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German Pages 101 [104] Year 2001
Oskar Reichmann Das nationale und das europäische Modell in der Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen
Wolfgang Stammler Gastprofessur f ü r G e r m a n i s c h e Philologie - Vorträge herausgegeben vom Mediävistischen Institut der Universität Freiburg Schweiz Heft 8
2001 Universitätsverlag Freiburg Schweiz
Oskar Reichmann
Das nationale und das europäische Modell in der Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen
2001 Universitätsverlag Freiburg Schweiz
Veröffentlicht mit Unterstützung des Hochschulrates Freiburg Schweiz
C I P — Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Reichmann, Oskar: Das nationale u n d das europäische Modell in der Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen/ Oskar Reichmann. — Freiburg, Schweiz: Univ.-Verl., 2001 (Vorträge / Wolfgang-Stammler-Gastprofessur f ü r G e r m a n i s c h e Philologie; H . 8)
ISBN 3-7278-1243-5
Copyright 2 0 0 1 by Universitätsverlag Freiburg Schweiz Satz: Mediävistisches Institut der Universität Freiburg Schweiz Druck: Paulusdruckerei Freiburg Schweiz ISBN 3-7278-1243-5
Inhalt
Walter Haas - Begrüßung
7
1
Der Argumentationsrahmen
10
2
Die beiden Modelle
14
3
Das einzelsprachbezogene Modell
20
3. 1 Systembezogene Kennzeichnungen
21
3. 2 Ein Sonderfall: die Behandlung der Entlehnungen
27
3. 3 Sprachgebrauchsbezogene Kennzeichnungen
31
3. 4 Inkonsequenzen des Modells
34
4
41
Das kontaktbezogene Modell
4. 1 Vorläufer
41
4. 2 Skizze des Modells und mögliche Gegenstände
48
4. 3 Ein Sonderfall: Europäismen im Lexikon
54
4. 4 Kritische Diskussion der These
68
4. 5 Weiterungen
83
5
90
Ausblick
Curriculum vitae
93
Veröffentlichungen von Oskar Reichmann 1966-1999
93
Begrüßung Guten Abend meine Damen und Herren. Schon im Proseminar haben wir gelernt, dass Wörterbuch und Grammatik die beiden vornehmsten Arbeitsinstrumente der Sprachwissenschaft sind, und wir haben daraus mit haarscharfer Logik geschlossen, dass der ideale Germanist im Laufe seines Lebens mindestens eine Grammatik und ein Wörterbuch zu verfassen habe. Anfänglich erblaßten wir vor diesem Anspruch, bis wir mit nicht geringer Erleichterung feststellen durften, daß selbst in den guten alten Zeiten, als die Professoren noch klüger und die Studenten noch fleißiger waren, nur ganz wenige Gelehrte dem Ideal eines Sprachwissenschaftlers zu entsprechen vermochten. Es war vielleicht grausam, aber sehr beruhigend festzustellen, daß alle diese Gelehrten von Johann Christoph Adelung über Jacob Grimm und Johannes Franck bis Hermann Paul schon lange gestorben waren, wer weiß, vielleicht eben deswegen, weil sie sich an der idealen Aufgabe übernommen hatten. Dann trat Oskar Reichmann auf. Zuerst verblüffte er die wissenschaftliche Gemeinschaft mit dem Plan eines frühneuhochdeutschen Wörterbuchs, aber die Verblüffung hielt sich in Grenzen, es war damals die Zeit vieler Pläne, von denen viele auch Pläne blieben. Die Verblüffung wandelte sich zum gelinden Entsetzen, als 1986 die erste Lieferung des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs tatsächlich erschien und weitere Lieferungen ihr seither mit grosser Regelmässigkeit folgen - und all dies mit geringster Unterstützung durch öffentliche Gelder und kleinster Mitarbeiterzahl. Die Wagemutigkeit und zugleich die Gefährdetheit des Unternehmens kann man daran ermessen, dass die bis zum Zeitpunkt dieser Begrüßung abgeschlossenen zwei Bände gerade bis zum Wort barmherzig führen [Inzwischen, Ende 2000, liegen vor: außer den Bänden 1 und 2 Band 3 mit 4 Lieferungen; ferner Band 4, bearb. von Joachim Schildt; Lieferung 1 von Band 8, bearb. von Vibeke Winge; Lieferung 1 von Band 9, bearb. von Anja Lobenstein-Reichmann]. Reichmann hat uns mit seinem (zugleich ehrgeizigen, verwegenen und verzweifelten Unternehmen), wie er selber es nennt, die Ausrede geraubt, große Sprachstadien-Wörterbücher könnten nur noch von Akademien in Angriff genommen und von Legionen von Redaktoren erarbeitet werden. Aber noch fehlte die Grammatik. Doch 1993 gab Oskar Reichmann zusammen mit einigen Kollegen die «Frühneuhochdeutsche Grammatik) in Nie-
