil sich die Worte ICH und HIER immer auf verschiedene Personen und Orte beziehen.“426 Die Intersubjektivität der Forschung kann unter Berücksichtigung dieser Relativierung somit nicht gewährleistet werden. Brecht versucht dieses Problem zu lösen, indem er auf die Konstruktion eines „immanenten methodologischen Apriori“427 innerhalb der wissenschaftlichen Methode verweist. Dies ist als eine der wissen423
Erstaunlich ist, daß Brecht an keiner Stelle seines Buches – mit Ausnahme zweier Literaturverweises in der Bibliographie im Anhang (vgl. Brecht, PT, S. 616 und 668) – explizite Bezüge zu Karl R. Popper herstellt, obwohl es in einigen Punkten deutlich an ihn erinnert (dies gilt besonders für den sechsten Abschnitt des ersten und für einige Abschnitte des zweiten Kapitels, vgl. Brecht, PT, S. 63 ff und 108 ff). Vgl. Popper, Karl R.: Logik der Forschung (1934), 6. Aufl., Tübingen 1976. 424 Brecht, PT, S. 37. 425 Brecht, PT, S. 36. 426 Brecht, PT, S. 35. 427 Brecht, PT, S. 612 u. a.
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schaftlichen Forschung vorgeordnete Grundannahme zu verstehen, die keine normative Zuschreibung, sondern eine Art konsensuales Zugeständnis darstellt, das notwendig ist, damit Wissenschaft im Sinne der wissenschaftlichen Methode funktionieren kann. Hierzu dient ihm der von William Ernest Hocking entlehnte Begriff der „Konsubjektivität“428 : „Wenn auch die Beobachtungen von zwei oder mehreren Personen niemals identisch sind, so kann natürlich das beobachtete ,Was‘ das gleiche sein, vorausgesetzt, daß den verschiedenen ,Gesichtswinkeln‘ und ,Perspektiven‘ gebührend Rechnung getragen wird. Indem wir aber die Identität des von mehreren Personen beobachteten Objekts (des ,Was‘) annehmen, akzeptieren wir bereits eine grundlegende Voraussetzung: nämlich die Richtigkeit der dem ,natürlichen Menschenverstand‘ (common sense) so selbstverständlich erscheinenden Annahme, daß das gleiche Ding oft bei verschiedenen Menschen parallele Eindrücke hervorruft und daß es also eine breite Sphäre der ,Konsubjektivität‘ […] gibt.“429
Insofern besteht ein notwendiger Zusammenhang zwischen Wissenschaft und dem, was Brecht als „natürlichen Menschenverstand“ bezeichnet: „Indem sie dem Wissenschaftler gestattet, Konsubjektivität zu akzeptieren, macht die wissenschaftliche Methode ihr erstes und größtes Zugeständnis an den ,natürlichen Menschenverstand‘. Denn sie ist nicht in der Lage, durch die formalen Schritte ihres eigenen Verfahrens die Konsubjektivität zu beweisen. Sie setzt sie voraus oder vielmehr gestattet dem Wissenschaftler, sie zu akzeptieren.“430
Aus dieser angenommenen „Konsubjektivität“ folgt jedoch nicht, daß auf wissenschaftliche Ergebnisse ein absoluter Wahrheitsanspruch erhoben werden darf. „Konsubjektivität“ stellt die Grundlage dar für das weitere wissenschaftliche Verfahren, nach dem es dem Wissenschaftler obliegt, das subjektiv Beobachtete als „wirkliche“, objektive Tatsache zu akzeptieren oder nicht. Der Willkür des Wissenschaftlers ist hierbei insofern eine Grenze gesetzt, als er die Regeln der wissenschaftlichen Methoden strengstens einzuhalten verpflichtet ist – und das bedeutet auch, daß er seine Ergebnisse nicht als endgültig betrachten darf: „Innerhalb dieser Methode ist jede Akzeptierung angeblicher Tatsachen […] immer nur als ,vorläufig‘ oder bis ,auf weiteres‘ zu verstehen.“ Hierin liege einer der „Unterschiede zwischen Glauben und Wissenschaft, da der Glaube als endgültig und unwiderruflich gemeint sein kann“.431 An dieser Stelle kann man bereits auf eine weitere Grenzziehung gegenüber der Wissenschaft hinweisen: ihre (nach Brecht nur scheinbare) Unfähigkeit, zu Fragen des Glaubens und der Religion Stellung zu beziehen.432 Aus dieser Relativität und begrenzten Möglichkeit von Wissenschaft ergibt sich, daß auch einige der oben zitierten „Schritte des wissenschaftlichen Verfahrens“, wie 428 Vgl. Hocking, William Ernest: The Coming World Civilization, London 1958 (New York 1956), S. 26 ff u. a. 429 Brecht, PT, S. 36 f. 430 Brecht, PT, S. 37. 431 Brecht, PT, S. 58. 432 Vgl. dazu Brecht, PT, S. 58 und ausführlich Kapitel II.3.a)cc).
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jener der „induktiven Generalisierung“, des „Erklärungsversuchs“ und der „Voraussage“, nur vorläufigen, „hypothetischen“ Charakter haben. Brecht bezeichnet diese nach dem „Prinzip der Kausalität“433 getroffenen Aussagen als „Arbeitshypothesen“ und versteht darunter „vorläufige Propositionen, die wissenschaftlich nicht förmlich akzeptiert sind und es vielleicht auch nie werden, die aber einer wissenschaftlichen Untersuchung als nützliche Werkzeuge dienen sollen“.434 Die Bildung von Arbeitshypothesen vollziehe sich unter Zuhilfenahme der Konstruktion von „Typen“ und „Modellen“. Besonders Brechts Erörterung der zuerst genannten Kategorie erweist sich bei näherer Betrachtung als sehr erhellend für sein Wissenschaftsverständnis. So hält er zur Charakterisierung der Funktion von Typen-Bildung fest: „Wir dürfen nur nie vergessen, daß die Konstruktion von Typen zunächst nichts weiter ist als die Konstruktion einer Arbeitshypothese und wie jede andere solche Konstruktion von zweifelhaftem Wert, bis ihr Realismus bewiesen ist […]. Auch kann nicht genug betont werden, daß jede Typisierung einen rein beschreibenden Charakter hat; sie kann die Tatsachen, die sie an den Tag bringt, oder deren Folgen nicht erklären, wenn sie auch dazu benutzt oder mißbraucht werden kann. Endlich sagt sie uns nicht, was in der Sache selbst getan werden kann oder sollte.“435
Deutlich zeigen sich hier nicht nur Parallelen zum Falsifikationsprinzip Poppers436, sondern auch zur Wissenschaftslehre Max Webers437: Es geht um die Eingrenzung dessen, was mit den Mitteln der Wissenschaft überhaupt machbar ist, es geht darum, auf die Unmöglichkeit hinzuweisen, Werte und Wertungen wissenschaftlich zu beweisen.
433 Das Prinzip der Kausalität stellt für Brecht eine der Grundlagen für seine wissenschaftliche Methode dar. Trotz der Erkenntnisse der Quantenphysik, in deren Folge das Verhältnis von Ursache und Wirkung, also das Kausalitätsprinzip hinterfragt wurde (vgl. dazu Brecht, PT, S. 89 ff), hält Brecht für seinen Wissenschaftsbegriff an der Kausalbeziehung fest – nur eben mit der wichtigen Einschränkung des als vorläufig angenommenen Charakters der aus ihr gewonnenen Aussagen, vgl. Brecht, PT, S. 93 f. 434 Brecht, PT, S. 126. 435 Brecht, PT, S. 131 f. 436 Vgl. Popper, Logik der Forschung, S. 47 ff. Diese Parallelisierung würde Brecht allerdings vermutlich selber in Zweifel ziehen. So äußert er sich in einem Brief an Carl Friedrich von Weizsäcker sehr skeptisch: „Nicht aus einem eitlen Wahn des Besserwissens sondern nur aus der Gemeinsamkeit des Forschens auf denselben Gebieten moechte ich Poppers Wahrheitskriterium, oder vielmehr Wissenschaftskriterium, der Falsifizierbarkeit eines Satzes mit einem Fragezeichen versehen. Wenn man auch sagen kann, dass ein Satz, der nicht falsifizierbar ist, keinen wissenschaftlich brauchbaren Charakter hat, so ist doch umgekehrt offenbar nicht jeder Satz, der falsifizierbar ist, deshalb ein wissenschaftlicher Satz. Dann waeren die duemmsten Saetze wissenschaftlich.“ Arnold Brecht an Carl Friedrich von Weizsäcker, 1. 4. 1975 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/27. 437 Vgl. dazu Kapitel II.3.a)bb).
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
Wissenschaft und die verschiedenen Formen des Wissens438 Brecht macht in seiner „Politischen Theorie“ darauf aufmerksam, daß Wissenschaft nicht nur Wissenschaftlichkeit bedeutet, sondern sich auch auf den Terminus „Wissen“ bezieht. Nach seiner Auffassung gibt es „verschiedene Grade der Übertragbarkeit unseres wirklichen oder vermeintlichen Wissens als Wissen“439. Er unterscheidet hierbei drei verschiedene Grundformen des Wissens: Scientia transmissibilis (S1 „Wissen, das als Wissen intersubjektiv transmissibel ist“); Scientia (sive vera sive putativa) non transmissibilis (S2 „Wirkliches oder vermeintliches Wissen, das nicht intersubjektiv transmissibel ist“) und Scientia mere sepeculativa (S3 „Bloße Spekulationen, die nicht als Wissen in Anspruch genommen werden“).440 Die wissenschaftliche Methode sei der ersten Kategorie (S1) des Wissens zuzuordnen. In seinen Augen liegt eben hierin ihre Besonderheit und, da es „im großen und ganzen“ außerhalb dieser Methode kein „intersubjektiv transmissibles Wissen“ gebe, auch ihre Legitimität, einen ausschließlichen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu erheben.441 Durch ihren Verzicht auf absolute Werturteile gewährleiste sie jene Objektivität, die für die intersubjektive Übertragbarkeit von Wissen notwendig sei442: „Sie liefert Wissen, das von Person zu Person als Wissen übertragen werden kann […]. Wissen als Wissen übertragen (transmittieren) ist mehr als nur meine Behauptung mitteilen, daß ich solches Wissen habe, mit oder ohne Hinzufügen, wie ich dazu gekommen bin. […] 438 Der folgende Abschnitt nimmt neben der „Politischen Theorie“ auch Bezug auf einen späteren Text Brechts, der in der Festschrift für Eric Voegelin im Jahre 1962 erschienen ist und einige Ergänzungen zu der hier diskutierten Thematik enthält: Brecht, Tröstungen (siehe Brecht-Bibliographie im Anhang). Zu Brechts Beitrag in seiner Festschrift bekennt Voegelin in einem Brief an Brecht: „Ich bin ganz besonders gerührt darüber, daß ein Mann wie Sie, der im Methodischen doch recht andere Meinungen vertritt, die Freundlichkeit hatte, an der Festschrift mitzuarbeiten. Lassen Sie mich Ihnen darum ganz besonders für diesen Beweis alter Freundschaft danken.“ Eric Voegelin an Arnold Brecht, München, 28. 6. 1962, BAK, NLB, N 1089/27. Brecht reichte dieses Dankesschreiben offensichtlich nicht aus; so notierte er am unteren Rand des Briefbogens: „Ich bot ihm doch eine Brücke an, dazu hätte er doch etwas sagen sollen.“ Vermutlich bezieht er sich dabei auf seine „faktische Anthropologie“ und Gerechtigkeitstheorie, die eine „Brücke“ zwischen wissenschaftlicher Wertfreiheit und wissenschaftlich begründeter Normativität zu schlagen versucht. (Vgl. dazu Kapitel II.3.a)cc).) Hannah Arendt, die die Mitherausgeberin der Festschrift für Voegelin war, hatte Brecht um einen Beitrag gebeten: „Und ich brauche Ihnen nicht zu versichern, wie sehr sich Herausgeber und Geburtstagskind freuen würden.“ Hannah Arendt an Arnold Brecht, New York, 4. 12. 1960, BAK, NLB, N 1089/28. 439 Brecht, Tröstungen, S. 53. 440 Vgl. Brecht, PT, S. 336 sowie ders., Tröstungen, S. 53. 441 Vgl. Brecht, PT, S. 134 ff. In einem späteren Kapitel schlägt Brecht allerdings vor, diese Wissenskategorie um die „Einbeziehung ,universaler und unentrinnbarer‘ Elemente menschlichen Daseins und Fühlens, soweit ihr Vorhandensein empirisch feststellbar ist, zu erweitern“ (ebd., S. 137). 442 Vgl. Brecht, PT, S. 336 f u. a.
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Aber diese Mitteilung überträgt unser subjektives Wissen nicht auf andere qua Wissen. Um das zu tun, ist mehr notwendig, und die wissenschaftliche Methode bietet gerade dieses Mehr, unabhängig von persönlichen Überzeugungen. Sie bietet eine Art Wissen, das sich von jeder Person, die es besitzt, auf jede andere Person übertragen läßt, die es nicht besitzt, aber den Sinn der in der Mitteilung benutzten Symbole (Worte, Zeichen) begreifen und gegebenenfalls die in dieser Mitteilung beschriebenen Operationen vornehmen kann.“443
Unter Wissen, das der zweiten Kategorie (S2) zuzuordnen ist, versteht Brecht „[p]rivates Wissen, das auf nicht verifizierbaren Beobachtungen beruht“444. Für ihn ist dies ein Wissen, das sich der „intersubjektiven Übertragbarkeit“ entzieht, da es auf einer Einsicht basiert, die nicht allgemein geteilt werden kann. Zu dieser Form des Wissens zählt Brecht zum Beispiel „Erinnerungen, für die es keine bestätigenden Beweise gibt“445. Folgt man seinen strengen Regeln der wissenschaftlichen Methode, kann diese Wissenskategorie somit nicht als „wissenschaftlich“ betrachtet werden.446 Ähnlich wie seine Definition der wissenschaftlichen Methode legt auch diese strikte Unterteilung der verschiedenen Wissensformen den Verdacht nahe, daß Brechts Konzeption von Wissenschaft Grundzüge des Szientismus in sich trägt. Eine solche Zuordnung erweist sich jedoch als falsch. Es ist nicht nur die Relativität der Wissenschaft und die Frage nach der Rolle der Religion, mittels derer Brecht auf die Grenzen von Wissenschaft verweist. Er macht seine Bedenken gegen starre Wissenschaftsgläubigkeit und gegen eine „Überschätzung der strengen Wissenschaft“447 vielmehr ohne Umschweife deutlich:
443
Brecht, PT, S. 135. Brecht, PT, S. 337. 445 Brecht, PT, S. 337. 446 Kurt von Fritz kommentiert diese Kategorisierung so: „Ganz wesentlich und wichtig scheint mir auch die Unterscheidung zwischen Transmissible und non-Transmissible knowledge […]. Nur würde ich statt Transmissible sagen: Transmissible without loss. Freilich würde sich dann, glaube ich zeigen, daß von political science nur ganz wenig zu dieser Kategorie gehört. Erkenntnis oder Wissen dieser Art ist fast vollständig einerseits auf die Mathematik andererseits auf facts without meaning beschränkt. Es scheint mir eines der … [Wort unleserlich] der im Westen vorherrschenden Philosophie zu sein, daß sie so sehr auf wissenschaftliche Sicherheit ausgeht, daß sie darüber Arten des Wissens und der Erkenntnis vernachlässigt, die nicht die Unbesiegbarkeit der Formel (a+b)2 = a2+b2 Ideen und doch nicht die Sicherheit der intermenschlichen Nachprüfbarkeit einer solchen Formel haben, die aber für das menschliche Leben viel wichtiger sind und die viel, wenn auch nicht vollständig, so doch bei zu einem recht beträchtlichen Grade auch von Mensch zu Mensch übertragen lassen.“ Kurt von Fritz an Arnold und Clara Brecht, München (o.D.), BAK, NLB, N 1089/19 (Satz- und Zeichenfehler im Original). Brecht antwortet daraufhin: „Ueber den Sinn, in dem ich das Wort von der ,transmissible‘ and [sic!] der ,non-transmissible knowledge‘ gebrauche, wird Dich weitere Durchsicht allmaehlich voll aufklaeren. Ich moechte hier nur sagen, dass, wenn etwas nur mit einem Verlust (loss) transmissibel ist, dann der Verlustteil eben nicht transmissibel ist, obwohl er fuer uns das Wesentliche enthalten mag.“ Arnold Brecht an Kurt von Fritz, New York, 9. 4. 1959, BAK, NLB, N 1089/19. 447 Brecht, Tröstungen, S. 58. 444
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„Durch ihre Betonung der Tatsache, daß Fortschritt nicht sicher und Wissenschaft kein Heilmittel für alle menschlichen Sorgen ist, leistet die Wissenschaft in Wirklichkeit schon einen außerordentlich wichtigen Beitrag. Denn dadurch zwingt sie uns, das oberflächliche Vertrauen auf die Wissenschaft aufzugeben und zu begreifen, daß unsere eigene Verantwortung, unser eigener Wille und unsere eigenen Entscheidungen unersetzliche Faktoren sind, wenn wir würdige Ziele wählen und unser eigenes Leben und das der Gesellschaft auf sie hinführen wollen. […] jedenfalls dürfen wir keinesfalls auf die Wissenschaft starren, als ob sie den Fortschritt verbürgen, letzte Ziele und Maßstäbe aufstellen und uns die Aufgabe abnehmen könnte, täglich und stündlich selbst moralische Entscheidungen zu treffen.“448
Es zeichnen sich in Brechts Wissenschaftsverständnis somit zwei Tendenzen ab: auf der einen Seite eine sehr eng gefaßte Definition von Wissenschaft bzw. Wissenschaftlichkeit und auf der anderen Seite die Betonung der Relevanz „außerwissenschaftlicher“ Bereiche. Das bedeutet, daß Brecht – jedenfalls seinem eigenen Anspruch nach – Ansätze und Ausrichtungen außerhalb der „strengen Wissenschaft“ nicht als weniger bedeutend oder gar als „falsch“ betrachtet, nur weil sie seinen Kriterien von „Wissenschaftlichkeit“ nicht entsprechen. Sie dürfen aus seiner Sicht nur nicht als „wissenschaftlich“ ausgegeben werden. Folgerichtig will er die Bedeutung der zweiten Wissenskategorie keineswegs mindern. So stellt er klar: „Ohne einen gehörigen Vorrat davon könnten wir als Menschen kaum leben, da der Strom der scientia transmissibilis auf so vielen wesentlichen Gebieten versiegt. Wir leben von der Individualität unseres Wissens. Es ist im allgemeinen durchaus möglich, dieses private Wissen ,mitzuteilen‘, indem wir es anderen erzählen […]. Aber diese Mitteilung transmittiert nicht unser eigenes (wirkliches oder vermeintliches) Wissen als Wissen auf andere […].“449
Und auch seine dritte Kategorie des Wissens (S3), innerhalb derer es um „rein spekulative Arten von Erkenntnisversuchen“450 wie zum Beispiel Spekulationen über das „Wesen Gottes“ geht, will er zwar an sich als „außerwissenschaftlich“, aber – auch für die Ausprägung und Ausrichtung von Wissenschaft und wissenschaftlicher Forschung – nicht als unbedeutend verstanden wissen, im Gegenteil, er weist ihr sogar eine wichtige Aufgabe im wissenschaftlichen Verfahren zu. So könnten Spekulationen „die Auswahl von Problemen und Forschungsmethoden der scientia transmissibilis beeinflussen und den Status einer wissenschaftlichen ,Arbeitshypothese‘ erreichen. Sie haben daher eine außerordentlich große Rolle in der Totalität des wissenschaftlichen Prozesses, wenn auch hauptsächlich nur als Hilfsschritte bei unseren Bemühungen, zu Wissen des ersten Grades zu gelangen.“451
Die strikte Trennung zwischen „Wissenschaft“ und „Nichtwissenschaft“ hat für Brecht auch einen gleichsam politischen Zweck. So betont er, daß „gerade die 448 449 450 451
Brecht, PT, S. 207. Brecht, PT, S. 337. Brecht, Tröstungen, S. 53. Brecht, PT, S. 337 f.
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aufrichtige Einhaltung der Grenzen der strengen Wissenschaft dazu führt, die Menschen auf ihre persönliche moralische Verantwortung hinzuweisen und vor kindischem Vertrauen auf die Wissenschaft zu bewahren“452. Unter Berücksichtigung dieser Zielvorstellung gewinnt der Ansatz Brechts, nach dem die verschiedenen Formen des Wissens in ihrer „gesamtgesellschaftlichen“ Relevanz als gleichrangig behandelt werden sollen, an Plausibilität.453 Wissenschaftlicher Wertrelativismus Als Grundlehren des wissenschaftlichen Wertrelativismus führt Brecht folgende Punkte an: „1. [Daß] die Frage, ob etwas ,wertvoll‘ ist, wissenschaftlich nur beantwortet werden kann unter Bezugnahme a) auf ein Ziel oder einen Zweck, zu deren Verfolgung es nützlich (wertvoll) ist oder nicht, oder b) auf Vorstellungen, Ideen oder Meinungen […], die ein Einzelner oder eine Gruppe von Personen darüber hat, was wertvoll oder nicht wertvoll ist; und daß es infolgedessen 2. unmöglich ist, wissenschaftlich festzustellen, welche Ziele und Zwecke ,wertvoll‘ sind, ohne Bezugnahme a) auf den Wert, den sie für die Verfolgung anderer Ziele und Zwecke haben, oder b) auf Vorstellungen, Ideen oder Meinungen, die jemand über erstrebenswerte – insbesondere ,mittelbar verfolgte‘ (ulterior) oder ,letzte‘ (ultimate) – Ziele und Zwecke hat.“454
Wissenschaft im Sinne der wissenschaftlichen Methode könne keine Ziele setzen, sie ermögliche uns nicht, „in absoluten Kategorien festzustellen, ob die von uns oder anderen verfolgten Zwecke gut oder böse, richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht sind“455. Allerdings, wie Brecht immer wieder betont, müsse der Vorbehalt gemacht werden, „daß die Wissenschaft große Dienste bei der Wahl letzter Werte leisten kann, indem sie den genauen ,Sinn‘ von Werturteilen und die Konsequenzen und Risiken, die ihre Verfolgung mit sich bringt, aufklären hilft“456. Ebenso führe die wissenschaftliche Methode und aus ihr folgend der wissenschaftliche Wertrelativismus nicht zu der Bestreitung absoluter Werte überhaupt, denn er behaupte nicht, „daß es keine absoluten Werte gibt; er sagt nur, es könne intersubjektiv weder bewiesen werden, daß es welche gibt, noch, daß es keine gibt“.457 452
Brecht, Tröstungen, S. 57. Daß die von Brecht vorgenommene strikte Einstufung bestimmter Bereiche als „nichtwissenschaftlich“ gleichwohl sehr problematisch und diskussionswürdig ist, zeigt sich z. B. darin, daß Brecht auch Erinnerungen als „scientia non transmissibilis“, also als „nichtwissenschaftlich“ beschreibt. Es stellt sich die Frage, ob Brechts Ausschließlichkeitsanspruch auf die wissenschaftliche Methode implizit nicht doch eine Wertminderung all jener Bereiche zur Folge hat, die mit ihr nicht erfaßt werden können. Daß Erinnerungen nicht der wissenschaftlichen Erkenntnis entzogen sind, zeigt die Untersuchung von Margalit, Avishai: Ethik der Erinnerung. Max Horkheimer Vorlesungen, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2002. 454 Brecht, PT, S. 140. 455 Brecht, PT, S. 148. 456 Brecht, PT, S. 140. 457 Brecht, PT, S. 149. 453
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Es geht also, ähnlich wie in der Wissenschaftslehre Max Webers, nicht um eine Verleugnung, sondern um die Offenlegung und deutliche Kennzeichnung von Werten. Präzise formuliert handelt es sich hierbei eben nicht um wissenschaftliche Wertfreiheit, sondern um wissenschaftlichen Wertrelativismus. Nur diese Bezeichnung ist in den Augen Brechts dafür geeignet, „den hier entscheidenden Punkt auszudrücken, nämlich daß die Wissenschaft, unfähig letzte Werte unmittelbar zu verifizieren, gezwungen ist, sie in relativen Kategorien zu behandeln, aber auf diese Weise indirekt viel zu der Debatte über Werte beitragen kann“.458 Zur näheren Bestimmung des wissenschaftlichen Wertrelativismus unterscheidet Brecht verschiedene „Typen relativistischen Verhaltens“. So könne der Relativismus „positiv“ oder „überpositiv“ und „historisch“ oder „überhistorisch“ sein. Der wissenschaftliche Wertrelativismus stehe in Abgrenzung sowohl zum (positiven) Rechtspositivismus als auch zum (historischen) Historismus. Er sei zum einen „überpositiv“, da er „Werte unabhängig von ihrer Akzeptierung oder Nicht-Akzeptierung durch Regierungen oder positives Recht“ untersuche, und zum anderen „überhistorisch“, weil er „Wertprobleme unabhängig von historischen Bedingungen“ analysiere.459 Darüber hinaus differenziert Brecht auch innerhalb des wissenschaftlichen Wertrelativismus verschiedene Erscheinungsformen. So könne er entweder „latent“ oder „offen“, „partei-ergreifend“ oder „neutral“ und „passiv“ oder „aktiv“ sein.460 „Partei ergreifen“ dürfe ein „wissenschaftlicher Relativist“ insoweit, als er zugibt, „daß wir unsere Werte ,wählen‘ müssen und ihre Geltung nicht in einer intersubjektiv transmissiblen Weise beweisen können“461. Diese Unzuständigkeit der dem Wertrelativismus verpflichteten wissenschaftlichen Methode, Werturteile zu fällen, hängt nach Brecht eng mit ihrer Unfähigkeit zusammen, „schlüssige wissenschaftliche Beweise für oder gegen die Existenz Gottes und für oder gegen die Gültigkeit der Ansicht zu erbringen, daß die Welt im allgemeinen und das Leben auf dieser Erde im besonderen einen Zweck hat außer dem, den wir ihm geben“462. Die wissenschaftliche Methode führt aus dieser Perspektive somit „nicht zu einer absoluten Leugnung Gottes“: Gottes Existenz könne „wissenschaftlich weder bewiesen noch widerlegt werden“463. Dies aber habe zur Folge, daß auch absolute moralische Werte mit den Mitteln der Wissenschaft nicht bewiesen werden könnten, weil die letzte Konsequenz ihrer Bestimmung die Frage nach „höheren Zwecken“, also nach einem religiösen Glaubenssatz sei. Die Ursache 458 Brecht, PT, S. 309. Ähnlich verhalte es sich mit dem Begriff des „wissenschaftlichen Wertalternativismus“: „Er würde andeuten, daß die Wahl eine solche zwischen Alternativen ist, daß sie eine Handlung ist, die Konsequenzen hat, und daß die Alternativen, ihr Sinn, ihre Tragweite, Implikationen und Konsequenzen wissenschaftlich erforscht werden können.“ Vgl. ebd., S. 310. 459 Vgl. Brecht, PT, S. 158. 460 Vgl. Brecht, PT, S. 158 ff. 461 Brecht, PT, S. 159. 462 Brecht, PT, S. 148 f. 463 Brecht, PT, S. 149.
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für die Nichtbeweisbarkeit von Werten liegt nach Brecht in der von ihm auf Immanuel Kant zurückgeführten „Lehre von der logischen Kluft zwischen Sein und Sollen“. Im Kern geht es dabei um die logische Unmöglichkeit, Aussagen darüber, was sein soll, abzuleiten aus dem, was ist. Die strikte Unterscheidung zwischen beurteilender Stellungnahme und Feststellung empirischer Tatsachen zeigt sich hier somit als logische Notwendigkeit.464 Kontextualisierung: Der Behavioralismus in den USA Wenn nach dem Entstehungskontext der „Politischen Theorie“ Brechts gefragt wird, so bedeutet das, die Geschichte der amerikanischen Politikwissenschaft in den Blick zu nehmen. Brecht lebte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Buches bereits seit 26 Jahren in den Vereinigten Staaten, so daß eine Prägung seiner wissenschaftstheoretischen Konzeptionen durch die damalige amerikanische Politikwissenschaft angenommen werden muß, was sich bei näherer Untersuchung auch bestätigt. Seine „Politische Theorie“ fällt in eine Zeit, innerhalb derer die amerikanische Politikwissenschaft sich in der Hochzeit des Behavioralismus befand.465 In seinen Ausführungen über „introspektive Beobachtung“466 als Teil der empirischen Beobachtung beschreibt Brecht die Ursache für das Entstehen des Behaviorismus als Konsequenz eines wissenschaftlichen Grundsatzes: „Daß wir keinen Zugang zu der inneren Welt anderer besitzen, begrenzt die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, um die Ergebnisse ihrer Selbstbeobachtung nachzuprüfen und Wahrheit von absichtlicher Täuschung und unabsichtlicher Illusion zu unterscheiden, die beide in diesem Bereich so häufig sind.“467
Die seitens der Behavioristen daraus entwickelte Logik, daß Gegenstand der Forschung nur das sein könne, „was der Mensch, wenn er in eine bestimmte Situation gestellt ist, tatsächlich tut, und nicht, was er denkt und empfindet“468, ist für Brecht nach wissenschaftlichen Maßstäben gleichwohl nicht zwingend. So will er seinen Wissenschaftsbegriff auch nicht als gleichbedeutend mit der behavioristischen Wissenschaftsauffassung verstanden wissen:
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Vgl. dazu Brecht, PT, S. 242 ff und S. 252 ff. Grundsätzlich ist der Begriff des Behavioralismus von dem älteren Terminus „Behaviorismus“ zu unterscheiden. Letzterer stellt die reine und radikale Form behavioristischer Forschung dar, während der modernere Behavioralismus Ausdruck diverser Modifikationen seines Vorläufers ist. Die Wahl des Begriffs „Behavioralismus“ bzw. „behavioral sciences“ hängt auch mit der Zielsetzung zusammen, durch den Verzicht auf den Begriff der „Sozialwissenschaften“ terminologisch nicht in die Nähe des „Sozialismus“ zu geraten. Vgl. Berelson, Bernard: Behavioral Sciences, in: Sills, David L. (Hg.), International Encyclopedia of the Social Sciences, Vol. 2, New York 1968, S. 41 – 45 (43). 466 Vgl. Brecht, PT, S. 38 ff. 467 Brecht, PT, S. 40. 468 Brecht, PT, S. 40. 465
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„Die wissenschaftliche Methode, wie sie hier verstanden wird, ist nicht an den Behaviorismus gebunden, das heißt die Tabus des Behaviorismus sind für sie nicht zwingend. Mit anderen Worten, ihre Regeln verbieten es dem Wissenschaftler nicht, eine Selbstbeobachtung – seine eigene oder die anderer – als ,genau vorgenommen‘ und für sein Ziel relevant zu ,akzeptieren‘, obwohl solche Akzeptierung in jedem konkreten Fall der Kritik ausgesetzt sein mag, daß sie nicht vorsichtig genug gewesen sei.“469
Ein anderes Bild ergibt sich im Vergleich der wissenschaftlichen Methode Brechts mit dem neueren Konzept des Behavioralismus. Jürgen Falter definiert die behavioralistische Position als den Versuch, „Politikwissenschaft nach dem Vorbild der Naturwissenschaften zu betreiben, d. h. politische Phänomene möglichst exakt zu beschreiben, zu erklären und zu prognostizieren“. Ziel des Behavioralismus, der „eine Erscheinungsform des allgemeinen sozialwissenschaftlichen Empirismus“ darstelle, sei es, „wissenschaftlich validierte, das bedeutet: methodisch abgesicherte Verallgemeinerungen über seinen Gegenstandsbereich zu gewinnen“.470 Der wesentliche Unterschied zwischen dem Behaviorismus und dem Behavioralismus besteht für Falter darin, daß sich ersterer auf die „rein deskriptive Erfassung und Generalisierung des politischen Verhaltens“ bzw. anderer Verhaltensformen erstrecke, während letzterer „als theoriegeleiteter Empirismus primär nach Erklärungen und nicht nur nach empirischen Generalisierungen sucht“. Für die konkrete inhaltliche Ausrichtung behavioralistischer Forschung bedeutet das: „Die theoretischen Aussagen des B[ehavioralismus] gehen im Gegensatz zu rein empirischen Verallgemeinerungen nicht nur auf direkt beobachtbare Vorgänge ein, sondern auch auf dispositionelle Faktoren wie Persönlichkeitszüge und Einstellungen, die sich empirisch nur indirekt, d. h. über Indikatoren erschließen lassen.“471
An dieser Stelle zeigt sich durch die erhebliche Modifizierung des ursprünglichen behavioristischen Ansatzes eine Nähe zur wissenschaftlichen Methode Arnold Brechts. Einige der Merkmale behavioralistischer Forschung, die Falter wie folgt zusammenfaßt, weisen weitere Ähnlichkeiten zu Brechts Konzeption auf: „1. Theoriegeleitetheit der Forschung, 2. Suche nach Regelmäßigkeiten, 3. Streben nach Nachprüfbarkeit und Objektivität, 4. Forschungstechniken [Instrumente zur Datenerhebung und Datenausweitung], 5. Trend zur Quantifizierung, 6. Konzentration auf individuelles
469 Brecht, PT, S. 41. Auf diese Feststellung folgt allerdings sogleich eine Einschränkung: „Wenn es dem Wissenschaftler danach zwar freisteht, die Selbstbeobachtung für das, was sie ihm geben kann, in Betracht zu ziehen, so berechtigt ihn das noch nicht zu der Annahme, daß das, was er bei sich selbst beobachtet und was er in den Selbstbeobachtungsberichten anderer bestätigt findet, wesentlich ähnlich bei allen Menschen geschieht.“ Ebd. 470 Falter, Jürgen W.: Der ,Positivismusstreit‘ in der amerikanischen Politikwissenschaft. Entstehung, Ablauf und Resultate der sogenannten Behavioralismus-Kontroverse in den Vereinigten Staaten, Opladen 1982, S. 8. 471 Falter, Positivismusstreit, S. 47.
