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German Pages 231 [232] Year 2010
Weber · Das multiple Subjekt
THEORIE UND GESCHICHTE DER LITERATUR UND DER SCHÖNEN KÜNSTE
Texte und Abhandlungen
Herausgegeben von ALEIDA ASSMANN · HERMANN DANUSER WOLFGANG KEMP · RENATE LACHMANN HELMUT PFEIFFER · WOLFGANG PREISENDANZ JURIJ STRIEDTER
Band 117 · 2010
Julia Weber
Das multiple Subjekt Randgänge ästhetischer Subjektivität bei Fernando Pessoa, Samuel Beckett und Friederike Mayröcker
Wilhelm Fink
Für meine Eltern, in Dankbarkeit
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fazit-Stiftung, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften, der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis Stiftung und der Ludwig Sievers Stiftung
Umschlagabbildung: Aranda\Lasch Aranda\Lasch and Terrol Dew Johnson Exhibition at Artists Space, New York curated by Christian Rattemeyer 2006
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2010 Wilhelm Fink Verlag, München (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-4889-7
Inhalt Einleitung – Ästhetische Subjektivität als schreibender Selbstbezug................................................... 7 I. „Sê plural como o universo“ – Fernando Pessoas Spiel der Heteronymie ........................ 25 1. Der Text als Galaxie – Herausforderungen für die Rezeption ........................... 29 2. Die Genese der Heteronymie ........................................ 38 2.1 Pessoas Sensacionismo ........................................... 38 2.2 Selbstaffektion im Namen der Heteronyme............ 44 3. Ich-Vervielfältigung in der Lyrik .................................. 58 3.1 Alberto Caeiro......................................................... 58 3.2 Ricardo Reis............................................................ 64 3.3 Álvaro de Campos................................................... 69 4. Der implodierte Text: Ich-Aufspaltungen im Livro do desassossego .............. 74 5. Auswirkungen auf die Subjektkonstitution ................... 87 II. „Devised deviser, devising it all for company“ – Samuel Becketts Abstieg in den eigenen Schädel............ 91 1. Einflüsse auf den jungen Beckett .................................. 92 2. Die Trilogie: Von Molloy über Malone meurt zu L’Innommable....... 99 2.1 Molloy ................................................................... 102 2.2 Malone meurt........................................................ 115 2.3 L’Innommable....................................................... 124 3. Medienwechsel............................................................ 134 3.1 Von der Bewusstseinsprosa zum Mentaltheater ... 134 3.2 That Time .............................................................. 136 4. Die späte Prosa: Company........................................... 142 5. Auswirkungen auf die Subjektkonstitution ................. 150
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INHALT
III. „Dialogisch ausufernde Bewußtseinsprosa“ – Friederike Mayröckers vernetzte Identität ..................... 155 1. Der Text als Kaleidoskop – Eine erste Annäherung ... 157 2. Ordnungsauflösende Textverfahren ............................ 162 2.1 Sprachentgrenzungen............................................ 162 2.2 Auflösung traditioneller Gattungsbegriffe............ 168 2.3 Polyperspektivische Textstrukturen...................... 183 2.4 Mayröcker: Eine „Nicht-Erzählerin“? .................. 191 3. Ordnungsstiftende Textverfahren ............................... 194 3.1 Selbstreflexivität ................................................... 194 3.2 Wiederholung und Rhythmus ............................... 198 4. Auswirkungen auf die Subjektkonstitution................. 203 Zusammenfassung und Ausblick......................................... 211 Literaturverzeichnis............................................................. 217 Danksagung......................................................................... 231
Einleitung – Ästhetische Subjektivität als schreibender Selbstbezug „Die Annahme des Einen Subjekts ist vielleicht nicht notwendig; vielleicht ist es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zugrunde liegt. Meine Hypothese: Das Subjekt als Vielheit.“ Friedrich Nietzsche
Die literarische Moderne ist ohne eine Vielzahl von Formen der Subjektentgrenzung kaum denkbar. Diese werden jedoch oft als Ausdruck tiefgreifender (Selbst-)Entfremdungsprozesse gewertet und selten in ihrer positiven Qualität als alternative Formen von Subjektivierung gewürdigt. Dies trifft in besonderer Weise auf literarische Ich-Aufspaltungen und Ich-Vervielfältigungen zu, Phänomene, die meist mit den in der Psychologie und Psychiatrie diagnostizierten Krankheitsbildern der ‚Ich-Aufspaltung‘, ‚Dissoziation‘ oder ‚Multiplen Persönlichkeitsstörung‘ assoziiert werden und deshalb negativ konnotiert sind. Die vorliegende Arbeit ist weder an einer Phänomenologie des Verfalls von Subjektivität interessiert, noch möchte sie die literarischen Ich-Vervielfältigungen psychologisch durchleuchten. Stattdessen sollen die konstruktiven Momente einer Überschreitung bestehender Subjektgrenzen im Medium des Ästhetischen hervorgehoben werden. Ich lese literarische Ich-Vervielfältigungen als schöpferische Auseinandersetzungen mit den verlorenen Subjektgarantien und möchte zeigen, dass die Dezentrierung und Vervielfältigung von Subjektivität – im poetischen Freiraum der Literatur – eine Möglichkeit bietet, neue Bewusstseinsformen zu erproben. Als herausragende Beispiele für literarische Strategien der IchAuflösung und Ich-Vervielfältigung wurden die Autor/innen Fernando Pessoa (1888-1935), Samuel Beckett (1906-1989) und Friederike Mayröcker (geb. 1924) ausgewählt. Diese Auswahl – prinzipiell wären natürlich für die Phänomene der Ich-Aufspaltung und Ich-Vervielfältigung eine Reihe weiterer Autoren denkbar – erfolgte primär unter zwei Gesichtspunkten: Zum einen ermöglicht sie es, drei unterschiedliche Spielarten des multiplen Subjekts ge-
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EINLEITUNG
genüberzustellen und ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen herauszuarbeiten. Zum anderen erlaubt der Vergleich von Pessoa als eines Autors der frühen Moderne mit Beckett als Autor der klassischen Moderne bzw. an der Schnittstelle von Moderne und Postmoderne und Friederike Mayröcker als Autorin der Postmoderne, historisch unterschiedliche – und in gewisser Weise auch geographisch ausgreifende – Momente innerhalb des 20. Jahrhunderts auszuleuchten. Ausschlaggebend für die Auswahl war zudem, dass das Phänomen der Multiplizierung (also nicht nur das einer IchEntgrenzung, sondern das der expliziten Ich-Vervielfältigung) im literarischen Gesamtwerk der drei Autor/innen jeweils eine herausragende Rolle spielt. Pessoa, Beckett und Mayröcker reizen in ihren Texten den mit der Dezentrierung und Ich-Vervielfältigung einhergehenden Kontrollverlust mit jeweils unterschiedlichen literarischen Strategien so weit aus, dass alternative Formen einer multiplen Subjektivität sichtbar werden. Ziel der folgenden Analysen ist es, diese verschiedenen Formen multipler Subjektivität so genau als möglich nachzuzeichnen und sie dadurch einer theoretischen Betrachtung zugänglich zu machen. Die Deutungen basieren auf textnahen Interpretationen und versuchen, die Bewegungen der Texte in einem close reading einzufangen. Basierend auf der Grundannahme einer grundlegenden Korrelation von Textualität und Subjektposition argumentiere ich, dass die in den Texten entstehenden genuin neuen Formen von ästhetischer Subjektivität nur aus immanenten Textanalysen heraus erfasst und entwickelt werden können und dass ihnen zunächst so wenig als möglich mit Hilfe theoretischer Vorannahmen begegnet werden sollte. Subjektivität, so die Grundthese, ist in Texten maßgeblich sprachlich verfasst, folglich ziehen die Entgrenzung und Überschreitung bestehender Sprach-, Erzähl- und Wahrnehmungsformen auch Veränderungen der literarischen Subjektkonstitution nach sich. Indem ich die jeweiligen literarischen Verfahrensweisen analysiere und die unterschiedlichen Formüberschreitungen in den Texten dann jeweils auf die Subjektkonstitution beziehe, wird es möglich, die in den Texten entstehende Form von ästhetischer Subjektivität zu identifizieren. Doch bevor ich mich der Analyse der spezifischen Formen ästhetischer Subjektivität in den Texten von Pessoa, Beckett und Mayröcker zuwende, soll zunächst der Rückgriff auf die Begriffe „Subjektivität“ und „ästhetische Subjektivität“ geklärt und ihre Verwendung im Kontext der folgenden Untersuchungen bestimmt werden.
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Neuere Forschungen stimmen weitgehend darin überein, dass Subjektivität – vereinfacht: die Wahrnehmung einer Person von sich selbst oder von Welt, wobei davon ausgegangen werden muss, dass es sich hierbei um eine reflexive Tätigkeit handelt – eher als ein Prozess und nicht so sehr im Sinne einer festen Struktur zu verstehen ist.1 Schwierigkeiten bereitet es hingegen nach wie vor, so Ruth Robbins in ihrer 2005 erschienenen großangelegten Studie Subjectivity, die mögliche Rolle der Kunst bei der Ausbildung von Subjektivität zu bestimmen: „It is more or less agreed that subjectivity is something which is constructed and permanently reconstructed within lifetime and no stable thing that we can achieve once forever. It is also commonsense that we build and perform our subjectivity in counteraction with an other. Whereas that very often might be a parent for the first formation of subjectivity, it is yet not clear which role art (literature, painting, music, movies, etc.) plays within the process of our permanent reconstruction and upholding/shaping of subjectivity.“2
Auch Oliver Jahraus beklagt in seiner Habilitationsschrift Literatur als Medium das Fehlen eines Ansatzes, „der Literatur, Gesellschaft und Subjektivität systematisch aufeinander bezieht und zeigt, wie Literatur den Zusammenhang von Gesellschaft und Subjektivität nicht nur thematisiert und problematisiert, sondern auch operationalisiert und prozessiert“.3 Beginnen wir mit einem kurzen historischen Exkurs: Schlägt man das Wort „Subjektivität“ in historischen Wörterbüchern nach, so sticht zunächst seine relative Neuheit ins Auge. Während in der von Denis Diderot und Jean le Rond d’Alembert von 1751-1771 herausgegebenen Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers noch kein Eintrag – weder zu „subject“ noch „subjectiv“ oder „subjectivité“ – zu finden ist, taucht das Wort „Subjectivität“ dem Grimmschen Wörterbuch zufolge im deutschen Sprachgebrauch bereits im 18. Jahrhundert vereinzelt als Substantivierung des Adjektivs „subjectiv“ auf. Doch der Eintrag im Grimmschen Wörterbuch überrascht durch seine Unschärfe: Ganz im Gegensatz zu der sonst gängigen Verfahrensweise des Wörterbuchs 1
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Einen guten Forschungsüberblick zur Diskussion um Subjektivität liefern Robbins, Ruth: Subjectivity. New York 2005 und Hall, Donald E.: Subjectivity. New York 2004. Robbins: Subjectivity, S. 17. Jahraus, Oliver: Literatur als Medium, Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation. Velbrück 2003, S. 520.
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EINLEITUNG
findet sich keine positive Erläuterung oder Definition des Begriffs, stattdessen werden nur einige unzusammenhängende Verwendungen aufgeführt: „SUBJECTIVITÄT, f., eine substantivierung des adj. nach frz. subjectivité seit dem 18. jh., vgl. SEILER lehnw. 3, 348. zu subjectiv 1: (Plato) erkennt die subjectivität der sinneseindrücke vollständig an DILTHEY einleit. in d. geisteswiss. 1, 233; WINDELBAND gesch. d. ne. philos. (1899) 1, 148. zu subjectiv 2: wie denn bei dergleichen abwägungen Bd. 20, Sp. 815 der richterliche ausspruch fast jederzeit allein durch die subjectivität der aburtheilenden bestimmt wird GAUDY 21, 158; die auf die spitze getriebene subjectivität des achtzehnten jahrhunderts IMMERMANN 18, 35 Boxb.; die subjectivität der weiber M. V. EBNER-ESCHENBACH ges. schr. 3, 385. zu subjectiv 3: diese leerheit heiszt uns reine form, darstellung reiner objectivität ohne object und ja, ohne beimischung eines funkens subjectivität: denn diese subjectivität wäre vielleicht gar genie HERDER 22, 102.“4
Die mangelnde Präzision der Definition ist ein anschauliches Zeugnis dafür, dass sich der moderne Subjektbegriff und der parallel entstehende Begriff der Subjektivität im 18. Jahrhundert gerade erst ausbilden. Auch das Wort „Subjekt“, das zuvor nur gemäß seiner ursprünglichen lateinischen Bedeutung von „subiectum“ als dem Unterworfenen im grammatischen Sinne verwendet wurde, um zu benennen, worauf Prädikate angewendet werden, bezeichnet laut Grimm erst „seit dem ende des 17. jh. eine person“.5 Wie ist diese semantische Verschiebung des Subjektbegriffs und der sich daraus bildende Neologismus „Subjectivität“ zu bewerten? Welche gesellschaftlichen und/oder epistemologischen Veränderungen drücken sich im neuen Sprachgebrauch aus? Der Philosoph Christoph Menke verweist in diesem Zusammenhang auf das Entstehen einer neuen Form von Selbst-Reflexivität, die sich erst im 18. Jahrhundert ausgebildet habe: „For that semantic shift of the word ‚subject‘ does not mean that subjectivity – referring to the capacity of saying ‚I‘ – was discovered only then and unknown before. Rather, the epochal significance of the new use of the term lies in the fact that – and the way in which – the reference to beings capable of saying ‚I‘ is often mixed up in an opaque way with the indication of a quite different determination: 4 5
Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 16 Bde. [in 32 Teilbänden]. Leipzig 1854-1960, Band 20, S. 815. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Eintrag zu „subject“, Bd. 20, S. 814.
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namely the specifically modern determination of the subject of reflection. The modern emphasis refers to the subject as the instance or place of a process of reflection in which anything objectively existing or pregiven is dissolved. This is what makes the shift in our speaking of a ‚subject‘, some time in 18th century philosophical discourse, into a decisive fact for our understanding of modernity: it connects the reference to I-saying beings with the emphasis on a new practice of reflection.“6
Die beiden Begriffe „Subjekt“ und „Subjektivität“ bezeichnen Menke zufolge ein seit dem 17. Jahrhundert – vor allem durch Descartes’ philosophische Schrift Meditationes de prima philosophia – hervorgerufenes neues Interesse am kognitiven und praktischen Selbstverhältnis des Menschen, dessen reflexive Fähigkeiten und Aktivitäten sie gleichzeitig in den Mittelpunkt rücken. Das ins Zentrum der Wahrnehmung gerückte Subjekt betrachtet sich dabei fortan nicht mehr als das Unterworfene, sondern wird – genau diametral entgegengesetzt – zur zentralen hervorbringenden Instanz von Erkenntnis. Menke zufolge ist es Alexander Gottlieb Baumgarten, der in seiner Aesthetica (1750-58) als Erster die Begriffe „Subjekt“ und „Subjektivität“ in diesem neuen modernen Sinn verwendet. Baumgarten sei der Erste, der das Subjekt nicht mehr als einen Träger von Eigenschaften oder Prädikaten versteht, sondern als einen Akteur, der durch seine Fähigkeiten etwas verwirklicht. Menke folgert daraus, dass der moderne Subjektbegriff eine „Erfindung der Ästhetik“7 sei: „The discipline of aesthetics and the modern use of the term ‚subject‘ begin at the same time, they are invented in the same moment and, moreover, by the same author, in the same text. From its beginning, the discourse of aesthetics is a discourse – and at first not only a, but the discourse – about the subject and subjectivity.“8
Ein Blick in den Oxford English Dictionary (OED) bestätigt diesen Befund. Auch in der angelsächsischen Tradition scheint der Begriff „Subjektivität“ seinen Eingang in den Sprachgebrauch in erster Linie über den ästhetischen Diskurs gefunden zu haben. Der Oxford English Dictionary bietet zu „subjectivity“ vier verschiedene Definitionen an, welche alle aus dem Bereich der Dichtung und 6 7 8
Menke, Christoph: „Modernity, Subjectivity and Aesthetic Reflection“. In: Osborne, Peter (Hg.): From an Aesthetic Point of View. London 2000, S. 35 f. Ebd., S. 40: „The term ‚subject‘ is an aesthetic invention.“ Ebd., S. 39.
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EINLEITUNG
Ästhetik stammen.9 Zunächst wird der Begriff als „consciousness of one’s perceived states“ (1a) bzw. als „a conscious being“ (1b) bestimmt, zwei Definitionen, die auf den Gebrauch des Begriffs bei Samuel Taylor Coleridge zurückgeführt werden. Beide Verwendungsweisen binden Subjektivität eng an Reflexivität, im zweiten Fall werden die Begriffe sogar synonym verwendet. Die zweite Angabe des Oxford English Dictionary expliziert den Terminus ausführlicher. Subjektivität ist: „[t]hat quality or condition of viewing things exclusively through the medium of one’s own mind or individuality, the condition of being dominated by or absorbed in one’s personal feelings, thoughts, concerns, etc.; hence individuality, personality“. (2a)
Diese zweite Definition stammt aus der Feder des Dichters Robert Southey, einem Zeitgenossen von Coleridge, und betont, dass Subjektivität einen internen oder mentalen Prozess darstellt. Zugleich wird der Begriff diesmal als Synonym für „Individualität“ und „Persönlichkeit“ angeführt. In der Variante 2b, die wieder aus der Feder von Coleridge stammt, rückt Kunst als genuine Ausdrucksform von Subjektivität ins Blickfeld. Subjektivität wird diesmal definiert als: „[t]hat quality of literary or graphic art which depends on the expression of the personality or individuality of the artist; the individuality of an artist as expressed in his work“. (2b)
Diese Definition hebt darauf ab, dass die internen mentalen Prozesse in der ästhetischen Praxis veräußerlicht werden (können). Das Kunstwerk wird in Abhängigkeit von der Subjektivität des Künstlers gedacht, der in seinen abstrakten Gedanken und Vorstellungen auf einen medialen Ausdruck angewiesen ist. Während in der dritten Variante auf den Eintrag „subjectivism“ weiterverwiesen wird, wird in der vierten und letzten Variante betont, dass Subjektivität immer die Repräsentation eines Geisteszustands darstellt. Dort heißt es: „[t]he quality or condition of resting upon subjective facts or mental representation; the character of existing in the mind only“. (4)
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Die folgenden Einträge zu „subjectivity“ werden zitiert nach der Online-Ausgabe von The Oxford English Dictionary. 2nd ed. 1989. OED Online. Oxford University Press. 4. Apr. 2000, .
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Fasst man die unterschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffs zusammen, so lässt sich festhalten, dass Subjektivität zum einen an Reflexivität gekoppelt wird (1a und 1b), zum anderen mit Begriffen wie „Individualität“ oder „Persönlichkeit“ in Verbindung gebracht wird (2a). Zudem wird auf die Kunst als ihrer genuinen Repräsentationsform verwiesen; die besondere Qualität von Subjektivität als „mental representation“ (4) des individuellen Bewusstseins einer Person kommt laut Oxford English Dictionary vor allem in „literary and graphic art“ (2b) zum Ausdruck. Die von Menke zuvor in Bezug auf den deutschen Kontext formulierte These, dass der Diskurs der Ästhetik den modernen Subjektbegriff hervorbringt, kann somit auch für den englischen Sprachgebrauch geltend gemacht werden. Alle im Oxford English Dictionary angeführten Definitionen von Subjektivität stammen aus dem Feld der Literatur bzw. Ästhetik, welche den Begriff auch im englischen Sprachgebrauch (wahrscheinlich in Übernahme aus der deutschen Diskussion) etablieren. Ich werde im Folgenden argumentieren, dass die Entwicklung des modernen Subjektbegriffs aus der Ästhetik und der Literatur nicht zufällig erfolgt, sondern strukturell an diese beiden Diskurse gekoppelt ist. Der Diskurs der Ästhetik, der sich im 17. Jahrhundert vorbereitet und im 18. Jahrhundert etabliert, und die sich vor allem in der Sattelzeit zu einem autonomen kulturellen Bereich ausdifferenzierende Literatur werden in der Nachfolge des zunächst vorrangig philosophischen Interesses des Subjekts an sich selbst zu zentralen Medien für die Bestimmung und Entfaltung von Subjektivität. Im Gegensatz zum philosophischen Diskurs, der das Ich vor allem rationalistisch ausleuchtet, leitet der ästhetische Diskurs durch seine Aufwertung des Sinnlichen neue umfassendere Möglichkeiten für die Selbstreflexion des Subjekts ein, welche in der sich parallel von Regelpoetiken befreienden Literatur einen neuartigen Resonanzraum finden. Die Literatur ermöglicht es dem ins Zentrum der Selbsterkenntnis gerückten Subjekt, neue Formen des Selbstbezugs zu erproben, wobei die literarische Selbsterforschung im Gegensatz zur Philosophie auch Raum für Gefühle, Träume, Phantasien, Erinnerungen und Assoziationen bietet. Vor allem die Autobiographie und der im 18. Jahrhundert populär werdende Briefroman erweisen sich als geeignete Formen, um das Subjekt und seine wechselhaften Zustände und Befindlichkeiten auszuleuchten. Literatur ist in dieser Perspektive niemals nur das
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EINLEITUNG
bevorzugte Ausdrucksmedium eines zu neuem Selbstbewusstsein gelangten Bürgertums, sondern vor allem auch eine Art medialer ‚Prozessor‘ seiner Selbstreflexion. Im Medium der sich von Regelpoetiken befreiten Literatur wird die eigene Subjektivität beobachtbar, was dazu führt, dass sie immer häufiger in Form von Selbstreflexivität in den literarischen Text miteingestaltet wird – eine Bewegung, die sich in der Poetik der Transzendentalpoesie potenziert. Moderne Literatur definiert sich spätestens seit der Romantik als eine generell selbstreflexive Form, in der die subjektive Perspektive der Selbst- und Weltwahrnehmung die Textualität mitbestimmt. So wie die moderne Bildästhetik den Bildraum subjektiviert, indem sie zunächst den Wahrnehmungsakt in Form des eingestalteten Betrachters ins Bild rückt und zu einer reflexiven Darstellung der subjekthaften Wahrnehmungsformen führt, wird auch in modernen literarischen Texten Perspektive zu einem zentralen Faktor, der nicht nur zunehmend reflektiert, sondern auch beständig modernisiert wird.10 Beginnend mit der Genieästhetik, die einen emphatischen Selbstausdruck im Sinne einer subjektiv überformten Sprache proklamiert, entsteht eine moderne Innovationsästhetik, bei der Individualität und Neuheit des Stils, der Perspektive, der Erzählweise etc. zum Qualitätskriterium von Literatur werden – eine Bewegung, die in der permanenten Selbstüberbietung der Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts gipfelt und bis heute, wenn auch in abgeschwächter Form, anhält. Dass die literarische Rede seit dem 18. Jahrhundert als „privilegierter Ausdruck des Subjektiven verstanden und kultiviert wurde“11, betont auch Monika Schmitz-Emans und weist darauf hin, dass sich im Zuge der modernen Innovationsästhetik eine Formästhetik der Subjektivität ausbildet, bei der gerade die subjektiv überformte Sprache zum Poetizitätskriterium wird. Es entstehe eine Produktions- und Ausdrucksästhetik der offenen und bewusst gebrochenen Form, bei der sich das Ich in immer neuen „Lücken, Brüchen und Leerstellen des Sprach-Systems lokalisiert“.12 Das literarische Schreiben wird auch in Schmitz-Emans’ Perspektive zu 10
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Zur Rolle der Perspektive um 1800 vgl. Oesterhelt, Anja: Perspektive und Totaleindruck. Höhepunkt und Ende der Multiperspektivität in Christoph Martin Wielands Aristipp und Clemens Brentanos Godwi. München 2010. (Im Erscheinen). Schmitz-Emans, Monika: „Subjekt und Sprache“. In: Dies. / Geyer, Paul (Hg.): Proteus im Spiegel. Kritische Theorie des Subjekts im 20. Jahrhundert. Würzburg 2003, S. 292. Ebd., S. 295.
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einem ausgezeichneten Raum, um innovative, produktive Selbstverhältnisse zu erkunden. In dem Maße, in dem das Subjekt vor allem im 20. Jahrhundert im Zuge psychologischer Einsichten in die Diskontinuität von Bewusstsein und seiner philosophischen Kritik in Frage gestellt wird, konzentriert sich das Interesse zahlreicher Autoren immer mehr auf den Schreibakt als einem konstruktiven Prozess, in dem die (textuelle) Entstehung von Subjektivität beobachtbar wird. Dies führt nicht zuletzt dazu, dass die Bedingungen von Subjektivität und Sprache zunehmend im eigenen Medium untersucht werden. Die hier nur in groben Zügen beschriebenen Entwicklungen rücken die Literatur ins Zentrum moderner Subjektivitätsentwicklungen. Unabhängig davon, ob man, wie Oliver Jahraus, Literatur zum zentralen „Medium der Subjektivität“13 oder umgekehrt, wie Silvio Vietta, Subjektivität zum „zentralen Konstruktionsprinzip der Ästhetischen Moderne“14 erklärt, die beiden Begriffe erweisen sich auch in neueren Literaturtheorien als eng ineinander verschränkt. Um neue Formen des Selbstbezugs zu explorieren, werden in Texten immer wieder neue Formen des subjektiven Ausdrucks geschaffen. Es entsteht das Konzept des starken Dichters, der in Anlehnung an Nietzsche „die Worte benutzt wie noch nie einer vor ihm“. Eine Sichtweise, die auch der amerikanische Philosoph Richard Rorty in seinem Buch Kontingenz, Ironie, Solidarität stark macht, indem er eine Poetik und Heroisierung literarischer Selbsterschaffung proklamiert: „Seinen eigenen Geist zu konstruieren heißt, seine eigene Sprache zu konstruieren, statt sich das Maß des eigenen Geists durch die Sprache, die andere Menschen hinterlassen haben, vorgeben zu lassen.“15 Auch Rorty versteht Kunst nicht als Repräsentation des Lebens, sondern als Freiraum für das Erfinden von neuen Rede- und Denkweisen, die dann in der Lebenswelt übernommen werden können oder auch nicht. Macht man nun zudem geltend, dass besonders seit dem 18. Jahrhundert eine neue Lesekultur entstanden ist, bei der die Selbsterfahrung des Subjekts oft an die Leseerfahrung gebunden wird – „das Subjekt als Selbsterfahrung [ist] Effekt des (Lese)Prozesses, in den es involviert ist“16 –, so wird Literatur nicht nur als ein be13 14 15 16
Jahraus: Literatur als Medium, S. 519. Vgl. Vietta, Silvio: Ästhetik der Moderne. Literatur und Bild. München 2001, S. 37 ff. Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie, Solidarität. Frankfurt am Main 1989, S. 59. Jahraus: Literatur als Medium, S. 521.
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EINLEITUNG
vorzugtes Ausdrucksmedium, sondern auch als herausragendes Rezeptionsmedium von Formen der Subjektivität deutbar. Wie jedoch lassen sich die möglichen Kommunikationsprozesse zwischen der Subjektivität des produzierenden Künstlers, der im Text entworfenen spezifischen ästhetischen Subjektivität und dem Rezipienten genauer fassen? Wie ist das Verhältnis zwischen der Subjektivität des produzierenden Künstlers, der ästhetischen Subjektivität eines Kunstwerks und dem rezipierenden Subjekt zu denken? Um die Kommunikationsprozesse zwischen Autor, Text und Leser in den Blick zu bekommen, wird in dieser Arbeit der Begriff „ästhetische Subjektivität“ verwendet. Unter ästhetischer Subjektivität verstehe ich – in freier Anlehnung an Theodor W. Adorno – zunächst die Vorstellung, dass in der Kunst eine eigene werkimmanente Form von Subjektivität entsteht, die weder mit der Subjektivität des Künstlers noch mit der des Rezipienten in eins gesetzt werden kann. Sie ist wesentlich durch die Strukturen des Kunstwerks vorgegeben.17 Adorno bestimmt in seiner Ästhetischen Theorie, dass im Kunstwerk so etwas wie eine eigene Subjektivität gegenwärtig sein muss, die allerdings nicht im Sinne einer sich im Kunstwerk ausdrückenden Künstlersubjektivität missverstanden werden darf. Ästhetische Subjektivität nach Adorno meint die Subjektivität des Kunstwerks selbst und hat zunächst mit derjenigen des Künstlers genauso wenig zu tun wie mit der des Rezipienten. Kunst, so der Kerngedanke der modernistischen Kunsttheorie und Ästhetik Adornos, ist autonom und unterscheidet sich von der Ware dadurch, dass man sie nicht konsumieren kann. Sowohl in der Kunstproduktion wie auch in ihrer Rezeption überlagern sich nach Adorno passive und aktive Momente des Subjekts. Auf der Produktionsseite sind die passiven Momente beispielsweise der spezifischen Materialität des entste17
Zum Begriff der „ästhetischen Subjektivität“ bei Theodor W. Adorno vgl. Ders.: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1970, etwa S. 33 ff. oder S. 253 ff. Für eine Darstellung weiterer, meist am Rande philosophisch-ästhetischer Theorien auftauchender Vorstellungen von „ästhetischer Subjektivität“ vgl. auch: Menke, Christoph: „Subjekt, Subjektivität“. In: Barck, Karlheinz (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Band 5, Stuttgart 2003, S. 734-787 und Ders.: „Ästhetische Subjektivität. Zu einem Grundbegriff moderner Ästhetik“. In: Graevenitz, Gerhart v. (Hg.): Konzepte der Moderne. Stuttgart 1999, S. 593-611 und Szczepanski, Jens: Subjektivität und Ästhetik. Gegendiskurse zur Metaphysik des Subjekts im ästhetischen Denken bei Schlegel, Nietzsche und de Man. Bielefeld 2007.
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henden Kunstwerks oder auch bestehenden formalen Vorgaben geschuldet, die aktiven Momente betreffen eher Phänomene der konstruktiven Zusammenführung und Reflexion. Auf Rezeptionsseite verhält es sich ähnlich: Während am Anfang zunächst die passiven Momente Vorrang haben, der Betrachter bzw. Leser sich zunächst auf die Eigendynamik des Kunstwerks einlassen muss – Adorno spricht in diesem Zusammenhang vom „Vorrang des Objekts“18 –, so werden vom rezipierenden Subjekt in der Kunst auch aktive Leistungen erfordert, wenn es beispielsweise Sinnzusammenhänge auf das Kunstwerk projiziert. Ästhetische Erfahrung besteht somit sowohl in einer passiven Entäußerung an das Werk wie in ihrer aktiven Reflexion. Sie ist dem Subjekt nicht einfach im Sinne einer rein passiven Affektion gegeben, sondern kann vielmehr durch Übung vervollkommnet werden.19 Adornos Kunstphilosophie ist neueren Kunsttheorien aufgrund ihrer metaphysischen Perspektive auf Versöhnung und der Vorstellung, dass in der Kunst so etwas wie ein Gesamtsubjekt aufscheine, das uns alle gleichmacht, oftmals suspekt. Denn ästhetische Erfahrung verläuft natürlich auch entlang individueller Vorgaben. Je nach persönlichen Vorlieben des Rezipienten, seiner politischen und gesellschaftlichen Orientierung, seinem Alter, seinem Geschmack, seiner Bildung etc., werden Kunstwerke unterschiedlich erfahren und ausgelegt. Das heißt jedoch nicht, dass wir deshalb die Kunst gleich zu unserem Objekt machen. Im Gegenteil, gelungener Kunst korrespondiert in der Regel die Erfahrung, dass sie gerade nicht in unseren Projektionen aufgeht – und genau darin liegt ihre erfahrungsästhetische (Rest-)Autonomie bzw. das, was im Kontext dieser Arbeit als die „ästhetische Subjektivität“ eines Werks bezeichnet wird. Es handelt sich um eine bestimmte Perspektive, die uns ein gelungenes Kunstwerk, d.h. hier ein literarischer Text, bis zu einem gewissen Grad einzunehmen zwingt. Will der Leser einen Zugang zu den erprobten Subjektpositionen in den Texten von Pessoa, Beckett und Mayröcker gewinnen, so muss er sich auf ihre entgrenzenden Bewegungen einlassen, er muss die in den Texten entstehende Subjektivität lesend Wort für Wort nach- und mitvollziehen und sich ihr in einer aktiven Überschreitung seiner eigenen Subjektivität öffnen. Dabei führen die Texte den Rezi18 19
Adorno: Ästhetische Theorie, S. 111. Zur ästhetischen Erfahrung bei Adorno vgl. auch Szczepanski: Subjektivität und Ästhetik, S. 37 f.
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EINLEITUNG
pienten bei der Interpretation in der Regel immer wieder auf sich und die Aktivität seiner eigenen Bedeutungsproduktion zurück und machen dadurch den Prozess der Entstehung ihrer spezifischen ästhetischen Subjektivität bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Auf der Seite der Produktion soll mit dem Begriff der ästhetischen Subjektivität vor allem die relative Freiheit des ästhetischen Selbstbezugs betont werden, die Karl Heinz Bohrer in seiner Studie Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität (im Anschluss an Adorno) hervorgehoben hat. Bohrer zeigt, wie sich seit dem 18. Jahrhundert vor allem in der Romantik eine spezifisch literarische ästhetische Subjektivität ausgebildet hat, die mit anderen empirischen Formen der Subjektivität nicht verglichen werden kann und sich vielmehr gerade in Abstoßung von sozialen und philosophischen Einschränkungen ausbildet: „Das ästhetische Subjekt entsteht im Akt der Imagination und vergißt dabei die autobiographisch-historischen Bedingungen. Es transzendiert die Ich-Identität nach den immanenten Gesetzen des literarischen Textes.“20 Wie Bohrer macht auch Laurent Mattiussi geltend, dass (moderner) Literatur generell ein besonderes Potenzial bei der Prozessierung von neuen Subjektivitätsformen zukommt. Auch er betont, dass Literatur dem Subjekt eine ausgezeichnete Möglichkeit bietet, sich jenseits von praktischen oder sozialen Einschränkungen als ein ästhetisches zu entwerfen und zu transzendieren: „Quand la vie réelle oppose à l’individu écrivant ses multiples resistances, l’espace de l’écriture lui ouvre le champ du possible et lui permet de se projeter en des figures transcendantes de lui-même. L’univers de la fiction se substitue alors à la réalité ordinaire et devient le milieu nouveau où se déploie l’énergie créatrice de l’ipséité.“21
So frei dieses „univers de la fiction“ jedoch zunächst erscheint, der imaginäre Selbstbezug ist immer auf eine mediale Exteriorisierung angewiesen. Die sich konstituierende Subjektivität ist auch ein Effekt einer medialen Apparatur, die zwar Spielräume einer individuellen Selbstgestaltung zulässt, sich jedoch nicht – wie Bohrers Rede von der „Opposition zwischen ästhetischer und sozialer Mo20 21
Bohrer, Karl Heinz: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. München 1987, S. 267 f. Mattiussi, Laurent: Fictions de l'ipséité. Essai sur l'invention narrative de soi (Beckett, Hesse, Kafka, Musil, Proust, Woolf). Genf 2002, S. 13.
ÄSTHETISCHE SUBJEKTIVITÄT ALS SCHREIBENDER SELBSTBEZUG
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derne“22 und der „Verschlossenheit der ästhetischen Subjektivität“23 suggeriert – jenseits von subjektformierenden Dispositiven denken lässt. Die sich im Medium der Schrift konstituierende ästhetische Subjektivität entsteht im Wechselspiel zwischen der subjektformierenden Macht des Mediendispositivs und den Spielräumen für dessen individuelle Aneignung. Ästhetische Subjektivität behauptet somit nur einen relativen Freiraum, der immer auch den Einschränkungen des Dispositivs „Schrift“ und besonders den jeweiligen Gattungen, in denen die Texte entstehen, unterliegt – ein Freiraum, den sie demungeachtet kontinuierlich neu auszuloten versucht. Was aber verstehen wir konkret unter der ästhetischen bzw. literarischen Subjektivität eines Textes?24 Wie und an welchen Merkmalen wird sie ablesbar? Gibt es allgemeine distinkte Kriterien, um die Subjektivität eines Textes zu bestimmen? Da Subjektivität in Texten maßgeblich sprachlich hergestellt wird, muss die spezifisch ästhetische Subjektivität eines Textes seiner sprachlich-textuellen Struktur selbst abzulesen sein. Die Subjektivität eines Textes lässt sich in der spezifischen Verwendung von Perspektive, Stil, Rhythmus und Stimme, am Grad der textuellen Selbstreflexivität und nicht zuletzt auch der narrativen Struktur eines Textes erkennen. Welche Merkmale dabei in welcher Form und in welcher Kombination zur Geltung kommen, ist jedoch jedem Text selbst überlassen. Da die Ich-Vervielfältigungen in den Texten der hier gewählten Autor/innen Pessoa, Beckett und Mayröcker nicht nur in unterschiedlichen Gattungen erfolgen – bei Pessoa in Form von Lyrik, Beckett schreibt Prosa und Dramatik, Mayröcker vorrangig Prosatexte (sie schreibt auch Gedichte, die aber im Rahmen der Arbeit nicht behandelt werden) –, sondern auch aus unterschiedlichen Fragestellungen heraus entwickelt werden und jeweils distinkte Eigenlogiken entfalten, war es nicht möglich, ein übergreifendes einheitliches Analyseraster hinsichtlich der oben genannten Parameter (Perspektive, Stil, Rhythmus, Stimme, Selbstreflexivität, Narrativität etc.) anzuwenden. Stattdessen versuche ich, die jeweiligen Besonderheiten der Schreibverfahren und Poetiken herauszuarbeiten und dadurch die jeweilige besondere Form multipler ästhetischer 22 23 24
Bohrer: Der romantische Brief, S. 8. Ebd., S. 12. Ich verwende die Begriffe weitgehend synonym: Ästhetische Subjektivität bezieht sich auf verschiedene Formen der Kunst, literarische Subjektivität auf die ästhetische Subjektivität in einem literarischen Text.
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EINLEITUNG
Subjektivität zu greifen zu bekommen. Im Kapitel zu Pessoa steht die Analyse von Pessoas Schreibpraktiken im Vordergrund, die es ermöglicht, das Spiel der Heteronymie neu zu deuten. Bei Beckett zeichne ich die Schreibentwicklungen nach, aus denen heraus sich die in seinen späten hermetischen Texten aufscheinenden Zusammenhänge von Subjektivität und Imagination erst erschließen lassen. In dem Kapitel zu Mayröcker analysiere ich sowohl ordnungsstiftende als auch ordnungsauflösende Verfahren, um aus diesen gegenläufigen Textdynamiken heraus das entstehende Subjekt zu erfassen. Die Vorstellung einer ästhetischen Subjektivität, die im medialen Selbstbezug des Schreibens erst entsteht, steht autobiographischen Lesarten, die davon ausgehen, dass sich das Subjekt im Schreibakt reproduziert, diametral entgegen. Das Erproben neuer ästhetischer Subjektivitätsformen kann jedoch – nur weil es zunächst im Freiraum der Literatur geschieht – nicht als unabhängig oder gar abgekoppelt von der empirischen Realität aufgefasst werden. Die Tatsache, dass hier ein neuer Raum des Selbstbezugs entsteht, heißt weder, dass keine realen Bezüge in das Schreiben einfließen, noch, dass das Schreiben keine Rückwirkungen auf die lebensweltliche Selbstkonstitution des schreibenden Subjekts hätte. Im Gegenteil: Schreiben wird gerade in der Moderne für viele Autoren zu einer existenziellen Selbstpraxis, mit der das Ich sich nicht nur ausdrückt, sondern auch selbst erschafft und die Freiräume seiner Selbstkonstitution reflexiv und spielerisch auslotet. Der Begriff der ästhetischen Subjektivität – so wie er hier verwendet wird – grenzt ästhetischen Selbstbezug zwar von anderen Formen eines außerästhetischen (praktischen, ethischen, kognitiven, moralischen etc.) Selbstbezugs ab, lässt sich jedoch nie ganz von diesen lösen. Ästhetische Subjektivität lotet, wenn man so möchte, immer konstitutiv die inhärenten Spannungen zwischen den beiden Polen der externen Referenz und der immanenten Konstruktion, zwischen Widerspiegelung und Neuerschaffung aus. Um diese inhärente Spannung zu markieren, verwende ich zur Charakterisierung der Ich-Erzähler bei Pessoa, Beckett und Mayröcker den Terminus schreibendes Ich.25 Er entstammt dem gleichnamigen Essay von Ingeborg Bachmann, 25
Pessoas Spiel der Heteronymie erfordert, wie ich zeigen werde, eine strikt auf die Heteronyme bezogene Lesart. Der Begriff des schreibenden Ich lässt sich nur für das Livro do desassossego geltend machen. Vgl. die Ausführungen auf S. 58 dieser Arbeit.
ÄSTHETISCHE SUBJEKTIVITÄT ALS SCHREIBENDER SELBSTBEZUG
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in dem sie in Auseinandersetzung mit Beckett den problematischen Status „vom Ich [...], von seinem Aufenthalt in der Dichtung, also von den Angelegenheiten des Menschen in der Dichtung“26 reflektiert. Bachmann spricht von diesem Ich als einem „Ich ohne Gewähr“, „der Hypostasierung einer reinen Form“, die „zu dechiffrieren mehr Mühe macht als die geheimste Order“.27 Die Bezeichnung ‚schreibendes Ich‘ erfolgt aus mehreren Gründen: Zum einen hebt sie die zentrale Bedeutung des Schreibens im Gegensatz zum Erzählen hervor. Begriffe wie ‚Erzählfigur‘ respektive ‚Erzählinstanz‘, die zur Kennzeichnung der Fiktionalität des schreibenden Ich verwendet werden könnten, haben den Nachteil, dass sie nicht berücksichtigen, dass in den Texten von Beckett und Mayröcker explizit nicht erzählt werden soll. Wichtiger jedoch ist, dass Bachmanns Bezeichnung ‚schreibendes Ich‘ sowohl auf den Autor als auch auf das Schreiben der zentralen Figur verweist, ohne sich für eine eindeutige Bestimmung zu entscheiden. Dadurch ermöglicht sie es, an einer Differenz zwischen Lebens- und Schreibwelt festzuhalten und diese zu benennen, ohne sie eindeutig zu fixieren. Zusätzlich betont die Rede vom schreibenden Ich im Gegensatz zu dem Begriff Erzählfigur die Ich-Perspektive, in die der Leser hineingezogen wird. Durch das Partizip schreibend, im Gegensatz zum Schreib-Ich, soll nicht zuletzt die Prozessualität des Schreibens und der Entstehung von Subjektivität markiert werden. Pessoa hat eine bis heute literarisch einmalige Vervielfältigungsstrategie entwickelt, indem er die Autorschaft seiner Texte sogenannten Heteronymen übertragen hat, die im Gegensatz zu Pseudonymen als ‚reale‘ Dichter zu betrachten sind. Diese Heteronyme bieten ihm die Möglichkeit, die moderne Grunderfahrung eines unauflöslichen Nebeneinanders von verschiedenen Weltanschauungen ästhetisch zu reflektieren. Pessoa schreibt seinen Heteronymen klar definierte ästhetische Positionen zu, erlegt ihnen bestimmte Wahrnehmungsvorgaben auf und findet so einen Weg, sich andere Formen von Subjektivität nicht nur theoretisch vorzustellen, sondern sie, ihrer je eigenen inneren Struktur folgend, simulierend zu erfahren. Im Gegensatz zu den literarischen Verfahrensweisen von Beckett und Mayröcker, die beide ihren Blick auf innere Bewusstseinsprozesse lenken, lässt sich Pessoas Verfahren daher als 26 27
Bachmann, Ingeborg: „Das schreibende Ich“. In: Dies.: Frankfurter Vorlesungen. München 1980, S. 41. Ebd., S. 42.
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EINLEITUNG
eine grundsätzlich nach außen gerichtete Bewegung begreifen. Ich deute die Heteronymie als eine an das Pastiche angelehnte Schreibweise der Simulation, mit der Pessoa versucht, durch bestimmte klar definierte Wahrnehmungsvorgaben unterschiedliche Sichtweisen zu explorieren. Im Gegensatz zur bisherigen Pessoaforschung, die weitgehend beim Konstatieren des Widerspruchs zwischen der Lyrik der Heteronyme und dem vom Semiheteronym Bernardo Soares verfassten Livro do desassossego stehen bleibt, arbeite ich in der Analyse die intrinsischen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Schreibpraktiken der Heteronymie und des Livros heraus. Die zentrale These ist, dass Pessoa im Livro sich die Schreiberfahrungen der verschiedenen Simulationen nochmals vergegenwärtigt und versucht, sie in eine neue Form von multipler Subjektivität zu überführen. Das Spiel der Heteronymie, dessen Ziel es ist, „alles auf alle Weisen zu fühlen“, kommt, so die These der Interpretation, erst im Livro zu seiner vollständigen Entfaltung. Im Gegensatz zu Pessoa, der – vom Rausch der Avantgarden infiziert – eine ‚Kunst der vierten Dimension‘ entwickeln will und die Moderne emphatisch begrüßt, erweist sich die Moderne für den zwei Dekaden später geborenen Beckett als ambivalent. Becketts Medium ist der Roman, den Proust und Joyce bereits bis an seine Grenzen geführt haben. Ausgehend von den Brüchigkeiten narrativer Identitätskonstruktion in Prousts À la recherche du temps perdu sucht Beckett verbleibende Erzählmöglichkeiten systematisch zu reflektieren. Beckett wendet in seinen Texten seinen Blick nach Innen und beobachtet und analysiert Bewusstseinsprozesse. Dies führt zu inneren Ich-Aufspaltungen. Die Einsicht, dass jede eingenommene Sprecherposition nur eine von vielen Möglichkeiten der Selbstkonstitution ist, setzt in seiner Trilogie ein Spiel von Erzählerkaskaden in Gang, deren zeitliche Abfolge Beckett in seinen Theaterstücken in eine simultane Vielstimmigkeit überführt. Die von Beckett kontinuierlich vorangetriebene Selbstbeobachtung der dichterischen Imagination wird von der Trilogie (Molloy, Malone meurt, L’Innommable) über den Medienwechsel zum Theater bis hin zum späten Prosatext Company nachgezeichnet, wobei die Deutung des Spätwerks aus dem Gesamtwerk entwickelt wird. Die von Beckett kontinuierlich vorangetriebene Selbstbeobachtung beim Erzählen legt die Konstituenten von Literatur und Subjektivität frei und lässt eine innere Vielstimmigkeit des Subjekts im Zustand vor seiner (narrativen) Selbstkonstitution erkennbar werden. Die zen-
ÄSTHETISCHE SUBJEKTIVITÄT ALS SCHREIBENDER SELBSTBEZUG
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trale These dieses Kapitels ist, dass in Becketts Texten eine Form von Literatur entsteht, die – indem sie ihre eigene Erzeugung bzw. den Akt der Imagination zu ihrem Thema macht – den genuinen Zusammenhang zwischen Imagination und Subjektkonstitution freilegt. Statt zu einem inneren Kern vorzudringen, lässt die permanent vorangetriebene Selbstreflexion einen Bewusstseinsraum sichtbar werden, der verschiedene Teilaspekte des Ich im Zustand vor ihrer Synthetisierung zeigt. Anders als Beckett weigert sich Mayröcker von Anfang an zu erzählen und sucht durch Formbrüche und Sprachexperimente ein Selbstverhältnis zu schaffen, das von den gängigen ‚Regeln‘ der Subjektentstehung befreit ist. Während Beckett vor allem die Zusammenhänge von Erinnerung, Imagination und Selbstkonstitution des Ich erkundet und sich dabei von der Außenwelt weitgehend abschließt, befindet sich das schreibende Ich in Mayröckers Texten in einem fortwährenden Dialog mit anderen. In ihren Texten werden die Grenzen zwischen den Subjekten aufgelöst, innere und äußere Stimmen sind nicht mehr zu unterscheiden. Das dabei entstehende multiple Subjekt ist ein vielstimmiges, sich permanent verwandelndes, entgrenztes und dezentriertes Subjekt, eine ‚vernetzte Identität‘, die versucht, ihre fehlende Selbstgewissheit in eine ‚Lust am Taumel‘ zwischen den Diskursen umzumünzen. Die grundlegende Bewegung von Mayröckers Texten wird als raumübergreifende Ich-Aufsplitterung bezeichnet, welche die Grenzen zwischen Innen und Außen auflöst. Die zentrale These zu Mayröcker ist, dass es ihr in ihren Texten gelingt, im Durchgang durch Plagiat und Zitat, d.h. unter bewusster Aufnahme anderer ‚Lebenstexte‘ und in mimetischer Angleichung an diese „Fremdmaterialien“ wiederum eine neue, ganz eigene Form von multipler ästhetischer Subjektivität herzustellen, die wesentlich durch ihre dialogische Verfasstheit bestimmt ist. Pessoa, Beckett und Mayröcker reflektieren die Auflösung von Subjektivität und den Verlust von Identität zwar auch, sie versuchen jedoch nicht, die Risse des modernen Subjekts durch vordergründige identitätsstiftende Erzählungen zu kitten, sondern begeben sich in die Auflösungsprozesse hinein, um sie von innen zu ergründen. Sie spüren das Potenzial der Krise auf und suchen neue Möglichkeiten, den Scherbenhaufen, den das erschütterte Subjekt hinterlassen hat, zu neuen Mosaiken zusammenzulegen.
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EINLEITUNG
Notiz zur Zitierweise Da Pessoa sowohl auf Portugiesisch als auch auf Englisch, Beckett sowohl auf Englisch als auch auf Französisch geschrieben hat, zitiere ich die Primärtexte grundsätzlich in der Sprache, in der sie zuerst verfasst wurden. Zitate werden ab dem relevanten Wort übernommen, alle Zitatbelege zu Pessoa, Beckett und Mayröcker erfolgen im Fließtext unter Verwendung von Siglen, die im Literaturverzeichnis aufgeschlüsselt sind. Aufgrund der Eigenheiten der Editionsgeschichte von Pessoas Werk ist man bei ihm auf ein eklektisches Ensemble von Primärtexten mit heterogenen Editionskriterien und unterschiedlichen orthographischen Normen angewiesen. Da es ein höchst zweifelhaftes Unterfangen wäre, diese zu homogenisieren, folge ich strikt den jeweiligen Quellentexten. Zum besseren Verständnis der Arbeit für Leser, die nicht des Portugiesischen mächtig sind, werden portugiesische Zitate in den Fußnoten übersetzt. Ich folge dabei, sofern vorhanden, existierenden Übersetzungen, die ebenfalls in Siglen angegeben werden. Eigene Übersetzungen werden durch ‚J.W.‘ markiert.
I. „Sê plural como o universo“ – Fernando Pessoas Spiel der Heteronymie „Le style, chez un grand écrivain, c’est toujours aussi un style de vie, non pas du tout quelque chose de personnel, mais l’invention d’une possibilité de vie, d’un mode d’existence.“ Gilles Deleuze
Fernando Pessoas Selbstaufspaltung in verschiedene Heteronyme stellt eine bis heute einmalige literarische Vervielfältigungsstrategie dar. Unter Heteronymen verstand er – im Gegensatz zu Pseudonymen – eigenständige Persönlichkeiten, die in seinem Inneren jeweils ein unabhängiges Leben als Dichter führten. Pessoa gab seinen bekanntesten Heteronymen ‚Ricardo Reis‘, ‚Alberto Caeiro‘ und ‚Álvaro de Campos‘ nicht nur eigenständige Biographien, erstellte ihnen Horoskope und stattete sie mit einer jeweils eigenen philosophischen Weltsicht und einem eigenen literarischen Stil aus, er ließ sie auch ‚selbstständig‘ ihre Werke veröffentlichen, miteinander kommunizieren und sich gegenseitig kritisieren. Auch wenn über den ‚Fall‘ Fernando Pessoa inzwischen viel geschrieben wurde und die ‚Werke‘ der einzelnen Heteronyme Gegenstand zahlreicher Untersuchungen geworden sind,1 die literarischen und performativen Implikationen seiner Heteronymie sind noch immer nicht eingehend erforscht.2 Der französische Philosoph Alain Badiou behauptet in seinem 2000 erschienenen Aufsatz
1
2
Einen umfassenden Überblick über die Forschungsliteratur zu Pessoa gibt die kommentierte Bibliographie von José Blanco: Pessoana. Bibliografia Passiva, Selectiva e Temática e Índices. Lissabon 2008, 2 Bände. Vgl. Cornelia Klettke, die in ihrer Habilitationsschrift Simulakrum Schrift. Untersuchungen zu einer Ästhetik der Simulation bei Valéry, Pessoa, Borges, Klossowski, Tabucchi, Del Giudice und De Carlo (München 2001) ebenfalls die mangelnde Aufarbeitung Pessoas konstatiert (S. 143). Interessante Sichtweisen auf Pessoa kamen in den letzten Jahren vermehrt aus Frankreich, vgl. Arbaizar, Philippe: Fernando Pessoa – Poète pluriel. Paris 1985; Seixo, MariaAlzira (Hg.): Pessoa – Unité, Diversité, Obliquité. Paris 2000; Balso, Judith: Pessoa, le passeur métaphysique. Paris 2005; Ragunuet, Sandra: Fernando Pessoa: Devenir et Dissémination. Paris 2005 und Dos Santos Jorge, Manuel: Fernando Pessoa – Etre Pluriel. Les Hétéronymes. Paris 2005.
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I. „SÊ PLURAL COMO O UNIVERSO“
„Une tâche philosophique: être contemporain de Pessoa“3 sogar, dass die zeitgenössische Philosophie allgemein noch nicht ‚auf der Höhe‘ von Pessoas Denken angelangt sei: „Pessoa représente pour la philosophie un défi singulier, sa modernité est encore en avant de nous, et à certains égards inexplorée.“4 Badiou argumentiert, dass keine der Denkfiguren der zeitgenössischen Philosophie in der Lage ist, der durch die Heteronymie erzeugten intrinsischen Spannung in Pessoas Werk standzuhalten, wobei er diese besondere Spannung als ein neues „dispositif de pensée“5 bezeichnet. Ausgehend von der These, dass die verschiedenen Tendenzen postmoderner Philosophie allesamt in dem von Nietzsche formulierten Bestreben „de nous guérir de la maladie Platon“6 konvergieren, konstatiert Badiou, dass die postmoderne Philosophie paradoxerweise gerade in ihrer Ablehnung des Platonismus diesem meist weiterhin negativ verhaftet bliebe. Das Besondere an Pessoa dagegen sei, dass in seinem Werk eine spezielle Form des Widerspruchs entstehe, bei der sowohl identitätslogische als auch differenztheoretische Denkfiguren miteinander in Verbindung gebracht würden: „On peut dire qu’il y a ainsi, tout à fait à l’opposé de l’usage strictement dialectique de la négation chez Mallarmé, une négation flottante, destinée à imprégner le poème d’une constante équivoque entre l’affirmation et la négation, ou plutôt d’une espèce très reconnaissable de réticence affirmative, qui autorise finalement que les plus éclatantes manifestations de la puissance de l’être soient corrodées par les plus insistantes rétractions du sujet. Pessoa produit ainsi une subversion poétique du principe de non-contradiction.“7
Indem Pessoa jede Form von eindeutiger Zuordnung permanent unterlaufe, scheine in seinem Werk eine Alternative des Denkens auf, die auch für die Philosophie fruchtbar gemacht werden müsse: „[S]a pensée-poème ouvre une voie qui parvient à n’être ni platonicienne, ni anti-platonicienne. Pessoa définit poétiquement, sans que la philosophie en ait à ce jour pris la mesure, un lieu de pensée pro-
3 4 5 6 7
Badiou, Alain: „Une tâche philosophique: être contemporain de Pessoa“. In: Seixo, Maria-Alzira (Hg.): Pessoa, S. 141-156. Ebd., S. 144. Ebd., S. 152. Ebd., S. 142. Ebd., S. 146.
FERNANDO PESSOAS SPIEL DER HETERONYMIE
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prement soustrait au mot d’ordre unamine du renversement du platonisme.“8
Ich möchte im Folgenden Badious These, in Pessoas Werk etabliere sich ein neues ‚Dispositiv des Denkens‘, beim Wort nehmen und versuchen, dieses Dispositiv in Bezug auf die Architektur des Pessoaschen Werks genauer zu fassen. Im Gegensatz zu Badiou, der sich in seiner Argumentation nicht auf die Gedichte der Heteronyme selbst einlässt, möchte ich die Inszenierungsverfahren der Heteronymie und die literarischen Texte, mit besonderer Rücksicht auf die ihnen zugrundeliegenden Schreibpraktiken, genauer in den Blick nehmen. Ich werde argumentieren, dass in Pessoas Werk eine auf mehreren Ebenen wiederkehrende intrinsische Spannung zwischen Ordnungsbestrebungen und gegenläufigen Entgrenzungsbewegungen entsteht, deren diametrale Tendenzen zu keinem Zeitpunkt eingeebnet werden können. Unter Einbeziehung von Pessoas frühen theoretischen Überlegungen zum Sensacionismo, die bisher nur am Rande auf die Entwicklung der Heteronymie bezogen wurden, schlage ich eine neue Deutung der Heteronymie vor, die diese maßgeblich unter dem Aspekt der im Namen der Heteronyme auferlegten Wahrnehmungsbeschränkungen als unterschiedliche Schreibpraktiken begreift. Im Anschluss an Foucault, der in seinen Schriften wiederholt die Wirkungsmächtigkeit von unterschiedlichen Lebenspraktiken auf die Subjektkonstitution hervorgehoben hat,9 soll gezeigt werden, auf welche Weise die unterschiedlichen Schreibpraktiken bei Pessoa zu vielgestaltigen Realitätsund Selbsterfahrungen führen. Diese mannigfachen (Schreib-) Erfahrungen, so die zentrale These, versucht Pessoa mit Hilfe eines weiteren Schreibprojektes, dem Livro do desassossego, nochmals zu reflektieren und auf eine höhere Ebene einer sowohl erfahrenen als auch reflektierten Ich-Auflösung zu überführen. Der Livro do desassossego wird auf diese Weise als eine dem Schreiben der Heteronyme nicht entgegengesetzte, sondern mit ihnen korrespondierende und sie zu integrieren versuchende weitere Schreibpraxis lesbar, in der das im Namen der Heteronymie begonnene Projekt
8 9
Ebd., S. 144 f. Vgl. v. a. Foucault, Michel: L’Usage des plaisirs – Histoire de la sexualité II. Paris 1984; Ders.: Le souci de soi – Histoire de la sexualité III. Paris 1984; Ders.: L’écriture de soi; Ders.: L’Herméneutique du sujet: Cours au Collège de France (1981-1982). Paris 2001.
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I. „SÊ PLURAL COMO O UNIVERSO“
der Ich-Vervielfältigung fortgeführt wird und zu seiner vollständigen Entfaltung gelangt. Pessoa beginnt um 1914 im Namen seiner Heteronyme zu schreiben. Seine Selbstmultiplizierung in verschiedene klar definierte ästhetische Positionen zielt anfangs darauf, verschiedene Sichtweisen zu fixieren und gegenüberzustellen und kann deshalb im Anschluss an Jörg Dünne zunächst als „disziplinierende Maßnahme zur Kontrolle von Differenz“10 charakterisiert werden. Das Schreiben im Zeichen der Heteronyme, das sich durch Einschränkungen hinsichtlich des Stils, durch biographische Vorgaben wie auch durch auferlegte Wahrnehmungsbeschränkungen auszeichnet, führt dabei zu unterschiedlichen Formen ästhetischer Subjektivität. Als ‚verkörperte Denkweisen‘ mit eigenen Biographien entwickelt das Spiel der Heteronymie jedoch schon bald eine Eigendynamik, die sich Pessoas Kontrolle zunehmend entzieht. Die von ihm in seiner Heteronymie zunächst intendierte Ordnung löst sich immer mehr auf. Dieser fortschreitenden Entgrenzung versucht Pessoa in seinem parallel zur Heteronymie geführten Livro do desassossego zu begegnen. Als offene, alle Denk- und Wahrnehmungsformen integrierende Schreibpraxis bietet der Livro die Möglichkeit, die Erfahrungen im Namen der Heteronyme auf einer Metaebene nochmals zu reflektieren und zu integrieren. In der Forschung zu Pessoa wird häufig versucht, durch Stilanalysen der Gedichte der einzelnen Heteronyme ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten nachzuweisen, um dann entweder für oder gegen ihre Kohärenz zu argumentieren. Eduardo Lourenço zufolge kann man dabei zwischen drei allgemeinen Tendenzen unterscheiden: Die erste Lesart betont ‚l’apparence multiple de son œuvre, sans synthèse possible“, die zweite argumentiert genau entgegengesetzt für einen „pôle hégémonique autour d’un Pessoa central“, und die dritte Lesart versucht beide Positionen zu verbinden: „le troisième, en général le plus divulgué, tente de concilier la poétique unitaire et la poétique de la multiplicité sous le signe de la différence“.11 Die folgende Interpretation wird diesem Weg nicht 10
11
Dünne, Jörg: „Vermessung der Distanz zu sich selbst und zu den Dingen – Selbstpraxis und Sensationismus bei Fernando Pessoa“. In: Moog-Grünewald, Maria (Hg.): Autobiographisches Schreiben und philosophische Selbstsorge. Heidelberg 2004, S. 179. Lourenço, Eduardo: Fernando Pessoa, Roi de notre bavière, Paris 1988, S. 99 f. Für einen ausführlichen Forschungsbericht, der sich auf dieses Modell bezieht, vgl. Steinmetz, Martin: Fernando Pessoa und Gottfried Benn. Eine vergleichende
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folgen. Anstatt zu entscheiden, ob Pessoa die Ich-Aufspaltung tatsächlich gelingt, möchte ich einen Schritt zurückgehen und den Fokus auf die Schreibpraktiken richten, mit denen Pessoa versucht, ein multiples Subjekt zu werden. Nach einer kurzen Vorstellung des ‚unbezähmbaren‘ Textkorpus Pessoas und seiner verschiedenen ‚Autoren‘ soll zunächst die Entstehung der Heteronymie unter Einbeziehung von Pessoas ästhetischen Überlegungen zum Sensacionismo betrachtet werden. Den kunsttheoretischen Bestimmungen Pessoas wird ein Kapitel zur um die Jahrhundertwende neu aufkommenden Schreibpraktik des Pastiches gegenübergestellt, das die Erfindung der Heteronymie im Licht der psychopathologischen Diskurse der Zeit verortet. Im Anschluss daran sollen die ‚literarischen Werke‘ der Heteronyme in den Mittelpunkt rücken, die, wie gezeigt wird, zum Teil eine Eigendynamik entwickeln, die sich mit Pessoas ursprünglichen Plänen kaum noch in Einklang bringen lässt und deren Entgrenzungen er auch mit seinem Projekt der Ficções do Interlúdio retrospektiv noch einmal entgegenzuwirken versucht. Abschließend wird dem Spiel der Heteronymie der Livro do desassossego des Semi-Heteronyms Bernardo Soares gegenübergestellt – eine literarische Praxis, die ich in Anlehnung an Foucault als eine Form der ‚écriture de soi‘12 deute, mit der Pessoa/Soares versucht, die in der Heteronymie erfahrenen singulären Ich-Entgrenzungen in einer Praxis des ‚schreibenden Träumens‘ in ihrer vollständigen Multiplizität zu erfahren.
1. Der Text als Galaxie – Herausforderungen für die Rezeption Nach Pessoas Tod im Jahre 1935 hat man in seinem Arbeitszimmer mehrere Truhen gefunden, in denen sich über 27.500 völlig ungeordnete Textfragmente fanden: ein heilloses Durcheinander von zum Großteil un- oder nur sehr schwer leserlichen, meist undatierten Zetteln, Notizbüchern, Rechnungen, vollgekritzelt mit ästhetischen, philosophischen, soziologischen, esoterischen und politischen Überlegungen, handlungsarmen Dramen- und Prosafragmenten, autobiographischen Selbstzeugnissen, Arbeitsplänen
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Studie zur Identitätsproblematik in der Dichtung des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1995, S. 78-90. Foucault, Michel: „L’écriture de soi“. In: Ders.: Dits et Écrits IV, 1980-1988. Paris 1994, S. 415-430.
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I. „SÊ PLURAL COMO O UNIVERSO“
et cetera. Nur knapp 5000 dieser Manuskripte, also nicht einmal ein Fünftel, wurden bisher in verschiedenen Editionsprojekten veröffentlicht. Der Rest wartet noch immer in der Lissaboner Nationalbibliothek auf seine Aufarbeitung.13 Man darf Pessoa angesichts dieses Textvolumens getrost einen ‚schreibbesessenen‘ Autor nennen und ihn in guter Gesellschaft mit anderen ‚infiniten‘ Autoren der Moderne sehen.14 Im Unterschied zu deren Werken scheint José Augusto Seabras Vorschlag sinnvoll, in Bezug auf Pessoas Textkorpus von einer „Galaxie“15 zu sprechen: Schließlich sind die einzelnen Werke bei Pessoa nicht wie in einem Sonnensystem, so groß es auch sei, auf eine Sonne (respektive einen Autor) rückzubeziehen, sondern stammen aus der Feder von verschiedenen Autoren (Heteronymen), um die sich die einzelnen Werke wie um eigene Sonnensysteme anordnen. Die Metapher der Galaxie eignet sich, um die Mehrdimensionalität des Werks zunächst bildlich einzuholen. Da unendlich viele Sonnensysteme einer gemeinsamen Galaxie angehören können, ist es uns nicht möglich, beide Dimensionen gleichzeitig in den Blick zu nehmen: Betrachtet man die Galaxie als Ganzes, verschwimmen die einzelnen Sonnensysteme, nimmt man ein einzelnes Sonnensystem in den Blick, ist es unmöglich, gleichzeitig die Galaxie als solche zu überschauen: „Bei Fernando Pessoa ist man vor die Wahl von zwei gleichsam unangenehmen Dingen gestellt. Soll man seine Heteronymie vom Einzelnen ausgehend darstellen, um auf die Gesamtheit zu schließen? Oder wäre der umgekehrte Weg besser? Wie lässt sich bei Fernando Pessoa Plural und Singular zusammenführen?“16
Die Schwierigkeiten beginnen schon bei der Edition seiner Schriften, die nach zwei grundsätzlich verschiedenen Anordnungslogiken erfolgen kann: Entweder man ordnet die Texte als distinkte ‚Werke‘ den verschiedenen Heteronymen zu, oder aber man gibt sie in 13
14 15 16
Bis heute, mehr als siebzig Jahre nach Pessoas Tod, existiert noch keine Gesamtausgabe seines Werks. Zu der verworrenen Editionsgeschichte Pessoas siehe Sadlier, Darlene J.: An Introduction to Fernando Pessoa: Modernism and the Paradoxes of Authorship. Gainesville 1998, S. 118 ff. Zum Begriff des infiniten Schreibens in der Moderne vgl. Ziganke, Jana: Infinite Schreibstrategien bei Sade, Flaubert und Beckett. Bielefeld 1999, S. 9 f. Vgl. Seabra, José Augusto: Fernando Pessoa ou le Poétodrame. Paris 1988, S. 102. Dix, Steffen: Heteronymie und Neopaganismus bei Fernando Pessoa. Würzburg 2005, S. 50.
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der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung durch Pessoa heraus. Bei Pessoa selbst finden sich diesbezüglich entgegengesetzte Meinungen. So plädiert er an vielen Stellen dafür, sein Werk in einzelnen Bänden unter den Namen der jeweiligen Heteronyme zu veröffentlichen; an anderen befindet er, dass es doch besser sei, einen Band mit dem Titel Ficções do Interlúdio („Fiktionen des Zwischenspiels“) herauszugeben, in dem die Texte und Debatten der verschiedenen Heteronyme gemeinsam unter seinem Namen veröffentlicht würden: „Não sei se alguma vez lhe disse que os heterónimos (segundo a última intenção que formei a respeito deles) devem ser por mim publicados sob o meu próprio nome (já é tarde, e portanto absurdo, para o disfarce absoluto). Formarão uma série intitulada Ficções do Interlúdio, ou outra cousa qualquer que de melhor me occora.“17 (EI 202)
Die Tatsache, dass eine eindeutige Haltung Pessoas nicht auszumachen ist, hat zu unterschiedlichen Anordnungsstrategien in den verschiedenen Pessoa-Editionen geführt. Die staatlich subventionierte Gesamtausgabe der „Casa da Moeda“ ordnet die Texte chronologisch nach ihrer Entstehung, ohne dabei die Heteronyme als Autoren zu kennzeichnen. Das Gegenprojekt erfolgt im Verlag Assírio & Alvim, der die Werke weiterhin in den jeweiligen Heteronymen zugeordneten Bänden herausgibt.18 Es ist wichtig, sich die grundlegenden Unterschiede zwischen den Ausgaben hinsichtlich der mit ihnen implizit verbundenen Interpretationsvorgaben für das Werk vor Augen zu halten: Die Entscheidung, die Gedichte und ästhetischen Debatten der Heteronyme zusammenzustellen und in einem Band unter dem Titel Ficções do Interlúdio herauszugeben, provoziert eine stärker auf Dialogizität und Intertextualität bezogene Lesart. Die dramatischen Interaktionen zwischen den einzelnen Heteronymen werden auf diese Weise stärker betont. Auch die chronologische Anordnung macht die intertextuellen Bezüge zwischen den Heteronymen nachvollziehbar und betont zugleich die Stellung der Texte innerhalb des Gesamtwerks. Sie sieht sich angesichts der vielen undatierten Fragmente jedoch editorischen Schwierigkeiten 17
18
„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen schon gesagt habe, dass ich mich nun doch entschieden habe, dass die Heteronyme unter meinem Namen veröffentlicht werden sollen. (Es ist schon spät und ein absolutes Maskenspiel wäre absurd.) Sie sollen eine Serie mit dem Titel ‚Fiktionen des Zwischenspiels‘ bilden, oder noch etwas Besseres, falls es mir einfällt.“ [J.W.] Zur Editionsproblematik vgl. Castro, Ivo: Editar Pessoa. Lissabon 1990.