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8
-
meyers (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte> heraus. Diese kurzen Grammatiken zeichnen sich bekanntlich durch ihren beträchtlichen U m f a n g aus. Die frühneuhochdeutsche macht da keine Ausnahme, und Reichmanns Anteil daran umfaßt mit der Einleitung und der Darstellung der Schreibung und Lautung mehr als ein Drittel. Oskar Reichmann hatte sich dem Ideal des Sprachwissenschaftlers bedrohlich angenähert. Immerhin hatte auch er bescheiden angefangen. Geboren wurde er 1937 in einem kleinen D o r f im Siegerland, einer eher abgelegenen Region Deutschlands, die aber für alle Germanisten nicht weit vom Mittelpunkt der Welt entfernt liegt: Hier nämlich beginnt sich der Rheinische Fächer aufzufächern, wer hier geboren wird, dem muß ein Flair für die Dialektologie in die Wiege gelegt sein. Oskar Reichmann studierte denn auch Germanistik, und zwar nicht irgendwo, sondern im nahen Marburg, das seinen R u f auf germanistischem Gebiet dem Deutschen Sprachatlas verdankt. Reichmanns Dissertation galt dem Wortschatz der Siegerländer Landwirtschaft: Dialektologie und Lexikologie. Nach einer kurzen Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sprachatlas wurde Reichmann 1967 Lektor für Sprachwissenschaft und Altere deutsche Philologie an der Freien Reformierten Universität Amsterdam. 1974 erreichte ihn der R u f als Ordinarius für Germanistische Sprachwissenschaft an die Universität Heidelberg, wo er heute noch lehrt. Die Erstellung von Wörterbüchern und Grammatiken gilt zwar als wissenschaftliches, aber doch eher praktisch gerichtetes Handeln. Seit den sechziger Jahren sind solche Unternehmungen immer stärker unter Druck geraten: Der Aufschwung der theoretischen Linguistik rückte ganz andere Interessen in den Mittelpunkt der Forschungstätigkeit, Arbeit an großen Materialmengen drohte als bloß Tätigkeit abgewertet zu werden und viel von ihrem früheren Prestige zu verlieren. Oskar Reichmann hatte das Glück, in Marburg zu studieren, als unter Ludwig Erich Schmitt und einer Schar junger Mitarbeiter theoretische Interessen mit Macht Einzug hielten in diese Hochburg der Material aufhäufenden Dialektologie. Mit einem Heft der Sammlung Metzler zur deutschen Wortforschung hat Reichmann früh bewiesen, dass er sein ureigenstes Gebiet auch theoretisch zu durchdringen gewillt war. Der ausgeprägte Wille, das praktische T u n des Lexikographen und Grammatikers theoretisch zu reflektieren und zu begründen, ist ein hervorstechendes Charakteristikum aller seiner Arbeiten geblieben - und es ist trotz der Dauerbelastung durch das
1
-67-
4. 3. 8
V o n herausragender Bedeutung scheinen mir neben den empirischen
Nachweisen die Auswertungsthesen Schlesiers zu sein. Sie klingen wie eine Bestätigung der Ergebnisse des //¿««-Falles: «beachtlicher Grundstock lexikalischsemantischer Parallelen», relative Irrelevanz der Wortetymologie und der genetischen Sprachverwandtschaft,
«geschichtlicher Kontakt zwischen den beteiligten
Sprachgemeinschaften» als zentrale Hypothese über die Entstehung der Ä h n lichkeiten, Relativierung der Möglichkeit interlingual konvergenter Bedeutungsentwicklungen
aufgrund sprachintern-autochthoner
Gegebenheiten.
Hinzu
k o m m e n einige Antwortversuche auf die in 4. 2. 4 (e) gestellten strukturellen, historischen und semantischen Fragen nach den Wortschatzteilen, die sich im Sprachenvergleich durch eine auffallende H ä u f u n g interlingualer Ähnlichkeiten semasiologischer Felder auszeichnen; diese Versuche lauten: 88 «1) Die überwiegende Mehrheit der pentalingualen Äquivalenzen entfällt auf Substantive». «2) Bei den meisten Einheiten ist ein bedeutender Einfluss seitens weiterer Sprachen [also von Sprachen außerhalb des Vergleichsrahmens, O. R.] erkennbar, vor allem in Bezug auf das Lateinische.» «3) Es kann im Vergleich zu den bilingualen Entsprechungen ein vergleichsweise hoher Anteil von Wörtern beobachtet werden, die eine hohe kulturelle, gesellschaftliche und weltanschauliche Relevanz besitzen.» «4) Die betreffenden lexikalischen Einheiten weisen oft entweder keine oder nur äußerst partielle Synonyme auf, d. h. sie fungieren immer als Leitwörter innerhalb der jeweiligen Synonymgruppen. Eigentliche Konkurrenzlexeme sind oft nicht vorhanden.» Dies ist gleichzeitig eine Relativierung des Heteronymenproblems; vgl. 4. 