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Verhalten, 7. Induktivismus, 8. Wertrelativismus, 9. Grundlagenorientierung, 10. Integration und Interdisziplinarität.“472
Vergleicht man diese Zusammenstellung mit den von Brecht angeführten zehn „Schritten des wissenschaftlichen Verfahrens“, werden die Parallelen deutlich sichtbar. So gleichen die von Brecht genannten Punkte wie „Beobachtung“, „Messung“, „induktive Generalisierung“, „Nachprüfung“, „Korrektur“ und sein wissenschaftlicher Wertrelativismus vielen Aspekten des (im Anschluß an David Easton473 entwickelten) „behavioralistischen Dekalogs“ Jürgen Falters. Nicht durch Zufall also nimmt Falter (mit dem Begriff der „Konsubjektivität“) explizit Bezug auf Brecht, um folgenden Grundsatz des Behavioralismus zu formulieren: „Die der empiristischen Forschung nach Überprüfbarkeit stillschweigend zugrundeliegende pragmatische Voraussetzung ist […] die Annahme der ,Konsubjektivität‘ […], d. h. die Vorstellung, daß der Mensch im Prinzip fähig ist, bei ansonsten gleichen Bedingungen Tatsachen gleich wahrnehmen zu können […].“474
In seiner Orientierung am naturwissenschaftlichen Erkenntnisverfahren weist der Behavioralismus Merkmale positivistischen Denkens auf. Trotzdem wäre es im Hinblick auf die Zugeständnisse, Differenzierungen und Modifikationen, die die behavioralistische Konzeption auch enthält, falsch, den Behavioralismus als rein positivistisch oder gar als gleichbedeutend mit dem wissenschaftstheoretischen Positivismus475 zu verstehen.476 Ähnlich verhält es sich mit Brechts wissenschaftlicher Methode. Wissenschaftlichkeit bedeutet für Brecht immer auch, sich die Grenzen der Wissenschaft bewußt zu machen und sie einzuhalten – und dies impliziert den Grundsatz, daß das, was der wissenschaftlichen Erkenntnis zugänglich und was wissenschaftlich erfahrbar ist, begrenzt ist. Brecht befindet sich damit in einer deutlichen Gegenposition zur szientistischen Ausrichtung des (Neo-)Positivismus. Er macht dies in seiner Kritik auch selbst explizit: Die Ausgangsthese der Neopositivisten laute, „daß wissenschaftliche Untersuchungen sich ausschließlich auf Ergebnisse der Wahrnehmung und auf streng logische Schlüsse stützen müs472
Vgl. Falter, Positivismusstreit, S. 46 ff. Vgl. dazu auch ebd., S. 177 – 190 (Zusammenstellung der Überschriften von mir, H.B.). 473 Vgl. als Überblick Easton, David: Political Science, in: Sills, David (Hg.), International Encyclopedia of the Social Sciences, Vol. 12, New York 1968, S. 282 – 298. 474 Falter, Positivismusstreit, S. 181. 475 Der Begriff des Positivismus wird hier im Sinne des (in Verbindung mit dem 1929 gegründeten Wiener Kreises stehenden) Neo-Positivismus verwendet, der sich anhand folgender Stichwörter charakterisieren läßt: Ablehnung jeglicher Metaphysik; Wertfreiheit und Objektivität; Empirismus; Orientierung an den Methoden und Ergebnissen der exakten Naturwissenschaften bzw. These der Übertragbarkeit naturwissenschaftlicher Methoden auf die Geistes- und Sozialwissenschaften („unified science“); Szientismus. Vgl. dazu z. B. Kolakowski, Leszek: Die Philosophie des Positivismus, München 1971 sowie Lenk, Hans: Zwischen Wissenschaftstheorie und Sozialwissenschaft, Frankfurt a. M. 1986. 476 Auf diesen Sachverhalt macht besonders Jürgen Falter aufmerksam, vgl. Falter, Positivismusstreit, S. 190 ff.
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sen“477. Dieser Grundsatz habe zu besonders drei sehr strengen Schlußfolgerungen geführt: „1. strenges Bestehen auf ,physikalischen‘ oder behavioristischen Methoden, was die Verwerfung jeder rein introspektiven Psychologie einschließt; 2. Ausmerzung aller metaphysischen Begriffe nicht nur in den letzten Stadien wissenschaftlicher Arbeit, sondern aus jeder Art von Sätzen und damit insbesondere auch in den vorbereitenden Stadien wissenschaftlicher Arbeit, selbst wenn metaphysische Ideen nur als Inspiration für die Formulierung des Problems, als Arbeitshypothese oder als zugegebene Assumptionen dienen; und 3. Bezeichnung jedes synthetischen Satzes, der nicht letzten Endes durch Wahrnehmungen verifizierbar ist, nicht nur als ,nichtwissenschaftlich‘, sondern als ,sinnlos‘.“478
Alle genannten Punkte, besonders aber der dritte Punkt, der im Kern eine Gleichsetzung von Sinn und Verifizierbarkeit bedeutet479, stehen nach Auffassung Brechts im Gegensatz zu dem, was mit der wissenschaftlichen Methode intendiert ist. Für den dritten Punkt gilt dies in zweierlei Hinsicht. So bemerkt er über den Charakter der wissenschaftlichen Methode auf der einen Seite: „wenn sie auch zustimmt, daß das Wort Wissenschaft am besten ausschließlich für intersubjektiv transmissibles Wissen gebraucht wird, so behauptet sie deshalb doch nicht, daß alle anderen Propositionen ,sinnlos‘ seien“480. Die Differenz gegenüber dem neopositivistischen Wissenschaftsbegriff begründet sich hier also aus der jeweiligen Definition und der in ihr enthaltenen Implikationen von Wissenschaft. Brechts wissenschaftliche Methode, so ließe sich zusammenfassen, hat einen viel weiteren Begriff von Wissenschaft zur Voraussetzung, als der Neopositivismus zugesteht. Doch auch im Hinblick auf die der neopositivistischen Argumentation immanente Logik erkennt Brecht Differenzen gegenüber seiner wissenschaftlichen Methode. So betrachtet er auf der anderen Seite die neopositivistische Gleichsetzung von Sinn und Verifizierbarkeit nicht nur als zu eng gefaßt für sein Verständnis von Wissenschaft, sondern er hält sie wissenschaftlich auch gar nicht für haltbar. Diese Gleichsetzung sei nicht Ausdruck eines wissenschaftlichen Beweises, sondern verkörpere selbst eine (negative) „metaphysische Feststellung“481. Brecht kritisiert somit auch die Vorannahmen und Schlußfolgerungen des Neopositivismus: „Die Forderung, daß alle in der Wissenschaft benutzten Ausdrücke auf physikalische Begriffe reduzierbar sein müssen, enthält die Gefahr, daß sie es unmöglich macht, gerade dem gerecht zu werden, was in dem Vorgang des Reduzierens ausgelassen wird, wie zum Beispiel das eigentliche ,Leben‘ im Begriff ,leben‘, oder was, wie die Begriffe ,Gott‘ und ,Seele‘, nicht einmal teilweise auf eine bloße Ding-Sprache reduziert werden kann.“482
477 478 479 480 481 482
Brecht, PT, S. 211. Brecht, PT, S. 211. Vgl. Brecht, PT, S. 213. Brecht, PT, S. 212. Brecht, PT, S. 214. Brecht, PT, S. 218.
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Obgleich diese Unterschiede zwischen der wissenschaftlichen Methode und dem Neopositivismus vor allem in der Darstellung Brechts eklatant erscheinen mögen, wird im Hinblick auf die für beide Ansätze grundlegende empiristische Orientierung doch auch eine innere Verwandtschaft in der Methodologie sichtbar. Noch wichtiger aber sind die aufgezeigten Parallelen zur Wissenschaftstheorie des Behavioralismus. Die Kategorisierung der „Politischen Theorie“ als „behavioralistisch“483 greift insgesamt jedoch zu kurz: Das, was sich mit der oben erläuterten ethischen Implikation von Wissenschaft bereits angedeutet hat, schlägt im letzten Teil des Buches in eine Normativierung des Wissenschaftsbegriffs um. Im Hinblick auf die anfängliche Definition seiner wissenschaftlichen Methode und vor allem im Hinblick darauf, welchen Anspruch Brecht selbst an seinen Wissenschaftsbegriff stellt, läßt sich eine Übereinstimmung mit der behavioralistischen Wissenschaftstheorie kennzeichnen – im Hinblick auf die ausgedehnte Anwendung seines Wissenschaftsbegriffs im vierten Teil seiner „Politischen Theorie“ erweist sich diese Charakterisierung jedoch als nicht ausreichend bzw. punktuell als falsch.484 bb) Die Genese des Wertrelativismus Nach der Darstellung Brechts hat sich der wissenschaftliche Wertrelativismus in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchgesetzt; in den USA sei er dagegen erst fünfzehn Jahre später in Erscheinung getreten: „Als er schließlich kam, blieb er formloser und latenter als sein offenes europäisches Gegenstück und war häufiger partei-ergreifend als neutral.“485 Das späte Erscheinen des wissenschaftlichen Wertrelativismus in den Vereinigten Staaten muß auf den ersten Blick erstaunen, da sich die empirische Forschung in der Politikwissenschaft im Vergleich zu Europa, insbesondere zu Deutschland, viel früher entwickelt und als dominante Denkströmung verfestigt hat. Aus der Sicht von Brecht „zeigten amerikanische Professoren für theoretische Untersuchungen über die Grundlagen und Grenzen solcher Arbeit wenig Interesse“486. Er führt diesen Befund auf die zentrale Stellung des Pragmatismus in den USA zurück487 und dia483
So z. B. Falter, Positivismusstreit, S. 31 und Somit, Albert/Tanenhaus, Joseph: The Development of American Political Science. From Burgess to Behavioralism, Boston 1967, S. 173 (Fußnote 1). 484 Auch die Tatsache, daß Brecht ab 1942 Vorsitzender des (die behavioralistische Forschung maßgeblich fördernden) Social Search Research Council (SSRC) war, erlaubt keinen eindeutigen Rückschluß auf die Nähe der „Politischen Theorie“ zum Behavioralismus. Denn dies sagt nichts über den Gehalt der wissenschaftstheoretischen Darlegungen Brechts aus; seine Tätigkeit im SSRC allein ist keine Garantie für eine behavioralistische Ausrichtung in seinen eigenen wissenschaftlichen Untersuchungen. 485 Vgl. Brecht, PT, S. 305. 486 Brecht, PT, S. 289. 487 Vgl. Brecht, PT, S. 232 ff und S. 291.
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gnostiziert darüber hinaus einen dort vorherrschenden politischen „Dogmatismus“, der die schnellere Entwicklung des wissenschaftlichen Wertrelativismus verhindert habe: „Wie stark auch die Abneigung der Nordamerikaner gegen alle Dogmen in anderen Fragen entwickelt ist, ihre Akzeptierung allgemeiner demokratischer Prinzipien und Ideale wie des Rechts auf Leben, Freiheit, Eigentum und Streben nach Glück, ist selbst dogmatischer Natur und aus vorwissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Sphären in den Bereich der Wissenschaft übernommen. Dieser unbewußte Dogmatismus war und ist ein sehr wertvolles Gegengift gegen totalitäre Propaganda; aber in der akademischen Arbeit der politischen Wissenschaft hat er eine gewisse Oberflächlichkeit in der Behandlung grundsätzlicher theoretischer Fragen und unberechtigte Vereinfachungen in historischen und kritischen Aufsätzen zur Folge gehabt.“488
Die „soziologische Situation“ der amerikanischen Politikwissenschaftler sei „im Vergleich mit der, in der sich die ersten deutschen Relativisten befanden, genau die umgekehrte“ gewesen: „Sie hatten keinen Anlaß, die Werturteile, die dem von ihnen gebilligten Regierungssystem ihres Landes zugrunde lagen, in Frage zu stellen und andere politische Werturteile auf neutraler Basis wissenschaftlich zu erörtern.“489 Außerhalb dieser „demokratische[n] Prinzipienfragen“ aber habe sich „auch in den Vereinigten Staaten ein beträchtlicher latenter Relativismus“490 und die Anerkennung seiner „logische[n] Notwendigkeit als Folge der wissenschaftlichen Methode“491 durchgesetzt. Grundlegende Voraussetzung für die Ausbreitung des wissenschaftlichen Wertrelativismus war aus der Sicht von Brecht die Durchsetzung der „Lehre von der logischen Kluft zwischen Sein und Sollen“. Doch ehe sich die Annahme des wissenschaftlichen Wertrelativismus „als zwingend erwies“, so Brecht weiter, sei „noch ein Anderes“ nötig gewesen: „Es mußte erkannt werden, 1. daß jede bewußte Verfolgung von Zielen oder Zwecken (moralischen, amoralischen oder unmoralischen) Elemente einer Wertung enthält; 2. daß jede auswählende Wertung letzter Maßstäbe (,besser als‘), und daher besonders jede moralische Wertung, entweder identisch oder doch jedenfalls immer verbunden ist mit Vorstellungen oder Gefühlen darüber, was man tun oder billigen sollte, deren Richtigkeit nicht rein logisch von Tatsachen ableitbar ist; und 3. daß die Gültigkeit letzter Wertmaßstäbe nicht nur logisch unbeweisbar ist, sondern auch durch kein anderes wissenschaftliches Verfahren bewiesen werden kann.“492
Als Vertreter, die diesen wissenschaftlichen Lernprozeß vorantrieben, führt Brecht unter anderen Georg Simmel, Heinrich Rickert, Georg Jellinek, Hermann 488 489 490 491 492
Brecht, PT, S. 290. Brecht, PT, S. 289. Brecht, PT, S. 290. Brecht, PT, S. 305. Brecht, PT, S. 261.
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Kantorowicz, Max Weber, Gustav Radbruch und Hans Kelsen an.493 Besonders die letzten drei der genannten Autoren spielen für die wissenschaftstheoretischen Überlegungen Brechts eine wichtige Rolle. Im folgenden soll lediglich der Bezugnahme auf Max Weber näher nachgegangen werden. Diese Eingrenzung bietet sich insofern an, als seine Wissenschaftslehre am deutlichsten macht, worum es bei der wissenschaftlichen Werturteilsfreiheit bzw. beim wissenschaftlichen Wertrelativismus geht. Hierzu erfolgt zunächst eine vergleichende Kontextualisierung dessen, was Brecht im „genetischen Teil“ seines Buches zum Gegenstand seiner Untersuchung macht. Dabei sollen die Grundzüge der Wissenschaftslehre Max Webers in Erinnerung gerufen werden. Sodann wird der Frage nachgegangen, auf welche Weise und auf der Grundlage welcher Interpretation Brecht auf Weber Bezug nimmt und ihn rezipiert. Vergleichende Kontextualisierung: Die Wissenschaftslehre Max Webers Max Weber unterscheidet in seinen Überlegungen hinsichtlich des Aufgabenbereichs von (Sozial-)Wissenschaft strikt die „empirische Tatsachenfeststellung“ von der „praktische[n] Wertung“494. Die Pflicht der reinen Wissenschaft bestehe darin, „die Wahrheit der Tatsachen zu sehen“495, eine „ ,denkende Ordnung der empirischen Wirklichkeit‘“496 anzustreben und frei von Werturteilen zu sein, um somit den Ergebnissen wissenschaftlicher Erkenntnis eine größtmögliche objektive Geltung zu verschaffen. Das kann aus Webers Sicht nur erreicht werden, wenn „wissenschaftliche Erörterung“ auf der einen und „wertende Raisonnements“497 auf der anderen Seite als klar voneinander zu trennende „heterogen[e] Problemsphären“498 erkannt und erkennbar gemacht werden. Weil nur die empirische Wirklichkeit oder nur das, was empirisch beweisbar ist, Anspruch auf Geltung als Erfahrungswahrheit und somit Anspruch darauf hat, Wissenschaft zu sein, darf alles, was jenseits des empirisch Beweisbaren liegt, nicht mit der Wissenschaft vermengt werden, da diese sonst ihre objektive Geltung, den Status reiner Wissenschaft verlieren würde. Für den Forscher gilt, die eigene Person hinter die Sache (die wissenschaftliche Forschung) zurückzustellen, sich rückhaltlos
493 Vgl. Brecht, PT, S. 261 ff. Neben diesen von Brecht so bezeichneten „Vätern“ des wissenschaftlichen Wertrelativismus fungieren für ihn des weiteren einige übergreifende Denkströmungen als „Vorläufer und Vettern“ jenes Wissenschaftsverständnisses. Brecht zählt dazu den Skeptizismus, Positivismus, Historismus, Marxismus und Pragmatismus. Vgl. dazu ebd., S. 203 ff. 494 Weber, Sinn der „Wertfreiheit“, S. 490. 495 Weber, Max: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 7. Aufl., Tübingen 1988, S. 146 – 214 (155). 496 Weber, „Objektivität“, S. 150. 497 Weber, „Objektivität“, S. 157. 498 Weber, Sinn der „Wertfreiheit“, S. 497.
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dieser Sache hinzugeben499 und sorgfältig eigene Wertungen von logischen Erörterungen zu unterscheiden. In dem Moment, wo der Wissenschaftler in seiner Forschung zu werten beginnt, nehmen die wissenschaftlichen Ergebnisse nach Auffassung Webers großen Schaden an, weil erstens die voneinander zu trennenden Problemsphären miteinander vermischt werden und somit die wissenschaftliche Diskussion aufgrund der nun eintretenden Unklarheit ihren eigentlichen Zweck – nämlich: im Dienst rein wissenschaftlicher Erörterungen zu stehen, die empirisch beweisbar sind und objektiven Geltungsanspruch haben – verfehlt, „die Unbefangenheit der Diskussion des eigentlichen logischen Sachverhalts“500 darunter also zu leiden habe; und zweitens der Wissenschaftler durch eigene Wertungen leicht in die Gefahr gerät, eigene praktische Empfehlungen als Ergebnisse wissenschaftlicher Erkenntnis auszugeben, etwas also als „objektiv notwendige Folge“ darzustellen, obgleich es dem eigenen Werturteil entspringt – womit der Wissenschaftler „seine eigenste Aufgabe: das ,Verstehen‘“501 verfehle. So ist es eine logische Konsequenz, wenn Weber sagt, Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft (also einer Sozialwissenschaft) könne niemals sein, „bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können“502. Da Werte einer wissenschaftlichen Begründung nicht fähig, da sie nicht beweisbar sind, kann es keine echte Erkenntnis des Seinsollenden, kein wahres Wertsystem geben. Das höchste, was empirische Wissenschaft als „praktische Leistung“ dem einzelnen bieten kann, ist, ihm dabei zu helfen, „sich selbst Rechenschaft zu geben über den letzten Sinn seines eigenen Tuns“503 ; sie „vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur was er kann und – unter Umständen – was er will“504. Der Wissenschaft ist das insofern möglich, als sie die nach Weber vorhandene Vielfalt gleichrangiger Werte aufzeigen und die zwischen ihnen möglicherweise herrschenden Konflikte mit allen ihren Nebenwirkungen darstellen kann. Es gebe eine „Sphäre der ,letzten‘ Wertungen“505, die im ewigen Kampf miteinander stünden, in einem „unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwischen ,Gott‘ und ,Teufel‘“506. Aufgabe des einzelnen ist es nun, zwischen diesen Wertungen zu wählen und sich selbst zu entscheiden. Die Wissenschaft kann und darf diese Entscheidung dem einzelnen nicht abnehmen, weil ihre Tätigkeit dort zu Ende ist, wo sie das, was ist, 499
Vgl. Weber, Sinn der „Wertfreiheit“, S. 494 Weber, Sinn der „Wertfreiheit“, S. 497. 501 Weber, Sinn der „Wertfreiheit“, S. 524. 502 Weber, „Objektivität“, S. 149. 503 Weber, Max: Wissenschaft als Beruf (1919), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 7. Aufl., Tübingen 1988, S. 582 – 613 (608). 504 Weber, „Objektivität“, S. 151. 505 Weber, Sinn der „Wertfreiheit“, S. 530. 506 Weber, Sinn der „Wertfreiheit“, S. 507. 500
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vollständig dargestellt hat. Daß Weber das „Seinsollen“ aus dem Aufgabenbereich der Wissenschaft herausnimmt, heißt aber nicht, daß Werturteile der wissenschaftlichen Arbeit überhaupt entzogen seien. Laut Weber handelt es sich in dieser Angelegenheit um „das fast unbegreiflich starke Mißverständnis“, „als ob behauptet würde, daß die empirische Wissenschaft ,subjektive‘ Wertungen von Menschen nicht als Objekt behandeln könne“507. Nach Auffassung Webers kann die empirische Wissenschaft dies ohne weiteres tun, sie muß nur die strikte Unterscheidung zwischen beurteilender Stellungnahme und Feststellung empirischer Tatsachen wahren, um einen „naturalistischen Fehlschluß“ vom Sein ins Sollen zu verhindern und den Wert reiner Wissenschaft aufrechtzuerhalten. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung, die Max Weber in seiner Beschreibung der Tätigkeitsfelder von Sozialwissenschaft und Sozialpolitik vornimmt. Zur näheren Erklärung scheint hier folgender Vergleich angebracht: Wenn Weber Erkennen von Wertung unterscheidet, so entspricht Erkennen dem „Sein“ und Wertung dem „Sollen“. Die Sozialwissenschaft hat nach Weber das „Sein“ zu beschreiben, während die Sozialpolitik das „Sollen“ beschreiben und verwirklichen muß. Auf der einen Seite geht es also um die „denkende Ordnung der Tatsachen“, auf der anderen Seite um die „Darlegung von Idealen“508. Der denkende Forscher richtet seine Argumente an den Verstand, der wollende Mensch an das Gefühl. Die Wissenschaft ihrerseits muß, wie eingangs erklärt, in der Lage sein, „deutlich zu machen, daß und wo der denkende Forscher aufhört und der wollende Mensch anfängt“509. Um möglichen Mißverständnissen gegenüber Weber vorzubeugen, seien darüber hinaus noch folgende Aspekte seiner Wissenschaftslehre dargestellt: Erstens: Idealtypus und Verstehende Soziologie. – Zweck und Ziel der Sozialforschung muß es nach Weber sein, den Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung „verstehend zu erklären“510. Weber geht es in diesem Zusammenhang darum, das jeweils konventionell Selbstverständliche innerhalb einer Gesellschaft aufzudecken511; das aber ist für ihn nicht anders möglich als auf dem Wege der von Dilthey und Simmel begründeten „Verstehenden Soziologie“512, dem Vorgehen also, eine Gesellschaft (als Beispiel eines Forschungsgegenstandes) so zu verstehen, wie diese sich selbst versteht. Nur durch die Berücksichtigung des einer Gesellschaft jeweils zugrundeliegenden Selbstverständnisses ist es überhaupt erst möglich, die eigene 507
Weber, Sinn der „Wertfreiheit“, S. 499 f. Weber, „Objektivität“, S. 157. 509 Weber, „Objektivität“, S. 157. 510 Weber, Sinn der „Wertfreiheit“, S. 503. 511 Vgl. Weber, Sinn der „Wertfreiheit“, S. 502. 512 Vgl. dazu Helle, Horst J.: Verstehende Soziologie. Lehrbuch, München/Wien 1999 sowie Merz, Peter-Ulrich: Max Weber und Heinrich Rickert. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der verstehenden Soziologie, Würzburg 1990. 508
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Gesellschaft richtig zu verstehen.513 Erst in dem Moment also, in dem das Verständnis einer Sachlage aus dem Hineinversetzen in das ihr zugehörige Eigenverständnis entwickelt wird, kann ein Tatbestand richtig erklärt werden.514 Ausgehend von der Annahme, daß der Mensch die Wirklichkeit so, wie sie ist, nicht aufnehmen könne, stellt die Verstehende Soziologie den Grundsatz auf, daß wir uns von der Wirklichkeit ein soziales Bild konstruieren müssen, um sie unserem Bewußtsein zugänglich zu machen. Die Rekonstruktion dessen, was durch uns konstruiert wurde, bezeichnet also ihrerseits die Methode des Verstehens. Weber konkretisiert diesen Zusammenhang folgendermaßen: Um den „gemeinten Sinn“ von menschlichem Tun und Lassen im Sinne der Verstehenden Soziologie deutend zu verstehen, müssen „Idealtypen“ konstruiert werden. Gemeint ist hier ein Gedankenbild, eine „Utopie […], die durch gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen ist“515. Keinesfalls ist der Zweck des Idealtypus mit dem Streben nach Idealen zu verwechseln. Der Idealtypus hat nicht die Funktion eines praktischen Vorbildes, denn damit würde er Werturteile produzieren und gegen das wissenschaftliche Prinzip der Werturteilsfreiheit verstoßen. Bei dem Idealtypus geht es Weber lediglich darum, eine bestmögliche Methode auf dem Boden wissenschaftlicher Objektivität zu entwickeln, die Wirklichkeit in ihrer Eigenart zu verstehen, um empirisch „Wirklichkeitswissenschaft“516 betreiben zu können. Die Idealtypen ergeben sich nach Weber, wenngleich als Ausgangspunkt der (oftmals historischen) Wirklichkeit entnommen, nicht induktiv, sondern sie sind konstruiert. Zweck des Idealtypus ist es laut Weber, „die empirische Wirklichkeit mit ihm zu ,vergleichen‘, ihren Kontrast oder ihren Abstand von ihm oder ihre relative Annäherung an ihn festzustellen, um sie so mit möglichst eindeutig verständlichen Begriffen beschreiben und kausal zurechnend517 verstehen und erklären zu können.“518
513
Vgl. Weber, Sinn der „Wertfreiheit“, S. 503. Unter anderem an dieser Stelle zeigt sich deutlich die Abgrenzung der Wissenschaftslehre Webers zum Positivismus; im Gegensatz zur positivistischen Tradition übergeht Weber die Subjektivität des einzelnen nicht, sondern gesteht jedem zu, daß er einen Aspekt der Realität in sich trägt. 515 Weber, „Objektivität“, S. 190. 516 Weber, „Objektivität“, S. 170. 517 Weber geht davon aus, daß jede konkrete Begebenheit kausal bedingt ist; die mannigfaltige Wirklichkeit stellt dann einen Gesamtzusammenhang von einzelnen Kausalbeziehungen dar. Die Kausalfrage ist insofern eine Zurechnungsfrage, als der untersuchte Gegenstand jeweiligen kausalen Zusammenhängen zugerechnet werden muß. Vgl. Weber, „Objektivität“, S. 178. 518 Weber, Sinn der „Wertfreiheit“, S. 535 f. 514
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Zweitens: Objektivität und Werte. – Ein (nicht seltenes) Mißverständnis gegenüber der Wissenschaftslehre Webers könnte sich durch folgende Lesart seiner Schriften ergeben: Es ließe sich der Einwand erheben, daß Webers Ansatz die Fähigkeit zerstöre, überhaupt wertend zu etwas Stellung zu nehmen. Dieser Vorwurf ist jedoch nicht gerechtfertigt. Denn zwar kann es aus der Sicht von Weber nicht Aufgabe der Wissenschaft sein, für die Gesellschaft Werturteile zu produzieren oder ihr „praktische“ Ideale zu liefern, deshalb aber stellt er die generelle Relevanz von Werten und Wertungen nicht grundsätzlich in Frage. Die „Leidenschaft“, die Weber – durch die „rückhaltlose Hingabe an eine ,Sache‘“519 – vom Wissenschaftler fordert, darf nicht mißverstanden werden als eine Forderung nach grundsätzlicher Abstinenz von Wertungen. Denn zum einen stellt Weber die dem Wissenschaftler zugedachte These auf, daß „Gesinnungslosigkeit und wissenschaftliche ,Objektivität‘ […] keinerlei innere Verwandtschaft“520 hätten, und zum anderen spiegelt seine Rede „Politik als Beruf“ eindeutig seine Einsicht in die Notwendigkeit der Existenz von politischen Idealen, Wertungen und subjektiven Stellungnahmen wider (nur weist er hier diese Aufgabe nicht der Wissenschaft, sondern der Politik zu).521 Darüber hinaus ist es ein Fehlschluß, anzunehmen, Max Weber strebte mit seiner Forderung nach Wertfreiheit innerhalb der Wissenschaft eine rationale Objektivität des Wissenschaftlers an, die der unanfechtbaren Subjektivität menschlicher Natur widerspräche. Im Gegenteil – Weber erkennt die Subjektivität eines jeden Menschen ausdrücklich an522, er gesteht dem einzelnen ein jeweils subjektives praktisches Erkenntnisinteresse zu. Weber übergeht die Irrationalität menschlicher Natur nicht, er sieht vielmehr, daß hinter jeder Handlung der Mensch in seiner Komplexität steht. Die Einstufung seiner Wissenschaftslehre als „positivistisch“ erweist sich aus diesem Grund als falsch. Weber ist sich darüber im klaren, daß „der Anstoß zur Aufrollung wissenschaftlicher Probleme erfahrungsgemäß regelmäßig durch praktische ,Fragen‘ gegeben wird, so daß die bloße Anerkennung des Bestehens eines wissenschaftlichen Problems in Personalunion steht mit einem bestimmt gerichteten Wollen lebendiger Menschen“523.
Weil diese „natürliche“ Subjektivität des Menschen nicht zu vermeiden ist, ist sie nach Weber legitim. Dies impliziert freilich nicht, daß aus ihr ethische Imperative oder Werturteile abgeleitet werden können. Gemeint ist vielmehr nur, daß es zwar eine „absolute“ Objektivität nicht geben kann, daß Wissenschaft aber trotzdem objektive Geltung erreichen kann, indem sie diese unvermeidbare Subjektivität offen 519
Weber, Sinn der „Wertfreiheit“, S. 494. Vgl. auch ders., Wissenschaft als Beruf, S. 591. Weber, „Objektivität“, S. 157. 521 Vgl. Weber, Max: Politik als Beruf (1919), in: ders., Gesammelte Politische Schriften, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1988, S. 505 – 560. 522 Vgl. z. B. Weber, „Objektivität“, S. 151. 523 Weber, „Objektivität“, S. 158. 520
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darlegt, statt subjektive Erfahrung als objektive Tatsache zu erklären – indem sie also deutlich trennt zwischen dem, „was ist“, und dem, „was sein soll“. Brechts Rezeption von Max Weber Es ist vor allem zweierlei, das in der Auseinandersetzung Brechts mit Weber auffällt: Einmal betont Brecht sehr deutlich, daß Webers Wissenschaftslehre keinesfalls dahingehend interpretiert werden dürfe, daß die von ihm thematisierte wissenschaftliche Wertfreiheit den Verzicht auf jegliche Werte und Wertungen bedeutete. Es sei „wichtig festzustellen“, daß Webers Betonung „nicht auf der völligen Enthaltung von Werturteilen lag, sondern darauf, mit welchen Mitteln die Wissenschaft Werturteile behandeln kann“524. Bereits an dieser Stelle zeigt sich, daß Brechts Argumentation unlogisch ist. Denn die Enthaltung von Werturteilen steht in überhaupt keinem Gegensatz zur wissenschaftlichen Behandlung derselben. Brecht begeht hier den Fehler, nicht zu unterscheiden zwischen einer Wertung als Gegenstand der Wissenschaft und einer Wertung als Teil des Forschens selbst. Es gibt nach Weber zwei Ebenen, auf denen Werte vorkommen dürfen: als Gegenstand der Untersuchung und in persönlichen Überzeugungen. Damit aber ist keinesfalls gesagt, daß eine Wertsetzung als Teil des wissenschaftlichen Prozesses erlaubt sei. Brecht erklärt: Es dürfe nicht vergessen werden, daß Weber, so sehr er auch „die Grenzen der Wissenschaft betonte“, nie aufhörte, „persönlich an letzte Werte zu glauben“. Auch habe er „die Wichtigkeit solchen Glaubens für die menschliche Persönlichkeit und Würde“ nicht unterschätzt.525 Brecht zieht daraus die (unlogische) Schlußfolgerung, daß wissenschaftliche Werturteilsfreiheit bei Weber nicht die vollständige Abstinenz von Werten meine. Demgegenüber muß klargestellt werden: Die persönliche Überzeugung eines Wissenschaftlers bedeutet eben nicht, daß die Abstinenz von Wertungen innerhalb des wissenschaftlichen Forschungsprozesses aufgehoben sei – das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Werturteile können nach Weber sehr wohl Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung sein, aber nicht, wie von Brecht behauptet, weil der Wissenschaftler – in diesem Fall Weber – selbst an letzte Werte glaubt. Der Kausalnexus innerhalb der Argumentation Brechts erweist sich somit in vielen Punkten als falsch. Das zeigt sich auch in seinen weiteren Ausführungen: Die fehlende Berücksichtigung der persönlichen Wertorientierungen Webers habe zu dem weit verbreiteten Mißverständnis geführt, „daß nach dem Wertrelativismus die Wissenschaft keinen Beitrag zum Wertproblem leisten könne“526. Als Repräsentanten dieses Mißverständnisses führt Brecht Leo Strauss und Eric Voegelin 524 525 526
Brecht, PT, S. 270. Brecht, PT, S. 273. Brecht, PT, S. 317.
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an – besonders letzterem, einem exponierten Vertreter der normativen politischen Wissenschaft, gilt seine Kritik.527 Brecht erklärt: „Tatsächlich war Webers Hauptanliegen nicht etwa, politische Werte nicht anzurühren, sondern im Gegenteil Bewertungen in einer echt wissenschaftlichen Weise durch eine gründliche Erörterung ihrer Implikationen und Konsequenzen zu beeinflussen.“528 Diese Argumentation enthält insofern einige Plausibilität, als Weber es als eine der Aufgaben seiner Schriften betrachtete, politische Urteilsfähigkeit zu schulen. An dieser Stelle sei wiederholt: Nicht die Verleugnung von Werten, sondern die strikte Trennung zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, das Sichtbarmachen von Tatsachen und Werten als zweier sauber voneinander getrennten „heterogenen Problemsphären“ steht im Zentrum der Wissenschaftslehre Max Webers. Dies impliziert, wie Brecht richtig erkennt, nicht die grundsätzliche Bestreitung „letzter“, „höchster“, „absoluter“ Werte, aber, und das übersieht Brecht, es impliziert immer die Wertfreiheit im wissenschaftlichen Prozeß. In der Leugnung letzter Werte sieht Brecht ein weiteres grobes Mißverständnis des wissenschaftlichen Wertrelativismus: „Die üblichste Entstellung besteht darin, den Anschein zu erwecken, daß ,wissenschaftliche‘ Relativisten ,philosophische‘ Relativisten seien, die lehren, daß es überhaupt nichts von absolutem Wert gibt und daß alle Werte tatsächlich gleich sind […].“529
Brecht hält dem entgegen: „Tatsächlich hat Weber nichts dergleichen gelehrt und hätte es auch gar nicht tun können, zunächst einmal, weil er nicht der Meinung war, daß das Nichtvorhandensein einer Hierarchie der Werte, und dazu gehört die Nichtexistenz Gottes, wissenschaftlich festgestellt werden könne; und zweitens, weil es gerade der springende Punkt seines Lebenswerkes war, daß Werte ungleich sind in dem Maße, in dem ihr Ursprung, ihre Implikationen und Konsequenzen und auch ihr idealer Sinn sich unterscheiden. Er behandelte nicht Werte als ,gleich‘, sondern nur ihre Geltung als ,gleich unbeweisbar‘, von beweisbaren Konsequenzen abgesehen.“530
Die für Brecht so wichtige Abgrenzung des wissenschaftlichen Wertrelativismus gegenüber allen anderen Formen des Relativismus entdeckt er also auch in den Schriften Webers. An anderer Stelle, in einem Rückblick auf ein Gespräch mit Alfred Weber, dem Bruder von Max Weber, faßt Brecht seine Überlegungen noch einmal zusammen: „Ich lehrte nicht, und nach meiner Auslegung habe das auch Max Weber nicht getan, daß alle Werte relativ seien – niemand, der an Gott oder die Möglichkeit des Göttlichen glaube,
527 528 529 530
Vgl. Brecht, PT, S. 315 ff. Siehe dazu auch Brecht, Tröstungen, S. 58. Brecht, PT, S. 317. Brecht, PT, S. 315. Brecht, PT, S. 316.