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ausgesetzt. Eine Anordnung der Schriften nach den Heteronymen fördert hingegen eine kohärente Lesart der einzelnen Heteronyme und rückt deren jeweilige ‚schriftstellerische Entwicklung‘ stärker in den Mittelpunkt. Die genaue Anzahl von Pessoas Heteronymen ist nur schwer zu ermitteln. In der Sekundärliteratur variieren die diesbezüglichen Angaben zwischen drei und 72. Neben seinen drei Hauptheteronymen Alberto Caeiro, Ricardo Reis und Álvaro de Campos, die zu Lebzeiten Pessoas veröffentlicht wurden, fand man in Pessoas berühmten Truhen eine ganze Reihe weiterer ‚Autoren‘, deren Projekte jedoch oft nur ansatzweise ausgearbeitet sind. Unter ihnen befinden sich das Halbheteronym Bernardo Soares (Autor des Livro do desassossego), die beiden Philosophen António Mora und Raphael Baldaya, der Stoiker Barão de Teive sowie weitere Gestalten wie Fréderico Reis, Alexander Search, Charles Search, Charles Robert Anon, A. A. Crosse, Thomas Crosse, Jean Seul, Abilio Quaresma, Chevalier de Pas und viele andere.19 In der Pessoaforschung herrscht Uneinigkeit in der Einschätzung der neuen Funde. Immer häufiger wird eine Unterscheidung zwischen Heteronymen und ‚literarischen Persönlichkeiten‘ vorgenommen, der zufolge man nur von Heteronymen spricht, wenn sie eine bestimmte Textmenge produziert haben bzw. wenn sie eine größere Rolle in Pessoas Gesamtwerk einnehmen. Als ‚literarische Persönlichkeiten‘ sind dagegen Figuren zu bezeichnen, die zwar namentlich bestimmte Fragmente hinterlassen haben, zu denen jedoch keine weiteren Angaben gefunden wurden. Aufgrund des erst in Ansätzen aufgearbeiteten Gesamtwerks erweist es sich jedoch mitunter als schwierig, diese Unterscheidung eindeutig durchzuführen.20 Da fortwährend neue Manuskripte entziffert werden, wurden mitunter Figuren, die man bisher zu den ‚literarischen Persönlichkeiten‘ gezählt hat, doch noch zu weiteren Heteronymen erklärt.21 19
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Zu diesen Figuren und ihren biographischen ‚Hintergründen‘ siehe besonders Tabucchi, Antonio: Une malle plein de gens. Essais sur Fernando Pessoa. Paris 1992, S. 48-61. Hinzu kommt, dass die Zuordnung der einzelnen Fragmente zu verschiedenen Heteronymen mitunter dadurch erschwert wird, dass Pessoa die Autorschaft seiner Heteronyme manchmal nur über die Veränderung seiner Handschrift gekennzeichnet hat – ein Verfahren, das auch mit Hilfe von Graphologen nur eine höchst zweifelhafte Grundlage für eindeutige Zuordnungen bietet. So hat Angel Crespo bereits 1998 darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei António Mora aufgrund seiner zahlreichen theoretischen Schriften um ein weiteres Heteronym handelt, dennoch läuft die Auseinandersetzung mit diesem in
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Ebenso vielgestaltig wie die Werke der Heteronyme sind auch die ästhetischen Positionen, die Pessoa im Laufe seines Lebens vertreten hat. Sie bilden keine kohärente Poetik, sondern erweisen sich als widersprüchliche, zum Teil diametral entgegengesetzte Ansichten. Pessoa, dessen Credo „Sê plural como o universo!“ (PIL 94)22 lautete, hat so konsequent verschiedene Meinungen vertreten, dass eine auf Kohärenz angelegte Lesart seines Werks von vornherein zum Scheitern verurteilt ist: „Fernando Pessoa ist vielfältig einzigartig innerhalb der europäischen Geistesgeschichte. Wie man sich ihm mit all seinen Kraftanstrengungen und gut gemeinten Bemühungen anzunähern versucht, so verflüchtigt er sich, löst sich in ein Nichts auf. Macht man sich es zum Vorsatz, Fernando Pessoa in irgendeiner Weise als einen Singular begreifen zu wollen, dann ist das große Scheitern schon im Voraus programmiert. Eine Interpretation, eine Meinung, oder auch nur ein Verdacht, all dies funktioniert bei Pessoa rein werkinhärent nicht.“23
Pessoas Schriften stellen nicht nur eine editorische, sondern auch eine interpretatorische Herausforderung dar, in deren Zentrum die Frage nach der Bewertung der Heteronymie steht. Zunächst könnte man argumentieren, dass man es bei Heteronymen mit literarischen Figuren zu tun hat, die sich kaum von anderen literarischen Strategien zur Erzeugung unterschiedlicher Äußerungs- und Identifikationsmöglichkeiten unterscheiden. Genauso wie das Personal eines Romans oder Dramas sind die Heteronyme mit Biographien und verschiedenen Charaktereigenschaften ausgestattet und vertreten unterschiedliche Sichtweisen. Im Unterschied zu Figuren in Romanen oder Dramen postuliert Pessoa für seine Heteronyme jedoch einen anderen ontologischen Status, indem er sie zu ‚realen‘ Autoren erklärt, die eigene Texte verfassen, die nicht ihm, sondern diesen selbst zugeschrieben werden sollen. Er selbst fungiere dabei nur als eine Art ‚Medium‘, wie er im Vorwort zu den Ficções do Interlúdio erklärt:
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der Pessoa-Forschung erst langsam an. Vgl. Crespo, Angel: Estudos sobre Fernando Pessoa. Lissabon 1998, S. 113. Dazu auch Sobral Cunha, Teresa: „António Mora: O heterónimo-filosofo“. In: Actas IV, Porto 1996, S. 393-399. Luís Filipe Teixeira hat 2002 die kompletten Texte des Heteronyms Mora veröffentlicht, vgl. Ders.: Obras de António Mora, de Fernando Pessoa: Edição e Estudo. Lissabon 2002. „Sei vielfältig wie das Universum!“ (RdG 7) Dix: Heteronymie und Neopaganismus, S. 49.
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„Nem esta obra, nem as que se lhe seguirão têm nada que ver com quem as escreve. Ele nem concorda com o que nelas vai escrito, nem discorda. Como se lhe fosse ditado, escreve; e como se lhe fosse ditado por quem fosse amigo, e portanto com razão lhe pedisse para que escrevesse o que ditava, acha interessante – porventura só por amizade – o que, ditado, vai escrevendo.“ (PIL 96)24
Im Unterschied zu gängigen Verfahrensweisen der Literatur, bei denen alle möglichen Entgrenzungen innerhalb der fiktionalen Texte vollzogen werden, muss der Leser von Pessoas Texten die Unterscheidung Fiktion/Realität selbst suspendieren, um in den vollständigen Genuss der Heteronymie zu gelangen.25 Er muss sich in das Spiel der Heteronymie hineinbegeben, um die plurale Perspektive in Pessoas Werk erfahren zu können. Wenn er die Heteronyme ebenfalls als Autoren anerkennt, eröffnet sich ihm eine ganz neue Dimension von Bezügen, insofern als er die Texte sowohl untereinander, in Bezug auf die Heteronyme, die Heteronyme untereinander und alle gemeinsam in ihrer Abhängigkeit von Pessoa betrachten kann. Um diese vielfältigen Bezugsmöglichkeiten erfahren zu können, muss er sich auf die Inszenierung der Heteronyme einlassen. Die einzelnen Autoren und ihre Werke werden daher im Folgenden, so wie sie von Pessoa erschaffen und in Szene gesetzt wurden, kurz vorgestellt.
Alberto Caeiro Alberto Caeiro wird von den anderen Heteronymen und von Pessoa selbst als ‚Meister‘ bezeichnet. Er kommt 1889 in Lissabon auf die Welt, wo er 1915 auch stirbt. Caeiro, dessen Eltern ebenfalls sehr früh gestorben sind, wächst bei einer Großtante auf und verbringt die meiste Zeit seines Lebens auf dem Land im Ribatejo, wohin er sich wegen einer Tuberkuloseerkrankung zurückgezogen 24
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„Weder dieses noch die folgenden Werke haben irgendetwas mit dem Verfasser zu tun. Weder ist er einverstanden mit dem, was in ihnen niedergelegt ist, noch ist er dagegen. Er schreibt wie unter Diktat; als ob es ein Freund ihm diktierte und man ihn also mit Recht bitten könnte, das Diktat niederzuschreiben, findet er interessant – vielleicht nur aus Freundschaft –, was er da als Diktat niederschreibt.“ [J.W.] Zu dieser Besonderheit in den Werken von Pessoa und Lasker-Schüler siehe auch Kiss, Reka: Das transgressive Spiel zwischen Autor und Text: eine Untersuchung der Texte von Else Lasker-Schüler mit einem Ausblick auf Fernando Pessoa. Tübingen 2007.
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hat. Pessoa schildert ihn als von mittlerer Größe und eher zart, wobei er schwächlicher sei, als er aussehe. Caeiro hat keinerlei Ausbildung erhalten und übt keinen Beruf aus. Seine Gedichte sind Ausdruck einer absoluten Dingbezogenheit. Er nehme alles um sich herum ungebrochen wahr, reflektiere nicht und verweigere jede Deutung der Welt. Zu seinen Texten zählen die Gedichtzyklen O Guardador de Rebanhos („Hüter der Herden“, 49 Gedichte), O Pastor Amoroso („Der verliebte Hirte“, 8 Gedichte) und einige verstreute Gedichte und Fragmente (Poemas Inconjuntos). Abgesehen von einem Interview mit ihm (das Pessoa zufolge 1914 in Vigo geführt wurde) und einer mit seinem Namen unterzeichneten Anmerkung, die auf der Rückseite des Interviews gefunden wurde, existieren von Caeiro keine theoretischen Äußerungen. Um so mehr beziehen sich seine Schüler auf ihren „Meister“. Ricardo Reis hat sowohl ein Vorwort zu Caeiros Gedichten als auch einen Essay zu dessen Paganismus verfasst; von Álvaro de Campos stammen die Notas para a recordação do meu mestre Caeiro („Aufzeichnungen zur Erinnerung an meinen Meister Alberto Caeiro“).
Álvaro de Campos Álvaro de Campos wurde Pessoa zufolge ein Jahr nach Caeiro am 16. Oktober 1890 um exakt 13 Uhr 30 in Tavira in der Algarve geboren. In einem Brief erklärt Pessoa: „Álvaro de Campos nasceu em Tavira, no dia 16 de Outubro de 1890 (às 1.30 da tarde, feito o horóscopo para essa hora, está certo). Este, como sabe, é engenheiro naval (por Glasgow), mas agora está aqui em Lisboa em inactividade. [...] Álvaro de Campos é alto (1,75 m de altura, mais 2 cm do que eu), magro e um pouco tendente a curvar-se.“ (EI 229)26
Campos gilt als das undisziplinierteste und komplizierteste von Pessoas Heteronymen, da er sich am stärksten entwickelt und in seinen Gedichten teilweise sehr unterschiedliche Ansichten vertritt. 26
„Álvaro de Campos wurde am 15. Oktober 1890 (um 13.30 Uhr, nach dem Horoskop stimmt die Stunde) in Tavira geboren. Wie Sie wissen, ist er Schiffsingenieur (in Glasgow ausgebildet), hält sich jetzt aber bei völliger Untätigkeit in Lissabon auf. [...] Álvaro de Campos ist groß (1,75 m an Statur, 2 cm mehr als ich), mager und neigt dazu, etwas gebückt zu gehen.“ (RdG 29)
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Zeigt er sich in seinem ersten Gedicht Opiarium, das er von einer seiner Reisen in den Orient mitgebracht hat, noch als Autor der Décadence, so begeistert er sich in seiner zweiten Phase für den Futurismus und feiert die moderne Welt und ihre technischen Errungenschaften. Der späte Campos (ab 1923) wirkt hingegen oft erschöpft und apathisch.27 Zu Campos’ erklärten Vorbildern zählen Walt Whitman, Marinetti und Césario Verde. Neben seinen Gedichten hat er auch eine Reihe von theoretischen Schriften veröffentlicht. Zu ihnen gehören das futuristische Manifest Ultimatum und die Apontamentos para uma esthetica não-aristotelica („Überlegungen zu einer nichtaristotelischen Ästhetik“). Zu seinen berühmtesten Gedichten zählen die „Ode Triunfal“, die „Ode Marítima“, „Soneto já Antigo“, „Lisbon revisited“, „Aniversário“ und „Tabacaria“.
Ricardo Reis Ricardo Reis kommt am 19. September 1887 in Porto auf die Welt. Bei Pessoa heißt es, Reis sei etwas kleiner und robuster als Alberto Caeiro, aber dennoch schlank und habe braunes Haar. Der Arzt wurde in einem Jesuitenkloster erzogen, wo er Latein und im Selbststudium auch Griechisch erlernt habe: „É um latinista por educação alheia, e um semi-helenista por educação própria“28 (EI 229). Als entschiedener Monarchist wandert er 1919, wenige Jahre nachdem in Portugal die Republik ausgerufen worden war, nach Brasilien aus. Reis kann als formbewusster, dem Klassizismus verpflichteter Ästhet bezeichnet werden. Als selbsternannter Stoiker ist sein höchstes Ziel der gelassene Umgang mit der eigenen Nichtigkeit. Reis nimmt lebhaft an den ästhetischen Diskussionen, der sogenannten „discussão em familia“, teil und wendet sich in vielen Punkten dezidiert gegen Álvaro de Campos, dessen gefühlsbetonte Kunstauffassung er ablehnt. Zugleich ist er auch als Gegenpol zu Caeiro angelegt. Im Gegensatz zu Caeiros „absolutem Objektivis27
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Zu Campos’ Entwicklung vgl. u. a. Berg, Eliana: „Álvaro de Campos: A angústia de Não-Ser“. In: Luso-Brazilian Review 28, No. 2, 1991, S. 1-12 und Dirscherl, Klaus: „Pessoas problematischer Futurismus – Álvaro de Campos zwischen Sensibilität und Intertextualität“. In: Aufsätze zur portugiesischen Kulturgeschichte 19, 1988, S. 150-161. „Er ist Latinist durch fremde Erziehung und halber Gräzist durch eigene Erziehung“ (RdG 29).
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mus“29 glaubt Reis nicht an die Möglichkeit einer abstraktionsfreien dingbezogenen Betrachtungsweise der Welt. Reis schrieb in erster Linie klassizistische Oden, von denen nicht einmal ein Zehntel zu Pessoas Lebzeiten veröffentlicht wurde. Die ersten 20 Oden erscheinen 1924 in der von Pessoa herausgegebenen Zeitschrift Athena, zwischen 1927 und 1933 werden weitere acht Oden in der Zeitschrift Presença veröffentlicht.
Pessoa als Orthonym Pessoa selbst sah sich nicht nur als Erschaffer der Heteronyme, sondern zählte sich selbst in späteren Jahren auch als Orthonym (in der Forschung auch als „Pessoa ele-mesmo“ oder „Pessoa ipse“ bezeichnet) zu ihrem Kreis. Er plante, unter dem Titel Cancioneiro („Liederbuch“) einen Teil seiner Gedichte gemeinsam mit den Gedichten der anderen Heteronyme in dem Band Ficções do Interlúdio herauszugeben. In der Pessoaforschung wird meist zwischen dem Orthonym Pessoa als einem Mitglied innerhalb der Gruppe der Heteronyme und Pessoa als übergeordnetem Erfinder der Heteronymie und Autor weiterer Gedichte und Dramen, die in keinem engen Zusammenhang mit dem Spiel der Heteronymie stehen, unterschieden. Pessoa hat für sich selbst als Orthonym keine Biographie erschaffen und sich keine von ihm als realem Autor abweichenden Züge gegeben. Auch in der „discussão em familia“ hält er sich zurück. Die anderen Heteronyme nehmen jedoch oft auf ihn Bezug, indem sie zum Beispiel in ihren Texten eine Bemerkung Pessoas aus einer ihrer gemeinsamen Diskussionen kommentieren.
Bernardo Soares Bernardo Soares, der Autor des Livro do desassossego, wird von Pessoa als „Semi-Heteronym“ bezeichnet. Pessoa hat für Soares keine eigene Biographie erstellt. Die einzigen Informationen zu ihm finden sich im Vorwort zum Livro, als dessen Herausgeber Pessoa nach Soares’ Tod auftritt. Dort beschreibt Pessoa Soares 29
Zum „objectivismo absoluto“ bei Caeiro vgl. auch Dix: Heteronymie und Neopaganismus, S. 85-104. Dix deutet Caeiro als eine Figur, mit der Pessoa versucht, die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden, und vergleicht diese Position mit Heideggers philosophischen Überlegungen zu einem unmittelbaren „erkennenden In-der-Welt-sein“.
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als unscheinbaren, bescheidenen Mann, den er oftmals in seinem Stammlokal angetroffen habe. Soares arbeitet als Hilfsbuchhalter eines Handelshauses in der Lissaboner Unterstadt und verbringt seine Abende schreibend in einem Zimmer, in dem er zur Untermiete wohnt. Pessoa hat Soares erst nachträglich die Autorschaft für die über Jahre hinweg entstandenen Fragmente des Livro übertragen. Soares wird in der Sekundärliteratur meist als „Mann ohne Eigenschaften“30 beschrieben, als ein „leere[r] Reflektor unpersönlicher Empfindungen“31, die er so präzise wie möglich darzustellen versucht.
2. Die Genese der Heteronymie 2.1 Pessoas Sensacionismo Unter den vielen ästhetischen Strömungen, die Pessoa im Laufe seines Lebens vertreten hat, ragt der von ihm erfundene „Sensacionismo“ in besonderer Weise heraus.32 Pessoa bezeichnet ihn als „Kunst der vierten Dimension“ (LI 269) und betont mehrfach, dass es sich nicht um eine weitere Kunstbewegung der Avantgarde, sondern um eine ganz neue Weltanschauung33 handle, die alle bisherigen Strömungen in sich zu integrieren vermag: „[O Sensacionismo] pretende sintetizar todas as correntes passadas através de uma originalidade própria“ (PE 135).34 Sein Ziel ist es, mit dem Sensacionismo eine umfassende neue Kunst zu entwickeln, der es gelingt, die Vielheit der Welt als unauflösliche Pluralität positiv erfahrbar zu machen, ohne sie in irgendeiner Form zu vereinheitlichen. Der Imperativ dieser Ästhetik der Pluralität, die alle philo30 31 32
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So etwa Dünne: Vermessung der Distanz, S. 183. Klettke: Simulakrum Schrift, S. 156. Zu den verschiedenen Avantgarden, denen sich Pessoa zeitweise angeschlossen hat, vgl. Baltrusch, Burghard: Bewußtsein und Erzählungen der Moderne im Werk Fernando Pessoas. Frankfurt am Main 1997, S. 218-224 und Lasch, Markus: Pessoas Faust. Fragmente einer subjektiven Tragödie. Freiburg im Breisgau 2006, S. 277-286. Pessoa benutzt das deutsche Wort „Weltanschauung“, um die philosophische Dimension seines Projektes zu betonen. (PIL 134) Vgl. auch Dix, Steffen: „Nachwort des Übersetzers“. In: RdG 521. „[Der Sensacionismo] strebt danach, alle früheren Strömungen durch eine ihm eigene Originalität zu verbinden.“ [J.W.]
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sophischen Weltsichten, alle Lebensstile, alle Götter und alle Überzeugungen zuzulassen vermag, lautet: „Sentir tudo de todas as maneiras!“ (LI 266).35 Die vielen zwischen 1914 und 1916 entstandenen Fragmente zum Sensacionismo, die man in Pessoas Nachlass gefunden hat, veranschaulichen die Schwierigkeiten, die ihm dessen Ausarbeitung bereitete.36 Da sich seine zum Teil sehr widersprüchlichen Überlegungen nicht als eine ausgereifte, in sich stimmige Theorie lesen lassen, werden sie in der Forschungsliteratur zu Pessoa oftmals übergangen.37 Dabei geben seine Überlegungen nicht nur einen wichtigen Einblick in Pessoas unermüdliche Anstrengungen, zu einer neuen Kunst vorzudringen, sie bieten auch für die Genese der Heteronymie neue Einsichten. Ich möchte deshalb im Folgenden im Bewusstsein der Disparatheit des Materials die Grundzüge seiner theoretischen Überlegungen zum Sensacionismo schildern, vor deren Hintergrund im Anschluss die Entwicklung der Heteronymie analysiert werden soll. Pessoa wählt für die Ausarbeitung des Sensacionismo einen erkenntnistheoretischen Ansatz, der von der sensualistischen Annahme ausgeht, dass Sinneswahrnehmungen38 als einzige gesicherte Grundlage für die menschliche Erkenntnis angesehen werden kön35 36
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„Alles auf alle Weisen fühlen!“ [J.W.] Einen guten Einblick in die vielen verschiedenen Ansätze und Pessoas konzeptionelle Schwierigkeiten geben die von Teresa Rita Lopes herausgegebenen Bände Pessoa Inédito und Pessoa por conhecer, in denen zahlreiche erst in den achtziger Jahren gesichtete neue Fragmente zum Sensacionismo veröffentlicht wurden. Pessoas Notizen umkreisen immer wieder die gleichen Fragen, brechen aber oft mitten in der Überlegung ab, um dann aufs Neue bzw. mit einer leichten Verschiebung wieder anzusetzen. Lopes, Teresa Rita: Pessoa Inédito. Lissabon 1993; Dies.: Pessoa por conhecer, 2. volumes, Lissabon 1990. Dies mag zum Teil darin begründet liegen, dass Georg Rudolf Lind, der maßgeblich an der Herausgabe von Pessoas theoretischen Texten beteiligt war, sich mehrfach abschätzig zu dessen poetologischen Überlegungen geäußert hat, denen es in seinen Augen generell an Klarheit und Überzeugungskraft mangele. Vgl. Lind, Georg Rudolf: Estudos sobre Fernando Pessoa. Lissabon 1981, S. 173 f. Das portugiesische Wort „sensação“ kann im Deutschen sowohl als „Sinneswahrnehmung“ als auch als „Gefühl“, „Empfindung“ oder „Sensation“ übersetzt werden. Pessoa selbst verkompliziert die Lage noch, indem er unter „sensações“ manchmal auch Bewusstseinsleistungen versteht, die im Erkenntnisprozess eine Rolle spielen, und manchmal auch den gesamten Erkenntnisprozess als „sensação“ bezeichnet. Da Pessoas Überlegungen generell auf eine Ästhetik der Wahrnehmung abzielen, übersetze ich den Begriff in der Regel mit „Sinneswahrnehmung“ oder „Wahrnehmung“.
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nen. Die allen Überlegungen zum Sensacionismo zugrundeliegende Prämisse lautet: „A sensação passa a ser a realidade primordial. O objecto exterior cessa como independente da sensação, passa a ser sentido apenas sentido.“ (PI 175)39 Wenn die einzige Realität, die uns erfahrbar ist, uns durch die Wahrnehmung vermittelt wird, dann, so Pessoa, müsste man diese selbst verändern, um zu einer erweiterten Realität zu gelangen. In einem auf 1916 datierten Fragment überlegt er: „1. A unica realidade é a sensação. 2. A maxima realidade será dada sentindo tudo de todas as maneiras (em todos os tempos). 3. Para isso era preciso ser tudo e todos. O sensacionismo é a arte das quatro dimensões.“ (LI 269)40
Der Sensacionismo als Kunst der vierten Dimension soll es möglich machen, alles auf alle Arten zu fühlen, um damit zu einer maximalen Realitätserfahrung vorzudringen. Doch wie kann das konkret ermöglicht werden? Pessoa umkreist sein Problem von mehreren Seiten. Zunächst versucht er den Begriff der „sensação“ und die in ihm zum Tragen kommenden Komponenten genauer zu bestimmen. In einem undatierten41 Fragment mit dem Titel „Os elementos da sensação“ unterscheidet er zwischen vier verschiedenen Momenten bei der Erkenntnis: 1) der „Sensação do Objecto“ / der Wahrnehmung des Objekts, 2) den „idéas (objectivas) associadas á sensação do objecto“ / den objektiven Ideen, die mit der Wahrnehmung des Objekts assoziiert werden, 3) den „idéas subjectivas associadas á sensação do objecto (estado de alma na occasião)“ / den subjektiven Ideen, die mit der Wahrnehmung des Objekts assoziiert werden und 4) dem „temperamento da creatura“ / dem Temperament der wahrnehmenden Person. (LI 268)
Aus dem zitierten Fragment geht hervor, dass Pessoa Erkenntnis nicht allein aus der Wahrnehmung begründet, sondern als ein kom39
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„Die Wahrnehmung ist die wichtigste Realität. Das äußere Objekt existiert nicht unabhängig von unserer Sinneswahrnehmung, es wird ausschließlich empfunden.“ [J.W.] „1. Die einzige Realität ist die Sinneswahrnehmung. 2. Die maximale Realität wird dadurch erreicht, dass man alles auf alle Weisen (zu allen Zeiten) fühlt. 3. Dafür wäre es notwendig, alles und alle zu sein. Der Sensacionismo ist die Kunst der vierten Dimension.“ [J.W.] Teresa Rita Lopes schätzt, dass das Fragment um 1915/16 entstanden ist. (Vgl. PI 268)
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plexes Zusammenspiel zwischen reiner Wahrnehmung, subjektiven und objektiven Bewusstseinsleistungen und Temperament begreift. Diese Komponenten, so überlegt er weiter, werden in den verschiedenen Kunstformen auf unterschiedliche Weise verbunden. Der Sensacionismo müsste sie auf neue Weise miteinander multiplizieren und könnte dadurch eine neue Form der Erkenntnis ermöglichen: „O Sensacionismo procura chegar á formula: SO x IOA x ISA x BT“ (ebd.).42 Sei es, um seinen theoretischen Überlegungen den Anschein logisch durchdachter, klar strukturierter Argumente zu geben, sei es, um sein eigenes, in alle Richtungen immer wieder abschweifendes Denken zu disziplinieren: Pessoa schätzt es, seine theoretischen Überlegungen zu nummerieren und neigt dazu, sie mit Hilfe von logischen Schlüssen und mathematischen Operationen in Form zu bringen. Die hier aus der Mathematik übertragene Abstraktionsleistung einer vierfachen Multiplikation schießt jedoch über seinen Hang zu prägnanter Formelbildung hinaus, ermöglicht sie es ihm doch, die Grundoperation bei seiner Suche nach einer neuen Form der Erkenntnis zu bestimmen: Die Idee der Multiplikation erweist sich als eine vielversprechende Möglichkeit, die verschiedenen Momente der Erkenntnis in eine völlig neue Konstellation zu bringen. Mit Hilfe einer wissenschaftlich-mathematischen Operation können auf diese Weise neue, für den menschlichen Geist in ihrer mathematischen Abstraktion bisher nicht vorstellbare Formen der Bewusstseinsvervielfältigung erzeugt und dann in einem zweiten Schritt auch erfahrbar gemacht werden. In einem anderen Fragment knüpft Pessoa an diese Überlegungen an und erklärt, das Ziel des Sensacionismo sei es, „abstrakte Empfindungen“ zu produzieren: „Perguntando qual o fim da arte, o sensacionismo constata que ele não pode ser a organização das sensações do exterior, porque esse é o fim da ciência; nem a organização das sensações vindas do interior, porque esse é o fim da filosofia; mas sim, portanto, a organização das sensações do abstracto. A arte é uma tentativa de criar uma realidade inteiramente diferente daquela que as sensações aparentemente
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„Der Sensacionismo sucht die Formel SO x IOA x ISA x BT“ [J.W.]. Bei den Buchstaben handelt es sich um die Abkürzungen der oben zitierten vier Erkenntnismomente. BT steht für „base temperamental“. Pessoa neigt dazu, theoretische Überlegungen zu nummerieren und in mathematische Formeln zu übertragen.
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do exterior e as sensações aparentemente do interior nos sugerem.“ (PE 138)43
Indem die Kunst „abstrakte Wahrnehmungen“ hervorruft, die mit bisher bekannten (äußeren oder inneren) Wahrnehmungen nichts gemein haben, soll sie eine völlig neue Realität erzeugen. Was jedoch unter „abstrakten Wahrnehmungen“ zu verstehen ist und wie sie in der Kunst hergestellt werden sollen, geht auch aus diesem Fragment nicht hervor. Wie kann es dem Künstler möglich sein, von seinen persönlichen Wahrnehmungsformen zu abstrahieren und zu einer abstrakten Wahrnehmungsweise zu gelangen? Pessoas diesbezügliche Überlegungen setzen wiederholt am Verhältnis von Bewusstseinsleistungen und Sinneswahrnehmung an. Immer wieder kommt er nun darauf zurück, dass beide in der Kunst auf eine neue Weise miteinander „multipliziert“ werden müssten, um dadurch neue Erkenntnismöglichkeiten zu generieren: „A arte [...] é a sensação multiplicada pela consciência – multiplicada, note se bem.“ (PIL 138)44 Wie diese Multiplikation genau auszusehen habe, bleibt jedoch unbestimmt. So intensiv er zwei Jahre lang über seinen Sensacionismo nachdenkt, so abrupt brechen seine Versuche 1916 ab, ohne dass die Idee der Multiplikation der Wahrnehmungsformen genauer bestimmt wird. Dennoch sind seine Überlegungen insofern informativ, als aus ihnen unmissverständlich hervorgeht, dass Pessoa bei seinen Versuchen, in der Kunst neue Erkenntnisformen zu erzeugen, immer sowohl die Sinneswahrnehmungen als auch die Bewusstseinsleistungen im Blick hat. Die vom Dichter erzeugte „abstrakte Wahrnehmung“ kann nicht, wie beispielsweise in den Theorien von Vischer oder Lessing, nur durch Einfühlung in die Charaktere erreicht werden, sie muss vielmehr am Zusammenspiel von Sinneswahrnehmung und Bewusstseinsleistung ansetzen, um auch dem Dichter die Gelegenheit zu einer völlig neuen Form von Wahrnehmung zu geben. 43
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„Fragt man sich, was das Ziel der Kunst ist, so stellt der Sensacionismo fest, dass es nicht die Organisation von äußeren Wahrnehmungen sein kann, denn das ist das Ziel der Wissenschaft, und auch nicht die der inneren Wahrnehmungen, denn das ist das Ziel der Philosophie. Ihr Ziel ist die Organisation der abstrakten Wahrnehmungen. Die Kunst ist der Versuch, eine völlig andere Realität zu erzeugen, als dies uns die angeblich äußeren und angeblich inneren Wahrnehmungen suggerieren.“ [J.W.] „Die Kunst […] ist die Empfindung multipliziert mit dem Bewusstsein – ich betone: multipliziert.“ [J.W.]
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Liest man Pessoas Heteronymie vor dem Hintergrund seiner theoretischen Überlegungen zur gegenseitigen Multiplizierung von Bewusstseinsleistungen und Sinneswahrnehmungen in der Kunst, so eröffnet sich eine neue Perspektive zu ihrer Deutung. Die Pointe von Pessoas Heteronymen ist, wie ich im Folgenden argumentieren werde, dass er ihnen nicht nur biographische und stilistische Vorgaben gemacht hat, sondern dass er ihnen zugleich auch bestimmte Wahrnehmungsvorgaben gegeben hat. Dies geht aus einem auf Englisch verfassten, bisher kaum beachteten Fragment hervor, das auf 1917 datiert wird: „Caeiro has one discipline: things must be felt as they are. Ricardo Reis has another kind of discipline: things must be felt not only as they are, but also so as to fall in with a certain ideal of classic measure and rule. In Álvaro de Campos things must be simply felt.“ (PIL 342)
Indem Pessoa seinen Heteronymen unterschiedliche Wahrnehmungsvorgaben sowohl hinsichtlich ihrer sinnlichen Wahrnehmungsweise als auch hinsichtlich ihrer Bewusstseinsleistungen gibt, versucht er unterschiedliche Formen ihres Zusammenspiels bzw., in Pessoas Terminologie, ihrer „Multiplikation“ zu erkunden. Pessoa bestimmt die verschiedenen Erkenntnismodi seiner Heteronyme als unterschiedliche Disziplinen: Caeiro soll die Dinge so wahrnehmen, wie sie sind, wobei seine Bewusstseinsleistungen und subjektive Aspekte der Wahrnehmung so weit wie möglich ausgeschaltet werden: „Here we touch his great originality, his almost inconceivable objectiveness (objectivity). He sees things with the eyes only, not with the mind.“ (PIL 338) Seine Wahrnehmung der Welt soll diese so objektiv wie möglich, ohne jede Form subjektiver Aneignung wiedergeben – eine Erkenntnisform, die im Widerspruch zu allen nachkantianischen philosophischen Bestimmungen menschlicher Erkenntnis steht und darauf abzielt, die anvisierte Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung in actu vorzuführen. Sie korrespondiert dem von Pessoa immer wieder angekündigten Projekt, eine eigene Metaphysik auszuarbeiten, mit der er Kants Kritik der reinen Vernunft widerlegen wollte – ein Vorhaben, das, wie so viele andere Projekte Pessoas, nie verwirklicht wurde.45 Bei 45
Zu Pessoas Plänen, eine eigene Metaphysik zu entwickeln, vgl. Dix, Steffen: „O poeta ‚animated by philosophy‘ ou a admiração perante a existência do universo“. In: Pizarro, Jerónimo / Ders. (Hg.): A Arca de Pessoa. Novos ensaios. Lissabon 2007, S. 161-172.
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Ricardo Reis, dem Klassizisten, sollen sich Empfindungen und Abstraktionsleistungen in einem möglichst ausgewogenen Verhältnis befinden, während Álvaro de Campos die Dinge „nur fühlen“ soll: „He never questions, he feels. He ist the undisciplined child of sensation.“ (ebd.) Im diametralen Gegensatz zu Caeiro, der subjektive Momente ausschaltet und nur die äußere Wirklichkeit wahrnimmt, sind bei de Campos sowohl Wahrnehmung als auch Bewusstseinsleistungen primär auf Gefühle gerichtet, eine Erkenntnisform, die, wie zu zeigen sein wird, ebenfalls eine ganz eigene Form von Wirklichkeit erzeugt.
2.2 Selbstaffektion im Namen der Heteronyme Parallel zu seinen Überlegungen zum Sensacionismo beginnt Pessoa um 1914 Gedichte im Namen seiner Heteronyme zu schreiben, die er anfangs nur vereinzelt in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht. Dabei tritt zunächst vor allem Álvaro de Campos in Erscheinung, dessen Gedichte „Opiário“ und „Ode Maritíma“ 1915 gemeinsam mit seinem Manifest Ultimatum in der ersten Ausgabe von Orpheu erscheinen. Erst später kommen Veröffentlichungen von den anderen Heteronymen, zunächst von Ricardo Reis (1924), dann auch von Alberto Caeiro (1925), hinzu. Da Pessoa sich in diesen Jahren kaum zu seiner Heteronymie äußert, können über seine ersten Schreibexperimente unter fremden Namen nur wenige Aussagen getroffen werden. Man kann jedoch davon ausgehen, dass die Heteronyme von Anfang an in ihren Grundzügen definiert waren, da ihre Texte von Beginn an der jeweiligen erst später von Pessoa formulierten Konzeption ihrer Figur entsprechen. Es liegt daher nahe, dass Pessoa die wesentlichen Charakterzüge, die ästhetischen Positionen und die Wahrnehmungsvorgaben schon früh festgelegt hat. Auch die stilistischen Vorgaben stehen von Anfang an fest: Die Dichtung im Namen Caeiros soll sich an der Tradition bukolischer Eklogen, die von Reis an den klassizistischen Oden von Horaz und die von Álvaro de Campos an den futuristischen Gesängen von Walt Whitman anlehnen. Pessoas Versuch, sich im Namen seiner Heteronyme bestimmte stilistische Vorgaben aufzuerlegen, steht den um die Jahrhundertwende beliebten „Pastiches“ nahe, die von Autoren wie Marcel Proust, dessen Freund Fernand Gregh, Paul Reboux oder Charles
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Muller erstellt wurden und die sich in den französischen Feuilletons der Zeit großer Beliebtheit erfreuten.46 Als künstliche Nachahmung des Stils eines anderen Schriftstellers zielt das Pastiche im Gegensatz zu Parodie oder Travestie nicht auf die Verunglimpfung des imitierten Schriftstellers, sondern wird vielmehr als eine Möglichkeit angesehen, spielerisch fremde Schreibweisen (und dadurch zugleich auch andere Wahrnehmungsweisen) auszuprobieren. Proust empfahl das Pastichieren auch als kathartische Methode, um sich von der ‚Idolatrie‘ eines anderen Stils zu reinigen. Indem man ein willentliches Pastiche schreibe, könne man sich als Schriftsteller vom fremden Ton der Vorgänger befreien und zu einer eigenen Ausdrucksweise gelangen.47 Ursula Link-Heer zufolge besteht zwischen der Praxis des Pastichierens und den um die Jahrhundertwende virulenten psychologischen Diskursen der Persönlichkeitsaufspaltung eine strukturelle Nähe. In ihrem Aufsatz „Pastiches und multiple Persönlichkeiten als Kulturmodell an zwei Jahrhundertwenden“ argumentiert sie, dass das Schreiben eines Pastiches eine ähnliche Wirkung wie die Selbstexperimente der Halluzination, Hypnose oder Trance zeigen kann, die in der Experimentalpsychologie der Jahrhundertwende mit Vorliebe betrieben werden: „Wenn Reboux oder Muller oder Gregh ein Pastiche in der Manier der Comtesse de Noailles schreiben, befinden sie sich dann nicht auch in einer Art von Trance, die die Autosuggestion nicht bloß eines anderen Stils, sondern auch einer anderen Persönlichkeit und des anderen Geschlechts verlangt? Dabei setzen sie eine Regelapparatur in Gang, doch sie werden dies nur in den seltensten Fällen bewusst oder gänzlich bewusst tun, sondern vielmehr automatisch, ist es doch eine bekannte Tatsache, dass Beobachtung und Analyse der Gegenstände nicht identisch ist mit ihrem Hervorbringen, eher im Gegenteil.“48
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Zur Theorie und Geschichte des Pastiche vgl. Deffoux, Léon / Dufay, Pierre (Hg.): Anthologie du Pastiche. 2 Bände. Paris 1926 und Hoesterey, Ingeborg: Pastiche: Cultural Memory in Art, Film, Literature. Bloomington 2001. Vgl. Prousts Brief an Ramon Fernandez [1919]: „Le tout était pour moi affaire d'hygiène; il faut se purger du vice naturel d'idolâtrie et d'imitation. [...] pour redescendre à ne plus être que Marcel Proust quand j'écris mes romans.“ Zitiert nach Milly, Jean: Les Pastiches de Marcel Proust. Paris 1970, S. 37. Vgl. hierzu Link-Heer, Ursula: „Pastiches und multiple Persönlichkeiten als Kulturmodell an zwei Jahrhundertwenden“. In: Borsò, Vittoria / Goldammer, Björn (Hg.): Modernen der Jahrhundertwenden. Spure(n) der Moderne in Kunst,
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Link-Heer argumentiert, dass das Schreiben von Pastiches als Selbstexperiment performative Wirkungen entfaltet, welche die ursprüngliche Intention, sich vom unbewusst imitierten Tonfall anderer Autoren zu befreien, bei weitem übersteigen können. Während den im psychologischen Experiment erzeugten Zuständen der IchAuflösung immer der Makel des Krankhaften und Therapiebedürftigen anhafte, biete das Pastiche eine gesellschaftlich positiv bewertete Möglichkeit, die „sensitiven, emotionalen und affektiven Investitionen des Subjektbildungsprozesses“49 zu erforschen. Indem ein Autor schreibend die ästhetischen Konstruktionen eines anderen Autors in der Übernahme von dessen Perspektive Schritt für Schritt nachahmt, erfährt er im Prozess der mimetischen Angleichung deren innere Logik und kann die in der narrativen Konstruktion entstehende Subjektkonstitution unter fremden Vorgaben quasi selbst ‚miterleben‘. In der Simulation der fremden Schreibweise werden deren Konstruktionsprinzipien in einer stärkeren Intensität erfahrbar als dies in der Lektüre der Texte möglich ist. In der Psychologie wird um 1900 vielfach die Auflösung des Ich in eine Folge von Bewusstseins- und Wahrnehmungszuständen konstatiert,50 eine Entwicklung, die in der europäischen Literatur weitverbreitete Spuren hinterlassen hat. Besonders der von dem amerikanischen Wissenschaftler George M. Beard in die Lebenswissenschaften eingeführte Diskurs über Neurasthenie und Nervenschwäche wird von zahlreichen Autoren, allen voran den Schriftstellern der décadence, emphatisch aufgenommen und findet Eingang in deren literarische Werke, in denen die Helden oftmals an Symptomen wie Reizhaftigkeit, Nervosität und Erschöpfung leiden und psychophysiologische Auflösungsprozesse des Bewusstseins in Szene gesetzt werden.51 In seinen 1880 und 1881 erschienenen
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Literatur und Philosophie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert. Baden Baden 2000, S. 254. Ebd. Zu den historischen Entwicklungen innerhalb der Psychologie um 1900 vgl. Ellenberger, Henri F.: The Discovery of the Unconscious. The History and Evolution of Dynamic Psychiatry. London 1994. Vgl. Shorter, Edward: Moderne Leiden. Zur Geschichte der psychosomatischen Krankheiten. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 341-390; Roelcke, Volker: Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790-1914). New York 1999; Gijswijt-Hofstra, Marijke / Porter, Roy (Hg.): Cultures of Neurasthenia. From Beard to the First World War. Amsterdam 2001; Sarrasin, Philipp: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765 – 1914. Frankfurt am Main 2001.
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Hauptwerken Practical Treatise on Nervous Exhaustion (Neurasthenia). Its Symptoms, Nature, Sequences, Treatment52 und American Nervousness. Its Causes and Consequences53 erklärt Beard, dass die Lebenswirklichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine sprunghafte Beschleunigung und Komplexitätssteigerung erfahren habe. Die moderne Zivilisation verlange den Individuen ein gesteigertes Maß an kognitiven und perzeptiven Leistungen ab und führe dazu, dass „der Verbrauch von Nervensubstanz größer ist als die Zufuhr und daß in natürlicher Folge eine Verarmung der Nerven-Kraft stattfindet“.54 Ausgehend von einem energetischen Modell, bei dem der nervöse Apparat mit einer Batterie verglichen wird, die zu stark beansprucht wurde, prägt Beard in seinen Schriften für das entstehende psychische Symptom die Bezeichnung „Neurasthenia“, die er als „lack of nerveforce“55 definiert. Beard zufolge führt dieser Mangel jedoch nicht unbedingt zu einer Abstumpfung. Wenn die koordinierenden Instanzen des psychischen Apparates aufgrund der allgemeinen funktionellen Ermüdung in ihrer Funktionsfähigkeit eingeschränkt sind, werde das nervöse System ganz im Gegenteil in einen Zustand gesteigerter Erregbarkeit versetzt: „Neurasthenie ist eine chronische, functionelle Krankheit, deren Grundlage eine Verarmung der Nervenkraft ist; daher die Abnahme der hemmenden und controllierenden – physischen wie geistigen – Kraft, die Schwäche und Unbeständigkeit der Nervenaction und die krankhafte, directe oder indirecte Irritabilität.“56
Mag die gesteigerte Empfänglichkeit für Eindrücke von den Betroffenen auch als Beeinträchtigung erfahren werden, in der Kunst wird sie im ausgehenden 19. Jahrhundert oftmals positiv bewertet. Die neurasthenische Reizbarkeit des Sensoriums wird hier immer wieder als Verfeinerung, Differenzierung und Steigerung des Wahrnehmungsvermögens gedeutet, die den „Nervösen“ eine perzeptive
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Beard, George M.: Practical Treatise on Nervous Exhaustion (Neurasthenia). Its Symptoms, Nature, Sequences, Treatment. New York (Reprint) 1971. 53 Beard, George M.: American Nervousness. Its Causes and Consequences, New York 1881. Zitiert nach der schon 1881 erschienenen deutschen Übersetzung:Beard, George M.: Die Nervenschwäche (Neurasthenia). Ihre Symptome, Natur, Folgezustände und Behandlung. Leipzig 1881, S. 108 55 Vgl. Beard: American Nervousness, S. 5. Beard: Die Nervenschwäche, S. 114.
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und kognitive Sonderstellung, ja eine Überlegenheit gegenüber weniger reizbaren Mitmenschen einbringt. Pessoa, der zeitlebens unter der Angst litt, dass sich die Nervenkrankheit seiner Großmutter auch auf ihn vererbt haben könnte, hat die psychologischen Diskussionen seiner Zeit aufmerksam verfolgt. Man hat in seiner Bibliothek die Schriften bekannter Psychoanalytiker wie Sigmund Freud, Jean-Martin Charcot oder Alfred Bident sowie eine große Anzahl spezifischer Fachliteratur gefunden, die er, wie seine Anmerkungen bezeugen, gewissenhaft studiert hat.57 Zu ihnen zählen, um nur einige zu nennen, der „Traité des Maladies Mentales“ von Henri Dagonet, „The Nervous System and the Mind“ von Charles Mercier, „La Famille Nevropathique“ von Charles Fere oder die „Études cliniques sur l’hystéro-épilepsie ou grande hystérie“ von Paul Richer; Abhandlungen, die er sich sofort nach ihrem Erscheinen aus Frankreich bestellte oder von seinem Freund Mário de Sá-Carneiro druckfrisch mitbringen ließ. Als ‚Spezialist‘ für die psychologischen Diskussionen der Zeit ist es Pessoa ein Leichtes, sein eigenes Krankheitsbild zu diagnostizieren: „Sou, psychiatricamente considerando, o que se chama um hystero-neurasthenico“ (EGL 456)58, erklärt er und fügt hinzu, dass diese beiden „Phänomene“ bei ihm von Geburt an anzutreffen waren und nicht, wie in den meisten Fällen der Neurasthenie, erst später erworben wurden (ebd.). Betrachtet man Pessoa im europäischen Kontext der Zeit, so ist an seiner Selbststilisierung zum HysteroNeurastheniker allenfalls der doppelte Rückgriff auf Hysterie und Neurasthenie außergewöhnlich. Bedenkt man, dass sich Autoren wie Maupassant, Huysmans, Proust und selbst noch Thomas Mann zu Neurasthenikern erklärt haben bzw. sich nicht dagegen gewehrt haben, wenn sie von ihrer Umgebung als solche bezeichnet wurden, so wird deutlich, dass die Störung um die Jahrhundertwende eher als ein Distinktionsmerkmal denn als Makel wahrgenommen wurde. An Hysterie zu erkranken war im Vergleich dazu unter Schriftstellern weitaus weniger populär, wurde diese Krankheit trotz anerkannter männlicher Ausnahmen doch meist als typische Frauenkrankheit angesehen. Wie seine Zeitgenossen ist auch Pessoa 57
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Pessoas Bibliothek ist vollständig erhalten und in der „Casa de Pessoa“, einem Forschungszentrum und Museum, das sich in Pessoas ehemaligem Wohnhaus in Lissabon befindet, einsehbar. „Ich bin unter psychiatrischem Gesichtspunkt das, was man einen HysteroNeurastheniker nennt.“ [J.W.]
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bemüht, seine psychopathologischen Störungen für sein literarisches Schaffen fruchtbar zu machen.59 Dabei erweist es sich für ihn als unabdingbar, nicht nur auf die Neurasthenie, sondern auch auf die Hysterie zurückzugreifen, die ihm als Bildspender für die Inszenierung der Heteronymie dient: „Casos ha em que determinada psychose é absolutamente precisa para produzir determinados efeitas geniais. A hysteria é essencial aos dramaturgos; a integração, por assim dizer carnal, em diversas personagens, – porém reconhecidamente hysterica e vulgar nas experiencias de suppostos hypnotismos sobre sujeitos hystericos – é a base da chamada ‚intuição dramática‘.“60
Die Bezugnahme auf die Hysterie, jene große Kulturkrankheit des Fin de Siècle, die von Breton als „la plus grande découverte poétique de la fin du XIXe siècle“61 bezeichnet wurde, dient Pessoa als Modell, um seine Vorstellungen einer literarisch erzeugten Vervielfältigung in verschiedene Charaktere zu entwickeln. Die „proteische“ Krankheit der Hysterie, die eine Unzahl von „Erscheinungen“ hervorbrachte und ihre Diagnostiker durch ständige Metamorphosen verwirrte, bietet in ihrer theatralen Grundstruktur62 eine ideale Vorlage, um die intendierte eigene Ich-Vervielfältigung vorzustellen. Denn die hysterischen Patientinnen Charcots erleben ihre hysterischen Anfälle und die damit verbundenen verschiedenen Zustände körperlich, ohne dabei bei vollem Bewusstsein zu sein und werden daher von Pessoa, der sich als Dramaturg seiner eige-
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Zur Produktivität des Neurastheniediskurses für die literarische Moderne vgl. Bergengruen, Maximilian / Müller-Wille, Klaus / Pross, Caroline (Hg.): Neurasthenie. Die Krankheit der Moderne und die moderne Literatur. Freiburg im Breisgau 2009. Zitiert nach Pizarro, Jerónimo: „Fernando Pessoa. O Génio e a Loucura“. In: Leituras: Revista da Biblioteca Nacional de Lisboa 14-15, S. 9. „Es gibt Fälle, in denen eine bestimmte Psychose absolut notwendig ist, um bestimmte geniale Effekte zu erzeugen. Die Hysterie ist für die Dramaturgen essentiell; die gewissermaßen körperliche Integration verschiedener Persönlichkeiten – die in vermeintlichen Hypnosen von hysterischen Subjekten allerdings anerkanntermaßen hysterisch und gewöhnlich ist – ist die Basis der sogenannten ‚dramatischen Intuition‘.“ [J.W.] Breton, André / Aragon, Louis: „Le Cinquantenaire de l’hystérie (1878-1928)“. In: La Révolution Surréaliste 11 (1928), S. 20. Zur Verschränkung von Klinik und Theater in der Hysterie vgl. das Kapitel „Tausend Formen in einem Augenblick oder der Anfall an seinem Ort“. In: Vogel, Juliane: Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der „großen Szene“ in der Tragödie des 19. Jahrhunderts. Freiburg im Breisgau 2002, S. 349-396.
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nen Ich-Vervielfältigung begreift, als exemplarische Vorlagen für die intendierten eigenen Ich-Auflösungen studiert. Die Hysterie entfaltet ihre ästhetische Produktivität theatralisch in den kunstvoll gesteigerten „großen Szenen“ kataleptischer Anfälle, in denen in pointierter Kürze Zustände höchster Erregung und abrupter IchAlteration zur Aufführung gebracht werden. Werden die in den medizinischen Experimenten oftmals mit Hilfe von Hypnose induzierten Anfälle der Hysterikerinnen von Pessoa auch als zu gewöhnlich abgetan – wahrscheinlich, weil sie von den Ärzten der Salpêtrière in den immer gleichen Abläufen systematisiert und vereinheitlicht wurden, was Pessoa, dem Verfechter der ungebändigten Vielheit, widerstrebte –, so dienen sie ihm doch als Basismodell für seine Vorstellung einer „dramatischen Intuition“, die er, wie die Kursivierung des Wortes „carnal“ im oben genannten Zitat zeigt, als maßgeblich körperliches Phänomen begreift. Im Gegensatz zu den weiblichen Formen der Hysterie, deren Anfälle sich nach außen entladen, explodiere er selbst, wie er mehrfach betont, nach innen: „Se eu fosse mulher – na mulher os phenomenos hystericos rompem em ataques e coisas parecidas – cada poema do Álvaro de Campos (o mais hystericamente hysterico de mim) seria um alarme para a vizinhança. Mas sou homem – e nos homens a hysteria assume principalmente aspectos mentaes; assim tudo acaba em silencio e poesia...“ (EGL 459)63
Auf diese Weise wird das dramatische Temperament, das sich bei den Hysterikerinnen in ekstatischen Anfällen äußert, von Pessoa in eine höhere Form der Darstellung sublimiert: „Trata-se, contudo, simplesmente do temperamento dramatico elevado ao maximo; escrevendo em vez de dramas em actos e acção, dramas em almas.“ (EGL 456)64 Bezieht die Hysterie ihre ästhetische Produktivität vor allem aus ihrer gesteigerten Theatralität, so ist die Neurasthenie notwendig, 63
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„Wäre ich eine Frau – bei der Frau führen die hysterischen Phänomene zu Attacken und ähnlichen Dingen –, dann wäre jedes Gedicht von Álvaro de Campos (dem hysterischsten Hysteriker in mir) ein Alarm für die ihm Nahestehenden. Aber ich bin ein Mann – und bei den Männern betrifft die Hysterie in erster Linie mentale Aspekte; auf diese Weise vollzieht sich alles in Stille und wird zu Poesie...“ [J.W.] „Es handelt sich indes ganz einfach darum, dass das dramatische Temperament in die höchste Form gebracht wird, indem ich statt Dramen in Akten und Aktionen zu schreiben, Dramen in Seelen schreibe.“ [J.W.]
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um ein weiteres wichtiges Moment der Heteronymie, die Abwesenheit des eigenen Willens während der literarischen Produktionen seiner Heteronyme, zu erklären. In einem ebenfalls auf 1935 datierten Fragment bestimmt Pessoa, dass er zugleich auch neurasthenisch veranlagt sein müsse, da er auch an Phänomenen der Willensschwäche leide, die bei der Hysterie nicht vorzufinden seien.65 Allein die völlige Abwesenheit seines eigenen Willens, hiermit medizinisch ‚erwiesen‘, erlaubt das ungesteuerte, freie literarische Agieren seiner Erscheinungen. Zudem erweist sich die Neurasthenie als fortschrittsaffin. Als Neurastheniker ist man per definitionem am Nabel der Zeit. Das Leiden an der Unruhe und Beschleunigung, der das moderne Bewusstsein ausgesetzt ist, weist den Kranken als Experten für entstehende Bewusstseinsveränderungen aus, eine Auszeichnung, die Pessoa in Anlehnung an Nietzsches Philosophie einer „Umwertung aller Werte“ zu einer positiven Deutung des ‚Verrücktseins‘ führt: „Nietzsche era doido. Como Christo. Qual a função dos doidos – ou dos genios-doidos nas transformações sociaes? A humanidade é uma semi-loucura vivida por loucos completos. Transformação dos ‚valores‘ como diria Nietzsche.“ (EGL 130)66
Die psychopathologischen Störungen der Hysterie und Neurasthenie avancieren in dieser Sichtweise zu gesunden Auswegen aus einer für krank befundenen Gesellschaft.67 Die von Pessoa in Anlehnung an das Pastiche erfundene Schreibpraxis der Heteronymie bietet ihm dabei eine aktive Strategie, welche die von Link-Heer beschriebene „strukturelle Nähe“ zwischen der Schreibpraktik und den psychopathologischen Diskursen über 65
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„[H]a em mim phenomenos de abulia que a hysteria, propriamente dita, não enquadra no registro dos seus sintomas.“ (EGL 459); „In mir finden sich Phänomene der Willensschwäche, welche die Hysterie eigentlich nicht zu ihren Symptomen zählt.“ [J.W.] „Nietzsche war verrückt. Wie Christus. Was ist die Aufgabe von Verrückten – oder Genial-Verrückten bei gesellschaftlichen Veränderungen? Die Menschheit ist eine lebendige Halb-Verrücktheit von komplett Verrückten. Umwertung der Werte, wie Nietzsche sagte.“ [J.W.] In diesem Sinne wäre auch das Heteronym António Mora zu deuten, das in einer „Casa da Saude“ (deutsch: „Nervenanstalt“ oder wörtlich „Haus der Gesundheit“) verweilt hat. Zum Zusammenhang zwischen dem von Mora vertretenen Neopaganismus und seiner vermeintlichen Verrücktheit bzw. Gesundheit vgl. Dix: Heteronymie und Neopaganismus, S. 135 ff.
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Persönlichkeitsaufspaltungen bei weitem übersteigt: Pessoa, der wie viele seiner Zeitgenossen auch spiritistische Sitzungen abhielt, findet in der Heteronymie eine Möglichkeit, die Alteration von Persönlichkeiten nicht nur als Hypnoseexperiment zu erfahren, sondern diese zugleich literarisch produktiv zu wenden. Sie ermöglicht es ihm, die im Zentrum der experimentellen Psychologie und Psychopathologie stehenden Themen der Alteration der Persönlichkeit, der Bewusstseinsaufspaltungen und der multiplen Persönlichkeit auf literarische Weise zu erkunden. Die Heteronymie erlaubt es ihm, den von der Psychologie konstatierten Zerfall des Bewusstseins in eine Multiplizität von Vorstellungen nicht nur zu beschreiben, sondern in seinen verschiedenen (literarischen) Persönlichkeiten auszuagieren. Dabei generiert seine an die Praxis des Pastiches angelehnte Schreibpraktik genau die Vorstellungen von Persönlichkeitsaufspaltungen, die auch in der Psychologie im Zentrum des Interesses stehen, und ermöglicht es ihm zugleich, das Ziel seiner Kunst der 4. Dimension zu verfolgen. Das Schreiben unter anderen Wahrnehmungsvorgaben ist nicht nur eine Praxis, die genau die Vorstellungen von Ich-Aufspaltungen erzeugt, die in den psychologischen Diskursen diskutiert werden, die Heteronymie kann desgleichen nur vor dem Hintergrund der psychopathologischen Diskurse und Pessoas Kenntnissen ihre Wirksamkeit voll entfalten. Das Verhältnis von Psychologie, Spiritismus, Kulturkritik und Pastiche ist keines von Ursache und Wirkung, es ist ein Verhältnis der Reziprozität, in dem sich die verschiedenen Diskurse und Praktiken des 19. Jahrhunderts verdichten, wechselseitig nachahmen und verstärken. Sie kulminieren in der Heteronymie, einer Praxis, die als Ereignis ihre Wirkung nur im Vollzug selbst entfaltet, ohne dass ihre verschiedenen Konsequenzen im Einzelnen antizipiert werden können. Für diese Lesart spricht, dass die sich Heteronymie erst langsam entwickelt. Pessoa bezeichnet seine Kreationen zunächst als „Pseudonyme“, d.h. er betrachtet sie als eine einfache Maskierung. Erst im Lauf der Zeit werden sie immer häufiger als „reale“ Persönlichkeiten charakterisiert. Der Ausdruck ‚Heteronym‘, der im Unterschied zum Pseudonym nicht nur die Maske eines anderen Namens bezeichnet, sondern, seiner Definition gemäß, mit der Vorstellung eines ‚realen‘ anderen Ichs einhergeht, taucht erstmals in einem kurzen Text mit dem Titel Tábua bibliográfica auf, den Pessoa 1928 in der Zeitschrift Presença veröffentlicht:
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„A obra pseudónima é do autor em sua pessoa, salvo no nome que assina; a heterónima é do autor fora da sua pessoa, é de uma individualidade completa fabricada por ele, como seriam os dizeres de qualquer personagem de qualquer drama seu. […] Estas individualidades devem ser consideradas como distintas da do autor delas.“ (EI 250)68
Die Heteronyme werden fortan von Pessoa wie in den Fallbeschreibungen der Hysterie und der „multiplen Persönlichkeiten“ als eigenständige Charaktere beschrieben, die in seinem Inneren ihr eigenes Leben führen. Während Pessoa in seinen bisherigen Selbstbeschreibungen sich meist als „dramaturgo“ seines „drama em gente“ charakterisiert hat, vergleicht er sich jetzt immer öfter mit einer lebendigen Bühne, auf der verschiedene Personen auftreten, die ihre Stücke aufführen: „Sou a cena viva onde passam vários actores representando várias peças“ (LD 284)69. In dieser Perspektive wird er selbst zu einem Medium, das ähnlich zur Hysterie und zu den von ihm praktizierten spiritistischen Séancen eine ihm völlig fremde Sichtweise wahrzunehmen vermag.70 Folgt die Praxis der Heteronymie in ihrer Grundstruktur der Logik der Hysterie, bei der die Patienten für die Dauer ihrer Anfälle zu einer anderen Person werden und für kurze Zeit das Wissen um ihre eigentliche Identität verlieren, so gibt auch Pessoa die Kontrolle über sich selbst zeitweise ab und wird zur unbewussten Bühne für die Auftritte seiner Heteronyme. Um die Auftritte der ‚fremden Personen‘ wahrzunehmen, bedarf es in beiden Versuchsanordnungen eines externen Beobachters, der die Anfälle von außen wahrnimmt. Die Crux von Pessoas Heteronymie ist es, dass er gezwungen ist, selbst beide Standpunkte einzunehmen. Er muss die Rolle der Bühne und des
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„Das unter Pseudonym veröffentlichte Werk stammt vom Autor in Person, nur der Name, mit dem er unterschreibt, ist ein anderer; das heteronyme Werk stammt vom Autor außerhalb seiner Person, von einer vollständig von ihm hergestellten Individualität, wie es die Aussprüche irgendeiner Gestalt aus irgendeinem von ihm verfassten Drama sein würden. [...] Diese Individualitäten müssen als von der ihres Autors unterschieden betrachtet werden.“ [J.W.] „Ich bin die leere Bühne, auf der verschiedene Schauspieler verschiedene Stücke spielen.“ (BdU 294) Zur Theatermetaphorik bei Pessoa vgl. auch Lourenço, Eduardo: „Pessoa: Une théâtralité sans théâtre“. In: Arquivos do centro cultural português 23, 1987, S. 753-758. Zu Pessoas esoterischen Interessen vgl. Centeno, Ivette: Hermetismo e Utopia. Lissabon 1995 und Costa, Dalila Pereira da: O Esoterismo de Fernando Pessoa. Porto 1971.
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Dramaturgen, eine im Grunde unmögliche Doppelperspektive übernehmen. Daher oszillieren alle seine Texte zwischen Begrenzungsund Entgrenzungsbestrebungen als grundlegender poetischer Bewegung, eine permanente Pendelbewegung, die jeden Versuch, die Heteronymie auf ein dominierendes Bewegungsprinzip zu verpflichten, konterkariert. Die gegenläufigen Pendel- oder Kippbewegungen sind die Folge einer der Heteronymie zugrundeliegenden Ästhetik der Simulation, deren Wirkungen Baudrillard als genuin realitätsverändernd charakterisiert: „[S]imuler n’est pas feindre: ‚Celui qui feint une maladie peut simplement se mettre au lit et faire croire qu’il est malade. Celui qui simule une maladie en détermine en soi quelques symptômes. (Littré.) Donc feindre ou dissimuler laissent intact le principe de réalité: la différence est toujours claire, elle n’est que masquée. Tandis que la simulation remet en cause la différence du ‚vrai‘ et du ‚faux‘, du ‚réel‘ et de ‚l’imaginaire‘. Le simulateur est-il malade ou non, puisqu’il produit de ‚vraies‘ symptomes? On ne peut ni le traiter comme malade, ni comme non-malade.“71
Macht man mit Baudrillard geltend, dass der Akt der Simulation die Wirklichkeit selbst bis zu dem Grad verändere, dass eine Unterscheidung zwischen simulierter und realer Wirklichkeit nicht mehr möglich ist, so wird die wirklichkeitsproduzierende Kraft der Heteronymie für Pessoa augenfällig. Pessoa stellt die Unterscheidung von Realität und Fiktion nicht nur theoretisch in zahlreichen Fragmenten in Frage, er beginnt in der Folge auch immer häufiger, seine Heteronyme als ‚reale‘ Wesen zu behandeln.72 Andererseits ist er fortgesetzt darum bemüht, die in der Praxis eines simulierenden Schreibens als real erfahrenen Bewusstseinsentgrenzungen immer wieder analytisch einzuholen. Die Effekte der intrinsischen Spannung zwischen Entgrenzungs- und Ordnungsversuchen treten besonders in seinen theoretischen Erklärungen zur Heteronymie offen zutage. Sie sollen im Folgenden exemplarisch anhand eines
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Baudrillard, Jean: Simulacres et Simulations. Paris 1981, S. 12. So lässt Pessoa etwa den eifersüchtigen Álvaro de Campos Briefe an seine Braut Ophelia de Queiroz schreiben, die dazu führen, dass diese sich von ihm trennt. Ob es sich um eine unglückliche Wendung des in die Realität überführten Spiels der Heteronymie oder um eine bewusste Strategie zur Auflösung der Verlobung handelt, kann allerdings – ähnlich wie bei dem simulierenden Kranken – nicht ausgemacht werden. Vgl. Simões, Gaspar: Vida e Obra de Fernando Pessoa. Lissabon 1980.
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längeren Briefes, den Pessoa kurz vor seinem Tod an seinen Freund Adolfo Casais Monteiro verfasst hat, aufgezeigt werden:73 „Aí por 1912, salvo erro (que nunca pode ser grande), veio-me à ideia escrever uns poemas de índole pagã. Esbocei umas cousas em verso irregular (não no estilo Álvaro de Campos, mas num estilo de meia regularidade), e abandonei o caso. Esboçara-se-me, contudo, numa penumbra mal urdida, um vago retrato da pessoa que estava a fazer aquilo. (Tinha nascido, sem que eu soubesse, o Ricardo Reis). Ano e meio, ou dois anos depois, lembrei-me um dia de fazer uma partida ao Sá-Carneiro – de inventar um poeta bucólico, de espécie complicada, e apresentar-lho, já me não lembro como, em qualquer espécie de realidade. Levei uns dias a elaborar o poeta mas nada consegui. Num dia em que finalemente desistira – foi em 8 de Março de 1914 – acerquei-me de uma cómoda alta, e tomando um papel, comecei a escrever, de pé, como escrevo sempre que posso. E escrevi trinta e tantos poemas a fio, numa espécie de êxtase cuja natureza não conseguirei definir. Foi o dia triunfal da minha vida, e nunca poderei ter outro assim. Abri com um título, O Guardador de Rebanhos. E o que se seguiu foi o aparecimento de alguém em mim, a quem dei desde logo o nome de Alberto Caeiro. Desculpe-me o absurdo da frase: aparecera em mim o meu mestre. Foi essa a sensação imediata que tive. E tanto assim que, escritos que foram esses trinta e tantos poemas, imediatamente peguei noutro papel e escrevi, a fio, também os seis poemas que constituem a Chuva Oblíqua, de Fernando Pessoa. Imediatamente e totalmente… Foi o regresso de Fernando Pessoa Alberto Caeiro a Fernando Pessoa ele só. Ou, melhor, foi a reacção de Fernando Pessoa contra a sua inexistência como Alberto Caeiro. Aparecido Alberto Caeiro, tratei logo de lhe descobrir – instintiva e subconscientemente – uns discípulos. Arranquei do seu falso paganismo o Ricardo Reis latente, descobri-lhe o nome, e ajustei-o a si mesmo, porque nessa altura já o via. E, de repente, e em derivação aposta à de Ricardo Reis, surgiu-me impetuosamente um novo indivíduo. Num jacto, e à máquina de escrever, sem interrupção nem emenda, surgiu a Ode Triunfal de Álvaro de Campos – a Ode com esse nome e o homem com o nome que tem.
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Dieser Brief wird in der Forschung meist als eine Art retrospektives Gründungsdokument der Heteronymie gewertet, da Pessoa hier die genauesten Angaben zur Genese seiner Heteronymie macht. Obwohl es sich um einen persönlichen Brief handelt, scheint Pessoa ihn im Hinblick auf eine spätere Veröffentlichung geschrieben zu haben. Dies geht vor allem daraus hervor, dass er schon am nächsten Tag einen Brief hinterherschickt, in dem er bestimmte Äußerungen seines Briefes zum Okkultismus für die Veröffentlichung sperrt. Vgl. den folgenden Brief an Casais Monteiro vom 14.1.1935 in EI S. 232.
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Criei, então, uma coterie inexistente. Fixei aquilo tudo em moldes de realidade. Graduei as influências, conheci as amizades, ouvi, dentro de mim, as discussões e as divergências de critérios, e em tudo isto me parece que fui eu, criador de tudo, o menos que ali houve. Parece que tudo se passou independentemente de mim. E parece que assim ainda se passa. Se algum dia eu puder publicar a discussão estética entre Ricardo Reis e Álvaro de Campos, verá como eles são diferentes, e como eu não sou nada na matéria.“ (EI 227 f.)74
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„Wenn ich nicht irre (aber der Fehler kann hier nicht sonderlich groß sein), kam mir ungefähr 1912 die Idee, einige Gedichte nach heidnischem Vorbild zu schreiben. Ich hatte einige Dinge in einem irregulären Vers entworfen (nicht im Stil von Álvaro de Campos, sondern eher in einem halbregulären Versmaß), habe jedoch den Fall bald wieder aufgegeben. Nichtsdestotrotz hat sich aber in einem schlecht umrissenen Halbdunkel das vage Abbild einer Person ergeben, die das alles vollbrachte. (Ohne daß ich es bemerkt hätte, war Ricardo Reis geboren). Ich erinnere mich, daß ich, anderthalb oder zwei Jahre danach, mir mit SáCarneiro einen Spaß in der Form erlauben wollte, indem ich einen komplizierten bukolischen Dichter entwarf und ihn, ich weiß nicht mehr genau wie, in irgendeiner Weise als wirklich darstellte. Ich habe einige Tage an diesem Dichter gearbeitet, aber es gelang mir nichts Rechtes. An dem Tag, an dem ich eigentlich schon endgültig aufgeben wollte – es war der 8. März 1914 –, habe ich mich an mein Schreibpult begeben, nahm Papier und begann sofort zu schreiben, stehend, wie ich immer schreibe, wenn es mir möglich ist. Ohne abzusetzen schrieb ich mehr als dreißig Gedichte, in einer Art Ekstase, deren Natur ich niemals werde definieren können. Das war der Tag des Triumphs in meinem Leben, und es wird niemals mehr einen derartigen geben. Ich begann mit dem Titel: Der Hüter der Herden. Und was dann folgte, war das Erscheinen von jemandem in mir, dem ich sofort den Namen Alberto Caeiro gab. Entschuldigen Sie die Absurdität des Satzes: Mein Meister ist in mir erschienen. Dies war die unmittelbare Empfindung, die ich hatte. Nachdem diese über dreißig Gedichte geschrieben waren, griff ich unmittelbar zu neuem Papier und schrieb wieder, ohne abzusetzen, die sechs Gedichte, die den ‚schrägen Regen‘ von Fernando Pessoa ausmachen. Unmittelbar und vollständig... Es war die Rückreise von Fernando Pessoa/Alberto Caeiro zu Fernando Pessoa er-selbst. Oder besser, es war die Reaktion von Fernando Pessoa auf seine Nichtexistenz als Alberto Caeiro. Nachdem Caeiro nun erschienen war, ging ich sofort – instinktiv und unbewußt – dazu über, für ihn Anhänger auszumachen. Ich habe den latenten Ricardo Reis aus seinem falschen Heidentum entrissen, entdeckte für ihn einen Namen und führte ihn zu sich selbst, da ich ihn in dieser Zeit schon sah. Und sofort und wie eine gegensätzliche Ableitung zu Ricardo Reis entsprang mir auf das heftigste noch ein weiteres neues Individuum. In einem Wurf und an der Schreibmaschine, ohne Unterbrechung oder Berichtigung, folgte die ‚Triumph-Ode‘ von Álvaro de Campos – die Ode mit diesem Namen und dem Mann, der diesen Namen trägt. Ich habe so eine nichtexistente coterie geschaffen. Dies alles habe ich aber in einem Rahmen der Wirklichkeit festgesetzt. Ich ordnete die Einflüsse, kannte die Freundschaften, habe, innerhalb von mir selbst, die Diskussionen und die
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Pessoas Formulierungen wechseln beständig zwischen aktiven und passiven Beschreibungen. Verben wie „criar“, „fixar“, „graduar“ entwerfen eher ein Bild, das ihn als bewussten Schöpfer erscheinen lässt; Formulierungen wie „ouvi dentro de mim“, „[p]arece que tudo se passou indepentemente de mim“ oder „surgiu-me impetuosamente“ stellen den Schöpfungsprozess als unbewussten Akt dar. Pessoa erklärt, ursprünglich nur geplant zu haben, Gedichte nach heidnischem Vorbild („poemas de índole pagã“) zu schreiben. Der Versuch sei ihm nur ansatzweise gelungen, dafür sei ihm „numa penumbra mal urdida“ das Bild der Person erschienen, die für die Gedichte verantwortlich zeichnet: Ricardo Reis. In dieser Darstellung führt der Versuch, in einem anderen Stil zu dichten, ähnlich wie beim Pastichieren, zu einer völlig neuen Sichtweise. Es entsteht ein anderer Autor, dessen ‚Geburt‘ ohne sein Wissen erfolgt sei: „Tinha nascido, sem que eu soubesse, o Ricardo Reis“. Seinen zweiten Anlauf stellt Pessoa demgegenüber als einen bewusst geplanten Scherz dar, den er gemeinsam mit seinem Freund SáCarneiro ausgeheckt habe. Ihr Plan sei es gewesen, einen „bukolischen Dichter“ zu erfinden und ihn als reale Figur zu präsentieren. Doch obwohl er einige Tage damit zubringt, „an dem Dichter zu arbeiten“ (portugiesisch: „[l]evei uns dias a elaborar o poeta“), geschieht nichts. Die „Geburt“ der Heteronyme, die erst zwei Tage später erfolgt sei, wird von Pessoa wiederum als eine ekstatische (und solitäre) Schöpfungserfahrung geschildert: Am Pult stehend habe er sich plötzlich in einer Art Schreibekstase wiedergefunden, die er selbst nicht beschreiben könne: „numa espécie de êxtase cuja natureza não conseguirei de finir“. In diesem Zustand der Eingebung habe er nicht nur den gesamten Gedichtzyklus von Alberto Caeiro (mehr als dreißig Gedichte), sondern auch eigene Gedichte sowie die Ode von Álvaro de Campos geschrieben. Pessoa betont in seinem Brief mehrfach die Interaktion zwischen seinen Heteronymen. Obwohl er nur einen bukolischen Dichter erfinden wollte, sei ihm auf einen Schlag gleich eine ganze Clique
Unterschiede in den Ansichten gehört, und grundsätzlich scheint es mir, daß ich, der Schöpfer von alldem, am wenigsten daran Anteil nahm. Es scheint, als ob dies alles unabhängig von mir selbst geschehen ist. Und wenn ich an irgendeinem Tag die Möglichkeit besitzen werde, die ästhetische Diskussion zwischen Ricardo Reis und Álvaro de Campos zu veröffentlichen, wird man sehen, wie unterschiedlich sie sind und wie wenig ich mit dieser Materie zu tun habe.“ (RdG 27 f.)