4 (7). 5) Die deutsch-skandinavischen Äquivalenzen bedürfen, nachdem sie festgestellt sind, der genaueren, über den nur allgemeinen Aussagewert von Ausdrücken wie «geschichtlicher Kontakt», «Kulturkontakt», «Gemeinsamkeiten der Kulturgeschichte» hinausgehenden Erklärung. Schlesier setzt folgende Kontakte als — obwohl wahrscheinlich nicht gleichwertig — untersuchungsrelevant an: Skandinavisch - Deutsch, Deutsch — Skandinavisch, außerdeutsche Sprachen — Skandinavisch und umgekehrt. 85
86
87 88 89
Zu dem gleichen Ergebnis führen die von Sandhop untersuchten Fälle: Das Tschechische und das Kroatische haben «eine fast durchgehend größere Nähe zum Deutschen als die Stichwörter des Englischen und Französischen» (vgl. Anm. 85; Zitat S. 19 des Manuskriptes). Schlesier (vgl. Anm. 85); Zitate S. 309 und 323. Schlesier (vgl. Anm. 85); S. 307-308. Dies passt sehr gut zur Europäismen-These: Erklärung der Gemeinsamkeiten durch einseitige Entlehnung aus der Geber-Sprache Deutsch in die skandinavischen Nehmer-Sprachen möglicherweise unter Betonung der räumlichen Nähe (Schlesier ist
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4. 3. 9 Trotz der Stimmigkeit der Ergebnisse Schlesiers sind Einwände möglich: Sie betreffen einmal natürlich die Frage, ob eine Größenordnung von rund 20% als hoher oder als geringer Ähnlichkeitswert zu beurteilen ist, ferner die Beispielhaftigkeit des deutsch-skandinavischen Vergleichs für die weiteren Einzelräume Europas, 50 die Anerkennung einer gewissen Rolle der Etymologie" und der genetischen Verwandtschaftsverhältnisse sowie die Rolle autochthoner Entwicklungen. Trotzdem ist nach den angeführten Einzelfällen und dem referierten Sprachenvergleich kaum zu leugnen, dass eine Beschreibung der Inhaltssysteme der Wortschätze europäischer Sprachen unter konsequent kontaktbezogener Perspektive der Lexikographie neue Möglichkeiten linguistischer Erkenntnis und kulturpädagogischer Wirkung eröffnet. Mit diesem Interesse soll die Europäismen-These im folgenden kritisch diskutiert werden.
4. 4
Kritische Diskussion der These
4. 4. 1 Die Annahme von Europäismen und ihre Bindung an eine hypothetisch93 unterstellte, hier aber als begründet angenommene kulturhistorische Einheit Europa oder gar eine europäische Assoziations- und Bildgemeinschaft (vgl. Abs. 4.3.4.2.) unterliegt unabhängig von dem gerade diskutierten Beispiel- bzw. Zufallscharakter von Fällen wie Haus einer hohen Anzahl schwerwiegender methodischer und lexiktheoretischer Bedenken. Diese sollen im folgenden offengelegt werden.
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91
92 93
nicht frei davon) wäre konventionelle Sprachlehnforschung im Sinne des einzelsprachbezogenen Modells; sie wäre praktisch und theoretisch bedenklich. Schlesier gibt S. 12 seiner Arbeit an, durch die Europäismen-These motiviert zu sein, betont aber S. 13 ausdrücklich, sich - wenn auch nur aus methodischen, nicht also theoretischen Gründen - nur auf das Deutsche und die skandinavischen Sprachen beziehen zu wollen. Natürlich kann die Tatsache, dass die untersuchten Sprachen in einem engen Verwandtschaftsverhältnis stehen, vor allem in Verbindung mit den genannten Zahlen (beim deutsch-schwedischen Vergleich 489 etymologisch identische Einheiten gegen 89 nicht identische) auch im Sinne einer zumindest stützenden Rolle der Etymologie / genetischen Verwandtschaft gewertet werden. Eine Analyse der diesbezüglichen Formulierungen Schlesiers (S. 14; 312 f.; 318) ergibt eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich dieses Phänomens. Es sei ausdrücklich darauf verwiesen, dass es Gegenpositionen gibt; vgl. Haarmann (Anm. 70) 1976, S. 51: «Die Annahme einer europäischen [ . . . ] ist eine bloße Hypothese.» Oder: Für EUROTYP wird nach rein praktischen Gesichtspunkten festgelegt (vgl. Anm. 65).