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könne das tun –, sondern nur, daß die Beiträge der Wissenschaft zu dieser Frage – im Gegensatze zu den Beiträgen des Glaubens – nur relativer Natur sein könnten.“531
Trotz der hier geäußerten Versicherung, daß sich für Fragen des Glaubens keine wissenschaftlichen Beweise erbringen ließen, führt Brechts Hinweis auf die Rolle der Religion und seine vielleicht etwas überzogene Parallelisierung zu Weber zum Kern dessen, was sein Wissenschaftskonzept – mit dem letzten Teil seiner „Politischen Theorie“ – so problematisch erscheinen läßt: seine beharrliche Suche nach Wegen, mit Hilfe derer sich Bereiche, die nach seiner eigenen Definition außerhalb des wissenschaftlich Zugänglichen liegen, die ihm aber aus politischen, privaten oder anderen subjektiven Gründen als zentral erscheinen, in den Bereich der Wissenschaft hinüberführen lassen. Stützt er sich noch zunächst auf Weber als einen der bedeutendsten „Väter“ des wissenschaftlichen Wertrelativismus, wird später sein Bemühen deutlich erkennbar, eine Wissenschaftstheorie vorzulegen, die einen beachtlichen Schritt weitergeht als jene Autoren – „indem er mehr als sie es taten, die politischen Werte selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis macht“532. Und so befindet er auch in seiner Autobiographie, daß die Lehre Max Webers nicht „ganz richtig“ gewesen sei und „in anderen und meinen eigenen Schriften eine Reihe von Korrekturen erfahren“ habe.533 Die zweite Ebene innerhalb der Auseinandersetzung Brechts mit Weber ist durch eine gegenteilige interpretative Ausrichtung gekennzeichnet. Ließe sich die erste Ebene der Interpretation (gemessen an Webers eigenen Aussagen) als zu normativ bezeichnen, könnte man die zweite Deutungsebene als zu positivistisch charakterisieren. 531 Brecht, Kraft, S. 394. Auch in einem Brief an Alfred Weber betont Brecht, daß Max Weber „im Laufe der Jahre oft ganz falsch zitiert worden ist“; diese an sich zutreffende Diagnose gilt allerdings auch für Brecht selbst. Vgl. Arnold Brecht an Alfred Weber, New York, 6. 8. 1953, BAK, NLB, N 1089/27. Golo Mann, der bekundet, „in diesem grossartigen Résumé“ der „Politischen Theorie“ Brechts schon viel gelesen zu haben, äußert sich skeptisch gegenüber Brechts Weber-Interpretation – allerdings nicht, weil er ihre Fehler erkennt, sondern weil auch er einem Mißverständnis der Weberschen Texte erliegt. So erklärt er Brecht: „Der Genauigkeit halber sollte ich vielleicht hinzufügen, dass Ihre Verteidigung und Erneuerung der Max Weber’schen Position mir zwar überaus lehrreich war, mich aber nicht völlig überzeugen kann. Die ethische Kraft des gewaltigen Mannes selber habe ich nie bezweifelt. Etwas anderes sind die Folgen seiner Lehre und Haltung, so wie sie sich in schwächeren, hohleren Händen entwickelt haben. […] Ohne selber je dergleichen systematisch entwickelt zu haben, würde ich meinen, dass man wieder, wie in der guten alten Zeit verschiedene Sphären oder Arten des Wissens unterscheiden sollte und das, was der Wissenschaft, nämlich der positiven Wissenschaft nicht zugänglich ist, deswegen noch nicht kein Wissen zu sein braucht. Alles das, was Wissenschaft nicht beweisen kann, dem Reiche der Emotion zuzuweisen, wie die Neopositivisten das tun, (natürlich tun Sies [sic!] keineswegs), so als ob zwischen Tanz und Musik und Sadismus und naturrechtlichem Philosophieren kein Wesensunterschied wäre, erschiene mir in höchstem Grade bedenklich.“ Golo Mann an Arnold Brecht, Kilchberg am Zürichsee, 21. 9. 1961, BAK, NLB, N 1089/22. 532 Besson, Rez-PT, S. 1001. 533 Vgl. Brecht, Kraft, S. 395.
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In der Auseinandersetzung mit den „Gegnern“ des wissenschaftlichen Wertrelativismus thematisiert Brecht die Frage der „Voraussetzungslosigkeit“ in der Wissenschaft.534 Hier wird die Position desjenigen reflektiert, der Wissenschaft betreibt. Um Objektivität in der Wissenschaft zu gewährleisten, muß der Wissenschaftler selbst auch objektiv vorgehen. Doch wie „voraussetzungslos“, wie „objektiv“ kann ein Wissenschaftler sein? In der Darstellung Brechts weisen die „Gegner“ des wissenschaftlichen Wertrelativismus auf „vier Grenzen der Objektivität“ hin, die jede wissenschaftliche Untersuchung zwangsläufig beeinflussen müßten: Erstens das „soziale Umfeld“ des Wissenschaftlers; zweitens seine „persönliche Weltanschauung“; drittens die Kontingenz der historischen Umstände, innerhalb derer der Wissenschaftler wissenschaftliche Entscheidungen fällt, und viertens seine persönlichen Fähigkeiten.535 Die Unvermeidbarkeit dieser Einflüsse kann kaum in Zweifel gezogen werden. Es stellt sich infolgedessen die Frage, inwieweit wertfreie, objektive Wissenschaft überhaupt verwirklicht werden kann. Max Weber löst dieses Problem, indem er nicht den Anspruch auf absolute Objektivität erhebt, sondern lediglich das Ziel einer größtmöglichen Objektivität anstrebt. Brecht hingegen tut sich sehr schwer damit, diesen Absolutheitsanspruch aufzugeben. So konstatiert er: „Wir können zumindest mit aller Anstrengung den Versuch machen, unsere Abhängigkeit von den oben aufgezählten vier historischen und persönlichen Faktoren zu überwinden, um bei der Darstellung von Tatsachen und beim Ziehen logischer Schlüsse objektiv zu verfahren.“536
Hier zeigt sich eine Schwäche in Brechts Argumentation, und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens sind die von ihm genannten Faktoren unvermeidbar, sie lassen sich nicht „überwinden“ – die Terminologie der „Grenzen der Objektivität“ drückt eben diesen Tatbestand aus. Brecht scheint von der falschen Vorstellung auszugehen, daß es in der Wissenschaft „absolute Objektivität“ geben könne. Zweitens stehen seine hier geäußerten Feststellungen im Widerspruch zu seinen vorher getroffenen Aussagen, in denen er selbst die Standortgebundenheit des Forschers und die dadurch entstehende Relativität wissenschaftlicher Erkenntnis betont. Darüber hinaus ist an dieser Stelle kritisch zu fragen, ob die erwähnten, die Objektivität begrenzenden Faktoren, wie von Brecht moniert, die Bedeutung des wissenschaftlichen Wertrelativismus tatsächlich verringern, oder ob dieser sie nicht vielmehr impliziert. An diesem Punkt führt der von Brecht – ansonsten sehr plausibel gebrauchte – Begriff des wissenschaftlichen Wertrelativismus in die Irre. Denn wenn er davon ausgeht, daß die Berücksichtigung persönlicher und Umwelt-Faktoren zu einer Herabsetzung des wissenschaftlichen Wertrelativismus führe, so ist daraus zu 534
Brecht bezieht sich hier auf einen Aufsatz von Eduard Spranger, vgl. Brecht, PT, S. 358 (Fußnote 1). 535 Als Autoren dieser Kritik am wissenschaftlichen Wertrelativismus nennt Brecht Karl Mannheim, Theodor Litt, R.M. MacIver und Paul Tillich. Vgl. Brecht, PT, S. 358. 536 Brecht, PT, S. 359.
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schließen, daß letzterem die Vorstellung absoluter Wertfreiheit zugrunde liegt – eine Vorstellung, die Brecht grundsätzlich sicher nicht nahelegen will (und die er bis zu seinem Weber-Kapitel auch nicht nahegelegt hat), die er an dieser Schwachstelle seiner Argumentation aber gleichwohl induziert. „He ejecutado un acto irreparable, he establecido un vínculo.“537 („Ich habe eine nicht wiedergutzumachende Handlung ausgeführt, ich habe ein Bindeglied hergestellt.“)
cc) Faktische Anthropologie und Gerechtigkeitstheorie Der vierte Teil der „Politischen Theorie“ führt zum fragwürdigsten Aspekt der wissenschaftstheoretischen Überlegungen Brechts. Hier nimmt seine Schrift eine Wendung, infolge derer er als Gewährsmann für seinen Wissenschaftsbegriff an Vertrauen einbüßt. Das erste Kapitel überschreibt Brecht mit dem Grundsatz: „Nicht Logik zwar, doch Fakten verknüpfen Sollen und Sein“538. Ausgangspunkt für seine Reflexion darauf, was mit den Mitteln der Wissenschaft möglich und machbar sei, bleibt also auch hier die Lehre von „der logischen Kluft zwischen Sein und Sollen“. Laut Brecht waren bis „weit in das 19., zum Teil sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein“ ethische und rechtsphilosophische Abhandlungen verbreitet, in denen Gelehrte „Thesen über das, was sein soll oder getan werden soll, von den faktischen Daten über das, was ist, abgeleitet“539 haben. Die Argumentation jener Zeit exemplifiziert Brecht wie folgt: „Menschen ,sind‘, also ,sollen‘ sie sein; wir sollen sie nicht töten. Sie besitzen einen natürlichen Trieb, ihr Leben zu erhalten; also soll ihr Recht auf Selbstverteidigung anerkannt werden. […] Die menschliche Gesellschaft existiert und sie ist nützlich für die Erhaltung des Lebens; also soll sie sein.“540
Diese Denkungsart, diese „Verschmelzung von Aussagen in Form von Sein und Sollen“541 wurde mit dem Aufkommen des logischen Empirismus, mit dem Siegeszug der Naturwissenschaften und der Durchsetzung der deduktiven analytischen Logik obsolet. Letztere könne, wie Brecht zum wiederholten Male betont, „dem Sinn einer Proposition nichts hinzufügen; sie kann nur das, was in dem Sinn implicite enthalten ist, explizieren. Was sein ,soll‘, kann daher nie rein deduktiv (analytisch) aus
537 Borges, Jorge Luis: El tercer hombre (Der dritte Mann), in: ders., Geschichte der Nacht. Neue Gedichte. Spanisch und Deutsch, München/Wien 1984, S. 76 f. 538 Brecht, PT, S. 441. 539 Brecht, PT, S. 150. 540 Brecht, PT, S. 150. 541 Brecht, PT, S. 150.
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Prämissen geschlossen werden, deren Sinn sich auf das, was ,ist‘, beschränkt, sondern nur aus solchen, die mindestens im Obersatz542 selbst ein Soll enthalten.“543
Es gelte infolgedessen der Grundsatz einer „,gleichen Behandlung dessen, was gleich ist‘“544. Soll-Sätze können somit nur aus Soll-Sätzen und nie aus Aussagen, die über das „Sein“ getroffen werden, abgeleitet werden. Konkret bedeutet das zum Beispiel: Die Forderung nach einer gleichen Behandlung aller Menschen („alle Menschen sollen gleich behandelt werden“) läßt sich logisch nicht aus der Annahme ableiten, daß alle Menschen gleich sind. Brecht geht sogar noch einen Schritt weiter: er weist nicht nur auf die logische Unmöglichkeit dieser Schlußfolgerung hin, sondern betont darüber hinaus, daß die Wissenschaft grundsätzlich nicht beweisen könne, daß alle Menschen gleich sind. Dieser Zusammenhang bedarf einer näheren Betrachtung: „Gleichheit“ stellt für Brecht einen jener „Höchstwerte“545 dar, deren wissenschaftliche Beweisfähigkeit seitens zahlreicher Autoren der politischen Philosophie zu behaupten versucht wurde. Brecht subsumiert sie unter die von ihm so bezeichnete „Revolte“ gegen den wissenschaftlichen Wertrelativismus546 – eine Revolte, die für ihn aufgrund ihrer wissenschaftlich nicht haltbaren Argumentationsweise scheitern mußte. Brecht verwendet den Begriff der „Gleichheit“ also in seiner Bedeutung als politischer Spitzenwert und nicht im Sinne eines neutralen (und der wissenschaftlichen Erkenntnis zugänglichen) Vergleichungsbegriffs.547 Wird die „Gleichheit“ der Menschen untersucht, ist Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung also ein Wert. Das allein gerät mit der wissenschaftlichen Methode in keinerlei Konflikt, wurde doch ausdrücklich betont, daß Werte Gegenstand der Wissenschaft sein dürfen. Sie dürfen dies nach Brecht aber nur insoweit, als sie, wie erwähnt, „wissenschaftlich unzweideutig mit wissenschaftlichen Mitteln behandelt werden“ – und das heißt, daß sie nicht zu einer wertenden Stellungnahme desjenigen führen dürfen, der Wissenschaft betreibt. Der Grundsatz, daß alle Menschen gleich seien, läßt sich streng genommen aufgrund der hier fehlenden empirischen Kriterien, nach denen Gleichheit sich bemessen ließe, wissenschaftlich 542 Brecht spricht mit seiner Erwähnung des „Obersatzes“ einen außerordentlich wichtigen Aspekt an, denn er ist für das Verständnis der Kluftlehre grundlegend: er zeigt, daß es logisch unmöglich ist, die Kluft zwischen Sein und Sollen zu überwinden. Nach streng logischer Schlußfolgerung kann nicht im Untersatz etwas vorkommen, was im Obersatz nicht gesagt ist. Ist im Obersatz kein Soll enthalten, so darf auch im Untersatz kein Soll stehen. 543 Brecht, PT, S. 150. 544 Brecht, PT, S. 151. 545 Vgl. Brecht, PT, S. 364 f. 546 Vgl. den dritten Teil der „Politischen Theorie“: Brecht, PT, S. 313 ff. 547 So wäre es innerhalb der wissenschaftlichen Methode möglich, Menschen anatomisch, „ethnisch“, linguistisch oder soziologisch zu vergleichen. Auch die Frage „Gibt es etwas allen Menschen Gemeinsames?“ ist zwar im Zweifel von einem Wollen ausgegangen, impliziert aber, wissenschaftlich behandelt, noch keine Wertung. Dieser Bedeutungsinhalt der Gleichheit steht für Brecht nicht im Zentrum der Untersuchung.
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nicht beweisen. Brecht erklärt, daß eine eindeutige Bestimmung dessen, was als gleich anzusehen sei, mit den Mitteln der wissenschaftlichen Methode nicht möglich sei. Er führt aus: „Ein allen Menschen gemeinsamer bedeutender Zug mag in ihrer Fähigkeit liegen, in jedem Augenblick ihres Lebens zwischen gut und böse zu wählen. Es ist sinnvoll, diesen Zug für so wesentlich zu halten, daß alle anderen Unterschiede […] im Vergleich dazu als nebensächlich betrachtet werden. Dieser Gedankengang […] würde dann logisch zu der Proposition führen, daß alle Menschen ,wesentlich‘ gleich seien. Aber wenn wir diesem einen Zug einen so hohen Rang, ja Spitzenrang zuweisen, geben wir ein Werturteil ab, das durch die Wissenschaft allein nicht sanktioniert werden kann.“548
Es lassen sich somit keine Aussagen über die (als Wert verstandene) „Gleichheit der Menschen“ treffen, die empirisch beweisbar sind und wissenschaftliche Geltungskraft beanspruchen können – Aussagen dieser Art fallen vielmehr in das Gebiet der Moral: „Die Religion kann lehren und das ethische Wollen kann akzeptieren, daß […] alle Menschen ,wesentlich‘ gleich sind; aber die Wissenschaft kann das nicht beweisen.“549 Die Forderung nach einer gleichen Behandlung aller Menschen läßt sich demnach nicht auf eine wissenschaftliche Basis stellen: „Um zu dieser demokratischen Proposition zu gelangen, muß man darüber hinaus entweder auf die Religion oder auf einen sittlichen Willensschluß zurückgehen.“550 Wir verdunkelten die Sache nur, „wenn wir für die Wissenschaft etwas in Anspruch nehmen, was sie nicht leisten kann“.551 Aus dem Gesagten geht hervor, daß „Werte“ im Rahmen der Wissenschaft keine Brücke über die logische Kluft zwischen Sein und Sollen schlagen können. Zu dieser Annahme könnte man laut Brecht deshalb geneigt sein, weil wir oft von Werten sprächen, „als seien sie Dinge im Bereich des Seins, die einfach ,beobachtet‘ werden können“. Dies ist aus seiner Sicht jedoch ein Trugschluß: „[W]as wir tatsächlich beobachten, sind ,Bewertungen‘, nicht ,Werte‘. Natürlich können wir auch Dinge, Eigenschaften usw. beobachten, die von Menschen tatsächlich als wertvoll betrachtet und die deshalb ,Werte‘ im konkreten Sinne genannt werden, wie Schmuck oder Geld oder Gesundheit. Aber ob diese Dinge, abgesehen von dem Zweck, dem sie dienen, oder den Folgen, die sie hervorrufen, wirklich wertvoll sind, ist nicht etwas, was wir im Bereich des Seins beobachten können.“552 548
Brecht, PT, S. 374. Brecht, PT, S. 374. 550 Brecht, PT, S. 375. 551 Brecht, PT, S. 375. Die Wissenschaft solle allerdings gleichzeitig ihre Bemühungen fortsetzen, „1. universale Merkmale der menschlichen Natur aufzudecken […], 2. irrige Ideen über nur scheinbare Unterschiede zu widerlegen (Rassenfrage) und 3. die Konsequenzen sowohl der ungleichen wie der gleichen Behandlung der Menschen in den verschiedenen Sphären und Situationen des Gemeinschaftslebens aufzuweisen.“ Ebd., S. 375 f. 552 Brecht, PT, S. 152. 549
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An anderer Stelle erläutert er: „Jedes vom Menschen gemachte Stück Wirklichkeit, wie ein Tisch, eine Maschine, eine Kathedrale oder ein Gesetzbuch trägt eine Bezugnahme auf Werte in sich und kann nur verstanden werden, wenn man diese Bezugnahme in Betracht zieht.“553
Diese Form von Wertbeziehungen und Bewertungen hebt die logische Kluft zwischen Sein und Sollen also keineswegs auf. Es bleibt bei der Konsequenz, daß „überhaupt kein transmissibler Beweis für nichthypothetische Sollsätze erbracht werden kann“554. Die Grundlage für den wissenschaftlichen Wertrelativismus, so wurde gesagt, ist nach Brecht die Einsicht in die logische Notwendigkeit der „Kluft zwischen Sein und Sollen“. Die wissenschaftliche Methode beruht für ihn auf dieser Einsicht und der aus ihr gezogenen Konsequenz, Wertungen und wissenschaftliche Tatsachenfeststellung strikt voneinander zu trennen. In negativer Form habe dies die „Eliminierung“ aller mit der wissenschaftlichen Methode nicht vereinbaren Argumente zur Folge: „damit wird die Tür der Wissenschaft verschlossen für 1. Urteile a priori, 2. metaphysische Propositionen und 3. absolute Werturteile“555. Für das Verständnis der „Kluftlehre“ ist vor allem der erste Punkt relevant: Im allgemeinen geht es bei „Urteilen a priori“ um bestimmte Annahmen, Prinzipien oder normative Grundsätze, die einer Theorie, einer wissenschaftlichen Untersuchung oder einer philosophischen Erörterung vorangestellt werden. Die Tatsache, daß eine auf Apriori-Positionen556 beruhende wissenschaftliche Analyse das Gebot der wissenschaftlichen Werturteilsfreiheit – durch ihre bereits im Ansatz vollzogene Wertung – nicht einzuhalten imstande ist, ist deshalb als nicht gering zu veranschlagen. Brecht unterscheidet verschiedene Verwendungsformen und Bezugspunkte des Ausdrucks „a priori“. So gebe es das „klassische Apriori“, das „methodologisch verworfene oder methodenfremde Apriori“, das „methodologisch immanente Apriori“ und das „Gegebenheits-Apriori“.557 Im Vordergrund dieser verschiedenen „Argumente ,a priori‘“558 steht für Brecht ihr jeweiliges Verhältnis zur wissenschaftlichen Methode. Seine Analyse befasse sich vor allem mit „den beiden Typen des methodologischen Apriori: mit dem Typ, der als wissenschaftlich unzulässig verworfen und dem, der immanent akzeptiert wird“559. 553
Brecht, PT, S. 259. Brecht, PT, S. 152. 555 Brecht, PT, S. 117. 556 Dies gilt jedenfalls dann, wenn sie sich auf Werte beziehen. Aus Brechts Argumentation wird sichtbar, daß er „Urteile a priori“ in diesem Zusammenhang ausschließlich als Werturteile versteht. 557 Vgl. Brecht, PT, S. 118 f. (Im Original hervorgehoben.) 558 Brecht, PT, S. 116. 559 Brecht, PT, S. 119. 554
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Die wissenschaftlich „immanente Akzeptierung“ eines „Apriori“ drückt sich zum Beispiel in der bereits erläuterten „Konsubjektivität“ aus. Als unvereinbar mit der Wissenschaft erweist sich die Grundlegung durch ein Apriori nach Brecht dann, wenn hierfür „Begriffe, Propositionen oder Postulate“ gebraucht werden, „die außerhalb des Denksystems oder der Methode liegen, unter denen eine Untersuchung durchgeführt wird“560. Eine solche Verwendung findet sich beispielsweise in den normativen Vorannahmen der Naturrechtslehre561 oder in anderen Formen der Aufstellung absoluter Prinzipien. Wird der Ausdruck in diesem Sinne angewandt, liegt ein „naturalistischer Fehlschluß“ vor, nämlich der – logisch unzulässige – Schluß vom Sollen ins Sein. Den philosophischen Ursprung des „methdodologisch immanenten Apriori“ sieht Brecht in dessen „klassischer“ Verwendungsform. In seiner klassischen Bedeutung beziehe sich der Ausdruck „auf Begriffe, Propositionen oder Postulate, die ,unabhängig von aller Erfahrung‘ oder ,vor aller Erfahrung‘ für wahr oder notwendig gehalten werden“562. Diese Form des Apriori sei deshalb „als wissenschaftliche Erkenntnis akzeptiert“563. Wie ist das zu verstehen? Brecht führt den Typ des klassischen Apriori auf Immanuel Kant zurück. Es gebe drei unterschiedliche Typen des kantischen Apriori-Begriffs: (1) ,Elementarbegriffe der Sinnlichkeit‘, (2) ,Verstandesbegriffe a priori‘ und (3) ,Vernunftbegriffe a priori‘.564 Die erste Klassifikation beziehe sich auf „die a-prioriBegriffe von Raum und Zeit“. Im Kern besagten sie, „daß wir unfähig sind, uns etwas als nicht irgendwo im Raum und in der Zeit seiend oder geschehend vorzustellen oder uns Zustände vorzustellen, in denen es weder Raum noch Zeit gibt“. Diese Begriffe seien „tatsächlich bloß notwendige ,Formen‘ unserer Sinneserfahrungen oder unserer Art zu denken“565. Die zweite Kategorie werde bei Kant für Begriffe verwendet, „die eine Erfahrung ,überhaupt möglich‘ machen“. Einige dieser Begriffe seien für Kant „a priori, das heißt, unabhängig von jeder Erfahrung“: „In unserem Beispiel sind die Begriffe ,Stein‘ und ,warm‘ nicht a priori, da wir ihre Bedeutung nur durch Erfahrung kennen; aber ,ist‘ und ,ist nicht‘ sind, nach Kant, Begriffe a priori; sie sind zwei aus einem Dutzend Kategorien des Denkens, in denen allein der Verstand in der Lage ist, irgendwelche Urteile im Bereich des Seins überhaupt zu bilden.“566
560 561 562 563 564 565 566
Brecht, PT, S. 118. Vgl. dazu Brecht, PT, S. 249 ff, 387 ff, 674 sowie 676. Brecht, PT, S. 117. Brecht, PT, S. 118. Brecht, PT, S. 120 ff. Brecht, PT, S. 120. Brecht, PT, S. 121.
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Brecht stellt klar, „daß diese ,Verstandesbegriffe a priori‘ keine bestimmte Antwort auf irgendeine bestimmte Frage geben. Sie stellen nur ein formales Schema aller möglichen Antworten auf Fragen über das Sein auf.“567 Die dritte Begriffsform, die „Vernunftbegriffe a priori“, beruhe auf der Annahme Kants, daß die „Vernunft“ Fragen stelle, „die über alle möglichen Erfahrungen hinausgehen, das heißt metaphysische Fragen“. Kant lehre, daß „die menschliche Vernunft in disziplinierter Form versuchen [kann], einige Apriori-Prinzipien von absoluter Gewißheit zu erkennen“ – und zwar „hinsichtlich der Grenzen aller möglichen Erfahrung“: „Zusätzlich zur negativen Erkenntnis ihrer eigenen Grenzen kann so die reine Vernunft (das heißt Vernunft a priori) sich ,Ideen‘ über Antworten auf metaphysische Fragen bilden […], ähnlich wie der Verstand sich als fähig erwiesen hatte, Verstandeskategorien a priori zu bilden, in die hinein Feststellungen oder Urteile im Reich der Sinneswahrnehmung fallen müssen […]. Aber ebenso wie dort der Verstand, so kann auch hier die Vernunft nicht mit Sicherheit sagen, welche Antwort richtig ist.“568
Alle drei Typen des Apriori-Begriffs sind nach Auffassung Brechts mit der wissenschaftlichen Methode vereinbar. Sie stellen für ihn logisch notwendige Vorannahmen dar, ohne die wissenschaftliche Forschung, mehr noch: menschliches Denken überhaupt nicht funktionieren kann. Sie sind aus seiner Sicht also nicht als normative Zuschreibungen zu verstehen und implizieren somit nicht für seinen Wissenschaftsbegriff unzulässige Wertungen. Zwischen der wissenschaftlichen Methode und Kants Apriori-Prinzipien bestehe „kein praktischer Konflikt“.569 Alle der Wissenschaft zugrunde gelegten Vorannahmen aber, die nicht den Charakter der hier erörterten Typen – des klassischen oder des in weiten Teilen mit ihm übereinstimmenden methodologisch immanenten Apriori – aufweisen, sind mit der wissenschaftlichen Methode nicht vereinbar. Denn sie übergehen die logische Notwendigkeit der Kluft zwischen Sein und Sollen, sie stellen, wie es der Verwaltungsfachmann Brecht formuliert, einen „Verstoß gegen die Geschäftsordnung“570 dar. Nimmt man Brechts zahlreiche und ausführliche Bezugnahmen auf Kant zur Kenntnis, stellt sich die Frage, welchen Zweck sie für seine Analyse haben. Im vierten Teil seiner „Politischen Theorie“ wird deutlich: sie dienen ihm als Grundlage für seine „faktische Anthropologie“571 – für ihn ein erlaubtes Mittel, die Kluft zwischen Sein und Sollen zu überwinden. Es müsse unterschieden werden zwischen dem Grundsatz, „daß vom Sein aufs Sollen kein logischer Schluß gezogen werden kann“, und der „Existenz einer fak567 568 569 570 571
Brecht, PT, S. 122. Brecht, PT, S. 122 f. Brecht, PT, S. 125. Brecht, PT, S. 118. Brecht, PT, S. 501.
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
tischen […] Verknüpfung zwischen Sein und Sollen“.572 Als Beispiel für ein solches „faktisches Verbindungsglied“ nennt Brecht an erster Stelle die für den Menschen mögliche Begebenheit, eine „göttliche Stimme“ (hier verstanden als Tatsache, also als einen Aspekt, der in den Bereich des „Seins“ fällt) zu hören und daraus sittliche Gesetze (also einen „Soll-Inhalt“) abzuleiten. Eine Schlußfolgerung solcher Art betrachtet Brecht nicht als „logisch“, sondern als „faktisch“. Auch außerhalb „göttlicher Eingriffe“ ließen sich „faktische Verbindungsglieder“ feststellen: „Sie können auch dahin gehen (und tun das oft), daß wir bei genügend sorgfältiger Beobachtung innerer Vorgänge das Dasein von einem Etwas – einer ,inneren Stimme‘ oder eines ,Dranges‘ – feststellen können, das uns auf ein sittliches Sollen hinlenkt. Diese Stimme oder dieser Drang mag uns anweisen, gut zu sein, oder uns eine sittliche Wertordnung offenbaren […]. Kurz, ein sittliches Sollen mag seinen Verkünder oder Ansager in etwas haben, das da ist, allerdings einen Ansager, der seinen Sender nicht kennt.“573
Kants Apriori-Prinzipien sind nach Brechts Argumentation gleichbedeutend mit „faktischen Verbindungsgliedern“. Das „Faktum“ sei bei Kant „das aktive Tätigwerden der ,reinen Vernunft‘ und ihr ,unvermeidliches Ergebnis‘“. Brecht erklärt: „Aber wie Kant die Sache ansah, zieht die reine Vernunft nicht etwa logische Schlüsse aus beobachteten empirischen Tatsachen; sie arbeitet ,a priori‘, unabhängig von empirischer Beobachtung. Logisch gesprochen ist die Sachlage also, wie sie ihm erschien, ähnlich wie bei einer unmittelbaren Bezugnahme auf einen inneren Drang.“574
Gerechtigkeit und faktische Anthropologie Ausgangspunkt für Brechts Idee von der „faktischen Anthropologie“ ist also die nach seiner Auffassung in jedem Menschen nachzuweisende Existenz einer „inneren Stimme“. Die „innere Stimme“ ist hier als „Gewissen“ des Menschen zu verstehen, als „die tiefste Quelle unserer Erkenntnis von Gut und Böse“, als „der letzte Richter“.575 Wie aber kann Wissenschaft – so wie Brecht sie versteht – dieses Gebiet ergründen? Handelt es sich hier doch um Faktoren, die – ähnlich wie zum Beispiel das Ehrgefühl oder die Selbstachtung des Menschen – in den Bereich menschlicher Empfindungen fallen und damit eine Thematik betreffen, die sich auf dem Weg einer moralphilosophischen Abhandlung sehr viel besser erfassen ließen als mit den Mitteln der strengen wissenschaftlichen Methode.576 Es ließe sich der Einwand erheben, daß die Verifizierbarkeit, vor allem aber der für die wissenschaftliche Methode notwendige Schritt der induktiven Generalisierung menschlicher Empfin-
572
Brecht, PT, S. 441. Brecht, PT, S. 442. 574 Brecht, PT, S. 443. 575 Brecht, PT, S. 446. 576 Vgl. für eine solche Abhandlung z. B. Margalit, Avishai: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Berlin 1997. Siehe dazu auch Shklar, Judith N.: Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl, Berlin 1992. 573
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dungen durch die Individualität eines jeden Menschen erheblich erschwert wird. Brecht ist sich der Problematik dieses Zusammenhangs bewußt. So gesteht er ein: „Selbst wenn wir in der Lage wären, wissenschaftlich festzustellen, was die innere Stimme sagt: so lange sie verschiedenen Menschen Verschiedenes sagt, bliebe das Grundproblem des wissenschaftlichen Wertrelativismus bestehen.“577
Gleichwohl besteht nach Brecht für die Wissenschaft eine Möglichkeit, diese Schwierigkeiten zu beheben, nämlich indem es ihr gelänge, universale und „invariante“ Elemente „im Inneren“ des Menschen ausfindig zu machen. Es wären dies „unausweichliche Elemente unserer menschlichen Art zu denken“578, Elemente also, die die Existenz des Menschen als Mensch mit sich bringt, die faktisch im Menschen existieren.579 Würde die Existenz eines solchen invarianten menschlichen Elements nachgewiesen werden, dann könnte es als „faktisches Verbindungsglied“ zwischen Sein und Sollen fungieren, es würde beide Bereiche gleichsam „menschlich verbinden“580. „Faktisch“ (und nicht „logisch“) wäre dieses Element in den Augen Brechts deshalb, weil es „da ist“, weil es – wie die Apriori-Prinzipien Kants – als unvermeidbare Tatsache menschlichem Denken und Tun gleichsam vorgeordnet ist. Brecht erklärt: „Der Sinn der Bezugnahme auf die innere Stimme […] ist, daß wir tatsächlich den Drang empfinden, etwas als dasjenige zu tun, was getan werden sollte. Die Feststellung, daß ,nach dem tatsächlichen Gefühl dieses inneren Dranges das, was er befiehlt, getan werden sollte‘, enthält also keinen logischen Trugschluß.“581
Der Wissenschaft obliege die Aufgabe, nach diesen anthropologischen Grundkonstanten zu suchen und damit etwas zu untersuchen, „was in streng wissenschaftlicher Weise bisher noch nie festgestellt worden ist“. Brecht empfiehlt dafür folgendes methodische Vorgehen: „Unsere persönliche ,Intuition‘ (sollten wir dergleichen haben), daß einige Elemente unseres eigenen Denkens und Fühlens auf diesem Gebiet sich nicht nur in uns selbst vorfinden, sondern universal und invariant sind, kann als wissenschaftlicher Beweis dafür, daß sie wirklich universal und invariant sind, nicht genügen, jedenfalls nicht im intersubjektiven Sinne des Begriffs der Wissenschaft. Wir müssen also unsere eigene phänomenologische 577
Brecht, PT, S. 449. Brecht, PT, S. 125. 579 Diesen Gedanken hatte Brecht schon lange Zeit vor Erscheinen seiner „Politischen Theorie“ entwickelt. So schreibt er bereits im Jahr 1940 an Herbert Spiegelberg: „Ich freue mich im besondern, dass Sie anerkennen, dass die gemeinsame Patsche das Gleichhaltspostulat allein nicht tragen kann, sondern dass eine zusätzliche Bezugnahme auf etwas allen Menschen gemeinsames notwendig ist, mag das nun in der Zugänglichkeit für moralische Erwägungen oder, wie Sie sagen, im Besitz eines reflektierenden Bewusstseins, oder in etwas anderem gefunden werden.“ Arnold Brecht an Herbert Spiegelberg, 2. 11. 1940 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/38. In seiner „Politischen Theorie“ setzt sich Brecht erneut mit Spiegelberg auseinander: Vgl. Brecht, PT, S. 371 f. 580 Brecht, PT, S. 449. 581 Brecht, PT, S. 682. 578
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Innenschau ergänzen durch empirische Erkundungen über andere Menschen, und zwar in den Grenzen des Möglichen über so viele und verschiedene Typen von Menschen, daß induktive Generalisierungen unserer faktischen Befunde gerechtfertigt erscheinen. Um solche Forschungen sinnvoll zu leiten, können wir versuchen, ihr Ergebnis auf der Grundlage aller schon vorliegenden Auskünfte versuchsweise vorauszusagen.“582
In den letzten Kapiteln seines Buches versucht Brecht diesen selbstgestellten Anspruch an die Wissenschaft umzusetzen. Das von ihm gesuchte „invariante menschliche Element“ vermutet er im Gerechtigkeitsgefühl des Menschen. An dieser Stelle verändert sich die Ausrichtung seiner Analyse, denn es handelt sich hier um nichts anderes als um den Versuch, „absolute Werte und eine absolute Rangordnung unter ihnen zu ermitteln“583. Das Problem, vor das die Wissenschaft bei der Suche nach einer absoluten Wertordnung gestellt ist, sieht Brecht nun nicht mehr darin, daß sich absolute Werte grundsätzlich nicht wissenschaftlich beweisen lassen, sondern darin, „wie verifiziert werden kann, daß es eine absolute Wertordnung gibt, und wenn es eine gibt, wie wissenschaftlich ermittelt werden kann, welche der widerstreitenden menschlichen Intuitionen über diese Ordnung richtig ist“584. In bezug auf das Gerechtigkeitsgefühl bedeutet das, daß Wissenschaft Aussagen darüber treffen muß (und darf), was als gerecht und was als ungerecht anzusehen sei. Insoweit bewegt sich Brecht noch innerhalb seiner wissenschaftlichen Methode. Denn die Überprüfung, ob vorliegende Gerechtigkeitsgefühle einer vorab als Arbeitsgrundlage formulierten Definition von Gerechtigkeit entsprechen oder nicht, ist im Rahmen der Wissenschaft möglich. Gleichwohl zeigt sich in seinen darauf folgenden Aussagen eine deutliche Veränderung seiner bisherigen Argumentation: So wendet er in bezug auf seine Beschäftigung mit dem Gerechtigkeitsgefühl ein, daß wir „uns hier nicht mit der Ethik im allgemeinen, sondern mit der politischen Wissenschaft und der politischen Ethik im besonderen“ befassen585. Diese Einschränkung führt jedoch am Problem vorbei. Es geht nicht vorrangig darum, mit welcher Form von Ethik wir es hier zu tun haben, sondern es stellt sich vor allem die Frage, warum Wissenschaft – vor dem Hintergrund dessen, was von Brecht bisher über deren Charakter zu erfahren war – überhaupt zu Fragen der Ethik, seien sie nun allgemeiner oder politischer Art, Stellung beziehen darf. Die plötzliche Legitimierung dieser Vorgehensweise – die, um es nochmals zu betonen, eine Wertung impliziert – versucht Brecht mit dem Hinweis auf die (von ihm vermutete) Existenz der erläuterten „invarianten Elemente“ des Menschen zu begründen: 582 Brecht, PT, S. 465. – Brecht ist sich der Tragweite der in diesen Aussagen enthaltenen Implikationen offensichtlich nicht bewußt: Alle (bei vielen Gerichten aktenkundige) Ausnahmen, sog. „gewissenlose Elemente“, müßten anhand dieser Vorausbestimmung nicht als gültige Gegenbeispiele, sondern als „krankhafte Deformationen“ eingestuft werden. 583 Brecht, PT, S. 466. 584 Brecht, PT, S. 467. 585 Brecht, PT, S. 468.