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(„uma coterie“75) von Figuren erschienen, die sich direkt aneinander angeschlossen hätten. Die Heteronymie erscheint in dieser Darstellung als eine Figuration, bei der die einzelnen Dichter wesentlich aufeinander bezogen sind und ihre Produktivität gerade aus der gegenseitigen Abstoßung voneinander zu beziehen scheinen. Im Folgenden sollen die Werke der Heteronyme in den Mittelpunkt rücken, die – eine der Besonderheiten des Dispositivs der Heteronymie – den Leser zu einer strikt autobiographischen Lesart zwingen. Würde man bei den Gedichten der Heteronyme zwischen einem ‚empirischen‘ und einem lyrischen Ich unterscheiden, würde die gesamte Spielanordnung in sich zusammenfallen. Es lassen sich über die Homogenität bzw. Heterogenität der ‚Werke‘ der Heteronyme nur Aussagen treffen, wenn man die Gedichte jeweils als ungebrochenen Ausdruck des Charakters ihrer ‚Autoren‘ betrachtet.
3. Ich-Vervielfältigung in der Lyrik 3.1 Alberto Caeiro Die mehr als dreißig Gedichte, die Pessoa respektive Alberto Caeiro am 8. März 1914 vorgeblich in einem einzigen Schaffensrausch geschrieben hat, sind in Wirklichkeit über einen weitaus längeren Zeitraum entstanden und wurden von Pessoa mehrfach überarbeitet. Pessoa schreibt über Caeiro, dass er aus purer Inspiration heraus dichte, ohne selbst zu wissen, was er tue. Caeiros Gedichte folgen keinem festen Reimschema. Sie stellen eine Art naturwüchsige Poesie dar und wenden sich explizit von einer Dichtkunst ab, die sich an formalen Regeln orientiert: „E há poetas que são artistas E trabalham nos seus versos Como um carpinteiro nas tábuas!... Que triste não saber florir! Ter que pór verso sobre verso, como quem construi um muro E ver se está bem, e tirar se não está!... Quando a única casa certa é a Terra toda Que varia e está sempre boa e é sempre a mesma.“ (AC 72) 75
„Und es gibt Dichter, die sind Künstler Und hobeln an ihren Versen Wie ein Tischler an seinen Brettern!... Wie traurig, wenn man nicht blühen kann! Vers auf Vers legen muß wie jemand, der eine Mauer hochzieht, Und prüfen, ob es gut so ist, und wegnehmen, wenn es nicht so ist!... Wo doch das einzig gelungene Haus die Erde ist, Immer anders, immer richtig und immer dieselbe.“ (AC 73)
Pessoa verwendet hier das im Portugiesischen ungewöhnliche französische Wort „coterie“.
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Caeiro distanziert sich von Dichtern, die sich selbst als Künstler betrachten und ihr Schaffen als ein Handwerk verstehen. Im Gegensatz zu den von ihnen ‚hochgezogenen‘ Versen ‚blüht‘ sein eigenes Werk. Es ist Ausdruck des natürlichen Wandels der Welt. Dieser ständige Wechsel ist die einzige Gewissheit, über die Caeiro verfügt: „A Terra toda [...] está sempre boa e é sempre a mesma“. Caeiros zentrales Anliegen ist es, die Welt in ihrer unerklärlichen Vielfalt wahrzunehmen, ohne sie dabei zu vereinheitlichen oder von dem, was er sieht, zu abstrahieren. Er verfolgt eine Poetik des ‚reinen Sehens‘, worunter er eine Wahrnehmung der Dinge ohne gedankliche Bezugnahme auf sich selbst versteht. So heißt es im zweiten Gedicht der Sammlung O Guardador de Rebanhos: „O meu olhar é nítido como um girassol. Tenho o costume de andar pelas estradas Olhando para a direita e para a esquerda, E de vez em quando olhando para trás… E o que vejo a cada momento É aquilo que nunca antes eu tinha visto, E eu sei dar por isso muito bem… Sei ter o pasmo comigo Que tem uma criança se, ao nascer, Reparasse que nascera deveras… Sinto-me nascido a cada momento Para a eterna novidade do mundo…
„Mein Blick ist offen wie eine Sonnenblume... Ich habe die Gewohnheit, die Straße entlangzuwandern, Nach rechts und nach links zu schauen Und manchmal auch zurück... Und was ich mit jedem Augenblick sehe, Habe ich zuvor nie gesehen Und weiß dies sehr wohl wahrzunehmen... Ich kenne den Wesensschauder Eines Kindes, merkte es bei seiner Geburt, Daß es wirklich das Licht der Welt erblickt... Ich fühle mich mit jedem Augenblick Für die ewige Neuheit der Welt geboren...
Creio no mundo como num malmequer, Porque o vejo. Mas não é penso nele Porque pensar é não compreender… O mundo não se fez para pensarmos nele (Pensar é estar doente dos olhos) Mas para olharmos para ele e estarmos de acordo.
Ich glaube an die Welt wie an ein Tausendschönchen, Weil ich sie sehe. Aber ich denke nicht nach über sie, Denn denken heißt nicht-verstehen... Die Welt wurde nicht geschaffen, damit wir über sie nachdenken (Denken heißt augenkrank sein), Sondern damit wir sie ansehen und im Einklang sind mit ihr.
Eu não tenho filosofia: tenho sentidos… Se falo na Natureza não porque saiba o que ela é, Mas porque o amo, e amo-a por isso, Porque quem ama nunca sabe o que ama Nem sabe porque ama, nem o que é amar… Amar é a eterna inocência, E a única inocência é não pensar…“ (AC 14 f.)
Ich habe keine Philosophie, ich habe Sinne... Rede ich von der Natur, so nicht, weil ich weiß, was sie ist, Sondern weil ich sie liebe, und darum liebe ich sie; Denn wer liebt, weiß niemals, was er liebt, Noch warum er liebt oder was lieben ist... Lieben ist ewige Unschuld Und die einzige Unschuld besteht im Nicht-Denken...“ (AC 15 f.)
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Caeiro beschreibt in diesem Gedicht seine Angewohnheit, durch die Straßen zu laufen und seinen Blick in alle Richtungen schweifen zu lassen. Die mehrfache Wiederholung der Verben „olhar“ und „ver“, die in den ersten sechs Zeilen im Zusammenhang mit den verschiedenen Blickrichtungen fortwährend zum Einsatz kommen, machen den Leser immer wieder aufs Neue auf das Sehen aufmerksam, das jedoch inhaltsleer bleibt. Caeiro betont den Akt des Sehens – er beschreibt jedoch nicht, was er sieht. Der intensivierte Blick auf die Welt ermöglicht es ihm, den „Wesensschauder der Dinge“, den sonst nur ein Kind bei seiner Geburt verspüre, immer wieder aufs Neue zu erfahren, wobei die portugiesische Formulierung „sei ter o pasmo comigo“ – wörtlich übersetzt „ich weiß es, den Wesensschauder bei mir zu behalten“ – suggeriert, dass es sich dabei um ein Wissen bzw. eine besondere Fähigkeit handelt. Jeder Blick Caeiros entspricht einer ‚Neugeburt‘, erlaubt eine neue unverstellte Wahrnehmung der Dinge so wie sie sind und entspricht Steffen Dix zufolge der von Pessoa intendierten Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung: „In der Welt Caeiros existiert kein Innen, keine Subjektivität, alles Wirkliche ist reine Äußerlichkeit.“76 Diese ‚reine Äußerlichkeit‘ wird von Caeiro selbst evoziert, indem er seinen Blick zu Beginn der ersten Strophe mit dem einer Sonnenblume und seinen Glauben an die Welt zu Beginn der zweiten Strophe mit dem eines „Tausendschönchens“ vergleicht. Diese Analogien drücken sein Bestreben aus, sich der Natur so weit wie möglich anzuverwandeln und zu einem natürlichen Weltverhältnis jenseits von Verstandesleistungen zu gelangen. So erklärt Caeiro, dass ihm der natürliche Bezug zur Welt nur möglich sei, weil er sich weigere, über sie nachzudenken: „Creio no mundo [...] porque o veio. / Mas não é penso nele / Porque pensar é não compreender...“. Caeiro setzt das Denken dem von ihm proklamierten Sehen diametral entgegen: „Pensar é estar doente dos olhos“, erklärt er, es schließe das ‚Verstehen‘ im Sinne eines ‚im Einklang mit der Welt sein‘ aus. Die Gegenüberstellung von „pensar“ und „ver/compreender“ wird in der dritten Strophe in eine allgemeine Gegenüberstellung von „filosofia“ versus „sentidos“ überführt. Caeiro reklamiert für sich eine Art des Sprechens, das nicht auf Wissen, sondern auf Liebe beruht. Er nimmt damit den möglichen Einwand vorweg, dass jede Form des Sprechens, insbesondere des Dichtens, eine Form des Denkens voraussetze und hält ihm seine Form eines unschuldi76
Dix: Heteronymie und Neopaganismus, S. 92.
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gen Sprechens entgegen, das vergleichbar mit der Liebe nicht weiß, was es tut: „quem ama nunca sabe o que ama, nem sabe porque ama, nem o que é amar“. Die Opposition von Sehen und Denken, die Abkehr von jeglicher Philosophie und der Umgang mit Sprache markieren einige der zentralen Themen, um die zahlreiche Gedichte Caeiros kreisen (vgl. die Gedichte 4, 5, 21, 24, 26, 34, 46). Caeiro versucht in seinen Gedichten zu einer unmittelbaren und unverstellten Seinserfahrung zu gelangen. Er wehrt sich, Erklärungen über die Welt zu geben (5), Dinge begreifen zu wollen (22) oder ihnen Eigenschaften zuzuschreiben (26). Ebenso lehnt er es ab, in der Mehrzahl zu sprechen (45), den Wandel der Welt zu erklären oder Erinnerungen zu haben (46). Dies seien Synthetisierungsleistungen des Verstandes, die ausgeschaltet werden müssen, um ein ‚nicht-denkendes Sehen‘ zu ermöglichen. Bezieht man Caeiros Gedichte auf Pessoas erkenntnistheoretische Überlegungen zum Sensacionismo, so zeigt sich hier ein Dichter, dessen Weltverhältnis die reine ‚sensação‘ unter Ausschaltung der ‚abstracção‘ erstrebt. Caeiro versucht, sich den Dingen selbst anzuschmiegen, sie so wahrzunehmen, wie sie sind, und dabei die Synthetisierungsleistungen des Verstandes auszuschalten. Dass diese reine Form der Anschauung nur äußerst schwer zu erreichen ist, wird in den Gedichten gleichfalls mehrfach thematisiert: „Sim, mesmo a mim, que vivo só de viver, Invisíveis, vêm ter comigo as mentiras dos homens Perante as cousas, Perante as cousas que simplesmente existem. Que difícil ser próprio e não ver senão o visível!“ (AC 60)
„Ja, selbst zu mir, der ich nur lebe, weil ich lebe, Kommen unsichtbar die Lügen der Menschen Angesichts der Dinge, Angesichts der Dinge, die einfach vorhanden sind. Wie schwierig ist es, man selbst zu sein und nur zu sehen, was sichtbar ist!“ (AC 61)
Obwohl er auf dem Land lebt und sich von den Menschen fernhält, kann sich Caeiro kaum von den ‚Lügen‘ der Menschen befreien. Die von der Menschheit über Jahrhunderte hinweg trainierte Angewohnheit der reflektierten Wahrnehmung ist auch zu ihm vorgedrungen. Sie hat sich, so erklärt Caeiro in einem weiteren Gedicht, wie ein Kleidungsstück um unsere Seelen gelegt, von dem wir uns erst wieder befreien müssen. Beständig hält er dieser verkehrten Konvention seine Lehre entgegen:
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„O essencial é saber ver, Saber ver sem estar a pensar, Saber ver quando se vê, E nem pensar quando se vê Nem ver quando se pensa. Mas isso (tristes de nós que trazemos a alma vestida!) Isso exige um estudo profundo, Uma aprendizagem de desaprender.“ (AC 56)
„Sehen zu können, darauf kommt es an, Sehen zu können, ohne dabei zu denken, Sehen zu können, wann immer man sieht, Und weder zu denken, wenn man sieht, Noch zu sehen, wenn man denkt. Das aber (wie arm wir doch sind mit unserer verkleideten Seele!) Verlangt ein gründliches Studium, Eine Lehrzeit des Verlernens.“ (AC 57)
Um zu einer nichtabschweifenden, reinen Wahrnehmung vorzudringen, ist ein gründliches Studium notwendig, bei dem wir die reflektierende Betrachtung erst wieder verlernen müssen. Caeiros Gedichte wirken in ihrer kontinuierlichen Wiederholung dieses immer gleichen Sachverhalts wie eine performative Anleitung für ein solches Sehen. Ihre Lektüre, dessen Inhalt sich dem Leser ohne Reflexion sofort erschließt, bietet diesem eine Möglichkeit zu seiner Einübung. Caeiros Poesie ist in ihrer Einfachheit so untypisch und fremd, dass sie zahlreiche Deutungsversuche zu ihrer ‚Entschlüsselung‘ provoziert hat.77 Eine der interessantesten neueren Lesarten zu Caeiro stammt von Steffen Dix, der die Heteronymie an Pessoas theoretische Schriften zum Neopaganismus rückkoppelt und sie als literarische Strategie Pessoas deutet, um ein neues Heidentum einzuführen. Dabei nehme Caeiro eine Sonderstellung ein: „Es ist für Pessoa [...] nicht die Religion an sich, die den menschlichen Geist betäubt, sondern innerhalb des Christentums die Tendenz zu einer monotheistischen und damit verbundenen subjektiven Sichtweise auf die Welt. Die Negation der Subjektivität ist allerdings ein Prozess, der geistig nicht begriffen werden kann. Der moderne, in seiner Subjektivität verhaftete Mensch kann nicht von heute auf morgen zu dem absoluten Objektivismus Caeiros gelangen [...]. Caeiro war das notwendige Orientierungsmodell, aus dem heraus sich die neopaganen Orientierungen der pessoanischen Heteronyme erst entwickeln konnten.“78
77
78
Vgl. v. a. die Deutungen von Ken Krabbenhoft, Richard Zenith und Catarina Pedroso de Lima in: Mendes, Victor J. (Hg.): Pessoa’s Alberto Caeiro. Portuguese Literary & Cultural Studies 3, Fall 1999. Krabbenhoft interpretiert Caeiros Gedichte im Lichte der postdarwinistischen Evolutionstheorien, für die sich Pessoa interessierte, Zenith liest sie als Gedichte eines Zen-Buddhismus, Catarina Pedroso de Lima als Vorwegnahme einer antiessentialistischen Weltbetrachtung im Sinne Richard Rortys. Dix: Heteronymie und Neopaganismus, S. 102 f.
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Dix deutet die Figur Caeiro als einen literarischen Kunstgriff, der es Pessoa möglich macht, eine nichtchristlich geprägte Sichtweise als „realisierte Unmöglichkeit“79 vorzustellen. Das ungebrochene Heidentum des Meisters werde in der Folge von den anderen Heteronymen aufgenommen und von jedem vor einem spezifischen Hintergrund diskutiert, wodurch die Möglichkeiten einer realen Herstellung einer solchen Sichtweise erörtert würden. Auf diese Weise sei es Pessoa möglich, zweitausend Jahre der Christianisierung auszublenden und eine heidnische Sichtweise in die Gegenwart zu übertragen, die in keiner Weise von der Tradition der Metaphysik beeinflusst ist.80 Auch wenn es Dix auf überzeugende Weise gelingt, diese Überlegungen mit theoretischen Schriften Pessoas zum Neopaganismus zu fundieren, ‚funktionalisiert‘ er Pessoas/ Caeiros Dichtung in einer Weise, die mit Pessoas eigenem Anspruch der Vervielfältigung letztlich nicht zu vereinbaren ist. Im Gegensatz zu Dix und zu anderen Interpretationsansätzen zu Caeiro, die mit Hilfe von Pessoas theoretischen Schriften versuchen, die Dichtung Caeiros zu dekodieren, macht Simon Critchley geltend, dass Pessoas/Caeiros Lyrik nur dann ihre volle Wirkung entfalten könne, wenn man sie in ihrer Einfachheit annehme. Er empfiehlt, die Gedichte als „antipoetry“81 zu lesen, da es in ihnen gerade nicht darum gehe, eine versteckte Botschaft aufzufinden: „Caeiro insists – and that is the most compelling thought […] – that there is something stranger than all the dreams of poets and thoughts of philosophers: that things are really what they seem to be and there’s nothing to understand.“82
Critchleys Aufforderung zu einer nicht-interpretierenden Lesart Caeiros deckt sich mit Caeiros eigenen Erklärungen zum Zweck seiner Poesie. Seine Gedichte, so erläutert Caeiro, haben im Gegensatz zu den von ihm abgewerteten Gedichten der ‚mystischen Dichter‘ des Christentums (vgl. AC 61 f.) keinen tieferen Sinn und bergen keine geheimen Botschaften:
79 80 81
82
Ebd., S. 103. Vgl. hierzu auch Dix: 2000 Jahre Erkrankung des menschlichen Geistes, S. 532. Critchley, Simon: „Surfaciality. Some Poems by Fernando Pessoa, one by Wallace Stevens, and the Brief Sketch of a Poetic Ontology“. In: Fulcrum. An Annual of Poetry and Aesthetics 5, 2006, S. 140. Ebd., S. 134
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„Li hoje quase duas páginas Do livro dum poeta místico E ri como quem tem chorado muito. Os poetas místicos são filósofos doentes, e os filósofos são homens doidos.
„Ich habe heute fast zwei Seiten gelesen Im Buch eines mystischen Dichters Und lachte wie einer, der viel geweint hat. Die mystischen Dichter sind kranke Denker, Und die Denker sind Narren.
Porque os poetas místicos dizem que as flores sentem E dizem que as pedras têm alma E que os rios têm êxtases ao luar. […]
Denn die mystischen Dichter sagen, die Blumen fühlen Und sagen: die Steine sind beseelt Und die Flüsse im Mondschein ekstatisch. [...]
Por mim, escrevo a prosa dos meus versos E fico contente, Porque sei que compreendo a Natureza por fora; E não a compreendo por dentro Porque a Natureza não tem dentro; Senão não era a Natureza.“(AC 62)
Ich meinerseits schreibe die Prosa meiner Verse Und bin zufrieden, Denn ich weiß, ich verstehe die Natur von außen; Und nicht von innen, Denn die Natur kennt kein Innen; Sonst wäre sie nicht Natur.“ (AC 63)
3.2 Ricardo Reis Ricardo Reis, der nach Brasilien ausgewanderte Arzt, wird von Pessoa als engster Schüler von Alberto Caeiro bezeichnet. Sein Werk besteht vor allem aus Oden, von denen während Pessoas Lebzeiten nicht einmal ein Zehntel in den Zeitschriften Athena und Presença erscheint. Während Pessoa im Namen von Caeiro ab Mitte der zwanziger Jahre immer seltener schreibt, verfasst er im Namen von Reis bis zu seinem Lebensende Gedichte. Das zentrale Thema in Reis’ Gedichten ist die Vergänglichkeit des Lebens. Im Gegensatz zu Caeiro, der sich in allen Lebenslagen im Einklang mit der Welt befindet und selbst dem Tod gelassen und heiter ins Auge blickt, zeigt sich bei Reis eine große Todesangst und Unruhe. Kaum ein Gedicht, in dem er nicht daran erinnern würde, dass alles endlich ist: „Tão cedo passa tudo quanto passa! „Wie schnell vergeht doch alles, was vergeht! Morre tão jovem ante os deuses quanto Und vor den Göttern stirbt so jung, was Morre! Tudo é tão pouco!“ (RR 140) Stirbt! Wie wenig ist doch alles!“(RR 141) „O momento, que acaba ao começar Este, morreu p’ra sempre. Não me promete o incerto e vão futuro Mais do que esta iterada experiência Da incerta sorte e a condição deserta Das coisas e de mim.“ (RR 146)
„Der Augenblick, der mit dieses Augenblicks Beginn vergeht, ist tot für immer. Ungewiß und nichtig verspricht die Zukunft Einzig mir stets aufs Neue die Erfahrung Eines ungewissen Schicksals und das Verloren-Sein Der Dinge und meiner Selbst.“ (RR 147)
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Im Gegensatz zu Caeiro verfügt Reis über ein ausgeprägtes Zeitbewusstsein. Er denkt unablässig über die Zukunft nach und fürchtet das ungewisse Schicksal. Es gelingt ihm nicht, die Gegenwart ungetrübt zu erleben, da all seine Empfindungen vom Bewusstsein einer existenziellen Unsicherheit überschattet sind: „Saudoso já deste verão que vejo, Lágrimas para as flores dele emprego Na lembrança invertida De quando hei-de perdê-las. Transpostos os portais irreparavéis De cada ano, me antecipo a sombra Em que hei-de errar, sem flores, No abismo rumoroso. E colho a rosa porque a sorte manda. Marcenda, guardo-a; murche-se comigo Antes que com a curva Diurna da ampla terra.“ (RR 28 f.)
„Voll Sehnsucht schon nach diesem Sommer, den ich sehe, Wein Tränen über seine Blumen ich, Voraus erinnernd Ihren baldigen Verlust. Da jeden Jahres Pforte unwiederbringlich Ich durchschritten, nehm ich vorweg in mir das Dunkel, In dem ohne Blumen ich im Abgrund Tausendfachen Raunens irren muß. Die Rose aber pflück ich, weil es das Schicksal will. Welkend bewahr ich sie, damit sie mit mir welke Noch vor der weiten Erde Ewgem Kreislauf.“ (RR 29 f.)
Reis’ Gedicht beginnt damit, dass er den Sommer sieht. Im Gegensatz zu Caeiro, der sich an seiner Schönheit einfach erfreuen und nicht weiter nachdenken würde, kann Reis nicht davon lassen, sofort den bevorstehenden Verlust des Sommers zu antizipieren. Seine Gedanken verdeutlichen paradigmatisch den von Caeiro bekämpften Hang zur ständigen Reflexion und weisen den Ort aus, zu dem sie unweigerlich führen: den „abismo rumoroso“, einen raunenden Abgrund, der die Schönheit der Welt ausschließt. Doch Reis’ Gedichte bleiben nur selten bei einer negativen Darstellung stehen. Meist versucht er, die geschilderte Situation zu wenden und ermahnt sich selbst zu einer inneren Haltung der Gelassenheit, die es möglich machen soll, die Schicksalhaftigkeit des Daseins in all ihren Facetten anzunehmen. So endet das Gedicht in der zweiten Strophe damit, dass Reis sich darauf besinnt, die Rose zu pflücken und im Anblick ihrer welkenden Schönheit den ewigen Kreislauf der Welt akzeptiert. Reis versucht in all seinen Gedichten einen Weg zu finden, mit der Kontingenz des Lebens umzugehen. Er verfolgt eine ‚Poetik der Beruhigung‘, die Frederico Reis, eine von Pessoas zahlreichen ‚literarischen Figuren‘, in einem von Pessoa geplanten Vorwort als „o esforço lúcido e disciplinado para obter uma calma qualquer“83 83
„[E]in hellbewusster, disziplinierter Versuch, eine Form der inneren Ruhe zu erreichen.“ (RR 8)
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charakterisiert. Dieses Streben nach Ruhe und Ordnung spiegelt sich auch in seinen ästhetischen Grundsätzen wider, die besagen, dass die Kunst dem Leben eine Form geben soll: „A arte consiste na organização ideal da materia. A materia, para ser idealmente organizada, tem primeiro que assumir um aspecto ideal o que quer dizer abstracto, pois a abstracção é o começo do ideal – a negação da materia.“ (PPC II 468)84
Im Gegensatz sowohl zu seinem Meister Caeiro als auch zu dem Heteronym Campos betont Reis die Notwendigkeit der Abstraktion. Er vertritt eine intellektuelle Poetik, die darauf abzielt, die Erfahrungen in der Kunst zu ‚idealisieren‘. Anders als Campos, der seine Kunst einzig auf seine Sinneswahrnehmung gründet, erklärt er: „[A] propria sensualidade com a sua animalidade directa devem ser excluidas da arte. Essas coisas não são arte: são vida.“ (PPC II 468) Da das Leben irrational und unvollkommen sei, müsse ihm in der Kunst „o desejo e a vontade de perfeição“ (PPC II 471), der „Wunsch und Wille zur Perfektion“ entgegengesetzt werden. Die Suche nach innerer Gelassenheit zeigt sich auch in seinen Liebesgedichten. Reis ruft häufig eine seiner drei Geliebten Neera, Cloe oder Lídia an, meist um sie an die Vergänglichkeit und Schicksalhaftigkeit des Lebens zu erinnern: „Não queiras, Lídia, edificar no spaço Que figuras futuro, ou prometer-te Amanhã. Cumpre-te hoje, não sperando. Tu mesma és tua vida. Não te destines, que não és futura. Quem sabe se, entre a taça que esvazias, E ela de novo enchida, não te a sorte Interpõe o abismo?“ (RR 28)
„Bau, Lydia, nichts im Raum, Den Du für Zukunft hältst, versprich dir auch Kein Morgen. Erfüll dich heute, warte nicht. Du einzig bist dein Leben. Bestimm dich nicht, du bist nicht künftig. Wer weiß, ob zwischen jenem Kelche, den du leerst, Und jenem, den du wieder füllst, das Schicksal dir nicht Den Abgrund öffnet?“ (RR 29)
Die Frauen selbst bleiben in Reis’ Gedichten unbestimmt, ihre Namen wechseln, ohne dass es möglich ist, ihnen bestimmte Charakterzüge zuzuordnen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass sie in erster Linie eine poetische Funktion erfüllen. Sie werden angerufen, um mit ihnen die Fragilität des Lebens und der Liebe zu er84
„Die Kunst besteht in der idealen Organisation der Materie. Damit die Materie idealerweise organisiert werden kann, muss man zunächst einen idealen, das heißt abstrakten Aspekt annehmen, also ist die Abstraktion der Beginn des Idealen – die Negation der Materie.“ [J.W.]
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örtern und gestatten es Reis überdies, als Lehrmeister aufzutreten, der den Frauen gegenüber zu Gelassenheit mahnt. Diese Ermahnungen zielen nicht zuletzt auf ihn selbst: Die Bezugnahme auf die Liebe bietet ihm eine Möglichkeit, sich seiner Lebensangst zu stellen, indem er der Vergänglichkeit des Lebens den gemeinsam in der Liebe aufgefangenen Augenblick entgegensetzt: „Ah, se o que somos será isto sempre E só uma hora é o que somos, Com tal excesso e fúria em cada amplexo A hausta vida ponhamos, Que encha toda a memória, e nos beijemos Como se, findo o beijo Unico, sobre nós ruisse a subita Mole do inteiro mundo.“ (RR 138)
„Ach, wenn, was wir sind, nur dies sein kann Und nur eine Stunde, was wir sind, Dann laß in jede Umarmung so ungestüm Uns des Lebens Atem legen, Daß wir uns dessen allzeit eingedenk, und laß umfangen uns, Als ob nach diesem einen Kuß mit einem Mal Die ganze Welt über uns zusammenfällt.“ (RR 139)
So wie die Anrufung der Frauen in erster Linie eine poetische Funktion hat, scheint auch die Bezugnahme auf antike Götter maßgeblich der Evokation einer umfassenden Schicksalhaftigkeit der Welt zu dienen. Reis bezieht sich auf die unterschiedlichsten Götter wie Adonis, Saturn, Apoll, Äol, Pluto, Venus, Uranus und Jupiter, spricht von Engeln und Nymphen, einzig um sein Schicksal in ihre Hände zu legen: „Anjos ou deuses, sempre nós tivemos, / A visão confiada de que acima / De nós e compelindo-nos / Agem outras presenças“ (RR 90).85 In seinen späteren Gedichten tauchen immer häufiger stoische Maximen und Lebensanweisungen auf: „Quem quer pouco, tem tudo; quem quer nada / É livre; quem não tem, e não deseja, / Homem, é igual aos Deuses“ (RR 174)86, erklärt er und ruft immer wieder dazu auf, sich von allen Wünschen zu befreien: „Quer pouco: teras tudo. Quer nada: serás livre.“ (RR 172)87 Reis’ Ziel ist es, mit Hilfe seiner Gedichte zu Unsterblichkeit zu gelangen. Lebt Caeiro ganz in der Gegenwart und macht sich über den Tod keine Gedanken, so sind für Reis, der sich unentwegt vor dem Tod ängstigt, Gedichte eine Möglichkeit, gegen den Tod anzuschreiben:
85 86 87
„Ob Engel oder Götter, stets vertrauten / Wir darauf, daß über uns / uns leitend andere Wesenheiten walten.“ (RR 91) „Wer wenig will, hat alles; wer nichts will / Ist frei; wer nichts besitzt und nichts begehrt / Ist ein Mensch den Göttern gleich.“ (RR 175) „Wünsche wenig und du bekommst alles. Wünsche nichts und du wirst frei sein.“ (RR 173)
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„Quero versos que sejam como jóias Para que durem no porvir extenso E os não macule a morte“ (RR 130).
„Verse möchte ich wie Geschmeide, Auf daß sie überdauern in der Zukunft Unermeßlichkeit Und sie der Tod nicht trübe“ (RR 131).
„Seguro assento na coluna firme Dos versos em que fico, Nem temo o influxo inúmero futuro Dos tempos e do olvido“ (RR 12).
„Auf der sicheren Säule Meiner Verse, in denen ich überdaure, Fürcht’ ich den künftigen Ansturm Der Zeiten und des Vergessens nicht“ (RR 13).
Reis’ Gedichte sind bis Ende der zwanziger Jahre aufgrund ihrer wiederkehrenden Themen und des in ihnen immer wieder zum Ausdruck kommenden Strebens nach Beruhigung meist leicht zu erkennen. Diese Kohärenz löst sich erst ab den dreißiger Jahren zunehmend auf. Neben dem immer freier werdenden Stil, der nur wenig zu Horaz und klassischen Reimschemata passt, formuliert er jetzt immer häufiger ebenfalls die Diskrepanz zwischen ‚Allem‘ und ‚Nichts‘, die als Thematik vor allem Álvaro de Campos beschäftigt. Zudem wird in seinem Namen auch immer häufiger die eigene Fiktionalität thematisiert: „Somos contos contando contos, nada“ (RR 188). Schließlich formuliert auch Reis das Bewusstsein einer inneren Multiplizität: „Vivem em nós inúmeros; Se penso ou sinto, ignoro Quem é que pensa ou sente. Sou somente o lugar Onde se sente ou pensa.
„Zahllos sind die, die in uns leben; Wenn ich denke, wenn ich fühle, entgeht mir, Wer da denkt und wer da fühlt. Ich bin nur der Ort, an dem gefühlt wird und gedacht.
Tenho mais almas que uma. Há mais eus do que eu mesmo. Existo todavia Indiferente a todos. Faço-os calar: eu falo.
Mehr Seelen hab ich als nur eine. Und meiner Ichs gibt’s mehr als nur ein einziges. Dennoch leb ich Gleichgültig gegen alle. Bring redend sie zum Schweigen.
Os impulsos cruzados Do que sinto ou não sinto Disputam em quem sou. Ignoro-os. Nada ditam A quem me sei: eu escrevo.“ (RR 200)
Die widerstreitenden Impulse, Was ich fühle und was nicht, Disputieren in dem, der ich bin, Ich beachte sie nicht. Und nichts diktieren sie Dem, als den ich mich kenne: ich schreibe.“ (RR 201)
Reis formuliert hier ein Bewusstsein einer inneren Vielstimmigkeit, das kaum zu seinen bisherigen Themen passt und das deshalb lange Zeit fälschlicherweise Pessoa ipse zugeschrieben wurde. Es zeigt, dass Pessoas ursprünglich klare Aufteilung der Heteronyme in späteren Jahren immer mehr ins Wanken gerät.
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3.3 Álvaro de Campos Schon auf den ersten Blick ist Caeiros Schüler Álvaro de Campos dessen genaues Gegenteil. Campos, der Schiffsbauingenieur, begeistert sich für die moderne Technik und ihre Errungenschaften, er experimentiert mit Drogen, reist in fremde Länder, spricht mehrere Sprachen und feiert die moderne Vielfalt von Lebensstilen. Er wirkt wie eine Korrektur zu Caeiro, der durch ihn mit der Moderne und ihren technischen Entwicklungen konfrontiert wird. In einem Brief, den er an Caeiro verfasst, vergleicht Campos sich selbst mit einem Touristen: „Eu atravesso a vida para olhar para ella. Tudo é paysagem para mim, como para o bom tourist – campos, cidades, casas, fabricas, luzes, bares, mulheres, [...]. Quero, para aproveitar a minha viagem, metter o maior numero de cousas no mais pequeno espaço de tempo possivel. Sentir tudo de todas as maneiras, amar tudo de todas as formas, tocar e ver cousas e não lhes pegar, passar por ellas e não olhar para traz – parece-me o unico destino digno d’um poeta.“ (PPC II 407)88
Die Figur des Touristen, der möglichst viel in möglichst kurzer Zeit wahrnehmen will, weist schon darauf hin, dass Campos vor allem an der Quantität von Sinneserfahrungen gelegen ist. Campos ist eine Figur, die zwischen absoluter Euphorie und totaler Ernüchterung schwankt. In seiner euphorischen Phase, die sich vor allem auf die Jahre 1914-17 erstreckt, verfasst er seine großen Oden, in denen er versucht, sich allen möglichen Sinnesempfindungen hinzugeben, um dadurch seine eigene Subjektivität zu erweitern. Zu Beginn seiner über 40 Strophen umfassenden „Ode Triunfal“, die neben der „Ode Marítima“ zu den beiden Gedichten gehört, die Campos – Pessoa zufolge – am 8. März 1914 im ekstatischen Schreibrausch verfasst hat, heißt es:
88
„Ich durchquere das Leben, um auf es zu schauen. Wie für einen guten Touristen ist für mich alles Landschaft – Felder, Städte, Häuser, Fabriken, Lichter, Bars, Frauen, [...]. Um meine Reise vollkommen auszukosten, möchte ich die größtmögliche Anzahl von Dingen in einem möglichst geringen Zeitraum wahrnehmen. Alles zu fühlen auf jede Weise, alles zu lieben in jeder Form, die Dinge zu erfassen und zu sehen, ohne an ihnen hängenzubleiben, an ihnen vorüberzugehen und nicht zurückzuschauen – das scheint mir das einzige würdige Schicksal eines Dichters zu sein.“ (RdG 76)
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„À dolorosa luz das grandes lâmpadas eléctricas da fábrica Tenho febre e escrevo. Escrevo rangendo os dentes, fera para a beleza disto, Para a beleza disto totalmente desconhecida dos antigos.
„Im schmerzenden Lichte der großen Glühlampen der Fabrik fiebere ich und schreibe. Ich schreibe mit knirschenden Zähnen, Raubtier für diese Schönheit, eine Schönheit, den Alten noch völlig unbekannt.
Ó rodas, ó engrenagens, r-r-r-r-r-r-r eterno! Forte espasmo retido dos maquinismos em fúria! Em fúria fora e dentro de mim, Por todos os meus nervos dissecados fora, Por todas as papilas fora de tudo com que eu sinto! Tenho os lábios secos, ó grandes ruídos modernos, De vos ouvir demasiadamente de perto, E arde-me a cabeça de vos querer cantar com um excesso De expressão de todas as minhas sensações, Com um excesso contemporâneo de vós, ó máquinas!“ [...] (ADC 6)
O Räder, o Triebwerke, unablässiges Rrrrrrrr! Zurückgehaltene Ekstase rasender Maschinen! Rasend in mir und außer mir, durch alle meine bloßgelegten Nerven, durch alle meine Poren außerhalb aller meiner Empfindungsorgane! Meine Lippen sind trocken, dröhnende Gegenwart, weil ich dich allzu nahe höre, und es brennt in meinem Kopf, weil ich maßlos meine Empfindungen alle zum Ausdruck bringen und mit der Maßlosigkeit unserer Zeit euch besingen will, ihr Maschinen!“ [...] (ADC 7)
Campos kennzeichnet sich als vom Fieber ergriffen, im schmerzenden Licht („dolorosa luz“) der Fabriklampen schreibt er mit knirschenden Zähnen seine Ode und besingt die Schönheit der Maschinen, welche die Menschen der Antike nicht gekannt haben. Er preist die Räder und Triebwerke, deren Raserei („fúria“ entspricht im Deutschen eher der „Raserei“ als der „Ekstase“) durch den ihnen eingebauten Mechanismus zurückgehalten wird, eine Raserei, die sich aber auf Campos überträgt und sich in ihm, während er sich den modernen Geräuschen („ruídos modernos“) hingibt, entfesselt. Campos’ Nerven sind nach außen hin bloßgelegt („dissecados fora“), darüber hinaus scheinen sich seine ‚Empfindungsorgane‘ zu vervielfältigen und nach außen hin aufzulösen: „Por todas as papilas fora de tudo com que eu sinto!“ Seine „papilas“, die im Portugiesischen wörtlich „Zungenbläschen“ oder „Brustwarzen“ bezeichnen, sind „fora de tudo“, außerhalb von allem und suggerieren eine sich verselbstständigte kinästhetische Wahrnehmung. Campos begibt sich so nahe wie möglich an den Puls der Zeit („demasiadamente de perto“), sein Kopf brennt angesichts seines Wunsches, so maßlos zu sein wie die Maschinen. Im Verlauf des Gedichts stei-
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gert er sich in eine immer größer werdende Ekstase hinein, die sich im immer schneller werdenden Rhythmus und der Anhäufung von Neologismen, Onomatopoetika und Ausrufen äußert. Campos versucht sich mit allem um ihn herum zu identifizieren: Maschinen, Personen, Städte; er versucht die gesamte Welt in sich aufzusaugen und in sein Bewusstsein zu integrieren. Seine „furía“ steigert sich immer mehr, bis er schließlich in der letzten Strophe nur noch aus Eindrücken zu bestehen scheint:
Galgar com tudo por cima de tudo! Hup-lá! Hup-lá, hup-lá, hup-lá-hô, hup-lá! Hé-la! He-hô! Ho-o-o-o-o! Z-z-z-z-z-z-z-z-z-z-z-z!
„Ich weiß nicht mehr, ob mein Inneres lebt. Ich kreise und kreise und werde Triebkraft. Ich werde an alle Züge gekuppelt. Ich werde auf allen Kais gehißt. Ich kreise in allen Schrauben der Schiffe. Heio! Heio! Heiaho! Heio! Ich bin die Reibungswärme! Ich bin die Elektrizität! Heio! Ich bin die Schienen! Ich bin die Maschinenhäuser! Ich bin Europa! Heiaho! Und Hurra für mein Alles-Ich, und für alles, für die arbeitenden Maschinen! Heiaho! Mit allem hinwegspringen über alles.Hoppla! Hoppla, hoppla, hoppla, hoppla! Hela! Helo! Helaho! Zzzzzzzzzzzzzzzzzzzzz!
Ah não ser eu toda a gente e toda a parte!“ (ADC 18 f.)
Ah, daß ich nicht alle Menschen und überall bin!“ (ADC 19 f.)
„Nem sei que existo para dentro. Giro, rodeio, engenho-me. Engatam-me em todos os comboios. Içam-me em todos os cais. Giro dentro das hélices de todos os navios. Eia! eia-hô! eia! Eia! sou o calor mecânico e a electricidade! Eia! e os rails e as casas de máquinas e a Europa! Eia e hurrah por mim-tudo e tudo, máquinas a trabalhar, eia!
Campos’ „Ode Triunfal“ zeigt exemplarisch, wie man sich eine Explosion der Sinneswahrnehmung vorzustellen hat. In seiner Begeisterung löst Campos sich in kreisenden Bewegungen („giro, rodeio, engenho me“) auf, sodass er schließlich nur noch aus Sinneswahrnehmungen zu bestehen scheint und über kein Inneres mehr verfügt: „Nem sei que existo para dentro“. Diese Auflösung kulminiert in der vollständigen Angleichung an die Umwelt: „sou o calor mecânico e a electricidade!“ Campos, der in seiner theoretischen Schrift Apontamentos para uma estética não-aristotélica eine Auflösung des Dogmas der Persönlichkeit fordert, versucht seine eigene Subjektivität paradoxerweise dadurch aufzulösen, dass er seine Sinneswahrnehmungen absolut setzt, ohne dass sie wie bei den beiden anderen Heteronymen noch an die Existenz einer objektiven Realität gekoppelt werden.
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Kommen wir noch einmal auf die schon genannten Wahrnehmungsvorgaben zurück, die Pessoa seinen Heteronymen gab. Bezieht man die Gedichte der drei Heteronyme auf Pessoas theoretische Überlegungen, so lassen sich die verschiedenen wahrnehmungsbeschränkenden Vorgaben für seine Heteronyme auch als unterschiedliche erkenntnistheoretische Positionen ausmachen: Pessoas Bestimmung zu Caeiro lautete: „Caeiro has one discipline: things must be felt as they are“ (PIL 342).89 Vor dem Hintergrund seiner Gedichte wird deutlich, dass damit der Versuch gemeint ist, sich der objektiven Realität unter vollkommener Ausschaltung der Reflexion anzunähern: ein Experiment, für das es in der Philosophiegeschichte kein Pendant gibt und das als weiterer Grund angeführt werden könnte, um zu erklären, weshalb die Lyrik Caeiros’ auf viele Leser so fremd wirkt. Im Gegensatz dazu vertritt Reis („Ricardo Reis has another kind of discipline: things must be felt not only as they are, but also so as to fall in with a certain ideal of classic measure and rule“, ebd.) eher eine kantianische Position, indem er versucht, Empfindungen oder sinnliche Erfahrungen und Verstandesleistungen wohlgeordnet zusammenzuführen. Campos’ Sichtweise („In Álvaro de Campos things must be simply felt“, ebd.) schließlich kommt mit ihrem absoluten Gestus einem idealistischen Holismus am nächsten, einer großen Einheit, in der es keinen Unterschied zwischen Sinnlichkeit und Verstand gibt und in der die Realität sich vollkommen mit dem Erkennbaren oder Wahrnehmbaren deckt. Campos fokussiert seine Empfindungen, ohne sie von den Verstandesleistungen abzusetzen. Wie in der „Ode Triunfal“, in der er sowohl von seinen „nervos dissecados“ als auch von seinen Empfindungsorganen („todas as papilas“) spricht, werden bei Campos diese beiden Elemente der Wahrnehmung nicht mehr gegeneinander gesetzt und auf eine unabhängige Realität bezogen. Stattdessen sollen sie zusammenwirken und sich gegenseitig intensivieren, um dadurch eine vollkommen andere Form von Wahrnehmung zu erzeugen. Seine Erkenntnis bezieht sich nicht mehr auf eine äußere Realität, die abgebildet werden soll, sondern schafft sich über Veränderungen der Wahrnehmung eine neue Wirklichkeit. Dieser Holismus der exzessiven Wahrnehmung, welche letztlich auf eine alle Unterscheidungen von Intellekt und Sinnlichkeit überschreitende Realität zielt, wird auch in Afinal angesteuert: 89
Vgl. meine Ausführungen zu Pessoas Sensacionismo in Kapitel 2.1.
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„Afinal, a melhor maneira de viajar é sentir. Sentir tudo de todas as maneiras. Sentir tudo excessivamente, Porque todas as coisas são, em verdade, excessivas E toda a realidade é um excesso, uma violência, Uma alucinação extraordinariamente nítida Que vivemos todos em comum com a fúria das almas, O centro para onde tendem as estranhas forças centrífugas Que são as psiques humanas no seu acordo de sentidos.
„Im Grunde reist man am besten, indem man fühlt. Alles auf jegliche Weise fühlt. Alles unmäßig fühlt, weil alle Dinge im Grunde unmäßig sind, und die ganze Wirklichkeit eine Ausschweifung ist, ein Gewaltakt, eine lichtscharfe Halluzination, die wir gemeinsam im Rasen der Seelen erleben, dem Mittelpunkt, wohin sich all die zentrifugalen Kräfte drängen: die menschlichen Psychen in ihrer Sinneneintracht.
Quanto mais eu sinta, quanto mais eu sinta como várias pessoas, Quanto mais personalidade eu tiver, Quanto mais intensamente, estridentemente as tiver, Quanto mais simultâneamente sentir com todas elas, Quanto mais unificadamente diverso, dispersadamente atento, Estiver, sentir, viver, for, Mais possuirei a existência total do universo, Mais completo serei pelo espaço inteiro fora. Mais análogo serei a Deus, seja ele quem for, Porque, seja ele quem for, com certeza que é Tudo, E fora d'Ele há só Ele, e Tudo para Ele é pouco.“ (ADC 256)
Je mehr ich zu fühlen, wie verschiedene Personen zu fühlen vermag, je mehr Persönlichkeit ich besitze, je heftiger, schriller ich sie besitze, je gleichzeitiger ich fühle mit ihnen allen, je einig-verschiedener, je geteilt-aufmerksamer ich fühle, lebe und bin, desto mehr besitze ich die Totalität des Weltalls, desto vollständ’ger werde ich sein im gesamten Weltraum. Desto mehr kann ich sein wie Gott, er sei, wer auch immer, weil Gott, er sei wer auch immer, mit Sicherheit Alles ist, und außer Ihm einzig Er ist und Alles nur wenig für Ihn.“ (ADC 257)
Campos erklärt die Wirklichkeit zu einer kollektiven Halluzination der Menschen: „toda a realidade é um excesso, uma violência / Uma alucinação extraordianariamente nítida / Que vivemos todos em comun“. Diesen Kräften, die zentrifugal auf die Seele des Menschen einwirken und sie formen, setzt er unermüdlich sein zentripetales Programm der Ich-Auflösung entgegen. Desto mehr verschiedene Kräfte er in sich aufnimmt, desto eher wirkt er einer Subjektzentrierung entgegen und ermöglicht sich eine „existência total do universo“.
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4. Der implodierte Text: Ich-Aufspaltungen im Livro do desassossego Schon ein erster Blick auf die vielen widersprüchlichen Fragmente des Livro do desassossego zeigt, dass die in der Heteronymie zumindest zu Anfang noch auffindbare Ordnung im Livro gänzlich verloren geht. Im Gegensatz zu der nach außen gerichteten Vervielfältigung von Sichtweisen auf divergente, aber in sich weitgehend kohärente Positionen, scheint es, als ob der Livro ‚implodiert‘. Wie bei einer Implosion, bei der ein Druckgefälle zwischen Innen und Außen dazu führt, dass äußere Partikel gewaltsam ins Innere des Druckvakuums gezogen werden, scheint auch im Livro ein ‚innerer Unterdruck‘ zu herrschen, der die verschiedenen Inhalte aller Heteronyme absorbiert. Da die einzelnen Fragmente des Buches sehr unterschiedliche Themen umkreisen, ohne dass man dabei wie bei den Heteronymen eine vorherrschende Wahrnehmungsform oder einen dominierenden Stil erkennen könnte, hat Jorge de Sena den Livro als „uma espécie de refugo de tudo“90 bezeichnet, in dem sich die verschiedenen Geisteshaltungen aller Heteronyme wiederfinden. Sena führt die Heterogenität des Livro darauf zurück, dass es in Prosa schwieriger sei, zu einer distinkten, eigenen Form zu gelangen. Er folgt damit Pessoas eigenen Angaben, der – ohne je genauere Gründe anzuführen – immer wieder schrieb, dass die Heteronymie nur in der Lyrik möglich sei. Ausgehend von der These, dass die von Pessoa und Sena herangezogene Divergenz zwischen Lyrik und Prosa für die Heteronymie eher zweitrangig ist – schließlich spricht prinzipiell nichts dagegen, den Lyrikern einen Prosaautor gegenüberzustellen –, möchte ich im Folgenden den Blick wieder auf die angewandte Schreibpraxis des Textes lenken, um die tieferliegende Dynamik des Livro freizulegen. Obwohl auch der Livro im Namen eines „Semi-Heteronyms“ verfasst ist, unterliegt seine Schreibpraxis keinerlei Vorgaben. Im Gegensatz zur Heteronymie, die als eine an das Pastiche angelehnte Schreibpraxis gedeutet wurde, mit der Pessoa versucht, durch bestimmte klar definierte Wahrnehmungsvorgaben unterschiedliche Sichtweisen zu explorieren, die aber aufgrund der ihr eigenen Dynamik der Simulation zunehmend entgrenzt, zeichnet sich die Schreibpraxis des Livro von Anfang an durch große Of90
Sena, Jorge de: Fernando Pessoa & Cia. Heterónima. Lissabon 1982, S. 57. „Eine Art Refugium für alles.“ [J.W.]
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fenheit und Ungebundenheit aus. Diese freie und unkontrollierte Art des Schreibens kann mit der ‚écriture de soi‘ verglichen werden, die Foucault in seinen historischen Untersuchungen zu antiken Selbstpraktiken untersucht hat.91 Liest man den Livro vor der Folie einer der prominenten Formen der ‚écriture de soi‘, den Hypomnemata (griech. Rechnungs- oder Erinnerungsbücher), so eröffnet sich eine Perspektive auf Pessoas Gesamtwerk, die den Livro nicht nur als Gegenstück zur Heteronymie, sondern als auf sie bezogene und sie erweiternde Praxis erkennbar werden lässt. Ähnlich wie in der antiken Praxis der Hypomnemata, bei der Texte anderer Autoren in einer zirkulären Praxis des Lesens, Aufschreibens, Meditierens und Wiederlesens zur eigenen Meinungsbildung herangezogen und reflektiert werden, zielt auch die Schreibpraxis des Livro darauf, sich die Wahrnehmungsweisen der Heteronyme nochmals zu vergegenwärtigen und sie in einer ähnlichen Bewegung in die eigene Subjektivität zu überführen. Diese Bewegung wird im Anschluss an die von Deleuze in Auseinandersetzung mit Foucault verwendete Metapher des „pli“ als eine „Einfaltung“ gedeutet und auf ihr Potenzial als selbstschöpferische Form der Subjektkonstitution hinterfragt. Der Livro bildet kein kohärentes, abgeschlossenes Textkorpus, sondern setzt sich aus einer Ansammlung von zum Teil undatierten Schriftstücken zusammen, die mit dem Vermerk „L. do D.“ gekennzeichnet, nach Pessoas Tod in einer seiner Truhen gefunden wurden.92 Pessoa hat etwa zeitgleich mit der Entstehung seiner Heteronymie damit begonnen, Texte für den Livro zu verfassen, und dies bis zu seinem Lebensende fortgeführt. Die einzelnen Fragmente, die selten mehr als drei Seiten umfassen, sind Gedankennotizen, die sich meist an einer Beobachtung, einem Ereignis oder etwas Gelesenem entzünden und zu Papier gebracht werden. Die textgenetischen Untersuchungen von Teresa Rita Lopes haben ergeben, 91
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Ich folge mit dieser Lesart der Deutung von Jörg Dünne, der Pessoas Livro zum ersten Mal mit den Hypomnemata in Verbindung gebracht hat. Im Unterschied zu Dünne deute ich den Livro jedoch nicht als ein ungeordnetes Gegenstück, sondern als eine Schreibpraxis, die sich auf die Heteronymie bezieht und diese in sich zu integrieren versucht. Vgl. Dünne: Selbstpraxis und Sensationismus, S. 180 f. Dies hat dazu geführt, dass die erste Edition des gesamten Buches erst 1982, 47 Jahre nach Pessoas Tod, erschien. Da Pessoas Angaben zu möglichen Publikationsformen wieder einmal variieren, steht jede Edition vor der letztlich unlösbaren Problematik, wie die einzelnen Fragmente anzuordnen sind. Vgl. hierzu auch Castro: Editar Pessoa, S. 32 f.
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dass die Texte zunächst unabhängig von ihrem späteren ‚Autor‘ Bernardo Soares entstanden sind. Lopes bezeichnet das Buch als eine Art „Zwischenlager“ („casa-armazem“93) für Texte, die Pessoa in seinem System der Heteronymie nicht unterzubringen wusste. Nachdem Pessoa eine Zeit lang die literarische Persönlichkeit Vicente Guedes als möglichen Autor favorisierte, entschied er sich erst in den dreißiger Jahren, die Autorschaft für den Livro an Bernardo Soares zu übertragen. Obwohl Pessoa im Vorwort des Livro, als dessen Herausgeber er auftritt, Soares beschreibt und auch seine Lebensgewohnheiten schildert, bleibt dieser im Vergleich zu den anderen Heteronymen eher unscheinbar. Er zeichnet sich weniger durch einen distinkten Charakter als vielmehr durch seine Ähnlichkeit zu Pessoa aus. Dieser macht aus seiner Nähe zu seinem SemiHeteronym keinen Hehl: „[Soares] aparece sempre que estou cansado ou sonolento, de sorte que tenha um pouco suspensas as faculdades de raciocínio e de inibição. [...] Sou eu, menos a raciocínio e a afectividade.“ (EI 230)94 Zugleich macht er im Vorwort zum Livro unmissverständlich deutlich, dass es sich bei Soares um eine seiner Masken handelt: „Mas – apesar de ter vivido sempre com uma falsa personalidade sua, e de suspeitar que nunca ele me teve realmente por amigo – percebi sempre que ele alguém havia de chamar a si para lhe deixar o livro que deixou.“ (LD 41)95 Die Übertragung des Livro an Soares ist nicht nur ein Kunstgriff, um eine autobiographische Lesart der Texte abzuwenden; in der Doppelung von Fernando Pessoa und Bernardo Soares eröffnet sich zugleich ein Zwischenraum für einen anderen ästhetischen Selbstbezug, den Pessoa/Soares auch selbst immer wieder benennt: „Sou o intervalo entre o que sou e o que não sou, entre o que o sonho e a vida fez de mim, a média abstracta e carnal entre coisas que não são nada, sendo eu nada também.“ (LD 210)96 Dieser Zwischen93 94
95
96
Vgl. Lopes: Pessoa por Conhecer, S. 116. „[Soares] erscheint immer, wenn ich müde und schläfrig bin, so daß er ein wenig die Qualitäten der Nachdenklichkeit und der Hemmung hat. [...] Ich bin weniger rational und affektiv.“ (RdG 30) „Doch – wenngleich ich immer hinter der Maske einer fremden Persönlichkeit gelebt habe, nämlich der seinen, und vermutete, daß er mich niemals als wahrhaften Freund betrachten würde – war mir stets bewußt, daß er jemanden an sich ziehen würde, um ihm das Buch zu hinterlassen, das er in der Tat hinterließ.“ (BdU 9) „Ich bin der Raum zwischen dem, was ich bin und dem, was ich nicht bin, zwischen dem, was ich träume und dem, was das Leben aus mir gemacht hat, der
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raum zwischen „dem, was ich bin und dem, was ich nicht bin“, den Pessoa/Soares im Schreiben aufsucht, bietet einen Raum für eine alternative Selbstkonstitution, die nun vor dem Hintergrund der ‚écriture de soi‘ und dem von Deleuze entwickelten Konzept eines sich in Faltungen gestaltenden Subjekts vorgestellt werden soll. In seinen späten Schriften hat sich Foucault in einer vielbeachteten subjektphilosophischen Wende den positiven Möglichkeiten der Selbstgestaltung des Subjekts zugewandt.97 Thematisierte er in seinen machtanalytischen Schriften bis in die Mitte der siebziger Jahre die Unterwerfung („assujettissement“) des Subjekts unter moderne Machttechniken, die dieses disziplinieren und kontrollieren, so werden in seinen späten Schriften zunehmend die positiven Zwischenräume und Möglichkeiten ausgelotet, die das Subjekt gegenüber äußeren Diskurs- und Machtansprüchen für sich behaupten kann („subjectivation“). Diese Verschiebung erfolgt im Zuge seiner Untersuchungen zur Histoire de la sexualité. Bei seiner Arbeit an diesen Büchern stößt Foucault auf eine antike Tradition von Praktiken, bei denen er einen Spielraum für ein Selbstverhältnis der Selbstsorge entdeckt, das sich der Kontrolle von äußeren Mächten und Diskursen partiell zu entziehen vermag. Zu diesen Praktiken zählt neben Meditation, Gymnastik, Körperpflege und Diätik auch die ‚écriture de soi‘, die „nicht etwa mit Hilfe der Niederschrift einen vorgängigen Charakter des Selbst nachträglich festschreibt, sondern die das Selbst des Schreibenden vielmehr im Akt der Schrift entwirft, gestaltet, transformiert und ihm somit im Medium der Schrift die Begründung eines Selbstverhältnisses (französisch rapport à soi) ermöglicht.“98 Diese Schreibweise entwickelt sich vor allem in antiken Erinnerungsbüchern, griechisch Hypomnemata, die Foucault zufolge im ersten und zweiten Jahrhundert nach Christus zu großer Beliebtheit gelangen:
97
98
abstrakte und körperliche Mittelwert zwischen den Dingen, die nichts sind, da ich ebenfalls nichts bin.“ (BdU 208) Vgl. v. a. Foucault, Michel: L’Usage des plaisirs – Histoire de la sexualité II. Paris 1984; Ders.: Le souci de soi – Histoire de la sexualité III. Paris 1984; Ders.: L’écriture de soi; Ders.: L’Herméneutique du sujet: Cours au Collège de France (1981-1982). Paris 2001. Teuber, Bernhard: „Von der Lebensbeichte zur kontemplativen Selbstsorge. Autobiographisches Schreiben als Ästhetik mystischer Existenz bei Teresa von Avila“. In: Moog-Grünewald: Autobiographisches Schreiben, S. 57.
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„Les hupomnêmata, au sens technique, pouvaient être des livres de compte, des registres publics, des carnets individuels, servant d’aidemémoire. Leur usage comme livre de vie, guide de conduite semble être devenu chose courante dans tout un public cultivé. On y consignait des citations, des fragments d’ouvrage, des exemples et des actions dont on avait été témoin ou dont on avait lu le récit, des réflexions ou des raisonnements qu’on avait entendus ou qui était venues à l’esprit.“99
Foucault charakterisiert die sich in den Hypomnemata entfaltende Schreibpraxis als eine „pratique réglée et volontaire du disparate“100. Im Gegensatz zu Tagebüchern oder Autobiographien zielt das hypomnematische Schreiben weder auf Selbstdarstellung noch darauf, ein verborgenes Inneres zu enthüllen, sondern ist in erster Linie eine Praxis („exercice personnel“101) des Lesens, Schreibens, Meditierens und Wiederlesens. In der Auseinandersetzung mit fremden Sichtweisen, Moralvorstellungen und Überlegungen, die schriftlich fixiert und reflektiert werden, erkennt Foucault die Möglichkeit einer Einübung seiner Selbst, bei der das Subjekt die fremden Lehrmeinungen und Sichtweisen nicht einfach reproduziert, sondern reflektierend eigene Überzeugungen ausbildet. Gerade darin liege eine ethopoetische, d.h. charakterbildende Funktion: „rassembler ce qu’on a pu entendre ou lire, et cela pour une fin qui n’est rien de moins que la constitution de soi“102. Das sich in dieser Praxis bildende Subjekt gründet sich nicht auf Erkenntnis, sondern entwirft und transformiert sich im Akt der Schrift immer neu. Deleuze, der wie Foucault von äußeren, das Subjekt durchdringenden Diskursen und Mächten ausgeht, erkennt in dieser Selbstkonstitution eine besondere Form der Aneignung äußerer Diskurse. In „Les plissements, ou le dedans de la pensée (subjectivation)“ überträgt er seine räumliche Metapher der Falte („le pli“) auf Foucaults Überlegungen.103 Das von Foucault dargestellte antike Subjekt könne nicht als ein Subjekt gedacht werden, das über ein a priori begründetes Inneres verfüge, sondern sei vielmehr vorzustellen als eines, das sich sein Inneres als eine Falte des Äußeren
99 100 101 102 103
Foucault: L’écriture de soi, S. 418. Ebd., S. 421. Ebd., S. 417. Ebd., S. 419. Vgl. Deleuze, Gilles: „Les plissements, ou le dedans de la pensée (subjectivation)“. In: Ders.: Foucault. Paris 1986, S. 101-130.
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gestaltet. Die Metapher der Falte impliziert im Gegensatz zur Spiegelung, dass dabei das Äußere im Inneren des Subjekts nicht reproduziert, sondern neu angeordnet wird. In der Bewegung der Umfaltung, die man sich als ‚Einstülpung‘ vorstellen kann, entstehen immer mehrere Doppelungen, Faltensäume und Einbuchtungen, entlang derer das Subjekt die äußeren Diskurse im Inneren neu anordnet. Dadurch entsteht im Inneren des Subjekts ein neuer Raum für die von Foucault beschriebene Selbstgestaltung: „C’est comme si les rapports du dehors se pliaient, se courbaient pour faire une doublure, et laisser surgir un rapport à soi, constituer un dedans qui se creuse et se développe suivant une dimension propre: ‚l’enkrateia‘, le rapport à soi comme maîtrise ‚est un pouvoir qu’on exerce sur soi-même dans le pouvoir qu’on exerce sur les autres‘“104.
Das sich auf diese Weise konstituierende Subjekt ist weder vollständig durch Diskursformationen bestimmt, noch ist es ein autonomes, starkes Subjekt. Es entsteht vielmehr auf der Grenze zwischen Innen und Außen. Deleuze stellt sich die Subjektfaltung nicht als ein einmaliges Ereignis, sondern als einen unabschließbaren Prozess der Subjektivierung vor, bei der immer neue Diskurse ins Innere des Subjekts ‚eingestülpt‘ werden. Die fortgesetzten Faltungen erzeugen dabei die innere Landschaft einer sich fortwährend neu gestaltenden Subjektivität: „les plis varient, et chaque pli va différant. Il n’y a pas deux choses pareillement plissées, pas deux rochers, et pas de pli régulier pour une même chose.“105 Die Schreibpraxis des Livro ähnelt in mehrfacher Hinsicht derjenigen der Hypomnemata. Wie das Schreiben von Hypomnemata erwies sich auch das Schreiben des Livro als unabschließbare Praxis, die, wie die Textgenese gezeigt hat, nicht unter konkreten Zielsetzungen erfolgte. Pessoa/Soares betont, dass er nur schreibe, um seine Unaufmerksamkeit zu beschäftigen: „para dar um trabalho à minha desatenção“ (LD 99). Seine Aufzeichnungen seien lediglich eine Sammlung von disparaten Eindrücken, die ins Leere laufen: „Nestes impressões sem nexo, nem desejo de nexo, narro indiferentemente a minha autobiografia sem factos, a minha história sem vida. São as minhas Confissões, e, se nelas nada digo, é que nada 104 105
Deleuze: Foucault, S. 107. Deleuze zitiert hier Foucault aus L’Usage de plaisirs, S. 93 f. Deleuze: Pourparlers 1972-1990. Paris 1990, S. 213 f.