-69(1) Das Sprachen-Varietäten-Problem: Es ist zweifellos eine Vereinfachung, wenn bisher ohne jede Problematisierung von Sprache (oft in der Verbindung europäische Sprachen) die Rede war. Gemeint war damit zunächst jeweils die historische Einzelsprache (also ζ. B. Deutsch, Italienisch, Niederländisch, Friesisch, Tschechisch, Rätoromanisch). Unter der Hand aber wurde die Einzelsprache, die ja linguistisch als Gesamtheit von Historiolekten, Dialekten, Soziolekten, Fachsprachen, situationsspezifischen Registern usw. zu verstehen ist, mit einer ihrer Existenzformen gleichgesetzt, nämlich der in jedem Fall relativ jungen (maximal ein halbes Jahrtausend alten), sozial ausgezeichneten, dennoch oft eine gewisse Raumbindung aufweisenden, an gehobene Sozialsituationen gebundenen, grammatisch und lexikalisch genormten, oft schriftlich realisierten Leitvariante. Der gesamte historische (im Deutschen von althochdeutscher Zeit bis ins 16. Jahrhundert reichende), geographische (im Deutschen bis auf den heutigen Tag sehr different ausgeprägte), soziale und sozialsituative, teilweise selbst der sprechsprachliche Sockel der Leitvariante bleibt damit ausgeblendet. Es ist daher nur konsequent, wenn der Atlas Linguarum Europae unter theoretischem Aspekt fordert, «die Untersuchungen auf ein Material zu gründen, das in strengerem Sinne aus Dialekten stammt,» und wie zur Bestätigung dieser Forderung ausdrücklich feststellt: «Das Zurückgreifen auf die tiefer liegende Ebene der Dialekte ist [ . . . ] eine wissenschaftliche Notwendigkeit.»* Untersuchungen wie die jüngst von Franz-Josef Klein vorgelegte Studie (vgl. Anm. 64) belegen mit der Ergiebigkeit diesbezüglicher Forschungen die Richtigkeit des Standpunktes. Dennoch wird man sich in einem denkbaren, auf die Herausarbeitung von Europäismen zielenden lexikographischen Unternehmen aus arbeitstechnischen Gründen auf die jeweiligen Standardsprachen beschränken müssen; darunterliegende räumliche Lagerungen gehörten dann zur Aufgabe der eher national orientierten oder auf eine Sprachgruppe innerhalb des Europäischen gerichteten Sprachgeschichtsforschung. (2) Das Problem der Definition von : Mit (1) verbindet sich das Problem, dass linguistisch unterschiedlich bestimmt werden kann, wo die räumlichen und zeitlichen Grenzen einer Sprache liegen und was damit als einer Sprache zugehörig zu behandeln ist. Existiert das Deutsche etwa schon seit dem 6. oder 8. Jahrhundert oder erst seit der Jahrtausendwende? Waren die Verständigungsmittel der Jahrhunderte der Karolinger und Ottonen bereits eine Gesamtsprache oder noch einzelne Stammessprachen? Gehörten das Langobardische, das Westfränkische, das Altniederfränkische und das Altsächsische dazu? 94
Introduction (vgl. Anm. 51), S. 173; dass sich aus der zitierten Forderung schwerwiegende forschungspraktische Probleme ergeben, berührt nicht die Berechtigung der Forderung.
-70Oder seit wann gehört das Altniederfränkische (falls es überhaupt jemals dazugehört hat) nicht mehr, das Niederdeutsche aber durchaus dazu (falls das nicht schon seit karolingischer Zeit so war)? Man erkennt, dass es hier nicht nur um Randzeiten und Randräume, sondern um die historisch stets wechselnde Gesamtsubstanz einer sog. Sprache geht. Dies gilt ebenso für die Gegenwart. Auch wenn die Idee einer nationalen Sprache (oder Staatssprache) in der gegenwärtigen politischen Landschaft Europas sehr verbreitet ist und damit zumindest der Sprachraum eine gewisse Festlegung erfährt, sollte man sich keinen Illusionen hinsichtlich der relativen Kurzfristigkeit weitester Teile des heutigen europäischen Staaten- und Sprachensystems hingeben; es gibt ganze Großräume innerhalb Europas, für die keine allgemein akzeptierte Definition bestimmter Einzelsprachen vorhanden ist. Typische Fragen lauten: Sind die von einigen als Sprachen propagierten Verständigungsmittel a und b nicht eine Sprache? Sind die mit χ bezeichneten Verständigungsmittel wirklich eine oder sind sie einer Sprache? Wenn letzteres der Fall ist, stellt sich die Frage: Dialekt welcher Sprache? (3) Das Wörterbuchexistenzproblem: Die Methodenkombination der Europäismenforschung setzt an verschiedenen Stellen, nämlich (a) bei der Gewinnung des semasiologischen Bezugsfeldes, (b) bei der Gewinnung des Heteronyms der Vergleichssprachen und (c) bei der Gewinnung der semasiologischen Felder der Heteronyme, die Einsichtnahme in Wörterbücher voraus. Diese Voraussetzung ist für die meisten europäischen Sprachen voll erfüllt. Für diejenigen, die erst relativ spät zur Nationalsprache erhoben wurden bzw. deren Propagierung und Pflege als Nationalsprache verhindert wurde, bestehen aber Lücken. Insgesamt scheitert die Europäismenforschung dennoch nicht am Wörterbuchexistenzproblem. (4) Das Wörterbuchvergleichsproblem·. Es stellt sich unter der Voraussetzung, dass das Wörterbuchexistenzproblem gelöst ist, und besteht darin, dass lexikologische Vergleiche in einem methodisch strengen Sinne nur dann durchführbar sind, wenn die benutzten Wörterbücher (a) einen ähnlichen Umfang, (b) eine ähnliche Anlage haben. Hinsichtlich der Umfangsähnlichkeit kann ζ. B. nicht ein Einbänder 55 mit einem der nationalen Monumentalwerke' korreliert wer-
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Gedacht ist etwa an D u d e n . Deutsches Universalwörterbuch. 3 . , neu bearb. und erw. Aufl. [ . . . ] . Bearb. von Günther Drosdowski und der Dudenredaktion. M a n n heim [etc.] 1996. - Le Petit Robert par Paul Robert. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue Française. Rédaction dirigée par A. Rey et J. Rey-Debove. Paris 1990.