3. Politische Theorie, Demokratie und Gerechtigkeit
325
Ausgehend von der These, daß es „eine Anzahl von prima vista Anzeichen dafür [gibt], daß alle Gerechtigkeitsideen, alle die vielen verschiedenen Arten des Denkens und Fühlens in Fragen der Gerechtigkeit etwas Gemeinsames haben“, zählt Brecht vier Faktoren auf, die aus seiner Sicht die Wahrscheinlichkeit eines hier vorzufindenden invarianten menschlichen Elements erhöhen: „Erstens gibt es solche Ideen überall, und sie treten überall als eine deutlich unterscheidbare Kategorie auf. Zweitens gibt es überall das Wort ,Gerechtigkeit‘ oder ein ungefähres Equivalent dafür. Drittens ist das menschliche Verlangen nach Gerechtigkeit ein so universaler Faktor, daß niemand im öffentlichen Leben es wagen kann, seine Handlungen als nicht gerecht darzustellen. Viertens gibt es das negative Anzeichen, daß wir leicht eine Handlung konstruieren können, die als nicht gerecht erscheint, die von jedem Standpunkt aus ungerecht ist, zum Beispiel wenn Eltern oder Lehrer wissentlich und aus reiner Gemeinheit ein Kind für etwas bestrafen, was ein anderes getan hat.“586
Es ließen sich also zahlreiche Hinweise finden, die die Charakterisierung des Gerechtigkeitsgefühls als ein „allgemeines menschliches Phänomen“587 erlauben und nahelegen. So argumentiert Brecht: „In Anbetracht dieser prima vista Anzeichen haben wir guten Grund zu der Annahme, daß der universale Wortbegriff der Gerechtigkeit einem universalen menschlichen Ausdrucksbedürfnis entspricht […], und daß dieses universale Bedürfnis mit einem Gefühl zusammenhängt, das wenigstens einige allen Menschen gemeinsame Elemente hat. Ferner haben wir guten Grund zu der Annahme, daß diese Elemente für die menschliche Natur sehr wichtig sein müssen, da sie mit so leidenschaftlichen Gefühlen verknüpft sind.“588
Es wird bereits hier erkennbar, daß Brecht sich mit seinem Konstrukt der „faktischen Anthropologie“ auf sehr dünnem Eis bewegt. Zwar formuliert er seine Schlußfolgerungen noch vorsichtig als eine „Annahme“, aber selbst als Annahme sind seine Feststellungen, wenn man sie an seiner wissenschaftlichen Methode mißt, wenig überzeugend, denn sie erfüllen seine eigenen Kriterien von Wissenschaftlichkeit nicht. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, daß es ihnen an empirischen Belegen mangelt – diese aber wären notwendig, um seinem eigenen Anspruch an Wissenschaft genügen zu können. Besonders der von ihm zuletzt genannte Aspekt bringt dies deutlich zum Ausdruck: So reicht sein Hinweis auf eine nicht näher verifizierte (und wohl auch schwer zu verifizierende) „Leidenschaft“ nicht aus, um seine Aussagen als „wissenschaftlich“ im Sinne der wissenschaftlichen Methode qualifizieren zu können. Ungeachtet dessen entwickelt Brecht seine Gerechtigkeitstheorie weiter: Die geschilderten Anzeichen, die aus seiner Sicht die Existenz eines invarianten Gerechtigkeitsgefühls wahrscheinlich machen, dienen ihm als Grundlage für die Formulierung einer Arbeitshypothese, „die, wenn sie wirklich durch das verfügbare Arbeitsmaterial gut gestützt wird, von der Wissenschaft unter Umständen ver586 587 588
Brecht, PT, S. 468. Brecht, PT, S. 450. Brecht, PT, S. 470.
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suchsweise sogar schon als ein wissenschaftliches ,Gesetz‘ akzeptiert werden kann, bis sie etwa durch die weitere Forschungsarbeit widerlegt wird“.589 Das hinsichtlich des Gerechtigkeitsgefühls „verfügbare Arbeitsmaterial“ reicht nach Brechts Auffassung aus, um eine „vorläufige Liste universaler Gerechtigkeitspostulate“ zu erstellen, und zwar „mit beträchtlichem Vertrauen, daß sie durch jede nur denkbare praktische Forschungsarbeit bestätigt werden wird“590. Seine fünf Postulate der Gerechtigkeit lauten: 1. „Wahrheit“, 2. „Generalität des angewandten Wertsystems“591, 3. „Gleiche Behandlung dessen, was nach dem akzeptierten Wertsystem gleich ist“, 4. „Keine über die Erfordernisse des akzeptierten Wertsystems hinausgehende Freiheitsbeschränkung“, 5. „Achtung vor den Naturnotwendigkeiten“.592 Während das erste und das letzte Postulat „von jedem besonderen Wertsystem unabhängig“ sei, schlössen die anderen drei Postulate „willkürliche Gesetze, Handlungen und Urteile“ aus. Brecht erklärt: „Obwohl sie im Gegensatz zu den anderen beiden auf ein bestimmtes Wertsystem Bezug nehmen, so ist doch das Verbot der Willkür ein universales und invariantes Element des Gerechtigkeitssinnes.“593 Gerechtigkeit verlange die Beachtung von allen fünf Postulaten. Die „[v]orläufige Evidenz, daß diese Postulate universal und invariant sind“, sieht Brecht darin, daß „es keine Äußerung in der Literatur“ gebe, „die in sachlichem Widerspruch zu einem der fünf Postulate steht“594. Er wendet allerdings ein, daß seine Liste der Gerechtigkeitspostulate „natürlich, wie alle wissenschaftlichen Hypothesen, nur als Versuch aufzufassen“ sei – zugleich betont er jedoch: „Aber diese fünf werden durch das vorhandene Beweismaterial so stark gestützt, daß sich die Frage stellt, ob die Evidenz nicht sogar genügt, um die Hypothese, daß sie universal sind, 589
Brecht, PT, S. 473. Brecht, PT, S. 477. Klingt er hier von seinem Ansatz noch sehr überzeugt, macht er hinsichtlich dieser Fragen in einem Brief an Theodor Steltzer eine wichtige Einschränkung, die in seiner „Politischen Theorie“ in dieser Deutlichkeit unerwähnt bleibt: „Ich glaube zwar, dass sich empirisch eine gewisse gemeinsame ethische Grundlage in allen Menschen finden lässt, jedenfalls als eine Anlage, ein Begehren, aber das, was sich hier wissenschaftlich feststellen lässt, genügt wohl nicht, um Ziele aufzustellen. […] Die Wiedererkenntnis der eigenen Verantwortung ist das Entscheidende.“ Arnold Brecht an Theodor Steltzer, New York, 9. 10. 1961, BAK, NLB, N 1089/26. 591 Brecht führt dazu aus: „Es ist ungerecht, zur Beurteilung von Fall zu Fall verschiedene Wertsysteme willkürlich auszuwählen.“ Vgl. Brecht, PT, S. 477. 592 Brecht, PT, S. 477 f (im Original hervorgehoben). Diese Ideen hatte Brecht bereits in seinem Aufsatz „Relative and Absolute Justice“ entwickelt, der 1939 erschien. Gustav Radbruch kommentierte Brechts Postulate damals so: „Besonders einleuchtend sind die Ausfuehrungen ueber die absoluten Elemente der Gerechtigkeit, nur Nr. 4 […] ist mir zweifelhaft.“ Nähere Erläuterungen enthält der Brief indes nicht; Radbruchs Einwand scheint Brecht auch nicht weiter tangiert zu haben, da er 20 Jahre später nach wie vor an diesem Gerechtigkeitspostulat festhielt. Vgl. Gustav Radbruch an Arnold Brecht, Hbg Friesenberg, 25. 7. 1939, BAK, NLB, N 1089/8. 593 Brecht, PT, S. 478. 594 Brecht, PT, S. 479. 590
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zum Rang eines wissenschaftlichen ,Gesetzes‘ zu erheben – natürlich nur versuchsweise und ,bis auf weiteres‘ […].“595
Es sei Aufgabe der Wissenschaft, Arbeitshypothesen bzw. „Gesetze“ solcher Art näher zu erforschen. Insbesondere der Politikwissenschaft wirft er vor, diesem „Forschungsfeld“ bisher nicht nachgegangen zu sein. So konstatiert er: „Es hat hier noch an einer systematischen Koordinierung von Anthropologie, Philosophie und politischer Wissenschaft gefehlt. Die politische Wissenschaft hat es versäumt, konkrete, für unser Problem relevante Fragen zu formulieren, die durch anthropologische Forschungsarbeit geprüft werden können.“596
Kritisch bleibt an diesem Punkt zu fragen, von welchem „Beweismaterial“ Brecht hier eigentlich spricht. Daß sich „in der gesamten Literatur, der alten wie der modernen, kein Widerspruch“ gegen seine Gerechtigkeitspostulate finde,597 reicht für den Beleg eines wissenschaftlichen Beweises, den er hier zu erkennen meint, nicht aus – dies umso weniger, als er nicht erwähnt, auf welche Literatur er sich konkret bezieht. Und auch sonst enthalten seine Ausführungen keinerlei empirische Belege, die Aufschluß über die Art des von ihm so bezeichneten wissenschaftlichen „Beweismaterials“ geben könnten.598 Ungeachtet dieser offenen Fragen setzt Brecht seine Untersuchung fort und konzentriert sich auf jenes seiner fünf Postulate, das ihm am wichtigsten erscheint: das der „Wahrheit“. Nach Brecht besteht ein „innerer Zusammenhang“ zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit. Den Begriff der Wahrheit will er hierbei nicht in einem „abstrakten oder metaphysischen Sinn“ verstanden wissen, sondern in seiner „alltäglichen Bedeutung von Wahrheit und Unwahrheit, Wahrhaftigkeit und Lüge“599. Es geht mithin nicht um
595
Brecht, PT, S. 485 f. Brecht, PT, S. 472. 597 Brecht, PT, S. 485. 598 Ein erster Versuch, den Begriff der Gerechtigkeit „vor der Unsicherheit des Wertrelativismus zu schützen“ (Braunbehrens, Rez-PT, S. 230), findet sich in der von Brecht so bezeichneten „Theorie der Gerechtigkeit“ im vierten Kapitel des ersten Teils. Die Unfähigkeit der Wissenschaft, letzte Maßstäbe der Gerechtigkeit aufzustellen, bedeute nicht notwendigerweise ihre Beugung vor einem z. B. diktatorischen Werturteil (in Form positiven Rechts). Brecht argumentiert, daß grundsätzlich eine Unterscheidung zwischen der wissenschaftlichen und der juristischen Geltung eines Grundsatzes vorgenommen werden müsse: „Juristisch ist es [..] durchaus möglich zu argumentieren, daß gewisse ,fundamentale‘ Rechtsgrundsätze und -maximen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit juristisch gelten […].“ Dies sei „ein juristisches Argument und nicht eine wissenschaftliche Aufstellung von Wertmaßstäben“. Brecht, PT, S. 191. Braunbehrens wendet gegen diesen Gedanken zu Recht ein: „[…] so muß sich doch bei seiner Weiterentwicklung gegen Brechts Optimismus das Bedenken wenden, daß er sich weder auf bestimmte Rechtsinhaltlichkeit eingrenzen läßt noch gegen konkurrierende Wertprinzipien gefeit ist“ (Braunbehrens, Rez-PT, S. 230). 599 Brecht, PT, S. 502. 596
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die Klärung der philosophischen Frage, was „Wahrheit“ sei. Bereits in seinem Kapitel über die „Theorie der wissenschaftlichen Methode“ bemerkt Brecht: „Nach dieser Methode zählt in der Wissenschaft nur eine solche Wahrheit, die empirisch feststellbar ist; nur sie hat wissenschaftlichen Rang. Sollte es darüber hinaus eine Wahrheit geben, so gehört sie nicht zur Wissenschaft in dem Sinne, in dem das Wort innerhalb der wissenschaftlichen Methode gebraucht wird.“600
Den Zusammenhang zwischen einer so verstandenen Wahrheit und der Gerechtigkeit sieht er dadurch begründet, daß „das Phänomen des menschlichen Gerechtigkeitsdranges […] untrennbar mit dem Erfordernis verknüpft“ sei, daß „Wahrheit die Grundlage der Gerechtigkeit bildet“601. Faktische Wahrheit, so fährt er fort, „ist eine notwendige Voraussetzung der Gerechtigkeit“602. Wie ist das zu verstehen? Einen ersten Zugang zu den von Brecht dargestellten Beziehungen zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit kann folgendes Beispiel eröffnen: „Wenn ich weiß, daß ich mein Geld für ein Vergnügen ausgegeben habe, und dann behaupte, es sei vom Zimmermädchen gestohlen worden, so ist das unwahrhaftig (und daher ungerecht), und es ist unangebracht und irrelevant, hier die philosophische Frage, Was ist Wahrheit, einzuwerfen.“603
Daraus folgt also, daß Wahrheit eine notwendige Voraussetzung für Gerechtigkeit ist.604 Wahrheit steht nach Brecht aber nicht nur in einem engen Verhältnis zur Gerechtigkeit, sondern auch zur Wissenschaft. In seinen Erörterungen über den Skeptizismus – als einer der „Vorläufer und Vettern“ des wissenschaftlichen Wertrelativismus – befindet er, daß die ursprüngliche Bedeutung dieser Denkströmung in der „,Suche nach Wahrheit‘“ gelegen habe, und zwar „in dem Sinne, daß ,derjenige, der sucht, sein Suchen fortsetzen muß, bis er das findet, was seinen Zweifel löscht‘“605. In diesem ursprünglichen Sinne liege der Skeptizismus „aller modernen Wissenschaft zugrunde“606. 600
Brecht, PT, S. 58. Brecht, PT, S. 484. 602 Brecht, PT, S. 487. 603 Brecht, PT, S. 502. 604 Daß Brecht tatsächlich der Auffassung ist, daß grundsätzlich – und nicht nur in seinem speziellen Beispiel – aus Unwahrheit Ungerechtigkeit folge, belegen seine weiteren Aussagen: So spricht er von der „positive[n] Evidenz für die Richtigkeit der faktischen Hypothese, daß alle Menschen das Erfordernis der Wahrheit in der Gerechtigkeit empfinden“ und von der „Unwahrscheinlichkeit“, daß diese Hypothese „durch gegenteilige Ergebnisse weiterer Untersuchungen widerlegt wird“. Die Verknüpfung zwischen Gerechtigkeit und Wahrheit sei „wirklich da, wie es scheint“. Vgl. Brecht, PT, S. 502. Siehe dazu auch ebd., S. 492. Die Absurdität des nach Brecht als generell zu verstehenden Zusammenhangs zwischen Unwahrhaftigkeit und Ungerechtigkeit kann durch ein Gegenbeispiel veranschaulicht werden: Es wäre demnach auch ungerecht, wenn ich behaupte, daß ich mein Geld in Eiskugeln angelegt habe, während ich es in Wahrheit für Kuchen ausgegeben habe. 605 Brecht, PT, S. 205 f. 601
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Wissenschaft bedeutet also – im Unterschied z. B. zur Kunst – Wahrheitssuche: „Die Kunst braucht Tatsachen nicht wahrheitsgetreu wiederzugeben, die Wissenschaft muß es.“607 Diese Erkenntnis allein aber reicht nicht aus, um die innere Beziehung zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit zu erklären: „Wenn wir Gerechtigkeit wissenschaftlich erörtern, suchen wir natürlich nach Wahrheit; aber das besagt nicht, daß Wahrheit ein notwendiges Element nicht nur der Wissenschaft, sondern auch ihres Gegenstandes ist.“608 Daß Wahrheit ein Postulat der Gerechtigkeit sei, ist für Brecht nicht eine Frage der Logik. Die Rechtfertigung für die „unbedingte (nicht relative) Einschließung des Postulats der Wahrheit in die wissenschaftliche Definition der Gerechtigkeit“ liegt aus seiner Sicht woanders: „Das ist die Tatsache, daß wir es hier mit einem universalen Phänomen der menschlichen Erfahrung, des menschlichen Denkens und Fühlens zu tun haben, das nicht korrekt beschrieben würde, ließen wir das Postulat aus. Die Frage, ob hier wirklich ein solches universales Phänomen vorliegt oder nicht, hat mit den Postulaten der Logik, der Wissenschaft oder der Religion nichts zu tun. Es ist ausschließlich eine Tatsachenfrage.“609
Das bedeutet also, daß Wahrheit (innerhalb ihrer Kohärenz zur Gerechtigkeit) ein „faktisches Verbindungsglied“ zwischen Sein und Sollen darstellt.610 Daß dieser Gedankengang grundlegende Fehler enthält, demonstriert Adrian Braunbehrens in seiner Rezension der „Politischen Theorie“. Aufgrund der Plausibilität und Präzision seiner Kritik lohnt an dieser Stelle eine ausführliche Wiedergabe seiner Darlegungen: „In dem Begriff der Gerechtigkeit, und noch deutlicher in den Adjektiven gerecht und ungerecht, liegt eine Äquivation, welche Brecht übersieht: Gerechtigkeit ist nämlich einmal eine bestimmte Wertvorstellung (oder eine Zusammenfassung von Vorstellungen) und zum anderen die Subsumption von tatsächlichen oder möglichen Handlungen oder Haltungen unter diese Vorstellungen. Mit der Wertvorstellung selbst hat Wahrheit aber gar nichts zu tun (allenfalls Wahrhaftigkeit); wogegen Wahrheit bei der Subsumption eine ausschlaggebende Rolle spielt; aber hier befinden wir uns teils im Bereich empirischer Tatsachenermittlung und teils im Bereich analytischer Deduktion. An der Normativität der Gerechtigkeit nimmt 606
Brecht, PT, S. 206. Brecht, PT, S. 489. 608 Brecht, PT, S. 489. 609 Brecht, PT, S. 490. – Es hinterläßt einige Zweifel, ob, wie von Brecht behauptet, die Beziehung zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit tatsächlich nichts mit Logik zu tun hat, denn es muß logisch zwangsläufig jegliche Anwendung von Gerechtigkeit auf Wahrheit bezogen sein. Brecht bringt keine Beispiele, wie die Ausübung von Gerechtigkeit ohne den Bezug auf Wahrheit überhaupt denkbar ist. Insofern muß Brecht widersprochen werden: Es besteht eine logische Verbindung der Gerechtigkeit zu dem pragmatischen Wahrheitsbegriff, mit dem er hier arbeitet. 610 Zu dieser Erkenntnis gelangt Brecht auch in einem Brief an Fritz von Hippel: „Nur einige Grundelemente scheinen unentrinnbar notwendig in allem menschlichen Denken und Fuehlen Sein und Sollen zu verbinden – tatsaechlich, nicht logisch – wie z. B. die Verbindung zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit.“ Arnold Brecht an Fritz von Hippel, Heidelberg, 17. 7. 1954, BAK, NLB, N 1089/20. 607
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die Wahrheit gar nicht teil und ist also aus diesem Grunde kein ,faktisches Verbindungsglied zwischen Sein und Sollen‘.“611
Es zeigt sich mithin, daß auch gegenüber der von Brecht behaupteten Faktizität der Wahrheit einige Zweifel angebracht sind. Dasselbe gilt für seine Überlegungen, welche Rolle Wahrheit in Wertungen spiele. Es ließe sich der Einwand erheben, so Brecht, daß das Postulat der Wahrheit in der Gerechtigkeit wenig nütze, „solange die Wissenschaft unfähig sei, die einer Diskriminierung zugrunde liegenden letzten Wertungen oder Maßstäbe zu rechtfertigen oder zu widerlegen. Die in einer Gesellschaft akzeptierten Wertmaßstäbe können Diskriminierungen, auch solche brutalster Art, gestatten oder sogar fordern.“612
Er fährt fort: „Das wäre in der Tat die beklagenswerte Situation, wenn die objektive oder subjektive Wahrheit der tatsächlichen Behauptung im einzelnen Fall für sich allein genügte, das menschliche Gerechtigkeitsgefühl zufriedenzustellen. Aber die unentrinnbare Verknüpfung zwischen Gerechtigkeit und Wahrheit geht weiter. Auch die Wertungen müssen wahrhaftige Wertungen sein; das heißt, es muß wahr sein, daß sie den Überzeugungen des Wertenden darüber, was wertvoll ist, entsprechen.“613
Die Folgen des inneren Zusammenhangs von Wahrheit und Gerechtigkeit erweisen sich bei Brecht also als weitreichend, denn sie erhalten, wie aus dem zitierten Beispiel deutlich wurde, eine politische Dimension. Aufgrund der dem Verhältnis von Wahrheit und Gerechtigkeit inhärenten Bezugnahme zur Wissenschaft gewinnt diese Feststellung an Relevanz, denn das bedeutet nichts anderes, als daß Wissenschaft auf dem Wege einer faktischen Verbindung zwischen Sein und Sollen die Legitimität und damit die Pflicht bekommt, politisch zu sein. Das wird auch bei der näheren Betrachtung des Verhältnisses zwischen Wahrheit, Wissenschaft und Gerechtigkeit und der Tragweite dieser Verbindung deutlich: Geht es nach Brecht, hat Wissenschaft unweigerlich einen Einfluß auf das Gerechtigkeitsgefühl des Menschen. So hält er als Ergebnis (bzw. als Arbeitshypothese) fest: „Die Wissenschaft, und durch sie die Wahrheit, kann mehr tun, als sich in klärenden Erörterungen von außen her einschalten, mehr tun, als nur den Weg für eine sorgfältige Wahl zwischen denkbaren Werten bereiten. […] Unentrinnbar verlangt das Gerechtigkeitsgefühl, so wie es in allen Menschen zu operieren scheint, Wahrhaftigkeit; es verlangt, und erzwingt 611
Braunbehrens, Rez-PT, S. 232. Brecht, PT, S. 494. 613 Brecht, PT, S. 494. – Daraus könnte man zunächst folgende Schlußfolgerung ziehen: Es wäre durchaus möglich, daß die „wahre“ Überzeugung eines Wertenden z. B. die ist, daß es legitim sei, bestimmte Gruppen der Gesellschaft zu diskriminieren – ein Schutz gegen Diskriminierung müßte aus der gebotenen „Wahrhaftigkeit“ von Wertungen also nicht zwangsläufig folgen. Dieses Argument wäre nach Brecht jedoch deshalb nicht schlüssig, weil aus seiner Sicht die „wahre“ Überzeugung nicht den menschlichen Invarianten widersprechen kann. 612
3. Politische Theorie, Demokratie und Gerechtigkeit
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die Anerkennung dieser Forderung zumindest im Innern des Menschen, daß wir uns bei unserer Wahl nach unseren Überzeugungen oder unserem Glauben richten. […] In ihrem Kampf um die Wahrheit beeinflußt die Wissenschaft zugleich auch die Wertungen und mit den Wertungen die Gerechtigkeitsideen und Gerechtigkeitsgefühle.“614
An dieser Stelle zeigt sich ein Widerspruch in Brechts Argumentation, denn damit sagt er implizit, daß der „wissenschaftliche Mensch“ andere Konstanten habe als der „unwissenschaftliche“. Das Gerechtigkeitsgefühl aber hat Brecht anfänglich als eine in allen Menschen vorzufindende Invariante postuliert – es stellt sich infolgedessen die Frage, was man von einer nun plötzlich beeinflußbaren Invariante zu halten hat. Wie groß die Diskrepanz zwischen dem vierten Teil und allen vorherigen Teilen der „Politischen Theorie“ ist, zeigt sich auch in der Veränderung der Sprache: Die strikte Trennung zwischen der „Sauberkeit des Denkens“ und der „Gefühlswelt“, die Brecht immer wieder als Selbstanspruch formuliert hat, hält er hier an vielen Stellen kaum noch ein. Statt dessen lesen sich seine Ausführungen eher wie eine Reminiszenz an seine Lübecker Jugendjahre, als er noch dachte, aus ihm könne ein Poet werden; auch rund fünfzig Jahre später ist er in dieser Hinsicht von einer gewissen Selbstverkennung nicht frei, denn er scheut sich nicht, einige seiner Darlegungen – wohlgemerkt: innerhalb eines Buches, das er selbst als politikwissenschaftliches Einführungswerk konzipiert hat – mit von ihm selbst verfaßten Gedichten zu schmücken.615 Um einen Eindruck zu vermitteln, wie sich Brechts Pathos im letzten Teil seiner „Politischen Theorie“ sprachlich äußert, möge das folgende Beispiel genügen: „Hier ist also in dem Ozean der Relativität ein Eiland, auf dem wir festen Fuß fassen können. Es ist kein öder Fels. Sein Boden ist fruchtbar, wie wir sahen. Gehen wir also ans Werk, bestellen wir ihn im vollen Bewußtsein, was wir tun und wie gesegnet wir sind, ihn zu besitzen. Ein köstlicher Siegespreis erwartet die Wissenschaft, wenn sie gegen Aberglauben, Tatsachenirrtümer und fehlerhaftes Denken – und besonders gegen Lügen – einen sauberen Kampf führt. Der Triumph der Wahrheit führt den Triumph der Gerechtigkeit mit sich.“616
Unabhängig davon ist für dieses Kapitel ein Vergleich mit Carl Joachim Friedrich aufschlußreich, denn zwischen den Gerechtigkeitskonzeptionen Brechts und jenen seines emigrierten Kollegen und Freundes läßt sich eine besonders auffällige Parallele ausmachen: 614
Brecht, PT, S. 498. Brecht, PT, S. 447 und S. 575 f. Einige Jahre zuvor hatte Brecht den Versuch unternommen, bei der Nymphenburger Verlagshandlung einen Gedichtband zu veröffentlichen; im Hinblick auf die Qualität der Gedichte überrascht es kaum, daß dieses Unterfangen nicht erfolgreich war. (Vgl. Wolf Lauterbach an Arnold Brecht, München, 26. 2. 1953, BAK, NLB, N 1089/22 sowie Berthold Spangenberg an Arnold Brecht, München, 10. 4. 1953, BAK, NLB, N 1089/31.) Wolf Lauterbach schlug ihm in seiner Absage vor, den Gedichtband doch besser als Privatdruck für seinen Freundeskreis herauszubringen, was Brecht gut zwanzig Jahre später schließlich auch tat. Vgl. Brecht, Lyrisches Vermächtnis. 616 Brecht, PT, S. 502. (Herv. im Orig.) 615
332
II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
Ausgangspunkt der Gerechtigkeitstheorie ist auch für Friedrich das Gerechtigkeitsgefühl des Menschen. Bereits 1935 reflektiert er den Zusammenhang zwischen dem (Un-)Rechtsempfinden des Menschen und der Konzeption von Gerechtigkeit und einem demokratischen Rechtsstaat. So schreibt er an Brecht: „Als ich dieser Tage in der Zeitung las, dass die nat.soz. Regierung auch den letzten Rest richterlicher Unabhängigkeit beseitigt habe, in dem [sic!] sie alle Richter als persönlich von Hitler ein- und absetzbar erklärt habe, musste ich an unser Gespräch über den Rechtsstaat denken. Es scheint mir danach doch nicht so, als ob die Dinge sich in der Richtung entwickelten, – denn auch im Völkerrecht ist [sic!] doch wohl eher das Gegenteil von Rechtssinn (so sehr verständlich das auch ist) vorzuherrschen. Es scheint mir vielmehr so, dass das, was man Rechtsgefühl nennt, in Deutschland im Augenblick nur ganz schwach wirksam ist. Hängt das nicht mit dem Antirationalismus zusammen? Denn letzten Endes ist doch Recht auf Regeln aufgebaut, die der Vernunft zugänglich sind. Dagegen führt die Nietzsche’s Linie auf ,Verstand wird Unsinn …‘.“
Sobald „der Glaube an die Gerechtigkeit der Rechtsprechung“ erschüttert werde, sei „der Weg zur Revolution eröffnet“.617 Daß Friedrich ähnlich wie Brecht mit anthropologischen Konstanten operiert, zeigt sich auch in seinen späteren Schriften. In seiner „Philosophie des Rechts in historischer Perspektive“ von 1955, die unter anderem Brecht gewidmet ist, ist der Ausgangspunkt seiner Überlegungen „der die Wahrheit suchende und die Gerechtigkeit wollende Mensch“618. Friedrich pflichtet Brecht in seiner (bereits 1939 formulierten) These über den Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit bei und spricht auch seinen „universalen Gerechtigkeitspostulaten“ unbedingte Geltung zu.619 Darüber hinaus legt er dem Prozeß der Rechtsschöpfung eine anthropologische Annahme zugrunde. So stelle „das Rationale im Menschen“ eine wichtige Komponente bei der Rechtsschöpfung und der über sie vermittelten Ausübung von Gerechtigkeit dar: „Wird dieser Zusammenhang zwischen Mensch und Rechtsschöpfung derart verstanden, so ergibt sich, daß die Gerechtigkeit zwar objektiv im Sinne einer überpersönlichen Wirklichkeit ist, die im Sinne eines Prozesses, nämlich eben des politischen Prozesses, verstanden werden will. Die ,Gerechtigkeit muß ewig neu verwirklicht werden‘ […]. Dieser rechtsschöpferische Prozeß ist eine Sache der Gemeinschaft in ihrer Ganzheit und Fülle, ihrer Vielgestaltigkeit und ihrer Einheitlichkeit, d. h. also des Hin- und Widerwirkens aller in ihr lebendigen Elemente.“620
617
11.
Carl Joachim Friedrich an Arnold Brecht, Cambridge, 20. 4. 1935, BAK, NLB, N 1089/
618 Friedrich, Carl Joachim: Die Philosophie des Rechts in historischer Perspektive, Berlin/ Göttingen/Heidelberg 1955, S. 103. 619 Friedrich, Philosophie des Rechts, S. 105. 620 Friedrich, Philosophie des Rechts, S. 124.
3. Politische Theorie, Demokratie und Gerechtigkeit
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Auch in Friedrichs späterer Schrift Politik als „Prozeß der Gemeinschaftsbildung“ von 1970 ist der Ausgangspunkt für seinen Gerechtigkeitsbegriff eine anthropologische Grundkonstante: das individuelle Unrechtsempfinden des Menschen.621 Neben den erwähnten argumentativen Unschärfen und logischen Fehlern in der Gerechtigkeitstheorie Brechts – Fehlern, die von Friedrich nicht nur nicht erkannt, sondern sogar verstärkt werden – werfen die Konzeptionen beider Theoretiker eine grundlegende Problematik auf, die sich aus dem Verhältnis zwischen politischer Theorie und Anthropologie ergibt: In seiner „Metaphysik der Sitten“ hält Immanuel Kant in einer Gegenüberstellung von der Natur des Menschen und der (rein moralphilosophisch begründeten) Sittlichkeit fest: „So wie es aber in einer Metaphysik der Natur auch Prinzipien der Anwendung jener allgemeinen obersten Grundsätze von einer Natur überhaupt auf Gegenstände der Erfahrung geben muß, so wird es auch eine Metaphysik der Sitten daran nicht können mangeln lassen, und wir werden oft die besondere Natur des Menschen, die nur durch Erfahrung erkannt wird, zum Gegenstande nehmen müssen, um an ihr die Folgerungen aus den allgemeinen moralischen Prinzipien zu zeigen, ohne daß jedoch dadurch der Reinigkeit der letzteren etwas benommen, noch ihr Ursprung a priori dadurch zweifelhaft gemacht wird. – Das will so viel sagen, als: eine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt werden.“622
Aus anthropologischen Annahmen läßt sich also mit anderen Worten keine politische Theorie konstruieren – genau das aber tut Arnold Brecht mit seiner Gerechtigkeitskonzeption, und dies gilt in gleicher Weise für Friedrich. Problematisch wird dies umso mehr, als Brecht sich in seiner Argumentation ausdrücklich auf Kant beruft – und zwar nicht etwa, um ihm zu widersprechen. Ähnlich wie in seinen Erörterungen über das Verhältnis von Wahrheit, Wissenschaft und Gerechtigkeit werden auch in Brechts letztem Kapitel, in dem er die Beziehung zwischen Politikwissenschaft und Religion thematisiert, erhebliche Schwächen in seiner Argumentation erkennbar: Politikwissenschaft und Religion Religion – hier verstanden als „Glaube an Gott“623 – spielt aus der Sicht von Brecht eine wichtige Rolle für die Politik und infolgedessen auch für die Politikwissenschaft. Insbesondere Demokratie und Religion stehen für ihn in einem engen Zusammenhang:
621
Vgl. Friedrich, Carl Joachim: Politik als Prozeß der Gemeinschaftsbildung. Eine empirische Theorie, Köln/Opladen 1970, S. 114 ff. 622 Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten (1797). Werkausgabe Band VIII, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, 11. Aufl., Frankfurt a. M. 1997, S. 321 f. 623 Vgl. Brecht, PT, S. 558.
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
„Man kann bezweifeln, ob die moderne Demokratie ohne religiöse Impulse jemals hätte entstehen können, und es ist auch für die Gegenwart noch eine legitime Frage der politischen Wissenschaft, ob ohne den Kitt eines gemeinsamen religiösen Glaubens die formalen Institutionen der Demokratie für sich allein imstande wären, die Gesellschaft zusammenzuhalten.“624
Noch mehr als für die Gerechtigkeit gilt für Brechts Erörterungen über die Funktion von Religion, daß er seiner (als „wissenschaftlich“ ausgegebenen) Untersuchung Wertannahmen zugrunde legt – und zwar ohne sie zu explizieren. So weist er zum Beispiel auf die Gefahr hin, „daß der Zerfall religiöser Bindungen den Zerfall der für das Funktionieren der Demokratie unerläßlichen ethischen Grundhaltungen mit sich führen wird“625. Daß für das Funktionieren der Demokratie ethische Grundhaltungen „unerläßlich“ seien, müßte gemäß der wissenschaftlichen Methode erst einmal nachgewiesen werden – dieser Nachweis aber bleibt aus, und so stellt seine Aussage nichts anderes als eine nicht explizierte These dar. Dies gilt auch für seine Ausführungen über das Verhältnis von (Politik-)Wissenschaft und Religion: „Angesichts der wichtigen Rolle, die die Religion in vielen öffentlichen Angelegenheiten spielt, kann es in der Tat keinem Zweifel unterliegen, daß sich die politische Wissenschaft mit der Religion befassen muß. Den religiösen Faktor außer acht lassen hieße oft, die Wirklichkeit verzerren und Analyse und Schlußfolgerungen auf unvollständige Daten gründen. Sobald Religion politische Haltungen motiviert, wird sie Teil des Sachgebietes, mit dem sich die politische Wissenschaft befaßt.“626
Brecht erklärt und belegt nicht, inwiefern die Religion „in vielen öffentlichen Angelegenheiten“ eine „wichtige Rolle“ spiele, und so bleibt auch sein zweiter Satz eine bloße Behauptung. Lediglich der letzte Satz scheint von einiger wissenschaftlicher Plausibilität zu sein – jedenfalls dann, wenn wissenschaftlich nachgewiesen wird, daß Religion tatsächlich politische Haltungen motiviert. Ob seinen Auffassungen über die Funktion der Religion grundsätzlich zuzustimmen ist, ist eine andere Frage, die zu erörtern hier nicht der richtige Ort ist. Denn hier geht es darum, Brechts Aussagen auf ihre Wissenschaftlichkeit zu überprüfen, und zwar ausgehend von jener Definition von Wissenschaft, die Brecht selbst aufstellt und einzuhalten vorgibt – letzteres ist im Hinblick auf seine zuvor geschilderten Behauptungen definitiv nicht der Fall. Während Brecht in der Vorgeschichte des wissenschaftlichen Wertrelativismus und in der Revolte gegen ihn eine mehrheitlich fehlende Berücksichtigung der logischen Kluft zwischen Sein und Sollen bemängelt, konstatiert er für das Verhältnis der modernen Sozialwissenschaften zur Religion das Gegenteil. Hier habe die strikte Unterscheidung zwischen Sein und Sollen zu einer „vollständige[n] Enthaltung von jeder Erörterung metaphysischer Fragen“ geführt. Damit aber sei der „Rückschlag des Pendels“ zu weit gegangen, denn diese Enthaltung „ging über das hinaus, was die 624 625 626
Brecht, PT, S. 551. Brecht, PT, S. 553. Brecht, PT, S. 554.