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tenho que dizer.“ (LD 54)106 Sein Schreiben ist in erster Linie auf ihn selbst ausgerichtet und zielt darauf, eine innere Haltung der Gelassenheit zu erreichen. Ähnlich wie Ricardo Reis’ Gedichte beginnen auch Soares’ Aufzeichnungen häufig mit der Schilderung einer inneren Unruhe, die er dann versucht schreibend in eine neutrale Haltung innerer Ruhe zu überführen. Der Akt des Schreibens scheint dabei eine beruhigende Wirkung auszuüben, die körperlich wahrgenommen wird: „Isto de nada me serve, pois nada me serve de nada. Mas desapoquento-me escrevendo, como quem respira melhor sem que a doença haja passado“ (LD 315).107 Im Unterschied zu den antiken Hypomnemata spielt die Auseinandersetzung mit fremden Texten in der Praxis des Livro eine untergeordnete Rolle. Es werden nur selten Texte von anderen Autoren zitiert; wo dies geschieht, erfolgt die Aneignung von anderen ‚Meinungen‘ jedoch stets in der unkonventionellen Manier der Hypomnemata: Autoritäten werden zusammenhangslos angeführt, um über einen Sachverhalt nachzudenken und sich darüber eine eigene Meinung zu bilden. Zu der Auseinandersetzung mit fremden Autoren kommt im Livro die Auseinandersetzung mit den eigenen Autoren (Heteronymen). Deren Sichtweisen werden, ähnlich wie die fremder Autoren in der Praxis der Hypomnemata, in die eigene Subjektivität überführt. Dies geschieht auf zweierlei Arten. Zum einen liest Soares die Texte seiner Heteronyme und zitiert und reflektiert ihre Sichtweisen. Dies erfolgt nur relativ selten (vgl. etwa Fragment 46). Meist wählt Soares den ‚direkteren‘ Weg, der es ihm ermöglicht, die Meinungen seiner Heteronyme ohne den Umweg über deren Schriften zu rezipieren: das Träumen („sonhar“). Soares bezeichnet Träumen als einen „estado de falta de alma“ (LD 79)108, der zwischen Wachen und Schlafen liegt: „durmo e desdurmo“ (LD 67). Man darf ihn allerdings keineswegs mit Schläfrigkeit verwechseln: „Não durmo. ENTRESOU. Tenho vestígios na consciência“ (LD 271)109. Dieser Zwischenzustand führt zu einer übermäßigen Schärfe der Empfin106
107 108 109
„Vermittels dieser Eindrücke ohne Zusammenhang und ohne den Wunsch nach Zusammenhang erzähle ich gleichmütig meine Autobiographie ohne Fakten, meine Geschichte ohne Leben. Es sind meine Bekenntnisse und, wenn ich in ihnen nichts aussage, so, weil ich nichts zu sagen habe.“ (BdU 25) „Doch Schreiben beruhigt mich, es ist wie ein Luft-holen-Können (sic!) für einen, der an Atemnot leidet.“ (BdU 329) „Zustand seelischer Abwesenheit“ [J.W.] „Ich schlafe nicht. Ich bin zwischen. Bewußtseinsspuren bleiben.“ (BdU 280)
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dungen (vgl. auch LD 155), die es ermöglicht, sich die verschiedenen Sichtweisen und Erfahrungen seiner Heteronyme gleichzeitig zu vergegenwärtigen: „De tal modo anteponho o sonho à vida que consigo, no trato verbal (outro não tenho), continuar sonhando, e persistir, através das opiniões alheias e dos sentimentos dos outros, na linha fluida da minha individualidade amorfa. Cada outro é um canal ou uma calha por onde a água do mar só corre a gosto deles, marcando, com as cintilações da água ao sol, o curso curvo da sua orientação mais realmente do que a secura deles o poderia fazer. Parecendo às vezes, à minha análise rápida, parasitar os outros, na realidade o que acontece é que os obrigo a ser parasitas da minha posterior emoção. Habita o meu viver as cascas das suas individualidades. Decalco as suas passadas em argila do meu espírito e assim mais do que eles, tomando-as para dentro da minha consciência, eu tenho dado os seus passos e andando nos seus caminhos. Em geral, pelo habito que tenho de, desdobrando-me, seguir ao mesmo tempo duas, diversas operações mentais eu, ao passo que me vou adaptando em excesso e lucidez ao sentir deles, vou analisando em mim o desconhecido estado da alma deles, fazendo a análise puramente objectiva do que eles são e pensam. Assim entre sonhos, e sem largar o meu devaneio ininterrupto, vou, não só vivendo-lhes a essência requintada das suas emoções às vezes mortas, mas compreendendo e classificando as lógicas interconexas das várias forças do seu espírito que jaziam às vezes num estado simples da sua alma. E no meio disto tudo a sua fisionomia, o seu traje, os seus gestos, não me escapam. Vivo ao mesmo tempo os seus sonhos, a alma do instinto e o corpo e atitudes deles. Numa grande dispersão unificada, ubiquito-me neles e eu crio e sou, a cada momento da conversa, uma multidão de seres, conscientes e inconscientes, analisados e analíticos, que se reúnem em leque aberto.“ (LD 288 f.)110 110
„Ich stelle den Traum derart dem Leben voran, daß es mir gelingt – im verbalen Umgang (einen anderen habe ich nicht) – weiterzuträumen und durch fremde Meinungen und fremde Gefühle auf der fließenden Linie meiner amorphen Persönlichkeit fortzubestehen. Die anderen sind Kanäle oder Rinnen, in denen das Meerwasser nur nach ihrem Gedanken fließt und durch sein Glitzern in der Sonne ihre krummen Gedankenläufe wirklicher zeigt, als ihre Trockenheit dies je könnte. Bei rascher Analyse scheint mir mitunter, daß ich ein Parasit der anderen bin, in Wirklichkeit aber nötige ich sie, Parasiten meiner künftigen Gefühlsregungen zu sein. Ich lebe und wohne in den Gehäusen ihrer Persönlichkeiten. Ich präge ihre Schritte meinem Geist ein, und nehme sie so tief ins Bewußtsein auf, daß letztlich ich es bin, der diese Schritte vollzogen hat und diese Wege gegangen ist. Da ich die Gewohnheit habe mich aufzuspalten, und gleichzeitig zwei oder
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Pessoa/Soares begibt sich in den Zustand des Träumens, der es ihm ermöglicht, simultan auf der fließenden Linie seiner eigenen amorphen Persönlichkeit fortzubestehen und die fremden Meinungen und Gefühle „dos outros“ wahrzunehmen. Die Heteronyme werden von ihm mit „Rinnen“ oder „Kanälen“ verglichen, in denen das Wasser nur „a gosto deles“, nach ihrer Sichtweise, fließt, wobei die Schönheit ihrer jeweiligen „krummen Gedankenläufe“, die im Sonnenlicht glitzern, dem Beobachter aus der Vogelperspektive in diesem Bild besonders ersichtlich ist. Dem eigenen fließenden Subjektzustand, in dem sich die eigenen Grenzen bis zur Konturlosigkeit auflösen, werden die ‚kanalisierten‘ und gelenkten Wahrnehmungsweisen der Heteronyme entgegengesetzt, die gerade wegen ihrer geführten Ausrichtung deutlich wahrgenommen werden können. Pessoa/Soares charakterisiert sich als einen „Parasit“, der in den Persönlichkeiten der anderen wohne, korrigiert sich dann aber und erklärt sie zu Parasiten seiner eigenen zukünftigen Gefühlsregungen: „na realidade o que acontece é que os obrigo a ser parasitas da minha posterior emoção“. (ebd.) Es handelt sich um eine zweifache Bewegung: Einerseits dringt er in ihre Persönlichkeiten ein und nimmt ihre Gewohnheiten so tief in sich auf, dass sie zu seinen eigenen werden, andererseits verfügt er über ausreichend intellektuelle Distanz, um zu einer „rein objektiven Analyse ihres Seins und Denkens zu kommen“. Pessoa/Soares’ Äußerungen können als Versuch angesehen werden, die im Schreiben der Heteronymie simulierten/erfahrenen fremden Sichtweisen nochmals zu evozieren und in die eigene Subjektivität zu überführen („tomando-as para dentro da minha consciência“). Dabei kommt ihm seine Gewohnheit des Sich-Aufmehreren Gedankengängen folge, kann ich, indem ich mir die Art des Fühlens anderer mit äußerster Klarheit zu eigen mache, in mir, ihren mir unbekannten Seelenzustand analysieren und zu einer rein objektiven Analyse ihres Seins und Denkens kommen. So, zwischen Träumen, ohne meine Träumerei auch nur für einen Augenblick zu unterbrechen, durchlebe ich nicht nur die Quintessenz ihrer bisweilen abgestorbenen Emotionen, sondern ergründe und ordne auch noch die innere Logik ihrer verschiedenen, bisweilen noch auf dem Seelengrund schlafenden Geisteskräfte ein. Und bei alledem entgeht mir nichts – nicht ihre äußere Gestalt, nicht ihre Kleidung, noch ihre Gesten. Ich erlebe zugleich ihre Träume, ihre triebhafte Natur, ihren Körper und ihre Verhaltensweisen. In einer großen geeinten Zersplitterung bin ich überall zugleich in ihnen, und ich erschaffe und bin in jedem Augenblick unseres Gesprächs eine Vielfalt bewußter wie unbewußter, analysierter wie analytischer Wesen, die sich zu einem weit offenen Fächer vereinen.“ (BdU 299 f.)
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spaltens zu Gute: Sie ermöglicht ihm, die verschiedenen Seelenzustände („estado da alma deles“) parallel zu fühlen und zu analysieren. Auf diese Weise ist es Pessoa/Soares (man könnte auch sagen Pessoa/Soares/Caeiro/Reis/Campos) möglich, eine Vielheit von verschiedenen Wesen simultan zu sein: „In einer großen geeinten Zersplitterung bin ich überall zugleich in ihnen, und ich erschaffe und bin in jedem Augenblick unseres Gesprächs eine Vielfalt bewußter wie unbewußter, analysierter wie analytischer Wesen, die sich zu einem weit offenen Fächer vereinen.“111 Das Spiel der Heteronymie, dessen Ziel es ist, „alles auf alle Weisen zu fühlen“, kommt erst im ‚träumenden Schreiben‘ des Livro zu seiner vollständigen Entfaltung. Das Schreiben im Namen der Heteronyme ist nur ein erster Schritt der Ich-Vervielfältigung Pessoas. In ihr ist zwar eine einfühlende Wahrnehmung anderer Formen von Subjektivität möglich, diese wird aber noch als ‚parasitär‘, d.h. als außerhalb der eigenen Subjektivität erfahren. Zudem ist sie zunächst immer singulär. Der Livro bietet die Möglichkeit, die erfahrenen Zustände der Entgrenzung nochmals zu erinnern, sie in Anlehnung an die Praxis der Hypomnemata schreibend und träumend zu wiederholen und damit in die eigene Subjektivität zu integrieren. Auf diese Weise wird diese zu einem „gefalteten Fächer“, der im Gegensatz zum Schreibakt der Heteronymie, der immer nur eine Sichtweise auf einmal zuließ, nun die simultane Erfahrung von mehreren Sichtweisen möglich macht. So entgrenzt diese Erfahrung des Träumens auch scheinen mag, sie verläuft niemals jenseits einer bewussten Steuerung: Pessoa/ Soares durchlebt nicht nur die Emotionen seiner Heteronyme, er analysiert parallel immer auch ihre „lógicas interconexas“. Seine Ich-Multiplizierung erweist sich nicht als chaotisch, sondern bleibt auf das in seinen Überlegungen zum Sensacionismo formulierte Vorhaben einer Bewusstseinsveränderung durch die „arte da quarta dimensão“ ausgerichtet. Ihr höchstes Ziel ist erst erreicht, wenn es ihm gelingt, mit Hilfe der Heteronymie neue, „künftige Gefühlsregungen“ zu erzeugen. Auf welche Weise die angestrebte Bewusstseinsveränderung ermöglicht werden soll, lässt sich mit Deleuzes Metapher des „pli“ genauer fassen. Indem Pessoa/ Soares versucht, die in der Heteronymie gemachten Erfahrungen in die eigene Subjektivität zu überführen – in Deleuzes Bild, in sich einzustülpen –, schafft er sich 111
Ebd.
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einen im wörtlichen Sinne ‚vielfältigen‘ Innenraum, der als innere Landschaft erkennbar wird. Die inneren Landschaften im Livro werden nur selten als geschlossene Räume – wie zumeist in den Texten Becketts oder Mayröckers –, sondern größtenteils als offene, weitläufige Landschaften imaginiert: „Nas minhas próprias paisagens interiores, irreais todas elas, foi sempre o longínquo que me atraiu, e os aquedutos que se esfumavam – quase na distância das minhas paisagens sonhadas, tinham uma doçura de sonho em relação às outras partes da paisagem – uma doçura que fazia com que eu as pudesse amar.“ (LD 121)112
Die Reisen in die eigenen Innenwelten sind von einer „doçura de sonho“, einer traumhaften Zartheit, die den sonst häufig beschriebenen Zuständen der Unruhe und des Lebensüberdrusses entgegengesetzt sind. Dadurch, dass Pessoa/Soares die im Träumen gemachte Erfahrung der Ich-Vervielfältigung, bei der er die gesamte Welt wie einen Fächer wahrnimmt, in sich faltet, entsteht ein Innenraum, der sich immer weiter ausdehnt. Dieses Innere, das die gesamte Welt einschließt, ist kein abgeschlossener Raum, es ist eine im Wortsinn vielfältige innere Landschaft, die nicht mit realen Landschaften verglichen werden kann, da dieser Vergleich der genuinen Besonderheit einer Seelenlandschaft niemals gerecht werden könne: „Disse Amiel que uma paisagem é um estado de alma, mas a frase é uma felicidade frouxa de sonhador débil. Desde que a paisagem é paisagem, deixa de ser um estado de alma. […] Mais certa era dizer que um estado da alma é uma paisagem; haveria na frase a vantagem de não conter a mentira de uma teoria, mas tão-somente a verdade de uma metáfora.“ (LD 103)113
Mit Bezug auf den Schweizer Schriftsteller und Philosophen HenriFrédéric Amiel, auf dessen Journal intime im Livro mehrfach an112
113
„In meinen inneren Landschaften, allesamt unwirklich, zog mich immer die Ferne an, und die Aquädukte, schemenhaft am fernen Horizont meiner erträumten Landschaften, waren, verglichen mit der übrigen Landschaft, von traumhafter Zartheit, einer Zartheit, dank derer ich sie lieben konnte.“ (BdU 103) „Amiel sagte, eine Landschaft sei ein seelischer Zustand, aber dieser Satz ist wie das dürftige Glück eines mittelmäßigen Träumers. Sobald die Landschaft Landschaft ist, hört sie auf seelischer Zustand zu sein. Richtiger wäre es zu sagen, ein seelischer Zustand sei eine Landschaft; dieser Satz hätte den Vorteil, nicht die Lüge einer Theorie zu enthalten, sondern nur die Wahrheit einer Metapher.“ (BdU 83)
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gespielt wird, erklärt Pessoa/Soares, dass ein Seelenzustand selbst als Landschaft wahrgenommen werden kann, verwahrt sich aber gegen dessen Sichtweise, der zufolge reale Landschaften als Vorbilder für Beschreibungen von inneren Seelenzuständen dienen können. Die Seelenzustände, von denen Pessoa/Soares spricht, sollen von der Tradition abgekoppelt werden, die versucht, innere Stimmungen mit Hilfe von existierenden äußeren Landschaftsbildern zum Ausdruck zu bringen; vielmehr soll versucht werden, die Sonderheit der Seelenlandschaft ohne Rückgriff auf ihr fremde Hilfsmittel direkt zu beobachten und einen Weg zu finden, ihre Qualitäten zu beschreiben. Pessoa/Soares sieht sich selbst am Anfang dieser neuen Bewusstseinskunst stehen, welche die Wissenschaftler der Zukunft womöglich zu völlig neuen Erkenntnissen führen werden: „Penso às vezes com um agrado (em bissecção) na possibilidade futura de uma geografia da nossa consciência de nós próprios. A meu ver, o historiador futuro das suas próprias sensações poderá talvez reduzir a uma ciência precisa a sua atitude para com a sua consciência da sua própria alma. Por enquanto vamos em princípio nesta arte difícil – arte ainda, química de sensações no seu estado alquímico por ora. Esse cientista de depois de amanhã terá um escrúpulo especial pela sua própria vida interior.“ (LD 106)114
Das Ziel von Pessoas Kunst ist es, Einsicht und Bewusstsein über die Verfassung der eigenen Seele, des eigenen Innenlebens zu erreichen. Dafür ist es notwendig, zunächst experimentell die eigenen Empfindungen und Wahrnehmungsmodalitäten zu erkunden. Da die Wissenschaften dazu noch nicht in der Lage sind, ist Pessoa mit seiner Kunst angetreten, um die ersten Schritte in Richtung dieser neuen Wissenschaften zu unternehmen. Dass es sich hierbei nur um erste Versuche handelt, ist Pessoa/Soares, der seine Wahrnehmungsexperimente als „chemische Versuche“ einer Chemie im „alchimistischen Stadium“ bezeichnet, deutlich bewusst. Pessoa/Soares 114
„Ich denke zuweilen (mit zwiespältigem) Vergnügen über die künftige Möglichkeit einer Geographie unseres Bewußtseins von uns selbst nach. Meines Erachtens wird der künftige Historiker eigener Empfindungen möglicherweise in der Lage sein, eine exakte Wissenschaft aus seinem Verhalten gegenüber seinem Bewußtsein von der eigenen Seele zu machen. Einstweilen stehen wir immer noch ganz am Anfang dieser schwierigen Kunst, die immer noch eine Kunst ist, eine Chemie der Empfindungen in ihrem vorerst noch alchimistischen Stadium. Der Wissenschaftler von übermorgen wird sein Innenleben einer überaus kritischen Betrachtung unterziehen.“ (BdU 87)
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situiert sich und seine Experimente im Aufbruch zu einer neuen Kunst und denkt über deren mögliche Auswirkungen nach, welche die Wissenschaftler der Zukunft analysieren werden. Ob die neue Kunst ihre volle Wirkung entfalten kann, hänge vor allem davon ab, ob es gelingt, die inneren Empfindungen so weit zu verfeinern und zu schärfen, dass tatsächlich eine neue Form von Interiorität entstehen kann: „Depende tudo isso do aguçamento extremo das nossas sensações interiores, que, levadas até onde podem ser, sem dúvida revelarão, ou criarão, em nós um espaço real como o espaço que há onde as coisas da matéria estão, e que, aliás, é irreal como coisa.“ (ebd.)115
Damit ist die Fluchtlinie des Spiels der Heteronymie bezeichnet: Ihr Ziel ist es, einen neuen Innenraum zu erkunden bzw. zu schaffen, der so real sein soll, wie die „coisas da matéria“. Dieser Innenraum soll den gleichen (Ir-)Realitätsstatus wie die Außenwelt haben. Pessoa/Soares versteht sich selbst als Pionier auf dem Weg zu einer solchen neuen Realität und einem ‚neuen Menschen‘, der über neuartige Empfindungsweisen und Wahrnehmungsmodalitäten verfügt und dadurch eine Erneuerung der Seele selbst möglich macht: „A única maneira de teres sensações novas é construíres-te uma alma nova. Baldado esforço o teu se queres sentir outras coisas sem sentires de outra maneira, e sentires de outra maneira sem mudares de alma. Porque as coisas são como nós as sentimos – há quanto tempo sabes tu isto sem o saberes? – e o único modo de haver coisas novas, de sentir coisas novas e haver novidade no senti-las. Muda de alma. Como? Descobre-o tu. Desde que nascemos até que morremos mudamos de alma lentamente, como de corpo. Arranja meio de tornar rápida essa mudança, como com certas doenças, ou certas convalescenças, rapidamente o corpo se nos muda.“ (LD 285)116 115
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„All dies hängt zweifellos davon ab, inwieweit wir unsere inneren Empfindungen verfeinern und schärfen können, die, bis zum Äußersten ausgeschöpft, zweifellos in uns einen ebenso wirklichen Raum schaffen oder offenbaren wie den Raum, der von materiellen Dingen besetzt und als Ding unwirklich ist.“ (BdU 87) „Willst du dir neue Empfindungen beschaffen, mußt du dir eine neue Seele erschaffen. Deine Mühe wird vergebens sein, wenn du anderes empfinden willst, ohne anders zu empfinden, und anders empfindest, ohne deine Seele zu ändern. Denn die Dinge sind, wie wir sie empfinden – wie lange weißt du das schon, ohne es zu wissen? – und willst du Neues erlangen und Neues empfinden, mußt du Neues neu empfinden. Die Seele ändern? Wie? Finde es selbst heraus! Vom Augenblick unserer Geburt an bis hin zum Augenblick unseres Todes verändern sich Seele und Körper langsam. Finde ein Mittel, diese Veränderung zu be-
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Seine Ausführungen entsprechen – bis hin zum Tonfall – Nietzsches Vorstellung des Übermenschen, der als Schöpfer neuer Werte über sich selbst hinauswächst.117 Wie Nietzsche fordert auch Pessoa, dass jeder Einzelne diese Entwicklung selbst vollziehen muss. Der Leser soll für sich selbst weitere Wege finden, wie er seine „Seele“ verändern kann.
5. Auswirkungen auf die Subjektkonstitution „Nothing ever becomes real till it is experienced“ John Keats
Pessoa/Soares evoziert im Livro Traumzustände, in denen er die Schreiberfahrungen der Heteronymie wiederholt. Das schreibende Ich verdoppelt sich, macht schreibend unter fremden Wahrnehmungsvorgaben neue Erfahrungen, die sich verselbstständigen und die Exploration von neuen Formen von Subjektivität ermöglichen. Zugleich beobachtet und analysiert das beobachtende Ich die erfahrenen Veränderungen seiner Verdoppelung. Im Schrägstrich zwischen Pessoa/Soares zeigt sich die Differenz zwischen einem in der Simulation entstehenden ästhetischen Subjekt und einem diese Selbstpraxis beobachtenden Subjekt. Die Doppelung ‚Pessoa/ Soares‘ verweist wie die Bezeichnung ‚schreibendes Ich‘ auf die im Schreibakt entstehende ästhetische Subjektivität, die zwar immer auch auf den Autor bezogen, jedoch nicht mit ihm in eins gesetzt werden kann. Die sich vollziehende Selbstveränderung des schreibenden Ichs erweist sich als ambivalent. Einerseits wird sie begrüßt und bewusst vorangetrieben, andererseits beinhaltet sie Momente einer als gefährlich empfundenen Selbstauflösung. In zahlreichen Fragmenten wird sie zunächst positiv gezeichnet: „Quando escrevo, visito-me solenemente. Tenho salas especiais, recordadas por outrem em interstícios da figuração, onde me deleito analisando
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schleunigen, so wie sich auch unser Körper bisweilen schneller verändert, wenn er erkrankt oder gesundet.“ (BdU 295) Zu Pessoas Nietzscherezeption vgl. v. a. Sena, Jorge de: „O poeta é um fingidor. (Nietzsche, Pessoa e outras coisas mais)“. In: Ders.: Fernando Pessoa, S. 117-143. Zur Nietzscherezeption in Portugal siehe auch: Monteiro, Américo Enes: A recepção da obra de Friedrich Nietzsche na vida intelectual portuguesa (1892-1939). Porto 2000 (darin besonders S. 283-295).
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o que não sinto, e me examino como a um quadro na sombra.“ (LD 315)118 Das schreibende Ich zeigt sich hier als Herr der Lage, es besucht sich selbst feierlich in seinen vielen Innenräumen und untersucht die fremden Gefühle, so wie der Kunstbetrachter ein besonderes Gemälde analysiert. In einem anderen Fragment werden die Heteronyme als innere Freunde bezeichnet, die das Ich von innen ‚wärmen‘: „alinho na minha imaginação, convortavelmente, como quem no inverno se aquece a uma lareira, figuras que habitam, e são constantes e vivas, na minha vida interior. Tenho um mundo de amigos dentro de mim, com vidas próprias, reais, definidas e imperfeitas.“ (LD 121)119 Dem stehen Momente gegenüber, in denen die Schreibpraxis sich zu verselbstständigen droht und als überaus schmerzhaft empfunden wird: „Tenho ganas de gritar dentro da cabeça. Quero parar, esmagar, partir esse impossivel disco gramofónico que soa dentro de mim em casa alheia, torturador intangível. Quero mandar parar a lama, para que ela, como veículo que ocupassem, siga para diante só e me deixe. Endoideço de ter que ouvir. E por fim sou eu, no meu cérebro odientamente sensível, na minha pele pelicular, nos meus nervos postos à superfície, as tecladas em escalas, ó piano horroroso e pessoal da nossa recordação.“ (LD 263)120
Das schreibende Ich bezeichnet seine Seele hier als „Gefährt mit fremden Insassen“, möchte aussteigen, um den fremden Stimmen, die es foltern, nicht mehr zuhören zu müssen. Die Tatsache, dass es selbst diese Geräusche produziert, vermag kaum zu beruhigen. Die vielen ‚Identitätswechsel‘ seines „fingimento orgânico“ (LD 180) drohen, das schreibende Ich auf Dauer zu zerstören. Wenn Pessoa/ 118
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„Wenn ich schreibe, besuche ich mich feierlich. Ich habe spezielle Kammern, an die ein anderer sich in den Zwischenräumen meiner Vorstellung erinnert, dort vergnüge ich mich mit dem Analysieren dessen, was ich nicht fühle, und studiere mich selbst so eingehend wie ein Bild in einer dunklen Ecke.“ (BdU 330) „stattdessen aber reihe ich in meiner Phantasie, wohlig wie einer, der sich im Winter am Herdfeuer wärmt, jene verläßlichen, lebendigen Gestalten, die mein Innenleben bevölkern. Ich habe eine Welt von Freunden in mir, mit eigenen, wirklichen, vorbestimmten und noch offenen Lebensläufen.“ (BdU 104) „Schreien möchte ich in meinem Kopf. Sie anhalten, zerbrechen, zermalmen, die unausdenkliche Grammophonplatte, die immer fort spielt in mir, wo sie nicht hingehört, mich foltert, und ich kann nichts tun. Meine Seele, ein Gefährt mit fremden Insassen, soll anhalten, mich aussteigen lassen und ohne mich weiterfahren. Ich werde verrückt bei diesem Zuhören-Müssen. Und doch bin letztlich ich es, in meinem hassenswert sensiblen Gehirn, in meiner dünnen Haut, meinen blank liegenden Nerven, der diese Tonleitern, diese Tasten spielt, o entsetzliches, urpersönliches Piano unserer Erinnerungen.“ (BdU 270)
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Soares im Namen seiner Heteronyme schreibt, erlebt er, wie stark die Wahrnehmung der Welt von Wahrnehmungsmodalitäten und Empfindungsweisen abhängt. Die Erfahrung dieser Mannigfaltigkeit demoliert traditionelle Vorstellungen von Authentizität und führt zu einer zunehmenden Gefühllosigkeit: „É esta a minha moral, ou a minha metafísica, ou eu: Transeunte de tudo – até a minha própria alma –, não pertenço a nada, não desejo nada, não sou nada – centro abstracto de sensações impessoais, espelho caído sentiente virado para a variedade do mundo. Com isto, não sei se sou feliz ou infeliz; nem me importa.“ (LD 214)121
Das schreibende Ich versucht die in dieser ästhetischen Selbstpraxis entstehenden Formen alternativer ästhetischer Subjektivität in immer neuen Metaphern einzufangen: Das Ich wird zu einem „abstrakten Mittelpunkt unpersönlicher Wahrnehmungen“, zu einem „zu Boden gefallenen, sehenden Spiegel“, der die Vielheit der Welt in vielen mosaikhaften Brechungen und Absplitterungen einfängt. Das entstehende zersplitterte Ich bekommt sich selbst kaum mehr zu fassen, die Möglichkeiten zu seiner identifizierenden sprachlichen Selbstrepräsentation werden immer geringer. Dennoch wird die selbstauflösende Praxis immer weiter getrieben, der mit ihr einhergehende Kontrollverlust immer weiter ausgereizt: „Estou caindo, depois do alçapão lá em cima, por todo o espaço infinito, numa queda sem direcção, infinitupla e vazia. Minha alma é um maelstrom negro, vasta vertigem à roda de vácuo, movimento de um oceano infinito em torno de um buraco em nada, e nas águas que são mais giro que águas bóiam todas as imagens do que vi e ouvi no mundo – vão casa, caras, livros, caixotes, rastros de música e sílabas de vozes, num rodopio sinistro e sem fundo. E eu, verdadeiramente eu, sou o centro que não há nisto senão por uma geometria do abismo, sou o nada em torno do qual este movimento gira, só para que gire, sem que esse centro exista senão porque todo o círculo o tem.“ (LD 258)122 121
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„Das ist meine Moral oder meine Metaphysik, oder anders gesagt, das bin ich: Einer der an allem vorübergeht – selbst an meiner eigenen Seele –, ich gehöre zu nichts, ich wünsche nichts, ich bin nichts – abstrakter Mittelpunkt unpersönlicher Wahrnehmungen, zu Boden gefallener, sehender Spiegel, der Vielfalt der Welt zugekehrt. Bei alledem weiß ich nicht, ob ich glücklich oder unglücklich bin; und es ist mir auch einerlei.“ (BdU 213) „Ich falle oben durch die Falltür durch den ganzen unendlichen Raum, in einem Sturz ohne Richtung, unendlichfach und leer. Meine Seele ist ein schwarzer Mahlstrom, ein weites Taumeln rings um die Leere, Bewegung eines endlosen Ozeans rund um ein Loch im Nichts, und in den Gewässern, die eher ein Krei-
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Das Ich befindet sich im freien Fall, bezeichnet sich aber zugleich als Zentrum einer „geometria do abismo“, um das herum ebenfalls alles in einem Sturz ohne Richtung in Bewegung geraten ist. Geht man mit Deleuze davon aus, dass Subjektivität und Identität als abgeleitete Zustände eines in sich selbst dynamischen, differenzerzeugenden Seins entstehen, so könnte man argumentieren, dass das schreibende Ich durch die Auflösung der eigenen Subjektivität genau umgekehrt zu einer Wahrnehmung dieses differentiellen, ungeordneten Zustands vordringt. Dabei erkennt es, dass Identität ein Oberflächeneffekt ist, der durch ein Spiel der differenziellen Wiederholung (hier: bestimmter Wahrnehmungslenkungen) hervorgebracht wird. Umso mehr das schreibende Ich dieses Spiel durchschaut, umso mehr versucht es, seine Innenwelt aktiv zu gestalten und zu seinem eigenen Kunstwerk zu werden: „Quero ser uma obra de arte. Da alma pelo menos, já que do corpo não posso ser. Por isso me esculpi em calma e alheamento e me pus em estufa, loge dos ares frescos e das luzes francas – onde a minha artificialidade, flor absurda, floresça em afastada beleza.“ (LD 139)123
Das Besondere an der absurden, schönen, im Treibhaus künstlich gewachsenen Blume ist, dass sie sich selbst erschaffen hat und dass sie ihr Innenleben aktiv formt: „Conquistei, palmo a pequeno palmo, o terreno interior que nascera meu. Reclamei epaço a pequeno espaço, o pântano em que me quedara nulo. Pari meu ser infinito, mas tirei-me a ferros de mim mesmo“ (LD 56).124
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sen als Gewässer sind, treiben die Bilder all dessen, was ich gesehen und gehört habe auf der Welt – strudeln Häuser, Gesichter, Bücher, Kisten, Spuren von Musik und Silben von Stimmen in einem düsteren unauslotbaren Wirbel. Und in all dem bin ich, wahrhaft ich der Mittelpunkt, der einzig in der Geometrie des Abgrunds existiert: Ich bin das Nichts, umkreist um des Kreisens willen, und existiere nur, weil jeder Kreis einen Mittelpunkt besitzt.“ (BdU 264) „Ich will ein Kunstwerk sein, zumindest in meiner Seele, wenn ich es schon in meinem Körper nicht sein kann. Daher habe ich mich in Stille und Entfremdung gestaltet und mich in ein Treibhaus gestellt, geschützt vor frischer Luft und direktem Licht – dort kann meine Künstlichkeit, wie eine absurde Blume, in ferner Schönheit erblühen.“ (BdU 124) „Schritt für Schritt habe ich jene innere Landschaft erobert, die von Geburt an die meine war. Stück für Stück habe ich dem Sumpf abgefordert, in dem ich hilflos fest hing. Ich habe mein unendliches Sein geboren, mich mit Zangen mir selbst entrissen.“ (BdU 27)
II. „Devised deviser, devising it all for company“ – Samuel Becketts Abstieg in den eigenen Schädel
Reagierte Pessoa mit seiner Heteronymie in erster Linie auf die Erfahrung einer unüberschaubar werdenden Fülle möglicher literarischer Traditionen und darin zum Ausdruck kommender Subjektpositionen, so erweist sich das Subjekt für Beckett als von innen her brüchig. Das Beckettsche Ich leidet darunter, dass es sich nicht mehr als Identisches erfahren bzw. konstruieren kann und sucht diese Aporie durch neue ‚Erzählungen vom Selbst‘ zu überwinden. Beckett hat bei seiner Suche nach einer neuen Subjektposition den Roman mit einer bis heute einzigartigen Radikalität auf die Bedingungen seiner eigenen Möglichkeit hin befragt und ihn dabei mit aller Konsequenz an seinen End- bzw. Nullpunkt geführt. Während er in jungen Jahren fast ausschließlich Romane schreibt, die im Zeichen eines realistischen Erzählens stehen und durch ihre barock überladene Erzählweise und eine überbordende Imaginationslust auffallen, begibt er sich Ende der vierziger Jahre mit der Trilogie auf die Suche nach radikal neuen Erzähltechniken, die es ermöglichen sollen, den Roman – noch weiter als von Joyce und Proust bisher geleistet – über seine traditionellen Grenzen hinaus zu transzendieren und in eine neue Form zu überführen. Es handelt sich hierbei um ein Experiment, das ihn schließlich in L’Innommable, dem letzten Roman der Trilogie, in eine ausweglose Aporie führt, der er nur durch einen Wechsel zum Drama zu entgehen vermag. In den folgenden Jahren experimentiert Beckett begeistert mit neuen Darstellungsformen und arbeitet vor allem für Theater, Hörspiel und Fernsehen. Die Aneignung der neuen Medien ermöglicht es ihm, die in der Prosa entwickelten Fragen in eine andere Darstellungslogik zu überführen, die ihm schließlich auch neue Auswege für seine in eine Sackgasse geratene Prosa aufzeigt. Ist die Trilogie vorrangig von der Suche nach alternativen Erzählweisen dominiert, die Becketts Selbstbeobachtung der eigenen Schaffensvorgänge inauguriert, so rückt in den Theater- und Fernseharbeiten eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Phänomenen ‚Imagination‘ und ‚Erinnerung‘ in den Vordergrund. An die Stelle einer narrativen Identitätskonstruktion tritt in Becketts späteren Arbeiten oftmals eine Erzählhaltung der Ohnmacht. Die
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Erzähler und Figuren verfügen nicht mehr über ihre Inhalte, ihr Bewusstsein ist in einzelne Fragmente und Ich-Figurationen zerfallen. Zugleich versuchen sie die Unmöglichkeit, zu einem kohärenten Selbst zu gelangen, positiv zu wenden und die ‚Gesellschaft‘, die ihnen durch ihre innere Vielstimmigkeit gegeben ist, willkommen zu heißen. Ich werde mich in meiner Interpretation auf die beiden Phänomene der sich potenzierenden Erzählerkaskaden und Ich-Figurationen in Becketts Werk konzentrieren und die Entwicklung Becketts von einem in der Auseinandersetzung mit Proust und Joyce noch ganz der Moderne verhafteten Autor hin zu seinen in ihrer Radikalität und Konsequenz kaum zu überbietenden postmodernen Texts for Company1 darstellen. Nach einer kurzen Einführung in Becketts frühe ästhetische Überlegungen soll hierfür zunächst die Ende der vierziger Jahre entstandene Trilogie (Molloy, Malone meurt und L’Innommable) untersucht werden. Daraufhin werde ich die Übertragung der Problematik auf das Theater anhand des Theaterstücks That Time (1975) aufzeigen, um schließlich die entfesselte innere Stimmenvielfalt in dem 1979 fertig gestellten Prosatext Company zu analysieren. Ziel dieser Vorgehensweise ist es zu zeigen, wie in Becketts Werk die Suche nach neuen Erzählmöglichkeiten in eine sich selbst beobachtende Subjektivität überführt wird. Die von Beckett in seinen Texten kontinuierlich vorangetriebene dichterische Selbstbeobachtung, so die These dieser Interpretation, erreicht in seinen späten Texten einen Punkt, an dem die Konstituenten von Subjektivität selbst sichtbar werden.
1. Einflüsse auf den jungen Beckett Bevor ich mich der Trilogie zuwende, sollen zunächst wesentliche Einflüsse und Becketts eigene frühe ästhetische Überlegungen skizziert werden. Ich werde mich dabei auf einige wenige Aspekte konzentrieren, um daraus diejenigen Fragen und Problemstellungen zu entwickeln, die den jungen, am Anfang seiner schriftstellerischen Karriere stehenden Beckett beschäftigen.2 1 2
So der Titel der von Kateryna Arthur und James Acheson herausgegebenen Studie Beckett’s Later Fiction and Drama: Texts for Company. London 1987. Diese Hinführung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und dient in erster Linie dazu, eine Grundlage für die später in den Interpretationen entwickelten Thesen zu schaffen. Für eine ausführlichere Darstellung von Becketts frühen
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Mit 22 Jahren hat der literatur- und philosophiebegeisterte Beckett bereits einen Großteil der Weltliteratur gelesen.3 Unter den vielen literarischen Einflüssen, die für ihn geltend gemacht werden können, stechen James Joyce und Marcel Proust in besonderer Weise heraus. Der Einfluss, den Joyce, der schon zu Lebzeiten zum literarischen Mythos aufgestiegen war, auf den jungen Beckett ausgeübt hat, kann kaum überschätzt werden. Beckett lernt den vierundzwanzig Jahre älteren Landsmann 1928 während seines Jahres als Austauschlektor an der Ecole Normale Supérieure in Paris durch die Vermittlung seines Vorgängers Thomas MacGreevy kennen und übernimmt schon bald darauf Recherchearbeiten für dessen neuen Roman Finnegans Wake.4 Beckett ist von Joyce tief beeindruckt, denn Joyce schafft seines Erachtens in den Romanen Ulysses und – wenn auch unter anderen Vorzeichen – Finnegans Wake eine neue Form der Synthese, die in ihren episch-mythischen Dimensionen über das Individuelle hinaus auf die gesamte Menschheitsgeschichte verweist. In einem Interview erklärt er: „I had a great deal of admiration for him. That’s what it was; epic, heroic, what he achieved. But I realised that I could not go down that road.“5 Beckett wird sein eigenes Schreiben demjenigen von Joyce diametral entgegensetzen, indem er sich genau umgekehrt die künstlerische Ohnmacht zum Programm machen wird: „He [Joyce] is tending toward omniscience and omnipotence as an artist. I’m working with impotence, ignorance.“6 Becketts Ziel wird es sein, einen adäquaten sprachlichen Ausdruck für die generelle Brüchigkeit
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poetologischen Überlegungen und dem ihn prägenden Umfeld seiner frühen Pariser Jahre wird auf die Studie von Evelyne Grossman verwiesen: L’Esthétique de Beckett. Paris 1998. Zu den wichtigsten philosophischen Einflüssen zählen u. a. René Descartes, dessen Schüler Arnold Geulinx sowie im 19. Jahrhundert Arthur Schopenhauer. Becketts Texte nehmen auf ihre Werke vielfach Bezug, vgl. Murphy, P. J.: „Beckett and the Philosophers“. In: Pilling, John (Hg.): The Cambridge Companion to Beckett. Cambridge 1994, S. 222-240. Zu Beckett und Schopenhauer vgl. außerdem Pothast, Ulrich: Die eigentliche metaphysische Tätigkeit. Über Schopenhauers Ästhetik und ihre Anwendung durch Samuel Beckett. Frankfurt am Main 1982. Er hat hingegen niemals als dessen Privatsekretär gearbeitet, wie gelegentlich in der Sekundärliteratur zu lesen ist. Knowlson, James: Damned to Faim. The Life of Samuel Beckett. London 1996, S. 105. Shenker, Israel: „A Portrait of Samuel Beckett, Author of the Puzzling ‚Waiting for Godot‘. Interview with Samuel Beckett“. In: The New York Times, New York, 6 May 1956.
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und Unzugänglichkeit der Welt zu finden, mit seinen eigenen Worten, „eine Literatur des Unwortes“ (D 54) zu schreiben. Ein ebenso nachhaltiger Einfluss kann für das Werk von Marcel Proust geltend gemacht werden, zu dessen À la recherche du temps perdu der junge Beckett einen über hundertseitigen Essay verfasst hat. Dieser zunächst als Magisterarbeit für das Trinity College konzipierte Aufsatz, den Beckett später für die Veröffentlichung noch einmal überarbeitet hat, wird von der Forschung sehr unterschiedlich bewertet. Dies liegt daran, dass der Aufsatz eine Vielzahl von Themen in relativ unsystematischer (und mitunter widersprüchlicher) Weise verknüpft und dabei ein ambivalentes Bild von Proust zeichnet. Becketts Aufsatz oszilliert zwischen großer Bewunderung und dezidierter Ablehnung gegenüber dem Proustschen Projekt, mit Hilfe der ‚mémoire involontaire‘ Identität im Modus der Erinnerung herzustellen. Becketts Proust-Aufsatz reflektiert die epistemologischen Brüchigkeiten narrativer Identitätsherstellung, indem er die Zeit als „double-headed monster of damnation and salvation“ (P 511) in den Blickpunkt rückt und für die Schwierigkeiten des Individuums verantwortlich macht, sich selbst als Identisches zu erfahren. Mit seinen Überlegungen zur Problematik der Zeit greift Beckett ein virulentes Thema des beginnenden 20. Jahrhunderts auf. Die Frage nach dem zeitlichen Charakter unseres Bewusstseins wird nicht nur von Philosophen wie Edmund Husserl oder Henri Bergson diskutiert, sie beschäftigt auch den modernen Roman und ist nicht zuletzt eines der zentralen Themen des Ulysses.7 Das maßgebliche Problem für Beckett ist, dass sich das Ich über die Zeit hinweg permanent verändert – „[t]he individual is the seat of a constant process of decantation“ (P 513) –, was zu einer „unceasing modification of his personality“ (ebd.) führt. Daraus folgert Beckett, dass sich das Ich nur als „retrospective hypothesis“ (ebd.) konstruieren kann, eine Bewegung, die jedoch niemals zu einem endgültigen Abschluss gelangen kann: „At the best, all that is realized in Time (all Time produce), whether in Art or Life, can only be possessed successively, by a series of partial annexations – and never integrally and at once.“ (P 515). 7
Vgl. Lobsien, Eckhard: „Der 16. Juni 1904. James Joyce und die Odyssee durch die Zeit“. In: Grimminger, Rolf et al. (Hg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 395424.
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Beckett analysiert Prousts ‚mémoire involontaire‘ als eine Möglichkeit, zu einer anderen Form von Realität vorzudringen: „the experience is at once imaginative and empirical, at once an evocation and a direct perception, real without being merely actual, ideal without being merely abstract, the ideal real, the essential, the extratemporal“ (P 544). Zugleich gibt er zu bedenken, dass die Erfahrung der idealen Realität („the ideal real“) als außerzeitliche Erfahrung streng genommen nur im Tod – als einzig möglicher Negation von Zeit – tatsächlich eingelöst werden kann: „Reality whether approached imaginatively or empirically, remains a surface, hermetic.“ (ebd.) Eine der Schwierigkeiten von Becketts Proust-Rezeption ist sein Begriff der Realität, in dem sich mehrere Gedanken zu bündeln scheinen. Zunächst beinhaltet er die Idee einer von den Vorstellungsakten des Subjekts unabhängigen Welt: „‚Enchantments of reality‘ has the air of a paradox. But when the object is perceived as particular and unique and not merely the member of a family, when it appears independent of any general notion and detached from the sanity of a cause, isolated and inexplicable in the light of ignorance, then and only then may it be a source of enchantment. Unfortunately Habit has laid its veto on this form of perception, its action being precisely to hide the essence – the Idea – of the object in the haze of conception – preconception.“ (P 517)
Hinter Becketts Ausführungen scheint die uns ebenfalls bei Pessoa begegnete Idee durch, dass es der Kunst möglich sein könnte, einen unverstellten Zugang zu dieser anderen Realität zu finden, indem sie andere Gewohnheiten des Bewusstseins etabliert. Eine utopische Erfahrung, die Beckett mit der in Prousts Recherche letztendlich nicht stattfindenden Gewöhnung des Erzählers an die neuen hohen Wände vergleicht: „The narrator cannot sleep in a strange room, is tortured by a high ceiling, being used to a low ceiling. What is taking place? The old pact is out of date. It contained no clause treating of heigh ceilings. The habit of friendship for the low ceiling is ineffectual, must die in order that a habit of a friendship for the heigh ceiling must be born.“ (P 517)
Becketts Vorstellung, zu einer anderen Realität vordringen zu können, impliziert zugleich die Hoffnung auf einen unverstellten Zugang zum eigenen Ich. Wenn er dem Proustschen Text den Zugang zu dieser Realität abspricht, so besagt er damit zugleich, dass er
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auch keinen Zugang zu seiner eigenen Realität, d.h. zu seiner Identität, gewinnen kann. Die Auseinandersetzung mit Proust führt Beckett damit zu der Einsicht, dass eine als ‚authentisch‘ empfundene Ich-Konstitution nicht möglich ist. Im Gegensatz zu Proust glaubt Beckett letztlich nicht mehr an die Vorstellung, dass sich das Ich mit Hilfe seiner Erinnerung finden kann. Der Konstruktionscharakter von Identität wird für ihn unhintergehbar. Die Unmöglichkeit, zu einem authentischen Ich zu gelangen, wird sich als Erkenntnis für die Trilogie als überaus wichtig erweisen. Wenn das Ich sich niemals fassen kann, aber dennoch eine Sprecherposition einnehmen muss, so stellt sich die Frage, welche unterschiedlichen Möglichkeiten ihm dazu zur Verfügung stehen. Damit wird der Blick auf die verschiedenen Arten narrativer Identitätskonstruktion gelenkt. An die reflexiv nicht einholbare (Leer-) Stelle des Ich werden in Becketts Trilogie immer neue Stellvertreter oder Ich-Figurationen treten: Das Spiel der sich potenzierenden Erzählerkaskaden ist in Gang gesetzt. Becketts Äußerungen zu Proust führen seine eigene Ambivalenz hinsichtlich der Bestimmung von Kunst vor Augen. Obwohl sich Beckett in seinen Überlegungen zu den Möglichkeiten der Kunst, zu einer ‚anderen Realität‘ vorzudringen, in erster Linie auf Proust bezieht, lassen zahlreiche Formulierungen auch auf seine eigene Unentschiedenheit bezüglich dessen, was Kunst zu leisten vermag, schließen. Diese Ambivalenz zeigt sich auch in seinem 1937 an Axel Kaun verfassten German Letter, in dem er schreibt: „Und immer mehr wie ein Schleier kommt mir meine Sprache vor, den man zerreißen muß, um an die dahinterliegenden Dinge (oder das dahinterliegende Nichts) zu kommen.“ (D 52) Beckett formuliert hier bereits den Verdacht, dass noch nicht einmal die Kunst zu einer anderen Realität vordringen kann, da es eine solche möglicherweise nicht gibt, klammert diese Möglichkeit aber noch ein. Er entscheidet sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht zwischen den beiden Bestimmungen, die den Unterschied zwischen einer modernen und einer postmodernen Kunstbetrachtung markieren. Doch er weiß immerhin schon, wie er vorzugehen hat: „Ein Loch nach dem anderen in ihr [der Sprache] zu bohren, bis das Dahinterkauernde, sei es etwas oder nichts, durchzusickern anfängt – ich kann mir für den heutigen Schriftsteller kein höheres Ziel vorstellen.“ (D 52) Dabei habe sich die Literatur an der bildenden Kunst und der Musik zu orientieren, denen sie in ihrer Selbsterneuerung hinter-
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herhinke. Beckett verbringt 1936/37 ein Jahr auf Deutschlandreise und besucht während dieser Zeit zahlreiche Museen. Er entdeckt in der Kunst – insbesondere in der Malerei – künstlerische Ausdrucksmittel, die er vor allem in seinem Spätwerk auch auf die Literatur zu übertragen sucht.8 Sein Anliegen wird es sein, eine Sprache fürs Auge zu finden, „gezielt den Sehnerv des Lesers [zu reizen], um so Vorstellungsbilder in seinem Bewusstsein zu erzeugen“.9 Wie Pessoa hegt auch Beckett ein großes Interesse für Psychologie und Psychoanalyse. Zahlreiche seiner Notizen belegen, dass er sich intensiv mit den Schriften von Sigmund Freud, Otto Rank, Alfred Adler, Wilhelm Stekel, Karin Stephens, Ernest Jones und Carl Gustav Jung auseinandergesetzt hat.10 Sein großes Interesse am psychologischen Diskurs mag auch seiner eigenen Psychoanalyse geschuldet sein, der er sich von 1933 bis 1935 in London bei Wilfried Ruprecht Bion unterzogen hat. Bion, einer der erfahrensten und prominentesten Analytiker seiner Zeit und Anhänger der Jungschen Schule, nimmt großen Anteil an Becketts schriftstellerischer Entwicklung. Im Oktober 1935 nimmt er Beckett zu einer Vorlesung Jungs an der Tavistock Clinic mit, in der Jung über den Zusammenhang von Kunst und Schizophrenie spricht. Jung erläutert in seiner Vorlesung zunächst die in der psychoanalytischen Theoriebildung weit verbreitete Vorstellung eines vielgestaltigen Bewusstseins. Er erklärt, dass die „sogenannte Einheit des Bewußtseins eine Illusion ist. Sie ist effektiv ein Wunschtraum. Es tut uns wohl zu denken, wir seien einheitlich; das sind wir aber ganz entschieden nicht. [...] Nach meiner Auffassung besteht sowohl unser persönliches Unbewußtes wie auch das kollektive Unbewußte aus einer unbestimmten, da unbekannten, Anzahl von Komplexen oder Teilpersönlichkeiten.“11
Im weiteren Verlauf seines Vortrags verweist Jung auf die Gemeinsamkeiten zwischen Schizophrenen und schöpferisch tätigen Menschen, die diese ursprüngliche innere Spaltung wahrnehmen könn8
9 10 11
Zum Verhältnis Becketts zur bildenden Kunst vgl. Hartel, Gabriele: ‚... the eyes take over... ‘ – Samuel Becketts Weg zum ‚gesagten Bild‘. Eine Untersuchung von ‚The Lost Ones‘, ‚Ill seen Ill Said‘ und ‚Stirrings Still‘ im Kontext der visuellen Kunst. Trier 2004. Ebd., S. 18. Eine Übersicht über die von Beckett gelesenen psychologischen und psychoanalytischen Werke gibt Knowlson: Damned to Faim, S. 171 f. Jung, Carl Gustav: Über Grundlagen der analytischen Psychologie. Die Tavistock Lectures. Freiburg im Breisgau 1975, S. 90.
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ten. Während diese Wahrnehmungen beim Kranken als unbewusster und nicht steuerbarer Prozess ablaufen, besitzt der schöpferische Mensch die Fähigkeit, die Abspaltungen seines Bewusstseins bewusst zu erleben: „Da die Komplexe eine gewisse Willenskraft besitzen, eine Art Ich, kann es in schizophrenen Zuständen geschehen, daß sie sich von der bewußten Kontrolle derart unabhängig machen, daß sie sichtbar und hörbar werden. Sie erscheinen als Visionen, sie sprechen in Stimmen, die sich wie die Stimmen bestimmter Personen anhören. Diese Personifizierung der Komplexe ist in sich selbst noch nicht notwendigerweise pathologisch. In den Träumen zum Beispiel erscheinen sie oft in personifizierter Form. Und man kann sich derart trainieren, daß sie auch im Wachen sichtbar oder hörbar werden.“12
Der Vorteil des schöpferisch tätigen Menschen – Jung bezieht sich in erster Linie auf Schriftsteller – ist, dass er seine inneren Abspaltungen willentlich zu dramatisieren und zu objektivieren vermag. Da die künstlerische Auseinandersetzung mit inneren Konflikten zugleich ein Abdriften in die tatsächliche Schizophrenie verhindern könne, rät er zu einer „aktiven Imagination“13, welche die Psychoanalyse in bestimmten Fällen ersetzen könne. Beckett war von der Vorlesung sehr beeindruckt und arbeitete die Tavistock Lectures nach ihrer Veröffentlichung nochmals komplett durch.14 Im selben Jahr, zum Abschluss seiner Psychoanalyse, fordert auch Bion Beckett dazu auf, seine inneren Konflikte fortan im schriftstellerischen Prozess zu verarbeiten, um so ein Abgleiten in die tatsächliche Erkrankung etwa einer Schizophrenie zu vermeiden. Die Beendigung von Becketts Psychoanalyse fällt in den Zeitraum seiner Romane Murphy und Watt, die von zahlreichen psychoanalytischen Anspielungen durchzogen sind15 und eine Reihe von psychoanalytischen Interpretationen seiner Texte evoziert haben.16 12 13 14
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Ebd., S. 90. Ebd., S. 91. Vgl. hierzu Heinemann, Paul: Potenzierte Subjekte – Potenzierte Fiktionen. IchFigurationen und ästhetische Konstruktion bei Jean Paul und Samuel Beckett. Würzburg 2001, S. 221. Zum psychoanalytischen Subtext in diesen Romanen vgl. Rabaté, Jean-Michel: „Quelques figures de la première (et dernière) anthropomorphie de Beckett“. In: Ders. (Hg.): Beckett avant Beckett: essais sur le jeune Beckett (1930-1945). Paris 1984, S. 135-151. Vgl. die Darstellung von Angela Moorjani: „Beckett and Psychoanalysis“. In: Oppenheim, Lois (Hg.): Palgrave Advances in Samuel Beckett Studies. New York 2004, S. 172-193.
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Auch wenn ich diese Perspektive nicht verfolge, so scheint mir Becketts Auseinandersetzung mit Jung und der Psychoanalyse insofern wichtig, als sie ihm eine neue Sichtweise auf die in Auseinandersetzung mit Proust erörterte Problematik einer authentischen Selbstfindung aufzeigt. Für Jung stellt das Schreiben eine Möglichkeit dar, psychologische Prozesse zu erkunden und eine innere Vielstimmigkeit wahrzunehmen, wobei das einheitliche Ich in den Hintergrund rückt. Das literarische Schreiben gerät in dieser Perspektive zu einer ‚psychohygienischen‘ Notwendigkeit, die nicht so sehr darauf abzielt, zu einem Kern der eigenen Identität vorzudringen, sondern darauf, innere Bewusstseinsprozesse in ihrer gesamten Vielfalt zu erkunden. Becketts intensive Auseinandersetzung mit Joyce und Proust verweist nicht nur auf sein literarhistorisches Bewusstsein, sie lässt auch seine Ambitionen erahnen, nicht hinter die Errungenschaften des modernen Romans zurückzufallen, sondern produktiv an die in ihnen entwickelten Problemzusammenhänge anzuknüpfen. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass seine zwischen 1947 und 1950 entstandene Trilogie eine gezielte und methodische Suche nach neuen innovativen Erzählformen darstellt, deren Ziel es ist, die in Prousts Recherche geschilderte Identitätsproblematik zu überwinden. Dabei wird Beckett die geschilderten psychoanalytischen Einsichten in eine innere Vielstimmigkeit des Subjekts ästhetisch produktiv machen.
2. Die Trilogie: Von Molloy über Malone meurt zu L’Innommable „L’autobiographie n’est pas un genre littéraire, c’est un remède métaphysique“ Serge Doubrovsky
Nahm das narrative Frühwerk Becketts seinen Ausgang in der parodistischen Auseinandersetzung mit dem realistischen Roman, so rücken mit der Trilogie Fragen und Probleme der narrativen Identitätsherstellung ins Zentrum seines Schreibens. Diese Verschiebung, der auf der Ebene der literarhistorischen Bezugsgrößen zugleich ein Dominantenwechsel von Joyce zu Proust entspricht17, gründet 17
Vgl. Klinkert, Thomas: Bewahren und Löschen. Zur Proust-Rezeption bei Samuel Beckett, Claude Simon und Thomas Bernhard. Tübingen 1996, S. 109.
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zunächst erzähltechnisch auf dem in Molloy vollzogenen Wechsel der Erzählperspektive von der dritten Person zur Ich-Erzählung.18 Mit dem Wechsel des narrativen Gestus rücken die Struktur- und Problemzusammenhänge der Ich-Erzählung in den Vordergrund, die selbst wiederum in einem dialogischen Verhältnis zur Tradition autobiographischen Schreibens stehen. Beide Textformen sind insofern strukturell analog, als in beiden ein erzählendes Ich darauf abzielt, sich mit Hilfe einer (meist retrospektiv angelegten) Narration der eigenen Identität zu versichern. Dabei ist die Frage, ob dieser Akt fiktional oder autobiographisch ist, zweitrangig und kann angesichts der allgemeinen Strukturanalogie vernachlässigt werden. Sowohl die Autobiographie als auch die fiktionale Autobiographie inszenieren den Vorgang des Erzählens durch einen IchErzähler, dessen Geschichte als das Resultat eines Erinnerungsvorgangs, als Mnémotext, bezeichnet werden kann. Becketts Trilogie, die in der Forschungsliteratur immer wieder als verdeckt autobiographisches Werk interpretiert wurde, wird im Folgenden als eine ‚fiktionale Autobiographie‘ bezeichnet. Damit soll zunächst vor allem ihre Fiktionalität hervorgehoben werden: Auch wenn die Texte eine Reihe von Bezügen zu Beckett herstellen lassen, so geht es nicht darum, sie mit dieser Realität abzugleichen. Zum anderen soll damit markiert werden, dass die Texte bewusst auf Problemzusammenhänge der Autobiographie rekurrieren: „[Fictional autobiographies] are conscious of the important role that narration has on the continuous self-construction of a tentative identity. If traditional characters are believed to preexist the story that represents them, autofictional subjects come into being through the stories they tell about themselves.“19
Becketts Trilogie arbeitet sich an der Problematik einer narrativen/ autobiographischen Identitätsherstellung ab und unterminiert dabei sukzessive die autobiographische Erzählform. Ich lese seine drei Romane in Anlehnung an Charlotte Renner, die die Trilogie als
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Der Wechsel des Erzählmodus kündigt sich schon in den kurzen IchErzählungen La Fin, L’Expulsé, Premier Amour und Le Calmant an, welche Beckett nach den noch auf Englisch und in der dritten Person verfassten Romanen Murphy und Watt Mitte der vierziger Jahre verfasst. Salmon-Bitton, Nirit: „‚Himself He Devises Too for Company‘: Self-making in Samuel Beckett’s Company“. In: Literature and Medicine 25 (1), S. 142.
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„multi-vocal fiction“20 bezeichnet, als ein chorales Werk, das von mehr als einer Stimme erzählt wird. In Molloy geht Beckett der Grundproblematik des autobiographischen Schreibens, der Tatsache, dass das schreibende Ich sich als Erlebendes und als Erzählendes, als Subjekt und Objekt gegenübersteht, zunächst auf einer Metaebene nach und stellt dies in seiner unauflösbaren Paradoxie dar.21 Die in Szene gesetzte Unmöglichkeit, sich selbst schreibend zu finden, setzt das Spiel der Erzählerkaskaden in Gang. Zugleich lenkt der Roman auf der Objektebene der beiden Romanhälften den Blick auf die Identitätsherstellung des Erzählers im Erzählakt. Diese wird in der MolloyErzählung als Selbstentstehung aus der Sicht des Erzählers und in der Moran-Erzählung als Suche nach einer Figur aus der Sicht eines Autors geschildert. Beckett findet dabei zu einer neuen Form des Schreibens, die als ‚zweifache Stimmführung‘ bezeichnet werden soll. In Malone meurt verfolgt das schreibende Ich eine andere Strategie. Es setzt das autobiographische Muster zugunsten von Fiktionalität demonstrativ außer Kraft und versucht, eine Geschichte unabhängig von autobiographischer Erinnerung zu imaginieren und fortan nur noch zu ‚spielen‘. Doch zum einen langweilt sich das schreibende Ich bei seinem Spiel, zum anderen gelingt es ihm nicht, das Spiel wirklich bis zum Ende konsequent durchzuführen. Wurde in Molloy die Entstehung einer Figur reflektiert, so wird in Malone meurt die Freiheit der Imagination gegenüber ihrer Gebundenheit an subjektive Erfahrungen ausgelotet. In L’Innommable geht Beckett noch einen Schritt weiter und versucht die Imagination für etwas radikal Neues zu nutzen, d.h. eine Figur jenseits des Vorstellbaren zu erfinden. Mit dem NichtEntstehen der Figur Worm treten die Grenzen der Imagination und ihre Gebundenheit an Erfahrung noch deutlicher als in Malone meurt hervor. Es folgt der verzweifelte Versuch, doch noch von sich selbst zu sprechen und eine Möglichkeit zu finden, Erzähler und Erlebender zugleich zu sein.
20
21
Renner, Charlotte: „The Self-Multiplying Narrators of Molloy, Malone Dies and The Unnamable“. In: Bloom, Harold (Hg.): Samuel Beckett’s Molloy, Malone Dies, The Unnamable. New York 1988, S. 97. Vgl. hierzu auch Klinkert: Bewahren und Löschen, S. 125 ff.
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2.1 Molloy Molloy unterscheidet sich von den beiden folgenden Romanen Malone meurt und L’Innommable zunächst durch seine binäre Struktur. Der Roman besteht aus zwei Ich-Erzählungen, deren innerer Zusammenhang durch zahlreiche Bezüge zwischen beiden Erzählungen zwar vorhanden zu sein scheint, sich jedoch nicht eindeutig erschließt. Der erste Teil handelt von der Suche des Ich-Erzählers Molloy nach seiner Mutter, im zweiten Teil berichtet Moran von seiner Suche nach Molloy. Dabei wird das Subjekt des ersten Teils, Molloy, zum Objekt des zweiten Teils, ein Strukturmerkmal, auf das ich noch zurückkommen werde. Die Erzählweise Morans erweist sich gegenüber derjenigen von Molloy als konventioneller: Ganz im Gegensatz zu Molloy, der aufgrund seiner existenziellen Unsicherheit und seines schlechten Gedächtnisses als ‚unreliable narrator‘ gewertet werden kann, figuriert Moran (zunächst) als ein klarer und analytischer Berichterstatter, der den Auftrag bekommen hat, Molloy zu suchen und über diese Suche einen Rapport zu verfassen. Beide Suchen enden ergebnislos. Molloy findet seine Mutter nicht, er vergisst sogar, dass er sie sucht, irrt durch Wälder und Sümpfe und endet schließlich in einem Graben, in dem er – von der sich im berühmten letzten Satz durch einen Perspektivenwechsel von der ersten zur dritten Person von ihm absetzenden Erzählinstanz – liegen gelassen wird: „Molloy pouvait rester, là où il était.“ (M 124) Nachdem Moran den Auftrag bekommen hat, sich mit seinem Sohn auf die Suche nach Molloy zu begeben, verbringt auch er einige Zeit in den Wäldern herumirrend, von wo er sich schließlich unverrichteter Dinge wieder auf den Weg nach Hause macht, um seinen Bericht über die ergebnislose Suche zu verfassen. Obwohl eine Reihe von Textstellen nahelegen, dass die MoranErzählung der Molloy-Erzählung chronologisch vorgeordnet ist und Moran als eine frühere Version von Molloy angesehen werden kann – Molloy erinnert sich, früher einmal wie Moran einen Sohn gehabt zu haben, beide bekommen sonntags Besuch von Gaber et cetera –, vereitelt der Text diese eindeutige Lesart, indem solche Zusammenhänge in der Schwebe gelassen, mitunter sogar durch widersprüchliche Aussagen unterlaufen werden: „Das vom Leser erwartete kreisförmige Sichschließen der beiden Fabeln im Sinne der Stimmigkeit wird durch ein hyperbelförmiges Auseinanderschnellen der beiden Teile verweigert.“22
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Indem der Roman eine inhaltlich eindeutige Zuordnung nicht zulässt, diese aber zugleich geschickt durch mögliche Bezüge evoziert, wird auch der Leser zu einer Suche motiviert, welche die beschriebenen ‚Questes‘ der beiden Erzähler auf einer dritten Ebene wiederholt. Ist Molloy auf der Suche nach seiner Mutter (bzw. seiner narrativen Selbstkonstitution) und Moran auf der Suche nach Molloy (die auch als Suche eines Autors nach seiner Figur gelesen werden kann), so wird der Leser dazu angeregt, sich auf die Suche nach dem Zusammenhang zwischen beiden Figuren (bzw. zwischen beiden Schreib- oder Erzählweisen) zu begeben. Die binäre Struktur des Romans, in dem es kein Zentrum gibt und dessen zwei Teile auch nicht ineinandergespiegelt oder geschlossen werden können, ist schon insofern essentiell, als sie auf der Makroebene des Romans die Vorstellung einer zentralen vermittelnden Perspektive unterläuft. Der Roman wurde aufgrund seines nicht auszumachenden Ursprungs mehrfach mit Derridas Figur der différance in Verbindung gebracht, da das sprechende Ich sich immer nur als eine mögliche Variante einer Vielzahl von supplementären Ichs zu erkennen gibt, die endlos aufeinander verweisen, aber kein Zentrum haben.23 Ich werde im Folgenden einen Schritt zurückgehen und zeigen, welche Überlegungen der Figur der différance – als zweifellos passendem Konzept zur Beschreibung der grundlegenden Bewegung der gesamten Trilogie – erzähltechnisch vorausgehen und diese überhaupt erst generieren. Der Roman Molloy, so meine These, setzt in seiner Zweigeteiltheit auf einer Metaebene das Paradoxon jeder autobiographischen Ich-Konstitution in Szene, bei dem das erzählende Subjekt notwendigerweise zum Objekt seiner eigenen Erzählung wird und sich in ein erzählendes und in ein erzähltes Ich aufspalten muss.24 Morans Versuch, Molloy zu finden, kann als eine Allegorie dieser Problematik gelesen werden. 22 23
24
Smuda, Manfred: Becketts Prosa als Metasprache. München 1970, S. 60. Vgl. u. a. die Studien von Begam, Richard: Samuel Beckett and the End of Modernity. Stanford 1996; Trezise, Thomas: Into the Breach. Samuel Beckett and the Ends of Literature. Princeton 1990 und Connor, Steven: Samuel Beckett: Repetition, Theory and Text. Oxford 1988. Vgl. hierzu auch Émile Benveniste, der die Unmöglichkeit des Bewusstseins, sich selbst reflexiv auf den Grund zu kommen, in seiner 1966 erschienenen Studie Problèmes de linguistique générale auf der Ebene der Sprache erörtert. Benveniste zeigt, dass jede sprachliche Äußerung eines Ich auf zwei Subjekte verweist, zum einen auf das sprechende Subjekt (‚sujet de l’énonciation‘) und zum anderen auf das sich im Text etablierende Subjekt (‚sujet de l’énoncé‘), wobei das sprechende Ich sich im Moment des Sprechens von sich selbst dis-
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Zugleich inauguriert der Roman die umfassende Auseinandersetzung mit Imaginationsprozessen. Sein eigentliches Sujet ist das Schreiben selbst: „Die eigentliche übergreifende Handlung beider Romane ist das Schreiben und der eigentliche übergreifende Ort dieser Handlung ist das Zimmer, in dem geschrieben wird. Das Herumirren ist nur eine Metapher des Schreibens, die Landschaft ist eine innere.“25 Beide Erzählungen fokussieren unter jeweils verschiedenen Ausgangspositionen Imaginationsprozesse. In der Molloy-Erzählung wird die textuelle Selbstentstehung eines Erzählers dargestellt, in der Moran-Erzählung wird in umgekehrter Perspektive beschrieben, wie ein Autor seine Figur erfindet. Beide Prozesse sollen im Folgenden detailliert dargestellt werden, um im Anschluss herauszuarbeiten, wie der Roman in beiden Erzählungen eine vielstimmige und ambivalente Sprecherposition entstehen lässt.
Molloys textuelle Selbstentstehung Die Molloy-Erzählung beginnt wie alle drei Romane mit einem Vorwort („préambule”), in dem die geplante Vorgehensweise und die Strategien der Erzählweise reflektiert werden.26 Diese Einleitungen nehmen aufeinander Bezug und konstituieren dadurch eine Metaebene, die auf eine übergeordnete Autor- bzw. Erzählinstanz der gesamten Trilogie verweist. Im Unterschied zu Malone meurt und L’Innommable wird das Vorwort in Molloy nicht namentlich benannt, sondern nur typographisch durch den einzigen Absatz im gesamten Text gekennzeichnet. Sie setzt an, nachdem Molloy knapp zwei Seiten lang seine aktuelle (Schreib-)Situation im Zimmer seiner Mutter geschildert hat, und ist zwischen die Beschreibung seiner jetzigen Situation und den Beginn seiner autobiographischen Geschichte geschaltet. In diesem Vorwort wird der Blick auf den Imaginationsprozess eines schreibenden Ich27 und seine
25
26 27
tanziert und die beiden Ebenen niemals zur Deckung kommen können. Benveniste, Émile: Problèmes de linguistique générale. Paris 1966, S. 258-266. Kesting, Marianne: „Ich-Figuration und Erzählerschachtelung. Zur Selbstreflexion der dichterischen Imagination“. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Band 41, 1991, S. 40. Das Vorwort zu Molloy hat Beckett erst verfasst, nachdem er sowohl Molloy als auch Malone meurt schon geschrieben hatte. Zum Begriff des schreibenden Ich siehe die Ausführungen in der Einleitung dieser Arbeit, S. 20 f.
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Verwandlung in die Erzählerfigur Molloy gelenkt. Sie beginnt mit dem ausdrücklichen Hinweis Molloys auf seine textuelle Selbstentstehung: „Voici mon commencement à moi. Ça doit signifier quelque chose, puisqu’ils le gardent. Le voici.“ (M 8) Geschildert wird der graduelle Übergang eines schreibenden Ich in seine Geschichte, wobei zugleich eine Art Vorschau auf die grundlegenden Bauprinzipien des entstehenden Romans gegeben wird. Es beginnt damit, dass das schreibende Ich seinen Blick nach innen wendet: „Tout s’estompe. Un peu plus et on sera aveugle. C’est dans la tête. Elle ne marche plus, elle dit, Je ne marche plus. On devient muet aussi et les bruits s’affaiblissent. A peine le seuil franchi c’est ainsi. C’est la tête qui doit en avoir assez. De sorte qu’on se dit, J’arriverai bien cette fois-ci, puis encore une autre peut-être, puis ce sera tout. C’est avec peine qu’on formule cette pensée, car c’en est une, dans un sens. Alors on veut faire attention, considérer avec attention toutes ces choses obscures, en se disant, péniblement, que la faute en est à soi. La faute? C’est le mot qu’on a employé.“ (M 8 f.)
Am Beginn des Imaginationsprozesses steht eine Art Auflösung („tout s’estompe“), die als Überschreiten einer Schwelle bezeichnet wird („le seuil franchi“), und bei der körperliche Funktionen wie Sehen, Hören und Sprechen außer Kraft gesetzt werden. Wir befinden uns in einem Kopf, dessen Gehirnfunktionen ebenfalls außer Kraft gesetzt zu sein scheinen: „Elle [la tête] dit, je ne marche plus.“ Die Anstrengung, die es kostet, den Blick auf die eigenen Innenwelten zu lenken, führt dazu, dass das schreibende Ich glaubt, diesen Zustand nur noch zweimal evozieren zu können („J’arriverai bien cette fois-ci, puis encore une autre peut-être, puis ce sera tout.“).28 Das schreibende Ich nimmt sich vor, trotz der Schwierigkeiten, die ihm diese Situation bereitet, die sich vollziehenden dunklen Prozesse aufmerksam zu verfolgen: „considérer avec attention toutes ces choses obscures, en se disant, péniblement, que la faute en est à soi. La faute? C’est le mot qu’on a employé“. Seine Bemerkung über die Fehlerhaftigkeit, die in der Sache selbst begründet liege, kann als kritischer Kommentar gegenüber der von Platon herrührenden Tradition verstanden werden, welche die Fiktion gegenüber der Realität als falsch und zweitrangig abgewertet hat. Kaum ist der Abstieg in den eigenen Schädel vollzogen und der 28
Beckett hatte ursprünglich nur die beiden Romane Molloy und Malone meurt geplant. Die Ankündigung, der Abstieg werde wahrscheinlich nur noch zwei Mal erfolgen, kann als Vorausschau auf Malone meurt gedeutet werden.
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Blick auf die eigenen Bewusstseinsprozesse gelenkt, entsteht abrupt ein erstes Bild: „Il passe des gens aussi, dont il n’est pas facile de se distinguer avec netteté. Voilà qui est décourageant. C’est ainsi que je vis A et B aller lentement l’un vers l’autre, sans se rendre compte de ce qu’ils faisaient. C’était sur une route d’une nudité frappante, je veux dire sans haies ni murs ni bordures d’aucune sorte, à la campagne, car dans d’immenses champs des vaches mâchaient, couchées et debout, dans le silence du soir. J’invente peut-être un peu, j’embellis peut-être, mais dans l’ensemble c’était ainsi.“ (M 9)
Das schreibende Ich sieht vor seinem inneren Auge Figuren vorbeiziehen, die sich auf den ersten Blick nicht von ihm selbst unterscheiden lassen. Noch ist das Bild unbestimmt und nackt: A und B, die noch über kein eigenes Figurenbewusstsein verfügen („sans se rendre compte de ce qu’ils faisaient“), gehen auf einer kahlen Straße („d’une nudité frappante“) aufeinander zu. Eben noch nackt, wird dieses Bild noch innerhalb des gleichen Satzes ausgeschmückt und mit kauenden Kühen auf riesigen Feldern in einer stillen Abendstimmung vorgestellt. Sofort gesteht sich das schreibende Ich ein, dass es die entstehende Szene vielleicht ein wenig verschönert („j’embellis peut-être“), doch im Großen und Ganzen verbürgt es sich dafür, dass sie sich so abgespielt habe („dans l’ensemble c’était ainsi“). Es zeigt sich, dass passive und aktive Leistungen im Imaginationsakt ineinander übergehen und entstehende Bilder im gleichen Moment weiter ausgestaltet werden. Werden die Bilder zu plastisch, wundert sich das schreibende Ich, ob es sich nicht um seine eigenen Erinnerungen handelt: „Mais c’est peut-être là des souvenirs“ (M 9), womit die Frage nach der Unterscheidung von Imagination und Erinnerung aufgegriffen wird, die Beckett schon in seinem Proust-Aufsatz beschäftigte. In der Folge zeichnen sich erste genauere Bestimmungen ab. Die beiden imaginierten Männer sehen sich ähnlich, tragen Mäntel und Hüte und scheinen auf dem unwegsamen Gelände aufeinander zuzulaufen, um dann doch wieder ihrer Wege zu gehen. Das schreibende Ich, welches sich – wie es später erwähnt – auf einem „poste d’observation“ (M 16) versteckt hält, verfolgt zunächst A und wendet dann seinen Blick B zu, in der Hoffnung, so viel wie möglich über seine Figuren herauszufinden: „C’étaient deux hommes, impossible de s’y tromper, un petit et un grand. Ils étaient sortis de la ville, d’abord l’un, puis l’autre, et le premier, las ou se rappelant une obligation, était revenu sur ses pas.