96
Gedacht ist etwa an das Deutsche Wörterbuch von J a c o b G r i m m und Wilhelm G r i m m . 16 [in 32] Bänden. Leipzig 1 8 5 4 - 1 9 6 1 . - Woordenboek der Nederlandse
-71 den. Hinsichtlich der Anlageähnlichkeit müsste u. a. garantiert sein, dass gleiche Grundsätze in der Behandlung historischer, raumgebundener, fachlicher, sprechsprachlicher Bedeutungen gelten, dass ein ähnlicher Polysemieindex' 7 angestrebt wird, dass ähnliche Erläuterungstypen'" verwendet und ein ähnliches Strukturmuster der Bedeutungserläuterung vorgegeben ist. Sowohl die Urnfangs- wie die Anlagevoraussetzungen sind in höchst unterschiedlicher Weise erfüllt: Die meisten großen, einige mittelgroße und einige kleinere Sprachen verfügen über eine solche Fülle von Wörterbüchern unterschiedlichen Umfangs und unterschiedlicher Anlage, dass leicht Werke gefunden werden können, die einen schnellen Vergleich ermöglichen; bei anderen wird der Vergleich eigene methodische Operationen erfordern. (5) Das Problem des Status des semasiologischen Bezugsfeldes·. In den Tabellen 1 und 2 (partiell entsprechend in den anderen Tabellen) wurde am linken Rand ein semasiologisches Feld eingetragen, das ausschließlich für das Deutsche gilt und damit per definitionem einzelsprachlichen Status hat. Die Entscheidung, eine Bezugsgröße mit diesem Status zum Ausgangspunkt des gesamten Vergleichsverfahrens zu machen, bedeutet notwendigerweise, dass die semasiologischen Felder der Heteronyme in der Regel eine andere Anzahl von Einzelbedeutungen (Sememen) als das Ausgangsfeld, also entweder mehr oder weniger, aufweisen. In beiden Fällen wird die Vergleichbarkeit zum Problem. Von Europäismus zu sprechen ist schließlich nur dann sinnvoll, wenn ein bestimmter Prozentsatz von Übereinstimmungen der Sememe des Ausgangs- und der Vergleichsfelder besteht (bei Schlesier, vgl. Anm. 85, wurde ein Prozentsatz von 80 festgelegt). Dieser Prozentsatz ist aber immer dann nicht angebbar, wenn die Tabellen keinerlei Schluss darauf zulassen, wie viele Einzelbedeutungen ein Heteronym außer den durch den Bezug auf ein Ausgangszeichen angeführten noch hat; die untere Zeile der Tabellen 1 und 2 deutet die Möglichkeit von vielen außerhalb des Vergleichsrahmens liegenden Sememen an. Wäre es deshalb nicht besser, dem Bezugsfeld einen anderen als einzelsprachlichen Status zu
Taal. Bewerkt door M. de Vries / L. A. te Winkel [e. a.]. 40 Bde. s'Gravenhage / Leiden 1882-1998. 97
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Es gibt Wörterbücher, die relativ generische Bedeutungsansätze und solche, die relativ differenzierte Ansäße zum Programm erheben und demzufolge zu stark unterschiedlichen Polysemiezahlen kommen. Zu den Erläuterungstypen zählen ζ. B. die Synonymenangabe, die phrastische Erläuterung, die Erläuterung mittels Beispielangabe. Dazu zählen ζ. B. die Reihung der angesetzten Erläuterungen und der von zu «differenziert) verlaufende Strukturbaum.
-72geben? In Betracht käme eine Liste,'00 in der alle (wie auch immer gewonnenen und voneinander abgegrenzten) Bedeutungen aller Heteronyme aller in die Untersuchung einbezogenen Einzelsprachen addiert sind. Diese Möglichkeit hat allerdings den Nachteil, darstellerisch schwer bis kaum handhabbar zu sein: Je mehr Sprachen berücksichtigt sind, desto länger wird das Bezugsfeld. Das ist aber bereits der Grund, dass die untere Zeile der Tabellen nur als Andeutung gestaltet, nicht also mit Sememangaben gefüllt ist. Man kommt deshalb wohl nicht darum herum, bei dem einzelsprachlichen Status des Bezugsfeldes zu bleiben. (6) Das Problem der Gewinnung des Bezugsfeldes·. Mehrere Möglichkeiten (und deren Kombination) kommen in Betracht. Am einfachsten ist die Zugrundelegung eines einzigen Bezugswörterbuches. Dies hätte den Nachteil, dass man jede von dessen Eigenheiten und sogar jeden seiner Fehler ungeprüft übernehmen müsste. Sinnvoller, allerdings auch arbeitsaufwendiger ist es deshalb, von mehreren Bezugswörterbüchern auszugehen und aus deren unterschiedlichen Ansätzen ein eigenes Feld zu konstruieren. Ein solches Konstrukt würde erstens Richtigstellungen von Fehlern, Verbesserungen sprachlicher und inhaltlicher Ungeschicklichkeiten erlauben, zweitens Vereinheitlichungen des Strukturmusters ermöglichen und drittens durch solche kritischen Eingriffe die Schaffung einer für den Vergleichszweck geeigneten Struktur sowie der Strukturfüllung nicht nur zulassen, sondern sogar nahelegen. Natürlich setzt dies methodisch bereits die Kenntnis der Behandlung der Heteronyme in den Wörterbüchern der Vergleichssprachen voraus, und natürlich lauert bei diesem Verfahren immer die Gefahr der Manipulation des Bezugsfeldes in eine Richtung, die die Erreichung des Untersuchungsziels, nämlich die Gewinnung von Europäismen, positiv beeinflusst. Dennoch soll dieses Verfahren hier als das Standardverfahren empfohlen werden. Bei Wahrung der nötigen Vorsicht mag es in Einzelfällen durch die Kompetenz des Lexikographen sowie durch gezielte Sprecherbefragungen ι · 102 erganzbar sein.