3. Politische Theorie, Demokratie und Gerechtigkeit
335
wissenschaftliche Methode und der wissenschaftliche Wertrelativismus wirklich verlangten“.627 Für diese „Einklammerung der Gottes-Alternative“628 führt Brecht folgenden „methodologischen Grund“ an: „Die Übereinkunft innerhalb der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts, jeden Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion als unwissenschaftlich zu verurteilen, der wissenschaftliche und religiöse Argumente miteinander vermischt, wurzelt in der Überzeugung, […] daß es unmöglich ist, die Existenz Gottes in intersubjektiv schlüssiger Form zu beweisen.“629
Gleichermaßen aber habe die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts „anerkannt, daß es unmöglich ist zu beweisen, daß es keinen Gott gibt, und somit auch unmöglich, die absolute Geltung ethischer Postulate, die sich auf Gottes Realität stützen, zu widerlegen“630. Brecht kritisiert, daß aus „der weithin akzeptierten Unfähigkeit der Wissenschaft, die Realität Gottes zu beweisen,“ die Schlußfolgerung gezogen werde, „daß alle deduktiven Beweisführungen, die von der Anerkennung Gottes und von bestimmten Eigenschaften Gottes wie Allgüte, Allwissenheit und Allmacht ausgehen, als ,nichtwissenschaftlich‘ betrachtet werden“.631
627 Brecht, PT, S. 557. Die folgenden Erörterungen hatte Brecht einige Jahre vor Erscheinen der „Politischen Theorie“ bereits in einem gesonderten Aufsatz – zuerst auf englisch, dann auf deutsch – veröffentlicht: Brecht, Gottes latenter Platz in der politischen Theorie des 20. Jahrhunderts (1956; amerik. 1954). Ritter von Lex kommentierte den Aufsatz mit den folgenden Worten: „Ich habe Ihre Ausführungen mit grosser Anteilnahme gelesen. Sie sind ein mutiges Bekenntnis zum Gottesglauben in einer immer ungläubiger werdenden Welt und regen zu sehr ernstem Nachdenken an.“ Ritter von Lex an Arnold Brecht, Bonn, 18. 2. 1957, BAK, NLB, N 1089/21. Lex’ lobendes Urteil legt den Schluß nahe, daß er den Text ausschließlich unter dem Gesichtspunkt seiner (in der Tat positiv hervorzuhebenden) ethischen Aussage, nicht aber hinsichtlich seiner (fehlenden) wissenschaftlichen Stringenz und Folgerichtigkeit gelesen hat. Dasselbe gilt für Eduard Spranger, der an Brecht schreibt: „So ernst wie von Ihnen ist die divine alternative von amerikanischen Nichttheologen wohl selten gestellt worden.“ Eduard Spranger an Arnold Brecht, Tübingen, 30. 7. 1954, BAK, NLB, N 1089/26. 628 Brecht, PT, S. 558. – Brecht bezieht sich hier auf die „transzendentale Phänomenologie“ und das Verfahren der „eidetischen Reduktion“ Edmund Husserls. Vgl. ebd., S. 453 ff. 629 Brecht, PT, S. 558. 630 Brecht, PT, S. 560. 631 Brecht, PT, S. 559 f. Nach Auffassung Brechts birgt dies auch die Gefahr in sich, daß Wissenschaft und der Glaube an Gott in einem Ausschlußverhältnis stehen. So reflektiert er in einem Brief an Hans Mestern: „In einem Aufsatz […] schrieb ich vor kurzem, dass es wahrscheinlich in der westlichen Welt nur wenige Menschen gibt, die alle Zeit davon überzeugt sind, dass es einen Gott gibt, aber auch wenige, die alle Zeit vom Gegenteil überzeugt sind. Die meisten scheinen manchmal an einen Gott zu glauben, und manchmal zu zweifeln. Immer wieder muss auch der Gläubige sein Wissen um Gott aus den Schichten des Zweifels hervorarbeiten, in stetem Ringen. Er muss es persönlich tun. Die Wissenschaft hilft ihm hier nicht, und kann ihm nicht helfen. Man muss schon zufrieden sein, wenn die Wissenschaft ihn nicht vom Glauben abhält und ihn falsche Scheinwege führt. Wenn das schon für den Glauben an Gott gilt, wieviel mehr für den an Jesus Christus als Gottes Sohn.“ Arnold Brecht an Hans Mestern, New York, 13. 3. 1954, BAK, NLB, N 1089/22.
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
Diese Kritik erweist sich nicht als haltbar. Brecht fordert an dieser Stelle implizit, daß die Realität Gottes wissenschaftliche Gültigkeit beanspruchen könne – dies aber ist im Rahmen der wissenschaftlichen Methode nicht möglich; infolgedessen kann er (innerhalb der Wissenschaft) auch nicht die gegenteilige Behauptung, daß die Anerkennung Gottes nichtwissenschaftlich sei, ablehnen. Was er aber, streng genommen, kritisieren kann, ist den Befund, daß ausschließlich Ansätze, die (implizit oder explizit, jedenfalls nachweisbar) von der (unbeweisbaren) Nichtexistenz Gottes ausgehen, als wissenschaftlich gelten. An dieser Stelle setzt ein Teil seiner Kritik auch an: „Wenn es einen Gott gibt“, so fährt Brecht fort, „wird er durch die Ausklammerung aus den Gegenständen unserer Aufmerksamkeit nicht aus der Wirklichkeit beseitigt“632. Aufgabe der Wissenschaft sei es, die Möglichkeit, daß es Gott gibt, gleichwertig neben die Möglichkeit zu stellen, daß es ihn nicht gibt – und nicht die erste Alternative „einzuklammern“: „Wenn Gott in der Wissenschaft ein Aberglaube ist, so ist ,kein Gott‘ ebensosehr ein Aberglaube. Jede dieser beiden Alternativen ist unbeweisbar; keine ist wissenschaftlich wahrscheinlicher als die andere; jede ist, wissenschaftlich gesprochen, eine bloße Hypothese.“633
Brecht erkennt in seiner „Auflösung der Klammer“634 – die er deshalb als wissenschaftlich legitim betrachtet, weil die Realität Gottes als Arbeitshypothese formuliert werde – einen enormen wissenschaftlichen Nutzen. So befindet er: „Vor allen Dingen hilft es uns, die Verwirrung zu beseitigen, die durch den methodologischen Trugschluß der Gleichsetzung des eingeklammerten Gottes mit einem nichtvorhandenen Gott angerichtet worden ist. Es hilft uns, den Sinn für wissenschaftliche Redlichkeit, Ausgeglichenheit und Tiefe wiederherzustellen.“635
632
Brecht, PT, S. 560. Brecht, PT, S. 571. Gegenüber Carl Friedrich von Weizsäcker erklärt er diesen Sachverhalt rund 25 Jahre später so: „Der Satz, dass es einen Gott gibt, ist nicht falsifizierbar. Der Satz, dass es keinen Gott gibt, ist falsifizierbar, nicht nur durch das, was wir nach dem Tode schauen moegen, sondern auch in dem Falle, dass es Gott gefiele, sich der Welt unwiderlegbar zu zeigen oder offenbaren. Wir moegen eines Tages wissen, dass es einen Gott gibt. Aber wir werden niemals wissen, wir koennen niemals wissen, dass es keinen Gott gibt. Dieses Paradox hat mich viel beschaeftigt und tut es noch.“ Arnold Brecht an Carl Friedrich von Weizsäcker, 1. 4. 1975 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/27. Auch an Theodor Heuss hatte Brecht geschrieben, hier auf Nietzsche bezugnehmend: „Das Sonderbare an N. ist eigentlich, dass dieser kluge Kopf den fundamentalen Irrtum beging, aus seinem Zweifel an der Existenz Gottes die wissenschaftliche Gewissheit zu machen, dass Gott nicht existiert. Dafuer hatte er keine Grundlage. Ich sehe eine entscheidende Entwickelung des zwanzigsten Jahrhundert darin, dass jetzt nicht nur Theisten Zweifeln ausgesetzt sind (das waren sie schon frueher), sondern auch Atheisten.“ Arnold Brecht an Theodor Heuss, Klobenstein, 9. 9. 1957, BAK, NLH, N 1221/117. 634 Brecht, PT, S. 571. 635 Brecht, PT, S. 571. 633
3. Politische Theorie, Demokratie und Gerechtigkeit
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Darüber hinaus sei die Abkehr der Wissenschaft von der Religion aus Angst vor einen Rückfall in religiöse Dogmen verkehrt: „Heute liegt die größere Gefahr darin, daß die Wissenschaft atheistische Dogmen – denn auch sie sind Dogmen – oder einem nationalistischen Ersatzdogma dienstbar wird, als daß sie in Abhängigkeit von einer theistischen Lehre gerät.“636
Vor dem Hintergrund des Gesagten sei es Aufgabe der (Politik-)Wissenschaft, „Gottes latenten Platz in der politischen Theorie des 20. Jahrhunderts anzuerkennen“637. Die Frage ist hier nicht, um dies noch einmal zu betonen, ob Brecht in seinen Überlegungen zuzustimmen ist, sondern ob sie mit seinem Begriff von Wissenschaft vereinbar sind. Aus der Sicht von Braunbehrens sehen sie im Sinne der wissenschaftlichen Methode an der tatsächlichen Lage der Wissenschaft vorbei, denn aus einer solchen Perspektive müsse Wissenschaft, „beide Seiten [die Existenz und die Nicht-Existenz Gottes, H.B.] einklammern; die einzige Aussage der Wissenschaft kann sein, daß sie zum Thema Gott nichts weiß“.638 Diese Kritik ist jedoch nicht ganz richtig. Wenn die Anerkennung der Existenz Gottes eindeutige Folgen hat für das, was wir Wirklichkeit nennen (verstanden als Lebenswirklichkeit, die also über die mit Gott erklärtermaßen verbundenen Bereiche hinausgeht), dann hat jeder Wissenschaftler Grund und Recht, wissenschaftliche Aussagen, die „von Gott nichts wissen“ (ohne das zu explizieren), als unwissenschaftlich zurückzuweisen. Denn mit der Ausklammerung der Gottes-Alternative werden auch all jene Faktoren ausgeklammert, die – wenn von der Existenz Gottes ausgegangen wird – die „Wirklichkeit“ der jeweils behandelten Sozietät erheblichen beeinflussen und (mit-)prägen. Gerade wenn Wissenschaft den Anspruch erhebt, „Wirklichkeitswissenschaft“ zu sein, müßte sie, streng genommen, die Konsequenzen aufzeigen, die die Einbeziehung der Existenz Gottes für die Lebenswirklichkeit hat.639 Brechts Forderung nach einer Gleichbehandlung beider Alternativen 636
Brecht, PT, S. 573. Brecht, PT, S. 574. 638 Braunbehrens, Rez-PT, S. 233. 639 In ihrer Habilitationsschrift macht Tine Stein auf einen ganz ähnlichen Sachverhalt aufmerksam. Zu Recht kritisiert sie, daß durch die Einklammerung der Gottesfrage in der politischen Theorie und durch die Tatsache, daß „der Agnostizismus, mitunter sogar der Atheismus als implizite methodische Grundlage des wissenschaftlichen Nachdenkens vorausgesetzt“ wird, Wissenschaft „exklusiv und reduktiv“ zu werden drohe: „Exklusiv, denn mit diesem Programm wird kein neutrales Feld der Auseinandersetzung bestellt, sondern vielmehr so getan, als ob nur unter der Prämisse dieser Einklammerung ein intersubjektiver Austausch, der auf verallgemeinerbare Aussagen hin orientiert ist, möglich sei.“ Den reduktiven Charakter sieht sie darin: „Es kann zur Folge haben, dass der Mensch tatsächlich nur noch als das in den wissenschaftlichen Sinn kommt, wofür ihn eine bestimmte neuzeitliche Sichtweise hält, nämlich für ein empirisch zu deutendes Lebewesen, dessen Definitionsmerkmale in dem aufgehen, was die moderne Wissenschaft jeweils neu herausfindet […].“ Stein, Tine: Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, Frankfurt a. M./New York 2007, S. 7. Siehe auch ebd., S. 32 ff sowie 50 ff. 637
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
widerspricht somit nicht notwendigerweise seiner Definition dessen, was im Rahmen der Wissenschaft möglich ist. Die Kritik an Brecht muß vielmehr an anderer Stelle erfolgen: Brecht erwähnt nicht, daß die Berücksichtigung der Gottes-Alternative in der Wissenschaft praktische und methodische Folgen von erheblicher Tragweite hätte. Es stellt sich die Frage, wie die Einflußnahme eines angenommenen Gottesglaubens auf das, was als Lebenswirklichkeit aufgefaßt wird, wissenschaftlich zu erforschen und empirisch zu belegen wäre. Denn damit müßte die Wissenschaft derart vielfältige und vor allem sehr vage Bereiche – wie zum Beispiel „Gottes latenten Platz in der politischen Theorie“ – untersuchen, daß die Möglichkeit dessen, was mit den Mitteln der Wissenschaft, so wie Brecht sie versteht, überhaupt machbar ist, weit überschritten würde. Die Einbeziehung der Gottes-Alternative in die Wissenschaft würde die Grundlegung eines ganz anderen Wissenschaftsbegriffs notwendig machen. Brecht versäumt es, diese weitreichenden Konsequenzen, die die Auflösung der Einklammerung Gottes in der Wissenschaft hätte, offenzulegen. Es muß also nicht seine Forderung nach einer Gleichbehandlung beider Seiten kritisiert werden, sondern seine fehlende Berücksichtigung des daraus entstehenden erheblichen Mankos an Praktikabilität. Erst aus diesem Grund – und nicht, wie Braunbehrens argumentiert, deshalb, weil die Wissenschaft keinerlei Aussagen zum Thema Gott treffen könne – ist es wissenschaftlich zu rechtfertigen, die Möglichkeit der Existenz Gottes auszuklammern. Eine andere Frage ist es indes, was von Brechts Aussagen zu halten ist, die über den hier erörterten Zusammenhang hinausgehen. Seine Bemerkungen über die von ihm als wissenschaftlich relevant erachteten Bereiche wie „Allgüte“, „Redlichkeit“ und die ethische Relevanz des Gottesglaubens sind nichts anderes als Ausdruck einer wertenden Stellungnahme, die in der Wissenschaft, wie Brecht sie versteht, nichts zu suchen hat. Unter Bezugnahme auf Brechts Lebensgeschichte allerdings lassen sich die erörterten Inkonsistenzen im letzten Teil der „Politischen Theorie“ wenn nicht erklären, so doch erhellen: Biographische Kontextualisierung Aus vielen seiner Briefe und auch aus einigen Passagen seiner Autobiographie geht hervor, daß Religion und der „Glaube an Gott“ eine zentrale Rolle in Brechts Leben gespielt hat. Dies gilt vor allem für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg; so bekennt er in einem Brief an Jürgen Fehling, „dass Religion für mich einen viel konkreteren Sinn bekommen hat, als früher, wo ich dachte, es wäre zu hoch oder zu tief sich darauf zu besinnen ausser in ganz unbestimmten Begriffen letzter Anbetung und Ergriffenheit“640. Religion ist für Brecht jedoch nicht nur eine private Glaubenssache, sondern er weist ihr – zum Beispiel indem er den Erhalt religiöser Bindungen als Voraussetzung für die Stabilität einer Demokratie betrachtet – eine 640
Arnold Brecht an Jürgen Fehling, New York, 24. 2. 1955, BAK, NLB, N 1089/18.
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politische Funktion zu. Die Rückbesinnung auf Formen der Religiosität und Innerlichkeit hat nach Brechts Einschätzung Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür liefern seine Schilderungen, die er kurz nach der Ermordung Kennedys verfaßt hat: „[…] alles sonst Vulgäre war auf einige Tage wie weggeblasen, ein grosser Sinn für Form zeigte sich als das natürliche Ergebnis des inneren Erlebnisses, ohne jede äussere Regie, und zeigte sich ja auch sehr in der äusseren Regie, wo sie nötig war, wie beim Begräbnis. Das hält noch an. Aber wie lange? Das ziellose, planlose Sichtreibenlassen, das Hoffnungslose war plötzlich verschwunden, der verloren gegangene Sinn für Drama und Tragik war wieder da. Wie lange wird das bleiben, Woran [sic!] kann sich diese Sehnsucht klammern, um gemeinsam lebendig tätig zu bleiben? Die ersten Äusserungen der Politik sind dadurch noch merklich bestimmt gewesen. Unsere Hoffnung ist, dass die Erweckung des Seelischen weiterwirken und nicht gleich wieder ungenutzt versickern wird. Das wäre sehr schade. […] Lass uns jeder für sich versuchen, und alle für einander, uns durch gebetartige Sammlung von den Versuchungen des Abgrunds zurückzureissen. Es ist noch so viel für andere zu tun.“641
Es ist diese Verknüpfung von politischer Wachsamkeit und religiöser Rückbesinnung, die Brecht anstrebt, um „die Verflachung des gesellschaftlichen und politischen Lebens aufzuhalten“642. Seine immer wiederkehrende Betonung der Grenzen von Wissenschaft scheint in nicht unerheblichem Maße mit seiner tiefen, dem Christentum verpflichteten religiösen Überzeugung zusammenzuhängen. Insofern nimmt es nicht wunder, daß er seine Gedanken über die Funktion von Religion in seiner „Politischen Theorie“ aufgreift – glaubte er doch, wie Alfons Söllner bemerkt, mit diesem Buch „die Summe seines wissenschaftlichen Lebens zu ziehen“643. Brecht erklärt, daß er in seinem Werk „nicht nur die großen Möglichkeiten der strengen Wissenschaft, sondern auch ihre Grenzen mit Sorgfalt dargestellt, die Bedeutung religiösen Glaubens gegen alle scheinwissenschaftlichen Argumente vindiziert und die Gleichzeitigkeit von Glaube und Zweifel in verschiedenen Schichten des menschlichen Bewußtseins untersucht und betont habe.“644
641
Arnold Brecht an Kurt und Luise von Fritz, New York, 19. 12. 1963, BAK, NLB, N 1089/ 19. Ähnlich beschreibt er die Auswirkungen des Kennedy-Mordes in einem Brief an Hans und Eva Simons: „Dieses grosse Volk, das seit dem Ende des Hitlerregimes mehr und mehr ziellos und haltlos sich treiben liess und den Sinn für Drama und Tragik fast verloren hatte, war plötzlich in tiefster Seele getroffen, aufgeweckt aus seinem Halbschlaf. Es ist niemals so viel geweint worden in Amerika. […] Wenn sich diese innere Erneuerung, die man überall spürte, doch halten und fruchtbar machen liesse. Dazu nach aussen und innen das grosse Schulbeispiel von der Überlegenheit der Demokratie, wo das staatliche Leben im allgemeinen Einverständnis nach vorgezeichneter Ordnung weitergeht […].“ Nachdenklich fügt er am Ende hinzu: „Wäre ich so früh gestorben wie er, so hätte ich Hitler und Amerika nicht erlebt.“ Arnold Brecht an Hans und Eva Simons, New York, 13. 12. 1963, BAK, NLB, N 1089/12. 642 Arnold Brecht an Theodor Steltzer, New York, 9. 10. 1961, BAK, NLB, N 1089/26. 643 Söllner, Zwischen Wissenschaft und Glauben, S. 199. 644 Brecht, Kraft, S. 396.
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
Das ist sicher auch als Reaktion auf die Dominanz des Empirismus zurückzuführen, die besonders für die Sozialwissenschaften in den Vereinigten Staaten charakteristisch war. In einem Brief an Eduard Spranger bemerkt Brecht dazu: „Die Englaender, und noch mehr die Amerikaner, sind wissenschaftlich ja unzweifelhaft philosophischen Spekulationen abgeneigt und der empirischen Forschung hingegeben, die sie immer weiter zu verfeinern suchen. Sie sind in Gefahr, die Bedeutung der philosophischen Grundlagen ihrer empirischen Methoden zu uebersehen oder zu unterschaetzen.“645
Doch die Analyse des letzten Kapitels der „Politischen Theorie“ hat gezeigt, daß die Problematik der von Brecht vorgetragenen Argumentation nicht in der Thematisierung der Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion liegt, sondern in seinem unbedingten Beharren, seiner religiösen Überzeugung wissenschaftlichen Ausdruck zu geben. Es soll damit nicht gesagt sein, daß sich Religion und Wissenschaft zwangsläufig ausschließen – es ist durchaus möglich, einen tiefen religiösen Glauben zu haben und gleichzeitig Wissenschaft zu betreiben. Um Brechts Kriterium der Wissenschaftlichkeit standhalten zu können, müssen jedoch beide Bereiche strikt voneinander getrennt werden. Diese Trennung vollzieht Brecht in seinem vierten Kapitel nicht. Er betont: „Besonders aber habe ich alle Anmaßungen oder Ansprüche der Wissenschaft, die Tür zum Glauben zu schließen, bekämpft und Gelehrte, die solche Versuche unternahmen, hart an die Grenzen der Wissenschaft erinnert.“646 Daraus zieht er die (wissenschaftlich nicht haltbare) Konsequenz, daß Wissenschaft Aussagen zum Glauben treffen könne. Aus biographischer Perspektive werden die Motive für die inhaltliche Ausrichtung des letzten Kapitels nachvollziehbar – die darin enthaltenen wissenschaftlichen Mängel werden dadurch trotzdem nicht beseitigt. Ähnliches gilt für das Thema der Gerechtigkeit: In seiner autobiographischen Beschreibung, welches die vorherrschenden Ideale seines politischen Denkens und Handelns gewesen seien, betont Brecht mit dem ihm eigenen Pathos: „Drei Ideale beherrschten mich, bald bewußt, bald unbewußt, bald in stiller Betrachtung, bald in leidenschaftlicher Anteilnahme. Diese Ideale waren, abstrakt benannt: Gerechtigkeit, Freiheit und Wahrheit. Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit!“647
Am reinsten sei seine Gerechtigkeitsliebe gewesen: „Das Verlangen nach Gerechtigkeit setzte sich schnell wieder durch. In der Natur frißt der größere Fisch den kleineren und dieser den noch kleineren und so fort, und keiner nimmt Rücksicht darauf, dem anderen das Gefressenwerden zu erleichtern. Der Geier stürzt sich gleich auf die Augen seines Opfers, weil das der größte Leckerbissen für ihn ist. Aber zur Natur gehört auch die Natur des Menschen, und in ihr gibt es Züge, die jener anderen Natur, an der er ebenfalls teilhat, widerstreiten: Mitleid, Gewissensdrang, Gerechtigkeitsverlan645
Arnold Brecht an Eduard Spranger, Bad-Wiessee Süd, 6. 8. 1954, BAK, NLB, N 1089/
646
Brecht, Kraft, S. 399. Brecht, Nähe, S. 54.
26. 647
3. Politische Theorie, Demokratie und Gerechtigkeit
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gen. Auch dieser Teil der Natur läßt sich nur ,besiegen‘, indem man ihm gehorcht. Die ganze Problematik des Naturrechts liegt in diesem Widerstreit beschlossen.“648
Schon während seines Studiums habe er damit begonnen, Ideen zu sammeln, die „Das Wesen des Gerechtigkeitsgefühls“ thematisieren649, und auch viele seiner Briefe zeigen, daß ihn die Frage der Gerechtigkeit stark beschäftigt hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg intensivierte sich Brechts beharrliche Suche nach Möglichkeiten, Gerechtigkeit nicht nur als politisches Leitideal zu formulieren, sondern sie auf ein wissenschaftliches Fundament zu stellen. Angesichts der vergangenen Geschehnisse, die den Holocaust ermöglicht hatten, ist das Bedürfnis, den Schutz von Recht und Gerechtigkeit nach möglichst allen Seiten – also auch wissenschaftlich – abzusichern, nicht schwer nachzuvollziehen. Die wissenschaftliche Problematik, die daraus – gemessen an Brechts Wissenschaftsbegriff – erwächst, wird dadurch gleichwohl nicht aufgehoben.650 Aus der Analyse seines Hauptwerks ist somit folgendes Fazit zu ziehen: Eines der Hauptprobleme der „Politischen Theorie“ ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen der explizierten Intention des Buches und deren praktischer Umsetzung. Brecht erhebt den Anspruch, ein Einführungs- und Überblickswerk geschaffen zu haben, in dem nicht nur das „Wesen“ des wissenschaftlichen Wertrelativismus beschrieben und erklärt wird, sondern in dem das Gebot des wissenschaftlichen Wertrelativismus und seiner Implikationen auch in den eigenen Darlegungen eingehalten wird. Tatsächlich aber ist Brechts „Politische Theorie“ auffallend stark von seinen eigenen politischen Wertvorstellungen geprägt und kommt in ihren wissenschaftstheoretischen Aussagen weniger einer deskriptiven Darstellung der politischen Ideengeschichte und einer wissenschaftlich wertfreien Behandlung des Untersuchungsgegenstandes als vielmehr dem Entwurf einer eigenen normativen „politischen Theorie“ nahe, so daß die Kategorisierung dieses Buches als „Überblickswerk“ ebenso deplaziert erscheinen muß, wie die formulierte Zielvorstellung, innerhalb der wissenschaftlichen Forschung wertfrei vorzugehen, verfehlt wird. Die normative Wendung des Werks läßt sich vor allem im letzten Teil des Buches festmachen, wenn auch einige argumentative Unschärfen bereits vorher zu erkennen sind. Ziel des vierten Teil seiner „Politischen Theorie“ ist es nach Brecht, Werte zum Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung zu machen. Dies ist mit den 648
Brecht, Nähe, S. 56. Brecht, Nähe, S. 57. 650 Dabei war sich Brecht der begrenzten (Wirkungs-)Möglichkeiten der Wissenschaft durchaus bewußt. So schreibt er an Theodor Steltzer: „Wir sollten vielmehr die Menschen darin aufrütteln, dass sie sich wieder klar werden, wie alles hier davon abhängt, dass man sich nicht auf die Wissenschaft verlässt, sondern die eigene Verantwortung erkennt dafür, welche Ziele man sich und der Welt setzen will und wie man diesen Zielen ernstlich nachleben will.“ Arnold Brecht an Theodor Steltzer, New York, 9. 10. 1961, BAK, NLB, N 1089/26. 649
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Mitteln seiner wissenschaftlichen Methode vereinbar, so lange die Wissenschaft selbst nicht zu werten beginnt. Seine Gerechtigkeitspostulate aber, ebenso wie seine Ausführungen über „Wahrheit“ und den „Glauben an Gott“, stellen – trotz gegenteiliger Bemühungen – politische und ethische Prinzipien dar, d. h. Brecht leitet hier, unter der Vorgabe, sich innerhalb der wissenschaftlichen Methode zu bewegen, SollInhalte aus dem Bereich des Seins ab. Dadurch sind Werte nicht mehr nur Gegenstand, sondern ein Mittel der Wissenschaft, und das bedeutet, daß sie gegen das Gebot des wissenschaftlichen Wertrelativismus verstößt, weil sie Werturteile fällt. „An der Grenze der Metaphysik“ werden die von ihm klar gezeichneten Grenzen der Wissenschaft Brecht selbst zum Problem – denn er versucht hier, Fragen mit Mitteln der wissenschaftlichen Methode zu beantworten, die auf diesem Weg nicht beantwortbar sind. Aus zwei Gründen erweist sich der letzte Teil der „Politischen Theorie“ für Brechts Wissenschaftsverständnis gleichwohl als aufschlußreich: Erstens wird darin sein implizites Erkenntnisinteresse sichtbar. Brechts Suche nach einem präzisen und klar umgrenzten Begriff von Wissenschaft ist nicht einem bloß wissenschaftstheoretischen Interesse geschuldet, sondern sie ist zugleich politisch motiviert. Immer geht es Brecht auch um die Frage, welchen Dienst Wissenschaft der Politik leisten kann, vor welchen politischen Gefahren Wissenschaft warnen und welche politische Handlungsmöglichkeiten sie aufzeigen kann. An keiner Stelle zeigt sich das deutlicher als in Brechts Versuch, seine Gerechtigkeitspostulate auf ein wissenschaftliches Fundament zu stellen. Die Interdependenzen zwischen der politischen Verfaßtheit einer Gesellschaft und ihrem jeweiligen Wissenschaftsverständnis, die Brecht in seiner wissenschaftstheoretischen Konzeption selbst geprägt haben, werden hier zum Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis gemacht. Es ist diese Reflexion auf das Verhältnis von Wissenschaft und Politik, die in seiner „Politischen Theorie“ zwischen den Zeilen immer wieder sichtbar wird und die ihm bei seiner Untersuchung als eine Art Leitgedanke gedient haben dürfte. Zweitens zeigen seine Erörterungen über die „faktische Anthropologie“, daß das Menschenbild für seinen Wissenschaftsbegriff von entscheidender Bedeutung ist. Brecht entwickelt hierbei keine feststehende Lehre davon, was der Mensch sei, aber er vermutet die Existenz von anthropologischen Grundkonstanten wie dem Gerechtigkeitsgefühl und dem Bedürfnis des Menschen nach Religiosität, die er in seinem Wissenschaftsbegriff zu berücksichtigen versucht – ein Unterfangen, an dem er, wie gezeigt, scheitert. dd) Kritik und Rezeption Arnold Brechts Werk ist in der heutigen sozialwissenschaftlichen Forschung weitgehend vergessen. Es gibt kaum eine Publikation, die Bezug auf seine politiktheoretischen Konzeptionen nimmt; eine Ausnahme stellen lediglich direkt nach dem Erscheinen der „Politischen Theorie“ veröffentlichte Rezensionen in Fach-
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zeitschriften dar, die allerdings – trotz ihrer auffallend hohen Anzahl651 – nicht zu einer weiteren Rezeption des Werkes und seines Autors geführt haben. Erwähnung findet er höchstens in einigen Randbemerkungen weniger Monographien und Aufsätze, deren eigentliche Themen aber nicht bei Brecht und seiner „Politischen Theorie“ liegen. Dies gilt sowohl für den deutschen als auch für den angelsächsischen Raum und vor allem für die heutige, mit einigen Abstrichen aber auch für die zeitgenössische Rezeption. Trotz des wenigen verfügbaren Materials soll der Versuch unternommen werden, einige Interpretationslinien nachzuzeichnen: Angelsächsischer Raum In der Rezeption im angelsächsischen Raum springt vor allem die fast durchgehend positive, zum Teil gar euphorische Würdigung der „Politischen Theorie“ ins Auge. In einer Rezension in der American Political Science Review (APSR) bemerkt William Anderson: „I do not recall ever having seen another scientific work in which the author so copiously and logically examines the authorities on both or all sides of the question, and so thoroughly demolishes the position that science can demonstrate the superiority of values, except for inquiries into consequences, risks, which he considers legitimate. […] A major work that so thoroughly analyzes the problem, that clears it of certain misconceptions, and that provides alternative modes of analysis, makes a contribution to the advancement of clearer thinking in political science. Dr. Brecht, I believe, made such a contribution, and a significant and impressive one.“652 651
beit.
Siehe die Auflistung der Rezensionen in der Brecht-Bibliographie im Anhang der Ar-
652 Anderson, Rez-PT, S. 204 f. Aus einem Brief von Brecht geht hervor, daß Anderson ihm die Besprechung vor der Veröffentlichung zur Durchsicht gegeben hatte. Offensichtlich fühlte Brecht sich in einigen Punkten nicht richtig verstanden, denn in seiner Antwort betont er, wie wichtig es ihm sei, daß Anderson die Intentionen seiner „Political Theory“ klar werden, die er daraufhin pointiert zusammenfaßt: „Don’t you think it important – I do, and I like to think that you agree – that we teach our younger friends both sides of the matter – how great and significant are the possible contributions of science as well as where the limits of scientific contributions are and where our personal responsibility, our personal decision, our national or, if attainable, our international agreement alone count. Nothing has been considered more important for political science than the subject of goals from the beginning of political thought to the end of the nineteenth century. This subject has come to be neglected in our time, far more neglected than is warranted. I try to put it right back where it belongs, in the center of political theory. Goals of course include means, at least to the extent that means involve or entail ends, desired or undesired ones.“ Erst auf einer so erarbeiteten Grundlage sieht Brecht die Möglichkeit, sich jenen Themen zu widmen, die er für den zweiten Band seiner „Politischen Theorie“ geplant hatte: „Only after all this has been clarified – and it took me a whole volume to do it – can scientific inquiry into the traditional topics, such as the rival forms of government, sovereignty, power, rights, techniques, administration, etc. – fall into line without constantly running against the fundamental problems of proper goals and proper means.“ Arnold Brecht an William Anderson, New York, 8. 12. 1959, BAK, NLB, N 1089/28. Daß Anderson aber vermutlich auch ohne diese Erklärungen zu einem positiven Urteil gekommen wäre, legt ein Brief nahe, den er
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Die positive Resonanz dieser Rezension läßt sich nicht nur damit erklären, daß Brecht 1946 Vizepräsident der American Political Science Association (APSA) war, deren Organ die APSR ist. Sie hängt vor allem damit zusammen, daß Brecht mit seiner „Politischen Theorie“ Themen berührte, die in seiner Zeit von großem Interesse waren; die (wenn auch nicht richtige) Auslegung seines Buches als „wissenschaftstheoretische Grundlegung des Behavioralismus“653 mag ein Hinweis dafür sein. Daß sein Buch in der zeitgenössischen Wahrnehmung der Fachwelt eine Forschungslücke füllte – ein von Brecht selbst erklärtes Ziel –, legt eine weitere Bemerkung Andersons nahe: „I do not recall a single teacher of mine in political science, economics, or sociology […] who even mentioned the issue. Whether under the influence of British empiricism or American pragmatism, my professors did not seem to consider the question of the relativism of values even worth mentioning.“654
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Felix E. Oppenheim im Journal of Philosophy: „This monumental work constitutes the first systematic analysis of various political theories from a methodological point of view.“655 Ebenso bemerkt Warren Roberts im Journal of Politics: „In so brief a review it is impossible to do justice to this clearly written, scholarly, and learned work […]. Although this reviewer does not agree with the author on certain points, he does think that Professor Brecht has written the kind of book that ought to be written; and that it should be read by all those interested in scope and method in political science.“656
Daß Brechts „Politische Theorie“ den Charakter eines sehr guten Lehrbuchs hat, befindet in der American Historical Review auch Carl Joachim Friedrich: „All in all, Brecht’s volume is an enduring achievement to which students in all the social sciences and history will turn for many years to one.“657 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Saul K. Padover, ein Kollege aus der New School, der in einem Brief an Brecht begeistert schreibt:
Brecht nach der Veröffentlichung seiner Aufsatzsammlung schrieb, die Brechts Schüler herausgebracht hatten („The Political Philosophy of Arnold Brecht“, vgl. Brecht-Bibliographie im Anhang): „Of the many able and productive scholars who have come to this country from Germany in the years since the Hitler trouble began, there is no one whom I hold in higher esteem as a person and as a scholar than I hold you.“ William Anderson an Arnold Brecht, Minneapolis, 31. 3. 1954, BAK, NLB, N 1089/28. 653 Falter, Positivismusstreit, S. 31. – Falter schränkt selbst ein, daß diese Einstufung „vielleicht weniger der Brechtschen Intention als der Aufnahme durch die Behavioralisten nach“ erfolgt sei, vgl. ebd. Daß er die zeitgenössische Wahrnehmung hier gleichwohl plausibel wiedergibt, zeigt die Zuordnung der „Politischen Theorie“ zu behavioralistischen Studien bei Somit und Tanenhaus, Development, S. 173 (Fußnote 1). 654 Anderson, Rez-PT, S. 204. 655 Oppenheim, Rez-PT, S. 441. 656 Roberts, Rez-PT, S. 710. 657 Friedrich, Rez-PT, S. 341.