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L’air était frais, car ils avaient leur manteau. Ils se ressemblaient, mais pas plus que les autres. Un grand espace les séparait d’abord.“ (M 9)
Wie ein Spion einer von ihm unabhängigen Szenerie versucht das schreibende Ich deren Einzelheiten zu erkennen: „Il portait un chapeau pointu, à ce qu’il me semblait.“ (M 12) Die beiden Männer, die immer genauer beschrieben werden, können als eine erste Idee, aus welcher der folgende Roman entstehen wird, angesehen werden. Die Episode von A und B stellt in dieser Perspektive eine Art Grundgerüst des Romans dar, anhand dessen das schreibende Ich seine Komposition der beiden Geschichten von Molloy und Moran entwickeln wird. Zunächst ist das Verhältnis zwischen dem schreibenden Ich und seinen beiden Figuren noch durch seine Abhängigkeit von ihnen gekennzeichnet: „Je le regardais s’éloigner, aux prises (moi) avec la tentation de me lever et de le suivre, de le rejoindre même peut-être un jour, afin de mieux le connaître, afin d’être moi-même moins seul. Mais malgré cet élan vers lui de mon âme, au bout de son élastique, je le voyais mal, à cause de l’obscurité et puis aussi du terrain, dans les plis duquel il disparaissait de temps en temps, pour ré-émerger plus loin, mais surtout je crois à cause des autres choses qui m’appelaient et vers lesquelles également mon âme s’élançait à tour de rôle, sans méthode et affolée“ (M 12 f.).
Die Figuren scheinen über ein Eigenleben zu verfügen, demgegenüber das schreibende Ich relativ hilflos ist. Aufgrund der „obscurité“, welche den Imaginationsprozess auszeichnet, verliert es A immer wieder aus den Augen. Lässt die Konzentration des schreibenden Ich auch nur für einen Moment nach, driftet seine Aufmerksamkeit „sans méthode et affolée“ zu anderen Dingen ab, sodass zum Beispiel plötzlich seine schreibende Hand in den Blick gerät: „Oui, vers ma main aussi, que mon genou sentait trembler et dont mes yeux ne voyaient que le poignet, le dos fortement veiné et la blancheur des premières phalanges. Mais ce n’est pas d’elle, je veux parler de cette main, que je veux parler à présent, chaque chose en son temps, mais de cet A ou B qui se dirige vers la ville dont il vient de sortir.“ (M 13)
Der Blick des schreibenden Ich oszilliert damit immer wieder zwischen seinen Figuren und der Beschreibung ihres Entstehungsaktes. Dabei sind die Momente, in denen es seine Figur verliert, nicht nur negativ konnotiert:
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„Et je suis à nouveau je ne dirai pas seul, non, ce n’est pas mon genre, mais, comment dire, je ne sais pas, rendu à moi, non, je ne me suis jamais quitté, libre, voilà, je ne sais pas ce que ça veut dire mais c’est le mot que j’entends employer, libre de quoi faire, de ne rien faire, de savoir, mais quoi, les lois de la conscience peut-être, de ma conscience“ (M 15 f.).
Sobald das schreibende Ich nicht mehr unmittelbar damit beschäftigt ist, seine Figuren zu verfolgen, wendet es sich der Reflexion des eben ‚Erlebten‘ zu und erforscht die Regeln seines imaginierenden Bewusstseins: „tout cet espace intérieur qu’on ne voit jamais, le cerveau et le cœur et les autres cavernes où sentiment et pensée tiennent leur sabbat, tout cela bien autrement disposé.“ (M 11) Doch wozu diese Prozedur? Das schreibende Ich fragt sich selbst, was es mit diesen Geschichten zu tun hat: „Et moi qu’étais-je venu y faire? C’est ce que nous allons essayer de savoir.“ (M 17) Schon hier zeichnet sich das später in Malone meurt zentral werdende Anliegen ab, das Verhältnis von Imagination und (schreibender) Subjektivität im Akt des Schreibens selbst zu erkunden. Zunächst bemerkt das schreibende Ich, auf das Erfinden von Geschichten angewiesen zu sein: „Il est bon, il me dit ceci et cela, m’apprend des choses, d’où il vient, où il va. Je le crois, je sais que c’est ma seule chance de – ma seule chance, je crois tout ce qu’on me dit, je ne m’y suis que trop refusé dans ma longue vie, maintenant je gobe tout, avec avidité. Ce dont j’ai besoin c’est des histoires, j’ai mis longtemps à le savoir. D’ailleurs je n’en suis pas sûr.“ (M 15)
Die Unsicherheit über die Notwendigkeit des Geschichtenerzählens kann als eine Prolepse auf L’Innommable gelesen werden, in dem das schreibende Ich versuchen wird, einen Selbstbezug jenseits der Narration zu etablieren. Zunächst wird das schreibende Ich jedoch die möglichen Funktionen des Geschichtenerzählens ausloten, die ihm auch dazu dienen, nicht von sich selbst sprechen zu müssen: „Dire que je fais mon possible pour ne pas parler de moi.“ (M 15) Ungeduldig ruft es dazu auf, fortzufahren, die Szenen auszumalen, bis die Seiten schwarz, das heißt das Heft vollgeschrieben ist: „Qu’à cela ne tienne, poursuivons, faisons comme si tout était surgi du même ennui, meublons, meublons, jusqu’au plein noir.“ (M 17) Der von Beckett beschriebene Imaginationsakt verläuft nicht nur visuell, sondern schließt auch auditive Momente ein. Immer wieder zieht das schreibende Ich sich in einer Art Wachtraum ganz in sich
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selbst zurück, um den Geräuschen seiner Figuren zu lauschen: „Ce qui est sûr, c’est que l’homme au bâton ne repassa pas par là cette nuit-là, car je l’aurais entendu. Je ne dis pas que je l’aurais vu, je dis que je l’aurais entendu.“ (M 17) Es folgt ein Moment der Ruhe, bevor das bisher vorrangig passiv lauschende und seine Figuren erspähende Ich das Zepter in die Hand nimmt und von nun an als „chef d’orchestre“ in Erscheinung tritt: „Un instant de silence, comme lorsque le chef d’orchestre frappe sur son pupitre, lève les bras, avant les fracas des colles. De la fumée, des bâtons, de la chair, des cheveux, le soir, au loin, autour du désir d’un frère. Ces haillons je sais les susciter, pour en couvrir ma honte. Je me demande ce que ça veut dire. Mais je ne serai pas toujours dans le besoin. Mais à propos du désir d’un frère je dirai que m’étant réveillé entre onze heures et midi (j’entendis l’angélus, rappelant l’incarnation, peu de temps après) je résolus d’aller voir ma mère.“ (M 18 f.)
Bevor Molloys Geschichte ansetzt, ein Spektakel, welches das schreibende Ich mit Rauch, Stöcken, Haut und Haaren zu erzeugen weiß und das in seinem Verlangen nach einem Bruder gründet („autour du désir d’un frère“), herrscht einen kurzen Moment lang Ruhe, welche die Inkarnation des schreibenden Ich in seine Erzählerfigur Molloy einleitet. Das schreibende Ich betont, dass es seinen Stoff („ces haillons“ sind im Deutschen eher die „Fetzen“) zum Leben zu erwecken weiß, um damit zugleich auch seine eigene Scham zu bedecken. Und dann, ganz nebenbei, „à propos du désir d’un frère“, wacht das schreibende Ich als Molloy auf, um sich endlich auf die Suche nach seiner Mutter zu begeben. Dieser sich beinahe unmerklich vollziehende Übergang vom schreibenden Ich zur Erzählerfigur Molloy wird einzig durch die in Parenthese gesetzte Information über das Angelus („j’entendis l’angélus, rappelant l’incarnation“), das seine ‚Fleischwerdung‘ einläutet, angedeutet. Fortan spricht in erster Linie Molloy, der die Geschichte von der Suche nach seiner Mutter erzählen wird. Das schreibende Ich hat eine temporäre Persona angenommen, eine Rolle, die es ihm erlauben wird, seine Geschichte zu erzählen. Gleichwohl scheint es als sprechende Instanz immer wieder hinter den Aussagen Molloys durch, wobei Einschübe wie der folgende immer sowohl als Aussagen Molloys als auch als Metakommentare des schreibenden Ich gelesen werden können:
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„J’ai des genoux énormes, je viens de les voir, en me levant un instant. Mes deux jambes sont raides comme la justice et cependant je me lève de temps en temps. Qu’est-ce que vous voulez. Ainsi de temps en temps je rappellerai mon existence actuelle dont celle que je conte ne peut donner qu’une faible idée. Mais de loin en loin seulement, afin qu’on puisse se dire, le cas écheant, Se peut-il vraiment que ça vive encore? Ou encore, Mais ç’est un journal intime, ça va bientôt s’arreter.“ (M 82)
Es entsteht eine Art ‚zweifache Stimmführung‘, die nie eindeutig auf einen Sprecher zurückgeführt werden kann und über die sich das schreibende Ich selbst nicht im Klaren ist: „J’avais oublié qui j’étais (il y avait de quoi) et parlé de moi comme j’aurais parlé d’un autre, s’il m’avait fallu absolument parler d’un autre. Oui cela m’arrive et cela m’arrivera encore d’oublier qui je suis et d’évoluer devant moi à la manière d’un étranger.“ (M 55)
In einer der ersten Kritiken zu Becketts Trilogie, die 1951 in Le Monde erscheint, stellt Maurice Blanchot die Frage nach dem sprechenden Subjekt in Becketts Texten: „Qui parle dans l’œuvre de Samuel Beckett?“29 – eine Frage, deren Beantwortung der Literaturwissenschaft bis heute Schwierigkeiten bereitet. Blanchots Frage – die auf den ersten Blick einfach und klar erscheint – impliziert eine Reihe weiterer Fragen, die zunächst vor allem von der französischen Theoriebildung aufgenommen und diskutiert wurden: Wer oder was bürgt für die Authentizität und Kohärenz des Textes? Wen oder was lokalisieren wir als Quelle für die in den Texten entstehende Bedeutung? Welche Bedeutung schreiben wir dem Autor für die Erschließung eines Textes zu? Roland Barthes greift diese Fragen in seinem 1968 erschienenen Aufsatz „La mort de l’auteur“ auf. Bezug nehmend auf einen Text von Balzac fragt er nach den Möglichkeiten der Zuordnung literarischen Sprechens: „Qui parle ainsi? Est-ce le héros de la nouvelle, intéressé à ignorer le castrat qui se cache sous la femme? Est-ce l’individu Balzac, pourvu par son expérience personnelle d’une philosophie de la femme? Est-ce l’auteur Balzac, professant des idées ‚littéraires‘ sur la féminité? Est-ce la sagesse universelle? La psychologie romantique?“30
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Zitiert nach dem Reprint in Blanchot, Maurice: Le livre à venir. Paris 1959, S. 256. Barthes, Roland: „La mort de l’auteur“. In: Ders.: Le bruissement de la langue. Paris 1984, S. 61.
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Barthes argumentiert, dass selbst in den Texten eines so realistischen Erzählers wie Balzac die narrative Stimme immer ambivalent und doppeldeutig ist.31 Zwei Jahre später wiederholt auch Michel Foucault in „Qu’est-ce qu’un auteur?“ die Frage nach dem sprechenden Subjekt im literarischen Text. In seiner Replik auf Barthes zitiert er Beckett, „Qu’importe qui parle, quelqu’un a dit qu’importe qui parle?“32, und stellt die Funktion des Autors grundsätzlich in Frage. So fruchtbar sich diese Diskussionen für die Literaturwissenschaft erweisen werden, indem sie Denkkonventionen aufbrechen und neue Sichtweisen auf literarische Texte ermöglichen: Blanchots Frage beantworten sie nicht – zumindest nicht, wenn man sie auf die direkte Textebene bezieht. Geht man mit Thomas Klinkert davon aus, dass die Texte Becketts eine „doppelte Lesbarkeit als grundlegendes Strukturprinzip“33 etablieren, so stellt sich die Frage, wie diese doppelte Lesbarkeit terminologisch genauer gefasst werden kann. In welchem Verhältnis stehen Autor, Erzähler und Protagonist in Becketts Texten? Was ist das spezifisch Neue oder Ungewöhnliche seiner Erzählweise? Beckett selbst hat in einem Brief an Hugh Kenner erklärt, dass es ihm in Molloy gelungen sei, zu einer neuen Form des Erzählens zu finden, die er mit der Formulierung des „narrator/narrated“34 beschreibt. Obwohl nicht klar ist, was Beckett mit dieser Formulierung genau gemeint hat35, zirkuliert sie in zahlreichen BeckettInterpretationen. Richard Begam zum Beispiel mutmaßt: „[T]his formulation suggests not only that the narrator narrates himself, but also that he is narrated by someone else, that, dispossessed of his own story, he becomes the narrative property of an unidentified third person.“36 Angenommen, der Schrägstrich der Bezeichnung soll tatsächlich darauf verweisen, dass der Erzähler sich immer auch 31
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Maurice Blanchot kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn er feststellt, dass es in der Literatur kein direktes Sprechen gebe: „dans la littérature il n’y a pas de voix direct“. Vgl. Blanchot: Le livre à venir, S. 260. Foucault, Michel: „Qu’est-ce qu’un auteur?“ In: Ders.: Dits et Écrits I, 19541969. Paris 1994, S. 789-821. Klinkert: Bewahren und Löschen, S. 123. Kenner, Hugh: A Reader’s Guide to Samuel Beckett. London 1973, S. 94. Kenner paraphrasiert Becketts Brief nur. Der Brief befindet sich im bis heute nicht zugänglichen Nachlass von Hugh Kenner und wurde nie veröffentlicht. Begam: Samuel Beckett and the End of Modernity, S. 99.
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als das Erzählte, das heißt als etwas passiv Hergestelltes zu erkennen gibt, als eine Figur, die von einer dritten Instanz erzählt wird, so stellt sich die Frage, wie diese dritte Instanz zu fassen bzw. zu bezeichnen wäre. Eine weitere Lesart der Formulierung „narrator/ narrated“ ist, dass Beckett mit dem Schrägstrich darauf hinweisen wollte, dass es ihm gelungen ist, beides gleichzeitig sichtbar zu machen, sowohl den Erzähler als auch die Tatsache, dass er textlich hergestellt wird.
Morans Suche nach seiner Figur Auch in der Moran-Erzählung wird die Entstehung einer literarischen Figur verhandelt, wenn auch diesmal aus der Perspektive eines Autors, der sich auf die Suche nach seiner Figur begibt. Moran verkörpert einen souveränen und erfahrenen Autor, „un esprit méthodique“ (M 133), der schon eine Reihe von Fällen gelöst hat und auf ein langes Schriftstellerleben zurückblicken kann: „Quelle tourbe dans ma tête, quelle galerie de crevés. Murphy, Watt, Yerk, Mercier et tant d’autres. Je n’aurais pas cru que – si, je le crois volontiers. Des histoires, des histoires. Je n’ai pas su les raconter. Je n’aurai pas su raconter celle-ci.“ (M 187)
Dieser erfahrene Mann gerät angesichts seines jüngsten Auftrags in Schwierigkeiten. Schon zu Beginn spürt er eine Unruhe: „Le nœud de l’affaire Molloy, j’évitais toujours d’y penser. Je sentais une grande confusion me gagner.“ (M 133) Um in Ruhe über seinen Auftrag nachzudenken, begibt er sich in sein Bett, eine Vorgehensweise, die er gewöhnt ist und die als eine Parodie auf Prousts Recherche gelesen werden kann: „Je retirai ma veste et mes chaussures, déboutonnai mon pantalon et rentrai sous les couvertures. C’est allongé, bien au chaud, dans l’obscurité, que je pénètre le mieux la fausse turbulence du dehors, y situe la créature qu’on me livre, ai l’intuition de la marche à suivre, m’apaise dans l’absurde détresse d’autrui.“ (M 150)
Analog zu Molloys Entstehung im ersten Teil scheint auch der Imaginationsprozess Morans zunächst eher intuitiv und assoziativ abzulaufen. Es bedarf der dunklen Wärme des Bettes, um „la fausse turbulence du dehors“ zu ergründen und die Figur zu situieren, deren absurde Leiden ihren Erschaffer beruhigen. In dieser wohltuenden Dunkelheit erscheinen ihm die ersten Bilder: „Des masses s’ébranlent, nues comme des lois. Savoir de quoi elles sont faites,
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on n’y tient pas.“ (M 150) Moran scheint Molloy zu erfinden bzw. in sich zu finden: „Car là où Molloy ne pouvait être, Moran non plus d’ailleurs, Moran pouvait se courber sur Molloy. [...] Peut-être l’avais-je inventée, je veux dire trouvée toute faite dans ma tête. Il est certain qu’on rencontre parfois des inconnus qui ne le sont pas tout à fait, pour avoir joué un rôle dans certaines séquences cérébrales. Cela ne m’était jamais arrivé, je ne me croyais pas fait pour des expériences pareilles, et même le simple déjà vu me paraissait infiniment hors de ma portée. Mais cela avait tout l’air de m’arriver alors.“ (M 151 f.)
Zum ersten Mal widerfährt es Moran, dass ihm eine fast fertige Figur erscheint. Er verspürt eine „immense malaise […]. Car ce n’est pas une petite affaire, pour un homme mûr et qui se croit au bout de ses surprises, que de se voir le théâtre d’une ignominie pareille. Il y avait là vraiment de quoi être alarmé.“ (M 152) Die ihm erscheinende Figur unterscheidet sich von seinen bisherigen Fällen. Er muss Molloy ein Eigenleben zugestehen: „J’étais donc au courant de Molloy, sans toutefois savoir grand’ chose sur son compte. Je dirai brièvement le peu que je savais sur lui. J’indiquerai, à la même occasion, dans la connaissance que j’avais de Molloy, les lacunes les plus frappantes.“ (M 153)
Die neue Figur erhebt sich in ihm, kommt und geht, ohne dass Moran darauf großen Einfluss nehmen könnte. Jedes Mal, wenn er sich seiner Figur wieder annähert, empfindet er dies als eine Art Heimsuchung: „Il haletait. Il n’avait qu’à surgir en moi pour que je m’ emplisse de halètements.“ (M 154) Molloy wird seinen Erfinder immer häufiger aufsuchen: „C’est ainsi qu’il me visitait, à des intervalles très espacés. Je n’étais plus alors que fracas, lourdeur, colère, étouffement, effort incessant, forcené et vain. Tout le contraire de moi, quoi. Cela me changeait. Je le voyais disparaître, dans une sorte de hurlement de tout le corps, presque à regret. Quant à savoir où il voulait en venir, je n’en avais pas la moindre idée.“ (M 154)
Seine Figur beginnt ihn zu verändern, eine Entwicklung, die Moran erstaunlich unberührt lässt: „Qu’un homme comme moi, si méticuleux et calme [...] se laisse hanter et posséder par des chimères, cela aurait dû me paraître étrange, m’engager même à y mettre bon ordre, dans mon propre intérêt. Il n’en était rien.“ (M 155) Hatte Moran bisher seine Arbeit gewissenhaft und geduldig im Sinne eines Handwerks erledigt, beginnt er nun aufsässig zu wer-
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den und seinen Bericht nicht mehr nur nach Vorschrift, sondern an einigen Stellen nach eigenem Gutdünken zu schreiben: „Mais je le mènerai à mon gré, jusqu’à un certain point. [...] s’il y trouve des passages désobligeants pour lui et pour ses associès, tant pis pour nous tous“ (M 179). Sein Schreiben gleicht sich immer mehr der Schreibweise Molloys an. Moran wird vergesslich, er nimmt seine Behauptungen schnell wieder zurück und verwechselt Dinge. Auch vergisst er das Ziel seines Auftrags, was er mit Molloy anfangen soll, wenn er ihn gefunden hat. Der souveräne Autor wird zu einem Entdecker, der sich beim Schreiben auf ein Abenteuer einlässt und beginnt, daran Spaß zu haben. Parallel dazu fängt er an, eine innere Stimme zu vernehmen: „Et la voix que j’écoute, je n’ai pas eu besoin de Gaber pour me la transmettre. Car elle est en moi et elle m’exhorte à être jusqu’au bout ce fidèle serviteur que j’ai toujours été, d’une cause qui n’est pas la mienne, et de remplir patiemment mon rôle [...]. Comme vous voyez, c’est une voix assez ambiguë et qui n’est pas toujours facile à suivre, dans ses raisonnements et décrets. Mais je la suis néanmoins, plus ou moins, je la suis en ce sens, que je la comprends, et en ce sens, que je lui obéis.“ (M 179)
Die Stimme, die er fortan wahrnimmt und der er folgt („je la suis“ kann im Französischen sowohl heißen, dass er dieser Stimme folgt, als auch, dass er mit ihr identisch ist), soll ihm helfen, die Schrecken seiner neuen Freiheit zu ertragen. Moran ist sich bewusst, was er alles verlieren wird, wenn er sich tatsächlich auf sie einlässt: „je serai expulsé de ma maison, de mon jardin, un jour, que je perdrai mes arbres, mes pelouses, les oiseaux [...] et toutes les absurdes douceurs de mon intérieur, où chaque chose a sa place“ (M 180). Morans Beschreibungen erinnern an Becketts Proust-Aufsatz, in dem er die Schwierigkeiten, sich auf neue Gewohnheiten einzulassen, diagnostizierte: „The old ego dies hard. Such as it was, it was also an agent of security.“ (P 517) Liest man Becketts Roman Molloy vor dem Hintergrund seines Proust-Aufsatzes, so erscheint die Figur Moran (deren Name ein Anagramm von Roman ist) als eine Allegorie der Schwierigkeiten des modernen Romans, zu neuen Formen des Erzählens zu gelangen. Morans Verlustängste führen zugleich vor, auf welche Sicherheiten ein Autor verzichten muss, der sich nicht mehr innerhalb einer realistischen Konstruktion verortet: „Je suis trop vieux pour perdre tout ça, pour recommencer, je suis trop vieux!“ (M 180)
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Moran versucht sich zu beruhigen und beschließt, sein Land zu verlassen, um sich in dasjenige Molloys zu begeben, das nicht nur ihm, sondern letzten Endes auch Molloy unbekannt ist: „Par le pays de Molloy j’entends la région fort restreinte dont il n’avait jamais franchi, et vraisemblablement ne franchirait jamais, les limites administratives“ (M 181). Moran, der seine Figur auf der Handlungsebene nicht finden wird, wird seiner Figur in seinem Schreibstil immer ähnlicher. Überträgt man diese Entwicklung wieder auf die Metaebene des Romans, so kann man argumentieren, dass es dem Roman im Rahmen der realistischen Darstellung nicht gelingt, eine Lösung für die Problematik der Autobiographie – die Angleichung von Erzähler und Erzähltem – zu finden. Diese Suche endet ergebnislos. Die Angleichung zwischen Subjekt und Objekt, dem Erzähler und dem Erzählten kann – wenn überhaupt – nur in Form einer ästhetischen (Selbst-)Angleichung erfolgen. Ein Anzeichen dafür, dass sich der ‚neue‘ Moran vom realistischen Erzählparadigma zu lösen beginnt, ist, dass er am Ende des Romans die Fiktionalität seines Schreibens herausstreicht. Ob er deshalb schon vom Ballast des Realismus befreit ist, steht zu bezweifeln. Er hat noch einen langen Weg vor sich: „Est-ce à dire que je suis plus libre maintenant? Je ne sais pas. J’apprendrai. Alors je rentrai dans la maison et j’écrivis, Il est minuit. La pluie fouette les vitres. Il n’était pas minuit. Il ne pleuvait pas.“ (M 239) Molloys narrative Suche nach sich selbst kann als die Kernproblematik angesehen werden, um die sowohl die Moran-Erzählung als auch die folgenden Romane der Trilogie von einer Art Beobachterperspektive zweiter Ordnung kreisen. In dieser Reihe ist Molloy die einzige Figur, die nur ihre eigene Geschichte erzählt und nicht gleichzeitig auch als schreibende Autorfigur auftritt. Alle ihm folgenden Figuren befinden sich wie Moran auf einer zweiten Ebene der Selbstreflexion des Romans.
2.2 Malone meurt Nachdem in Molloy der Paradoxie und Grundproblematik autobiographischer Identitätsherstellung nachgegangen wurde, versucht das schreibende Ich in Malone meurt eine neue Schreibstrategie. Sein Ziel ist es, sich diesmal neutrale Geschichten zu erzählen und
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damit das in Molloy vorherrschende autobiographische Muster von vornherein außer Kraft zu setzen: „D’ici là je vais me raconter des histoires, si je peux. Ce ne sera pas le même genre d’histoires qu’autrefois, c’est tout. Ce seront des histoires ni belles ni vilaines, calmes, il n’y aura plus en elles ni laideur ni beauté ni fièvre, elles seront presque sans vie, comme l’artiste.“ (Mm 8)
Das schreibende Ich ist sich jedoch unsicher, ob ihm diese neue Strategie gelingen wird, wie der einschränkende Nebensatz „si je peux“ andeutet. Es prophezeit, dass seine Geschichten im Vergleich zu früher diesmal eher blutleer sein werden („presque sans vie, comme l’artiste“). Die im Nebensatz beiläufig erfolgende Parallelisierung von Kunstwerk und Künstler weist darauf hin, dass das schreibende Ich und seine Geschichte auch beim fiktionalen Erzählen eng verwoben sind. Der Roman setzt zunächst auf eine strikte Trennung zwischen dem Erzähler und der von ihm imaginierten Figur, die dann in mehreren Schritten aufgehoben wird. Zu Beginn des Romans erstellt sich der Erzähler Malone ein klares Programm: Er werde zunächst seine momentane Lage beschreiben, sich daraufhin drei Geschichten erzählen, um dann schließlich ein Inventar seiner Besitztümer zu erstellen (vgl. Mm 11-12). Malones Vorhaben wird ihm nicht gelingen, da er im Zuge seiner ersten Geschichte von einer seiner Figuren, dem Wärter Lemuel, mit einem Beil erschlagen wird und so seine Erzählung mitten im Satz abbrechen muss. Doch zurück zum Beginn des Romans und zu Malones Vorhaben eines neutralen Erzählens, das dadurch verwirklicht werden soll, dass der Erzähler sich immer wieder unterbricht und das Erzählte reflektiert, um sofort eingreifen zu können, falls seine Erzählung doch autobiographische Züge entwickeln sollte. Damit setzt Malone meurt die Selbstreflexion des Schreibens aus Molloy fort und rückt sie zugleich stärker in den Mittelpunkt des Geschehens. Während die selbstreflexive Ebene in Molloy weniger dominant war – es war noch möglich, Molloys Geschichte von der Suche nach seiner Mutter wie auch Morans Suche nach Molloy als jeweils in sich geschlossene Geschichten zu lesen –, spielt Malone meurt durchgehend auf zwei Ebenen, die sich permanent abwechseln. Malone schreibt seine Geschichten und reflektiert zugleich in einem fort auf sie. Dadurch werden die fiktionale und die selbstreflexive Ebene des Romans stärker aneinandergekoppelt. Da der Roman stets
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zwischen den beiden Ebenen hin- und herschaltet, wird dem Leser das Eintauchen in die Geschichte erschwert und seine Aufmerksamkeit auf den Schreibprozess und die Entstehungsakte der Geschichte gelenkt. Bevor das Verhältnis zwischen den beiden Erzählebenen in Malone meurt genauer untersucht wird, möchte ich zunächst wieder auf das Vorwort eingehen, in dem Beckett auf die geplante Erzählstrategie seines zweiten Romans der Trilogie reflektiert. Im Anschluss daran soll gezeigt werden, wie die zu Beginn postulierte Strategie im Erzählverlauf des Romans unterlaufen wird. Das schreibende Ich in Malone meurt gibt sich von Anfang an als eine temporäre Sprecherposition zu erkennen, die sich zur Zeit Malone nennt: „Malone (c’est en effet ainsi que je m’appelle à présent)“ (Mm 79). Wie Moran ist auch Malone eine Autorfigur: „Cette fois je sais où je vais. Ce n’est plus la nuit de jadis, de naguère. C’est un jeu maintenant, je vais jouer. Je n’ai pas su jouer jusqu’à présent. J’en avais envie, mais je savais que c’était impossible. Je m’y suis quand même appliqué, souvent. J’allumais partout, je regardais bien autour de moi, je me mettais à jouer avec ce que je voyais. Les gens et les choses ne demandent qu’à jouer, certains animaux aussi. Ça commençait bien, ils venaient tous à moi, contents qu’on veuille jouer avec eux. Si je disais, Maintenant j’ai besoin d’un bossu, il en arrivait un aussitôt, fier de la belle bosse qui allait faire son numéro. Il ne lui venait pas à l’idée que je pourrais lui demander de se déshabiller. Mais je ne tardais pas à me retrouver seul, sans lumière. C’est pourquoi j’ai renoncé à vouloir jouer et fait pour toujours miens l’informe et l’inarticulé, les hypothèses incurieuses, l’obscurité, la longue marche les bras en avant, la cachette. Tel est le sérieux dont depuis bientôt un siècle je ne me suis pour ainsi dire jamais départi. Maintenant ça va changer, je ne veux plus faire autre chose que jouer. Non, je ne vais pas commencer par une exagération. Mais je jouerai une grande partie du temps, dorénavant, la plus grande partie, si je peux. Mais je ne réussirai peut-être pas mieux qu’autrefois. Je vais peut-être me trouver abandonné comme autrefois, sans jouets, sans lumière. Alors je jouerai tout seul, je ferai comme si je me voyais. Avoir pu concevoir un tel projet m’encourage.“ (Mm 9 f.)
Die zitierte Passage, in der Malone über seine neue Vorgehensweise nachdenkt, kann zugleich als (Selbst-)Reflexion Becketts über sein bisheriges Schaffen und über neue Erzählmöglichkeiten gelesen werden. Wenn Malone von dem „bossu“ spricht, mit dem er früher spielte, so liegt es nahe, darin eine Anspielung auf den buckligen Mr. Hackett, eine der beiden Hauptfiguren aus Becketts früherem
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Roman Watt, zu sehen. Wie schon in Molloy inszeniert Beckett durch derartige Anspielungen, welche die Romanwelt des Erzählers übersteigen und auf einen übergeordneten Autor verweisen, auch in Malone meurt eine doppelte Lesbarkeit, bei der einzelne Aussagen sowohl auf ihn als Autor als auch auf seinen Erzähler bezogen werden können. Zugleich rücken derartige Anspielungen den Roman wieder in die Nähe der Autobiographie, da sie dem Leser nahe legen, Autor und Erzähler im Sinne des ‚autobiographischen Pakts‘ (Lejeune) als identisch anzusehen. Das schreibende Ich (Malone/Beckett) distanziert sich in seinem Vorwort von seinen bisherigen Texten, in denen es auf zu naive Weise mit seinen Figuren umgegangen sei. Obwohl ihm das Erfinden von Figuren meist leicht gefallen sei („Ça commençait bien, ils venaient tous à moi, contents qu’on veuille jouer avec eux“), sei es ihm bisher nicht gelungen, die Bedeutung seiner eigenen Figuren zu ergründen. Jedesmal, wenn es versucht habe, den fiktionalen Status seiner Figuren zu analysieren, seien sie ihm entglitten: „Il ne lui venait pas à l’idée que je pourrais lui demander de se déshabiller. Mais je ne tardais pas à me retrouver seul, sans lumière.“ Der Versuch des schreibenden Ich, seine Figuren zu entkleiden, illustriert sein Anliegen, die tiefere Bedeutung einer literarisch imaginierten Figur zu verstehen. Sein Wunsch ist es, nicht nur Geschichten zu erzählen, sondern zugleich auch zu begreifen, wie ihre Imagination zustande kommt und worauf sie verweist. Das schreibende Ich ist an einer Erzählweise interessiert, die nicht nur Geschichten erzählt, sondern zugleich auch die Funktionen des Erzählens ergründet. Es ist auf der Suche nach einer neuen Darstellungsform, ohne dabei auf das Erzählen verzichten zu wollen. Ein solcher Verzicht auf eine narrative Ebene, bei dem „l’informe et l’inarticulé, les hypothèses incurieuses, l’obscurité“ zum einzigen Gegenstand der Darstellung werden, scheint ihm keine Lösung mehr zu sein. Das schreibende Ich möchte zu einer neuen spielerischen Leichtigkeit gelangen: „Tel est le sérieux dont dépuis bientôt un siècle je ne me suis pour ainsi dire jamais départi. Maintenant ça va changer, je ne veux plus faire autre chose que jouer.“ Aus der zitierten Passage wird nicht klar, worin sich die Erzählstrategie Malones konkret von den bisherigen Versuchen unterscheiden wird. Das schreibende Ich ist sich selbst nicht sicher, ob es ihm gelingen wird, einen neuen Zugang zu seinen Figuren herzustellen. Falls nicht, verfügt es über einen letzten Ausweg: „Alors je jouerai tout seul, je ferai comme si je me voyais.“ Diese letzte
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Variante, bei der das schreibende Ich auf die Gesellschaft von literarischen Figuren zu verzichten sucht, wird L’Innommable durchspielen. Die Geschichte, die Malone sich selbst erzählen wird, handelt von Saposcat, der zunächst als eine Figur angelegt ist, die dem schreibenden Ich möglichst entgegengesetzt ist. Der Erzähler und das Erzählte werden einander damit zu Beginn des Romans diametral gegenübergestellt. Diese Opposition löst Beckett in seinem weiteren Verlauf schrittweise auf, bis sich die diskursive und die narrative Ebene des Romans nicht mehr unterscheiden lassen. Diese allmähliche Vermischung von Reflexion und Erzählung soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Zu Beginn des Romans sind die beiden Ebenen klar voneinander unterschieden und auch typographisch durch Absätze voneinander abgesetzt. Malones Reflexionen über das Erzählen wechseln sich mit seiner sich langsam entwickelnden Erzählung ab. Um Distanz zu erzeugen, erzählt Malone die Geschichte seiner Figur in der dritten Person. Auch der von ihm für seine Figur gewählte Name Saposcat – der erste innerhalb der Trilogie, der nicht mit der Initiale ‚M‘ beginnt – macht deutlich, dass die entstehende Figur nicht in den Reigen der bisherigen M-Figurationen eingereiht werden soll. Doch schon nach wenigen Seiten beginnt Malone seine Geschichte – die nichts mit ihm zu tun hat – zu langweilen: „Quel ennui. Et j’appelle ça jouer.“ (Mm 23 und passim) Obwohl er sich immer wieder ermuntert weiterzumachen und sich diverse Vorsichtsmaßnahmen überlegt hat, um ein Abgleiten in ein subjektives Erzählen zu vermeiden, verselbstständigt sich sein Schreiben im weiteren Verlauf immer häufiger. So irritieren ihn zum Beispiel die Möwenaugen, die er seiner Figur im Schwung der Erzählung attestiert hat. Malone unterbricht sich und denkt über dieses Detail nach: „Ces yeux de mouette me font tiquer. Ils me rappellent un vieux naufrage, je ne me rappelle plus lequel. C’est un détail évidemment. Mais je suis devenu craintif. Je connais ces petits phrases qui n’ont l’air de rien et qui, une fois admises, peuvent vous empester toute une langue. Rien n’est plus réel que rien. Elles sortent de l’abîme et n’ont de cesse qu’elles n’y entraînent. Mais cette fois je saurai m’en défendre.“ (Mm 29 f.)
Der Erzähler ist irritiert: Details wie dieses entspringen seiner Ansicht nach einem „Abgrund“ („Elles sortent de l’abîme“) und können weitreichende Folgen nach sich ziehen, da sie Realitätsbezüge
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ermöglichen („Rien n’est plus réel que rien“) und einem damit die „ganze Sprache verpesten können“ („une fois admises, [elles] peuvent vous empester toute une langue“). Geht man davon aus, dass das schreibende Ich eine nichtrepräsentative Erzählweise sucht, so wird verständlich, warum es die Möwenaugen so irritieren: Unbedacht eingefügte Details wie die Möwenaugen können vom Leser auf Becketts eigene stechende Augen bezogen werden. Solche vermeintlichen Realitätsbezüge des Romans leisten auf der Rezeptionsebene einer autobiographischen Lesart Vorschub und unterlaufen die Darstellung auf der Handlungsebene, die ein Erzählen jenseits subjektiver bzw. autobiographischer Elemente zu etablieren sucht. So sehr das schreibende Ich immer wieder versucht, eine objektive, neutrale Geschichte zu erzählen – es kann die Verselbstständigung seiner Figur nicht verhindern. Diese Entwicklung findet ihren Höhepunkt darin, dass Malones ‚Held‘ Saposcat seine Verortung auf dem Land selbst zu langweilig wird. Er beschließt, von dort wegzugehen, eine Entscheidung, die sowohl dem Erzähler als auch dem Leser beiläufig über die Tochter der Familie Louis mitgeteilt wird: „elle se décida à lui dire ce que Sapo lui avait dit, à savoir qu’il s’en allait, pour de bon“ (Mm 71). Spätestens an dem Punkt, an dem Malone sein ‚Held‘ abhanden gekommen ist, ist seine Erzählstrategie endgültig gescheitert. Schreiben und Imaginieren, das führt der Roman vor, folgen einer eigenen Logik. Jede fiktionale Geschichte birgt unweigerlich autobiographische bzw. subjektive Momente ihres Verfassers, ein neutrales Erfinden von Geschichten erweist sich als unmöglich: „Das fiktionale Spiel scheitert daran, daß Malones Erfindungskraft nicht stark genug ist, um sich von seiner eigenen Geschichte wirklich zu lösen. Sein Ziel ist es zwar, diese autobiographische Fixierung zu überwinden und eine fiktionale Welt zu erschaffen, aber trotz dieser gegenüber Molloy veränderten Erzählstrategie mißlingt sein Vorhaben, denn die Affinität von Erinnerung und Autobiographie ist offenbar zu stark, um die Entstehung eines von allen lebensweltlichpragmatischen Bezügen losgelösten, rein fiktionalen Textes zu ermöglichen.“37
Der Erzähler ist ratlos und überlegt, welche weiteren (Selbst-)Darstellungsmöglichkeiten ihm verbleiben: „Parler par exemple de ces périodes où je me liquéfie et passe à l’état de boue, à quoi cela ser37
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virait-il? Ou des autres où je me noierais dans le chas d’une aiguille, tellement je me suis durci et ramassé? Non, ce sont là d’aimables tentatives mais qui ne changent rien à l’affaire.“ (Mm 83) Wie lässt sich das Erleben des schreibenden Ich noch darstellen, über welche anderen Möglichkeiten verfügt es, von sich selbst und seinen wechselnden Zuständen zu sprechen, ohne diese in seine ewigen Stellvertretergeschichten zu kleiden? „Que d’histoires je me suis racontées, accroché au moisi, et enflant, enflant. En me disant, Ça y est, je la tiens ma légende. Et qu’y a-t-il de changé pour que je m’excite de cette façon? Non, disons-le, je ne naîtrai ni par conséquent ne mourrai jamais, c’est mieux ainsi. Et si je me raconte, et puis l’autre qui est mon petit, et que je mangerai comme j’ai mangé les autres, c’est comme toujours, par besoin d’ amour, merde alors, je ne m’attendais pas à ça, d’homuncule, je ne peux m’arrêter.“ (Mm 84)
Das schreibende Ich sieht sich nicht in der Lage, dem Modus der narrativen Identitätsbildung zu entkommen. Im Gegensatz zu Molloy ist das Problem in Malone meurt nicht mehr die Unmöglichkeit, zu einer abschließenden Identitätsdarstellung („ma légende“) zu gelangen, sondern die Tatsache, dass man trotz dieser Unmöglichkeit gezwungen ist, Geschichten von sich selbst in immer neuen, nicht enden wollenden Varianten zu erzählen. Jedes Mal, wenn eine Geschichte aufhört, muss das schreibende Ich ansetzen, eine neue zu erzählen. Es gibt kein Entkommen aus den endlosen Erzählerkaskaden, die sein Bewusstsein als Repräsentationsmöglichkeiten seiner selbst produziert und die seinen Kopf zum Platzen bringen: „Ma tête. Elle est en feu, pleine d’huile bouillante. [...] c’est quasiment insoutenable.“ (Mm 166) Es entsteht eine Subjektivität, die „die Unabschließbarkeit ihrer selbst durch die ständige Fiktionalisierung ihrer verschiedenen Selbstvergegenständlichungen aus sich heraus produziert“.38 Dem schreibenden Ich ist es nicht gestattet, zu schweigen, es muss am Spiel der Repräsentation weiter teilnehmen und weiter Geschichten erzählen. Malone fügt sich in sein Schicksal und nimmt seine Erzählung wieder auf: „J’ai mis du temps à le retrouver, mais c’est fait. A quoi est-ce que je l’ai reconnu? Je ne sais pas. Et qu’est-ce qui a pu le changer à ce
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Iser, Wolfgang: „Subjektivität als Selbstaufhebung ihrer Manifestationen. S. Beckett: ‚Molloy‘, ‚Malone Dies‘, ‚The Unnamable‘“. In: Ders.: Der implizite Leser. München 1972, S. 261.
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point? La vie peut-être, les tentatives d’aimer, de manger, d’échapper aux justiciers. Je me glisse dans lui, dans l’espoir sans doute d’apprendre quelque chose.“ (Mm 85)
Im weiteren Verlauf wird Malone gar nicht mehr versuchen, seine Erzählung von sich fernzuhalten, im Gegenteil, sein Schreiben ist nun darauf ausgerichtet, mit Hilfe seiner Figur etwas über sich selbst zu erfahren: Er beschließt, seine Figur fortan Macmann zu nennen, womit er sie schließlich in die Reihe der M-Figurationen einreiht und als eine weitere Version seines eigenen changierenden Ich ausweist. Im weiteren Verlauf des Romans verwischt Beckett die Grenzen zwischen den beiden Ebenen immer mehr. Zunächst parallelisiert er die Schreibbewegungen Malones mit den Bewegungen seiner Figur. Die unterschiedlichen körperlichen Lagen des schreibenden Malone in seinem Bett werden immer öfter auch von Macmann im Regen eingenommen (vgl. Mm 85-98). Fanden die Bewegungen des Schreibens und Denkens in Molloy im Herumirren der Figuren in den Landschaften eine metaphorische Entsprechung, so werden sie in Malone meurt direkt an die Bewegungen des schreibenden Ich gekoppelt. Parallel zu dieser sich langsam vollziehenden Engführung von Schreib- und Erzählbewegung beginnt Beckett, seinen Erzähler Malone auch in die von ihm selbst erzählte Geschichte zu überführen. So liefert Beckett ihn gemeinsam mit seiner Figur Macmann in ein Pflegeheim („l’asile Saint-Jean-de-Dieu“, Mm 136) ein, in welchem sich – wie sich später herausstellen wird – schon diverse weitere Romanfiguren aus seinen früheren Romanen befinden. Die Grenzen zwischen der Erzählebene Malones und dem von ihm Erzählten werden zunächst nur probeweise überschritten: „Macmann pygmée au bas des grands pins noirs gesticulants regarde au loin la mer démontée. Les autres sont là aussi, ou à la fenêtre, comme moi, mais debout, il faut que ce soient des ambulants, il le faut, des transportables tout au moins, non, comme moi non, ils ne peuvent rien pour personne, s’agrippant aux peupliers qui grelottent ou à la fenêtre, aux écoutes.“ (Mm 167, Hervorhebung J.W.)
Malone, das schreibende Ich, nimmt den gleichen Beobachterstandpunkt ein wie die anderen Bewohner des Heims und verortet sich damit zugleich auch innerhalb der von ihm erzählten Geschichte, um sich dann jedoch noch im gleichen Satz von dieser Ebenenüberschreitung wieder zu distanzieren („comme moi non“). Waren seine Erzählung und seine Selbstreflexionen bisher auch typogra-
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phisch voneinander abgehoben, so gehen sie nun ineinander über, wie der anschließende Satz zeigt, in dem Malone überlegt, sich selbst fortan zurückzunehmen und ganz aus seiner Geschichte zu verschwinden: „Mais je ferais peut-être mieux d’en finir avec moi d’abord, dans la mesure bien entendu du possible.“ (Ebd.) Malone beschließt, nicht mehr von sich selbst zu sprechen („je ne dirai plus je“, Mm 183), und beginnt, sich zugunsten von immer längeren unkommentierten Erzählabschnitten zurückzuziehen. Zuvor weist er den Leser jedoch noch einmal darauf hin, was ihn im Folgenden erwartet: „La vitesse à laquelle ça tourne est gênante certes, mais elle ne fera probablement qu’augmenter, voilà ce qu’il faut regarder. Mémorandum, ajouter au questionnaire, Si par hasard vous avez une allumette soyez assez gentil d’essayer de l’allumer. […] De ma main lointaine je compte les pages qui me restent. Ça ira. C’est ma vie, ce cahier, ce gros cahier d’enfant, j’ai mis du temps à m’y résigner. Pourtant je ne le jetterai pas. Car je veux y mettre une dernière fois ceux que j’ai appelés à mon secours, mais mal, de sorte qu’ils n’ont pas compris, afin qu’ils meurent avec moi.“ (Mm 167 f.)
Das schreibende Ich macht den Leser gemeinsam mit der ironischen Aufforderung, doch ein Streichholz zum Ausleuchten (der Geschichte) bereit zu halten, auf die ihn erwartende Erzählgeschwindigkeit auf den wenigen verbleibenden Seiten aufmerksam, die durch immer neue bizarre Wendungen der Geschichte erzeugt wird. Sein Schreibheft, in dem sich seine Geschichten und Selbstreflexionen befinden, der Roman, den der Leser vor Augen hat, stellen sein Leben dar und sind die einzige Möglichkeit, durch die Verkleidungen seiner Figuren hindurch von sich selbst zu sprechen. Da es aus dieser Paradoxie keinen Ausweg zu geben scheint, beschließt es, all seine Figuren noch einmal zusammenzuführen und gemeinsam mit ihnen zu sterben. Um diesen Plan in die Tat umzusetzen, führt Beckett auf den letzten Seiten des Romans den Wärter Lemuel als weitere Figur in die Handlung ein. Lemuel wird mit den Insassen des Asyls eine Bootsfahrt unternehmen und sie dabei zusammen mit dem Erzähler Malone umbringen. Malone situiert sich im Moment seines Todes ebenfalls auf der Ebene der Erzählung – er befindet sich gemeinsam mit den anderen Insassen ‚im selben Boot‘. Damit ist die Opposition von Erzähler und Erzähltem zwar am Ende des Romans überwunden, doch gelingt dies nur im Moment seines Todes – eine Darstellung, die an Becketts Überlegungen aus seinem Proust-
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Aufsatz erinnert, in dem er sich eine gelungene Identitätsfindung ebenfalls nur als außerzeitliches Moment vorstellen konnte. Geht man mit Guy Barnard davon aus, dass Lemuel als eine objektivierte Form von Samuel gedeutet werden kann39 und dass die Figuren, die sich mit Macmann im Asyl befinden, frühere IchFigurationen des schreibenden Ich darstellen40, so lässt sich dieses Finale als eine Art Selbstauslöschung des Romans lesen, der es dem schreibenden Ich nicht erlaubt, sich aus den Aporien einer autobiographischen Identitätskonstruktion zu befreien. Malones Tod kann in dieser Hinsicht als „a metaphor for the death of self-representation“41 (im Medium des Romans) gedeutet werden. Indem Beckett alle Figuren und seinen eigenen Erzähler umbringt, sprengt er alle Voraussetzungen, auf denen die Darstellung des Romans gemeinhin beruht, und macht den Weg für eine neue Darstellungsform frei: „A ce moment-là [de mon décès] c’en sera fait des Murphy, Mercier, Molloy, Moran et autres Malone, à moins que ça ne continue dans l’outre-tombe.“ (Mm 103) Sein Ziel ist es, die Erzählerkaskaden ein für alle Mal zu unterbrechen und eine andere Form der Selbstrepräsentation denkbar zu machen: „Mon histoire arrêtée je vivrai encore. Décalage qui promet.“ (Mm 183)
2.3 L’Innommable „Peu importe le sujet, il n’y en a pas“ Samuel Beckett
Mit L’Innommable wird Beckett noch einmal neu ansetzen und versuchen, ‚jenseits des Grabes‘ noch einen entscheidenden Schritt über das bisher Erreichte hinauszugehen. Das erklärte Ziel des schreibenden Ich ist es, doch noch von sich selbst zu sprechen: „C’est maintenant que je vais parler de moi, pour la première fois.“ (I 28) Die Tatsache, dass sich dies bisher als unmöglich erwiesen hat, wird es nicht davon abhalten – im Gegenteil, es gilt weitere, neue Auswege zu finden: 39 40 41
Vgl. Barnard, Guy Christian: Samuel Beckett: A new Approach. London 1970, S. 52. Vgl. die ausführliche Darstellung in Begam: Samuel Beckett and the End of Modernity, S. 145 f. Reid, James H.: Proust, Beckett and Narration. Cambridge 2003, S. 17.
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„Comment faire, comment vais-je faire, que dois-je faire, dans la situation où je suis, comment procéder? Par pure aporie ou bien par affirmations et négations infirmées au fur et à mesure, ou tôt ou tard. Cela d’une façon générale. Il doit y avoir d’autre biais. Sinon ce serait à désespérer de tout.“ (I 7 f.)
Das französische Substantiv „biais“, das im Deutschen sowohl als „Umweg“, „Ausweg“, „Verzerrung“ als auch als „Dreh“ übersetzt werden kann, markiert die Hoffnung auf eine Wendung, die sich jenseits der bisher angewandten Verfahren ergeben soll. Sie wird nicht mehr von einer wie auch immer gearteten systematischen Vorgehensweise erwartet: „Ce qu’il faut éviter, je ne sais pourquoi, c’est l’esprit de système“ (I 9), sondern ist – wenn überhaupt – nur im Rahmen einer neuen Unordnung denkbar: „Je vais essayer autre chose. Si un jour un changement devait intervenir, issu d’un principe de désordre déjà dans la place, ou en chemin vers elle, alors quoi?“ (I 13) Auch wenn die erwartete Wendung noch immer vom schreibenden Ich initiiert wird, soll sie gleichzeitig aus einer unberechenbaren Eigendynamik heraus erfolgen. Seine Hinwendung zu einer ‚neuen Unordnung‘ steht der Vorstellung eines im eigenen Namen, nach Willen und Plan verfertigten Werks entgegen. Der Versuch des Namenlosen42, eine Situation entstehen zu lassen, deren Wirkungen einem selbst widerfahren, wird als Denkfigur in Gilles Deleuzes „philosophie du devenir“ eine zentrale Stellung einnehmen. Deleuze erhebt einige Jahre später die Forderung nach einer anderen Form des Denkens, die es ermögliche, „[de] devenir le fils de ses propres événements, et par là renaître se refaire une naissance, rompre avec sa naissance de chair“.43 Sein differenzielles Konzept des Werdens, in dem auch der Topos des „organlosen Körpers“ wiederkehrt, sucht ein Denken zu entwickeln, das von dialektisch-dualistischen Strukturen frei ist.44 Der Roman L’Innommable veranschaulicht, wie man sich eine solche Bewegung vorstellen könnte.45 Um die Voraussetzungen für die neue Dynamik zu schaf42
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45
Um die Unterscheidung zwischen dem Titel des Romans und seiner Erzählinstanz deutlicher zu markieren, wird im Folgenden die deutsche Bezeichnung ‚der Namenlose‘ zur Kennzeichnung der Erzählinstanz verwendet. Deleuze, Gilles: La logique du sens. Paris 1969, S. 175. Zu Deleuzes Philosophie des Werdens vgl. die Arbeiten von Ingo Zechner: Deleuze. Der Gesang des Werdens. München 2002 und Stephan Günzel: Immanenz. Zum Philosophiebegriff von Gilles Deleuze. Essen 1998, S. 116-130. L’Innommable antizipiert zahlreiche philosophische Denkfiguren vor allem des französischen Poststrukturalismus und weist an vielen Stellen verblüffende Ähnlichkeit mit späteren Formulierungen von Deleuze, Derrida, Blanchot, Barthes
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fen, werden die gängigen Fundamente von Erkenntnis von vornherein aufgelöst. Sowohl der Ort als auch die Zeit bleiben unbestimmt, das schreibende Ich namenlos: „Où maintenant? Quand maintenant? Qui maintenant? Sans me le demander. Dire je. Sans le penser. Appeler ça des questions, des hypothèses. Aller de l’avant, appeler ça aller, appeler ça de l’avant.“ (I 7)
Trotz dieses Verzichts auf ein transzendentales Erkenntnisfundament46 wird weiterhin eine Instanz „Ich sagen“ und „fortschreiten“, wie die Verwendung des Infinitivs andeutet, die an die Stelle der ersten Person tritt. Die zentrale Bewegung des Romans kann damit als Versuch einer Annäherung an eine Grenze des Denkens beschrieben werden. Beckett versucht in diesem Roman, die Voraussetzungen des Romans zu überwinden und damit eine neue Subjektposition zu ermöglichen. Diese Bewegung soll im Folgenden anhand der beiden Figuren Mahood und Worm dargestellt werden. Dabei werde ich zunächst auf Mahood – die letzte M-Figuration des Namenlosen – eingehen und im Anschluss seinen Versuch schildern, die ihr entgegengesetzte, nicht denkbare Figur Worm zu erschaffen. Zuletzt soll versucht werden, die entstehende Form von Subjektivität in L’Innommable zu erfassen. Die Geschichte von Mahood wird vom schreibenden Ich als „une histoire [...] pour me reposer“ (I 38) bezeichnet. In ihr werden die Erzählstrategien der beiden vorhergehenden Romane nochmals aufgegriffen und zusammengeführt: Kam es in den bisherigen beiden Romanen zu zahlreichen Überlagerungen der Sprecherpositionen, so war es doch noch über weitgehende Strecken möglich, prinzipiell zwischen den verschiedenen Sprechern zu unterscheiden. Während in Molloy der Übergang zwischen dem schreibenden Ich
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oder Castoriadis auf. Für eine genauere Darstellung dieser Parallelen sei verwiesen auf Begam: Samuel Beckett and the End of Modernity und Critchley, Simon: ‚Very little... Almost nothing‘. Death, Philosophy, Literature. London 1999. Vgl. hierzu Marcel Krings, der die drei genannten Fragen auf Kants Kritik der reinen Vernunft bezieht und L’Innommable als „Transzendentalparodie“ liest. Krings argumentiert, dass L’Innommable eine bewusste Auseinandersetzung Becketts mit der Kritik der reinen Vernunft darstelle, und stützt diese Argumentation durch den Nachweis von Parallelen wie etwa der Bemerkung des Namenlosen: „De nobis ipsis silemus, décidément ça aurait du être ma devise“ (I 71), die ein Zitat des lateinischen ersten Satzes aus dem Zusatz zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ist. Krings, Marcel: Selbstentwürfe. Zur Poetik des Ich bei Valéry, Rilke, Celan und Beckett. Tübingen 2005, S. 205-214.
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und Molloy am Anfang des Romans geschildert wird, findet die Fusion von Malone und seiner Figur Macmann in Malone meurt erst an dessen Ende statt. In L’Innommable lässt sich an keiner Stelle des Romans mehr eindeutig ausmachen, wer spricht. Der Namenlose und Mahood sind zu keinem Zeitpunkt voneinander zu trennen, eine Tatsache, auf die das schreibende Ich wiederholt hinweist: „C’est sa voix qui s’est souvent, toujours, mêlée à la mienne, au point quelquefois de la couvrir tout à fait, […] je ne sais pas s’il est là en ce moment ou s’il est loin“ (I 37 f.). Zugleich gelingt es Beckett, die beiden Ebenen der Selbstreflexion und der Narration zusammenzuführen. Waren diese beiden Ebenen in Molloy und Malone meurt noch voneinander getrennt (in Molloy trug nur die Moran-Erzählung selbstreflexive Züge, in Malone meurt war die Selbstreflexion aus der Geschichte von Saposcat/Macmann auf die Ebene von Malones Schreibprozess ausgelagert), so sind sie nun nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Dadurch wird die unentwegte Reflexion selbst zur Handlung des Romans, der über den Status seines eigenen Vorworts nicht mehr hinausgelangt. Er ist selbst das Vorwort zu etwas genuin Neuem. Von einer Narration im herkömmlichen Sinne kann nicht mehr gesprochen werden. Die genannten Zusammenführungen ermöglichen die endgültige Auflösung der Opposition zwischen dem Erzähler und dem Erzählten: „Beckett succeeds in collapsing the narrator/ narrated into an undifferentiated third term, the mediating slash, that formerly stood as the sign of demarcation but now disperses itself into either of these two terms but renders impossible their very articulation.“47 Im Verlauf des Romans versucht sich der Namenlose/Mahood in die ‚Figur‘48 Worm zu imaginieren. Worm soll sich von allem bisher Dagewesenen unterscheiden: „Avant Mahood il y eut d’autres comme lui, de la même race et croyance, armés du même trident. Mais Worm est le premier de son espèce.“ (I 85) Worm, dessen Initiale ‚W‘ als umgekehrter Buchstabe ‚M‘ darauf hinweist, dass er als dessen Gegenteil („l’anti-Mahood“, I 99) zu denken ist, steht für das Unvorstellbare bzw. Andere schlechthin: „[il] n’a ni corps 47 48
Begam: Samuel Beckett and the End of Modernity, S. 156. Um zu markieren, dass Worm eine Figur jenseits des Repräsentierbaren vorstellt und damit eigentlich eine Figur der ‚Défiguration‘ ist, wird der Begriff ‚Figur‘ in Anführungszeichen gesetzt. Zu Becketts Ästhetik der ‚Défiguration‘ siehe auch die Studie von Evelyne Grossman: La Défiguration. Artaud – Beckett – Michaux. Paris 2004, S. 51-80.
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ni âme, c’est autre chose [...] il doit être quelque part“ (I 210). Die Figur Worm ist jenseits der Sprache und der Vernunft angesiedelt: „C’est un transformateur, où le bruit se fait rage et épouvante, sans le secours de la raison. C’est tout ce qu’il faut, pour l’instant. On s’occupera de la mise en circonvolutions plus tard, quand on l’aura sorti de là.“ (I 115)
Worm, der vom schreibenden Ich als ‚Transformator‘ für ein Denken, das sich jenseits der Absicherung der Vernunft bewegen soll, bezeichnet wird, muss als eine Übergangsfigur, die eine neue Denkweise überhaupt erst vorstellbar machen soll, gedacht werden. Seine physische Manifestierung („mise en circonvolutions“ kann im Deutschen sowohl als Übertragung in „Gehirnwindungen“ als auch in „Darmschlingen“ bedeuten) wird erst später folgen. Die Kreation von Worm erweist sich als überaus schwierig. Im Gegensatz zu den früheren Kreaturen und trotz der Erfahrung und der Techniken, über die das schreibende Ich beim Imaginieren verfügt, wird die Figur nicht über das Stadium der Planung hinausgelangen: „tout cela n’est encore qu’à l’état de projet“ (I 141). Auf über fünfzig Seiten glaubt und hofft der Namenlose/Mahood, seine neue Figur endlich sprechen zu hören: „[C]’est la voix de Worm qui commence“ (I 98), heißt es immer wieder hoffnungsvoll, „[i]l est en route. Je commence à connaître les aitres.“ (I 109) Der Übergang scheint mehrfach beinahe vollzogen: „je suis comme Worm, sans voix ni raison, je suis Worm, non, si j’étais Worm je ne le saurais pas, je ne le dirais pas, je ne dirais rien, je ne saurais rien, je serais Worm.“ (I 101) Letzten Endes ist die Geschichte von Worm nicht erzählbar: „son histoire qu’il faut raconter, mais il n’a pas d’histoire, il n’a pas été dans l’histoire, ce n’est pas sûr, il est dans son histoire à lui, inimaginable, indicible“ (I 211). Dass sie nicht erzählbar ist, bedeutet jedoch im Umkehrschluss nicht, dass Worm nicht existiert: „Ne sentant rien, ne sachant rien, il existe pourtant, mais pas pour lui, pour les hommes“ (I 99). Je stärker sich das schreibende Ich darauf konzentriert, das Unvorstellbare und Unsagbare zu ergründen, desto häufiger beginnt es, gleichzeitig mehrere Stimmen zu hören: „Pourquoi me parlent-ils ainsi? Peut-être qu’en me traversant certaines choses changent, les choses importantes, et qu’à cela ils ne peuvent rien. Croient-ils que je crois que c’est moi qui pose ces questions? Ça aussi c’est d’eux.“ (I 98)
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Trat das schreibende Ich in Molloy noch als Dirigent seines (Stimm-)Orchesters in Erscheinung, so ist es ihm jetzt nicht einmal mehr möglich, seine eigene Stimme unter den vielen anderen auszumachen: „Ah comme je voudrais me découvrir une voix dans ce concert, ce serait la fin de leurs peines, et des miennes.“ (I 102) Die Stimmen potenzieren sich und werden omnipräsent: „Ils ont réponse à tout, ils sont entre eux. […] Ils sont nombreux, tout autour, se tenant la main peut-être, chaîne sans fin, se tenant les chaînons, parlant à tour de rôle. Ils tournent en rond, par saccades, ce qui fait que la parole vient toujours du même côté. Mais souvent ils parlent tous en même temps, ils disent tous en même temps la même chose précisément, mais avec un ensemble si parfait qu’on dirait une seule voix, une seule bouche, si l’on ne savait que Dieu seul peut être partout, à la fois.“ (I 115 f.)
Die Stimmen, die wie eine endlose Kette („chaîne sans fin“) immer weitere Aussagemöglichkeiten generieren, verweisen auf die Sprache und ihren endlosen Verweisungscharakter. Obwohl sie über unendliche Möglichkeiten verfügen, drehen sie sich in der Wahrnehmung des Namenlosen im Kreis und erzeugen dadurch paradoxerweise mitunter in ihrer unendlichen Vielstimmigkeit den Eindruck von Einstimmigkeit. Das schreibende Ich verliert den Überblick: „Combien sommes-nous finalement? Et qui parle en ce moment? Et à qui? Et de quoi?“ (I 136) Das schreibende Ich kann seine eigene Subjektposition gegenüber dieser Stimmenvielfalt nicht mehr behaupten. Es erkennt, dass seine eigene Subjektivität – insofern es überhaupt noch möglich ist, von Subjektivität zu sprechen – auf einer Vielzahl von anderen Stimmen und Diskursen basiert: „Mais c’est entièrement une question de voix, toute autre métaphore est impropre. Ils m’ont gonflé de leurs voix, tel un ballon, j’ai beau me vider, c’est encore eux que j’entends. Qui, ils?“ (I 64)
Die über den Namenlosen hereinbrechende Stimmenvielfalt führt dazu, dass er keine eigene Sprecherposition mehr verteidigen kann. Das schreibende Ich/der Namenlose verliert sich in grammatischen Pronomenspielen, ohne zu einer eigenen Position zu gelangen: „Ceci ne finira jamais, inutile de se faire des illusions, si si, ils verront, après moi ce sera fini, ils se désisteront, ils diront, Tout ça n’existe pas, on nous a raconté des histoires, on lui a raconté des histoires, qui lui, le maître, qui on, on ne sait pas, l’éternel tiers, c’est lui le responsable de cet état de choses, le maître n’y est pour
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rien, eux non plus, moi moins que personne, nous avons eu tort de nous en prendre les uns aux autres, le maître à moi, à eux, à luimême, eux à moi, au maître, à eux-mêmes, moi à eux, au maître, à moi-même, nous sommes tous innocents, assez.“ (I 147 f.)
Wo immer es versucht, einen Urheber des Diskurses anzusetzen, es wird ihm nicht gelingen. Die Sprache spricht sich selbst und erzeugt eine Vielzahl von variierenden Bezugsmöglichkeiten und Sprecherpositionen. Was folgt aus den beschriebenen Entwicklungen für das Subjekt? Wie lässt es sich noch positiv fassen? Oder ist es völlig im ‚Rauschen des Diskurses‘ verschwunden? Der Namenlose kann nicht aufhören zu sprechen. Unabhängig davon, in welche seiner Figurationen er sich imaginiert oder in wie viele Positionen er sich simultan aufspaltet, als Sprechender bleibt er erhalten. Das schreibende Ich, das sich zu Beginn des Romans von Subjektvorstellungen distanzierte, die von einer inneren Tiefe des Ich ausgehen („Stupide hantise de la profondeur“, I 10), charakterisiert sich selbst mit Hilfe verschiedener Metaphern, die das Bild eines ‚Dazwischen‘ suggerieren: „c’est peut-être ça que je suis, la chose qui divise le monde en deux, d’une part le dehors, de l’autre le dedans, ça peut être mince comme une lame, je ne suis ni d’un côté ni de l’autre, je suis au milieu, je suis la cloison, j’ai deux faces et pas d’épaisseur, c’est peut-être ça que je sens, je me sens qui vibre, je suis le tympan, d’un côté c’est le crâne, de l’autre le monde, je ne suis ni de l’un ni de l’autre, ce n’est pas à moi qu’on parle, ce n’est pas à moi qu’on pense, non, ce n’est pas ça, je ne sens rien de tout ça, essayez autre chose, bande de cochons, dites autres chose, que je l’entende, je ne sais comment“ (I 160).
Das schreibende Ich beschreibt sich als „cloison“, als Trenn- und Scheidewand, als Tympanon – ein kleiner, abgeschlossener, lufthaltiger Raum im Inneren des Ohrs –, der den Austausch zwischen Innen und Außen vermittelt und als Zwischenraum weder dem Subjekt noch der äußeren Welt zugeordnet werden kann. Der Namenlose ist ein solcher Zwischenraum, eine Zwischenfigur, die weder äußerlich noch innerlich ist, weder dem Bewusstsein („le crâne“) noch der Welt („le monde“) zugehörig. Der entstehenden Figur des ‚Dazwischen‘ scheint es zu gelingen, die Subjekt-Objekt-Problematik, die das schreibende Ich in den beiden Präambeln von Molloy und Malone meurt beschäftigte, zu überwinden: „Enfin, entre le centre et le bord il y a de la marge, et je peux très bien être sis quelque part entre les deux.“ (I 14)
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Das entstehende namenlose Subjekt hat keine feste Position mehr, es ist in permanenter Bewegung: „Il est également possible, je ne me le cache pas, que je sois moi aussi emporté dans un mouvement perpétuel“ (I 14). Zugleich – das darf nicht übersehen werden – gelingt es dem schreibenden Ich nicht, diese Subjektposition positiv zu besetzen. Es kann sich ihr nur schreibend und sprechend annähern. Eine Selbstkonstitution jenseits der Narration scheint damit nicht bzw. nur ansatzweise möglich: „ils [les mots] m’ont peut-être déjà dit, ils m’ont peut-être porté jusqu’au seuil de mon histoire, devant la porte qui s’ouvre sur mon histoire, ça m’étonnerait, si elle s’ouvre, ça va être moi, ça va être le silence, là où je suis, je ne sais pas, je ne le saurai jamais, dans le silence on ne sait pas, il faut continuer, je ne peux pas continuer, je vais continuer“ (I 213).
Der berühmte letzte Halbsatz des Romans L’Innommable – „je ne peux pas continuer, je vais continuer“ – bringt die paradoxe Bewegung der nicht gelingenden und dennoch unablässlich verfolgten Annäherung an eine andere Form narrativer Selbstkonstitution noch einmal auf den Punkt. Der Namenlose scheint alle ihm zur Verfügung stehenden Erzählmöglichkeiten ausgeschöpft zu haben. Er sehnt sich immer häufiger danach, endlich zum Schweigen zu kommen, das käme jedoch seiner Selbstauslöschung gleich, da er als „être de papier“ über keine andere Repräsentationsmöglichkeit als die Sprache verfügt. Der Wechsel zu Theater, Fernsehen und Hörspiel wird es Beckett ermöglichen, noch einen Schritt über das bisher Geleistete hinauszugehen und die im Erzählwerk initiierte Selbstbeobachtung von Subjektivität in neue Darstellungsformen zu überführen, die ihm auch neue Anknüpfungsmöglichkeiten für die Prosa eröffnen werden. Bevor diese weitere Entwicklung anhand des Theaterstücks That Time dargestellt wird, sollen zunächst noch einmal die bisherigen Ergebnisse zusammengefasst werden. Die bisherige Analyse hat gezeigt, dass Beckett mit der Trilogie in kritischer Weise an seine eigenen frühen, vor allem in der Auseinandersetzung mit Proust angestellten theoretischen Überlegungen zur Problematik einer narrativen Selbstkonstitution anknüpft. Auch wenn Beckett seinen Proust-Aufsatz später kritisch bewertet hat und die über fünfzehn Jahre später geschriebene Trilogie über seine damaligen Einsichten hinausgreift, so kann seine Auseinan-
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dersetzung mit Proust dennoch als ein wichtiger Ausgangspunkt für die in der Trilogie verfolgten Fragestellungen angesehen werden. Vor allem in Molloy, dem ersten Roman der Trilogie, wurden zahlreiche Anspielungen auf Prousts Recherche ausgemacht, die den inneren Dialog, den Beckett in seinen Romanen mit seinem Vorgänger führt, erahnen lassen. In seiner ersten Hälfte parodiert der Roman den Versuch einer narrativen Selbstkonstitution. Am Ende dieses Versuchs lässt er seinen Erzähler nach zahlreichen grotesken Abenteuern, bei denen er sein Ziel immer mehr aus den Augen verliert, im Dreck liegen. Der zweite Teil des Romans, die MoranErzählung, wurde als der Versuch gedeutet, den Roman auf einer Metaebene mit Molloys scheiternder Selbstfindung zu konfrontieren. Die Moran-Erzählung setzt in Szene, wie Moran, ein eher traditioneller, aber erfahrener Autor, einsehen muss, dass seine bisherige Arbeitsweise nicht länger aufrechtzuerhalten ist, und beschreibt seine langsame Annäherung an neue Erzählformen. Die Tatsache, dass Moran gerade am Ende die Fiktionalität seines Schaffens herauskehrt, erscheint in diesem Zusammenhang als Zeichen eines Paradigmenwechsels für den Roman, der für Moran, den realistischen Autor, mit der schmerzvollen Aufgabe seiner bisherigen Lebenswelt einhergeht. Indem Moran im letzten Satz seiner Erzählung auf die Fiktionalität seines Schreibens verweist, zerstört er die Realitätsillusion des Erzählten und vollzieht damit den ersten Schritt seiner Abkehr vom realistischen Erzählen. Die Suche nach neuen Schreibweisen ist eingeleitet. In Malone meurt versucht das schreibende Ich, die gewonnenen Einsichten in die Paradoxie autobiographischer Selbstkonstitution umzusetzen und spielerisch neue Möglichkeiten der Selbstkonstitution zu erkunden. Dabei muss es feststellen, dass die Tatsache, dass Identität konstruiert wird, nicht im Umkehrschluss bedeutet, dass unendlich viele Möglichkeiten der Identitätskonstruktion offenstehen. Die Möglichkeiten einer ungebundenen spielerischen Selbstkonstitution erweisen sich angesichts des starken Einflusses autobiographischer Identitätskonstruktion als sehr eingeschränkt. Besonders im Rahmen des Romans – der wesentlich auf autobiographisch geprägten Erzählmustern basiert – ist eine freie und spielerische Selbstkonstitution kaum möglich. Um sich aus diesem Erzähldispositiv zu befreien, lässt Beckett am Ende von Malone meurt seinen Erzähler umbringen. Mit dem Tod seines Erzählers ist die wichtigste Voraussetzung des Romans verloren, er ist seiner eigenen Grundlage beraubt.