100 Es wird deshalb nicht mehr Feld gesagt, weil dieser Ausdruck eine einzelsprachliche Gegebenheit bezeichnet; die Addition mehrerer Felder sollte wegen des Statuswechsels nicht mehr selbst Feld genannt werden. 101 In den Tabellen 1 und 2 wurden die Bedeutungen aufgrund dieses Verfahrens aus ihrer hierarchischen Struktur (erster Ordnung: la, l b usw.) gelöst und neu durchgezählt, außerdem in der Reihenfolge leicht verändert. 102 Gedacht ist an Fälle wie den folgenden: A n g e n o m m e n , Ausgangswörterbücher für die Konstruktion eines Bezugsfeldes seien Sanders, W b . der dt. Spr. (vgl. A n m . 37), D u d e n (Universalwb.; vgl. A n m . 95) und Wahrig, Dt. W b . ; alle drei Wörterbücher führen die Bedeutung
ni.
3
4. «Kampf, Kriegsbe-
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Mnl. (ff.
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4
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2. «Leiden, Marten
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Zusammenfassend könnte man zu letzterer Bedeutung eine Aussage formulieren wie die folgende: «Im Französischen, Niederländischen, Deutschen seit dem Mittelalter belegt, im Deutschen und Niederländischen im 16. / 17. Jahrhundert auslaufend, niederländisch aber sowohl in Dialekten wie in archaisierender Literatursprache, speziell in metaphorischer Verwendung, bis Ende des 19. Jahrhunderts, im Französischen und Englischen bis zur Gegenwart erhalten». Es geht mir bei dieser Aussage nicht so sehr darum, dass ihr Inhalt nicht in Details modifiziert werden könnte, sondern eher um den Aussagetyp, der die lexikalisch-semantische Einheit der europäischen Sprachen zum Ausgangspunkt macht. Die vorgetragenen Zeitangaben entstammen den historischen Vergleichswörterbüchern der angegebenen Sprachen. 4. 5. 4 Alle unter 4. 4 für die Gegenwartssprachen diskutierten Probleme stellen sich für deren historische Stufen in mindestens gleicher Weise, in der Regel verstärkt. Am schwierigsten ist wieder das Äquivalenzproblem. Es erfährt dadurch eine zusätzliche Erschwerung, dass die sog. Horizontverschmelzung, die sich bei zwischensprachlicher Verständigung ohnehin stellt, noch durch die historische Dimension verkompliziert wird. Erschwert ist auch das Wörterbuchvergleichsproblem: Die Art, wie man die Gesamtbedeutung in ihre Einzelbedeutungen schneidet, differiert nicht nur nach den unter (4) (Abschnitt 4. 4) angedeuteten fachlexikographischen Entscheidungen, sondern zusätzlich nach der Überlieferung und nach deren philologischer Erschließung. Dennoch scheint mir die Ausweitung des Europäismen-Konzeptes auf historische Sprachstadien möglich zu sein. Es bietet sich kein einziges Problem, das qualitativ über die Probleme des Wortschatzvergleichs gegenwärtiger Sprachen hinausgeht. 4. 5. 5 Dabei liegt der wortgeschichtliche Erkenntniswert auf der Hand. Vorausgesetzt, dass es gelingt, größere zusammenhängende Wortschatzbereiche so zu untersuchen, dass die Ergebnisse Beispielwert haben, lassen sich Antworten auf folgende Fragetypen finden: - Welche gegenwärtigen Europäismen haben welche historische Tiefe? - Lassen sich in der Geschichte semasiologischer Felder zeitliche Schübe in Richtung auf Europäisierung feststellen, und falls ja, wo liegen diese? - Lassen sich bestimmte Sprachen pro Zeit (etwa das Mittelalter, die Aufklärung) als Zentren semantischer Strahlung in Richtung auf Europäismen nachweisen? - Falls dies gelingt, welche Textsorten bestimmen die Entwicklung? - Zeichnet sich aus den (hier einmal vorausgesetzten) Antworten auf die genannten Fragetypen eine europäische Wortgeschichte ab, die weniger amorph
-90u n d auf isolierte Einzeleinheiten bezogen, umgekehrt ausgedrückt: räumlich, zeitlich, soziologisch stärker strukturiert ist, als es die heutigen Geschichten von Einzelwörtern in Einzelsprachen zweifellos sind? - Lässt sich eine Rückbindung von Entwicklungsschüben sowie von Raum- u n d Sozialbindungen an Fakten der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte nachweisen? - Welche Rolle spielt im Westen und in der Mitte das Lateinische, im Osten u n d Südosten das Griechische im Prozess der gesamteuropäischen Wortgeschichte? - Welche Varietäten einer Sprache nehmen überhaupt oder vorwiegend an der Europäisierung des Wortschatzes teil? Gedacht ist an die Rolle der hoch- u n d bildungssprachlichen Varianten, der Fachsprachen, der Mundarten, aber auch der medialen Varianten nach der Dichotomie geschrieben / gesprochen).