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„I cannot refrain from telling you how impressed I am with the work. I really stand in awe not only of your vast scholarship but also of your genius for mastering the materials and your philosophic mind. In addition, the book is a treasure house for students and scholars. It will take a long time indeed before it will be replaced, if ever. My own personal predisposition is less for theory than for descriptive analysis of institutions, but nevertheless I find your book exciting and immensely helpful. I am proud to be your friend and colleague. […] I think you should give some thought to a condensed, paperbound edition of the book: it should, thereby, have a nation-wide and world-wide audience.“658
Auch Ferdinand A. Hermens ist sich sicher, daß das Buch stark rezipiert und besonders bei Studenten und Dozenten der politischen Theorie auf positive Resonanz stoßen wird.659 Eric Voegelin zeigt sich ebenfalls sehr angetan und schreibt an Brecht: „And I must say that I am greatly impressed by the enormous amount of work that you have put into the assembling of materials. This is certainly a most valuable book of information on at least certain aspects of contemporary political theory.“660
In seiner Monographie „Believing Sceptics“ aus dem Jahre 1978 erwähnt Robert Booth Fowler Brecht im Zusammenhang mit der Bedeutung und der Geschichte des Relativismus. Er betont: „Perhaps the most able expositor of the ethos of social science was Arnold Brecht. […] In his remarkable book Political Theory, Brecht masterfully laid out the general position.“661 Richard W. Taylor lobt in seiner Rezension im Western Political Quarterly darüber hinaus „the rare combination of intelligence and practical political experience“662 und spricht von der „Politischen Theorie“ als „the most important work in political science since Hobbes’s The Citizen [sic!]“663. Die Liste dieser Lobeshymnen ließe sich beliebig fortführen. Dies gilt nicht nur für die veröffentlichten Rezensionen, sondern auch für die persönlichen Zuschriften und Briefe, die Brecht anläßlich des Erscheinens seiner „Political Theory“ erreichten.664 Es lassen sich nur wenige Texte finden, in denen Brecht in negativer Form kritisiert wird, und wenn, dann geschieht dies meist unter der gleichzeitigen Betonung, die für „großartig“ befundene Leistung des Buches damit nicht in Abrede
658
Saul K. Padover an Arnold Brecht, New York, 25. 9. 1959, BAK, NLB, N 1089/36. Vgl. Ferdinand A. Hermens an Arnold Brecht, Notre Dame/Indiana, 2. 5. 1959, BAK, NLB, N 1089/32. 660 Eric Voegelin an Arnold Brecht, München, 11. 6. 1959, BAK, NLB, N 1089/27. 661 Fowler, Robert Booth: Believing Skeptics. American Political Intellectuals, 1945 – 1964, London 1978, S. 94. 662 Taylor, Rez-PT, S. 205. 663 Taylor, Rez-PT, S. 207. 664 Vgl. außer den bereits zitierten Briefen z. B. Robert J.M. Matterson an Arnold Brecht, Chicago, 3. 6. 1959, BAK, NLB, N 1089/28; Edmund Cahn an Arnold Brecht, New York, 30. 4. 1959, BAK, NLB, N 1089/29 sowie – einige Jahre später – Mario Lins an Arnold Brecht, Rio de Janeiro, 24. 11. 1971, BAK, NLB, N 1089/34. 659
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stellen zu wollen.665 In der von mir ausgewerteten Literatur war lediglich ein Aufsatz aus dem Jahre 1980 zu finden, in dem auf einige grundlegende Ungenauigkeiten und Unschärfen in Brechts Argumentation hingewiesen wird – allerdings überwiegt auch hier am Ende die positive Würdigung des Buches.666 Beymes Einschätzung, daß Brecht „eines der am meisten stark beachteten Bücher über politische Theorie schrieb“667, ist somit hinsichtlich der zeitgenössischen Wahrnehmung im angelsächsischen Raum von einiger Plausibilität. Deutschsprachiger Raum Für die Rezeption im deutschsprachigen Raum zeichnet sich teilweise ein etwas kritischeres Bild ab: Waldemar Besson668 untersucht die „Politische Theorie“ vor allem hinsichtlich ihrer Tragfähigkeit und Brauchbarkeit für die deutsche Politikwissenschaft seiner Zeit, also um 1960. Er kommt zu dem Ergebnis, daß Brechts Buch „leicht anachronistisch“ wirke.669 In seiner Rezension argumentiert er: „B[recht]s Grundlegung der Politischen Wissenschaft ist ein nobler Versuch, das Erbe der eigenen geistigen Väter zu bewahren und dem liberalen Geist treu zu bleiben. Aber die Frage und der Zweifel bleiben, ob die tragische Situation der Politischen Wissenschaft in den 20er und 30er Jahren hier wirklich überwunden ist. […] gerade der Wert-Relativismus konnte nicht die Grundlage einer neuen Wissenschaft von der Politik werden.“670
Daß sich Bessons Kritik aus seiner Befürwortung einer normativen Wissenschaft speist, belegen auch seine weiteren Bemerkungen: „Es ist kein Weg in ein neues Land, der hier gezeigt wird; das Lebensgefühl einer Generation, die primär durch die Erfahrung des Nationalsozialismus geprägt ist, findet hier nicht 665 Vgl. dazu z. B. die Rezensionen von C.J. Friedrich oder W. Roberts. Eine Ausnahme stellt die Rezension von J. Kemp dar, in der die von Brecht thematisierte Beziehung zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit kritisiert wird. Vgl. Kemp, Rez-PT, S. 95 f. 666 Vgl. Nelson, Allan D.: „Science“ and „Values“: Arnold Brecht’s Political Theory Revisited, in: The Political Science Reviewer 10, 1980, S. 139 – 188. 667 Beyme, Klaus von: Die Rolle der Theoriegeschichte in der amerikanischen Politikwissenschaft, in: Bermbach, Udo (Hg.), Politische Theoriengeschichte. Probleme einer Teildisziplin der Politischen Wissenschaft. PVS Sonderheft 15/1984, Opladen 1984, S. 181 – 193 (187). 668 Waldemar Besson war der Assistent des Historikers Hans Rothfels, der Brecht einmal gebeten hatte, Besson für Auskünfte über Fragen der von ihm bearbeiteten „Reichspolitik der Brüning-Papen-Phase“ zur Verfügung zu stehen. (Hans Rothfels an Arnold Brecht, Tübingen, 12. 2. 1957, BAK, NLB, N 1089/24.) Zu Hans Rothfels siehe Eckel, Jan: Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005. Vgl. auch Ullrich, WeimarKomplex, S. 602 (Fn. 246). 669 Jedoch wird auch hier die Kritik mit einiger Vorsicht und Achtung gegenüber Brecht vorgetragen. So bemerkt Besson: „Der Rez[ensent] hofft, daß ihm diese Charakterisierung nicht als Respektlosigkeit gegenüber einer großen wissenschaftlichen Leistung ausgelegt wird. Ihr Reichtum ist gewiß hier nur angedeutet worden.“ Vgl. Besson, Rez-PT, S. 1003. 670 Besson, Rez-PT, S. 1002 f.
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seinen wissenschaftlichen Ausdruck. […] Das Ideal der wertfreien Einstellung in den Geisteswissenschaften hat seine historische Stunde gehabt. Aber als Schild werden wir es heute nicht mehr vor uns hertragen können.“671
Es ist klar ersichtlich, daß Bessons anfängliche Feststellung nicht haltbar ist. Das Gegenteil dessen, was er behauptet, ist der Fall: es ist eines der Hauptanliegen Brechts, vor dem Hintergrund der Erfahrung des Nationalsozialismus einen Wissenschaftsbegriff zu entwickeln, der gegenüber künftigen diktatorischen Regierungssystemen gewappnet ist. Besson erliegt hier dem Mißverständnis, daß nur die Befürwortung einer normativen Wissenschaft Ausdruck einer „wissenschaftlichen Verarbeitung“ der NS-Diktatur sein könne. Eine solcherart motivierte Kritik sagt jedoch nichts über den wissenschaftlichen Gehalt der „Politischen Theorie“ aus, sondern ist lediglich Ausdruck einer Meinungsverschiedenheit. Zu einem sehr viel differenzierteren Ergebnis kommt Adrian Braunbehrens in seiner Rezension. Anders als Besson ist sich Braunbehrens der normativen Wendung im letzten Teil der „Politischen Theorie“ bewußt. Die sich daraus ergebenden Widersprüche seien „aber auch ein Beitrag zur Erhellung der Lage“. So erklärt er: „Die Politische Wissenschaft hat die Methodenprobleme einer normativen Wissenschaft noch nicht gelöst, und es erscheint deshalb keineswegs angebracht, Brechts im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Buches geäußerte Besorgnis zu bestätigen, sein Buch möge in Deutschland anachronistisch erscheinen. Es ist das große Verdienst Brechts, durch sein an Material und Gedanken reiches Werk zur Klärung der Probleme und ihrer Konsequenzen beigetragen und die Wissenschaft weitergeführt zu haben.“672
Es finden sich, ähnlich wie im angelsächsischen Raum, aber auch durchweg positive Kritiken. Alwin Diemer hebt die „geglückte“ Verbindung zwischen amerikanischer und europäischer Wissenschaftstradition hervor673, Kurt von Fritz, der Brechts „Politische Theorie“ – allerdings erst knapp zehn Jahre nach ihrem Erscheinen – in einer Fußnote erwähnt, spricht von einem „sehr sorgfältigen Buch“674, und Wolf-Dieter Narr beschreibt – ebenfalls in einer Fußnote – die „Politische Theorie“ als ein Werk, „das insgesamt und fast ausschließlich einen grandiosen Einsatz für eine Wissenschaft wertfreier Natur zeigt, die ,intersubjektiv transmissibles Wissen‘ aufbereitet“675. Heinz Kluth schließlich erkennt in dem Buch einen bedeutsamen Beitrag für die Politikwissenschaft: 671
Besson, Rez-PT, S. 1003. Braunbehrens, Rez-PT, S. 233 f. – Braunbehrens fügt hinzu, daß „alle geäußerten Bedenken die Bewunderung für die in dem Werk verkörperte Leistung nicht mindern“ könnten, vgl. ebd., S. 234. 673 Diemer, Rez-PT, S. 401. 674 Fritz, Kurt von: Grundprobleme der Geschichte der antiken Wissenschaft, Berlin 1971, S. 8 (Fußnote 7). 675 Narr, Wolf-Dieter: Theoriebegriffe und Systemtheorie, 2. Aufl., Stuttgart/Berlin/Köln/ Mainz 1971, S. 192 (Fußnote 4). 672
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„Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Brechts ,Politische Theorie‘ für die Wissenschaft von der Politik einen beträchtlichen Schritt vorwärts bedeutet sowohl was das Durchdenken ihrer philosophischen Grundlagen und deren Systematisierung, als auch was die Klärung und Abgrenzung ihrer Methoden betrifft. […] Brechts Werk wird nicht nur für den Studenten ein hilfreiches Lehrbuch, sondern auch für jeden Sozialwissenschaftler und Juristen eine wertvolle Lektüre sein, vor allem in dem Sinne, daß dieses Grundlagenbuch ein Diskussionsbuch ist, das zu Widerspruch reizt.“676
Fast ausnahmslos positive Reaktionen bekam Brecht auch in Briefen von seinen deutschen Freunden und Kollegen. Die Veröffentlichung seines Buches sei „die würdigste und stilvollste Form des feierlichen Gedenkens der Gründung der University in Exile […], die man sich denken kann“, schreibt Karl Brandt.677 Fritz Eberhard, der Brechts Buch in der Zeitschrift „Publizistik“ positiv rezensiert hatte, und Karl Engisch teilen Brecht begeistert mit, daß sie sein Buch in ihren Seminaren lesen ließen und die Studenten es mit großem Interesse aufgenommen hätten.678 Karl Löwith ist sich sicher, daß Brechts „Politische Theorie“ „bei der Dürftigkeit der deutschen politischen Wissenschaft“ viele aufmerksame und dankbare Leser finden wird,679 was Brechts Verleger Hans Georg Siebeck mit dem Hinweis, daß das Buch ein „bestseller“ geworden sei, „dessen Auflagen einander jagen“, bestätigt.680 Und auch Ernst Topitsch ist der Ansicht, daß Brechts Arbeit „eine tiefe Lücke im deutschen Schrifttum zu diesen Fragen“ schließe, und erkennt vor allem unter den jüngeren Forschern „eine sehr deutliche Tendenz zur kritischen Revision des Wertabsolutismus und zum Wiederanschließen an die von Ihnen so klar und folgerichtig verfochtenen Positionen“.681 Schlußfolgerungen Die – vornehmlich zeitgenössischen – Reaktionen auf Brechts „Politische Theorie“ zeichnen ein fast einstimmiges Bild. Das Werk wurde überwiegend positiv aufgenommen, und ihm wurde – einen solchen Eindruck jedenfalls hinterlassen die zitierten Rezensionen und Briefe – eine für die Politikwissenschaft hohe Bedeutung zugesprochen. Es gibt weitere Hinweise, die nicht nur für einen (zumindest zeitgenössisch) hohen Bekanntheitsgrad der „Politischen Theorie“ sprechen, sondern die auch darauf schließen lassen, daß das Werk viel gelesen wurde. So findet sich in der 1968 erschienenen „International Encyclopedia of the Social Sciences“ ein immerhin vier Seiten umfassender Artikel über Brecht682, und es ist sicher kein 676
Kluth, Rez-PT, S. 370. Karl Brandt an Arnold Brecht, Washington D.C., 27. 3. 1959, BAK, NLB, N 1089/9. 678 Vgl. Karl Engisch an Arnold Brecht, München, 26. 6. 1962, BAK, NLB, N 1089/17 sowie Fritz Eberhard an Arnold Brecht, Berlin, 22. 7. 1963, BAK, NLB, N 1089/17. 679 Karl Löwith an Arnold Brecht, Basel, 25. 1. 1962, BAK, NLB, N 1089/21. 680 Hans Georg Siebeck an Arnold Brecht, Tübingen, 18. 4. 1963, BAK, NLB, N 1089/26. 681 Ernst Topitsch an Arnold Brecht, Heidelberg, 17. 1. 1964, BAK, NLB, N 1089/26. 682 Vgl. Landau, Martin: Arnold Brecht, in: Sills, David L. (Hg.), International Encyclopedia of the Social Sciences, Volume 2, New York 1968, S. 145 – 148. 677
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Zufall, daß in derselben Enzyklopädie für den Eintrag über „Political Theory“ Brecht selbst als Autor gewählt wurde.683 Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß sein Werk in der amerikanischen Ausgabe bis in die fünfte und in der deutschen Ausgabe bis in die zweite Auflage kam und überdies in mehrere Sprachen übersetzt wurde.684 Brecht erhielt für seine „Political Theory“ als „bestes politikwissenschaftliches Buch des Jahres 1959“ außerdem einen in der amerikanischen Politikwissenschaft angesehenen Preis, den von der APSA verliehenen „Woodrow Wilson Foundation Award“685. Trotz dieser vielfältigen Reaktionen – vor allem unmittelbar nach Erscheinen des Buches – hat Brechts „Politische Theorie“ weder in die amerikanische noch in die deutsche politikwissenschaftliche Literatur, weder in Aufsätze noch in Monographien, Eingang gefunden, so daß von einer Rezeption im eigentlichen Sinne kaum gesprochen werden kann. Wie läßt sich diese Diskrepanz erklären? Aus den oben zitierten Rezensionen wird erkennbar, daß die „Politische Theorie“ von vielen Lesern – wie von Brecht intendiert – als Einführungs- und Überblickswerk, als Lehrbuch aufgenommen und verstanden worden ist. Diese Kategorisierung mag die hohe Auflagenzahl der „Political Theory“ – gerade im Hinblick auf das weitgehende Fehlen solcher Werke in der amerikanischen Politikwissenschaft – erklären, nicht jedoch unbedingt deren ausgebliebene Rezeption; dies umso weniger, als das Werk nach der Ansicht einiger Rezensenten eine Forschungslücke zu schließen vermochte. Brecht teilte selbst diese Auffassung. So erklärt er in einem Brief an Karl Dietrich Bracher: „Der Mangel einer zusammenhaengenden Darstellung dieser Dinge in der anglo-amerikanischen Literatur hat mich veranlasst, es zu schreiben und die enthusiastische Aufnahme des Buches durch die Princeton University Press und ihre Berater hat mich in der Meinung bestaerkt, dass dafuer ein fuehlbares Beduerfnis war. Die durch mein persoenliches Lebensschicksal bedingte Kenntnis der deutschen und der amerikanischen Literatur und Geistesgeschichte schien mir die natuerliche Funktion aufzuerlegen, diesen Dienst zu leisten und meine Erfahrung mit Studenten (und nicht nur mit Studenten) auf beiden Seiten des Atlantik hat diesen Entschluss bestaerkt. Der Schwaechen bin ich mir wohl bewusst. Aber es erschien mir wichtiger, zu handeln, als mich von Skrupeln abhalten zu lassen, das Gute und Nuetzliche niederzulegen, das ich beitragen konnte. Merkwuerdigerweise hat die amerikanische Literatur in den letzten zehn Jahren die Tendenz gezeigt, sich immer mehr in theoretischen, abstrakten, partikularen Titeleien zu verlieren und den grossen Zusam683
Vgl. Brecht, Political Theory, in: IESS (1968). Siehe dazu Brecht, KDü, S. 10. Saul K. Padover berichtet, daß sogar eine Übersetzung ins Arabische geplant war: „The other day I had a lunch with Dr. Saab, Cultural Affairs Officer of the Lebanese Embassy, and he said to me: ,I have tremendous admiration for one of your colleagues, Dr. Brecht, whom I would like to meet some day. I used his Political Theory when I taught philosophy at American University in Beyreuth. I think it’s a great work, and I am thinking seriously of translating it into Arabic.‘“ Saul K. Padover an Arnold Brecht, New York, 21. 12. 1962, BAK, NLB, N 1089/36. 685 Zu dessen Preisträgern gehörten so bedeutende Autoren wie Robert M. MacIver (1947), Leonard D. White (1948), V.O. Key (1949), Henry A. Kissinger (1958), Robert A. Dahl (1962 und 1990), Barrington Moore (1967) und Herbert Kitschelt (1996). Vgl. http://www.apsanet.org/content_4344.cfm, aufgerufen am 23. 7. 2011. 684
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menhang aus dem Auge zu verlieren. Es hat sich beinahe ein Austausch der Funktionen der amerikanischen, frueher aufs praktische eingestellten, und der deutschen, frueher wegen ihrer Abstraktionen verschriehenen [sic!], wissenschaftlichen Literatur ergeben.“686
In bezug auf die Rezeption der deutschen Übersetzung äußert er sich dagegen skeptischer. So stimmt er Leopold von Wiese zu, „dass ein auf alle Sozialwissenschaften bezogener Titel besser gewesen wäre, besonders in Deutschland, wo ,politische Theorie‘ nicht wie in Amerika die allen geläufige Bezeichnung eines Zweiges der Sozialwissenschaften ist und als solcher in jedem Universitätsvorlesungsverzeichnis seinen Platz hat“. Aus diesem Grund befürchtete Brecht, daß der Absatz in Deutschland wohl „unter dem Titel leiden“ werde.687 Während sich diese Befürchtung vorerst nicht bestätigte, setzte die erhoffte Rezeption in der deutschen Politikwissenschaft gleichwohl nicht ein. Zehn Jahre nach Erscheinen der deutschen Ausgabe schreibt Brecht resigniert an Kurt von Fritz: „Ich glaubte goldene Brücken gebaut zu haben. Aber niemand betritt sie.“688 Alfons Söllner weist darauf hin, daß man beim Lesen der „Politischen Theorie“ zu der Auffassung gelangen könnte, „dass die Abstraktionslage des Buches zu hoch, also die konkreten Applikationsmöglichkeiten des wissenschaftlichen Wertrelativismus zu gering sind“. Er sieht darin einen „Faktor, der sicherlich zur Verhinderung einer langfristigen Wirkung beigetragen hat“689. Die damit implizit geäußerte Vermutung, daß der Grund für die ausgebliebene Rezeption in dem Werk selbst zu suchen ist, erweist sich vor dem Hintergrund der aufgezeigten Unstimmigkeiten in der „Politischen Theorie“ als recht plausibel – im Hinblick auf die zeitgenössische Wahrnehmung des Werks allerdings und die hierin festzustellende Tatsache, daß die meisten Rezensenten gar nicht zu dem Ergebnis kamen, daß das Buch grundlegende Mängel enthält, bleibt auch diese Begründung unbefriedigend. Das Ausbleiben der Rezeption läßt sich auch nicht damit erklären, daß die „Politische Theorie“ aufgrund der in ihr (wenn auch unbeabsichtigt) enthaltenen Normativität bei den Anhängern des in ihrer Zeit vorherrschenden Behavioralismus möglicherweise auf Ablehnung gestoßen sei – denn die normative Wendung des Werks wurde ja gar nicht bemerkt. Abgesehen davon liefert eine solche Interpretation keine Antwort auf die Frage, warum eine langfristige, also über die Phase des Behavioralismus hinausgehende Rezeption des Werks ausgeblieben ist, denn Normativismus allein stellt kein Hinderungsgrund für eine erfolgreiche Rezeptionsgeschichte dar. 686 Arnold Brecht an Karl Dietrich Bracher, New York, 1. 5. 1959, BAK, NLB, N 1089/16. (Reine Tippfehler im Original hier korrigiert, H.B.) Bracher hatte zuvor sein Bedauern ausgedrückt, „daß wir so etwas [wie Brechts „Political Theory“, H.B.] nicht gleichzeitig in Deutschland vorliegen haben, um dem fortdauernden Streit um die politische Wissenschaft eine gute Wendung geben zu können“. Karl Dietrich Bracher an Arnold Brecht, 7. 4. 1959, BAK, NLB, N 1089/16. 687 Arnold Brecht an Leopold von Wiese, New York, 24. 10. 1961, BAK, NLB, N 1089/27. 688 Arnold Brecht an Kurt und Luise von Fritz, Waldhaus Gronenberg bei Pönitz, 10. 9. 1971, BAK, NLB, N 1089/19. 689 Söllner, Zwischen Wissen und Glauben, S. 203.
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Die Diskrepanz zwischen der ausgebliebenen Wirkungsgeschichte und der positiven Resonanz, die das Werk zumindest in seiner Zeit erfuhr, läßt sich somit nicht hinreichend erklären. In bezug auf die fehlende langfristige Wirkung der „Politischen Theorie“ liefert der von Brecht selbst angeführte Hinweis auf den Titel seiner Arbeit allerdings einen möglichen Ansatzpunkt, der zumindest das heutige Desinteresse an seinem Buch erklären könnte. Denn das, was in der heutigen (deutschen) Politikwissenschaft gemeinhin unter „politischer Theorie“ verstanden wird, hat nur noch in Teilen etwas mit dem zu tun, was Brecht darunter subsumiert: Im Vorfeld seiner Untersuchung unterscheidet Brecht „nichtwissenschaftliche“ von „wissenschaftlicher“ politischer Theorie.690 Politische Theorien im „nichtwissenschaftlichen“ Sinn sind für ihn Ausdruck einer Wertvorstellung und politischen Anschauung. Er spricht hier von „Gedankensystemen“, die „alle zu wesentlichen Teilen nicht der Wissenschaft [entspringen], sondern anderen Quellen menschlichen Sinnens und Trachtens, guten oder bösen, wie religiösen Offenbarungen, gemeinsamen Weltanschauungen, nationalen Traditionen, nationalistischen Ambitionen oder dem Machtwillen einzelner Gruppen – Quellen, die keinen Anspruch auf wissenschaftlichen Rang erheben oder, wenn sie es tun, dazu nicht voll berechtigt sind“.691
Sein Buch handle demgegenüber einzig von „wissenschaftlicher“ politischer Theorie, also einer Theorie, die den Regeln der wissenschaftlichen Methode folgt. Der Begriff der „Theorie“ wird nach Brecht „immer zur Bezeichnung von Versuchen benutzt, Phänomene zu ,erklären‘, besonders, wenn das in allgemeiner und abstrakter Form geschieht“692. Keinesfalls sei eine Theorie als „Gesetz“ zu verstehen: „Eine ,Theorie‘ ist niemals ein ,Gesetz‘; sie beruft sich auf Gesetze und kann behaupten, daß es weitere Gesetze gibt, ist aber nicht selbst ein Gesetz.“693 Brecht warnt vor einem falschen Gebrauch des Begriffs: „Besonders sollten wir uns hüten, in streng wissenschaftlicher Sprache als ,Theorie‘ etwas zu bezeichnen, das in Wirklichkeit ein ,Vorschlag für die Politik‘, besonders ein Vorschlag für die Wahl von Zielen und für die Annahme bestimmter moralischer Prinzipien ist; politische Vorschläge sind Theorien nur insoweit, als sie durch eine ,Erklärung‘ von Zusammenhängen begründet werden […].“694
690 Mit dieser Unterscheidung befindet er sich im Gegensatz zur aristotelischen Tradition, nach der der Begriff der Theorie eng mit dem der Wissenschaft verbunden ist. Vgl. dazu König, G.: Theorie (I.), in: Ritter, Joachim u. a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 10, Basel 1998, Sp. 1127 – 1146. 691 Brecht, PT, S. VII f. 692 Brecht, PT, S. 15. 693 Brecht, PT, S. 15. 694 Brecht, PT, S. 604.
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Eine Theorie könne niemals eine „Tatsache“ und ebensowenig eine „logische Beziehung“ sein.695 Die „heutige wissenschaftliche politische Theorie“ liefere vielmehr „vorgedachte Gedanken für die Entfaltung praktischer Weisheit“696. Seiner eigenen Definition folgend, versteht Brecht „politische Theorie“ also als empirische Theorie, d. h. als eine Theorie, die auf der Basis von Beobachtungen und aus ihr gewonnenen Hypothesen ein möglichst genaues Abbild der Realität zeichnet. „Politische Theorie“ muß aus seiner Sicht der politischen Praxis dienen. Daß beide Bereiche in einem engen, wechselseitigen Verhältnis zueinander stünden, drückt sich in der für ihn grundlegenden Feststellung aus, daß „jede Regierungsmaßnahme angewandte politische Theorie“697 sei. In Übereinstimmung mit seinem Wissenschaftsverständnis kann eine „politische Theorie“ immer nur „tentativ“ sein698 : „Versagt eine Theorie in praktischen Versuchen, so bedarf sie der Korrektur.“699 Und er fährt fort: „Wenn wir […] einer wissenschaftlichen Theorie gegenüberstehen, ist die erste Frage die, ob sie richtig ist. Ist sie es nicht, so ist es die Aufgabe der Wissenschaft, ihr eine bessere Theorie entgegenzustellen.“700 „Politische Theorie“ ist bei Brecht demnach, so jedenfalls wird es postuliert, nicht normativ, sie ist nicht der Ausdruck einer politischen Idee. In der Anwendung dieses Theorie-Begriffs sind Brecht jedoch etliche Fehler und Ungenauigkeiten unterlaufen. So behandelt er teilweise Theorien, die normativen Charakter haben, als empirisch,701 und auch in seiner eigenen Argumentation verstrickt er sich in Unklarheiten, die mit einer präziseren Bestimmung oder gar der Umgehung des Begriffs hätten vermieden werden können. Die erwähnten Inkonsistenzen im letzten Teil des Buches sind nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen. Denn entgegen seinem eigenen Anspruch entwirft Brecht zwar eine eigene „wissenschaftliche Theorie“ (die den politischen Praxisbezug sucht), die aber gleichwohl normativ und eben nicht empirisch bestimmt ist. Die Unklarheiten und Ambivalenzen innerhalb der Anwendung seines Theorie-Begriffs sind umso gravierender, als er den Begriff der „politischen Theorie“ nicht nur für den Titel seiner Arbeit in Anspruch nimmt, sondern als Leitgedanken seiner gesamten Untersuchung versteht. Sein Buch folgt jedoch nicht nur einem Leitgedanken, sondern es handelt von zweierlei: In den ersten drei Teilen, so ließe sich zusammenfassen, bewegt sich Brecht (mit einigen Abstrichen) auf dem Boden dessen, was man dem Anspruch nach als „wertfreie“ Wissenschaft, im weitesten Sinne aber auch als praktische (Politik-)Wissenschaft 695 696 697 698 699 700 701
Brecht, PT, S. 603. Brecht, PT, S. 605. Brecht, PT, S. 14. Brecht, PT, S. 605. Brecht, PT, S. 19. Brecht, PT, S. 21. Vgl. dazu z. B. Brecht, PT, S. 22. Siehe dazu auch das nächste Kapitel II.3.b).
3. Politische Theorie, Demokratie und Gerechtigkeit
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verstehen kann,702 und im letzten Teil entwirft er – ohne es zu wollen – eine politische Idee. Abschließend läßt sich festhalten, daß Brecht mit seiner „Politischen Theorie“ ein Werk geschaffen hatte, das in der Wahrnehmung seiner Zeit der Politikwissenschaft bislang gefehlt hat. Zwar vermochte er damit ein zeitgenössisches Bedürfnis zu erfüllen, aber eine langfristige Wirkung und Geltungskraft konnte er mit seinen Darlegungen nicht erreichen. Aus heutiger Perspektive erscheint das Buch im Hinblick auf seine Anlage als etwas sperrig und in einigen Punkten auch als überholt. Brechts fast schon bürokratische Herangehensweise an den Wissenschaftsbegriff würde, verwendete man seine „Politische Theorie“ tatsächlich als Lehrbuch, von heutigen Studenten sicher nicht, wie von Engisch und Eberhard beschrieben, mit „großem Interesse“ aufgenommen, sondern hätte vermutlich eher abschreckende Wirkung. Doch trotz der geschilderten Schwächen des Buches ist Brechts „Politische Theorie“ nicht nur ein wichtiges Dokument in der Geschichte der deutsch-amerikanischen Politikwissenschaft, sondern es erhält seinen Reiz auch dadurch, daß es zu Widerspruch anregt und – auch wenn dies nicht seiner explizierten Intention entspricht – die Notwendigkeit einer Selbstreflexion der Politikwissenschaft verdeutlicht. Denn Brechts „Politische Theorie“ gibt den Anstoß, grundsätzlich danach zu fragen, wie politisch Wissenschaft sein darf und wie wissenschaftlich Politik.
b) Demokratie als bedrohte Ordnung: „Kann die Demokratie überleben?“ (1978) Die letzte Monographie Arnold Brechts erschien erst nach seinem Tod. Am 11. September 1977 starb Brecht während seines letzten Deutschlandbesuchs in Eutin, nicht weit von seiner Heimatstadt Lübeck. Ein letztes Mal war er nach Deutschland zurückgekehrt – „Zurückgekehrt zum Sterben“.703 702 Das veranschaulicht auch folgendes Zitat von Brecht: „Es ist die Aufgabe des politischen Theoretikers, gegenwärtige und künftige Probleme des politischen Lebens früher als andere zu erkennen und gründlicher als andere zu analysieren, frühzeitig dem praktischen Politiker alternative Möglichkeiten des Handelns aufzuzeigen, deren übersehbare Folgen genau durchdacht sind, und ihn nicht nur mit geistreichen Randbemerkungen, sondern mit einem soliden Vorrat von Erkenntnissen zu versehen, auf denen er aufbauen kann. Wenn die politische Theorie diese ihre Aufgabe gut erfüllt, ist sie eine der wichtigsten Waffen in unserem Ringen um den Fortschritt der Menschheit. Richtige Theorien zu verbreiten, kann bewirken, daß sich die Menschen ihre Ziele und Mittel weiser aussuchen und Wege vermeiden, die zu furchtbaren Enttäuschungen führen.“ Brecht, PT, S. 22. Der Praxisbezug wird damit eindeutig als Ziel der politischen Theorie formuliert; von einer strikten Wertfreiheit kann deshalb schon hier nicht mehr die Rede sein. Dieser Ansatz gleicht vielmehr eher der Konzeption der Politikwissenschaft als praktische Wissenschaft, so wie Wilhelm Hennis sie versteht: Hennis, Wilhelm: Politik und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft (1963), in: ders., Politikwissenschaft und politisches Denken. Politikwissenschaftliche Abhandlungen II, Tübingen 2000, S. 1 – 126. 703 Luckmann, New School, S. 357.
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Als er das Buch zu schreiben begann, hatte Brecht sein 90. Lebensjahr bereits überschritten. An seinem Lebensabend stellt er skeptisch die Frage: „Kann die Demokratie überleben?“ Dem Untertitel ist zu entnehmen, daß es in dieser Schrift um die „Herausforderungen der Zukunft“ und „die Regierungsformen der Gegenwart“ geht. Diese Fragen hatten Brecht schon länger beschäftigt. So schrieb er 1971 an Ferdinand A. Hermens: „Ihrer Klage ueber die Vernachlaessigung der gangbaren Regierungsformen als eines wichtigen Forschungsgebietes kann ich aus eigener Erfahrung nur voll zustimmen. Die Unbildung ist in diesem Gebiet sehr gross.“704 Doch es sind nicht nur die Regierungsformen, denen sein Interesse gilt. Knapp zwanzig Jahre nach Erscheinen seiner „Political Theory“ reflektiert Brecht erneut die Möglichkeiten und Grenzen der Wissenschaft: wiederholt nimmt er seinen Kampf für den wissenschaftlichen Wertrelativismus auf und scheitert dabei an seinen eigenen Ansprüchen. Da seine wissenschaftstheoretischen Reflexionen gleichwohl einige neue Erkenntnisse enthalten und er sie darüber hinaus seiner Analyse der Regierungsformen zugrunde legt, sollen sie vor der Darstellung des eigentlichen Untersuchungsgegenstandes erläutert und kritisch analysiert werden: Tatsachen, Werte und Wissenschaft Im Vorwort705 bekennt Brecht, daß er unter seinen „Berufskollegen zu der abnehmenden Zahl derjenigen gehöre, die dem Ideal der Objektivität in wissenschaftlichen Beiträgen anhängen“: „Insbesondere glaube ich noch immer, daß es bei wissenschaftlichen Beiträgen notwendig ist zu unterscheiden zwischen Äußerungen, die als Feststellung von Tatsachen gemeint sind – einschließlich der Tatsache, daß bestimmte Leute zu einer bestimmten Zeit bestimmte Werturteile vertreten haben – und solchen, die die Werturteile des Verfassers als wissenschaftliche Beiträge darstellen. Alle Versuche, die Notwendigkeit dieser Unterscheidung zu leugnen, sind gescheitert und zum Scheitern verurteilt. Sie sind Rückschritte gegenüber der bereits erreichten Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen Beiträgen und bloßen Spekulationen oder persönlichen Vorlieben. Wissenschaftlich gesehen, sind sie nicht fördernd, sondern anachronistisch.“706
Die „Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Beiträgen“ dürfe allerdings „nicht so weit übertrieben“ werden, „daß Anregungen, die in spekulativer, metaphorischer oder sogar künstlerischer Sprache angeboten werden […] von vornherein jede Relevanz abgesprochen wird“. Unerläßlich aber ist 704
20.