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Derart befreit, versucht das in einem unbestimmten Raum flottierende Ich in L’Innommable noch einmal anzusetzen. Sein Ziel ist es, ein Subjekt vorzustellen, das jenseits der bisherigen Figurenkonzeptionen liegt. Dabei zeigt sich jedoch, dass nicht nur die spezifischen Vorgaben des Romans, sondern auch die allgemeineren Vorgaben der Narration eine alternative Selbstkonstitution verhindern. Im letzten Drittel des Romans verzichtet das schreibende Ich auf seine Geschichten und versucht, endlich nur noch von sich selbst zu sprechen. Eine Selbstdarstellung jenseits der Narration ist zwar möglich, kann aber noch weniger zu einem Abschluss finden. Der Leser sieht sich einem unentwegt sprechenden Ich gegenüber, das sich trotz radikaler Zweifel an Sprache nicht von ihr befreien kann. Seine Hoffnung richtet sich nun, mehr denn je zuvor, auf das Schweigen, das zu einem Sinnbild für eine Form von Selbstpräsenz jenseits der letzten unüberwindbaren Hürde der Repräsentation wird. Das Schweigen scheint einen Zustand zu verheißen, in dem das Subjekt dem repräsentativen Charakter der Sprache entkommen und endlich bei sich selbst ankommen könnte.49 Becketts Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten narrativer Selbstkonstitution nimmt damit zwar ihren Ausgang in der Auseinandersetzung mit autobiographischen Erzählmustern, geht jedoch in der Folge immer weiter über diese hinaus und dringt mehr und mehr zu einer allgemeinen Unmöglichkeit schreibender Selbstkonstitution vor. Die in seiner Proust-Analyse gewonnene Einsicht in die Unhintergehbarkeit des Konstruktcharakters von Identität lenkt Becketts Blick zunächst auf die unterschiedlichen erzählerischen Möglichkeiten von Selbstkonstitution. Damit war das Spiel der sich sukzessive abwechselnden Erzählerkaskaden in Gang gesetzt, das sich in L’Innommable selbst erschöpft hat. Das schreibende Ich in L’Innommable zeigt nur noch geringes Interesse an seiner Geschichte über Mahood. Unabhängig davon, welche Geschichte es sich von sich selbst erzählt, es produziert damit immer nur weitere Verdoppelungen seiner selbst, die sich sukzessive ablösen und zu keinem Abschluss gelangen können. Die Kreation einer anderen Fi49
Diese Möglichkeit lässt an die von Cornelius Castoriadis im Anschluss an Merleau-Ponty entwickelte Konzeption des Sagbaren und des Unsagbaren denken. Im Gegensatz zu den meisten Poststrukturalisten geht Castoriadis von Erfahrungsmöglichkeiten jenseits der Sprache aus, zu denen es mit Hilfe der Sprache in einer paradoxen Annäherung vorzudringen gilt. Vgl. Castoriadis, Cornelius: „Das Sagbare und das Unsagbare“. In: Ders.: Durchs Labyrinth: Seele, Vernunft, Gesellschaft. Frankfurt am Main 1983, S. 107-126.
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gur (Worm), die eine andere Form des Erzählens, eine anderen Form des Romans jenseits der bisherigen Repräsentationsproblematik begründen würde, erweist sich als letztlich unmöglich. Unabhängig davon, welche personae bzw. Sprechmasken das schreibende Ich auch einnimmt, im Roman treten sie nacheinander im Monolog des Erzählers auf. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie Beckett im Theater und Fernsehen Möglichkeiten entdeckt, diese zeitliche Abfolge von Selbsterzählungen in eine räumliche Konfiguration von ästhetischer Subjektivität zu überführen, die eine neue simultane Darstellung mehrerer Teilaspekte des Ich erlaubt.
3. Medienwechsel 3.1 Von der Bewusstseinsprosa zum Mentaltheater Zunächst stellt das Theater für Beckett kaum mehr als eine angenehme Abwechslung dar. Noch bevor er die Trilogie beendet, verfasst er zwischen Oktober 1948 und Januar 1949 En attendant Godot, ein Stück, das er nach eigenen Angaben nebenbei zur „Entspannung von der scheußlichen Prosa“50 anfertigt. Während seine Trilogie zunächst kaum Beachtung findet, wird die Uraufführung von En attendant Godot im Januar 1953 am Théâtre de Babylone ein großer Erfolg: Über Nacht ist Beckett ein weltberühmter Autor. 1955/56 verfasst er Fin de Partie, mit dem es ihm gelingt, an seinen ersten Bühnenerfolg anzuknüpfen. Auffällig – und von der Forschung bisher kaum beachtet – ist, dass die aus der Trilogie bekannte ‚Erzählproblematik‘ in diesem zweiten Theaterstück wieder aufgenommen und nun auch innerhalb des Dramas verhandelt wird. Im Zentrum des Stücks findet sich ein langer, relativ unvermittelter Monolog von Hamm, einem der beiden Protagonisten, in dem dieser versucht, sein Leben in Form eines „Romans“ zu erzählen. Der Monolog zeigt, dass Beckett die alten Fragen nach den Möglichkeiten narrativer Identitätskonstitution noch immer beschäftigen. Ist diese Thematik in Fin de Partie noch etwas unvermittelt in die Handlung des Stücks integriert, so gelingt es Beckett, sie in seinem nächsten Theaterstück Krapp’s Last Tape (1958) – durch den Ein50
Vgl. Bair, Deirdre: Samuel Beckett. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 485.
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satz eines weiteren Mediums auf der Bühne – in eine genuin neue Darstellungslogik zu überführen. Anstatt lediglich einen Protagonisten auf die Bühne zu stellen, der analog zum Erzähler eines Prosatextes versucht, seine Lebensgeschichte zu erzählen, lässt er Krapp ein Tonbandgerät benutzen, auf dem er sich frühere eigene Aufnahmen anhört. Diese Idee ermöglicht es ihm, die Erinnerung aus dem Subjekt ‚auszulagern‘ und als seinen dramatischen Gegenspieler in Szene zu setzen. Dadurch wird die Opposition von Erzähler und Erzähltem zum einen sichtbar gemacht, zum anderen ermöglicht der Einsatz des Tonbandgeräts eine neue, ungeahnte Perspektivenvielfalt: Im Unterschied zu den bisherigen Erzählverfahren der Trilogie, die das Geschehen jeweils aus der Erzählerposition des nachträglichen Erzählers darstellten, können nun auf der Bühne mehrere diachrone Erzählerpositionen in Form von Krapps jeweiligen Aufnahmen dargestellt werden. Da sich Krapp mehrere Aufnahmen von unterschiedlichen Zeitpunkten hintereinander anhört, wird der Zuschauer gleichzeitig mit mehreren zeitlichen Perspektiven konfrontiert: „Becketts Idee, ein Tonbandgerät auf der Theaterbühne zu platzieren, erlaubt es ihm, die horizontale, chronologische Aufführungszeit des Theaters, die in Krapp’s Last Tape an die aristotelischen drei Einheiten geknüpft ist, durch eine vertikale, virtuelle Zeit zu erweitern.“51
Dadurch wird sichtbar, dass die narrative Identitätskonstitution je nach eingenommener Erzählerperspektive variiert. Zudem ermöglicht ihm diese Darstellung, auch die Wirkung von Erinnerungen auf das Subjekt als Zuhörer zu zeigen. Treten in Krapp’s Last Tape noch psychologisch deutbare Figuren in einem realistischen Rahmen auf, so zeichnen sich die darauf erscheinenden Kurzdramen mehr und mehr durch abstrakte Figurenkonzeptionen und ihren immer stärker hervortretenden experimentellen Charakter aus. Beckett wird die aus Krapp’s Last Tape gewonnene Trennung zwischen Sprecher(n) und Zuhörer(n) auf der Bühne in unterschiedlichen Variationen in fast allen fortan entstehenden Kurzdramen beibehalten und die Auswirkungen und Zusammenhänge von Erinnerung und Subjektkonstitution in immer
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Lommel, Michael: Samuel Beckett: Synästhesie als Medienspiel. München 2006, S. 65.
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neuen Variationen umkreisen.52 Dabei verfolgt Beckett auch hier eine fortschreitende Reduktion seiner Mittel, die durch das Experimentieren mit neuen akustischen Medien auf der Bühne ergänzt wird: „In the later plays Beckett will […] explore in greater depth a new dimension of theatre form for dialogue and stage language based on the recorded possibilities of the human voice.“53 Zu welchen neuen Dimensionen eines theatrum mentis Beckett mit seinen „Erinnerungsspielen“54 vordringt, soll nun anhand des zwischen Juni 1974 und August 1975 auf Englisch entstandenen Einakters That Time gezeigt werden.
3.2 That Time Auf der dunklen Bühne von That Time ist nur das Gesicht eines alten Mannes („Listener“) zu sehen: „Old white face, long flaring white hair, as if seen from above outspread.“ (CDW 388) Er lauscht drei Stimmen (A, B, C), die, aus drei Lautsprechern kommend, verschiedene Erinnerungen seines Lebens evozieren. Die Stimmen, die laut Regieanweisung seine eigenen sind, kommen aus nicht sichtbaren Lautsprechern von rechts, links und oberhalb des Mannes und sind, abgesehen von zwei jeweils zehn Sekunden langen Unterbrechungen, das gesamte Stück hindurch abwechselnd zu hören. Dabei soll das Umschalten vom einen zum anderen Abspielgerät laut Regieanweisung leise, aber deutlich zu vernehmen sein, ein Detail, das, falls nötig, künstlich verstärkt werden soll: „If threefold source and context prove insufficient to produce this effect it should be assisted mechanically (e.g. threefold pitch).“ (CDW 387) Die drei
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Zu den wenigen Ausnahmen zählen die 1963 und 1965 entstandenen Stücke Play und Come and Go. In Play werden die drei Figuren W1, W2 und M abwechselnd von einem Scheinwerfer angestrahlt und reden nur dann, wenn sie vom Scheinwerfer erfasst werden. Die Figuren erzählen hier abwechselnd ihre jeweiligen Erinnerungen an die gemeinsame Dreiecksbeziehung. Damit werden zwar wiederum unterschiedliche Sichten auf die Vergangenheit thematisiert, jedoch aus drei in sich kohärenten Perspektiven. In Come and Go wird zwar immer über die jeweils abwesende Person gesprochen, jedoch immer aus der Perspektive der anderen Figuren und nicht in Form ihrer eigenen, künstlich ausgelagerten Perspektive. Brater, Enoch: Beyond Minimalism. Beckett’s late Style in Theatre. Oxford 1987, S. 11. Lommel: Synästhesie als Medienspiel, S. 82.
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Stimmen sprechen den „Listener“ in der zweiten Person an und kommunizieren nur mit ihm und nicht untereinander. Die sich aus interpunktionslosen Satzfragmenten zusammensetzenden deskriptiven Darstellungen der Stimmen gehen nahtlos ineinander über und lassen sich nicht voneinander unterscheiden. Die Stimme A erinnert den Mann an seine Reise zu einer Ruine, wo er als Junge oft tagelang allein spielte und sich imaginäre Spielkameraden erfand: „talking to yourself who else out loud imaginary conversations there was childhood for you ten or eleven on a stone among the giant nettles making it up now one voice now another till you were hoarse and they all sounded the same“ (CDW 390). Sie erzählt, wie der Mann mit einer Fähre anreiste, um diesen Ort seiner Kindheit nochmals aufzusuchen: „off the ferry one morning and back on her the next to look was the ruin still there where none ever came where you hid as a child slip off when no one was looking and hide there all day long on a stone among the nettles with your picture-book“ (CDW 389). Als er dort ankam, musste er jedoch feststellen, dass die Ruine eingezäunt und nicht mehr zugänglich war. Enttäuscht setzte er sich auf die Stufen eines Hauseinganges, um dort festzustellen, dass sich seit seiner Kindheit kaum etwas in seinem Leben verändert hat. Noch immer ist der Mann die meiste Zeit allein und lebt wie schon damals als Kind in seiner Imagination: „making it all up on the doorstep as you went along making yourself all up again for the millionth time“ (CDW 394). Die letzten Worte von A stellen generell das Vergehen von Zeit seit diesem Moment in Frage: „was there ever any other time but that time away to hell out of it all and never come back“ (CDW 395). Die Stimme B beschwört die Zusammenkünfte des Mannes mit einem Mädchen auf einem Stein am Waldrand: „B: on the stone together in the sun on the stone at the edge of the little wood and as far as eye could see the wheat turning yellow vowing every now and then you loved each other just a murmur not touching or anything of that nature you one end of the stone she the other long low stone like millstone no looks just there on the stone in the sun with the little wood behind gazing at the wheat or eyes closed all still no sign of life not a soul abroad no sound“ (CDW 388).
Im weiteren Verlauf driftet die Stimme zu anderen Orten ab und beginnt die Erinnerung an die Szene mit dem Mädchen in Frage zu stellen: „just one of those things you kept making up to keep the void out just another of those old tales“ (CDW 390). Sie gibt zu be-
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denken, dass er sich auf dem Stein wahrscheinlich ebenfalls allein befand, was den Mann wiederum an eine andere ‚alte Szene‘ erinnert: „you back in the old scene wherever it might be might have been the same old scene before as then as after“ (CDW 393). Die Versuche der Stimme, wieder zu der zuerst vorgestellten Erinnerung auf dem Stein zurückzukehren, scheitern zuletzt. Dadurch bricht die Leere, die der Mann – laut der Stimme – bisher durch die Vorstellungen von Zweisamkeit von sich fern zu halten suchte, über ihn herein: „no words left to keep it out so gave it up gave up for good and let it in and nothing the worse a great shroud billowing in all over you on top of you and little or nothing the worse little or nothing“ (CDW 394). Die Stimme C versucht den Mann an einen Winter zu erinnern, den er vorrangig mit Besuchen in Museen, Bibliotheken und auf einem Postamt verbrachte. Sie spricht zunächst von seinem Besuch in einem Museum: „when you went in out of the rain always winter then always raining that time in the Portrait Gallery […] when was that“ (CDW 388). Darauf evoziert sie das besondere Erlebnis, als er dort auf einer Marmorplatte sitzend ein altes Ölgemälde betrachtete. Dieses Erlebnis wird von C als „life turning-point“ (CDW 390) bezeichnet, obwohl sie sich nicht sicher ist, wie Veränderung im Leben überhaupt bewertet werden soll: „never the same after that never quite the same but that was nothing new if it wasn’t this it was this common occurence something you could never be the same after crawling about year after year sunk in your lifelong mess muttering to yourself who else you’ll never be the same after this you were never the same after that“ (CDW 390).
Die Stimme gibt zu bedenken, dass man sich permanent verwandelt, spricht aber zugleich von seiner „lifelong mess“, ein Begriff, der die Vorstellung von gerichteter Veränderung wieder unterläuft. Zuletzt erinnert die Stimme den Mann an eine Situation in einer Bibliothek, in der er das Gefühl von Vergänglichkeit erfahren hat: „not a sound only the old breath and the leaves turning […] from floor to ceiling nothing only dust and not a sound only what was it it said come and gone was that it something like that come and gone come and gone no one come and gone in no time gone in no time“ (CDW 395). Die Erzählungen der drei Stimmen sind in 12 kurze Abschnitte unterteilt, die in der Reihenfolge ACB, ACB, ACB, CAB (Pause), CBA, CBA, CBA, BCA (Pause), BAC, BAC, BAC, BAC immer
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abwechselnd abgespielt werden.55 Durch die Fragmentierung und komplizierte Anordnung der einzelnen Abschnitte ist es für den Zuschauer zunächst schwierig, der Handlung der einzelnen Erzählungen zu folgen bzw. diese überhaupt als kohärente Darstellungen auszumachen und der jeweils sprechenden Stimme zuzuordnen. Mit der Zeit fällt es ihm jedoch leichter, sowohl die unterschiedliche Herkunft der Stimmen im Raum zu orten als auch ihre jeweiligen Sprechinhalte aufeinander zu beziehen. Dies wird ihm vor allem dadurch erleichtert, dass Beckett jede Stimme immer wieder bestimmte Satzfragmente wiederholen lässt: Die Sätze von B beginnen wiederholt mit „stock still“, Sätze von C wiederholen „always winter then“ und A erwähnt mehrfach „on the stone“. Der Zuschauer sieht nur das erleuchtete Gesicht des alten Mannes, der wie er selbst den Stimmen zuhört. Kurz nachdem A zum ersten Mal zu sprechen begonnen hat, schließt der Mann seine Augen, als wolle er sich so noch besser auf die Stimmen konzentrieren. Seine Augen öffnen sich während des Stücks nur zweimal: zum ersten Mal, als B ihn darauf hinweist, dass er alles immer nur erfinde (CDW 390), und zum zweiten Mal, als A erwähnt, dass er als Kind auf dem Stein immer allein gewesen sei (CDW 392). Beide Male wird in der Regieanweisung eine zehn Sekunden lange Stille vorgeschrieben, während der einzig der Atem des Mannes zu hören sein soll. Nachdem C die letzten Worte des Stücks „no time“ ausgesprochen hat, wird wieder eine zehn Sekunden lange Stille vorgeschrieben, bei der sich wieder die Augen des „Listeners“ öffnen und sein fünf Sekunden lang währendes Lächeln, „toothless for preference“ (CDW 395) zu sehen sein soll. That time fordert den Zuschauer in mehrfacher Hinsicht heraus. Zunächst ist die dunkle Bühne zu nennen, die den realen Raum verschwinden lässt und die gesamte Aufmerksamkeit des Zuschauers auf das erleuchtete Gesicht des „Listeners“ fokussiert, das ihm losgelöst von zeitlichen und räumlichen Koordinaten präsentiert wird. Zudem wird auf eine dramatische Handlung auf der Bühne zugunsten der von außerhalb der Bühne kommenden Erinnerungs55
Philip Laubach-Kiani hat darauf hingewiesen, dass Beckett die Erzählungen der einzelnen Stimmen zunächst zusammenhängend geschrieben und sie erst in einem relativ späten Stadium der Textgenese fragmentiert hat. Vgl. LaubachKiani, Philip: Becketts Welten im ‚Off ‘. Eine textgenetisch orientierte Analyse der Raumsemantik in den Dramen Samuel Becketts. (Dissertation an der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft der LMU München) http://www.edoc. ub.uni-muenchen.de/archive/00003415/01/Laubach-Kiani_Philip.pdf
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sequenzen verzichtet. Die Stimmen werden aus dem Off eingespielt und als körperlose Stimmen getrennt von ihrer Sprecherinstanz exponiert. Sie ertönen zudem aus unterschiedlichen, akustisch nur ungenau identifizierbaren Richtungen. Durch ihre permanent wechselnde inhaltliche und räumliche Abfolge lassen sie sich vom Zuschauer nur schwer lokalisieren und erzeugen den Eindruck einer zeit-räumlichen Diskontinuität. Wie schon in Krapp’s Last Tape wird auch in That Time die Erinnerung zum eigentlichen dramatischen Gegenspieler des Subjekts. Während sich Krapp’s Last Tape jedoch noch in einem realistischen Rahmen verortete (Krapp sitzt in einem realistischen Raum, seine Stimme ertönt von einem Tonbandgerät, das sich für den Zuschauer sichtbar auf dem Tisch befindet, und die Handlung macht deutlich, dass es sich um seine eigenen Aufnahmen handelt), verzichtet Beckett in That Time gänzlich auf realistisches Dekor. Durch diese Reduktion wird die gesamte Aufmerksamkeit auf das Zusammenspiel von Erinnerung und Identitätskonstruktion gelenkt. Die durch die Konzentration auf innere Bewusstseinsprozesse entstehende Theaterform kann in Abwandlung des Begriffs eines ‚theatrum mundi‘ als ‚theatrum mentis‘ beschrieben werden, das analog zum Bewusstseinsroman seinen Blick nicht auf die Darstellung von Welt, sondern von inneren Bewusstseinsprozessen lenkt.56 Während es im Roman möglich ist, mit Hilfe von Techniken wie etwa dem inneren Monolog oder einer Darstellung des „stream of consciousness“ innere Bewusstseinswelten zu repräsentieren, so scheint deren Darstellung auf dem Theater aufgrund der vorhandenen konkreten Räumlichkeit und der Existenz realer Schauspieler zunächst schwieriger. Wie lässt sich beim Zuschauer die Vorstellung evozieren, dass das Bühnengeschehen innere ‚Schädelszenarien‘ repräsentiert? Erste Ansätze einer Übersetzung der Bewusstseinsdarstellungen ins Theater zeigt schon Fin de Partie, dessen kahles Bühnenbild mit seinen erhöhten großen Fenstern rechts und links immer wieder als Innenraum eines Schädels interpretiert wurde.57 In That Time verzichtet Beckett auf eine solche Allegorisierung des Raumes und blendet den realen Raum zugunsten eines sprach56
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Vgl. zum Begriff des ‚theatrum mentis‘ auch Becker, Hans-Joachim: Nicht-IchIdentität. Ästhetische Subjektivität in Samuel Becketts Arbeiten für Theater, Radio, Film und Fernsehen. Tübingen 1998, S. 70 f. Vgl. Kenner, Hugh: Samuel Beckett. Eine kritische Studie. München 1965, S. 145.
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lich evozierten Imaginationsraumes aus. Die Bühne zeigt nur das beinahe bewegungslose Gesicht des „Listeners“, der „10 feet above stage level“ (CDW 388) über der Bühne zu schweben scheint. Zuhörer und Zuschauer lauschen beide den Stimmen, wodurch die traditionelle Gegenüberstellung von Zuschauer und Akteur(en) zugunsten eines dritten gemeinsamen ‚Imaginationsraumes‘ zurückgedrängt wird. Die eingespielten Stimmen kommen aus dem Dunkel und sind für den Zuschauer hörbar, ohne dabei an eine sichtbare Sprecherquelle gebunden zu sein. Dies legt es dem Zuschauer nahe, sie als innere Stimmen des Mannes zu begreifen. Im Gegensatz zur Trilogie, in der sich die Darstellung – so fragmentiert sie auch war – nie von der Sicht der jeweiligen Erzählinstanz löste, steht im Mittelpunkt von That Time ein passiver Zuhörer, auf den seine Erinnerungen von außen einströmen. Der Mann bleibt, abgesehen vom Öffnen und Schließen seiner Augen, die ganze Zeit über bewegungslos. Beckett war es jedoch wichtig, dass man in den Pausen immer wieder das Atemgeräusch des Mannes hört. Dadurch wird seine körperliche Präsenz gegenüber der immateriellen Realität der Stimmen herausgehoben. Im Gegensatz zum Roman, der in seinen Darstellungsmöglichkeiten stärker an eine zeitliche Abfolge gebunden ist, bietet das Theater die Möglichkeit, unter Nutzung des Raumes simultan verschiedene Erinnerungen darzustellen, ohne sie in eine zeitliche Abfolge zu bringen. Es entsteht, wie Hans-Thies Lehmann in seiner Analyse der Zeit in That Time bemerkt hat, ein paradoxes Zeitempfinden: „Zeit schreitet nicht voran, sondern gräbt sich in sich selbst ein, kreist und faltet sich als erinnerte Zeit.“58 Dabei, so Lehmann, finde sich das „Bewußtsein in einer heterotopen Zeitvielfalt wieder, die es ihm unmöglich macht, einen Punkt im Jetzt des Bewußtseins zu fixieren, der ihm eine zusammenfassende Perspektive auf seine Lebenswirklichkeit erlauben würde.“59 Die gleichzeitige Vielstimmigkeit, die in den Romanen, vor allem in L’Innommable, zwar immer wieder thematisiert wurde, sich aber kaum darstellen ließ, lässt sich im Theater durch die Nutzung des Raumes ästhetisch erfahrbar machen. Die sich ablösenden Erzählerkaskaden werden in
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Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main 1999, S. 324. Ebd., S. 326.
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ästhetische Figurationen von Subjektivität überführt, die simultan agieren. Wurde das Nachdenken über die inneren Stimmen und ihre narrative Integration in das Subjekt in Becketts Romanen von den jeweiligen Erzählern übernommen, so ist der Zuschauer von That Time gezwungen, diese Reflexionsleistung selbst zu erbringen und die verschiedenen diskontinuierlichen Stimmen miteinander zu vermitteln. Beckett zerlegt den Prozess der Identitätsbildung in seine Einzelteile und macht dadurch die Konstruktionsleistung, mit der wir Identität im Sinne einer kohärenten Lebensgeschichte erstellen, überhaupt erst sichtbar. Die Schwierigkeiten der narrativen Kohärenz- und Identitätsstiftung, die in einer Geschichte schon geleistet ist, wird vor Augen geführt. Damit werden die Innenperspektiven von Subjektivität, ähnlich wie von Jung in seinen Tavistock Lectures beschrieben, sichtbar gemacht. Die Figuren und Stimmen erscheinen als Jungsche „Komplexe oder Teilpersönlichkeiten“60 des Bewusstseins, sie sind nicht Vertreter einer jeweils eigenen Individualität, sondern lassen sich nur in figurenübergreifender Perspektive auf ihnen übergeordnete Bewusstseinsprozesse deuten.
4. Die späte Prosa: Company „The mind is a kind of theatre, where several perceptions successively make their appearance; pass, repass, glide away, and mingle in an infinite variety of postures and situations. There is properly no simplicity in it at one time, nor identity in different, whatever natural propension we may have to imagine that simplicity or identity.“ David Hume
In Company von 1979 gelingt es Beckett, die im Theater gewonnenen neuen Ansätze auf die Prosa zu übertragen und eine neue Simultaneität von Ich-Bezügen zu erzeugen. Company ist der erste Prosatext seit Watt (geschrieben 1943/1944, erschienen 1953), den Beckett wieder auf Englisch schreibt.61 Zugleich zählt der Text zu 60 61
Jung: Tavistock Lectures, S. 90. Beckett hat Company zwar zuerst auf Englisch geschrieben, dann aber vor der Veröffentlichung nochmals mit Hilfe der französischen Übersetzung überarbeitet. Somit ist die Frage nach dem Original schwer zu entscheiden. Die beiden
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den wenigen späten Prosaarbeiten, die er vollendet. Ähnlich wie Pessoa arbeitet auch Beckett in späteren Jahren meist an mehreren Projekten gleichzeitig, die er oft jahrelang überarbeitet und in die er die Schwierigkeiten ihrer Entstehung einarbeitet.62 Company lässt sich als eine weitere Reflexion auf Erinnerungsund Imaginationsprozesse und deren Auswirkungen auf das Subjekt lesen. Dabei schließt Beckett auch hier wieder an die Selbstreflexionen des Erzählens aus der Trilogie an, löst diese jedoch mit Hilfe der auf dem Theater gewonnenen Darstellungsmittel von den Aporien, in die sich die bisherigen Erzähler verstrickten – um sich dabei freilich in neuen Aporien zu verfangen. Der Text beschreibt einen letzten „Abstieg in den Schädel“, bei dem das Verhältnis von Erinnerung, Imagination und Subjektkonstitution noch einmal grundsätzlich ausgeleuchtet wird. Sein Ziel ist es, ‚der eigenen Imagination ins Auge zu sehen‘, d.h. die eigenen Imaginationsprozesse von einem ausgelagerten Beobachterstandpunkt zu beobachten und beschreibbar zu machen. Ein Unterfangen, das, wie der hochgradig abstrakte, auf mehreren Ebenen zugleich operierende Text zeigt, auch dem Leser ein großes Maß an Imaginationsfähigkeit abverlangt. Company setzt sich aus 59 Abschnitten zusammen, die in der englischen Fassung in drei Teile untergliedert sind (1-7, 8-50 und 51-59), welche durch jeweils drei Asteriske voneinander getrennt sind. Die ungewöhnliche Anzahl der Abschnitte – es fehlt genau ein weiteres Element, um zu einer runden Zeiteinheit (eine Minute oder eine Stunde) zu gelangen – verweist noch einmal auf die zentrale Rolle der Zeit, deren Problematik für die Identitätsbildung Beckett seit seinem Proust-Aufsatz nicht losgelassen hat.63 Company ‚handelt‘ von einem Mann, der im Dunkeln auf dem Rücken liegt und einer von außen auf ihn einsprechenden Stimme zuhört, die ihm Ereignisse aus seiner Vergangenheit erzählt: „To
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Fassungen unterscheiden sich in wesentlichen Punkten, sodass es kaum möglich ist, sie als gegenseitige Übersetzungen anzusehen. Joseph Long etwa legt nahe, die Texte als unterschiedliche Werke zu analysieren. Vgl. Long, Joseph: „The Reading of Company. Beckett and the bi-textual work“. In: Forum for Modern Language Studies 32, Nr. 4, S. 314-328. Zu Becketts später Arbeitsweise vgl. Gontarski, S. E.: „Introduction“. In: Samuel Beckett: The Complete Short Prose 1929-1989. New York 1995, S. 1-28. Beckett sprach dort von der „poisonous ingenuity of Time [...] resulting in an unceasing modification of his personality, whose permanent reality, if any, can only be apprehended as a retrospective hypothesis“ (P 513).
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one on his back in the dark a voice tells of a past. With occasional allusion to a present and more rarely to a future as for example, You will end as you now are.“ (C 4) Im Text lassen sich zwei Sprechebenen ausmachen, die sich in kurzen Absätzen in loser Reihenfolge abwechseln. Auf der ersten Ebene – in insgesamt vierzehn über den Gesamttext verteilten Abschnitten – spricht eine lyrisch getragene Stimme den im Dunkeln liegenden Mann in der zweiten Person Präsens an und erzählt ihm seine Erinnerungen. Dabei evoziert sie so unterschiedliche Erlebnisse wie den Spaziergang mit der Mutter (7), seine Geburt (9), eine alte blinde Bettlerin (13), einen Sprung ins Wasser im Schwimmbad (16), einen Nachmittag im Garten (24), einen Spaziergang mit dem Vater (27), ein Versteck am Meer (29), einen gefundenen Igel (33), einen Spaziergang alleine (39), seine besten Jahre (40), eine Situation am Fuß einer Espe (48) oder einen Abend am Strand (53). Die letzten beiden Beschreibungen beziehen sich unmittelbar auf seine jetzige Situation. Die Stimme berichtet, wie der Mann die Augen öffnet und das langsame Fortschreiten des Zeigers seiner Uhr verfolgt (56). Es entsteht das Bild eines Mannes, der die Nacht durchwacht und sich bis zum Öffnen seiner Augen die Zeit damit vertrieben hat, sich seine Erinnerungen zu vergegenwärtigen. Die letzte Äußerung der Stimme (58) reflektiert noch einmal auf die Grundsituation des Mannes, der nicht davon lassen kann, sich mit Hilfe seiner Erinnerungen ‚Gesellschaft‘ zu erträumen. Die zweite Ebene besteht aus Kommentaren, die in der 3. Person Singular gehalten sind. In ihnen versucht eine übergeordnete Reflexionsinstanz, den Imaginationsprozess des Mannes zu analysieren. Sie nimmt dafür eine Beobachterposition zweiter Ordnung ein, um von dort sowohl die Erinnerungen (Stimme) als auch ihre Wirkung auf den Mann zu betrachten. Ihr Ton ist sachlich und knapp. Die Trennung zwischen einer narrativen und einer reflexiven Ebene erinnert an das Erzählverfahren aus Malone meurt. Konnte man in Malone meurt jedoch noch einen Erzähler ausmachen, der für den gesamten Text verantwortlich zeichnete und das Geschehen aus seiner Perspektive präsentierte, so entsteht in Company eine völlig andere Erzählsituation, bei der die Stimme – analog zu Becketts medial eingesetzten Bühnenstimmen – von außen auf den Mann als ihren Zuhörer einwirkt und das Geschehen von einer dritten Perspektive aus präsentiert wird, die sowohl dem Mann als auch der Stimme übergeordnet ist. Sie untersucht aus ihrer herausgeho-
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benen Perspektive heraus beide Seiten des Imaginationsprozesses, sowohl die herbeigeführten Erinnerungen als auch ihre Wirkung auf den Mann. Dafür begibt sie sich abwechselnd in beide Positionen und wechselt zwischen ihnen hin und her. Ihr beständiges Wechseln zwischen den beiden Ebenen wird im Text dadurch markiert, dass es manchmal kurz vor einem Abschnittswechsel heißt: „Quick leave him“ (C 4, C 17, C 33, C 44). Die Reflexionsinstanz, die sich selbst als „devised deviser“ (C 33) bezeichnet, beschreibt eine (Denk-)Figur, der es gelingt, zugleich Erträumer wie auch das Erträumte zu sein. Sie kann als ein weiterer und letzter Versuch Becketts angesehen werden, die Opposition zwischen dem Erzähler und dem Erzählten zu überwinden und zu dem von Beckett schon in der Trilogie verfolgten „narrator/ narrated“ zu gelangen. Der Weg dorthin erfolgt über die Analyse der Imagination. Die Reflexionsinstanz versucht zunächst den Zuhörer zu verorten und seine Lage zu definieren: „To one on his back in the dark. This he can tell by the pressure on his hind parts and by how the dark changes when he shuts his eyes and again when he opens them again.“ (C 3) Doch schon bei der Frage, zu wem die Stimme spricht, verfängt sie sich: „For were the voice speaking not to him but to another then it must be of that other it is speaking and not of him or of another still. Since it speaks in the second person. Were it not of him to whom it is speaking speaking but of another it would not speak in the second person but in the third. [...] So with what reason remains he reasons ill.“ (C 7)
Nachdem Herkunft (C 9), Ton (C 13) und Lautstärke (C 11) der Stimme analysiert wurden, beginnt die Reflexionsinstanz darüber nachzudenken, wie sich die Darstellung von Zuhörer und Stimme verbessern ließe. So erwägt sie etwa, den Zuhörer vielleicht doch sprechen zu lassen („If he were to utter after all?“ C 14), die Stimme zu verbessern („Might not the voice be improved? Made more companionable.“ C 24) oder die Situation durch Namensgebungen zu konkretisieren: „Till feeling the need for company again he tells himself to call the hearer M at least. For readier reference. Himself some other character. W.“ (C 31) Doch diese Überlegungen werden wieder verworfen: „But no improvement by means of such achieved so far.“ (C 33), denn sie erlauben zwar, die zu analysierende Situation genauer zu beschreiben, dem Phänomen der Imagination kommen sie jedoch nicht auf die Spur.
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Welche anderen Möglichkeiten bestehen für die Reflexion, sich der Imagination anzunähern? Die Situation selbst, ihre starren Oppositionen müssen in Bewegung gebracht werden. Der „devised deviser“ beschließt, sich selbst als „crawling creator“ (C 38) ins gleiche Dunkel wie seine Erfindungen zu begeben und dort herumzukrabbeln: „Then let him move. Within reason. On all fours. A moderate crawl torso well clear of the ground eyes front alert. If this no better than nothing cancel. If possible. And in the void regained another motion. Or none. [...] Crawl and fall. Crawl and fall again. In the same figment dark as his other figments.“ (C 34)
Die Reflexionsinstanz freut sich über ihren neuesten Einfall, den sie als „of all the most diverting“ (C 36) charakterisiert. Er ermöglicht es ihr, sich auf die gleiche Ebene wie die Stimme und ihr Zuhörer zu begeben. Dieser Wechsel der Ebenen wird von ihr als eine Abkürzung („beeline“, C 36) bezeichnet, die sie dem Nullpunkt der Imagination so nahe wie möglich bringen soll: „So as he crawls the mute count. Grain by grain in the mind. One two three four one. Knee hand knee hand two. One foot till say after five he falls. Then sooner or later from nought anew. One two three four one. Knee hand knee hand two. Six. So on. In what he wills a beeline.“ (C 36)
Es erweist sich, dass die Analyse der Imagination selbst nur imaginativ vorgestellt werden kann: Die Reflexion wird nun auf der gleichen Ebene wie die zu untersuchenden Phänomene imaginiert. Sie kriecht auf Händen und Füßen durch das gleiche Dunkel, in dem sich auch der Zuhörer und die Stimme befinden: im Inneren des Schädels. Dass es sich um eine Analyse von Bewusstseinsprozessen handelt, wird durch den Verweis auf das stumme Zählen der Körnchen im Gehirn („the mute count. Grain by grain in the mind“) suggeriert. Die Reflexion kriecht in ihrem eigenen Kopf herum, fällt dabei immer wieder und kann doch nicht davon ablassen, immer wieder neu anzusetzen. Auch wenn diese Situation vorgestellt werden kann, sie führt ebenfalls nicht zum Ziel, sondern verfängt sich in der Dunkelheit: „Well aware or little doubting how darkness may deflect. Withershins on account of the heart. Or conversely to shortest path convert deliberate veer. Be that as it may and crawl as he will no bourne as yet. As yet imaginable. Hand knee hand knee as he will. Bourneless dark.“ (C 36)
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Die Selbstbeobachtung der Imagination hat damit ihre Grenze erreicht. Der Reflexion ist es zwar möglich, sich auf die Ebene der Imagination zu begeben, doch kann diese Annäherung nur als ein Kriechen in einer grenzenlosen Dunkelheit vorgestellt werden, bei der die Reflexion zudem ihre Fähigkeit zur Kreativität verliert. Die entscheidende Frage „Can the crawling creator crawling in the same create dark as his creature create while crawling?“ (C 38) muss verneint werden: „Crawling in the dark in the way described was too serious a matter and too all-engrossing to permit of any other business were it only the conjuring of something out of nothing.“ (C 39)
Die Erforschung der Imagination, so wie sie dargestellt wurde, erscheint zu anstrengend und zu ernst, als dass sie zugleich noch irgendetwas anderes leisten könnte. Die sich selbst beobachtende Kreativität löscht sich selbst aus, es ist ihr nicht mehr möglich, etwas vorzustellen. Im Nachhinein wird der Versuch für auf der ganzen Linie gescheitert erklärt: „For he had not only as perhaps too hastily imagined to cover the ground in this special way but rectigrade into the bargain to the best of his ability. And furthermore to count as he went adding half foot to half foot and retain in his memory the ever-changing sum of those gone before. And finally to maintain eyes and ears at a high level of alertness for any clue however small to the nature of the place to which imagination perhaps unadvisedly had consigned him. So while in the same breath deploring a fancy so reason-ridden and observing how revocable its flights he could not but answer finally no he could not. Could not conceivably create while crawling in the same create dark as his creature.“ (C 39)
Nicht nur wird der Versuch, den Boden der Imagination zu betreten („to cover the ground in this special way“), als übereilt bewertet, die Reflexion gibt dabei auch ihre eigene Leistung der analytischen Erörterung preis. Ihr Versuch, die Schritte in dem ihr unbekannten Gebiet zu zählen, mit heller Wachsamkeit alle Hinweise auf die Beschaffenheit des Ortes, zu dem sie sich aufgemacht hat, zu verfolgen, werden im Nachhinein negativ bewertet. Die Reflexion bemitleidet sich schließlich selbst für ihre vernunftwütige Erkundung der Imagination: „deploring a fancy so reason-ridden“. Die Wahl des englischen Worts „fancy“ anstelle von „imagination“ markiert zusätzlich, dass sie der eigentlichen Imagination nicht näher gekommen ist – „fancy“ stellt nach der bis heute geltenden
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Definition von Samuel Taylor Coleridge nur eine mechanische, reproduktive Variante des höher gewerteten Vermögens der „imagination“ dar.64 Die Selbstbeobachtung der Imagination ist – wieder einmal – gescheitert. Weder der Kunstgriff einer dritten Beobachterposition noch der Versuch eines Kurzschlusses der verschiedenen Erzählebenen mit den Mitteln der Imagination bieten die Möglichkeit, den Imaginationsprozess zu analysieren. Es scheint keinen Weg zu geben, die starre Opposition zwischen Erzähler und Erzähltem zu dynamisieren: „Crawls and falls. Lies in the dark. Recovering. Physically and from his disappointment at having crawled again in vain.“ (C 40) Es stellt sich – wieder einmal – die Frage, warum das schreibende Ich dennoch weitermacht: „Why crawl at all? Why not just lie in the dark with closed eyes and give up? Give up all. Have done with all. With bootless crawl and figments comfortless. But if on occasion so disheartened it is seldom for long. For little by little as he lies the craving for company revives. In which to escape from its own. The need to hear that voice again.“ (C 40)
Company zeigt, dass Beckett die Frage nach den Möglichkeiten einer schreibenden Selbsterkundung nach wie vor beschäftigt. Entgegen der Einsicht, dass es niemals möglich sein wird, schreibend bei sich selbst anzukommen und die Opposition zwischen dem Erzähler und dem Erzählten zu überwinden, wird das schreibende Ich diesen Versuch dennoch immer wieder unternehmen. Sein Schreiben scheint gerade aus dieser Unmöglichkeit immer neuen Antrieb zu beziehen. Dabei kommt es zu einer kleinen, deshalb aber nicht weniger wichtigen Verschiebung: Das schon aus der Trilogie bekannte Motiv des schreibenden Ich, Figuren zu erfinden, um sich mit ihnen Gesellschaft zu verschaffen, wird jetzt zentral. Damit ist das Schreiben nicht mehr auf die Identitätskonstruktion ausgerichtet, sondern zielt primär darauf, den vorsubjektiven Zustand von verschiedenen Teil-Ichs zu erkunden. In den Worten des schreibenden Ich: „The test is company.“ (C 18) Im Gegensatz zu den vorangehenden Prosaarbeiten Becketts gibt es in Company kein Ich mehr, das Sprechen in der ersten Person findet nicht mehr statt. Der Text vollzieht sich zwischen der zwei64
Zur Abgrenzung von „fancy“ und „imagination“ vgl. den Eintrag zu „Imagination“ in: Cooper, David E. (Hg.): A Companion to Aesthetics (Blackwell Companions to Philosophy). Oxford 1995, S. 215 f.
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ten und der dritten Person Singular. Würde die Reflexion die Erinnerungen als ihre eigenen anerkennen, dann besäße sie eine Identität, die hier jedoch zu unterlaufen gesucht wird: „[T]he conception of the subject depends upon maintenance of difference, both within the subject and between subjects, finally upon the refusal of the synthesizing ‚I‘.“65 Die Weigerung, „Ich“ zu sagen und seine Erinnerungen als seine eigenen anzuerkennen, führen das schreibende Ich in eine Art vorsubjektives Stadium, in dem Teilaspekte des Ich vor seiner Identitätskonstitution sichtbar werden. Dabei wird zugleich noch einmal die unbestreitbare Rolle der Erinnerungen für die Subjektkonstitution deutlich. Eine große Anzahl der von der Stimme geschilderten Erinnerungen greifen Motive aus anderen Texten Becketts auf, die hier noch einmal in leichter Abwandlung aufgenommen werden. Sie sollen jedoch nur wiederholt und nicht in eine abschließende Form überführt werden: „Another trait is its repetitiousness. Repeatedly with only minor variants the same bygone. As if willing him by this dint to make it his. To confess, Yes I remember. Perhaps even to have a voice. To murmur, Yes I remember. What an addition to company that would be! A voice in the first person singular. Murmuring now and then, Yes I remember.“ (C 10)
Nur dadurch, dass das schreibende Ich es sich versagt, die Erinnerungen als seine anzuerkennen, ist es ihm möglich, sie im Zustand vor ihrer eindeutigen Festschreibung zu erfahren. Geht man davon aus, dass Imagination im Sinne einer basalen Selbstprojektion für jede Subjektkonstitution unerlässlich ist und dass das Subjekt sich dadurch konstituiert, dass es sich zu einem Ganzheitlichen imaginiert, so könnte man argumentieren, dass Beckett in seinen selbstreflexiven Texten genau umgekehrt ursprüngliche Ich-Spaltungen vor der Subjektkonstitution freilegt. Der in Company vollzogene ‚Abstieg in den eigenen Schädel‘ führt über die Analyse der Imagination zu einer inneren Vielstimmigkeit. Statt zu einem inneren Kern vorzudringen, wird dabei ein Bewusstseinsraum sichtbar, der verschiedene Teilaspekte des Ich im Zustand vor ihrer Synthetisierung sichtbar macht. Man könnte diese Darstellung mit den Einsichten moderner Kognitionswissenschaften zusammenführen, die das Subjekt als ein Zusammenspiel verschiedener neuronaler Prozesse begreifen: 65
Handwerk, Gary: „Alone with Beckett’s Company“. In: Journal of Beckett Studies 2, 1992, S. 76.
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„Untersuchungen der strukturellen und funktionellen Organisation unseres Gehirns belegen, dass dieses Organ in hohem Maße dezentral und distributiv organisiert ist, dass in ihm jeweils unzählige unterschiedliche Prozesse parallel in sensorischen und motorischen Subsystemen ablaufen – und dass es eben kein singuläres Zentrum gibt, das diese vielfältigen Prozesse verwaltet.“66
Becketts Abstieg in den eigenen Schädel scheint – wenn auch mit gänzlich anderen Mitteln – zu ähnlichen Ergebnissen zu gelangen. Es gelingt ihm, in Company eine Form für die Darstellung von simultanen Bewusstseinsprozessen zu finden, bei der eine Sichtweise des Ich entsteht, das nur in seinen Zwischenräumen aufscheint, dem man aber an keiner Stelle habhaft werden kann: „Deviser of the voice and of its hearer and of himself. Deviser of himself for company. Leave it at that.“ (C 18)
5. Auswirkungen auf die Subjektkonstitution „faites un effort, à votre âge, être sans identité, c’est une honte“ Samuel Beckett
Mit der Darstellung des kreativen Bewusstseins in Company erreicht die von Beckett seit der Trilogie verfolgte „Reflexion der Innerlichkeit“67 ihren Höhepunkt. Es entsteht eine Literatur, die ihre eigene Entstehung bzw. den Akt der Imagination zu ihrem Gegenstand macht und dabei eine Form von Subjektivität im Zustand vor jeder Selbstkonstitution aufscheinen lässt. Das Beckettsche Subjekt hat sich aus der Welt der „Tatsachen“ zunehmend in sein eigenes Bewusstsein zurückgezogen. Es entstehen Texte, die man mit André Breton als Texte „aux sources de l’imagination“68 bezeichnen könnte, Texte, die den Schaffensprozess selbst belauschen und dabei die Mechanismen von Kreativität und Subjektivität erörtern. Die von Beckett kontinuierlich vorangetriebene Intensivierung der dichterischen Selbstbeobachtung legt sowohl die Konstituenten von Literatur als auch von Subjektivität 66 67 68
Singer, Wolf: „Das Gehirn – ein Orchester ohne Dirigent“. In: Max-PlanckForschung 2/2005, S. 15. Laas, Henner / Schröder, Wolfgang (Hg.): Samuel Beckett. München 1984, S. 120. Breton, André: Manifeste du surréalisme. Paris 1970, S. 29.
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immer mehr frei und deckt ihre Bedingungen auf, die im traditionellen Roman, solange sie bestimmte narrative Funktionen zu erfüllen hatten, verdeckt blieben. Der Rückzug in die Innenwelten des Bewusstseins spiegelt sich im fortschreitenden Rückzug der Beckettschen Figuren von der Außenwelt (Molloy) ins Zimmer (Moran, Malone) und ins Innere des Schädels (der Namenlose). Die zunehmende Abwendung von der Außenwelt und die Interiorisierung der Darstellung zeigt sich auch in Becketts Arbeiten zum Theater, die zunächst noch in realistisch anmutenden Bühnenbildern spielen (En attendant Godot, Fin de Partie) und sich später immer mehr auf reine Bewusstseinsräume kaprizieren (That Time). Becketts „Recherche des Bewusstseins und seiner Hervorbringung“69 setzt bereits in der Trilogie ein, die im Anschluss an Proust in der Problematik einer narrativen Identitätskonstruktion ihren Ausgang nimmt. Dabei wird der Blick immer wieder auf die Phänomene Erinnerung und Imagination gelenkt. Werden die beiden Phänomene in Molloy noch getrennt voneinander erforscht – die Erinnerungslosigkeit Molloys wird auf der Ebene seiner Erzählung verhandelt, Imaginationsprozesse hingegen werden vor allem am Anfang des Romans im Übergang des schreibenden Ich zum Erzähler untersucht –, so werden sie in Malone meurt miteinander in Verbindung gebracht: Malone versucht zu spielen, das heißt, frei zu imaginieren, und wird dabei von seinen (autobiographischen) Erinnerungen eingeschränkt. Auch den Namenlosen beschäftigen die Möglichkeiten einer ungebundenen Imagination. Sein Ziel ist es, eine gänzlich neue Vorstellungsform für das Erzählen (respektive den Roman, die Erinnerung, die Subjektkonstitution) zu er-finden. Becketts Romane gelangen zu einer ähnlichen Diagnose wie moderne narratologische Forschungen. Diese betonen, dass die diachrone Dimension von Identität unweigerlich an das Erzählen von Geschichten gebunden ist und dass erst die narrative Vermittlung von verschiedenen Erinnerungen (im Sinne eines konstruktiven Prozesses, der dazu imaginativer Leistung bedarf) zur Vorstellung von Identität führt.70 Selbsterzählungen bilden keinen vorgängigen 69
70
Kesting, Marianne: „Die Realität der Fiktion. Becketts Recherche des Bewußtseins und seiner Hervorbringung“. In: Mayer, Hans / Johnson, Uwe (Hg.): Das Werk von Samuel Beckett. Berliner Colloquium. Frankfurt am Main 1975, S. 26-39. Vgl. hierzu aus sozialpsychologischer Perspektive u. a. Gergen, Kenneth / Gergen, Mary: „Narrative and the self as relationship“. In: Berkowitz, Leonard (Hg.): Advances in Experimental Social Psychology. New York 1988, S. 17-56;
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Wesenskern ab, sondern erzeugen Kontinuität und Identität. Der Eindruck, über ein kohärentes und kontinuierliches Selbst zu verfügen, beruht dabei im Wesentlichen auf einer Konstruktionsleistung. Bei Beckett, dessen Romane immer wieder ihre eigenen Bedingungen untersuchen und reflektieren, wird dieser Konstruktionscharakter sichtbar. Er zeigt sich vor allem darin, dass das schreibende Ich keine Möglichkeit findet, zu einem authentischen Selbstbezug zu gelangen. Führt es im Durchgang durch die drei Romane auch jeweils neue narrative Strategien ins Feld, um seiner selbst habhaft zu werden – es wird immer wieder auf die Unmöglichkeit, dies zu erreichen, zurückgeworfen. Es kann sich nur verschiedene Geschichten konstruieren. Ist die Auseinandersetzung mit den Phänomenen Erinnerung und Imagination in der Trilogie eher ein ‚Nebenprodukt‘ der Suche nach neuen Erzählmöglichkeiten, so rückt sie in Becketts späteren Arbeiten immer mehr in den Vordergrund. Dabei verschiebt sich der Fokus von der zeitlichen Dimension narrativer Identitätskonstruktion auf allgemeine Konstitutionsprinzipien von Subjektivität. Wie anhand von That Time gezeigt werden konnte, wird in zahlreichen Theaterarbeiten der sechziger und siebziger Jahre das Subjekt in seiner Vielstimmigkeit untersucht. Es entsteht eine Sichtweise vielstimmiger Subjektivität, in der sich verschiedene Erinnerungsund Imaginationsebenen überlagern, einander widersprechen, ergänzen, überschreiben, ohne dass sie wie noch in der Trilogie in Erzählungen überführt werden. Diese Darstellungsweise erreicht in Company einen neuen Höhepunkt, einem Text, der eine neue vielstimmige Subjektposition auch für die Prosa entstehen lässt. Die in Company aufscheinende Subjektivität ist eine vielstimmige Subjektivität im Zustand vor einer (narrativen) Identitätskonstruktion. Es werden nur noch komplexe Innenspiegelungen einer sich selbst beobachtenden Subjektivität sichtbar, die sich mit ihren Erinnerungen und Imaginationen Gesellschaft leistet. Statt einer zentralen Ich-Identität bildet sich ein Netz von Analogien und Differenzen, die als Spaltprodukte des Bewusstseins angesehen werden können. Becketts Darstellungen können somit als Bestätigung von C. G. Jungs These gelesen werden, dass der Dichter die Fähigkeit besitze,
Freeman, Mark: Rewriting the Self. History, Memory, Narrative. London 1993; Kraus, Wolfgang: Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne. Pfaffenweiler 1996.
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die Abspaltungen seines Bewusstseins bewusst zu erleben.71 Beckett scheint in seinen Texten die von Jung empfohlene Methode der „aktiven Imagination“, die den Patienten in die Lage versetzen sollte, nicht-integrierte Bewusstseinsinhalte zum Ausdruck kommen zu lassen, wörtlich genommen zu haben. Der in seinen Texten vollzogene Blick nach innen erkundet nicht nur die Entstehung von Subjektivität und zerlegt sie in ihre Einzelkomponenten, er nimmt den Leser auf diese Reise ins Innere des Schädels mit und lässt ihn an den Schwindel erzeugenden Innenperspektiven der Subjektivität teilhaben. Vielleicht liegt darin, neben der Abstraktion der Texte, ihre größte Herausforderung. Wurde in der Trilogie Imagination als Vermögen betrachtet, deren Funktionsweise das schreibende Ich interessiert, so rückt in Becketts späteren Arbeiten das Phänomen der Imagination auch in einer allgemeineren Dimension in den Blick. Die Texte sind, wie Paul Davies bemerkt, „wholly concerned with the ‚grammar‘ of imagination“72. Sie buchstabieren die Grammatik der Imagination durch und legen dabei immer wieder einen genuinen Zusammenhang zwischen der Imagination und der Subjektkonstitution frei.73 Man kann in Becketts Fokussierung auf Imaginationsprozesse zu Recht eine zentrale Besonderheit seines literarischen Schaffens erkennen, wie Ed Jewinski betont: „Beckett’s determination to create literary works which focus upon the problem of ‚imagination‘ mark his central contribution to contemporary literature.“74 Wurde die Imagination oder Einbildungskraft seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vor allem im Anschluss an Kants Kritik der Urteilskraft diskutiert und als Vermögen auf seine anthropologische Charakteristik hin befragt, so erfolgte ihre Erörterung meist unter anderen Gesichtspunkten. So wurde etwa versucht, die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Einbildungen als Aussagen über die Welt zu bestimmen, die Gedanken der Einbildung von den Gedanken der Reflexion systematisch zu differenzieren oder die Bilder der Ein71 72 73
74
Vgl. hierzu die Ausführungen in II. 1 dieser Arbeit. Davies, Paul: The Ideal Real. Rutherford 1994, S. 241. Neben Company wären hier ebenfalls Imagination morte Imaginez, Mal vu mal dit und Worstward Ho zu nennen. Zur Analyse von Imagination morte Imaginez siehe auch den Exkurs zu Beckett in Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt am Main 1991, S. 412-425. Jewinski, Ed: „Beckett’s Company, Poststructuralism and Mimetalogique“. In: Butler, Lance (Hg.): Rethinking Beckett: A Collection of Critical Essays. New York 1990, S. 142.
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bildungskraft von optischen Bildimpulsen zu unterscheiden. Obwohl diese Fragen mit der Bildung des neuzeitlichen Subjektbegriffs auf das Engste zusammenhängen, wurden sie nur selten direkt auf diesen bezogen. Dies erfolgt erst im Rahmen neuerer Subjekttheorien, die davon ausgehen, dass Imagination als eine zentrale Komponente der Subjektkonstitution angesehen werden muss.75 So geht etwa Lacan in seinem Aufsatz über das Spiegelstadium davon aus, dass das Subjekt sich in dem Moment konstituiert, in dem es sich zu einem Ganzheitlichen imaginiert. Beckett geht in seinen Texten diesen Weg gewissermaßen rückwärts: Seine zerebrale Ästhetik begibt sich zurück an den Punkt, wo sich Subjektivität und Imagination zu dissoziieren beginnen und in ihrer Bezogenheit aufeinander sichtbar werden.
75
Diese Sichtweise wird vor allem in neueren psychologischen Konzeptionen vertreten, findet sich aber auch schon bei Sigmund Freud, Jacques Lacan oder Donald Wood Winnicott. Vgl. hierzu den Eintrag „Imagination“ von Wolfgang Iser. In: Kelly, Michael (Hg.): Encyclopedia of Aesthetics. New York 1998, S. 468-471.
III. „Dialogisch ausufernde Bewußtseinsprosa“ – Friederike Mayröckers vernetzte Identität
Im Gegensatz zu Beckett, der in seinen Texten die Zusammenhänge von Erinnerung, Imagination und Selbstkonstitution eines von der Außenwelt weitgehend abgeschlossenen Ich erkundet, befindet sich das schreibende Ich in Mayröckers Texten in einem permanenten Dialog mit anderen. Die Stimmen des schreibenden Ich und die seiner Gesprächspartner gehen fortlaufend ineinander über und erzeugen den Eindruck sich auflösender bzw. unscharfer Subjektgrenzen. So wie das schreibende Ich, das sich immerzu im Dialog befindet, entstehen auch die Texte im anhaltenden Dialog mit anderen Texten. Sämtliche Prosabände der Autorin haben ihren Ursprung in einer Materialsammlung, die sich aus Notizzetteln, Briefen, Zitaten, Aufzeichnungen, Telefongesprächen, literarischen Texten, Erinnerungen und Wahrnehmungen zusammensetzt. Diese unterschiedlichen Versatzstücke werden „wild durchmischt“1 und zu einem Text montiert, bei dem Eigenes und Fremdes nicht mehr auseinander zu halten sind. Es entsteht, so Samuel in Stilleben – eine Hommage an den von Mayröcker verehrten Samuel Beckett –, „eine dialogisch ausufernde Bewußtseinsprosa [...], könnte man es so bezeichnen?“ (ST 100) Mayröckers Texten haftete bis in die neunziger Jahre der Ruf an, schwer bzw. unlesbar zu sein. Die Texte sprengen nicht nur geläufige Erzählstrukturen, sondern brechen auf allen Ebenen gleichzeitig mit gängigen Ordnungsmustern unseres Denkens: Sowohl die Zeit als eine linear ablaufende als auch Prinzipien der Kausalität werden aufgelöst, die Grenzen zwischen Traum und Realität, Kunst und Leben, Schreiben und Lesen verwischen. Siegfried J. Schmidt hat die Lektüre von Mayröckers Texten deshalb als einen „Fall ins Ungewisse“ bezeichnet, bei dem „jeder Verdacht auf eine verbindliche Lesart zerstreut wird“.2 Auch der österreichische Germanist Wendelin Schmidt-Dengler hat die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Friederike Mayröcker mehrfach in Frage gestellt: 1 2
Kunz, Edith Anna: Verwandlungen. Zur Poetologie des Übergangs in der späten Prosa Friederike Mayröckers. Göttingen 2004, S. 34. Schmidt, Siegfried J.: „Der Fall ins Ungewisse. Anmerkungen zu einer NichtErzählerin“. In: Ders. (Hg.): Friederike Mayröcker. Frankfurt am Main 1984, S. 21.
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„[E]mphatisch insistiert die Sekundärliteratur meist auf dem, was Friederike Mayröckers Texte nicht sind, offenbar in der Annahme, daß dies auch schon eine Aussage darüber ist, was sie sind. Ich halte die Skepsis und Zurückhaltung, die den Texten Friederike Mayröckers aus der Sicht der literaturwissenschaftlichen Praxis entgegengebracht werden, für verständlich und berechtigt. Denn diese Texte sind resistent gegenüber allen Versuchen, sie mit dem traditionellen Vokabular der Literaturwissenschaft, und seien deren Vertreter noch so unterschiedlicher ideologischer oder methodischer Observanz, zu belegen.“ 3
Die Texte, deren Hauptanliegen das forcierte Aufbrechen von Sinnstrukturen sei, ließen keine verbindliche Lesart zu, ihre Interpretationen stellten „sich selbst so etwas aus wie die eigene Ungültigkeitsbescheinigung, oder noch schärfer: ihren eigenen Totenschein“.4 Das Klagen über die Unzugänglichkeit der Texte ist spätestens seit Mitte der neunziger Jahre einer begeisterten Annahme der Herausforderung gewichen. Seither sind eine Reihe von Monographien und Sammelbänden zu Mayröcker erschienen, die Schmidt-Denglers Rede von der Resistenz der Texte gegenüber ihrer Interpretation die Stirn bieten.5 Dabei lässt sich eine Tendenz zu textgenetischen und intertextuellen Ansätzen ausmachen6 – Versuche, das in den Texten entstehende schreibende Ich textimmanent zu charakterisieren, sind bisher nur vereinzelt unternommen worden.7 Ich werde im Folgenden sowohl ordnungsauflösende wie auch ordnungsstiftende Textverfahren analysieren und dadurch die in den Texten entstehende ästhetische Subjektivität in den Blick nehmen. 3 4 5
6
7
Schmidt-Dengler, Wendelin: Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990. Salzburg und Wien 1995, S. 507. Ebd. Vgl. v. a. die beiden Sammelbände von Arteel, Inge / Müller, Heidy Margit (Hg.): ‚Rupfen in fremden Gärten‘. Intertextualität im Schreiben Friederike Mayröckers. Bielefeld 2002 und Kühn, Renate (Hg.): Friederike Mayröcker oder ‚das Innere des Sehens‘. Studien zu Lyrik, Hörspiel und Prosa. Bielefeld 2002. Zu den textgenetischen Analysen vgl. v. a. die großangelegte Studie von Klaus Kastberger: Reinschrift des Lebens. Friederike Mayröckers ‚Reise durch die Nacht‘. Wien 2000 und Kunz: Verwandlungen. Die vielfachen intertextuellen Bezüge in Mayröckers Werk werden v. a. in dem Sammelband von Kühn: Friederike Mayröcker oder ‚das Innere des Sehens‘ hervorgehoben. Vgl.: Arteel, Inge: gefaltet, entfaltet. Strategien der Subjektwerdung in Friederike Mayröckers Prosa 1988-1998. Bielefeld 2007; Heinemann, Paul: „‚Das helle Bewußtsein des Ich‘. Erscheinungsformen ästhetischer Subjektivität in Prosawerken Friederike Mayröckers und Jean Pauls“. In: Kühn: Friederike Mayröcker oder ‚das Innere des Sehens‘, S. 211-240.
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Die zentrale These meiner Interpretation ist, dass es der Autorin in ihren Texten gelingt, im Durchgang durch Plagiat und Zitat, das heißt unter bewusster Aufnahme anderer ‚Lebenstexte‘ und in mimetischer Angleichung an diese „Fremdmaterialien“ (ST 105), eine ganz eigene Form von Identität herzustellen, die wesentlich durch ihre dialogische Verfasstheit bestimmt ist und die ich daher als eine ‚vernetzte Identität‘ beschreiben werde. Im Zentrum der Interpretation stehen die drei in Folge entstandenen großen Prosaarbeiten der 1980er Jahre: Reise durch die Nacht (1984), Das Herzzerreißende der Dinge (1985) und mein Herz mein Zimmer mein Name (1988). Bei Bedarf, etwa um weitere Bezüge aufzuzeigen, werden Textstellen aus anderen Werken hinzugezogen, ohne dass diese Texte einlässlich untersucht werden. Generell werden die Texte nicht als distinkte, in sich geschlossene Werke gelesen, sondern als offene, sich ähnelnde Strukturgebilde, deren Grenzen fließend ineinander übergehen und deren strukturelle Gemeinsamkeiten aufgezeigt werden sollen.8
1. Der Text als Kaleidoskop – Eine erste Annäherung Mayröckers Texte widersetzen sich traditionellen Beschreibungskategorien, da sie sich nicht linear entwickeln, sondern, indem verschiedene Textelemente vielfältig kombiniert und übereinander montiert werden, den Eindruck einer komplexen Simultaneität erzeugen. Da die Texte über die Grenzen des Semantischen hinausdrängen, gilt es, Verstehen als Grundbedingung einer primären Texterfahrung (zunächst) zu suspendieren. Der Leser, so heißt es in Das Herzzerreißende der Dinge, soll „sich ganz passiv überschwemmen lassen [...] wider die Vernunft und den Glauben, nichts gehe mehr“ (HdD 37). Tatsächlich steigen die Chancen eines unmittelbaren Zugangs zu den Texten proportional zu der Bereitschaft des Lesers, sein refle8
Vgl. hierzu auch Friederike Mayröckers Selbsteinschätzung in einem Gespräch mit Siegfried J. Schmidt: „Wenn ich diese Suhrkamp-Bücher alle der Reihe nach sehe […], dann steht diese Serie in einer gewissen Kontinuität. So wie die langen Gedichte in den ausgewählten Gedichten, die auch im Grunde ein einziges Gedicht sind, sind diese Bücher im Grunde eine Abfolge von einer Ganzheit, von der ich noch nicht weiß, wo sie hingeht.“ In: Schmidt, Siegfried J.: Fuszstapfen des Kopfes. Friederike Mayröcker aus konstruktivistischer Sicht. Münster 1989, S. 139.
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xives Bewusstsein bis zu einem gewissen Grad aus- und auf undifferenzierte Aufmerksamkeit umzuschalten. Der Leser sieht sich aufgefordert, den ordnenden Zugriff, den gesicherten Blick von außen, Erzähl- und Verstehenserwartungen zu verabschieden und sich auf die fließenden Bewegungen der Texte einzulassen: „ich wünschte Sie mir in strömender Verfassung, lieber Leser, im Quartier eines Himmels, wie Wünsche ein wenig frierend“ (L 128). Doch neben der Bereitschaft des Lesers, sich verunsichern zu lassen, bedürfen die Texte zugleich in fundamentaler Weise der aktiven Mitarbeit des Lesers.9 Um sich entfalten zu können, sind sie auf seine Assoziationen angewiesen. Betrachten wir den Beginn von mein Herz mein Zimmer mein Name: „die Psyche wird in das Alter hineingerissen, wir machen pausenlos Lebensfehler, sage ich zu meinem Ohrenbeichtvater, es kommt auf den ersten Satz an, sage ich zu meinem Ohrenbeichtvater, auf den allerersten Satz, kannst du das verstehen, mit was für einem Satz ein solches Buch anfängt, sage ich, darauf kommt alles an, und ob es den, der das erste Blatt aufschlägt, zum Lesen zwingt, zum Lesen und Weiterlesen, darauf kommt es an, das Erwachen von Augen, der Gabentisch ist gedeckt, ich habe mich durch den rosigen oder rostigen Schein der Frühe getrollt, wie läßt sich das Phänomen Welt beschreiben wie läßt sich überhaupt noch irgendetwas beschreiben, nämlich das süßeste Licht bis zum Fliehen bestimmter Beine, diese Bewegungen Bewölkungen meines Kopfes, einige sehr dunkle Stellen mischen sich mit einigen sehr hellen Stellen wie die Farben der beiden Blumensträuße im Fenster, etwas Überspanntes in mir lehrt mich zuweilen das minutiöse Sehen, als wir hier in den künstlichen Tagen wandelten, sage ich, wie das Schnarren der offenen Ohren, das Scharren der schaufelnden Arbeiter in der Straße vom Bett aus kann ich alles verfolgen, noch teufelt mir dieses Blut im Genick, ich habe die Kontrolle meiner Glieder geradezu aufgegeben verloren, ich schwärme mit weichen Knien in meiner Behausung, es ist ein ähnliches Gefühl wie geladene Drähte berühren, am ganzen Körper, ich lasse jetzt die Schnürriemen hängen“ (HZN 7).
Der Roman, die Kleinschreibung lässt keinen Zweifel aufkommen, beginnt mitten im Satz eines Gesprächs mit dem Ohrenbeichtvater, in dem offenbar poetologische Fragen erörtert werden und dem in der Gedankenfolge des schreibenden Ich verschiedenste Assoziati9
Zum hohen ‚Verunsicherungspotenzial‘ der Texte vgl. auch Drews, Jürgen: „Laudatio auf Friederike Mayröcker“. In: Li[li:]. Zeitung der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld. http://www.lili.unibielefeld.de/~zeitung/6lauda.htm. Stand: 01.07.2002.
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onen folgen. Der Leser muss bereit sein, sich auf diese mäandernden Bewegungen des Textes, der sich als ein einziger Satz über das gesamte Buch erstreckt, einzulassen. Das ästhetische Potenzial entfaltet sich nicht in der Zuordnung von Bedeutung, sondern vielmehr in der Differenz von Klang, Assoziation und Bedeutung. Es gilt daher, so Tilman Urbach, das Rätselhafte der Texte als solches wahrzunehmen und diese Lektüreerfahrung in die Analyse zu integrieren: „Nur dieses Niemandsland zwischen Verstehen und Nichtverstehen – und das Nichtverstehen schließt Friederike Mayröcker durchaus ein – lässt den Texten Atem und Zauber; Wechselspiel von hell leuchtender Erkenntnis und sprachlichem Dämmer – [...]; der Frage, dem Zweifel oft näher als der Behauptung. Sanfter Schleier des Nichtverstehens, der sich manchmal beim Lesen der Mayröcker-Texte ausbreitet und den der Fortgeschrittene zu akzeptieren, schließlich zu suchen beginnt.“10
Für eine erste Annäherung an die komplexen Bewegungen der Texte eignet sich die Metapher des Kaleidoskops, die es ermöglicht, sich die ungewohnte Anordnungslogik der Texte bildlich vorzustellen. Wir befinden uns, sobald wir durch das Kaleidoskop blicken respektive uns in den Textkosmos Mayröckers begeben, in einer abgeschlossenen künstlichen Welt, die sich der Abbildung von Wirklichkeit von vornherein widersetzt. Die Textbewegungen erscheinen als vielfach gebrochene und ineinander gespiegelte ästhetische Bilder, in denen heterogen erscheinende Fragmente (Assoziationen, Erinnerungen, Reflexionen, Träume, Halluzinationen) zu verschiedenen Konstellationen verknüpft werden. Die dabei aufscheinenden Identitätsentwürfe der Figuren sind niemals fest, sondern verändern sich – in Analogie mit den Bilderfolgen in einem Kaleidoskop – mit jedem kleinen Dreh nach rechts oder nach links. Die Figuren scheinen vor den Augen des Lesers zu zerfließen, ineinander überzugehen und letztlich aus nichts anderem als der Bewegung selbst zu entstehen. Im Zuge der ständigen Verschiebung entstehen fortschreitend neue Konstellationen, die jeweils nur kurz aufblitzen, um im nächsten Moment schon wieder auf- und durch ein anderes Bild abgelöst zu werden. Wie beim Blick in ein Kaleidoskop ähneln sich diese Bilder und sind doch jeweils neu und voneinander unterschieden. Durch die Wiederholung bestimmter Erinnerungen, Re10
Urbach, Tilman: „Wien, Zentagasse. Besuch bei Friederike Mayröcker“. In: du. Heft Nr. 5, 1995, S. 31.