5 Ausblick Im Hintergrund der bisherigen Ausführungen stand ein Faktum, das allgemein bekannt ist u n d deshalb nicht eigens beschrieben wurde, dessen Gewicht aber offensichtlich unterschätzt wird. Es besteht darin, dass der Geschichte der deutschen Sprache innerhalb des deutschsprachigen Raums an allen allgemeinbildenden Schultypen (frühere Volksschule, jetzige Hauptschule, Mittelschulen, Gymnasien) erhebliche Zeit und Energie gewidmet wurde" 9 u n d teilweise auch heute noch gewidmet wird, dass Sprachgeschichte an Universitäten u n d anderen akademischen Einrichtungen ein etabliertes u n d anerkanntes Teilgebiet des Faches Germanistik ist u n d dass sprachgeschichtliche Fakten zum Bestand kollektiven Wissens Deutschsprechender gehören. M a n unterrichtete (und unterrichtet) gleichsam jede(n) einzelne(n) Heranwachsende(n) - freilich mehr oder weniger intensiv - über Gegenstände wie die Zugehörigkeit des Deutschen zum Germanischen u n d letztlich Indogermanischen, über Texte eines literarischen Kanons, der vom Hildebrandslied zur Minnelyrik, Artus-, Heldenepik des Hochmittelalters fortschreitet und irgendwann die Texte der Klassik u n d solche der Gegenwart erreicht, ferner über Personen, deren Sprachmacht u n d stilge-
119 Eine Darstellung dieser Verhältnisse enthält Kapitel II des Handbuchs Sprachgeschichte (vgl. Anm. 8), S. 332-416; vgl. insbesondere: Georg Stötzel / KlausHinrich Roth, Das Bild der Sprachgeschichte in deutschen Sprachlehrbüchern, a. a. O., S. 359-370. 120 Jochen A. Bär, Die Rolle der Sprachgeschichte in Lexika und sonstigen Werken der Verbreitung kollektiven Wissens. In: Sprachgeschichte (vgl. Anm. 8), S. 370-383.
-91staltender Einfluss teils schärfer ins Bewusstsein gehoben werden als ihre sonstige Leistung. Geht man davon aus, dass es keine Gesellschaft auf der Welt gibt, die ihre Jugend mit Unterrichtsinhalten befasst, die vom sog. Ideal des bloßen Interesses am Stoff (im Sinne einer konsequenten Zweckfreiheit von Ausbildung, Bildung und Wissenschaft) her motiviert sind, dann muss die Frage gestellt werden, wozu Sprachgeschichte gedient hat. Die Antwort ist mehrfach angedeutet worden, soll hier aber nochmals explizite formuliert werden: Sprachunterricht und Sprachgeschichtsforschung stehen in Deutschland und in anderen Staaten mit deutschsprachiger Bevölkerungsmehrheit — geschichtlich in jeweils verschiedener Weise gebrochen und modifiziert - in einem Sinngebungskomplex, der vor allem durch Begriffe wie , , , 122 (quasi)natürliche Kongruenz von so etwas wie und so etwas wie bestimmt ist; sie stehen damit in innerer Ubereinstimmung mit denjenigen Entwicklungen, die von vielen Historikern und Staatstheoretikern genutzt wurden, die von der Sprache her definierte Nation zum eigentlichen Strukturierungskriterium des neuzeitlichen oder gar schon des mittelalterlichen Staatensystems Europas oder gar zu einem geschichtlich hochgradig konstanten Faktum zu erheben. Die sich (wie auch immer) aufbauende Einheit ist sprachenübergreifend. Die Pflege eines nationalkulturell orientierten Sprachunterrichts und einer ebenso motivierten Sprachgeschichtsforschung muss die Bildung der neuen Einheit verlangsamen. Angesichts dieser Tatsache stellt sich die Frage nach der zukünftigen Begründung der Beschäftigung mit Sprachgeschichte; verschiedene Antworten kommen in Betracht: (a) M a n gibt den (einzelsprachbezogenen) Sprachunterricht und die (einzelsprachbezogene) Sprachgeschichtsforschung als nationalkulturell orientierte Tätigkeiten auf, da sie ihren Zweck innerhalb des genannten Sinngebungskomplexes verloren haben. Schul- und forschungspolitische Forderungen in diesem
121 M i t dieser Einschränkung soll gesagt sein, dass es auch andere Motivationen für Sprachgeschichte gibt; Bär (s. die vorangehende A n m . ) weist insbesondere bei den jüngeren Lexika eine Hinwendung z u m interessanten Wissensstoff nach (S. 379 f.). In den letzten Jahrzehnten öffnet sich die Sprachgeschichtsforschung Gegenständen wie d e m Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, von Sprache und Herrschaft, d e m auch wirtschaftlich wichtigen Problem der idealen / effektiven / erfolgreichen Fachsprache; Gegenstände dieser Art sind unter nationalkulturellen Aspekten schwer nutzbar. 122 Dieser Terminus wurde ironischerweise durch die östliche Auslandsgermanistik bekannt, vgl. Mirra M . G u c h m a n n 1964; 1969 (vgl. A n m . 40). 123 D a z u mit Belegen und Diskussion: Oskar Reichmann 2 0 0 0 (vgl. A n m . 2 2 ) .