Arnold Brecht an Ferdinand A. Hermens, New York, 28. 12. 1971, BAK, NLB, N 1089/
705 Auch dieses Buch schrieb Brecht offensichtlich zuerst in englischer Sprache; den bibliographischen Angaben ist zu entnehmen, daß es von Irmgard Kutscher aus dem Englischen übertragen worden ist. Die deutsche Verlags-Anstalt, in der das Buch erschienen ist, gibt an, daß die Rechte nicht nur der deutschen, sondern auch „der Ausgabe in englischer Sprache“ bei ihr liegen. Eine veröffentliche englische Ausgabe existiert indes nicht. Vermutlich plante Brecht, das Buch wie bei fast all seinen vorherigen Monographien zunächst auf englisch zu veröffentlichen und es dann in einem deutschen Verlag herauszubringen. 706 Brecht, KDü, S. 10 f.
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es nach Brecht, kenntlich zu machen, aus welcher Perspektive jeweils geschrieben und gesprochen wird und also jene Differenzen offenzulegen, die wissenschaftliche von unwissenschaftlichen Beiträgen unterscheiden.707 Im ergänzenden Teil seiner Arbeit führt er diese Überlegungen aus und bringt die Zielrichtung seiner Argumentation bereits in der Überschrift zum Ausdruck: „Über die angebliche Langweiligkeit der Tatsachen-Wert-Kontroverse“. Zunächst reagiert Brecht auf den verbreiteten Vorwurf, daß der wissenschaftliche Wertrelativismus zum Versagen der Wissenschaft gegenüber der NS-Diktatur geführt habe. Vom menschlichen Standpunkt sei diese Annahme zwar verständlich, wissenschaftlich gesehen jedoch ungerechtfertigt, „weil der wissenschaftliche Wertrelativismus allen Wissenschaftlern die Freiheit gelassen und sie sogar gedrängt hatte, Ursprung, Bedeutung, Gefahren und Folgen der faschistischtotalitären Lehren mit dem Rüstzeug der Wissenschaft zu untersuchen und ihre nichtwissenschaftliche Grundlage und besonders ihre Abweichungen von der Wahrheit zu enthüllen“708.
Als Diener der Wahrheit versteht sich Brecht auch in seiner Kritik an der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, die er nun zum ersten Mal zur Veröffentlichung vorsieht.709 Es überrascht nicht, daß Brecht Ansatz und Methode der Frankfurter Schule ablehnt – erstens folgt aus seinem Wissenschaftsbegriff zwangsläufig eine Unverträglichkeit mit dem eminent politischen Charakter der Kritischen Theorie; zweitens resultiert seine Abneigung auch unabhängig von der Wissenschaft aus seiner politischen Haltung, nämlich in diesem Fall aus seiner Ablehnung des Marxismus; und drittens wird diese wissenschaftliche und politische Haltung begünstigt durch sein berufliches Umfeld an der New School, deren wissenschaftliche Ausrichtung in expliziter Abgrenzung zur Frankfurter Schule vorgenommen wurde.710 Folgerichtig gilt seine Kritik sowohl dem „marxistischen dialektischen Materialismus“ als auch dem von ihm so bezeichneten „Hegelschen dialektischen Rationalismus“: Jener schließe „alle metaphysischen Argumente“ aus und gehe von der „Unvermeidbarkeit des Klassenkampfs und des Sozialismus als den leitenden Faktoren in der Geschichte“ aus; dieser sei „in der vorgefaßten Idee eines Weltgeistes und in der allmählichen Verwirklichung der Vernunft in der Geschichte verankert“. Das Entscheidende für Brecht ist daran: „Beide beruhen auf Annahmen, die wissenschaftlich nicht bewiesen worden sind und nicht bewiesen werden können.“711 Nach seiner Auffassung gehen die Anhänger der Kritischen Theorie von einem 707
Brecht, KDü, S. 11. Brecht, KDü, S. 184 f. 709 In seiner „Politischen Theorie“ straft er die Frankfurter Schule mit Nichtachtung; es finden sich im gesamten Werk keinerlei Bezugnahmen auf sie. Lediglich Adornos „Studien zum autoritären Charakter“ finden in zwei Literaturhinweisen Erwähnung, allerdings auch hier, ohne daß Brecht sie näher erläutern oder gar Stellung dazu beziehen würde. Vgl. Brecht, PT, S. 610 und 678. 710 Vgl. dazu Kapitel II.1. 711 Brecht, KDü, S. 191. 708
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falschen Theorieverständnis aus. So sei das Studium der Theorie „im wesentlichen auf die Kritik und Bewertung der Beiträge anderer Leute gerichtet“; es werde „kaum versucht, aus dem Studium der Theorie eine Übung in der Konstruktion der Theorie zu machen“712. Für begrüßenswert hält Brecht aus diesem Grund auch die Erkenntnisse, zu denen Theodor Eschenburg in seinem Buch „Über Autorität“ gelangt: es sei „die beste ,Entlarvung‘ der Frankfurter Schule“, die er bisher gesehen habe.713 Die Rückbesinnung auf die Grenzen der Wissenschaft und damit auf die Notwendigkeit, Tatsachen und Werte voneinander zu trennen, rufe demgegenüber keineswegs Langeweile hervor, sondern berühre „eine der grundlegenden Fragen der sozialen Theorie“714. Oder anders formuliert: „Die Wissenschaft, die sich unbeirrt aller ihrer Möglichkeiten bedient, kann sehr weit kommen, ehe sie den Punkt erreicht, an dem sich die Wege trennen. Aber sie muß die Möglichkeit zugeben, daß es einen solchen Punkt gibt.“715 Den Begriff der Theorie erweitert Brecht unterdessen um einen Bedeutungsgehalt, von dem in seiner „Politischen Theorie“ in dieser Deutlichkeit und Präzision noch nichts zu erfahren war. Scharf kritisiert er die „Aufteilung der politischen Theorie in empirische und normative Theorien“: „Sie ist unlogisch und verschleiert das Problem, weil sie nicht einsieht, daß auch moralische Entscheidungen weitgehend auf Tatsachen beruhen, insbesondere auf den Folgen, die die Entscheidung für den einen oder anderen Wert mit sich bringen wird.“ Geht es nach Brecht, lassen sich beide Inhalte nicht voneinander trennen: „Die Frage, die politischen Wissenschaftlern häufig in Fragebogen vorgelegt wird: ob ihr Interesse in erster Linie der empirischen oder der normativen Theorie gelte, ist unbeantwortbar, weil niemand, der sich für die normative Theorie interessiert, seine Arbeit or-
712 Brecht, KDü, S. 186. Brecht zitiert hier einen Aufsatz aus der APSR, der sich mit der „Lage der politischen Wissenschaft in den Vereinigten Staaten“ befaßt; die dort getroffenen Aussagen lassen sich aus seiner Sicht auch auf die Kritische Theorie und die „Entwicklung der Sozialwissenschaften in Europa“ übertragen. Ebd. 713 Zu diesem Urteil kommt er in einem Brief an Eschenburg: Arnold Brecht an Theodor Eschenburg, 8. 6. 1976 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/17. Hier gibt Brecht auch an, daß er sich „mit diesen Schulen“ – gemeint ist „die antiautoritaere Bewegung von Freud bis Horkheimer, Adorno, Habermas, Bermbach, Vilmar“ – gerade näher befasse. Brecht bezieht sich dabei auf die erweiterte und überarbeitete Fassung des erstmals 1965 veröffentlichten Buches: Eschenburg, Theodor: Über Autorität, Frankfurt a. M. 1976. Zu Eschenburgs kritischer Auseinandersetzung mit der „antiautoritären Bewegung“ siehe ebd., S. 201 ff. 714 Brecht, KDü, S. 186. An dieser Stelle geht Brecht offenbar davon aus, daß dem Leser das von ihm diskutierte Problem klarer wird, wenn er es verbildlicht – wie schon im Prozeß vor dem Staatsgerichtshof greift er dafür erneut auf die Fabelwelt der Tiere zurück, was allerdings kaum überzeugen kann: „Hier geht es nicht um eine unbedeutende Sache, dies ist kein Problem für Frösche, Füchse oder Eichhörnchen. Es geht um einen wahren Löwen unter den Problemen. Ich fühle mich versucht, in einer leichteren Ader zu sprechen und diejenigen, die das Problem langweilig zu finden, zu fragen: Schon mal einen Löwen im Zoo gesehen, / Der nicht gegähnt, als er Dich gesehen?“ Ebd., S. 188. 715 Brecht, KDü, S. 191.
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dentlich leisten kann, ohne auch der empirischen Wissenschaft seine volle Aufmerksamkeit zu widmen.“716
Eine Trennung zwischen normativer und empirischer politischer Theorie muß demzufolge den Bedeutungsgehalt der Politikwissenschaft zwangsläufig reduzieren. Erneut wird hier sichtbar, daß Brecht der politischen Theorie einen starken Praxisbezug auferlegt; sie ist für ihn keine „reine Theorie“717, sondern eine praktische Wissenschaft, die die Wirklichkeit abbilden soll, um dem Praktiker Hilfe zu gewähren. Bei aller Plausibilität dieser Überlegungen muß mit Blick auf Brechts Wissenschaftsbegriff jedoch kritisch eingewendet werden: Wie ist ein Wirklichkeitsbezug ohne Werturteile denkbar?718 Höchste Priorität hat für ihn das Postulat der wissenschaftlichen Werturteilsfreiheit; gleichzeitig obliegt ihr laut Brecht die Aufgabe, ein Abbild der politischen und sozialen Wirklichkeit zu schaffen. Ohne es zu wollen, demonstriert er dabei selbst, daß das Fällen von Werturteilen notwendig ist, um den von ihm gewünschten Bezug zur Wirklichkeit herzustellen. Doch es ist nicht nur die praktische Unvereinbarkeit seiner Wissenschaftspostulate, die kritisiert werden muß. Wenn Brecht fordert, die Aufteilung der politischen Theorie in normative und empirische Theorien aufzuheben, ist daran nicht problematisch, daß er gleichsam nach einem integrierenden Ansatz sucht, um die „normative politische Theorie“ nicht zu einem kontextunabhängigen Abstraktionsgebilde verkommen zu lassen. Mein Einwand gilt vielmehr seinem Vorgehen – sowohl in der „Politischen Theorie“ als auch in seiner letzten Schrift –, das Gegenteil dessen zu praktizieren, was er als Grundsatz der Wissenschaft aufstellt und als Selbstanspruch formuliert. Es ist nach seinem Wissenschaftsverständnis möglich, den empirischen Bezug einer normativen Theorie herauszustellen; kritisch aber wird seine Herangehensweise dann, wenn er den Bedeutungsgehalt beider Ansätze eben nicht, wie von ihm vorgegeben, sauber voneinander trennt, sondern ihre Elemente miteinander vermischt. Ein Beispiel dafür ist der erörterte letzte Teil seiner „Politischen Theorie“: Hier wird Normativität als Wertfreiheit deklariert – Brecht gibt vor, eine politische Theorie zu entwickeln, deren Kern in der empirischen Erfassung dessen besteht, was ist, und legt statt dessen eine Theorie vor, die ohne Unterlaß Anweisungen dafür gibt, was sein soll. In seiner letzten Monographie zeigt sich ein weiteres Mal, daß Brecht diese Kluft zwischen Selbstanspruch und Umsetzung nicht erkannt hat, denn sie setzt sich wie ein Leitmotiv seines gesamten Werkes fort. Das zeigt sich auch in seiner Auseinandersetzung mit einem Thema, dessen Kategorisierung als wissenschaftlich wertfreie Theorie Erstaunen hervorrufen muß: In Anknüpfung an Hans Jonas fragt Brecht nach der Verantwortung des Wissen716
Brecht, KDü, S. 188. So wie von Betrand de Jouvenel dargelegt: Reine Theorie der Politik, Neuwied/Berlin u. a. 1967. 718 Vgl. dazu die Ausführungen von Wilhelm Hennis, nach dem die Wissenschaft „jeden Anspruch an das Leben“ verlöre, wenn sie ihre Kompetenz infragestellt, Werturteile zu fällen. Hennis, Politik und praktische Philosophie, S. 75 f. 717
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schaftlers.719 Jonas sei in seiner These zuzustimmen, „daß es nämlich unsere offensichtliche Pflicht ist, nichts zu tun, was das Leben des Menschen auf der Erde unmöglich macht, weil der Mensch der am höchsten entwickelte Organismus auf der Erde ist“. Brechts Befürwortung dieses Grundsatzes stützt sich aber nicht allein auf ethische Gesichtspunkte, sondern er hält ihn auch mit seinem Verständnis von Wissenschaft für vereinbar. Das von Jonas vorgebrachte Argument sei ein „Durchbruch in der Theorie, weil es sich auf die grundsätzliche Aussage beschränkt, daß das menschliche Leben überhaupt nicht unmöglich gemacht werden darf“. Während die Behauptung, daß alle Menschen gleich seien, „jenseits der wissenschaftlichen Beweisbarkeit“ liege, könne man „wegen dieser bescheidenen Beschränkung auf das menschliche Leben überhaupt“ annehmen, „daß das Werturteil über die Überlegenheit des Menschen ein Teil des universalen, unveränderlichen menschlichen Wissens und damit Teil des ,intersubjektiv transmissiblen Wissens‘ ist“720. Darin zeigt sich Brechts hartnäckiges Bestreben, ethische Grundsätze wissenschaftlich abzusichern – doch erneut überschreitet er damit die Grenzen dessen, was mit seinem Begriff von Wissenschaft möglich ist. Ungeachtet dessen ist Brecht davon überzeugt, daß seine „Politische Theorie“ „bisher die einzige umfassende wissenschaftliche politische Theorie unserer Zeit geblieben ist“. Alle anderen Theorien seien „entweder lediglich Kritiken der Meinungen anderer oder Beschreibungen ausgewählter Systeme“; darüber hinaus gebe es noch „in einigen wenigen Fällen isolierte Versuche, eine originale politische Theorie aus einem nichtwissenschaftlichen Axiom abzuleiten“. Auf ihn selbst treffe das alles aber nicht zu, vielmehr beschreibt er sich so: „Ein Verfasser, der es sich versagt, anderen im Namen der Wissenschaft Werturteile aufzuoktroyieren, genießt den Vorzug eines soliden Ausgangspunktes für die Entwicklung einer wissenschaftlichen politischen Theorie.“721 Die Anwendung einer so vorbereiteten „wissenschaftlichen politischen Theorie“ auf die Frage „Kann die Demokratie überleben?“ gestaltet sich bei Brecht nunmehr wie folgt: Über die Stärken und Schwächen der Demokratie In seinem Vorwort erläutert Brecht, daß er aufgrund der „tiefen Veränderungen der Weltlage“ den Entschluß gefaßt habe, ein altes Thema wieder aufzugreifen, das er ursprünglich als Teil des nicht verwirklichten zweiten Bandes seiner „Politischen Theorie“ geplant hatte: „Rivalisierende Staatsformen“. Als tiefe „Veränderungen der 719 Hans Jonas berühmtes Buch über „Das Prinzip Verantwortung“ war noch nicht erschienen, doch er hatte einige seiner Thesen bereits in Aufsätzen publiziert. Brecht bezieht sich explizit auf folgenden Aufsatz: Jonas, Hans: Responsibility to Date: The Ethics of Endangered Future, in: Social Research 43, 1976, S. 77 ff. Siehe Brecht, KDü, S. 210. Zu Jonas vgl. ders.: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979. 720 Brecht, KDü, S. 192. 721 Brecht, KDü, S. 195.
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Weltlage“ nimmt Brecht einerseits den sich zuspitzenden Kalten Krieg und andererseits die wachsende Gefahrenlage der ökologischen Entwicklungen wahr: „Die politischen Ereignisse haben die Gegensätze zwischen Demokratie und Kommunismus immer mehr verschärft, während neue Erkenntnisse über die physische Beschaffenheit der Erde und ihrer Atmosphäre beide Regierungsformen vor vollkommen neue Gefahren für das Wohlergehen, ja für die Existenz des Menschen gestellt haben. Immer mehr drängt sich die Frage auf, wie diese Gefahren von irgendeiner Regierung erfolgreich bekämpft und überwunden werden können.“722
Aus dieser Diagnose leitet Brecht seinen Untersuchungsgegenstand ab: Sein Hauptinteresse gelte „den Schwächen demokratischer Institutionen und ihrer Fähigkeit oder Unfähigkeit, mit den neuerkannten Gefahren fertig zu werden“723. Die übergeordnete Fragestellung lautet für Brecht: „Wie kann die Demokratie es schaffen und überleben?“724 Um diese Frage beantworten zu können, entwickelt er für seine Analyse eine Methode, die er als „Zweck-Mittel-Konflikt-AbhilfenSchema“ bezeichnet, das wiederum auf sechs Regierungsformen angewendet werden soll: Demokratie, konstitutionelle und absolute Monarchie, kommunistische und nationalsozialistische Diktatur sowie „Humaner Sozialismus“.725 Innerhalb dieses Schemas würden „die Regierungsformen nach den von ihnen selbst ausgesprochenen Zwecken oder Idealen beurteilt“726, wobei eine solche Analyse als idealtypisch zu verstehen ist: „Hier wird nicht die Forderung gestellt, daß die idealen Zwecke eines Regierungssystems in vollkommener Form verwirklicht werden können und müssen. Es sind vielmehr die Ziele, an denen sich die Bemühungen einer Regierung orientieren können; sie annähernd zu erreichen ist der Grundzweck der institutionellen Mittel.“727
Mit seinem „Zweck-Mittel-Konflikt-Abhilfen-Schema“ will sich Brecht von jenen Ansätzen abgrenzen, die Regierungen „nach dem Ort der Macht“ klassifizierten. Denn diese traditionelle Klassifizierung ist nach seiner Auffassung „theoretisch unsauber und praktisch unrealistisch“, da sie nicht berücksichtige, „daß ,Macht‘ haben zwei (oder mehrere) verschiedene Dinge bedeuten“ könne, nämlich 722
Brecht, KDü, S. 10. Brecht, KDü, S. 11. 724 Brecht, KDü, S. 12. Daß eine so formulierte Fragestellung Zweifel an der Einhaltung seines Gebots der wissenschaftlichen Wertfreiheit aufkommen lassen kann, merkte Brecht wohl selbst, denn rechtfertigend fügt er hinzu: „Dieser Brennpunkt der Aufmerksamkeit ist natürlich von meiner hohen persönlichen Bewertung demokratischer Ideale mitbestimmt worden. Aber die Untersuchung selbst wird mit äußerster Beachtung der Objektivität durchgeführt, die notwendig ist, um den wissenschaftlichen Wert meines Beitrags zu erhalten.“ Ebd. Diese Rechtfertigung kann allerdings nicht überzeugen. Gegenüber Brecht muß eingewendet werden, daß die Objektivität und Wertfreiheit seiner Darlegungen nicht allein darin bestehen kann, daß er immer wieder beteuert, sie auch einzuhalten. 725 Brecht, KDü, S. 21 ff. 726 Brecht, KDü, S. 11. 727 Brecht, KDü, S. 147. 723
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die ,Rechts-Macht‘ und die ,Stärke-Macht‘.728 Aus diesem Grund wolle er „rivalisierende Regierungsformen oder -systeme im allgemeinen nicht nach vorher festgelegten Klassifizierungsmerkmalen“ erörtern, sondern – mit Hilfe des erwähnten Schemas – jene Regierungstypen untersuchen, „die im zwanzigsten Jahrhundert eine hervorragende Rolle gespielt haben“.729 Die vier Kategorien seines Schemas seien dabei als vorläufig anzusehen. In den darauf folgenden Kapiteln wendet Brecht sein Schema auf die von ihm ausgewählten Regierungsformen an. Das hat zur Folge, daß auch seine Darstellung sehr schematisch ist: Der Text ist stark untergliedert und enthält oftmals keine vollständigen Sätze, sondern eine – wenn auch sauber sortierte – Auflistung verschiedener thematischer Stichpunkte. Zwar hat Brecht den Vergleich der Regierungssysteme bewußt in tabellarischer Form angelegt, doch ist die Darstellung – sowohl in inhaltlicher als auch in formaler Hinsicht – insgesamt ungeschickt ausgeführt, so daß man beim Lesen den Eindruck gewinnt, hier handele es sich um eine bloße Zusammenstellung erster Vorentwürfe und Notizen.730 Dennoch lohnt ein Blick auf seine dort entwickelten Ansätze und Thesen; da seine Analysen zum „Sowjetkommunismus“ aus heutiger Sicht allerdings überholt sind und sie darüber hinaus für die Frage nach dem Wesen der Brechtschen (Politik-)Wissenschaft kaum ertragreich sind, soll der Schwerpunkt im folgenden ausschließlich auf seine Auseinandersetzung mit dem Regierungssystem der Demokratie gelegt werden: Wenn nach der Bedeutung der Demokratie gefragt wird, sind wir nach Brecht zunächst vor die Schwierigkeit gestellt, daß es in der Geschichte eine Vielzahl von Interpretationen der Demokratie gegeben hat und es infolgedessen schwierig ist, eine allgemeine Definition zu finden: „Es gibt kein verfügbares oder vorstellbares wissenschaftliches Argument, durch das wir jemanden zwingen können, eine bestimmte Bedeutung als richtig und als allein richtig anzuerkennen.“ Übrig bleibe nur „eine Art negative Definition, nämlich daß eine Organisation, die keinerlei Rücksicht auf den Willen des Volkes nimmt, nicht demokratisch ist“731. Um diese definitorischen Lücken zu schließen, hält Brecht es für erforderlich und sinnvoll, mathematische Formeln zu entwickeln, die die Kennzeichen der Demokratie näher bestimmen sollen. Für Demokratien „im modernen westlichen Sinne“ gilt etwa die Formel: „D2: D = MR+UG+M (1-[MR+UG])“ Aufgeschlüsselt bedeutet das: „bestimmte Menschenrechte (MR) und die Unabhängigkeit der Gerichte (UG) unterliegen nicht der Einwirkung durch einfache Mehrheiten, aber alle anderen Entscheidungen werden 728
Vgl. dazu Brecht, KDü, S. 19 f. Brecht, KDü, S. 20. 730 Da das Buch erst nach Brechts Tod erschienen ist, könnte das tatsächlich der Fall sein. Doch in Kenntnis dessen, was über seine wissenschaftliche Herangehensweise in seinen Aufsätzen und vor allem in seiner „Politischen Theorie“ zu erfahren war, ist eher davon auszugehen, daß diese Form der Darstellung beabsichtigt war und auch so bleiben sollte. 731 Brecht, KDü, S. 22. 729
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von den Mehrheiten getroffen und autorisiert, es sei denn, daß die Verfassung für diese Entscheidungen etwas anderes vorsieht.“732
Für die anderen Regierungsformen entwickelt Brecht keine vergleichbaren Formeln, da er hier nicht dieselben Definitionsschwierigkeiten sieht.733 Es ist wenig erhellend, den darauf folgenden tabellarischen Vergleich zwischen Demokratie, Diktatur und „Humanem Sozialismus“ nachzuzeichnen, da er im wesentlichen darauf zielt, die Unterschiede zwischen totalitären und demokratischen Regimen herauszustellen – und dies dürfte heute wohl als bekannt vorausgesetzt werden. Bemerkenswert ist allerdings, daß Brecht wie schon in seiner Schrift „Vorspiel zum Schweigen“ darauf beharrt, daß es zwar grundsätzliche Unterschiede zwischen der kommunistischen und der faschistischen Diktatur gebe,734 in vielen Punkten jedoch eine Vergleichbarkeit vorhanden sei: „Ihre ,Zwecke‘ sind oder waren natürlich sehr verschieden, aber ihre ,Mittel‘ (Institutionen) und die Zusammenstöße zwischen Mitteln und Zielen scheinen sehr ähnlich zu sein.“735 War bereits, wie Horst Möller bemerkt, Brechts „Vorspiel zum Schweigen“ in den „weiteren Rahmen“ der Totalitarismustheorie einzuordnen,736 so gilt dies noch mehr für sein Buch über die Demokratie. Brecht geht nicht nur von „der klaren Gegensätzlichkeit von Demokratie und Diktatur“ aus,737 wie es für totalitarismustheoretische Ansätze typisch ist, sondern er diagnostiziert auch Parallelen zwischen der kommunistischen und faschistischen Diktatur.738 732
Brecht, KDü, S. 22. Auch in einem Brief an Hans Staudinger betont Brecht, daß der Begriff der Demokratie so vielfältig sei, daß „es unmoeglich ist, mit wissenschaftlichen Gruenden einen andern zu zwingen, eine bestimmte Auslegung für die richtige zu halten“. Und er fährt fort: „Das ist bei Liberalismus und Kommunismus anders, wenigstens teilweise. Der wissenschaftliche Begriff der Demokratie bleibt eine Sphinx in dieser Frage. Wir sozialistisch geneigten Mitbuerger haben unsere eignen Leitbilder fuer die Auslegung. Wir koennen auch gute Gruende fuer sie angeben, wie Du das tust. Aber wir koennen nicht einfach sagen, Demokratie ist das und das, und das und jenes ist keine Demokratie.“ Arnold Brecht an Hans Staudinger, 13. 4. 1977 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/14. 734 Anders als in seiner früheren Schrift taucht der Begriff des Faschismus jetzt allerdings nicht mehr auf; Brecht verwendet ihn nicht mehr synonym mit jenem des Nationalsozialismus, sondern spricht nur noch von letzterem. 735 Brecht, KDü, S. 25. 736 Vgl. Möller, Horst: Die Weimarer Republik in der zeitgeschichtlichen Perspektive der Bundesrepublik Deutschland während der fünfziger und sechziger Jahre: Demokratische Tradition und NS-Ursachenforschung, in: Schulin, Ernst (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1989, S. 157 – 180 (162). 737 Möller, Weimarer Republik in der zeitgeschichtlichen Perspektive, S. 163. 738 Vgl. zur Totalitarismustheorie die Sammelbände von Jesse, Eckhard (Hg.): Totalitarismus. Eine Bilanz der internationalen Forschung, 2. Aufl., Bonn 1999 sowie von Söllner, Alfons/Walkenhaus, Ralf/Wieland, Karin (Hg.): Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997. Die vorsichtige Skepsis, die Brecht noch während des Krieges gegenüber einem solchen Ansatz geäußert hatte, war für ihn offenbar schnell obsolet geworden. 1942 hatte er an Karl Loewenstein geschrieben: „It is strange that there has developed a general tendency to put any country into the Procrustean beds of making them either fascist or 733
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Aufschlußreich ist darüber hinaus Brechts Analyse der Demokratie: Potentielle Konflikte zwischen den Mitteln und Zwecken einer Demokratie sieht er unter anderem in den folgenden Szenarien: Mißachtung von Minderheiten durch Mehrheitsherrschaft, Manipulation von Wahlen, Korruption, Mißbrauch von Menschenrechten, „Freund-Feind-Polarisierung“739 und „unverhältnismäßig“ starker „Einfluß angesammelten Reichtums“ durch Schutz des Privateigentums. Das Zusammentreffen „von mehreren dieser Konflikte“ könne „in einer größeren Krise oder Notlage den Zusammenbruch der Demokratie verursachen“.740 „Abhilfe“ – also die vierte Kategorie seines vorgestellten Schemas – könnte zum Beispiel die folgenden Maßnahmen schaffen: Zunächst gebe es eingebaute Hilfen wie Neuwahlen und die „Freiheit der öffentlichen Kritik“. Ferner sei mit „Einfluß von Gegenkräften“ wie Kirchen, Gewerkschaften oder Unternehmen zu rechnen. Vor allem aber muß aus Brechts Sicht eine hohe öffentliche Moral aufrechterhalten werden.741 Die „Hebung der öffentlichen Moral“ findet sich dann auch – neben wenigen weiteren Aspekten – als vorgeschlagene Abhilfe für alle der von Brecht dargestellten Konfliktszenarien.742 Als institutionelle Schwäche, die der Demokratie immanent sei, betrachtet Brecht die „Unvereinbarkeit zwischen Freiheit und Gleichheit“. Diese ihrem Wesen nach unaufhebbare Gegensätzlichkeit bestimmt er so: „Aber wie verschieden die Begriffe auch gebraucht werden möge, Freiheit und Gleichheit haben stets eine unwandelbare, grundlegende Bedeutung behalten, nämlich Freiheit von Unterdrückung in einem, Gleichheit der Behandlung im anderen Fall. Eben diese grundlegende Bedeutung ist es, die sie einander gegenüberstellt und sie zu fundamentalen Gegensätzen im demokratischen Denken und Leben macht. Der große Kampf, der heute nicht nur zwischen demokratischen und kommunistischen Ländern wütet, sondern kaum weniger hitzig innerhalb der Demokratien geführt wird, ist der zwischen Freiheit und Gleichheit. Es ist ein Ringen auf Leben und Tod.“743
Die Wissenschaft indes könne dieses Problem nicht lösen, denn wenn es um die Frage der Wahl zwischen zwei Werten geht, ist sie gemäß dem Gebot der wissenschaftlichen Wertfreiheit, das Brecht in diesem Punkt tatsächlich einhält, in ihre Grenzen verwiesen. Doch nicht nur die Wissenschaft lehre uns nicht, „wie die Wahl
democratic. The category of constitutional authoritarianism, so familiar to Europeans, does not exist in American experience, and whenever we tell them of it as something different they are somewhat diffident whether we do not cheat them.“ Arnold Brecht an Karl Loewenstein, 4. 4. 1942 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/34. 739 Brecht, KDü, S. 28. (Im Orig. hervorgehoben.) 740 Brecht, KDü, S. 27 f. 741 Das schließt für ihn ein: „1. hoher Gemeinsinn 2. hohe moralische Maßstäbe im öffentlichen Leben 3. Bereitschaft aller, ihren Teil an der Verantwortung für den Erfolg der Demokratie auf sich zu nehmen.“ Brecht, KDü, S. 29. 742 Vgl. Brecht, KDü, S. 29. 743 Brecht, KDü, S. 75. Genauere Ausführungen finden sich dazu in seinem Buch nicht.