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flexionen und Motive entsteht für den Leser schon nach kurzer Zeit der Eindruck einer gewissen Vertrautheit. Er meint, bestimmte Sequenzen wiederzuerkennen, obwohl diese bei genauer Betrachtung immer abgewandelt sind und in einem anderen Kontext erscheinen. So wie auch ein Kaleidoskop nur eine begrenzte Anzahl von Elementen enthält, die in unzähligen Variationen miteinander kombiniert werden können, scheinen auch die Texte von Friederike Mayröcker immer wieder ähnliche Motive aufzugreifen, um diese in zahllosen Anordnungen zu variieren. So weisen die Grundkonstellationen in den Texten, die im Zentrum dieser Arbeit stehen, große Ähnlichkeiten auf: Im Mittelpunkt steht jeweils ein schreibendes Ich, das seine Bewusstseinsprozesse erforscht. Der Akt des Schreibens, der als ein „unwiderstehlicher Schreibzwang“ (RdN 78), als eine „beglückende Raserei“ (RdN 83) charakterisiert wird, ist dabei von so großer Wichtigkeit, dass das schreibende Ich ohne ihn den „Verstand verlieren wollte“ (HdD 110) und sich selbst zu verlieren fürchtet: „es ist die Hölle, wie immer wenn ich nicht arbeiten kann, [...] ich glaube mein Selbst verloren zu haben“ (HdD 78). In allen drei Texten verfügt das schreibende Ich über einen permanenten Gesprächspartner (Julian, M.S., Ohrenbeichtvater) und einen Briefpartner (Lerch, ‚Du‘, Wilhelm). Diese ‚Bezugspersonen‘ sind immer männlichen Geschlechts. Neben den Eltern, die in allen drei Texten eine wichtige Rolle spielen, bevölkern zahlreiche Nebenfiguren die Texte. Ihre Stimmen erheben sich willkürlich und verhallen wieder, ohne einer Anordnungslogik oder einem Handlungsgefüge zu gehorchen. Das im Mittelpunkt stehende heterogene und „variable“11 Subjekt der Texte, das schreibende Ich, kann sich nirgends finden als in den sprachlichen Bewegungen selbst: Es ist der fortschreitende Text. In seiner Hingabe an die (Dreh-)Bewegungen, das heißt den Schreibprozess, schafft es sich permanent selbst und wird dabei gleichzeitig zu einem Ensemble von Zufallskombinationen. Das schreibende Ich inauguriert zwar die Bewegung der Texte, scheint aber keine Kontrolle über deren Entwicklung zu haben: „meine Texte kommen durch mich, aber nicht von mir“ (HZN 76). Die sich ergebenden Konstellationen sind willkürlich und unberechenbar, sie scheinen einem Eigenleben zu folgen, dessen Logik undurchschaubar ist. Das Schreiben wird zu einem ästhetischen Spiel der Selbsterschaffung: „Noch bin ich eingehüllt in mein Spiel in mein Werk in 11
Schmidt: Fuszstapfen des Kopfes, S. 39.
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mein Spiegelwerk, so bin ich am Leben, äußerster Nervenzustand, Profilblüte einer Frau“ (HdD 41). Wie die Bilder eines Kaleidoskops in dem Moment, in dem seine Drehbewegung unterbrochen wird, in sich zusammenfallen, verlangen auch die Texte nach permanentem Fortschreiten. Das Spiel darf nicht unterbrochen werden: „ich bin ungehalten über die geringste Störung der Strömung, fassungslos wirbelt es mich herum, es ist eine Entscheidung über Leben und Tod, ob man es bleiben kann hingeklebt an den Arbeitstisch, zusammengesunken vor der Maschine“ (HZN 21).
Obwohl beim Blick durch das Kaleidoskop permanent neue, nicht vorhersagbare Bilderfolgen vor unserem Auge entstehen, handelt es sich keinesfalls um willkürliche Bewegungen und Anordnungen. Das Kaleidoskop folgt einer inneren Anordnungslogik und ist nicht mit einem chaotischen Zustand zu vergleichen. Die Faszination eines Kaleidoskops rührt nicht zuletzt gerade daher, dass man seine Bilderfolgen zwar intuitiv als geordnet erlebt, aber es zunächst unmöglich scheint, deren komplexe Logik zu durchschauen. Mayröckers Texte folgen einer solchen komplexen Anordnungslogik. Obwohl sie sowohl auf syntaktischer als auch auf narrativer Ebene kausale und chronologische Verknüpfungen generell in der Schwebe lassen, zerfransen sie nicht bis zur vollständigen Unkenntlichkeit. Produzierten die Texte Entgrenzung als absolute Entdifferenzierung, so entstünde eine textuelle Entropie, eine völlige Beliebigkeit, die gleichgültig ließe und als solche weder wahrnehmbar noch anschlussfähig wäre. Die Texte zerstören jedoch nicht nur auf einer Vielzahl von Ebenen etablierte Ordnungsmuster, sie erproben gleichzeitig auch neue, alternative Anordnungsmöglichkeiten. Im Folgenden soll analysiert werden, wie Mayröckers Texte diese zweifache Bewegung der Zerschlagung und Reorganisation von Bedeutung auf mehreren Ebenen gleichzeitig inszenieren. Um die einzelnen Momente innerhalb dieser komplexen Umgestaltung von Textorganisation genauer zu fassen, werde ich mich zunächst auf die eher dekonstruierenden Bewegungen der Texte einlassen, um dann im Verlauf der Arbeit mehr und mehr auf ihre ordnungsstiftenden, konstruktiven Momente einzugehen.12
12
Diese Aufteilung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Dekonstruktion nicht ohne konstruktive Momente zu denken ist. Auch in den Kapiteln zu ordnungsauflösenden Textverfahren werden schon konstruktive Neuanordnungen sichtbar.
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2. Ordnungsauflösende Textverfahren 2.1 Sprachentgrenzungen „Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beunruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist auf einen Faden, eben jenen berühmten ‚Faden der Erzählung‘, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht. Wohl dem, der sagen kann ‚als‘, ‚ehe‘ und ‚nachdem‘!“ Robert Musil
Mayröcker weigert sich, die „überwältigende[ ] Mannigfaltigkeit des Lebens“, über die Ulrich in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften sinniert, in eine eindimensionale Aufreihung einer Erzählung zu überführen. Ihr erklärtes Ziel ist es, eine Darstellungsform zu finden, der es gelingt, die Vielschichtigkeit und Simultaneität von Erfahrungen sichtbar zu machen: „Ja, eines der Themen, die mir immer sehr am Herzen liegen, ist die Gleichzeitigkeit von Vorgängen, von inneren Vorgängen also, die man gleichzeitig hat, mit allen möglichen Menschen gleichzeitig und mit sich selbst gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen. Und daß die Vergangenheit gleich Gegenwart ist und Zukunft im eigenen Erlebnisbereich und im Verhältnis zu den Erlebnisbereichen der anderen Menschen, die einem nahestehen und die einem nicht nahestehen.“13
Doch wie kann eine solche Gleichzeitigkeit sprachlich dargestellt werden? Wie sieht eine „Sprache, die über die Gegenwart hüpft“ (L 178), aus? Wie entstehen Texte, die das schreibende Ich selbst als „eine Art Zweifach-, Dreifach-, Mehrfachbelichtung“ (HZN 35 und passim) charakterisiert; Texte, in denen „alles wie übereinanderkopiert“ (RdN 91) erscheint? Ein erster Zugang zu den sprachlichen Entgrenzungsverfahren lässt sich unter Rückgriff auf Ferdinand de Saussures Unterschei13
In: Ramm, Klaus: „‚Eine Art von Erinnerungsliebe‘. Ein Radio-Interview zu Das Licht in der Landschaft“. In: Schmidt: Friederike Mayröcker, S. 76.
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dung zwischen einer syntagmatischen und einer paradigmatischen Sprachachse gewinnen.14 Saussures berühmter Unterscheidung zufolge bestimmen wir ein einzelnes Wort, indem wir es in Beziehung zu den anderen Wörtern innerhalb eines Satzes betrachten (syntagmatische Ebene) und indem wir es gleichzeitig assoziativ mit einer Vielzahl anderer ähnlich klingender Worte vergleichen (paradigmatische oder auch assoziative Ebene). Nur innerhalb dieses zweifachen Verweisungs- und Abgrenzungszusammenhangs erfährt das sprachliche Zeichen die notwendigen Anhaltspunkte zu seiner Bedeutungsbestimmung. Saussure beschreibt den Mechanismus der Sprache als ein Wechselspiel zwischen beiden Achsen: „Ce mécanisme [...] ressemble au fonctionnement d’une machine dont les pièces ont une action réciproque bien qu’elles soient disposées dans une seule dimension.“15 Als Beispiel für das Ineinandergreifen beider Sprachachsen führt er das Wort dé-faire („ab-reißen“) an. Die Bedeutung dieses Wortes entstehe einerseits durch die Aneinanderreihung der beiden Wortteile dé und faire auf syntagmatischer Ebene. Andererseits beziehe es seinen Wert durch eine Vielzahl „dans le subconscient“16 existierender assoziativer Unterscheidungen, die sich sowohl zu dem Präfix dé- (z.B. „décoller, déplacer, découdre etc.“) als auch zu dem Verb faire (z.B. „refaire, contrefaire etc.“) herstellen lassen: „Ainsi défaire serait inanalysable si les autres formes contenant déou faire disparaissaient de la langue; il ne serait plus qu’une unité simple et ses deux parties ne seraient plus opposables l’une à l’autre. [...] Notre mémoire tient en réserve tout les types de syntagmes plus ou moins complexes, de quelque espèce ou étendue qu’ils puissent être, et au moment de les employer, nous faisons intervenir les groupes associatifs pour fixer notre choix.“17
Obwohl beide Arten der Verknüpfung nach Saussure für das Verständnis eines Wortes gleichermaßen wichtig sind, können wir nur die syntagmatische Anordnung jederzeit nachvollziehen. Während wir die syntagmatische Aneinanderreihung von Wortteilen und Wortfolgen in einem Satz jederzeit vor Augen haben, entzieht sich der assoziative Auswahlprozess der einzelnen Worte weitgehend 14 15 16 17
Vgl. Saussure, Ferdinand de: Cours de Linguistique générale. Paris 1969, v. a. S. 170-175. Ebd., S. 177. Ebd., S. 178. Ebd., S. 178 f.
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unserer bewussten Wahrnehmung: „Le rapport syntagmatique est in praesentia; il repose sur deux ou plusieurs termes également présents dans une série effective. Au contraire le rapport associatif unit des termes in absentia dans une série mnémonique virtuelle.“18 Zwangsläufig begünstigt diese Tatsache die Wahrnehmung der Verbindungen zwischen Worten und Wortteilen auf der syntagmatischen Ebene der Sprache und führt zu einer Benachteiligung assoziativer Denkstrukturen. Hinzu kommt, dass die syntagmatische Ebene der Sprache nach Saussures Grundsatz vom linearen Charakter der Zeichen maßgeblich durch die ihr eingeschriebene zeitliche Struktur als Nacheinander bestimmt ist. Die Privilegierung der syntagmatischen Beziehungen der Sprache, deren wesentliches Merkmal ihre zeitliche Aufeinanderfolge ist, führt zur Wahrnehmung von Sprache als einem primär zeitlichen, linearen Medium. Auch der Literatur, deren genuines Medium die Sprache ist, wohnt stärker als anderen Ausdrucksformen wie etwa der Malerei ein maßgeblich zeitlicher Faktor inne. Die graphische Aneinanderreihung der Schriftzeichen übermittelt die Informationen in zeitlicher Aufeinanderfolge, die sukzessiv wahrgenommen werden. Mayröcker gelingt es in ihrer Prosa durch gezielte Veränderungen auf beiden Sprachachsen sowie deren gegenseitige Überlagerung, die dominante zeitliche Ordnung der sprachlichen Darstellung in eine zeitlich-räumliche Simultaneität zu überführen.19 Zunächst fällt auf syntagmatischer Ebene auf, dass die einzelnen Sätze in Mayröckers Texten zur Entgrenzung tendieren. Diese Tendenz erreicht ihren Höhepunkt in mein Herz mein Zimmer mein Name, einem 337 Seiten langen Text, der aus einem einzigen langen Satz besteht. Während in einem Satz von normaler Länge eine mehr oder weniger kleine Anzahl von Wörtern miteinander in Beziehung gesetzt werden, treten hier ungewöhnlich viele Wörter in einen Bedeutungszusammenhang. Das führt dazu, dass jedes einzelne Wort in eine nahezu unendliche Kette von Differenzen hineingezogen wird. Dadurch wird das geregelte Nacheinander von Sätzen, ihre 18 19
Ebd., S. 171. Die folgenden Ausführungen stimmen weitgehend mit Roman Jakobsons Auffassung überein, dass Literatur generell darauf drängt, die Unterscheidung der beiden Achsen zum Kollabieren zu bringen. „Die poetische Funktion“, so seine berühmt gewordene Definition, „projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der [paradigmatischen] Achse der Selektion auf die [syntagmatische] Achse der Kombination.“ Vgl. Jakobson, Roman: „Linguistik und Poetik“. In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Frankfurt am Main 1979, S. 94.
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zeitliche Abfolge von vornherein suspendiert und der gesamte Lesevorgang in eine gemeinsame Klammer, den einen Satz, gesetzt. Die Texte verweigern sich einer chronologischen Lesart zudem dadurch, dass sie Erinnerungen der Vergangenheit als aufeinanderfolgende Augenblicksbeschreibungen präsentieren: „die Sonne jetzt mitten im Zimmer, die Sonne gittert jetzt im orangeroten Plastikpapierkorb und dessen halbkreisförmigen Schatten auf dem Parkett, und er trat durchs Gebüsch, durchs Gesträuch und blickte sie lange an, auf tannig Ländern! Die sanftesten Küsse getauscht, ich konnte es sehen, unter den Föhren, die sanftesten Küsse getauscht, sie hatten sich jetzt erhoben“ (HZN 30, Hervorhebungen J.W.).
In dieser Darstellung werden alle Erinnerungen noch einmal Augenblick für Augenblick heraufbeschworen und durchlebt, wobei Schreibmoment (‚jetzt‘) und Erinnerung (markiert durch die Vergangenheitsformen der Verben) ineinander übergehen. Dadurch, dass Zeitadverbien zur Herstellung einer Abfolge (‚als‘, ‚ehe‘, ‚nachdem‘ etc.) oder Dauer (‚während‘, ‚gleichzeitig‘ etc.) fehlen und die Texte keine inhaltlichen Raffungen aufweisen, wird der Leser unmittelbar in den jeweiligen Schreibmoment mit hineingezogen. Hinzu kommt eine ungewöhnlich starke Betonung der paradigmatischen Achse der Sprache. Assoziative Beziehungen verschiedenster Art drängen sich immer wieder in die Texte hinein: (1) „dann träumt mir jemand gegen die Eingangstür ich meine trommelt“ (HdD 10); (2) „man fingert ich meine fingiert eine Geschichte“ (RdN 112); (3) „er trug in meinem Traum einen sehr bürgerlichen Namen (Anzug)“ (HdD 39); (4) „das Opake des Käfers (Teufels)“ (HZN 129); (5) „sie ist wirklich eine Libelle (Zikade?)“ (HdD 39); (6) „ein Taumel (Tunnel) führt zu den eigenartigsten Gefühlswallungen“ (HdD 30); (7) „so brenne ich vor Begierde, dies himmel- und meerrauschende Sofa (Besessenheit)“ (RdN 39); (8) „Stoffhündchen gekroppt mit Ledergeschirr (Zaumzeug?) vor dem Fleischerladen (‚wir warten draußen‘)“ (HZN 226).
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Durch die Einbeziehung all dieser Assoziationen wird der lineare Erzählfluss nachhaltig gestört. Der Leser wird immer wieder gezwungen, inne zu halten und seinen Blick auf eine Vielzahl von anderen parallel existierenden Benennungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten zu lenken. Auf diese Weise werden die nach Saussure in absentia sich vollziehenden assoziativen Verknüpfungen der Sprache erfahrbar gemacht. Der Leser kann plötzlich den im Normalfall unbewusst stattfindenden Auswahlprozess eines Wortes vor seinen Augen verfolgen und reflektieren. Dadurch wird die paradigmatische Ebene der Sprache aus ihrem Schattendasein befreit. Gleichzeitig werden dem Leser durch diese Technik sowohl die Fiktionalität der Texte als auch die Willkür der vor seinem inneren Auge entstehenden Bilder bewusst gemacht. Er nimmt wahr, wie durch die Veränderung eines Wortes, manchmal auch schon durch eine minimale lautliche oder graphische Verschiebung eine völlig andere Bedeutung entstehen kann. Doch damit nicht genug. Oftmals sind die in Klammern angebotenen Alternativen wie zum Beispiel „das Opake des Käfers (Teufels)“ (Bsp. 4) gleich (ir-)relevant. Ob der Mann im Traum des schreibenden Ich einen bürgerlichen Anzug oder Namen trägt, macht für das Verständnis des Textes keinen Unterschied (Bsp. 3). Sowohl ein Taumel als auch ein Tunnel kann zu den eigenartigsten Gefühlswallungen führen (Bsp. 6). Die Annahme, dass es für jede Vorstellung nur eine einzige adäquate, präzise Beschreibung gibt, wird durch die gleichzeitige Präsentation von verschiedenen ‚gleichrangigen‘ Variationen vereitelt. Gleichzeitig wird der Leser zu eigenen Assoziationen angeregt. Da viele Bezeichnungen auf den ersten Blick keinen Sinn ergeben, versucht er selbst, über eine oder mehrere Assoziationen einen Zugang zu ihnen zu bekommen. Wenn es zum Beispiel heißt, „so brenne ich vor Begierde, dies himmelund meerrauschende Sofa (Besessenheit)“ (Bsp. 7), so kann er sich möglicherweise über 1. die semantische Ähnlichkeit von „Begierde“ und „Besessenheit“ und über 2. die verknüpfende Assoziation des Verbs sitzen als Verbindungsglied zwischen „Besessenheit“ und „Sofa“ die Bezeichnung der „Begierde“ als einem „Sofa“ erschließen. Die Multiplikation von Bedeutungsmöglichkeiten auf der paradigmatischen Achse der Texte und die gleichzeitige Entgrenzung der syntagmatischen Beziehungen erzeugen den Eindruck eines flächigen oder räumlichen Erzählens. Die lineare sukzessive Folge
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von einzelnen Sätzen wird einerseits durch die vielen vertikalen Einschübe in den Hintergrund gedrängt und andererseits durch ihre eigene Entgrenzung gestört. Es kommt zu „fehlerhafte[n] Verkettungen, Reaktionen, Zusammenhänge[n] absurdester Art, als ich sechsjährig mit meinem Vater in einem Seitengebüsch, Nebengebüsch, Nebenbuffet (Dubuffet) und das Wiesenpublikum uns umringte“ (HZN 111).
Diese „fehlerhaften Verkettungen“ bringen die grammatikalische Ordnung ins Wanken und stellen die Ordnungsmodalitäten menschlichen Denkens, das wesentlich von grammatikalischen Strukturen geprägt ist, in Frage.20 Durch die gleichzeitige Entgrenzung der beiden Sprachachsen und ihre Verschiebung ineinander entsteht ein „neuer poetischer Raum“21, der zu einer anderen Rezeptionsweise herausfordert: „Sie brauchen das Buch nicht von der ersten Seite zur letzten zu lesen, o nein, vielmehr können sie blättern darin, Sie können das Buch an irgendeiner Stelle aufschlagen und schon bekommen sie eine Ahnung vom Ganzen.“ (L 194)
Die Texte präsentieren sich dem Rezipienten als offene Sprachsysteme, die nicht sukzessive gelesen werden müssen, sondern zur diskontinuierlichen, sprunghaften Lektüre aufrufen. Um die Ausbildung einer solchen neuen Rezeption zu unterstützen, gibt das schreibende Ich immer wieder Leseanleitungen: „geben Sie nicht auf, lieber geschätzter Leser, wenngleich die Lesbarkeit ich meine leibliche Durchschaubarkeit dieses Buches nicht leicht fallen mag, denken sie womöglich an LEBENSABRISS, verlegen sie das Gewicht auf ABRISS: ABREISSEN ein immer wieder abreißendes, ein zerrissenes Leben womöglich“ (L 127).
Das schreibende Ich spricht nicht nur von der Lesbarkeit seines Textes, sondern auch von der leibliche[n] Durchschaubarkeit seines Buchs. In der Beschreibung des Textes als eines Körpers wird ebenfalls die Linearität zugunsten einer dreidimensionalen Wahrnehmung zurückgedrängt. Das schreibende Ich fordert den Leser auf, sich dem Text über Assoziationen zum Wort „Lebensabriss“ 20
21
Zu den Zusammenhängen zwischen Sprachstrukturen und kognitiven Leistungen des Gehirns vgl. u. a. Chomsky, Noam: Language and Mind. New York 1972. Jandl, Ernst: „Ein neuer poetischer Raum. Zur Prosa von Friederike Mayröcker“. In: Schmidt: Friederike Mayröcker, S. 51-57.
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anzunähern und führt verschiedene Assoziationen zum Wortteil „Abriss“ vor, die wie eine Anspielung auf Saussures exemplarische Analyse des Wortes „défaire“ („abreißen“) wirken. Während Saussure das Verb anführte, um sein Theorem von der allgemeinen Differentialität der Zeichen zu erläutern, benutzt es das schreibende Ich Mayröckers, um auf die Zerrissenheit von Lebenserfahrungen aufmerksam zu machen, die es in seinen Texten darzustellen sucht, ohne sie in eine chronologische Anordnung zu überführen: „und immer wieder fängt alles neu an, mit jedem neuen Jahr fängt das Leben neu an, aber nicht so, als würde etwas fortgesetzt, als könnte man etwas weiterführen, sondern ohne Zusammenhang, ohne Erinnerung und Vergangenheit, mit Rasanz, im atemlosen Karacho .. und weil mir die Zeit immer so spurlos auch spurenlos wegläuft, möchte ich sie manchmal buchstäblich auf der Zunge zergehen lassen“ (HdD 82).
Der zerrinnenden Zeit wird in den Texten immer wieder der intensive einzelne Augenblick als ein aus der Zeit herausragendes Phänomen entgegengehalten: „es zählt nur, was im Augenblick geschieht“ (HdD 163). Der einzelne Augenblick wird als „ein erregender Zustand“ (HdD 82) geschildert, dessen Ziel es ist, den Fortlauf der Zeit, der immer auch die Annäherung an den Tod bedeutet, zu transzendieren: „um die Wahrheit zu sagen ich habe Angst vor dem Sterben und ich wehre mich gegen das Sterben, ich habe mir immer eine Art Ewigkeit vorgestellt [...] ach betäubender Lebensabschnitt wo alles zusammenschieszt, in einem einzigen wehmütigen Augenblick zusammenschieszt“ (RdN 61).
Die textuelle Herstellung von Simultaneität bekommt eine weitere Dimension. Sie wird zu einer Gegenbewegung zu der als bedrohend erfahrenen Zeitlichkeit. Der überdeterminierte Augenblick, „wo alles zusammenschieszt“, soll in seiner „Fülle“ (ebd.) diese Erfahrung von Zeitlichkeit immer wieder für Momente suspendieren.
2.2 Auflösung traditioneller Gattungsbegriffe Mayröcker knüpft in ihrer Prosa gezielt an die etablierten Erzählformen der Autobiographie und des Briefromans an. Statt mit traditionellen Erzählformen einfach zu brechen, nehmen die Texte Elemente beider Gattungen in sich auf, kombinieren sie miteinan-
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der, verschieben sie, bringen sie in Bewegung und brechen auf diese Weise deren Ordnungsstrukturen von innen her auf. Über die Bezüge zu Autobiographie und Briefroman, denen beiden eine besondere Rolle bei der Entstehung von moderner Subjektivität zugeschrieben wird, setzt Mayröcker ein subtiles Spiel mit Subjektivität und Subjektkonstitution in Gang, das im Folgenden unter Rückgriff auf zentrale Merkmale der beiden Gattungen erörtert werden soll.
Das Spiel mit der Autobiographie Mayröckers Prosa wird in der Forschung immer wieder mit der Autobiographie in Zusammenhang gebracht.22 „Der Begriff des Autobiographischen liegt, was die Diskussion um Mayröckers späte Prosa betrifft, merkwürdig verdreht im Raum“, erklärt Klaus Kastberger. Dabei sei auffällig, „dass selbst diejenigen Interpreten, die sich in Bezug auf Mayröckers Texte von autobiographischen Lesarten vollmundig distanzieren, innerhalb ihrer Deutungen dann doch wieder in eine autobiographische Lesart zurückfallen, indem sie das schreibende Ich der Texte mit der Autorin Mayröcker identifizieren.“23 Die Texte provozieren autobiographische Lesarten, indem sie auf mehreren Ebenen auf ihre Erzählmuster rekurrieren und sich in ihre Tradition stellen. Schon mit der Erzählsituation – im Zentrum aller Texte steht ein schreibendes Ich, das in erster Linie um sich selbst kreist – wird ein klassisches Motiv autobiographischen Schreibens aufgerufen, das sich selbst thematisierende, sich im Akt des Schreibens erforschende und entblößende Ich. Zudem greifen die Texte eine Reihe von Themenkomplexen auf, die zum klassischen Bestand autobiographischen Schreibens gehören: Die Erinnerung an die Kindheit (alle Texte), die Beschreibung einer Reise (Reise durch die Nacht), das Ende einer Liebesbeziehung (Das Herzzerreißende der Dinge), die Beziehung zu den Eltern (Reise durch die Nacht, mein Herz mein Zimmer mein Name) oder die Erfahrung des Alterns (mein Herz mein Zimmer mein Name). Hinzu kommen zahlreiche ‚Übereinstimmungen‘ zwischen schreibendem Ich und der Autorin. Die Schilderungen von beider Wohnung und 22 23
Vgl. hierzu auch die ausführliche Darstellung von Arteel: gefaltet, entfaltet, S. 15-34. Kastberger, Klaus: Reinschrift des Lebens, S. 139 f.
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Lebensverhältnisse decken sich bis ins Detail, und auch die in die Romane integrierten poetologischen Äußerungen des schreibenden Ich stimmen mitunter wörtlich mit den Äußerungen der Autorin in Interviews überein. Dieses Ineinander von Leben und Text verstärkt Mayröcker in den jüngeren Texten zunehmend, indem sie Freunde und Bekannte mit vollem Namen nennt, ihnen am Ende ihrer Texte für Kritik und Anregungen dankt und Gespräche mit ihnen oder Briefzeilen in ihren Texten wiedergibt. Durch intertextuelle Bezüge zu anderen autobiographischen Texten und deren Autoren verortet sich das schreibende Ich zudem selbst in der Tradition autobiographischen Schreibens. Das schreibende Ich sagt zum Beispiel von sich in Anspielung auf die autobiographischen Schriften von Michel Leiris und Elias Canetti, es lehne sich wie diese „mächtig gegen den Tod auf: wie Leiris, wie Canetti“ (HdD 12). Ebenso betont es die wichtige Rolle der Autobiographie von Salvador Dalí beim Abfassen von Das Herzzerreißende der Dinge (HdD 97). In mein Herz mein Zimmer mein Name befindet sich auf dem Umschlag des Buchs ein Photo des Arbeitszimmers der Autorin, das in Zusammenhang mit den wiederholten Personalpronomina des Titels (mein Herz, mein Zimmer, mein Name) eine autobiographische Deutung des Textes ebenfalls suggeriert. All diese Momente legen eine autobiographische Lesart der Texte nahe. Vor allem durch die vielen ‚Wirklichkeitspartikel‘ (die Übereinstimmungen zwischen schreibendem Ich und Autorin, die verwendeten Briefe etc.) schreibt die Autorin ihren Texten ein „Wirklichkeitsbegehren“24 ein, das nach Wagner-Egelhaaf ein wesentliches Strukturmerkmal der Autobiographie darstellt. Doch die mit einer Autobiographie verbundene Leseerwartung einer individuellen Identitätsherstellung25 wird von den Texten massiv enttäuscht. Im Gegensatz zu den meisten autobiographischen Texten, in denen ein ‚Ich‘ seine ganz persönlichen Gefühle, Erlebnisse und Gedanken zum Ausdruck bringt und sie in seine Lebens24 25
Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. Stuttgart 2000, S. 8. Obwohl die Grenzen der Autobiographie im 20. Jahrhundert erheblich erweitert wurden, haben sich die allgemeinen Leseerwartungen einer autobiographischen Identitätsherstellung nur wenig verändert. Vgl. Brockmeier, Jens: „Erinnerung, Identität und autobiographischer Prozess“. In: Journal für Psychologie 7, Heft 1, 1999, S. 22-39. Der Vergleich mit einem eher konventionellen Autobiographiebegriff dient an dieser Stelle dazu, den Kontrast zwischen Mayröckers Texten und solchen lange Zeit (und zum großen Teil auch heute noch) gültigen Funktionen des autobiographischen Schreibens herauszustreichen.
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geschichte überführt, rekurriert das schreibende Ich in Mayröckers Texten vorrangig auf fremde Einflüsse: „oder habe ich mir alles nur angeeignet: euphemistisch für: habe ich das alles nur zusammengestohlen, habe ich nicht jederzeit alles an mich gerissen, das kalte Feuer im Auge (Kalkül), habe ich nicht, neben mir selber stehend, alles eingesogen in mich, alles aufgezeichnet und abgepaust, Fremdes als Eigenes ausgewiesen, o welche Schmach solch parasitäres Kunstverfahren“ (HZN 29).
Das schreibende Ich bezichtigt sich selbst des unentwegten Abpausens. Es erklärt, dass es keine persönliche, eigene Sprache besitzt: „ich verfüge auch über keinerlei Sprechmaterie, [...] ich habe eine gestohlene Sprache“ (HdD 122). Seine eigene Stimme verschwindet angesichts der Fülle vorhandener anderer Texte: „ich bin zu nichts nütze, bin sperrig, überzählig geworden, [...] jeder könnte auf mich verzichten“ (HdD 88), beklagt es immer wieder. Es wäre gerne in der Rolle eines „SIGNALGEBERS“ (RdN 89), kann stattdessen aber nur andere Signale in sich aufnehmen und diese in den eigenen Text überführen: „oder ich schreibe ab, aus Büchern und Briefen, oder ich schreibe mit, was dieser und jener mir telefonierte, Erkenntnisse des inneren und äußeren Lebens, die nicht die meinen sind, alles geliehen, alles angeeignet, entwendet!, alles erpresst!, ganze Passagen aus meinen Lieblingsbüchern, und ans Herz gepreßt, nicht wahr und zum eigensten Anliegen (Mundraub) gemacht“ (HZN 223).
Beim ‚Stehlen‘ und Kopieren aus anderen Texten gelten so gut wie keine Regeln: „das ins Auge Fallende wird bevorzugt, alle Stile gelten, alle Zeiten sind gefragt also schwer zu wählen“ (HdD 17). Es entsteht ein Text, der vom schreibenden Ich selbst als „papageienhafte Vollstreckungskunst“ (HZN 194) bezeichnet wird und sich als eine Kopie anderer Texte zu erkennen gibt: „habe nie ein Hehl aus meinen Quellen gemacht, Zitat ist Teil meiner Schreibmethode, dies alles habe ich entlehnt : seht her und sieh da!“ (HdD 30). Die fremden Textzitate werden dem eigenen Text „anverwandelt“26, d.h. sie werden mit anderen Textelementen verwoben, sodass eine Unterscheidung zwischen Fremdem und Eigenem unmöglich wird. Das schreibende Ich erklärt, dass es sein Ziel sei, immer auf bereits vorhandene Aussagen zu rekurrieren: „auf emotionale Anregung versuche ich diese Papageiensprache durchzuhal26
Schmidt: Fuszstapfen des Kopfes, S. 39.
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ten“ (RdN 15 und passim). Indem die eigenen Aussagen als Zitate markiert werden, wird die mit der traditionellen Autobiographie verbundene Vorstellung einer individuellen Selbstidentifikation unterlaufen. Was immer das schreibende Ich zu Papier bringt, es ist aus anderen Texten exzerpiert und kopiert. Statt den subjektiven Bereich mit eigenen Worten auszuleuchten, spricht das schreibende Ich mit fremden Zungen: „im Korintherbrief sagt Paulus DIE ZUNGENREDE IST NICHT EIN REDEN MIT MEINER VERNUNFT“ (RdN 101). Das Zitat veranschaulicht exemplarisch, wie ein fremdes Zitat („sagt Paulus“) dazu benutzt wird, um die eigene Schreibweise zu beschreiben. Es ist unmöglich, zu unterscheiden, ob es sich nur um ein Zitat oder um eine in Anlehnung an ein Zitat gemachte eigene Aussage des schreibenden Ich handelt. Der Lebenstext entsteht weder als Abbildung des eigenen Lebens noch als schöpferische individuelle Selbstkonstruktion, sondern vielmehr als eine Zusammensetzung aus anderen Texten: „das ist eigentlich alles aus den Büchern herausgesprochen“ (HdD 64). Die mit dem traditionellen Mimesiskonzept verbundene Sichtweise wird in dieser Perspektive um die eigene Achse gedreht: Nicht das Leben bringt die Literatur hervor, sondern die Literatur bringt das (schreibende) Ich hervor, indem sie ihm ihre Sprache zur Verfügung stellt. Durch das Eingeständnis, dass ihm keine eigene und persönliche Sprache zur Verfügung steht, widersetzt sich das schreibende Ich hergebrachten Authentizitätsvorstellungen. Seine Darstellung einer „gestohlenen Sprache“ rekurriert auf eine Sichtweise von Jacques Derrida, der in seinem Aufsatz „La parole soufflée“ das authentische, subjektzentrierte Sprachbewusstsein als eine Schimäre entlarvt hat: „La parole proférée ou inscrite, la lettre, est toujours volée. Toujours volée parce que toujours ouverte. Elle n’est jamais propre à son auteur ou à son destinataire et il appartient à sa nature qu’elle ne suive jamais le trajet qui mène d’un sujet propre à un sujet propre.“27
Roland Barthes hat im Anschluss an Derrida den Begriff der „gestohlenen Sprache“ ins Positive gewendet. In Sade, Fourier, Loyola beschreibt er den Diebstahl der Sprache als den einzig möglichen Weg, Sprache überhaupt noch zu verwenden: 27
Derrida, Jacques: „La parole soufflée“. In: Ders.: L’écriture et la différence. Paris 1967, S. 266.
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„En fait, il n’y a aujourd’hui aucun lieu de langage extérieur à l’idéologie bourgeoise: notre langage vient d’elle, y retourne, y est enfermé. La seule riposte possible n’est ni l’affrontement ni la destruction, mais seulement le vol: fragmenter le texte ancien de la culture, de la science, de la littérature, et en disséminer les traits selon des formules méconnaissables, de la même façon que l’on maquille une marchandise volée.“28
Friederike Mayröckers Texte wirken wie der poetische Vollzug dieser Überlegungen. Doch das Eingeständnis der Inauthentizität, das Wissen, dass sich die eigene Sprache immer schon aus Imitaten zusammensetzt, begründen paradoxerweise den eigenen Ton des schreibenden Ich. Allen sprachlichen Eigentumsverhältnissen zum Trotz findet es im Durchgang durch Zitat und Plagiat seine eigene unverwechselbare „Papageiensprache“ (RdN 17 und passim). Nicht Bewusstseinsinhalte, sondern die Art und Weise des Sprechens, der persönliche Stil, begründen die Individualität ihres Schreibens. ‚Authentizität‘ – wenn von einer solchen hier überhaupt noch die Rede sein kann – wird zu einer Frage des Stils. Eine Autobiographie stellt in der Regel die Lebensgeschichte einer Person dar. Unabhängig davon, ob es sich um eine Erfolgsgeschichte handelt, oder ob sich ein unsicheres Ich seiner selbst im Text zu vergewissern sucht, ob das entstehende Ich sich als eine ‚Fiktion‘ zu erkennen gibt oder nicht; entscheidend ist, dass es in den meisten Fällen, selbst in denjenigen Autobiographien, die einem kritischen Subjektverständnis verpflichtet sind, zu einer narrativen Anordnung kommt.29 Indem das schreibende Ich sich den Möglichkeiten narrativer Sinnstiftung verweigert, bricht es mit dem konstitutiven Merkmal autobiographischer Selbstkonstruktion: „Der von der Autorin geübte Verzicht auf Chronologie und Kausalität läuft dem Impetus, das eigene Leben in seinen Zusammenhängen und das Ich als Gewordenes darzustellen, zuwider. Es handelt sich dabei um den Verstoß gegen eine Forderung, die für die Gattung unabdingbar scheint: Autobiographie kommt ohne Narration schwerlich aus.“30
28 29
30
Barthes, Roland: „Sade, Fourier, Loyola“. In: Ders.: Œuvres Complètes, Tome II, 1966-1973, S. 1045 f. Vgl. Brockmeier: Erinnerung, Identität und autobiographischer Prozess, S. 27. Brockmeier vertritt die These, dass Identitätsbildung nicht ohne ein Mindestmaß an Narrativität auskommen kann. Kastberger: Reinschrift des Lebens, S. 139.
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Das schreibende Ich verweigert die narrative Sinnstiftung vehement: „wenn ich merke, dass sich da so etwas wie ein Erzählen einschleichen will, [...] fahr ich dazwischen, reiß ich das Steuer herum, zerstöre ich alles, was in diese Richtung zu streben verlangt“ (HZN 33). Indem es Zusammenhänge persönlichen Erlebens beim Schreiben nachträglich auflöst, geht es sogar noch einen Schritt weiter. Die einzelnen Textteile werden immer weiter aufgelöst: „Das Aneinanderreiben, nicht -reihen von Botschaften oder wie soll ich sagen, Zusammenstauchen von Begriffen, in einem Spiegel, schrecklich verzerrt und zugerichtet, eben schon für die Ewigkeit : man fällt in sich hinein, und dann ist man mit sich selbst allein, und das ist dann das Ende.“ (HdD 35)
Durch ihre Fragmentierung und Zerstreuung werden subjektive Erfahrungen in den Texten Mayröckers der traditionellen Autobiographie genau entgegengesetzt verwandt: Sie wirken nicht identitätsstiftend, sondern identitätsauflösend. Die Texte evozieren einen bestimmten Erwartungshorizont der Autobiographie und enttäuschen ihn zugleich. Indem die gewohnte Rezeption, die auf die Anerkennung der Vorstellung eines ‚inneren Lebenszusammenhangs‘ baut, vereitelt wird, wird dieser ‚innere Lebenszusammenhang‘ selbst zum Thema. Die Texte verweisen immer wieder darauf, dass die narrative Selbstkonstruktion ein produktiver, künstlicher Akt ist: „Unser menschliches Leben hat einen stark fiktiven Zug, auch stehen wir in einem permanenten Wechselverhältnis zwischen dem von uns Erzeugten und dem Wissen um unser und aller Vergänglichkeit : ein Gebäude wird errichtet, ohne dass es ein solches wirklich gibt“ (HdD 22).
Indem die Texte diesen Konstruktionsakt sowohl inhaltlich thematisieren als auch formal unterbinden, werden sie, so Daniela RiessBeger, „nicht nur zur Bühne für Prozesse der sprachlichen Konstituierung von Wirklichkeit, sondern sie legen auch offen, wie bestimmte Vorstellungen von Subjektivität – in den Kategorien von Identität nämlich – diese Prozesse steuern. Indem die Prosatexte spielen mit den Möglichkeiten der Autobiographie und mit der Grundlage dieses Vorstellungsmusters, der Einheit und Konsistenz von individueller Erfahrung, entfalten sie zugleich die allgemeinen Bedingungen der Konstruktion des Autobiographischen selbst.“31 31
Riess-Beger, Daniela: Lebensstudien. Poetische Verfahrensweisen in Friederike Mayröckers Prosa. Würzburg 1995, S. 340. Zur Autobiographieproblematik in
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Es erscheint genauso verfehlt, Mayröckers Texten jeglichen autobiographischen Gehalt abzusprechen, wie es irreführend ist, sie als autobiographische Texte zu bezeichnen.32 Sie zeigen vielmehr, dass eine solche Logik des Entweder/Oder nicht möglich ist. Ob die ‚Lebensbezüge‘ der Texte fiktiv, autobiographisch oder beides zugleich sind, lässt sich nicht entscheiden. Mayröckers Texte lassen sich – ähnlich wie Pessoas Livro do desassossego – eher im Sinne einer ‚écriture de soi‘ verstehen. Die Autorin überträgt alles, was sie liest und für interessant befindet, auf Notizzettel, die sich in ihrer Wiener Wohnung in Waschkörben stapeln und in einer kontinuierlichen Praxis des Lesens und Schreibens in den eigenen Text überführt werden. Dabei ist die fortwährende Beschäftigung mit Texten, das Lesen und Schreiben, wichtiger als der fertige Roman: Schreiben ist für die Autorin nach eigenen Angaben eine existenzielle Tätigkeit. Ist ein Roman abgeschlossen (dessen Beendigung in der Regel durch den Termin vom Verlag maßgeblich vorgegeben wird), wird er so schnell wie möglich durch das nächste Schreibprojekt ersetzt. Wie die ‚écriture de soi‘, die von Foucault als eine Schreibpraxis bezeichnet wird, handelt es sich dabei um einen unabschließbaren Prozess, dessen Ziel die unablässige Beschäftigung mit und Aneignung von Literatur ist.
Transformationen des Briefromans Zu jeder Tages- und Nachtzeit, am Boden, im Bett, im Schlafwagen – in einem fort gibt sich das schreibende Ich seinem „verliebten Hang für den Akt des Korrespondierens“ (RdN 117) hin, „jenem geheimnisvollen ANHEIMFALLEN, von dem unser Gedankenbewusstsein im Grunde wenig weisz“ (ebd.). Das schreibende Ich befindet sich in einem ununterbrochenen Dialog mit seinen Briefpartnern: „und ich könnte mir manchmal vorstellen, mein weiteres Leben damit zu verbringen, Briefe an Sie zu schreiben, Briefe von
32
Mayröckers Prosa vgl. auch Dies.: „‚Wäschepelz Wolfshund und Positano‘. Die Auflösung des Autobiographischen in Friederike Mayröckers großer Prosa“. In: Holdenried, Michaela (Hg.): Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. Berlin 1995, S. 339-351. Einen Ausweg bietet Paul de Man, der dafür plädiert, die Autobiographie als eine Lese- oder Verstehensfigur zu begreifen, die gewissermaßen in allen Texten auftritt. Vgl. Man, Paul de: „Autobiography as Defacement“. In: Ders.: The Rhetoric of Romanticism. New York 1984, S. 67-81.
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Ihnen zu empfangen, zu lesen, und wiederzulesen, [...], alle Zeit wäre ausgefüllt damit“ (HZN 223). Die erste Handlung am Morgen ist der Blick in den Briefkasten: „Gierig“ fliegt das schreibende Ich jeden Morgen stiegenabwärts zum Hausbriefkasten und stopft sich die Plastiktüten voll Post (HZN 309), die dann sofort verschlungen wird: „aufregend schon das Öffnen des Umschlags, das Auseinanderfalten des Florpapiers, ich zähle dann, wie viele Seiten, wie lange dauert das Glück?“ (HZN 276). Der Akt des Korrespondierens, besonders das Empfangen von Briefen, hat für das schreibende Ich eine existenzielle Bedeutung: „dein jüngster Brief hat mich am Leben erhalten“ (HdD 10 und passim), „stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn Du auf meine Briefe nicht mehr reagieren würdest – ein Schmerz als ob plötzlich alles Licht ausgegangen wäre?“ (HdD 112). Doch die Texte erinnern nicht nur durch ihre expansive Beschäftigung mit dem Medium Brief an Briefromane und Korrespondenzen verjährter Zeiten.33 Der Austausch von Briefen bildet vielmehr, so die These von Juliane Vogel, die wesentliche Struktur ihrer Prosa, die „auch dort, wo sie von Briefen nicht spricht, brieflich gestimmt und gerichtet [ist]. Ihr Duktus ist auch dann, wenn kein Briefszenario geschildert wird, von latenter Korrespondenzhaltung geprägt. Die postalische Modalität von Mayröckers Schreiben ist auch im Verborgenen wirksam, da sich die Bewegung ihrer Texte vor allem aus dem Verfassen und Verschicken von Briefen entwickelt. Zuletzt, so könnte man behaupten, couvertiert sie im geheimen alles, was sie schreibt und liest. Viele Eigentümlichkeiten ihrer Prosarede erklären sich aus dieser Abkunft.“34
Der permanente Wechsel der Rede, wie er durch den Austausch von Briefen ermöglicht wird, steht in seiner dialogischen Struktur dem autobiographischen Schreibgestus entgegen. Während beim autobiographischen Erzählen ein Subjekt seine eine subjektive 33
34
Mayröcker hat in einem Interview auch selbst auf die in ihrer Prosa herrschende „Briefromanstimmung“ aufmerksam gemacht. Vgl. dazu Stauffer, Robert: „Gespräch mit F. Mayröcker über Die Abschiede“. In: Schmidt: Friederike Mayröcker, S. 202. Vogel, Juliane: „Nachtpost. Das Flüstern der Briefstimmen in der Prosa Friederike Mayröckers“. In: Kastberger, Klaus / Schmidt-Dengler, Wendelin (Hg.): In Böen wechselt mein Sinn. Zu Friederike Mayröckers Literatur. Wien 1996, S. 70 f. Die folgenden Überlegungen verdanken diesem Aufsatz wesentliche Anregungen.
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Wahrheit ausspricht, konstituiert sich der Briefroman durch seine Mehrstimmigkeit. In einem kurzen Rückgang auf seine zentralen Eigenschaften soll auch für den Briefroman gezeigt werden, auf welche Weise die Texte mit dieser Gattung in Verbindung stehen. In engem Zusammenhang mit der lebhaften Briefkultur der Zeit erlebte der Briefroman seine Ausprägung und Blütezeit im Aufklärungs- und Empfindsamkeitsdiskurs des 18. Jahrhunderts.35 Nachdem er in der Romantik noch einmal ins Zentrum des literarischen Interesses gerät, nimmt seine große Popularität in der Folge immer mehr ab, bis er gegen Ende des 19. Jahrhunderts schließlich nur noch eine marginale Rolle spielt.36 Als Abfolge bzw. Wechsel von fingierten Briefen eines oder mehrerer Korrespondenten komponiert und oftmals mit einer fiktiven Herausgebernotiz versehen, werden häufig Briefe zu einem Handlungsverlauf zusammengesetzt. Der Briefroman ist damit nach Vosskamp eine „epischdialogische Mischform“37: „Die immanente Spannung dieser literarischen Form ist [...] evident: der Ich-Struktur des Einzelbriefs in der Selbstanalyse und -aussage des Individuums steht die übergeordnete Struktur der Romankomposition in ihrer überindividuellen Bestimmtheit gegenüber. Das Spannungsmoment ergibt sich aus der notwendigen epischen Gesamtkomposition und ihrer im jeweiligen Einzelbrief zugleich poetologisch konstitutiven Relativierung.“38
Der einzelne Brief reflektiert den Augenblick, aus dem heraus er geschrieben ist. Sein Ziel ist es, die wechselhaften Gefühlszustände und Befindlichkeiten zu erschließen, „das ad hoc in seiner seelischen Ausfaltung“.39 Ein weiteres wesentliches Merkmal des Briefes ist seine starke Bezogenheit auf einen Adressaten. Der Brief ist in besonderem Maße im Hinblick auf einen bestimmten Empfänger konzipiert, welcher unmittelbar die Reflexion des Beschriebenen 35
36 37
38 39
Zum Brief als privilegiertem Medium einer neuen bürgerlichen Kommunikation, als dessen zentrale Merkmale Privatheit, Intimität und Authentizität beschworen wurden, vgl. auch Wegmann, Nikolaus: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, S. 73-80. Vgl. Nikisch, Reinhard M. G.: Brief. Stuttgart 1991, S. 186-190. Vosskamp, Wilhelm: „Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert“. In: DVjs 45 (1971), S. 89. Ebd. Vogel: Das Flüstern der Briefstimmen, S. 76.
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beeinflusst.40 Er kehrt damit die Figur des Adressaten heraus, die für jeden Text bestimmend ist, oftmals aber vernachlässigt wird: „Ist nicht die ganze Idee des Kommunizierens, der An-Schreiben oder An-Reden immer auch mit der Figur des Adressaten verbunden, auf den eine Sendung zugeschnitten ist, ohne den sie also auch gar nicht erst auf den Weg gebracht, freigemacht und abgeschickt worden wäre? [...] Sprechen setzt Handlung voraus. Es setzt etwas voraus und beansprucht gleichzeitig, nachvollzogen zu werden. Indem ich schreibe, adressiere ich bereits.“41
Dem Brief eignet, wie auch schon der Autobiographie, eine besondere Art der Fiktionalität, die ihn zwischen Alltagskommunikation und Literarizität changieren lässt. Einerseits haben Briefe immer Mitteilungscharakter, sprechen eine ganz bestimmte empirische Person an und handeln häufig von Dingen des alltäglichen Lebens, andererseits wohnt den Selbst- und Fremdentwürfen in Briefen, die oftmals im Hinblick auf ihre spätere Veröffentlichung geschrieben werden, eine besondere Tendenz zur Stilisierung und Ästhetisierung inne.42 Die dritte wesentliche Eigenschaft des Briefes ist eine große Offenheit und Regellosigkeit. Dadurch rückte er vor allem im Zuge der frühromantischen Suche nach neuen Ausdrucksformen ins Zentrum des literarischen Interesses. Als „freye Nachahmung des guten Gesprächs“43 ermöglichte er eine natürliche und unsystematische Schreibweise, „das Reden apropos, de[n] Überfluß beiläufiger Assoziationen, die Sprunghaftigkeit, die Inkonsequenz in Form und Thema“44, die sich über jede Form von Regelpoetik hinwegsetzen konnte. 40
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43
44
Wie wichtig die Rolle des Empfängers ist, zeigt sich auch daran, dass in der Antike oft die Tempora so verwandt wurden, dass sie mit dem antizipierten Zeitpunkt des Briefempfangs übereinstimmten. Vgl. Andresen, Carl (Hg.): Lexikon der Alten Welt. Zürich 1965, S. 496. Allerkamp, Andrea: „‚Qui écrit? À qui?‘ Vom Kartenlesen und Adressieren. Derrida an Kafka“. In: „Qui parle dans le Texte?“, Cahiers d´Etudes Germaniques 38, 1, 2000, S. 81. Auf die besondere Rolle des Briefs bei der Entstehung einer spezifischen ästhetischen Subjektivität in der Romantik hat Karl Heinz Bohrer hingewiesen. Vgl. Bohrer: Der romantische Brief, S. 45 ff. Gellert, Christian Fürchtegott: Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Leipzig 1751. Zitiert nach Ebrecht, Angelika (Hg.): Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays. Stuttgart 1990, S. 61. Mattenklott, Gert / Schlaffer, Hannelore / Schlaffer, Heinz (Hg.): Deutsche Briefe 1750-1950. Frankfurt am Main 1988, S. 12.
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Im Gegensatz zur Autobiographie, bei der eine Person im Rückblick ihr Leben aus einer übergeordneten Perspektive erzählt, erlaubt der Briefroman in seiner Aneinanderreihung einzelner Briefe, die Innensicht verschiedener Personen ohne Parteinahme gegenüberzustellen. Abgesehen von den oftmals an den Anfang gestellten Herausgeberfiktionen gibt es im Briefroman keine ordnende Erzählerperspektive, sondern nur die Abfolge der einzelnen Briefe. Die Figuren konstituieren sich durch eigene Rede und die Beobachtung durch die anderen Figuren. Da die Reflexion über das Geschehen dem Leser überlassen bleibt, habe der Briefroman, so Vosskamp, zur „Aktivierung eines synthetischen Leserbewusstseins“45 beigetragen. Er argumentiert, dass im Briefroman die Passivität einer bloß rezipierenden Lektüre durch die Herausforderung einer reagierenden Anteilnahme von Brief zu Brief stets aufs Neue stimuliert werde. Der Einzelbrief, obwohl nicht an den Leser, sondern den Briefpartner adressiert, wirke auch auf den Leser als Aufforderung zur Reflexion über das Geschriebene und zwinge ihn zum Nachdenken über eine mögliche Antwort. Der Leser werde dem Zwang alternativer Sichtweisen ausgesetzt und müsse sich abwechselnd in den Briefschreiber wie auch in den Adressaten versetzen. Die vorherrschende rhetorische Figur des Briefromans ist damit die Apostrophe. Die Apostrophe (griechisch: apostréphein = sich von jemandem oder etwas abwenden) bezeichnet eine Figur, bei der sich der Redner von seinen eigentlichen Zuhörern ab- und stattdessen einem anderen, überraschend gewählten Publikum zuwendet. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um einen einzelnen Zuhörer oder um eine Gruppe handelt, ob die Angeredeten anwesend oder abwesend sind; es können auch erfundene Personen oder personifizierte Gegenstände angesprochen werden.46 Ursprünglich meist im Gerichtssaal angewendet, zielt die Apostrophe durch den Kunstgriff des Beiseite-Redens darauf ab, die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu erhöhen. Durch die Unterbrechung, das Innehalten und die Adressierung der Rede, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt zu sein scheint, an eine einzelne Person oder einen kleinen Kreis erzielt die Apostrophe genau jene Aufmerksamkeit, die sie abzuwenden vorgibt. 45 46
Vosskamp: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen, S. 109. Vgl. Ueding, Gerd (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen 1992, Band 1, S. 830 f.
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Der Briefroman verwendet die Apostrophe, um die besondere Aufmerksamkeit des Lesers zu erzielen. Indem die Figuren sich nicht an den Leser, sondern an ihre vertrauten Briefpartner wenden, wird die Neugier des Lesers geweckt, der eine Art ‚Schlüssellochperspektive‘ einnimmt. Mayröckers Texte nehmen dieses Spiel mit der Apostrophe auf und führen es weiter, indem die Adressaten in schneller Folge wechseln. Dabei verwischen nicht nur die Grenzen zwischen Briefempfänger und Leser als den beiden Adressaten des Geschriebenen, auch die Grenzen zwischen Sender (schreibendes Ich), Briefempfänger und Leser lösen sich auf. Indem in Das Herzzerreißende der Dinge sowohl der Briefpartner als auch der Leser abwechselnd mit ‚Du‘ angesprochen werden, wird der Leser noch stärker als im traditionellen Briefroman in den Briefwechsel hineingezogen. Mit dem ‚Du‘ können abwechselnd der Leser, der Briefpartner oder beide gemeint sein. Bei Fragen wie „oder wie kommst du zurecht damit?“ (RdN 42) oder „wie steckst du deine Extreme ab?“ (HdD 21) ist es nicht möglich, herauszufinden, ob Leser, Gesprächs- oder Briefpartner angesprochen ist. Auch die Grenzen zwischen Sender und Empfänger verwischen. Während der Briefroman in seiner klassischen Ausprägung durch seine klare Abgrenzung und Gegenüberstellung verschiedener Individuen zur Ausbildung von Individualitäts- und Subjektivitätskonzepten wesentlich beigetragen hat, nutzt Mayröcker die in ihm angelegten Möglichkeiten der Polyperspektivierung gerade umgekehrt zur Problematisierung und Auflösung klar abgrenzbarer Formen von Subjektivität. Die respondierende Aneinanderreihung in sich geschlossener Briefe, die im traditionellen Briefroman durch die Abfolgen der Anreden und Lebewohls, Datumsangaben und visuelle Absetzung klar voneinander abgegrenzt sind, wird bei Mayröcker bis zur völligen Unkenntlichkeit aufgekündigt. An einer exemplarischen Passage soll gezeigt werden, wie die herkömmlichen Schemata zwar nicht verschwinden, doch in Bewegung geraten und die überlieferten Konventionen des Briefromans aufgelöst werden. Die Grenzen zwischen Gedanken und Briefen, zwischen Adressaten und Empfängern verflüssigen sich in Mayröckers Texten bis in die Syntax hinein: „ich versuche mir vorzustellen, meinen Blick auf mein Gegenüber zu richten, ich tupfe die Blutstropfen auf den Seiten des Buches mit einem Taschentuch auf, ein Mammutunterfangen Ihr neues Buch,
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schreibt Wilhelm, ganz betäubt mich die Vorstellung, es solle, wie Sie mir schrieben, mehrere hundert Seiten lang werden, Fänge des Raubvogels um sich hoch in die Lüfte etc., nämlich in nachtschwankende Zeilenlandschaft zu heben, das ist ja alles, schreibe ich an Wilhelm zurück, affektiv, die kniefälligsten Sachen wegen der Karriere, ein Kauderwelsch in meinem Kopf“ (HZN 8, Unterstreichungen J.W.).
Mitten im Satz des schreibenden Ich, das mit der Anspielung auf Blutstropfen im Buch suggeriert, dass es sein Leben für sein Buchprojekt aufs Spiel setzt, erhebt sich mit einem Mal die Briefstimme Wilhelms, der das „Mammutunterfangen“ des schreibenden Ich kommentiert. Gleitend verwandeln sich die beschreibenden Sätze des Ich in Briefsätze Wilhelms, die dann wiederum atemlos in Briefsätze des schreibenden Ich übergehen. Die Aussagen wechseln mitten im Satz ihre Zugehörigkeit, ohne dass eindeutig bestimmt werden kann, wo genau sie von einer Person zur anderen überwechseln. Die genaue Grenze zwischen Überlegungen des schreibenden Ich, den Briefen Wilhelms und den Briefen des Ich lässt sich nicht ermitteln, da die Zugehörigkeit der mittleren Satzteile in syntaktischer Schwebe belassen wird. Der im Briefroman klar gegliederte Dialog zwischen Empfänger und Adressat ist nicht wiederzuerkennen. Wenn schreibendes Ich und Briefempfänger nicht eindeutig zu unterscheiden sind und gleichzeitig die Grenzen zwischen Textempfänger und Briefempfänger verwischen, dann geraten die geordneten Bahnen der Kommunikation ins Wanken und werden traditionelle Auffassungen von Kommunikation im Rahmen von linearen Sender-Empfänger-Modellen vehement in Frage gestellt. Die für den Brief zentrale Frage nach seiner Adresse kehrt hier auf der Ebene des Textes wieder. Die Bedeutung der Adresse für einen Text ist ebenfalls ein zentrales Thema Derridas: Seine Carte Postale beginnt mit der Frage „Qui écrit? À qui? Et pour envoyer, destiner, expédier quoi? À quelle adrèsse?“47 und thematisiert die Kommunikationswege eines Textes, die Bedeutung der Adresse für das Schreiben und ihre allgemeine Rolle innerhalb der Kommunikation. Friederike Mayröcker hat in einem Interview erklärt, dass sie beim Schreiben von Reise durch die Nacht wesentlich von
47
Derrida, Jacques: La Carte Postale de Socrate à Freud et au-delà. Paris 1980, S. 9.
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Derridas Carte Postale beeinflusst worden sei.48 Die von Derrida aufgeworfenen Fragen werden in ihren Texten anhand der Briefe verhandelt, deren verschlungene Kommunikationswege in Szene gesetzt werden: „die gestapelten Briefe zum Beispiel im Vorraum die ich nachts schrieb, sind nicht mehr die meinen, haben den Empfänger aber noch nicht erreicht, befinden sich in einem Zwischenbereich, so der letzte Blick durchs heruntergelassene Abteilfenster des Zuges, nicht mehr und noch nicht, unzeitliche ABSCHNEIDUNG“ (RdN 128). „unsere Briefe haben sich gekreuzt, einander zugeblinkt und dabei je mehr von ihren Absendern gewußt als wir, die wir sie schrieben, um das Mehr nämlich was an Zeit vergangen war, seit wir sie schrieben“ (HdD 112).
Das immerwährende Schreiben von Briefen und die sich ständig kreuzenden Postsendungen zeigen Kommunikation als nicht mehr einzugrenzenden, in alle Richtungen sich entfaltenden Prozess. Auch wenn viele Seiten auf das Hin und Her der Briefe verwendet werden, stellt sich letztlich nicht mehr die Frage, ob, wann und wo diese ankommen, „ob es ihnen überhaupt um den Transfer von Botschaften zu tun ist oder nicht vielmehr um eine endlose postalische Potenzierung alles Geschriebenen.“49 Auch wenn kein Empfänger mehr vorgestellt werden kann – „[i]ch schreibe Briefe, ohne zu wissen an wen, [...] ich schreibe ins Leere, ins Nichts“ (St 113) –, werden weiterhin Briefe verschickt. In den Texten gibt es keinen Ort jenseits von Kommunikation. Das schreibende Ich, das sich dem Leser nur im Vollzug von kommunikativen Akten (schreibend, lesend, sprechend) präsentiert, steht immer in Verbindung mit der ganzen Welt. Dabei verfügt es neben der Sprache über eine Vielzahl von weiteren ‚Kommunikationsmedien‘. Es ist mit seinen Gesprächs- und Briefpartnern „wie durch Ätherwellen verbunden“ (HZN 299), belauscht die Gedanken in der Brust seines Nebenmannes (vgl. HdD 47) und kann sich mit seinem Leser „über Tränen verständigen“ (HZN 305). Die traditionellen Funktionen der beiden Gattungen Autobiographie und Briefroman, die Herstellung und Festigung von Identität und Subjektivität, werden somit kontinuierlich unterlaufen. Indem 48 49
Schmidt, Siegfried J.: „Es schießt zusammen. Gespräch mit Friederike Mayröcker“. In: Ders.: Friederike Mayröcker, S. 270. Vogel: Das Flüstern der Briefstimmen, S. 83.
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das schreibende Ich weder über eine eigene Stimme verfügt, noch darum bemüht ist, Identität im Sinne einer narrativen Lebensgeschichte herzustellen, verweigert es dem Leser eine autobiographische Lesart. Ebenso wenig wird die in den Texten entfaltete Briefrede einem Briefprogramm wie dem des Briefromans gerecht, der durch die abgrenzende Darstellung verschiedener Perspektiven die Ausbildung individueller Sichtweisen und Ausdrucksformen fördert. An die Stelle individueller Subjekte treten ubiquitäre Kommunikationsprozesse, die Vorstellungen von Authentizität oder Individualität entgegenstehen. Doch trotz aller Identitätsdestabilisierung, die durch den vordergründigen Verlust der eigenen Stimme und durch Zitatcollagen erzielt wird, ist die Anwesenheit des schreibenden Ich nicht zu bestreiten. Diese Spannung zwischen den identitäts-instabilen und verselbstständigten Kommunikationsprozessen und der permanenten (geradezu impertinenten) Präsenz des schreibenden Ich bezeichnet eine konstitutive Ambivalenz der Texte.
2.3 Polyperspektivische Textstrukturen Die alles umfassenden, sich bis in die letzten Winkel ausbreitenden Kommunikationsprozesse in den Texten führen zu Überschneidungen zwischen den Figuren und verhindern, dass diese individuelle Sicht- und Redeweisen ausbilden. Im Folgenden soll den zahlreichen Überlagerungen und Dissoziationen auf der Figurenebene weiter nachgegangen werden. Dabei soll gezeigt werden, wie in den Texten der „Eindruck einer Entsubjektivierung der Personen“50 erzielt und mit traditionellen Identitätsvorstellungen gebrochen wird. Die Figuren in den Texten haben einen merkwürdig schwer fassbaren Status. Sie begegnen dem Leser nur als Stimmen, die durch redeeinleitende Verben markiert werden: „sage ich“, „sagt Rosa“, „schreibt Wilhelm“, „ruft mein Ohrenbeichtvater“ et cetera. Da die Dialoge zwischen dem schreibenden Ich und den Figuren nicht in eine Erzählung eingebettet sind, sondern sich wie ein szenischer
50
Kasper, Helga: „Polyphone Aussagestruktur im Werk Friederike Mayröckers“. In: Cahiers d’Études Germaniques. Textlinguistik. An- und Aussichten. H 37, 2, 1999, S. 164.
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Dialog im Präsens vollziehen, konstituieren sich die Figuren vor allem über ihre eigene Rede. Doch ihre Aussagen erweisen sich kaum als persönliche Äußerungen, anhand derer man auf ihre ‚Charaktere‘ oder Eigenheiten schließen könnte. Die verschiedenen Figuren verfügen über kein persönliches Idiom; Formeln wie „ach“, „nicht wahr“, „oh weh“ durchziehen ihre Aussagen gleichermaßen. Ebenso überlagern sich ihre Sprechinhalte: „alle Dinge scheinen in Mißverhältnis geraten zu sein, sagt Rosa, die Unzulänglichkeit des eigenen Körpers, des eigenen Verstandes, des eigenen Bewusstseins, der eigenen Urteilskraft, der eigenen Emotionen, aber auch die mich umgebenden Menschen scheinen sich furchterregend, also in ein Mißverhältnis zu sich selbst und zu mir zu verhalten, das Kichern des kleinen Reiseweckers im Rucksack, sage ich zu Rosa“ (HZN 110, Hervorhebungen J.W.).
Wie schon beim Briefwechsel gezeigt wurde, ist es auch in den mündlichen Dialogen nicht möglich, die Aussagen den verschiedenen Figuren zuzuordnen. Die Grenzen zwischen der Rede Rosas und derjenigen des schreibenden Ich sind nicht eindeutig zu bestimmen. Ihre Ansichten und Wortströme münden ineinander, ohne sich letztlich aufeinander zu beziehen. Nicht das dialektische Spiel von Rede und Gegenrede führt zur Synthese der Übereinstimmung; es ist die innere Angleichung der Figuren aneinander, die sie Differenzen überwinden lässt: „Denn indem wir uns immer weniger imstande fühlen mit unserer Umgebung Beziehungen auszutauschen, ja indem es uns kaum mehr gelingt, die oberflächlichsten Kontakte vollziehen zu können, erleben wir plötzlich also von einer Minute zur andern, etwas wie eine UMKEHR, [...] wollen plötzlich mit jedem Gemeinschaft, wollen uns mit allen verbrüdern, verflechten, gleichmachen, wollen uns überall anlehnen, anschmiegen, einschleusen“ (RdN 98); „Wir unterscheiden uns im großen und ganzen überhaupt nicht voneinander“ (HZN 228).
So wenig es sich um Dialoge handelt, bei denen sich zwei Individuen austauschen, so wenig haben sie Verstehen im Sinne einer hermeneutischen Annäherung zum Ziel. Kommunikation scheint vielmehr völlig unmöglich, wenn schon „die oberflächlichsten Kontakte“ scheitern. Doch gerade aus dieser Situation, aus den mangelnden Möglichkeiten einer geregelten Kommunikation, scheint die Strategie des schreibenden Ich zu erwachsen, sich den Stim-
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men, Worten und Bewegungen seiner Gesprächs- und Briefpartner anzugleichen: „ich werde allen Menschen immer ähnlicher, die ich liebe“ (RdN 54). Dem Leser bleibt nichts anderes übrig, als sich auf die gleitenden Übergänge des Sprachflusses einzulassen und ihm in seinen mäandernden Bewegungen zu folgen. Es hängt von seiner eigenen Perspektive ab, welcher Figur er die jeweilige Aussage zuschreibt. Dabei eröffnet ihm jeder Perspektivenwechsel einen anderen Bedeutungsspielraum, eine andere Sichtweise, die jedoch in diesem Prozess, in dem alles im Fluss ist, zweitrangig ist. Durch die ständige Bewegung der Aussagen und das Fehlen unterschiedlicher Standpunkte entsteht der Eindruck, dass der Schwerpunkt der Texte beim Gesagten und nicht bei den Sprechinstanzen liegt. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn verschiedene Figuren identische Sätze äußern. Wenn Rosa etwa sagt, sie „vergehe vor Armut, Strafe und Sehnsucht“ (HZN 316), dann übernimmt sie damit einen ‚typischen‘ Satz des schreibenden Ich. Diese Verteilung gleicher Aussagen auf mehrere Figuren verhindert eine identifizierende Wahrnehmung der Figuren. Sie erscheinen nicht als unterscheidbare Identitäten, sondern wirken vielmehr wie Sprachflächen, die bestimmte Aussagen für eine Zeit übernehmen und dann weitergeben. Durch diese fluktuierenden Redebewegungen wird, so Helga Kasper, „die Autonomie des Diskurses [unterstrichen], wohingegen die Authentizität der Figuren verloren geht.“51 So wenig sich die Figuren durch ihre Sprechinhalte voneinander abgrenzen lassen, so wenig lassen sie sich äußerlich voneinander unterscheiden, „so dasz es an manchen Stellen schwerfällt zu sagen wo JULIAN AUFHÖRT UND LERCH ANFÄNGT, oder umgekehrt, die beiden Gestalten scheinen manchmal innig miteinander verschmolzen, ihre Abgrenzung unsicher“ (RdN 42). „Sie [Wilhelm und der Ohrenbeichtvater, J.W.] sahen wie Zwillinge aus, nicht mehr zu unterscheiden, jedenfalls austauschbar, ich tauschte also mit Ihnen [sic] beiden die nämlichen Zärtlichkeiten“ (HZN 156).
51
Kasper, Helga: Apologie einer magischen Alltäglichkeit. Eine erzähltheoretische Untersuchung der Prosa von Friederike Mayröcker anhand von ‚mein Herz mein Zimmer mein Name‘. Innsbruck 1999, S. 33.