-92Sinne, aber auch einige faktische Entwicklungen an Schule und Universität sind lediglich die Spitze eines in diese Richtung treibenden Eisberges. (b) Man betreibt Sprachgeschichte im wesentlichen unter einzelsprachbezogenen Aspekten, auch wenn man «der Verkettung von Sprache und Nation» im Sinne Sondereggers (1988; vgl. Anm. 1, S. 398) «nicht völlig entraren» können sollte. Dabei würden das Inventar und das System der jeweils betrachteten Einzelsprache und ihr im Vergleich zu anderen Einzelsprachen immer irgendwie spezifischer Funktionszusammenhang den eigentlichen Mittelpunkt des Interesses bilden. Sprachkontakte würden unter Gesichtspunkten wie , (Adaptation), (jeweils des Fremden), (Verteidigung von Domänen), (Bereicherung) als Besonderheiten einbezogen werden können; Wechselseitigkeit des Kontaktes wäre damit vereinbar. (c) Man gibt dem Sprachunterricht und der Sprachgeschichtsschreibung eine neue Orientierung. Diese könnte an das in diesem Bändchen vertretene kontaktbezogene Modell angelehnt sein oder ihm zum mindesten gewisse Argumente entnehmen. Als vorwiegende Gegenstände kämen die Gemeinsamkeiten der Inventare und Systeme europäischer Sprachen (im Sinne der Auflistung unter 4. 2) in Betracht. Ein schwerwiegender Einwand gegen diese Möglichkeit könnte lauten, eine auf die Gesamtheit europäischer Sprachen ausgerichtete Sprachwissenschaft sei nur die Verschiebung des Erkenntnisinteresses von einer bisher kleineren Einheit, eben der Einzelsprache, auf eine größere Einheit, etwa einen Sprachbund. Systematisch sei das aber nichts Neues: So wie in der einzelsprachbezogenen Linguistik die Varietäten zusammengenommen und letztlich als Einheit betrachtet würden, so könne man die Sprachen eines Sprachbundes zusammennehmen und als Einheit behandeln. Gegen dieses Argument gibt es kein anderes Gegenargument als das sehr allgemeine, dass man in allen Wissenschaften mit einem sozial begründeten Gegenstand nicht um dessen Voraussetzung, die Gruppenbildung von Menschen, herumkommt. (d) In der Praxis wird man die unter (b) und (c) genannten Möglichkeiten sinnvoll miteinander zu verbinden haben. Die Diskussion der Ideologiefrage ist die Voraussetzung für die Lösung der schwerwiegenden Gegenstands-, Methoden- und Theorieprobleme, die sich einer Europäisierung der Sprachgeschichtsforschung sowie des Sprachgeschichtsunterrichts stellen. Sich angesichts dieser Aufgabe nicht zu verhalten, wäre der Verzicht auf Sprachgeschichte als Leitwissenschaft.
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C u r r i c u l u m vitae
Oskar Reichmann wurde am 16. April 1937 in Wilgersdorf (Kreis Siegen) geboren, studierte an den Universitäten Marburg und Bonn Germanistik und Geschichte und legte 1962 in Marburg das Staatsexamen ab. Zwei Jahre später wurde er dort mit einer Arbeit über den Wortschatz der Siegerländer Land- und Haubergswirtschaft promoviert. Anschließend war Reichmann am Deutschen Sprachatlas in Marburg und im höheren Schuldienst tätig. 1967 ging er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter, dann Lektor an die Universität Amsterdam und wirkte zugleich als Dozent in der Lehrerausbildung an der Cocma in Utrecht. Seit 1974 lehrt Reichmann als Ordinarius für Germanische Sprachwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Sprachgeschichte an der Universität Heidelberg, einen ehrenvollen Ruf an die Universität Marburg hat er abgelehnt. Reichmann war seit 1983 mehrfach Gastdozent im Ausland, an den Universitäten Paris III und X, Catania, Budapest und Szeged sowie an der Fremdsprachenuniversität in Peking; 1997/98 las er im Rahmen der Wolfgang-StammlerGastprofessur über