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zwischen Freiheit und Gleichheit letztlich ausgehen sollte“744, sondern auch der Begriff der Demokratie könne diese Frage nicht lösen. An Hans Staudinger schreibt er dazu: „Die Entscheidungen muessen also politisch gegeben werden, und wir koennen wissenschaftlich hoechstens die Konsequenzen dieser Entscheidung in etwa voraussagen.“745 Außerhalb seines Wissenschaftsbegriffs bewegt sich Brecht dagegen mit seinen Erörterungen über die „Therapie“ bzw. „Autotherapie“746 der Demokratie – also der Reflexion darüber, durch welche Maßnahmen die Demokratie „gerettet“ und ihre Überlebensfähigkeit langfristig gesichert werden kann. Den entscheidenden Lösungsweg sieht Brecht erneut darin, „das Niveau der öffentlichen Moral“ anzuheben. Ein solches Postulat verlange, „daß überall und zu allen Zeiten darauf bestanden wird, 1. daß jede politische Tätigkeit im besten öffentlichen Interesse unternommen und verfolgt wird; 2. daß politische Diskussionen mit Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit geführt werden; 3. daß von dem Wahlrecht so Gebrauch gemacht wird, daß diejenigen in die politische Führung aufsteigen, die am besten geeignet sind, dem öffentlichen Interesse zu dienen; 4. daß die Mehrheiten die Interessen und Gefühle der Minderheiten und anderer Gruppen zu Hause und im Ausland gebührend berücksichtigen; 5. daß jede Form der Korruption bei der Handhabung der demokratischen Institutionen verurteilt und, soweit möglich, unterdrückt wird; 6. daß die Bürger sich gegenseitig als Mitglieder einer großen Gemeinschaft und nicht als Feinde behandeln“.747
Es steht ohne jeden Zweifel fest, daß dieser Katalog an Forderungen unvereinbar ist mit dem Gebot der wissenschaftlichen Wertfreiheit. Brecht hält dennoch unbeirrt daran fest – um es noch im selben Satz wieder zu brechen: „Ich predige nicht. Ich spreche hier als Vertreter der politischen Wissenschaft und der Sozialwissenschaft und verkünde einen wissenschaftlich begründeten Lehrsatz, nämlich daß die Demokratie im modernen westlichen Sinne des Begriffes nicht überleben kann, wenn nicht ein hoher Gemeinsinn, hohe moralische Maßstäbe und eine freiwillige Beteiligung an der Verantwortung im Volke aufrechterhalten oder wiederbelebt werden.“748
Natürlich predigt Brecht sehr wohl, doch die Diskrepanz zwischen Selbstanspruch und Umsetzung macht den Inhalt seiner „Predigt“ nicht weniger interessant: Im Gegensatz zu Autokratien müsse in einer demokratisch regierten Nation „die moralische Qualität vom Volke kommen, weil Demokratie Regierung durch das Volk ist, und wenn das Volk korrupt ist, so ist auch die Politik des Landes korrupt“. Brecht unterstreicht:
744
Brecht, KDü, S. 78. Arnold Brecht an Hans Staudinger, 13. 4. 1977 (kein Ort angegeben), BAK, NLB, N 1089/14. 746 Brecht erklärt, „daß jede Therapie, um annehmbar und wirksam zu sein, aus dem Lande selbst kommen“ müsse, weshalb er den Begriff der „Autotherapie“ gewählt habe. Brecht, KDü, S. 101. 747 Brecht, KDü, S. 102 f. 748 Brecht, KDü, S. 103. 745
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
„Wir müssen zu der Einsicht kommen, daß es kein anderes Mittel gibt, die Demokratie vor den üblen Auswirkungen niedriger moralischer Maßstäbe zu retten, als diese Maßstäbe zu heben. Es gibt keinen Ersatz für diese Therapie. Weder institutionelle Kunstgriffe noch intellektuelle Findigkeit genügen. Ohne hohe moralische Maßstäbe im öffentlichen Leben ist die Demokratie zum Untergang verurteilt, weil sie Verrat an ihren eigenen Zielen übt.“749
Um „die nötigen moralischen Maßstäbe im öffentlichen Leben neu zu beleben und aufrechtzuerhalten“, müsse „jeder mögliche Weg“ begangen werden: „Religion oder politische Erziehung in all ihren Formen in der Familie, in der Schule, am Fernsehen usw. und besonders das öffentliche Vorbild“. Eine „immer wieder frische Belebung dieser Gedankengänge“ sei für das Überleben der Demokratie unerläßlich.750 Trotz dieses ausgeprägten Idealismus geht Brecht nicht davon aus, daß die Moral allein – was ja einschließt: die Bereitschaft eines jeden einzelnen zu einer „moralischen“ Haltung – die Demokratie vor den von ihm selbst diagnostizierten Gefahren schützen kann. Ganz im Gegenteil drückt sich in seinem Vorschlag, wie „die Demokratie es schaffen kann“, eine tiefe Skepsis gegenüber den Menschen aus. Denn Brecht hält es für wahrscheinlich, daß es notwendig sein wird, innerhalb demokratischer Gesellschaften „diktatorische Enklaven“ zu schaffen. Wir seien „vor die große Wahrscheinlichkeit gestellt, daß sich in manchen Lebensbereichen Verhältnisse entwickeln könnten, die mit den traditionellen demokratischen Verfahren nicht zu meistern sind“. Die erschreckendste dieser Gefahren sei – abgesehen von einem Atomkrieg – „die Erschöpfung der Rohstoffe und der Energiequellen“.751 Die „Verschmutzung von Luft, Wasser und Boden“, die Überbevölkerung sowie wachsende Kriminalität seien weitere Gefahren, deren die Demokratie – wenngleich „in geringerem Maße“ – ausgesetzt sei. Diese Gefahrenlage veranschauliche, „wie notwendig es ist, daß den demokratischen Ländern Einrichtungen für den Notstand zur Verfügung stehen, die mit solchen Lagen besser fertig werden können als die normalen demokratischen Institutionen“. Es sei daher zu überlegen, ob die Schaffung einer „vierten Gewalt“ nötig werde, „die staatliche Aufgaben erfüllen kann unabhängig von der schon bestehenden gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt“. Brecht erklärt: „Es besteht in der Tat die Gefahr, der man offen und ernsthaft ins Auge sehen sollte, daß nämlich eine volle Diktatur an die Stelle der demokratischen Regierung treten wird, wenn wir nicht besser als jetzt darauf vorbereitet sind, chaotischen Situationen besser zu begegnen, die durch eine dieser schweren Bedrohungen über Nacht ausgelöst werden können.“752
749
Brecht, KDü, S. 103. Brecht, KDü, S. 105. 751 Brecht, KDü, S. 112. Brecht stützt sich unter anderem auf die Studie „The Limits to Growth“, die der Club of Rome 1972 veröffentlicht hatte. Siehe Brecht, KDü, S. 146 ff. 752 Brecht, KDü, S. 113. 750
3. Politische Theorie, Demokratie und Gerechtigkeit
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Um die Entstehung einer Diktatur zu vermeiden, müsse es „möglich gemacht werden, eng begrenzte Sektoren der öffentlichen Verwaltung – hier ,Enklaven‘ genannt – zu bilden, in denen weniger demokratische Verwaltungsverfahren zuzulassen sind, während die demokratischen Verfahren überall sonst streng eingehalten werden“. Der springende Punkt sei dabei in den folgenden Fragen zu sehen: „Ist die Freiheit teilbar?“ Und: „Können bestimmte Probleme auf diktatorische Art und Weise gelöst werden, ohne die Demokratie im übrigen fallen zu lassen?“753 Brecht ist sich indes sicher, daß dies möglich ist. Gebraucht werde „ein Verfahren, das einschneidendes und rasches Handeln in einem Bereich staatlicher Tätigkeit möglich macht bei Aufrechterhaltung der demokratischen Freiheit in allen anderen Bereichen“754. Angesichts der Umweltbelastung und der wachsenden Rohstoffknappheit hält er es für unerläßlich, diese institutionellen Maßnahmen bereitzuhalten – und dies obwohl er nicht in Abrede stellt, daß durchaus mit dem guten Willen „des gemeinen Mannes“ bei der Verbesserung der ökologischen Situation gerechnet werden könne. Dabei verkennt er den Ernst der Lage nicht und schließt mit den mahnenden Worten: „Den Mittelweg einzuschlagen bietet keine Rettung, wenn der Weg in die falsche Richtung führt. Der rettende Wegweiser wird wahrscheinlich in eine vollkommen neue Richtung zeigen: nämlich zu der entschlossenen Absage an das Ideal eines ständig wachsenden materiellen Verbrauchs und zur Wiederentdeckung der tieferen Werte des Lebens und zum bewußten Eintreten für sie. Das erfordert eine vollständige Umkehr in unserem Denken und Leben und wird äußerst schwer zu verwirklichen sein.“755
Politik oder Wissenschaft? Kritik und Rezeption Wenn abschließend nach der Rezeption des Buches gefragt wird, so ist diese Frage in einem Satz zu beantworten: Dieses Buch wurde nicht rezipiert. Es wurde weder in Fachzeitschriften besprochen, noch hat es Eingang in die Forschungsliteratur gefunden – es findet schlichtweg überhaupt keine Erwähnung. Im Hinblick auf den politikwissenschaftlichen Gehalt seiner vergleichenden Analyse von „Sowjetkommunismus“ und westlichen Demokratien muß man wohl sagen, daß die ausgebliebene Rezeption nicht verwunderlich ist. Aus heutiger Sicht ist der von Brecht praktizierte Systemvergleich ohnehin überholt, doch das Buch weist auch darüber hinaus grundlegende Mängel auf, die eine fehlende Beachtung zumindest in Teilen berechtigt erscheinen lassen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß das Buch insgesamt ungeschickt angelegt ist und teilweise einen ebenso fragmentarischen wie „bürokratischen“ Charakter trägt. Das beste Beispiel dafür ist wohl Brechts Versuch, die Merkmale einer Demokratie mit Hilfe einer mathematischen Formel zu definieren – hier hat man den Eindruck, daß die Analysen nicht aus der Feder eines Politikwissenschaftlers stammen, sondern eher das Erzeugnis eines etwas pedantischen Verwaltungsbeamten sind. Gleichwohl besteht in seinen Texten nie die Gefahr der Einseitigkeit – und dies gilt auch für diese letzte Monographie: So erschöpfen 753 754 755
Brecht, KDü, S. 113 f. Brecht, KDü, S. 137. Brecht, KDü, S. 140. (Herv. im Orig.)
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II. Emigration und politische Wissenschaft nach 1933
sich seine Analysen nicht in einem „bürokratischen“ Zugriff, sondern sie sind genauso stark gekennzeichnet durch leidenschaftlichen Einsatz für die Sache. Das betrifft besonders die Frage der wissenschaftlichen Wertfreiheit und das Thema der Umweltbelastung. In bezug auf den ersten Punkt bleibt Brecht seinem Irrweg treu und bricht sein Gebot der wissenschaftlichen Wertfreiheit genauso konsequent, wie er es einzuhalten vorgibt. Das wird bereits im Titel des Buches klar, denn nach der Überlebensfähigkeit der Demokratie zu fragen, ist nichts anderes als das Ergebnis einer kritischen Wertung. Für die Entwicklung seines Werks ist gleichwohl interessant, daß die wissenschaftliche Wertfreiheit noch zwanzig Jahre nach Erscheinen seiner „Politischen Theorie“ ein zentrales Thema für Brecht bleibt. Durch seinen immer wiederkehrenden Rückgriff auf den Konflikt zwischen Werten und Wissenschaft werden allerdings in seiner letzten Monographie zuweilen jene Ansätze verdeckt, die für seine Zeit innovativ waren und eine genauere Betrachtung wünschenswert gemacht hätten. Im Hinblick auf seine Ausführungen zu den ökologischen Entwicklungen kann sogar festgehalten werden, daß sie im Gegensatz zu seinem Systemvergleich heute keineswegs überholt sind, sondern in vielen Punkten erschreckende Aktualität besitzen. Zu seiner Zeit war Brecht einer der wenigen, die die Gefahren, die von der wachsenden Umweltbelastung ausgehen, frühzeitig erkannt und vor ihnen gewarnt haben – wenn auch leider weitgehend folgenlos.
Schlußbemerkung Das Werk Arnold Brechts vereint politische Wachsamkeit mit wissenschaftlicher Genauigkeit, es vermittelt eine skeptische Grundhaltung und zugleich einen ausgeprägten Idealismus, es verbindet die Nähe zum Künstlerischen mit akribischem Verwaltungsdenken. Brechts Werk stellt kein in sich geschlossenes System dar; trotz seiner gleichnamigen Schrift läßt es sich nicht unter einer bestimmten politischen Theorie subsumieren, und ebensowenig begründet es einen spezifischen politikwissenschaftlichen Ansatz, der nach Brecht benannt werden könnte. Die thematische Vielfalt erschwert die Möglichkeit, seine Schriften auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Eine Charakterisierung seines Werks muß darüber hinaus seiner mitunter mangelnden Kohärenz und inneren Widersprüchlichkeit Rechnung tragen. Gleichwohl hat die erfolgte Untersuchung gezeigt, daß es einige Leitmotive und Schlüsselbegriffe gibt, die das wissenschaftliche und politische Denken Arnold Brechts kennzeichnen: Für Brechts Verständnis der Verwaltung ist der Begriff der Initiative von zentraler Bedeutung. Er betrachtet den Verwaltungsapparat nicht als bloße Maschine der Bürokratie, sondern als einen Ort, an dem geistvolles Handeln erforderlich ist und „schöpferische“ Kraft entfaltet werden kann. Das wird ermöglicht durch die Initiative des Beamten, der zwar parteipolitisch neutral sein muß, jedoch aktiv für den Schutz von Rechtsstaat und Demokratie einzutreten bereit ist. Diese Gedanken formulierte Brecht bereits in der Weimarer Republik und bekräftigte sie mit Nachdruck, als in Deutschland nach 1945 die Entnazifizierungsmaßnahmen und die Reform des öffentlichen Dienstes diskutiert wurden. Hier zeigt sich also eine starke Kontinuität in seinem Werk, wenngleich er seine Kritik an grundlegenden Strukturen des deutschen Beamtentums wie den wohlerworbenen Rechten und dem Pensionssystem erst nach 1945 öffentlich vortrug. Eine Voraussetzung dafür, daß die Beamten Initiative ergreifen können, ist das Ermöglichen eines reibungslosen Geschäftsablaufs in Verwaltung und Politik. In der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Reichministerien spiegelt sich ein weiterer Grundzug des Brechtschen Denkens, der in dem strikten Gebot besteht, die Form zu wahren. Dies hängt mit seiner grundsätzlich handwerklichen Einstellung zusammen. In Anlehnung an Richard Sennett1 ist damit gemeint, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen. Als Verwaltungsfachmann wie als Politikwissenschaftler gilt für Brecht die Grundbedingung, daß „das Handwerk stimmen muß“. Innerhalb der Verwaltung bedeutet das, daß der reibungslose Geschäftsablauf durch die Einhaltung 1
Vgl. Sennett, Richard: Handwerk, Berlin 2008, S. 32 u. a.
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Schlußbemerkung
der Form gewährt sein muß. Das Pendant in der Wissenschaft ist für Brecht das Postulat der wissenschaftlichen Wertfreiheit. Die Wahrung der Form ist nach seiner Auffassung nicht nur eine unerläßliche Bedingung für das Funktionieren eines Staatswesens, sondern auch dafür, Freiheit zu erlangen. Dieser Denkansatz wird wiederum verknüpft mit dem Konzept der wehrhaften Demokratie. Daß die Demokratie änderungsfester Verfassungseinrichtungen bedarf, um ihre Stabilität zu sichern und nicht in eine „suizidale Lethargie“2 zu verfallen, erkannte Brecht schon zur Zeit der Weimarer Republik. Das zeigt sich nicht nur in seinen Gesetzeskommentaren und in seinen Reformarbeiten im Reichsinnenministerium, sondern wird auch in seinem Rechtsverständnis deutlich, dem er in dem Prozeß vor dem Staatsgerichtshof Ausdruck verleiht. Seine Lehre des Rechts bewegt sich gerade nicht in einer Leerstelle unabhängig von der ihn umgebenden Staatsform, sondern ist eng an die Demokratie gebunden, für deren Erhalt er stets eingetreten ist. Nach dem Zusammenbruch der Weimarer Demokratie galt Brechts Einsatz mehr denn je der Überzeugungsarbeit, die Aufmerksamkeit auf die Fragilität demokratischer Strukturen zu lenken und die Gefahren, die der Demokratie drohen, durch frühzeitiges Erkennen und rechtzeitiges Handeln abzuwenden. Die darin enthaltenen Handlungsanweisungen können als Ausdruck für seinen starken Idealismus gelesen werden. Eng damit verknüpft ist ein oftmals ebenso starkes Pathos, in dem sich die Rückkopplung zu seiner Lübecker Sozialisation besonders deutlich zeigt. Als Lebenshaltung und zugleich Leitmotiv seines politischen Handelns beschreibt Brecht seine stete Orientierung an den Werten der Freiheit, der Wahrheit und der Gerechtigkeit. Ohne dies zu explizieren, macht er sich damit eine Formulierung von Thomas Mann zu eigen, der in der „Wiedergeburt der Anständigkeit“ genau jene drei Werte zu den Leitfiguren politischer Haltung und Handlung erklärt.3 Zu einem Widerspruch führt die pragmatisch-handwerkliche Einstellung auf der einen und die idealistische Einstellung auf der anderen Seite vor allem in Brechts Explikationen zum Wissenschaftsbegriff. In seinen politikwissenschaftlichen Schriften tritt er durchweg als dogmatischer Verfechter der wissenschaftlichen Wertfreiheit auf; ebenso konsequent vermag er diesen selbst erhobenen Anspruch jedoch nicht einzuhalten und verbindet statt dessen seine wissenschaftlichen Darlegungen mit einer starken Normativität. Ohne diese Diskrepanz in seinem eigenen Werk zu erkennen, veranschaulicht er damit einen Grundkonflikt der modernen Sozialwissenschaften, für den er selbst allerdings keine Lösung bietet. Im Hinblick auf die Frage, wodurch Brechts Denken geprägt wurde, sind besonders drei Aspekte hervorzuheben: Eine auffallend starke Prägung hat Brecht während seiner „politikfernen“ Zeit in Lübeck und in seinen Studienorten erfahren. 2
Loewenstein, Militant Democracy, S. 431. (Im Original englisch: „suicidal lethargy“.) Vgl. Mann, Thomas: Die Wiedergeburt der Anständigkeit (1931), in: ders., Von deutscher Republik. Politische Schriften und Reden in Deutschland, hrsg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1984, S. 314 – 343 (318). 3
Schlußbemerkung
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Dies spielt nicht nur eine Rolle für die Artung seiner Person, sondern es schlägt sich auch in seinem Werk nieder. Daß ihm Lübeck zur „geistigen Lebensform“ wurde und es bis an sein Lebensende blieb, zeigt sich in vielen seiner Texte vor allem an der Sprache und der sich darin ausdrückenden Bedeutung, die er der Kunst und allem Schöngeistigen zuweist. Des weiteren waren für Brecht in wissenschaftlicher Hinsicht die rechtswissenschaftlichen Diskurse der Weimarer Republik und seine Tätigkeit an der Deutschen Hochschule für Politik prägend. Während er an der Hochschule erste Konzeptionen einer Wissenschaft von der Politik kennenlernte, erforderte seine Prozeßvertretung vor dem Staatsgerichtshof eine intensive Auseinandersetzung mit der Weimarer Staatsrechtslehre. Eine weitere Station, die Brechts Werk nachhaltig beeinflußt hat, stellt schließlich seine Emigration in die Vereinigten Staaten dar. In dieser Hinsicht läßt sich Brecht als Prototyp eines „political scholar“ charakterisieren.4 Vor allem in seiner „Politischen Theorie“ gelingt es ihm, europäische mit angelsächsischen Wissenschaftstraditionen zu verbinden und auf diesem Wege ein anschauliches Beispiel für die transatlantischen Wechselbeziehungen zwischen der deutschen und der amerikanischen Politikwissenschaft abzugeben. Wenn nach Kontinuitäten und Zäsuren im Brechtschen Werk gefragt wird, so zeigt sich, daß auffallend starke Kontinuitätslinien sein Werk durchziehen. Trotz der tiefen Zäsur, die das Jahr 1933 in seinem Leben darstellt, sind in seiner grundsätzlichen Denkungsart kaum Brüche erkennbar. Durch den Wechsel vom politischen Beamten zum Politikwissenschaftler hat sich zwar sein Tätigkeitsfeld verschoben, doch jene Spezifika seines Denkens, die sich für die Zeit der Weimarer Republik kennzeichnen lassen, erhielt er sich auch nach seiner Emigration. In seiner Beschäftigung mit Aspekten der Rechtsphilosophie und der politischen Theorie entstanden ihm neue Themen, aber auch sie erscheinen nicht als das Resultat einer grundlegenden Zäsur, sondern fügen sich organisch in sein Gesamtwerk. Anders verhält es sich mit seinen kurzzeitigen Anwandlungen von politischem Opportunismus kurz vor seiner Emigration. Ohne sich später öffentlich dazu zu bekennen, ist davon auszugehen, daß er in dieser Hinsicht mit sich in Klausur gegangen ist und seine Haltung zu korrigieren versucht hat. Vielleicht hatte er diese kurze Episode seines Lebens im Kopf, als er an seinen Freund Georg Pfuhl schrieb, daß er „vieles zu bereuen habe und bereue“5. Am Ende bleibt die Frage, welche Bedeutung Brechts Werk für die Politikwissenschaft hat. Besonders seine „Politische Theorie“, aber auch seine letzte Monographie hat einige Schwächen gezeigt, die das Ausbleiben einer langfristigen Rezeption erklären könnten. Ein anderes Bild ergibt sich allerdings, wenn man diese Schriften im Kontext seines Gesamtwerks liest. In der näheren Auseinandersetzung mit seinen wissenschaftlichen und politischen Arbeiten wird deutlich, daß es sich bei Brecht um einen bedeutenden Denker des 20. Jahrhunderts handelt, der zu Unrecht in 4 5
Siehe zur Definition des Begriffs Kapitel II.1. Arnold Brecht an Georg Pfuhl, 14. 11. 1954, BAK, NLB, N 1089/23.
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Schlußbemerkung
Vergessenheit geraten ist und dessen Leistungen mehr Beachtung verdienen. In seinem Werk spiegelt sich die deutsche Geschichte und die politische Ideen- und Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts; doch Brechts Werk hat nicht nur repräsentativen Wert, sondern es enthält auch in sich einen Reichtum an Ideen und Denkansätzen, die bis heute nicht an Geltung verloren haben. Brecht vermag nicht nur Denkanstöße für die Wissenschaft zu geben, sondern er vermittelt auch Lehren politischen Handelns, deren Anschlußfähigkeit vor allem in der sich darin ausdrückenden politischen Grundhaltung besteht. In einem Aufsatz über Walther Rathenau hebt er hervor, „daß die Quelle aller unserer Übel in der Mißachtung der Seele“ liege. Die Schuld eines Volkes, so zitiert er zustimmend die Worte Rathenaus, beginne dann, wenn „die Schuld des Charakters“ entstehe, nämlich: „Passivität“.6 In dieser Hinsicht wäre es wünschenswert, wenn die Auseinandersetzung mit Arnold Brecht, wie Wilhelm Hennis an einer Stelle zu Max Weber bemerkt, im Sinne „des Bewußtmachens“ erfolgt, „ob denn die Art, wie wir das Leben einrichten“, seinem Maß standhält7. Im Schlußwort seiner Autobiographie bringt Brecht komprimiert zum Ausdruck, worin sein Maß besteht: „Daraus aber folgt für mich, daß die kurze Zeit, die uns auf Erden gegeben ist, nicht in irgendeinem Eigentumssinne ,unsere Zeit‘ ist. Es ist die Zeit, in der es durch uns auf Erden ein wenig besser werden soll und kann, jetzt und in Zukunft. […] Was immer einzelne geleistet haben, sie standen auf den Schultern anderer, die vor ihnen lebten. Soviel sie auch geleistet haben, als ,Generationen‘ sind sie alle gescheitert. Denn die Welt liegt noch sehr im argen. Ihr, ihr jüngsten Generationen, seid noch nicht gescheitert. Das ist der wichtigste Unterschied zwischen uns und euch.“8
6
Brecht, Rathenau, S. 17 und 10. Hennis, Wilhelm: Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1996, S. 110. 8 Brecht, Kraft, S. 405. 7
Bibliographie von Arnold Brecht Die folgende Bibliographie listet alle veröffentlichten Schriften von Arnold Brecht in chronologischer Reihenfolge auf. Rezensionen, die Brecht selbst verfaßt hat, sowie Rezensionen über Brechts Monographien werden am Ende der Auflistung gesondert aufgeführt. Angaben zu unveröffentlichten Manuskripten, die in der Arbeit ausgewertet worden sind, befinden sich im Siglenverzeichnis. Ein weitgehend vollständiges Schriftenverzeichnis enthält der von Claus-Dieter Krohn und Corinna R. Unger herausgegebene Sammelband über Brecht; dort unterlaufene Fehler wurden korrigiert und einige fehlende Titel ergänzt. Anders als in dem Sammelband werden anonyme Schriften von Brecht in der folgenden Zusammenstellung nicht mit aufgenommen. Vom Verkauf einer fremden Sache. Ein Beitrag zur Unmöglichkeitslehre, jur. Diss., Leipzig 1906. System der Vertragshaftung. Unmöglichkeit der Leistung, positive Vertragsverletzungen und Verzug, in: Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts 53, 1908, S. 212 – 302. Die einfache und die wiederholte positive Vertragsverletzung, in: Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts 54, 1909, S. 83 – 106. Bedingung und Anwartschaft. Das aufschiebend bedingte Eigentum, seine Bestellung, Weiterübertragung und Pfändung, in: Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts 61, 1912, S. 263 – 342. Das Weißbuch über den Waffenstillstand, in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 16. August 1919 (abgedr. in: Brecht, Nähe, S. 506 f). Weiteres zum Weißbuch, in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 19. August 1919 (abgedr. in: Brecht, Nähe, S. 508 f). Erzberger, Oberste Heeresleitung und Waffenstillstand, in: Berliner Tageblatt, Nr. 430, 13. September 1921 (Morgenausgabe) (auszugsweise abgedr. in: Bachem, Karl: Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Bewegung sowie zur allgemeinen Geschichte des neueren und neuesten Deutschland 1815 – 1914, Bd. 9, Köln 1932, S. 460 f). Die Ausgaben der deutschen Reichsverwaltung. Versuch einer genauen Übersicht, in: Der Wiederaufbau. Zeitschrift für Weltwirtschaft 1/26 – 27, 1922, S. 385 – 389. Vorrede, in: Ernst Schultze u. a., Die Geschichte von Schwarz-Rot-Gold, Berlin 1922, S. 2. Die Wahlreform, in: Vorwärts. Berliner Volksblatt. Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Jg. 41, 19. September 1924 (abgedr. in: Brecht, Nähe, S. 511 f). Zur Revision der Reichsverfassung. Memorandum der Reichsregierung zur Bayerischen Denkschrift (1924), in: Reichsministerium des Innern (Hg.): Verfassungsausschuß der Länderkonferenz. Beratungsunterlagen, Berlin 1929, S. 7 – 60.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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Zuckmayer, Carl: Als Emigrant in Amerika (1948), in: Schwarz, Egon/Wegner, Matthias (Hg.), Verbannung. Aufzeichnungen deutscher Schriftsteller im Exil, Hamburg 1964, S. 148 – 154. Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a. M./Zürich/ Wien 2001 (Erstausgabe 1942).
Personenregister Adenauer, Konrad 132, 280 f., 283, 291 Adorno, Theodor W. 234, 355, 356 Albert, Heinrich 88 Anderson, William 343 f. Anschütz, Gerhard 101, 107, 126, 128, 134, 142, 149 f., 176, 181 Arendt, Hannah 290, 296 Baden, Prinz Max von 19 Badt, Hermann 92, 98, 101, 183 Barth, Karl 262 Beard, Charles 199, 231 Benda, Emanuel 227 f. Berber, Friedrich 45 Bermbach, Udo 356 Besson, Waldemar 346 f. Bilfinger, Carl 103, 129, 131, 138 Bismarck, Otto von 48, 132 f., 201, 261 f. Bleek, Wilhelm 37, 39, 43 Bloch, Ernst 207 Boettcher, Erich 227 f., 232 Borchers, Hans 215 f. Borries, Kurt von 261 – 264 Bourdieu, Pierre 21, 23 f. Bracher, Karl Dietrich 93, 97, 100, 127, 153, 163 – 175, 249, 256, 264, 350 Bracht, Franz 155, 175 f., 187 Brandt, Karl 222 – 225, 348 Brandt, Willy 156 f., 163, 229, 283 Brauchitsch, Max von 75 Brauer, Max 226 f. Braun, Otto 20, 88, 91 – 95, 97, 99 f., 102, 116, 118, 128, 146, 161, 172, 176, 183, 186, 188 f., 191, 228, 249, 251 f., 269 Braun-Vogelstein, Julie 281 Braunbehrens, Adrian 289, 327, 329, 337 f., 347 Brecht, Clara 225, 297 Brecht, Ernst 25 Brecht, Gertrud 99 Brecht, Gustav 36, 193, 238
Breuning, Else 247 Brüning, Heinrich 100, 118, 162, 222 f., 249 – 251 Bumke, Erwin 103 f., 106 f., 109, 112, 114, 117, 121 – 123, 125 – 127, 130, 134, 141, 146, 153 f. Colm, Gerhard 198 – 200 Conze, Werner 174 f. Dahl, Robert A. 14, 349 Depkat, Volker 16, 21, 22 – 25, 28, 232, 283 Dewey, John 199 Dieckhoff, Hans Heinrich 215 f. Dreier, Horst 178 f. Drews, Bill 63 f., 73 – 75, 86, 113 Easton, David 303 Ebert, Friedrich 52, 269 Ehni, Hans-Peter 163, 172 Einstein, Albert 85 Engisch, Karl 34, 283, 348 Erdmann, Karl Dietrich 263 Erler, Adalbert 29 Erzberger, Matthias 50 Eschenburg, Theodor 67, 70, 185, 283, 285, 356 Falter, Jürgen 302 f., 344 Fattmann, Rainer 51, 53 Fecht, Hermann 102 Fehling, Jürgen 20 f., 25 f., 226, 338, Fichte, Johann Gottlieb 253 Flechtheim, Julius 230 Flex, Walter 208 Flügel, Wilhelm 54, 91 Forsthoff, Ernst 46, 49 Freud, Sigmund 203, 356 Frick, Wilhelm 193, 195, 251, 280 Friedensburg, Ferdinand 176, 181
Personenregister Friedrich, Carl Joachim 256 – 258, 283, 331 – 333, 344, 346 Friedrich, Manfred 176, 182 f. Friedrich der Große 261 f. Fritz, Kurt von 247, 286, 297, 339, 347, 350 George, Stefan 30 Gerhardt, Paul 226 Gerstenmaier, Eugen 229 Giese, Friedrich 101, 128, 139 Goebbels, Joseph 251, 270 Goethe, Johann Wolfgang von 30, 71, 253 Göring, Hermann 118, 190, 192, 195, 215, 280 Gottheiner, Georg 102, 108, 117, 125, 127, 182 Grabowsky, Adolf 41 f., 174 Grau, Richard 79, 114 Groh, Kathrin 47 f., 50, 57, 79 Grzesinski, Albert 176, 181 f. Günther, Dagmar 22, 24, 35 Habermas, Jürgen 356 Halperin, William 255, 257 f. Haußmann, Hermann 63 f., 73 Hegel, Georg W.F. 78, 253, 355 Heimann, Eduard 230 Heimpel, Hermann 165 Heine, Heinrich 229 Heinemann, Gustav 229 Heines, Edmund 251 Heller, Hermann 44 f., 101, 107, 111, 126 – 128, 130 f., 146, 177 – 180, 182 f. Hennis, Wilhelm 68, 353, 357, 370 Herder, Johann Gottfried von 78 Hergt, Oskar 88 f. Hermens, Ferdinand A. 257, 260 f., 345, 354 Hesse, Artur 221, 264, 268 – 277, 279 Heuss, Theodor 17, 30, 39 f., 132, 173, 229, 285, 287, 291, 336 Heydrich, Reinhard 251 Himmler, Heinrich 251, 270 Hindenburg, Paul von 94, 98, 147, 156 – 161, 166, 168, 187 Hippel, Fritz von 329 Hirtsiefer, Heinrich 94 Hitler, Adolf 13, 85, 94, 107, 118, 129, 157 – 161, 165 – 167, 171 f., 174, 184, 186, 189,
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213, 237, 239, 241 – 245, 249 – 253, 256 – 262, 265 f., 270, 277, 332, 344 Hobbes, Thomas 132, 178, 345 Hoche, Werner 102 Hocking, Ernest 294 Holste, Heiko 80, 82, 85 f., 92, 94, 153, 162 f., 172, 176 f., 179 – 181, 186, 220 Höpker-Aschoff, Hermann 99, 100, 191, 227 Horkheimer, Max 203, 356 Hugenberg, Alfred 166, 189 Husserl, Edmund 29, 203, 225, 335 Jäckh, Ernst 38 f., 41 Jacobi, Erwin 79, 103, 115, 122, 131, 139, 143 f. Jan, Staatsrat von 102, 109, 138, 140, 146 Jaspers, Karl 234 Jászi, Oscar 259 f. Jellinek, Georg 306 Jellinek, Walter 102 – 104, 122, 126 – 128, 141, 147, 154 Johnson, Alvin 16 f., 190, 195 f., 199 – 206, 212 – 214, 216 – 219, 222, 225 Jonas, Hans 357 f. Kameke, Karl Otto von 85, 89 Kant, Immanuel 29, 253, 320 – 323, 333 Kantorowicz, Hermann 306 f. Kelsen, Hans 81, 178 – 180, 182, 243, 307 Kennedy, John F. 339 Kesten, Hermann 226, 280 f. Keudell, Walter von 19, 85, 88 – 90, 193 Kissinger, Henry A. 14, 349 Kitschelt, Herbert 349 Koffka, Kurt 203 Kolb, Eberhard 160, 163, 182 Kolbe, Dieter 103 Körner, Paul 190 Köster, Adolf 63 Krohn, Claus-Dieter 196, 198 f., 201, 203 f., 206, 208, 219 – 225 Kube, Wilhelm 251 Kutscher, Hans 221, 276 Kutscher, Irmgard 276, 285 f., 354 Laski, Harold 199 Lassalle, Ferdinand 83 Laux, Eberhard 62, 67, 74
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Personenregister
Lederer, Emil 198, 204 Leschnitzer, Adolf 41 Lex, Ritter von 335 Litt, Theodor 36, 230, 283, 315 Löbe, Paul 250 f., 254, 269, 284 Locke, John 178 Loewenstein, Karl 50, 211, 361 f. Löwith, Karl 348 Lübbe, Hermann 137 Lübke, Heinrich 229, 231 f. Luckmann, Benita 199, 201, 205, 222, 229 f. Luckmann, Mara 198 Luther, Hans 215 f. Luther, Martin 253 MacIver, Robert Morrison 315, 349 Mann, Golo 314 Mann, Klaus 221 Mann, Thomas 21, 26, 198, 202, 368 Mannheim, Karl 315 Maunz, Theodor 102 May, Karl 207 Mayer, Otto 49 Mende, Dietrich 164 Menne-Haritz, Angelika 71, 73 Mestern, Hans 335 Mommsen, Friedrich 31 Mosler, Hermann 168 f. Naumann, Friedrich 37 Nawiasky, Hans 102, 126, 134, 136, 140 f., 143 Neumann, Franz 70, 210 Nietzsche, Friedrich 253 Oppenheim, Felix E. 344 Padover, Saul K. 344, 349 Papen, Franz von 94 – 98, 100, 105 f., 113, 117 f., 128, 155 – 162, 166, 168, 170 f., 173, 176, 187 f. Peters, Hans 101, 130, 134, 140, 145 Pfuhl, Georg 226 f., 230, 279 f., 369 Pick, F.W. 255, 257 Pikart, Eberhard 55, 89, 173 f. Platon 29 Plessner, Monika 199, 201, 203 Polgar, Alfred 220 f.
Poliakov, Léon 41 f. Pollock, James 258 Popper, Karl R. 293, 295 Pyta, Wolfram 146, 162 Radbruch, Gustav 36, 236, 263, 283, 307, 326 Radin, Max 34 Radkau, Joachim 201, 203 Rathenau, Walther 14, 20, 50, 85, 370 Redslob, Erwin 85 Rheinstein, Max 238, 256 Rickert, Heinrich 306 Roberts, Warren 344, 346 Röhm, Ernst 260 Rothfels, Hans 346 Ruck, Michael 14, 63, 73, 75, 83 – 88, 176, 195, 220 f., 229, 283, 284 Rundstedt, Gerd von 156 Rüstow, Alexander 218 f., 221, 230 f. Rutkoff, Peter 198, 200, 203 Schatz, Rudolf 61 – 63 Scheidemann, Philipp 50 Schiller, Friedrich von 71 Schleicher, Kurt von 100, 118, 156 f., 159 – 162, 167, 170, 176 Schmitt, Carl 69, 78 f., 81, 101 – 103, 111, 114, 119, 122 f., 127, 131 – 149, 152, 154, 174, 182 Schneider, Hans 68 – 70 Schnirlin, Ossip und Gertrud 247 Schreiber, Walther 229, 281 Schuller, Wolfgang 104, 125 – 127, 133, 153 Schulz, Gerhard 97, 290 Schulze, Hagen 91, 153, 187 Schumacher, Kurt 269 Schumann, Clara 25 Schütz, Alfred 203 Schütz, Dieter 51, 54 Schwertfeger, Bernhard 263 Scott, William B. 198, 200, 203 Seiberth, Gabriel 100, 105 f., 138 f., 141, 146, 152 f., 162 Seligman, Edwin R.A. 200 Sennett, Richard 367 Severing, Carl 94 f., 116, 118, 128, 146, 156, 158, 172 f., 186, 191, 269
Personenregister Siebeck, Hans Georg 70, 288, 348 Simmel, Georg 306 Simons, Hans 85, 219, 230 – 232, 339 Simons, Walter 88, 195 Sollmann, William 255 f., 269, 271 Söllner, Alfons 43 – 45, 210 f., 292, 339, 350 Spangenberg, Berthold 232, 331 Speier, Hans 204 Spiegelberg, Ernest 252 Spiegelberg, Herbert 232 Spranger, Eduard 231, 315, 335, 340 Staudinger, Hans 221, 361, 363 Steltzer, Theodor 326, 339, 341 Stolleis, Michael 79, 127, 137, 148 Strauss, Leo 312 Streicher, Julius 251 Stresemann, Gustav 251, 255 Taylor, Frederick W. 64 Tillich, Hannah 230 Tillich, Paul 208, 315 Topitsch, Ernst 348 Tucholsky, Kurt 54 Ullrich, Sebastian 175, 251, 253 f., 256
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Valentin, Veit 255, 258 Vilmar, Fritz 356 Voegelin, Eric 296, 312, 345 Vogelstein, Hertha 228 Walz, Ernst 102 Warburg, Max M. 230, 281 Weber, Alfred 313 f. Weber, Max 37 f., 46, 61, 66, 120, 203, 295, 300, 307 – 316, 370 Wehner, Herbert 283 Weishaupt, Marie 25 Weissenborn, H. 64, 73 Weizsäcker, Carl Friedrich von 295, 336 Wertheimer, Max 198, 203 Wever, Karl 67, 227 White, Leonard D. 349 Wiese, Leopold von 350 Wilson, Woodrow 14, 349 Wirth, Joseph 87 Wulf, Joseph 41 f. Wunderlich, Frieda 198, 231 Zitelmann, Ernst 26, 29 Zuckmayer, Carl 207 Zweig, Stefan 25 Zweigert, Erich 100