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Die Figuren – wenn man überhaupt von solchen reden kann – sind Sprechinstanzen, „keine Charaktere im Sinne der Bühne“ (HZN 208). Haupt- und Nebenfiguren entstehen ausschließlich aufgrund der Häufigkeit ihres Vorkommens im Text. Die Überlagerungen von Äußerungen und Körperphänomenen erzeugen den Eindruck einer „fließenden Identität der Sprechinstanzen“.52 Doch die Figuren gehen nicht nur ineinander über, sie haben auch einen ontologisch unsicheren Status. Es ist nicht klar, ob die Dialoge zwischen dem schreibenden Ich und den Figuren überhaupt stattfinden oder nur imaginiert sind: „wurden gewisse Wörter ausgesprochen oder nur imaginiert, sage ich, ich bin sehr unsicher darüber“ (HZN 15). Das schreibende Ich zweifelt immer wieder an seiner Wahrnehmung: „aber vielleicht spielt sich alles nur in meinem Kopf ab, vielleicht ist es so, dasz wir nur noch in der Vorstellung leben“ (RdN 11). Zahlreiche seiner Äußerungen suggerieren, dass es sich bei den in den Texten stattfindenden Gesprächen um „innere Selbstgespräche“53 handelt: „Auf und Nieder, das sind alles nur SCHEINGESPRÄCHE, nicht wahr, kein Erzählfluß, lauter stillzustehen scheinende Geistesspektakel“ (ST 150); „das Denken an LERCH und wie es damals mit uns gewesen ist, aber meine Aufzeichnungen imaginieren nur alles, das ist alles nicht wahr, oder ich habe es nur erfunden“ (RdN 41).
Die Beziehungen zwischen dem schreibenden Ich und den Figuren werden als „Scheinbeziehungen“ (HZN 94), die Figuren selbst als „Versatzstücke“ (HZN 336) bezeichnet, die das schreibende Ich erfindet, um sich – ähnlich wie Beckett in Company – Gesellschaft zu verschaffen. Im Gegensatz zu Becketts Darstellung in Company, bei der die ‚Gesellschaft‘ vor allem durch die eigenen Erinnerungen erzeugt wird, kommen Mayröckers „Halluzinationen der Ohrmuschel“ (HdD 9) nicht ohne fremde Dialogpartner aus. Dass die Figuren auf der Textebene nicht den gleichen Status wie das schreibende Ich haben, sondern als seine Erfindungen von ihm abhängig sind, wird am Ende von mein Herz mein Zimmer mein Name explizit. Dort werden die Figuren aus dem „Lebensbewußtsein“ des schreibenden Ich „entlassen“ (HZN 336), wodurch ihnen ihre „Existenz abgesprochen“ (HZN 335) wird: 52 53
Ebd., S. 31. Schmidt: Fuszstapfen des Kopfes, S. 110.
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„wir haben alle Personen auf unbestimmte Zeit vergessen, sollte ich etwa schreiben, es handele sich nur um eine Art zeitweiser Verflüchtigung (Entrückung) der Personen, um die Gefühle des Lesers zu schonen, etc. aber die Wahrheit ist, wir haben alle Personen im Zeitverlauf, im Erzählverlauf, nach und nach, also in einem fortschreitenden Maße vergessen, sie sind unserem Gedächtnis abhanden gekommen, [...] bewahren sie nur noch als Vorstellungen auf dem Papier, als Landschaften auf einem erfundenen Szenenbild“ (HZN 336).
Am Schluss sitzt das schreibende Ich „in einem Stuhl, allein vor dem Fenster und blickend, hinaus in den glühenden Morgen“ (HZN 337). Ein atemloser Wandel durch einen vielschichtigen Imaginationsraum, eine Reise durch das eigene Bewusstsein und durch die eigene Phantasie scheint beendet. Nicht nur die Reise durch die Nacht lässt sich wie eine Reise in die vielfältigen Innenwelten des schreibenden Ich lesen, auch in den anderen Texten finden sich immer wieder Stellen, die Erkundungen ins Innere der „Hirnschale“ (HdD 141) beschreiben. Wie schon Pessoa und Beckett setzt auch Mayröcker das Bewusstsein als eine Bühne in Szene, auf der verschiedene Figuren auftreten. Auch ihre Texte lassen sich als Erkundungen von inneren Bewusstseinsräumen lesen. Diese werden sowohl in Das Herzzerreißende der Dinge als auch in Reise durch die Nacht als ein großes Haus beschrieben, in dem die verschiedenen Figuren wohnen. Sie begegnen dem schreibenden Ich immer wieder im Treppenhaus: „später in meinem Kopf, er macht ein paar Schritte in meinem Kopf, ich spreche von M.S., später, wenn er die Treppe heraufkommt“ (HdD 138); „als ich in meinem Kopf umherwanderte und den Großvater wiederfand, er salutierte im Stiegenhaus“ (HdD 48); „viele Stiegenhäuser in meinem Kopf, die von Tausenden Personen benützt werden“ (RdN 80).
Obwohl es sich nur um Erfindungen des schreibenden Ich handelt, verfügen die Figuren dennoch über ein gewisses Eigenleben: „Und obwohl ich beispielsweise selbst mein VORSAGER geworden bin, bleibt er mir stets geheimnisvoll“ (RdN 8). Die Figuren werden in dieser Optik zu ‚inneren Bewohnern‘ des schreibenden Ich: „hast du es gemerkt, wie wir nur ein Mensch sind“ (HdD 58). Sie sind einerseits Phantasieprodukte, die vom schreibenden Ich vergessen und entlassen werden können, andererseits werden sie von ihm benötigt, da es ohne ihre Stimmen verzweifeln würde: „manchmal das
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Verlangen [...] an die Präsenz deiner Stimme zu appellieren, sie aufzufordern, sich sofort zu melden, sich vor mir zu entfalten in ihrer Schönheit“ (HdD 72). Um in Kontakt mit den Figuren zu treten, braucht das schreibende Ich nur die Augen zu schließen, schon beginnt es, ihre Geräusche und Stimmen wahrzunehmen: „Ich liege da, jetzt liege ich da, das sanfte Toben in meiner Brust, Vogelschwärme vermutlich. Ich liege da, mit geschlossenen Augen, aber die Geräusche der Auszenwelt dringen weiter zu mir herein [...] ich schliesze die Augen, es ist noch sehr früh, ich höre JULIANS Schritte die Treppe heraufsteigen, zu seinem Zimmer, er hatte drauszen hantiert, sich vermutlich das Frühstück gemacht, sich wieder zur Ruhe begeben, wie jeden Morgen.“ (RdN 17)
Immer wieder gibt das schreibende Ich seinem „Hang zur Introspektion“ (RdN 13) nach und wendet seine Augen nach innen: „Mit den Augen nach innen schauen, den inneren mit dem äußeren Dialog zu verknüpfen suchen, so jagen die Bilder in meinem Kopf, aber ich kann sie nicht festhalten“ (HdD 159). Das schreibende Ich begibt sich mehrfach in seinen eigenen Kopf und blickt von „drinnen“ durch ein winziges „Spähfenster“ (seine Augen) nach draußen. Seine einzigen Verbindungen mit der Außenwelt sind Auge, Mund und Ohr: „draußen die Welt immer draußen, ich immer drinnen, durch mein grünes Ohr und Zungengebüsch, durch mein winziges Spähfenster habe ich alles beobachten können, hier drinnen, rufe ich, finde ich noch ein wenig Halt, sonst Irrung und Finsternis, Seelenanstrengung, die schlimmsten Nervenkatastrophen“ (HdD 109).
Das schreibende Ich verhält sich zu sich selbst wie ein Forscher, der seine Untersuchungen am lebendigen Körper vollzieht: „ich führe meine Vivisektionen an mir selbst fort“ (HdD 119). Es bewegt sich dabei auf einer schmalen Grenze zwischen forcierter Selbstbeobachtung und pathologischem Zustand. Es habe monatelang die Wohnung nicht verlassen, erklärt es in Reise durch die Nacht, und es fürchte sich jetzt davor, „den Kontakt zur Auszenwelt wiederherzustellen“ (RdN 73). Bezeichnenderweise ist diese lange Zeit der Selbstbeobachtung, die in Das Herzzerreißende der Dinge auch eine Reise in die „Finsternisse des Körpers“ (HdD 51) genannt wird, mit dem Verlust der Sprache verbunden: „die Laute überschlugen sich in erschreckender Weise, man hatte Mühe, mich zu verstehen“ (ebd.). Dies führt dazu, dass das Ich von der Außenwelt wie eine „Geisteskranke“ (RdN 74) behandelt wird.
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Die Gefahren der exzessiven Selbsterkundungen, der zahlreichen Reisen in das eigene Ich liegen auf der Hand: „Am Ende wird es so sein, dass ich nicht mehr zwischen Außen und Innen unterscheiden kann, aber bedeutet ein Traum das Gegenteil von Wahrheit?“ (HdD 142). Da die inneren Bewusstseinsräume ebenso wie die äußeren Lebensräume des schreibenden Ich in den Texten als „Wohnung“ bezeichnet werden, ist es oftmals auch für den Leser nicht mehr möglich, zwischen Außenwelt und Innenwelt des Subjekts zu unterscheiden. Woher die Stimmen kommen, bleibt ungewiss: „ein Rumoren von Stimmen, Geräuschen, ich kann nicht erkennen, ob sie von draußen kommen, ob es Stimmen sind, die in meiner Nähe, in meinem Inneren sprechen, in meinem kleinen Kerker, in meinem Gitterbett“ (HZN 60).
Die Texte inszenieren Gespräche, die als ‚innere Dialoge‘ bezeichnet werden können: „Auch das Schwätzen mit sich selbst ist das gleiche geblieben, dieses vertraute Gezwitscher, auch was innerhalb der eigenen Hirnschale abläuft, etcetera, das eigene Seufzen“ (RdN 9).
Im Unterschied zu einem inneren Monolog, bei dem das Gespräch mit sich selbst dargestellt wird, ermöglicht die dialogische Aufteilung in verschiedene Stimmen eine mehrfache Stimmführung, es entsteht ein vielstimmiges ‚Gezwitscher‘. Im inneren Dialog treten eine Vielzahl heterogener Stimmen auf, die nicht vereinheitlicht werden müssen. Die Texte nähern sich mit dieser Darstellung einem Ich-Begriff an, der an das von Kant in der Kritik der reinen Vernunft verworfene „vielfärbig[e], verschieden[e] Selbst“54 denken lässt. Dieses Subjekt würde sich dadurch auszeichnen, dass es selbst so mannigfaltig wäre wie seine bewussten Vorstellungen ohne über die synthetisierende „transzendentale Apperzeption“55 zu verfügen. Da es nicht möglich ist, sich in mehrere Selbste aufzuspalten, ohne darüber seinen Verstand zu verlieren, ist seine Existenz Kant zufolge nicht denkbar. Das schreibende Ich scheint über solche Fähigkeiten zu verfügen: Es verdoppelt sich selbst und winkt sich aus der Wohnung von gegenüber zu (HdD 61). Es schlüpft in die Rollen seiner Gesprächspartner und redet mit sich selbst auch „durch die verschiedensten 54 55
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hg. von Jens Timmermann. Hamburg 1998, S. 180. Ebd.
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(fremden) Kehlen hindurch“ (HZN 290). Es versetzt sich in sein Gegenüber und übernimmt dessen Wahrnehmungen: „wenn ich am Morgen mit Dir telefoniere, habe ich mich in deine Person hineinprojiziert: ich hebe mit deiner Hand ab, höre meine eigene Stimme mit deinem Ohr, sehe mit deinen Augen den Bergkamm vor deinem Fenster vom Mondschein umstrahlt“ (HdD 84).
Die Frage, wer bei all diesen Verdopplungen, Aufspaltungen und Überlagerungen das ‚Ich‘ nun eigentlich ist, kann vielfältig beantwortet werden, und ist, wie das schreibende Ich weiß, letztlich nicht zu klären: „und bin ich nicht vielmehr ein Mann Goya ist zum Beispiel mein Vater, bin ich vielleicht mein Vater mein eigener Vater, mein Vatervergolder, oder meine Mutter, oder bin ich vielleicht mein VORSAGER auch JULIAN genannt und jeder hellen überbordenden Farbe entwöhnt, oder bin ich vielleicht jener rotblonde Schlafwagenschaffner“ (RdN 8).
Das im Text entstehende Ich ist kein transzendentales Ich, sondern ein dialogisches Ich, das sich erst im Miteinander mit anderen Stimmen konstituiert. Es ist ein multiples und variables Ich, das während des Schreibens die inneren Bewusstseinsräume erforscht, die zugleich immer auch äußerliche Räume sind: Sie entstehen durch Kommunikation und sind deshalb mit der ganzen Welt vernetzt. Die auf diese Weise entstehenden Formen ästhetischer Subjektivität konstituieren ein fragiles Ich, dessen Zusammenhalt jeden Moment zerbersten kann: „kaum betrete ich einen Raum, beginnen sich Stücke von mir abzulösen und ins Substanzlose aufzulösen, ich meine ich breite mich in jeden Raum sofort stückchenweise aus“ (HdD 24). Die zahlreichen Auflösungen, Spaltungen, Dissoziationen und Verdopplungen des schreibenden Ich ermöglichen neue Wahrnehmungsformen, wie etwa das simultane Erfassen verschiedener Ereignisse und Erinnerungen: „ich meine ich streune und strome ja nur so herum, mein Kontrollsystem ist voll vibrierender Spannung, ein gutes Dutzend Dinge will ich gleichzeitig tun, ein gutes Dutzend Dinge kann ich gleichzeitig denken erfühlen verstehen, mir ins Gedächtnis rufen“ (RdN 10).
In einem kurzen Text ihrer Magischen Blätter hat Friederike Mayröcker das Ziel ihrer Schreibweise folgendermaßen beschrieben: „eine Literatur der Zersplitterung (als MEDIUM DES MITLEIDS) schreiben, nämlich ein sich in alle Geschöpfe zersplittern, verspren-
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gen, verschütten, verteilen, zerstäuben“ (MB 30). Das schreibende Ich ist im offenen, endlosen Dialog mit anderen, führt dem Leser die Möglichkeiten und Konsequenzen seiner Ich-Auflösungen und Ich-Verdoppelungen vor Augen und zieht ihn zugleich in den Dialog hinein. Indem das schreibende Ich den Leser immer wieder direkt anspricht, muss er sich ebenfalls dialogisch in Bezug auf das schreibende Ich verhalten, ganz im Sinne der „dialogisch ausufernden Bewußtseinsprosa“ (ST 100), bei der eine semantische Pluralität entsteht, die eine Vielzahl von gleichzeitigen Lesarten erlaubt. Es hängt vom Leser ab und bleibt ihm überlassen, welche der Stimmen er wahrnimmt, ob er die verschiedenen Textstellen als Zitate, als Aussagen des schreibenden Ich oder als beides liest.
2.4 Mayröcker: Eine „Nicht-Erzählerin“? „Ich habe Angst vor dem Erzählen, ich bin gegen das Erzählen, immer schon, [...] ich lese nicht gerne, was eine Handlung hat, also schreibe ich auch nicht was eine Handlung hat oder andeuten könnte, ich meine davon platzt mir der Kopf, der herrschende Teil der Seele.“ Friederike Mayröcker
Der Konstruktivist Siegfried J. Schmidt vertritt in seinen Studien zu Friederike Mayröcker die These, die Autorin sei eine „NichtErzählerin“, deren Texte in „fundamentale[r] Differenz zur Erzählliteratur“56 stehen: „Friederike Mayröcker verwirklicht tatsächlich eine nicht-narrative und nicht-mimetische Prosa, und sie führt damit die von J. Joyce, C. Einstein und G. Stein begründete Tradition des Nicht-Erzählens mit eigenen Mitteln weiter.“57
In seiner Studie Fuszstapfen des Kopfes. Friederike Mayröcker aus konstruktivistischer Sicht skizziert Schmidt die Moderne als Krisensyndrom, in deren Folge sich einschneidende Veränderungen der Modelle von „Wirklichkeit“, „Geschichte“, „Zeit“, „Rationalität“, „Gesellschaft“, „Ich“, „Sprache“, „Sexualität“, „Sinn“ und „Wert“ 56 57
Schmidt, Siegfried J.: „Der Fall ins Ungewisse. Anmerkungen zu einer NichtErzählerin“. In: Ders.: Friederike Mayröcker, S. 13. Ebd.
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vollzogen haben.58 Er erklärt, dass avancierte Romanciers auf diese epistemologischen Umwälzungen mit der Multiplikation von Erzählperspektiven, Schauplätzen und Figuren, mit der Ineinanderschachtelung von Zeiten und Räumen, mit Montage- und Collagetechniken reagiert hätten, ihre Texte aber dennoch weiterhin „narrativ im Sinne von welt-repräsentierend (mimetisch) oder ‚welthaltig‘“59 geblieben seien. Die Krisen des Wirklichkeitsverständnisses, der Identität und des Erzählens blieben „beschriebene und erzählte Krisen“60. Narrative Erzählverfahren blieben, so Schmidt, auch wenn sie teilweise aufgebrochen werden, realistischen Erkenntnistheorien verhaftet: „Traditionelles Erzählen mit Plot und Story setzt einen erkenntnistheoretischen Rahmen voraus, der zumindest sechs Annahmen enthält: die Annahme der Realität der ‚äußeren Wirklichkeit‘; die Annahme, dass Sprache diese Wirklichkeit referentiell abbildet; die Annahme der Linearität von Zeit, der Kontinuität von Geschichte, der Kausalität von Handlungsfolgen sowie der Identität von Aktanten.“61
Anti-narrative Konzepte hingegen würden die epistemologischen Grundlagen des Realismus radikal in Frage stellen und stattdessen der Epistemologie des Konstruktivismus entsprechen. Sie zeigten, dass „Sinn, Wert und Identität keine Gegebenheiten, sondern evolutions- und sozialisationsgeschichtlich bedingte Konstrukte sind, die – wie die Wirklichkeit der Weltmodelle – abhängen von unseren Theorien, Sprachen, Interessen“62. Die Einsicht in die Konstruktivität jeglicher Sinnerzeugung zeichne auch Mayröckers Texte aus: „Mayröckers Texte dementieren die Fiktion, es gebe für uns eine Wirklichkeit unabhängig von unserer kognitiv-emotionalen Konstruktionsarbeit; sie demonstrieren die Subjektdependenz jeder Sinnkonstruktion; sie dokumentieren, dass jede Spracharbeit, die nicht im geläufigen Konstruktionsmodus der Darstellung vollzogen wird, immer Bestandteil einer Biographie ist, die sich [sic] im unablässigen inneren Gespräch, im Self-Talk, Identität auszubalancieren versucht.“63 58
59 60 61 62 63
Vgl. hierzu vor allem die Kapitel „Moderne als Krisensyndrom“, „Avantgarde als kanonisierte Moderne“ und „Das Erzählproblem im Modernekontext“. In: Schmidt: Fuszstapfen des Kopfes, S. 56-67. Schmidt: „Der Fall ins Ungewisse“. In: Ders.: Friederike Mayröcker, S. 17. Ebd. Ebd., S. 16 f. Ebd., S. 15. Ebd., S. 19.
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Weil sie dem elaboriertesten Stand konstruktivistischer Erkenntnis-, Wissenschafts- und Identitätstheorien entsprächen, erforderten die Texte Mayröckers eine ebenfalls konstruktivistische Poetik als Analyseinstrumentarium. Schmidts kategorial anmutende Trennung zwischen Mayröcker als anti-narrativer Autorin und ‚avancierten‘ (aber eben nicht antinarrativen) Autoren erweist sich als höchst problematisch. Richtig ist, dass die Autorin die von Schmidt genannten ‚traditionellen‘ Erzählweisen und ihre Merkmale der Kohärenz, Linearität, Kausalität, Identität der Aktanten weitgehend außer Kraft setzt. Doch auch wenn sie in ihrer Ablehnung traditioneller Erzählformen radikalere Wege als viele andere Autoren einschlägt, kann man höchstens einen graduellen, doch keinen substantiellen Unterschied zwischen traditionellen, avancierten und ‚anti-narrativen‘ Texten machen, wie ihn Schmidts Rede von einer „fundamentalen Differenz“ zwischen Mayröckers Texten und der Erzählliteratur und seine Zuordnung anti-narrativer Texte zu einer konstruktivistischen Epistemologie suggerieren. Die Grenzen zwischen einem ‚traditionell‘ und einem ‚avanciert‘ erzählenden Text sind ebenso fließend wie die zwischen einem ‚avanciert‘ erzählenden und einem ‚anti-narrativen‘. Auch Schmidts Einschätzung, Mayröckers Texte seien nicht „welthaltig“64, ist irreführend. Die Autorin selbst betont, seit Die Abschiede (1980) bemüht zu sein, immer mehr Erfahrungswirklichkeit in ihre Texte mit hineinzunehmen, da sie das rein experimentelle Spiel mit Sprache nach einer gewissen Zeit gelangweilt habe: „Ich glaube, dass ich in der experimentellen Phase eben nichts ausdrücken wollte, sondern dass da einfach die große Lust am Manipulieren mit Sprache war. Das war eine übermäßige Verliebtheit in die Sprache, mit der ich dann eben in diesem Liebesspiel verschiedenes angestellt habe. [...] Seit den Abschieden habe ich versucht, immer mehr hereinzunehmen. Ich habe jedenfalls die Sache bewusst erweitert und Erfahrungsdinge, Erinnerungsstränge und dergleichen mit hineingenommen. Ich wollte nicht mehr nur mit der Sprache manipulieren. Wie weit ich in meiner neuen Prosa imstande bin, sie weiter zu öffnen und noch weitere Dinge hereinzubringen weiß ich nicht, aber ich habe einfach das Bedürfnis, sie möglichst weit zu öffnen, damit das übliche Nachzeichnen von Gedanken in Erzählungen ad absurdum geführt wird.“65 64 65
Ebd., S. 17. Schmidt: „Es schießt zusammen. Gespräch mit Friederike Mayröcker“. In: Ders.: Friederike Mayröcker, S. 273.
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Die in der Folge der Abschiede entstandenen Texte sind keine gänzlich autonomen Sprachkunstwerke ohne Gegenstandsbezug, sondern beziehen sich auf die ‚Wirklichkeit‘ und lassen durchaus die Konstruktion von inhaltlichen Feldern zu. Doch wie gelingt es den Texten, trotz ihrer weitgehenden Ablehnung narrativer Muster eine kohärente Struktur auszubilden? Auch bei der Suspendierung des Narrativen lässt sich die Frage nicht ausblenden, wie die prozessuale Abfolge des Textes – sein Verlauf – genau zustande kommt. Die Texte reizen zwar die Grenzen von Narrativität aus, erproben aber zugleich auch neue Anordnungslogiken, die den Entgrenzungsverfahren neue ‚Haltepunkte‘ entgegenstellen. Im Folgenden möchte ich die Selbstreflexivität der Texte und ihren Rhythmus als explizit ordnungsstiftende Verfahren vorstellen. Diese beiden Verfahrensweisen erlauben es, so meine These, den Texten eine andere Organisationsform einzuschreiben.
3. Ordnungsstiftende Textverfahren 3.1 Selbstreflexivität Ein wesentliches, bisher noch nicht einlässlich untersuchtes Charakteristikum von Mayröckers Prosatexten ist, dass sie sehr klare poetologische Selbstreflexionen und analytische Hinweise zum Schreibverfahren enthalten, die mit ‚dunklen‘, anti-narrativen Sequenzen kombiniert werden, Sequenzen, die Dieter Sperl in einem Interview mit Mayröcker als „referenzlose Bilder“ bezeichnet hat.66 Dadurch wirken die Texte gleichzeitig transparent und unzugänglich. Ähnlich wie Edgar Allan Poes Erzählung The Purloined Letter, in der ein Brief an einer so offensichtlichen Stelle versteckt ist, dass ihn keiner sieht, werden auch die Konstruktionsverfahren in Mayröckers Texten so deutlich offengelegt, dass sie sich schon wieder zu entziehen scheinen. So wird auch die doppelte Struktur der Texte in mein Herz mein Zimmer mein Name selbst benannt: „im Grunde trachte ich nach einem diskursiven Stil, mit gelegentlichen (halluzinatorischen) Einbrüchen, auch muß ich zugeben, daß 66
Sperl, Dieter: „Ich will natürlich immer schreiben“. In: Melzer, Gerhard / Schwar, Stefan (Hg.): Friederike Mayröcker. Graz 1999, S. 18.
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ich jene Stellen in meinen Büchern am liebsten wiederlese, welche in einem diskursiven Stil abgefaßt sind, wie süß sind jene verständlichen Worte, andere anders!, andererseits jubelt mein Herz auch über die gelegentlichen zerbrochenen Stellen, die aussetzenden, sich selbst unterbrechenden, sich selbst ins Wort fallenden, diskontinuierlichen Stellen, in welchen die Fesseln einer überkommenen Sprachlogik, wenngleich nur für kurze Momente, gesprengt werden“ (HZN 17).
Einerseits treibt Friederike Mayröcker in ihren Texten Sprach- und Bewusstseinsentgrenzungen so weit als möglich, andererseits bindet sie diese durch ihre Selbstreflexion immer wieder in einen nachvollziehbaren Diskurs ein. Die „zerbrochenen, [...] diskontinuierlichen Stellen“ zielen darauf ab, wenigstens für Momente „die Fesseln einer überkommenen Sprachlogik“ zu sprengen, um, wie das schreibende Ich an anderer Stelle erklärt, „die Sperren auf[zu]heben, die sich in meinem Gehirn festgesetzt haben“ (HdD 7). Das schreibende Ich geht nicht davon aus, dass die Ordnung der Welt unmittelbar wahrnehmbar ist und diese Wahrnehmungen dann in sprachliche Aussagen, in Beschreibungen und Mitteilungen transformiert werden können, sondern dass umgekehrt die Ordnung der Sprache, ihre Grammatik die Wirklichkeit vorgibt. Indem es die Ordnung der Sprache zeitweilig aussetzt, zielt es darauf ab, alternative Formen von Wahrnehmung zu erproben: „an meinem Schreibtisch, an meinem Guckfenster, mühe ich mich nach etwas auszuspähen, um dem Bedeutungszwang der Sprache entkommen zu können!“ (HdD 29). Mayröcker hat in einem Interview das Anliegen ihres Schreibens als eine „erbarmungslose Annäherung an die Wirklichkeit“67 bezeichnet. Auch habe sie „vor allem Wahrnehmungsvorstellungen, die sich in Sprache verwandeln müssen.“68 Im Gegensatz zur poststrukturalistischen Theoriebildung, die in der Folge des linguistic turn die Existenz von vorsprachlichen Bewusstseinsphänomenen negiert, versucht das Ich schreibend an die Grenze zwischen sprachlicher und vorsprachlicher Wahrnehmung vorzudringen: „etwas zu suchen, zu finden, nicht wissend was, etwas wie einer Spur folgen, die kaum auszumachen ist, etwas wie einer akustischen Spur, manchmal denke ich schon, ich bin schon ganz nah, ich bin schon ganz nahe dran, aber nein ich muß weiter, das wonach ich su-
67 68
Schmidt: Fuszstapfen des Kopfes, S. 137. Ebd., S. 142.
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che, ist nicht erreicht, ist nicht gefunden, erfunden, ich muß weiter, weiter hindurch durch das WORTGESTRÜPP“ (HZN 63).
Indem die Sprache so weit wie möglich aufgebrochen wird, soll ein Zugang zu den von Mayröcker als „Wahrnehmungsvorstellungen“ bezeichneten Zuständen erreicht werden: „ich werfe mit Wörtern um mich [...] Wildwuchs der Sprache, als hätte ich auf irgendwelche Wörter vergessen, als seien mir Sprachpartikel abhanden gekommen wohin eigentlich?“ (HdD 87). Ziel ist es, dem „nach wie vor unklaren Zusammenhang von Sprache – Ich – Bewusstsein auf die Spur zu kommen“69. Die Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens liegen auf der Hand: „Trauer und Anarchie der Sprache. Der Kampf den du kämpfst, sagt Stella, um immer neue Ausdrucksformen zu finden, ist erbarmungslos“ (HdD 101). Die diskontinuierlichen Textstellen, die vom Leser die Bereitschaft erfordern, sich zeitweilig auf eine „völlige Aufhebung der Textverfügbarkeit“ (ST 40) einzulassen, werden durch die Selbstreflexivität der Texte immer wieder aufgefangen. Fehlten die zahlreichen poetologischen Erklärungen des schreibenden Ich, so wäre die Lesbarkeit der Texte kaum mehr gewährleistet. Sie helfen dem Leser, die ordnungsauflösenden, diskontinuierlichen Textmomente zu reflektieren und in seinen Erfahrungshorizont zu integrieren. Auf diese Weise gewähren die Texte beides: sowohl anti-narrative, entgrenzte Leseerfahrungen als auch deren Kommunikation und Reflexion. Es entsteht ein „ganz eigener narrativer Stil, den ich durch Jahre, Jahrzehnte in sorgfältigster: in entfesselster Weise beobachtet, also gezüchtet, verfeinert, vergröbert, verfeinert, gepflegt habe, dieser mein ganz eigener Stil, in dem sich das Narrative in Schweigen hüllt“ (HZN 66).
Doch die Selbstreflexion des Schreibens ermöglicht nicht nur die Anbindung der anti-narrativen Stellen, sie erlaubt dem Leser vielmehr darüber hinaus eine „Grundstruktur des Textes“70 auszumachen: Indem alle Momente vom schreibenden Ich reflektiert und kommentiert werden, gibt es den Texten einen inneren Zusammen-
69
70
Berger, Albert: „Von der Moderne zur Postmoderne. Das ‚Sprachproblem‘ in der österreichischen Literatur“. In: Ders. / Moser, Gerda Elisabeth (Hg.): Jenseits des Diskurses. Sprache und Literatur in der Postmoderne. Wien 1994, S. 226. Mayer, Mathias: „Friederike Mayröckers Die Abschiede: eine Arabeske als Form der Selbstreflexion“. In: Schmidt: Friederike Mayröcker, S. 176.
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halt.71 Bei allen diskontinuierlichen Erfahrungen und deren Beschreibung ist die poetologische Selbstreflexion das einzig kontinuierliche Moment. Sie gewährleistet, dass die diskontinuierlichen Erfahrungen trotz ihrer Verschiedenheit immer noch als Erfahrungen des schreibenden Ich wahrgenommen werden und dass dieses sich bei allen Selbst-Entgrenzungen nicht vollständig auflöst. Indem der Vorgang des Schreibens durchgehend reflektiert wird, wird dem Leser obendrein der Prozess der Herstellung des Textes vor Augen gehalten. Die poetologische Reflexion und die Darstellungsebene der Texte drängen aufeinander zu: „jeder Handgriff wird von dem Versuch, ihn in eine sprachliche Form zu bringen, begleitet, das beschäftigt mich aber so anhaltend: ich notiere ununterbrochen“ (HZN 124). Die zahlreichen poetologischen Äußerungen zum Textverfahren sind nicht nur Thema der Texte, sie realisieren sich gleichzeitig auch im Text selbst. Die Texte führen im gleichen Moment aus, wovon sie sprechen. So erklärt das schreibende Ich zum Beispiel, man müsse „sich ja dauernd widersprechen, was man gestern geschrieben hat, muss man heute in Frage stellen, nur keine festen Positionen“ (HZN 225), um diese Erklärung gleich darauf auch umzusetzen: „es fliegt mir ja alles zu, nein ich quäle mich mit jedem Wort, mit jedem Satz ab, aber ich bin in einem Himmel, wenn ich schreiben kann, aber ich rühre mich nicht von der Stelle, aber ich habe die ganze Vision, gleichzeitig kann ich es nicht sehen, wie ich die Arbeit fortführen könnte“ (ebd.).
Die Texte beschreiben ihre eigene Erzeugung und führen sie auch gleichzeitig aus. Dadurch wird, in den Worten von SchmidtDengler, die „Trennung zweier Diskurse, des poetischen, wie des analytischen [...] aufgehoben. Die poetische Praxis hat die poetische Theorie aufgesogen“.72
71
72
Vgl. Schmidt-Dengler, Wendelin: „Die Reflexion auf das Schreiben bestimmt den ganzen Text. Der Schreibvorgang ist offensichtlich das, was dem Buch Kohärenz gibt.“ In: Ders.: „,ich lebe ich schreibe‘: Friederike Mayröckers mein Herz mein Zimmer mein Name“. In: The German Quarterly 63, 1990, S. 422. Schmidt-Dengler: Bruchlinien, S. 509.
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3.2 Wiederholung und Rhythmus Neben der Selbstreflexion geben die zahlreichen Wiederholungen und der Rhythmus den Texten einen inneren Zusammenhalt. Ein Netz von Repetitionen durchzieht die Texte. Satzteile, Zitate oder auch ganze Passagen werden immer wieder leicht abgewandelt und kehren in unterschiedliche Kontexte eingebettet wieder. „Hogarth ist wie geboren, den Igel sah ich dreimal über die Straße laufen“ (HZN 12 und passim) oder „ich vergehe vor Armut, Strafe, Sehnsucht“ (HZN 33 und passim) sind Sequenzen, die zum Beispiel in mein Herz mein Zimmer mein Name an mehreren Stellen auftauchen. Es ergibt keinen Sinn, die Kontexte ihres Auftretens zusammenzustellen, um daraus ihre Bedeutung zu erschließen, da ihre Zusammenstellung zufällig erfolgt: „dass bestimmte Sequenzen sich häufen, sich wiederholen, sage ich zu meinem Ohrenbeichtvater, liegt daran, dass bestimmte Merkzettelchen [...] im Laufe der Zeit unter dem Wust anderer Blätter begraben werden also verschwinden, lispelnd, im Linksdrall, auf meinem Schreibtisch“ (HZN 166).
Doch auch ohne dass sie sich dem Leser erschließen, bewirken diese wiederkehrenden Sequenzen, dass im Umgang mit dem Text schon nach kurzer Zeit ein Gefühl der Vertrautheit entsteht. Sie wirken wie „Merkpunkte“73, die dem Leser im dissoziierten Textgefüge als ‚bekannte‘ Elemente begegnen. In ihrer wiederkehrenden Struktur erinnern sie an musikalische Leitmotive. Wie diese werden die verschiedenen Sequenzen vorgeführt, wieder aufgenommen, leicht variiert und durchziehen so den Text. Die Sequenzen erscheinen als Textabschnitte miteinander verknüpft und heben sich vom übrigen Textfluss ab: „ich [...] wiederhole meine Sätze, mache sie sichtbarer so, stärker, gestärkter“ (ST 19). Auf diese Weise binden sie über den Text verteilte Elemente zusammen und geben ihnen eine zyklische Struktur. Die variierenden Wiederholungen wirken ebenso wie das gleichmäßige Hin und Her der Rede, das wiederkehrende „sage ich“, „sagt Rosa“, rhythmisierend. In Kombination mit der eigenwilligen Interpunktion der Autorin und ihrem ausschweifenden Nominalstil entfalten die Texte einen eigenen Rhythmus, der den Leser schon nach kurzer Zeit einen Mayröckertext (wieder-)erkennen lässt. In 73
Schmidt: Fuszstapfen des Kopfes, S. 89.
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mein Herz mein Zimmer mein Name kommt der Rhythmus besonders deutlich zum Ausdruck. Ohne Absatz und Punkt, nur durch Kommata getrennt, strömen die Gedanken des schreibenden Ich: „also ich werde manipuliert von meinen außerordentlich heftigen Vorstellungen, wiedererweckten Wünschen, wiedererweckten Gefühlen, Beseeligungen, [...] nämlich Erschütterungen, Katarakte, denen niemand und nichts Einhalt zu bieten imstande ist, denen ich selbst am wenigsten Einhalt bieten kann, also Gefühlsüberschreitungen, Gefühlsübertretungen, Gefühlszerreißungen, usw, [...] nun reißt es mich abermals hin und hinweg, von meiner Schreibarbeit hin und hinweg“ (HZN 170).
Die „heftigen Vorstellungen“, „wiedererweckten Wünsche“, „Erschütterungen“, „Katarakte“ des schreibenden Ich ergießen sich über den Leser und tragen diesen „wie in einem unendlichen Strom eines Musikstücks fort“.74 Durch das ständige Fortdrängen des Satzes entsteht der Eindruck einer permanenten Atemlosigkeit – eine der häufigsten Wendungen des schreibenden Ich in Reise durch die Nacht lautet „und ist schon wieder vorüber“ (RdN 55 und passim). Die Texte markieren ihre eigenen Beschleunigungen – „so rase ich in einem schwindelerregenden Tempo vorüber: an meinem Schreibtisch sitzend“ (HZN 212) – ebenso wie sie langsamere und ruhige Stellen wie bei Musikstücken durch musikalische Tempi und Vortragsbezeichnungen auszeichnen: „lieber Leser, das Akzelerieren der letzten Seiten geht hier in ein Lento über oder möchte vortäuschen in ein Lento übergegangen zu sein“ (L 108). Alle Rhythmen werden dem Leser entweder im Text selbst vorgegeben, „gleicherweise staccato/legato“ (HZN 40), oder, wie die Autorin in einem Interview erklärt, durch graphische Notationen suggeriert: „Kursivschreibungen sind für mich nach wie vor sehr wichtig, weil ich damit etwas akustisch hervorheben will. Ich stell mir immer vor, dass das, was ich kursiv schreibe, irgendwie geschrieen wird. Ich denke oft beim Schreiben daran, dass ich auch selber vorlese, und dann ist es unumgänglich für mich, auch wirklich nicht außer acht zu lassen, dass ich diese Kursivierungen mache.“75
74
75
Hell, Bodo: „Chaos gesteigerter Labilität: Friederike Mayröckers zweite große Prosaarbeit“. In: Die Furche Nr. 5, 4.2.1977. Zitiert nach Riess-Beger: Lebensstudien, S. 196. Schmidt: „Es schießt zusammen. Gespräch mit Friederike Mayröcker“. In: Ders.: Friederike Mayröcker, S. 281.
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Obwohl die Rhythmik der Texte bei jedem Lesen offenbar wird, fällt es schwer, sie präzise zu fassen. Der Rhythmus der Texte folgt keinem strengen Formprinzip. Nicht als künstliches Ordnungssystem, sondern als organische, strömende Bewegung durchdringt er die Texte und realisiert damit Rhythmus im Sinne der griechischen Bedeutung von „rhythmós“, das sich von dem Verb „rhein“ für „fließen, strömen“ herleitet und mit den Wellenbewegungen des Meeres in Verbindung gebracht wird.76 Dieser organische Rhythmus ist Émile Benveniste zufolge „die Form im Augenblick ihrer Verkörperung durch Veränderliches, Bewegliches, Fließendes – die Form all jener Stoffe, die keine organische Konsistenz haben: sie entspricht dem pattern eines instabilen Elements“.77 Geht man davon aus, dass es sich in den Texten Mayröckers um einen solchen organischen, fließenden Rhythmus in seiner ursprünglichen Bedeutung handelt, so liegt es in seiner Natur, dass er kaum zu fassen ist. Die komplexen, ihr Tempo wechselnden Rhythmen der Texte sind vergleichbar mit moderner atonaler Musik, deren Strukturen für das gemeine Ohr aufgelöst scheinen und sich nur dem Kenner erschließen. Wie lässt er sich anders als durch Demonstration – durch Vorlesen zum Beispiel – beschreiben? Hans Ulrich Gumbrecht diagnostiziert in seinem Aufsatz „Rhythmus und Sinn“ allgemeine „Beschreibungs-Schwierigkeiten der Literaturwissenschaft mit dem Phänomen ‚Rhythmus‘“.78 Er führt sie auf die in der westlichen Kultur bevorzugte Auseinandersetzung mit Fragen der Repräsentation (des ‚Sinns‘, der ‚Semantik‘) zurück. Dies habe dazu geführt, dass dem Rhythmus als einem Phänomen „ohne primäre Repräsentations-Dimension“79 von der Literaturwissenschaft nur wenig Beachtung geschenkt wurde.80 Gumbrecht spricht sich gegen Versuche der Literaturwissenschaft aus, dem Rhythmus „eine Repräsentationsfunktion“81 einzuschreiben. Rhythmus dürfe nicht als ein Verfahren beschrieben werden, über das einem Text 76 77 78 79 80
81
Vgl. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin 1999, Eintrag „Rhythmus“, S. 685. Benveniste, Émile: „La notion de ‚rhythme‘ dans son expression linguistique“. In: Ders.: Problèmes de linguistique générale. Paris 1966, S. 333. Gumbrecht, Hans Ulrich: „Rhythmus und Sinn“. In: Ders. / Pfeiffer, Ludwig K. (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt am Main 1988, S. 716. Ebd., S. 715. Eine Ausnahme bilden unter anderem die Untersuchungen von Henri Meschonnic. Vgl. u. a. Ders.: Critique du rythme. Anthropologie historique du langage. Paris 1982. Gumbrecht: Rhythmus und Sinn, S. 715.
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von konstitutiver semantischer Inkohärenz ‚auf Umwegen‘ doch noch zu semantischer Prägnanz verholfen werden soll. Vielmehr, so Gumbrecht, bestehe eine „konstitutive Spannung zwischen den Phänomenen des Rhythmus und der Dimension des Sinns“.82 Gumbrecht schreibt dem Rhythmus eine gedächtnisstützende, eine koordinierende und eine affektive Funktion zu, die auch für Mayröckers Texte geltend gemacht werden können. Auf die gedächtnisstützende Funktion der Wiederholungen in den Texten wurde schon hingewiesen. Die Rekurrenz bestimmter Textsequenzen führt dazu, dass man sie sich nach einer bestimmten Zeit einprägt und sie erwartet: „Als Phänomen, das sich letztlich nur in der Zeitlichkeit manifestieren kann, evoziert Rhythmus zugleich Akte der Erinnerung – im Vergleich zu schon gehörten/gelesenen Sequenzen – und Akte der Antizipation – in der vorgreifenden Erwartung an eine Struktur des Rhythmus“.83
Andere Momente wirken, indem sie den Rhythmus unterbrechen, störend. Das schreibende Ich setzt solche Dissonanzen bewusst ein: „nun ja das Arhythmische ist nötig: es ist ein Lockmittel, wirkt wie ein Lockmittel, ein Magnet, die Raserei, den Rausch anzubinden“ (HZN 40). Unter der koordinierenden Funktion versteht Gumbrecht die Möglichkeit, über den Gebrauch rhythmischer Sprache die Bewegungen von verschiedenen Individuen zu koordinieren. Die Wahrnehmung von Sprecher (lautproduzierend) und Hörer (lautrezipierend) werden über die gleichen Lautfolgen aneinander gebunden. Indem sie in ihren körperlichen Empfindungen auf die gleichen Geräusche bezogen sind, wird ihre Wahrnehmung in gemeinsame Bahnen gelenkt. In seiner fortschreitenden Dynamik erzeugt der Rhythmus seine eigene Struktur und einen spezifischen ‚Spannungsbogen‘, in den sich der Leser einfinden muss. Der Text mein Herz mein Zimmer mein Name entfaltet einen besonders starken rhythmischen Sog. Der Leser muss seine Spannung, die sich in einem einzigen ununterbrochenen Satz aufbaut und bis zum letzten Satzzeichen keine Entladung erfährt, auf sich nehmen und sich in den fortströmenden Rhythmus des Textes hineinbegeben. Eine Unterbrechung, eine Lösung der Spannung käme einem Zusammenbruch 82 83
Ebd. Riess-Beger: Lebensstudien, S. 195.
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des Textgefüges gleich. Der Leser findet höchstens Halt in der Bewegung selbst, im Einfinden in den Rhythmus. Der Zugang zu den Texten wird ihm nur gewährt, wenn er sich auf die strömenden Bewegungen des schreibenden Ich einlässt und seinem Rhythmus folgt. Indem sich schreibendes Ich und Hörer im gleichen Rhythmus bewegen, werden ihre Empfindungen einander angeglichen. Sie werden in ihren Bewegungen koordiniert: „Sprecher und Hörer werden sozusagen ‚zu einem Subjekt‘“.84 Die affektive Wirkung des Rhythmus entsteht nach Gumbrecht durch die unmittelbare Übereinstimmung von Signal und Reaktion, von Körperbewegung und semantischer Operation. Im Rhythmus werden, so Gumbrecht, Lautwahrnehmung, Körperwahrnehmung und semantische Operation aneinander gekoppelt. Sprecher und Hörer nehmen die Sequenzen in erster Linie über ihren Körper kinästhetisch wahr und können ihre Bedeutung kaum von der körperlichen Empfindung trennen: „‚Affektivität‘ wird definierbar als die Unfähigkeit/Unmöglichkeit, die Konstitution semantischer Formen vom Empfinden des eigenen Körpers abzusetzen.“85 Die suggestive oder affektive Wirkung der Texte Mayröckers, die in der Sekundärliteratur immer wieder betont wurde86, lässt sich damit zum Teil auf die Rhythmizität der Texte zurückführen. Die Aufgabe der Sprache ist es weniger, etwas zu erzählen, sie soll vielmehr einen „Rausch“ (HZN 40) erzeugen, in dem sich der Leser „ergehen“ (ebd.) soll. Der Rhythmus bindet den Leser über andere Prozesse als die des intelligiblen Verstehens an den Text. Es handelt sich um einen „evokativen statt um einen referentiell-narrativen Sprachgebrauch“87. Die Wirkung der Texte auf den Leser erweist sich auch hinsichtlich der ordnungsstiftenden Verfahren als zweifach ausgerichtet: Auf der einen Seite verlangen die Texte durch ihre Selbstreflexivität vom Leser immer wieder einen hohen Grad an Bewusstheit und Reflexion. Andererseits fordern sie seine (affektive) Bereitschaft, sich auf ihre Bewegungen einzulassen, den eigenen Zugriff zurückzustellen und ihrem Rhythmus zu folgen. Sie erfordern vom Leser, sich auf neue Anordnungslogiken einzulassen und diesen im wahrsten Sinne des Wortes „Gehör“ zu schenken – selbst wenn das 84 85 86 87
Gumbrecht: Rhythmus und Sinn, S. 722. Ebd. Vgl. Riess-Beger: Lebensstudien, S. 195. Schmidt: Fuszstapfen, S. 87.
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Gehörte vom Leser/Hörer zunächst kaum einzuordnen ist und sich ihm erst im Laufe der Zeit wieder erkennbare Muster erschließen. Auf die bisherigen Überlegungen aufbauend, soll auch bei Mayröcker zum Abschluss die Frage nach dem Subjekt des Textes und seiner Identität noch einmal vertieft werden. Wie lässt sich das schreibende Ich positiv charakterisieren? Wie gelingt es ihm, trotz all seiner Auflösungen, Widersprüche und Verdopplungen für den Leser eine erkennbare Identität auszubilden, und wie ließe sich diese Identität fassen?
4. Auswirkungen auf die Subjektkonstitution Mayröcker, so meine These, schreibt in ihren Texten nicht nur gegen traditionelle Identitätskonzepte an, sie entwickelt zugleich ein alternatives Konzept. Um diese These zu erläutern, werde ich zunächst auf wesentliche Merkmale traditioneller Identitätsvorstellungen rekurrieren und zeigen, inwiefern diese vom schreibenden Ich außer Kraft gesetzt werden. Anschließend versuche ich, die sich abzeichnende neue Identitätsform des schreibenden Ich positiv zu fassen. Dafür werde ich mich auf den amerikanischen Sozialpsychologen Edward Sampson beziehen, der im Anschluss an Derrida versucht hat, auch für die Sozialwissenschaften und die Psychologie ein alternatives Identitätsverständnis zu etablieren. Durch die auf mehreren Ebenen gleichzeitig stattfindenden Sprachentgrenzungen und Formüberschreitungen ist die Lesbarkeit der Texte mitunter sehr gefährdet, eine Entwicklung, die Samuel in Stilleben folgendermaßen charakterisiert: „Was ich allerdings jetzt schon meine, ist, sagt Samuel, daß du einen POINT OF NO RETURN erreicht hast, einen, den du nicht wieder erreichen wirst und einen, den du in dieser Richtung nicht wirst überschreiten können. Ich meine die völlige Aufhebung der Textverfügbarkeit. Der bisher begrenzte Fluß des Erzählens wird zum offenen Meer, eine Anekdote in diesem Text wirkt wie eine Sprach- oder Sprecherfindung, einer anderen Welt zugehörig, als derjenigen, die wir mit den Menschen auf der Straße teilen“ (ST 40 f).
Mit der „Textverfügbarkeit“ ist zugleich auch die Identität des schreibenden Ich in Frage gestellt, das in den Texten mehrfach als an einer Wegscheide stehend charakterisiert wird. Geht es bei seinen Selbstauflösungsexperimenten noch einen Schritt weiter, so ris-
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kiert das Ich nicht nur seine kommunikative Anschlussfähigkeit zu verlieren, es läuft auch Gefahr, „im offenen Meer“ des Textes selbst nicht mehr wahrnehmbar zu sein. Das schreibende Ich widersetzt sich jeglichen traditionellen Identitätsvorstellungen, die (in unterschiedlicher Gewichtung) zur Bestimmung von Identität die wesentlichen Merkmale Unterscheidbarkeit, Kohärenz und Kontinuität anführten.88 In Anlehnung an die formal-logische Definition A = A, die besagt, dass Identität etwas unter allen Umständen gleichbleibendes ist, wurde in traditionellen philosophischen und sozialpsychologischen Identitätskonzepten mit der Identität einer Person die Vorstellung der klaren Abgrenzung und Unterscheidbarkeit von anderen Personen verbunden.89 Der deutsch-amerikanische Psychologe und Psychoanalytiker Erik Erikson, dessen Arbeiten zum Begriff der Identität in der Psychologie des 20. Jahrhunderts bahnbrechend waren, verstand unter der Herstellung von Identität die Fähigkeit des Individuums, in seinem Leben über die verschiedenen Lebensphasen hinweg „innere Einheitlichkeit und Kontinuität [...] aufrechtzuerhalten“.90 Von einer gelungenen Identitätsbildung kann man aus der Perspektive Eriksons dann sprechen, wenn es einer Person gelingt, erkennbare Eigenschaften und Charakterzüge im Lauf der Zeit und sich verändernder Umstände gegenüber der Umwelt zu bewahren – eine Sichtweise, die in ihren Grundzügen von zahlreichen Sozialwissenschaftlern übernommen wurde. Der amerikanische Soziologe Erving Goffman beispielsweise bestimmt in seinen rollentheoretischen Überlegungen Ich-Identität als Gefühl eines inneren „Sich-Selbst-Gleichseins“, als „das subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart, das ein Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirbt.“91
88 89
90 91
Vgl. Leary, Mark / Tangney, June Price (Hg.): Handbook of self and identity. New York 2003, S. 15 ff. Zur Kritik dieser Ansätze in der Philosophie vgl. Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, (Artikel A=A), Leipzig 1923, S. 1-2. Zur Geschichte von klassischen sozialpsychologischen Bestimmungen vgl. auch Oyserman, Daphna: „Self-concept and Identity“. In: Brewer, Marilynn / Hewstone, Miles (Hg.): Self and Social Identity (Perspectives on Social Psychology). Oxford 2004, S. 5-25. Erikson, Erik: Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Frankfurt am Main 1966, S. 107. Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt am Main 1975, S. 132.
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Das schreibende Ich in Friederike Mayröckers Texten unterläuft diese klassischen Identitätsvorstellungen. Zum einen zielt es darauf ab, seine Unterscheidbarkeit von anderen zu unterbinden, indem es sich immer wieder an seine Umwelt assimiliert: „ich glich mich an alles, an alle an, eine schamlose Ähnlichmachung und Ähnlichwerdung [...] ich glich mich an, um nicht aufzufallen [...] ich paszte die Kleider meiner Umgebung an, verglasztes Waldstück und SCHNEEHEMD dasz ich auf eine Sichtweise von fünf Metern kaum mehr erkennbar war“ (RdN 26 f.).
Immer wieder verfällt es „jenem Körperwahn des sich Anschmiegens Anschmeichelns an ein fremdes Gebilde“ (HZN 9) und versucht, die physischen Grenzen zwischen sich und anderen Menschen und Dingen zu verwischen. Dadurch werden philosophische Identitätsbestimmungen formal-logischer Provenienz, die vor allem auf Unterscheidbarkeit setzen, konterkariert. Zudem bildet das Ich weder die Erfahrung von innerer Einheit (Kohärenz) noch die einer zeitlichen Kontinuität aus, die besonders von den psychologischen und sozialwissenschaftlichen Theorien stark gemacht wurden. Es befindet sich in permanenter Verwandlung: „ich ströme fort, [...] nämlich wie meine Existenz sich von einer Stunde zur andern verändert bis zur Unkenntlichkeit“ (HdD 135). Von Sekunde zu Sekunde wechseln die inneren Befindlichkeiten: Eben noch in einem „Lachschwall“, ist das schreibende Ich schon im nächsten Moment „plötzlich ganz aus der Stimmung“ geraten: „etwas in mir ist wieder einmal plötzlich umgekippt, umgesprungen, auf die andere Seite“ (HZN 192). Indem es sich weigert, sein Leben als einen Zusammenhang zu betrachten, verhindert es, die diskontinuierlichen Erfahrungen in eine innere Kontinuität zu überführen. Sein Ziel ist es vielmehr, „Meister der Erinnerungslosigkeit“ (RdN 129) zu werden, nur noch von Augenblick zu Augenblick zu leben und damit „jenen endgültigsten aller endgültigen Zustände [zu erreichen], den endgültigsten Grad unseres endgültigsten Verfallens“ (ebd.). Das schreibende Ich erlebt folglich seine diversen Gefühlszustände und die vielfältigen möglichen Sichtweisen als einen permanenten Taumel: „in meiner Geisteswelt scheint es aber lauter Stand- und Gegenstandpunkte zu geben, ich meine ich nehme einen gewissen Standpunkt ein und gleich darauf fühle ich mich veranlaßt, einen gegensätzlichen Standpunkt einzunehmen, so schwanke ich pausenlos zwischen Oben und Unten, Ferne und Nähe, Fülle und Rand“ (RdN 67).
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Es weiß nicht mehr, woran es sich halten soll: „manchmal erscheinen mir die nämlichen Dinge richtig und falsch, einmal richtig und gleich danach falsch, was soll man da noch glauben“ (HdD 152). Diese Vielfalt wird mitunter unerträglich: „ich habe keine eigenen Überzeugungen, ich lasse immer die verschiedensten, die gegensätzlichsten Meinungen zu, nämlich in meinem Kopf, [...] die zahllosen Stimmen, sage ich, mit ihren zahllosen widersprüchlichen Überzeugungen und Meinungen, haben sich in meinem Kopf zusammengerottet und richten mich zugrunde“ (HZN 53).
Die äußerliche Angleichung an die Umwelt, die diskontinuierlichen Zustände und die Simultaneität von Sichtweisen, die keine Einheitlichkeit mehr zulassen, führen das schreibende Ich immer wieder an die Grenze seiner Auflösung: „ist es eine Entfleischung frage ich mich, Selbstauflösung vielleicht, eine Geisteszerreißprobe, oder was“ (L 100); „ich weiß oft nicht, wo mein Ende, wo mein Anfang ist, auf meine Frage, was danach komme, schwieg er [M.S.] zuerst, dann sagte er zögernd, es bedeute die totale Vernichtung unseres Selbst, es gebe keine Erhaltung der eigenen Identität, die Illusion von der Erhaltung der eigenen Identität werde spätestens in dieser Stunde entlarvt, es gehe nicht mehr weiter, es bleibe nichts zurück“ (HdD 138).
Dem schreibenden Ich, das seine zeitlichen und räumlichen Grenzen nicht mehr klar erkennen kann, wird von einem der zahlreichen Gesprächspartner, genannt M.S., die Auflösung der eigenen Identität prophezeit, die in seinen Augen allerdings eine Illusion ist, die entlarvt werden müsse. Das schreibende Ich beschreibt die Grenze zur Ich-Auflösung hingegen als eine „Wegscheide [...] wo alles aufbricht“ (HdD 139). Es entwickelt die Vision, ein neuer Mensch zu werden: „Alles in Aufbruch und Aufruhr : ich meine in solchen Zeiten hat die Mikrostruktur ihr Recht, ihren Sinn verloren. Ich breche schon auf, ich reiße schon aus, ich laufe schon über, ich mache mich schon bereit abzuspringen, oder wie sonst die Umschreibungen alle heißen mögen ich weiß es nicht, die Lage ist außergewöhnlich. Ich bin so wach, ich bin so überwach, es hüpft mich über die Erde, ich bin in Verwandlung begriffen, ich habe mich umgestülpt, mit Ärmeln und Armen und Flügeln : ein neuer Mensch, darüber sollte sich keiner wundern. Aber wichtig ist nur, glücklich zu sein und Leben im Überfluß zu erschaffen, also nicht allein für sich selbst sondern für jeden beliebigen, der gerade vorüberflitzt.“ (HdD 164)
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Das schreibende Ich sieht sich selbst in einer „außergewöhnlichen Situation“, die es nur schwer beschreiben kann: „ich reiße schon aus“, „laufe schon über“, „bin in Verwandlung begriffen“, „es hüpft mich über die Erde“, lauten seine Umschreibungen für diesen Zustand, kurz davor „ein neuer Mensch“ zu werden. Sowohl aktive als auch passive Beschreibungen kennzeichnen seine Verwandlung („ich mache mich bereit“, aber: „es hüpft mich über die Erde“). Mitunter teilen die Gesprächspartner die Vision des „neuen Menschen“: „DA KÜNDIGT SICH ETWAS NEUES AN BEI DIR; undsofort. Ein pausenloser Phönix nicht wahr, ich mußte augenblicklich an Phoenix denken, deine Stadt, also ein Netz von Beziehungen und Übertragungen – bist Du mein Kartograph?“ (HdD 137)
Das schreibende Ich wird (hier von Rosa) als ein „pausenloser Phönix“ bezeichnet, ein sich permanent selbst neu erschaffendes Wesen. Phönix, der sich in der griechischen Mythologie selbst verbrannte und immer wieder aus der Asche aufstieg, wird als Figur der (Selbst-)Erneuerung aufgerufen. Das schreibende Ich denkt dabei jedoch an die Stadt Phoenix in Amerika, womit möglicherweise die Art seiner Verwandlung angezeigt ist: die Fähigkeit, permanent ein „Netz von Beziehungen und Übertragungen“ herzustellen bzw. zuzulassen und dadurch eine andere Bewusstseinsform zu erreichen. Das schreibende Ich – der neue Mensch – ist sich seiner selbst niemals sicher: „ich kann mich nirgendwo wiederfinden, die Spuren von dem was ich war, sind nicht mehr zu finden, ich laufe im Kreis, ich laufe mir selber nach“ (HZN 68). Es ist ein strömendes Ich (vgl. HdD 135), dessen ‚innerer Kern‘ an keinem Punkt festgemacht werden kann. Dennoch, trotz all seiner Wandlungen, Auflösungen, Verdopplungen und Widersprüche ist es im Text durchgängig präsent. Es ist als schreibendes Ich stets anwesend. Mayröckers schreibendes Ich weist Ähnlichkeiten zu Edward Sampsons Konzept von Identität als eines Textes auf. Sampson brandmarkt das in der Psychologie noch immer vorherrschende Verständnis von Identität im Sinne einer Entität als überholt. Sein Ziel ist es, eine neue Theorie der Person zu entwerfen, die den epistemologischen und auch den sozialen Veränderungen der ausgehenden Moderne gerecht wird.92 In Anlehnung an Derridas Kon92
Vgl. u. a. Sampson, Edward: „A Critical Constructionist View of Psychology and Personhood“. In: Stamm, Henderikus / Gergen, Kenneth (Hg.): The Analysis of Psychological Theory. Metapsychological Perspectives. Washington 1987,
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zept der différance als Prozess der ständigen (aktiven und passiven) Verschiebung und Verweisung von Signifikanten spricht Sampson auch dem Subjekt seine Ursprünglichkeit ab. Auch das Subjekt, so Sampson, ist vollständig in die Verweisungszusammenhänge der Zeichen eingelassen. Es ist nur als ein unabgeschlossener, vieldimensionaler und relationaler Prozess eines permanenten Entstehens und nicht als feste integrierte Ganzheit denkbar. Bewusstsein entstehe immer erst im textuellen Prozess, d.h. im Dialog mit und in Bezug auf andere: „What precedes consciousness, including the consciousness of self as subject, as cogito, is thereby a process that constitutes that presence, mediates it and sets the subject in its place.[...] In other words, persons are not at the centre, fully aware and self-present masters, but have been decentred by the relations to the symbolic order, governed by the endless process of différance“93.
Sampson plädiert für einen prozessualen Subjektbegriff, dem es gelingt, die Vielfältigkeit und Offenheit der Person zu denken, ohne sie auf einen wie auch immer gearteten inneren Kern zurückzuführen: „The alternative, more Derridian, view would give us a subject who is multi-dimensional and without centre or hierarchical integration.“94 Identität sollte verstanden werden als der Vollzug dessen, was ständig neu verhandelt wird. In ihrem Vollzug bleibe eine Vielzahl variabler, oft widersprüchlicher Diskurse sichtbar, die gewissermaßen als Spur in den Körper eingelagert werden. In dieser Perspektive wird das Subjekt zu einem ‚Text‘, dessen Bedeutung sich ständig verschiebt und an keiner Stelle eindeutig fixiert werden kann, da die Vorstellung unendlicher Verweisungszusammenhänge keine eindeutige Bestimmung und Festschreibung zulässt. In Sampsons Sichtweise sind Subjekte bestimmt durch das, was sie sind und durch das, was sie nicht sind. Dadurch werde die Vorstellung von Subjekten als abgegrenzten, autonomen Einheiten hinfällig. Subjekte, so Sampson, sind immer schon in unauflöslicher Weise miteinander verwoben: „The Derridian subject can never be set apart from the multiple others who are its very essence“95.
93 94 95
S. 41-59; Ders.: „The Challenge of Social Change for Psychology, I: Globalization and Psychology’s Theory of the Person“. In: American Psychologist 44, 1989, S. 914-921; Ders.: „The Deconstruction of the Self“. In: Shotter, John / Gergen, Kenneth (Hg.): Texts of Identity. London 1989, S. 1-19. Sampson: The Deconstruction of the Self, S. 14. Ebd., S. 15. Ebd., S. 16.
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Sampsons Definitionen lassen sich für das schreibende Ich geltend machen: Dieses kann, wie gezeigt wurde, nicht als eine selbstgewisse, einheitliche Person erfasst werden, es ist, wenn überhaupt, nur in seinen Text-Bewegungen zu greifen. Das schreibende Ich ist ein dialogisches Ich, das ohne die Diskurse und Redeweisen, mit denen es sich umgibt, in denen und mit deren Hilfe es sich beständig neu entwirft, nicht existent wäre. Für das schreibende Ich Mayröckers ist die Sprache das wesentliche Medium der Subjektkonstitution: „auch wenn Du nicht sprichst, bist Du ein Sprachbündel“ (HdD 21). Das schreibende Ich weiß, dass seine Sprache immer eine „gestohlene Sprache“ (HdD 122) ist, die es von anderen übernommen hat. Doch anstatt zu versuchen, seine Individualität entgegen dieser Einsicht zu behaupten, versucht es, sich noch stärker mit dem sprachlichen Netz zu verbinden, in das es eingefügt ist. Es lehnt sich an andere Texte und Personen an, übernimmt deren Sicht- und Redeweisen und verleibt sie sich bewusst ein. Indem es unablässig kommuniziert, demonstriert es seine unauflösliche Verwobenheit mit Sprache. Eigene Aussagen sind auch die Aussagen anderer und umgekehrt: „überhaupt erscheint es mir, ich sei nur zusammengesetzt aus Einzelteilchen aller Menschengehirne, mit welchen ich je in Berührung gekommen bin“ (HdD 114). Diesen Zusammenhängen fühlt sich das schreibende Ich auch dann noch zugehörig, wenn es sich völlig aus der Welt zurückziehen möchte: „ach manchmal möchte ich mich ganz abschließen, ganz verschließen, [...] manchmal gelingt es dann, ganz bei sich zu sein, wenige Stunden, die hörbare Stille, o welche Fülle welche Erfüllung, sagt mein Ohrenbeichtvater, etwas wie eine Empfindung von Ungläubigkeit mischt sich darein, dass solche Augenblicke noch möglich sind, [...] ich bin dann ganz bei mir, glaube aber gleichzeitig ganz bei den Menschen zu sein, also mit allen Menschen verbunden“ (HZN 292).
Das schreibende Ich wird nicht als ein individuelles Subjekt sichtbar, sondern zeigt sich als immer schon in das Netz der Sprache und der verschiedenen Diskurse eingelassen. Es lässt sich als eine vernetzte Identität beschreiben, die sich als Ergebnis performativer Akte inmitten von kontingenten Diskursen und Sprachzusammenhängen präsentiert. Dem schreibenden Ich der Texte Mayröckers gelingt es, „MIT SICH SELBST OHNE FESSELN ZU SPIELEN“ (HdD 38) und damit ein Selbst-Verhältnis zu finden, das von den gängigen ‚Regeln‘ der Subjektentstehung befreit ist.
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Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass der spielerische Umgang mit sich selbst ein hartes Stück Arbeit ist. Das schreibende Ich bewegt sich immer wieder an der Grenze zur Ich-Auflösung. Es wendet enorme Kräfte auf, um sich selbst schreibend zu transformieren. Der Begriff ‚Spiel‘ darf nicht in seiner harmlosen Bedeutung als ‚Spielerei‘ verstanden werden, sondern stellt das Ziel einer mühseligen Arbeit der Selbsttransformation dar, die aus einer permanenten Differenzierung und Überprüfung der eigenen Position erwächst. In Anlehnung an Almut Finck könnte man Friederike Mayröckers Schreiben als ein „autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie“96 deuten. Dessen Ziel ist es nach Finck, den „kruden Repräsentationalismus zu verwinden“97. Der von Heidegger übernommene Begriff ‚Verwindung‘ bezeichnet dreierlei: Zum einen bedeutet er, etwas zu akzeptieren bzw. sich mit etwas abzufinden. Zum anderen meint er das Verschmerzen und die Genesung von den erfahrenen Schmerzen. Schließlich impliziert er eine Verzerrung oder Verdrehung, die nicht ohne enorme Anstrengung zu einer Wendung in eine andere Richtung führt. Alle drei Momente finden sich in Mayröckers Texten: Sie akzeptiert die verlorenen Subjektgarantien, beginnt sie dadurch zu verschmerzen und versucht, durch das eigene Schreibverfahren, bei dem sie heterogene Elemente zufällig kombiniert, eine andere Sichtweise – eine Wendung – in der Debatte um das Subjekt zu ermöglichen. Das im Schreiben entstehende ästhetische Subjekt versucht, seine fehlende Selbstgewissheit in eine „Lust am Taumel“ (HZN 191) zwischen den Diskursen umzumünzen. Diese Lust am Taumel fordern die Texte auch vom Leser. Sie berichten ihm nicht nur von den Verunsicherungen, Widersprüchen und Ambivalenzen des schreibenden Ich, sondern sie lassen ihn diese in der unsicheren, widersprüchlichen und ambivalenten Leseerfahrung selbst erleben. Dieser alternativen Form von Identität, das scheinen die Texte sagen zu wollen, sollte man sich nicht verschließen. Denn das schreibende Ich kann von sich mit Überzeugung sagen: „Nämlich ich habe das Glück, ein ganz schwacher Mensch zu sein“ (ST 39).
96 97
Finck, Almut: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie. Berlin 1999. Ebd., S. 15.
Zusammenfassung und Ausblick
Der Begriff und die Theorie des Subjekts standen im 20. Jahrhundert im Zentrum zahlreicher philosophischer, psychologischer und soziologischer Diskussionen. Nachdem das Subjekt Ende der sechziger Jahre von der poststrukturalistischen Philosophie für tot erklärt (u. a. Foucault, Barthes) und in der Folge von ‚moderateren‘ Philosophen nur halbherzig wiederbelebt wurde (u. a. Habermas, Frank), scheint es inzwischen ein friedliches Dasein in den ihm überlassenen Nischen zu führen. Es hat sich als genauso zählebig wie ungreifbar erwiesen und macht es Theoretikern weiterhin schwer, es positiv einzuholen.1 In einem Interview mit Jean-Luc Nancy hat Derrida die Möglichkeit eines neuen Diskurses über das Subjekt erwogen, der sich vom identitätslogischen ‚Ballast‘ zu befreien vermöge: „I am thinking of those today who would try to reconstruct a discourse on the subject that would not be pre-deconstructive, around a subject that would no longer include the figure of mastery of self, of adequation to self, center and origin of the world, etc. […] but which would define the subject rather as the finite experience of non-identity to self, as the underivable interpellation inasmuch as it comes from the other, from the trace of the other.“2
Dieser neue Diskurs würde sich dadurch auszeichnen, dass er zwar die Kritik des metaphysischen Subjektbegriffs in sich aufnimmt, aber nicht zu seiner ersatzlosen Streichung führt. Ausgehend von der These, dass Literatur ein ausgezeichnetes Medium für die Erforschung von neuen Selbstverhältnissen ist, wurden in dieser Arbeit imaginative Neubeschreibungen des Subjekts an den Beispielen von Pessoa, Beckett und Mayröcker analysiert. Dabei hat sich gezeigt, dass in den Werken der Autor/innen – obwohl sie sehr unterschiedliche Strategien verfolgen und sich an 1
2
Vgl. hierzu beispielsweise Critchley, Simon / Dews, Peter (Hg.): Deconstructive subjectivities. Albany 1996, Balibar, Etienne: „Subjection and subjectivation“. In: Copjec, Joan (Hg.): Supposing the Subject. London 1994, S. 1-15 und Cadava, Eduardo / Connor, Peter / Nancy, Jean-Luc (Hg.): Who Comes After the Subject? New York 1991. Derrida, Jacques: „‚Eating well‘ or the Calculation of the Subject“. In: Cadava et al.: Who Comes After the Subject?, S. 102 f.
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unterschiedlichen Fragestellungen abarbeiten – Vorstellungen von Ich-Auflösungen, Ich-Vervielfältigungen und Ich-Dezentrierungen evoziert werden, ohne dass dabei die Kategorien Subjekt und Subjektivität je ganz aufgegeben würden. Die Rede vom Tod des Subjekts lässt sich in den Texten nur aufrechterhalten, wenn man nach einem singulären Subjekt sucht und die Augen vor seinem vielgestaltigen Fortleben verschließt. Um die Prozesse zu beschreiben, die zu den verschiedenartigen Formen multipler Subjektivität in den Texten führen, könnte man zusammenfassend die Begriffe Ich-Vervielfältigung (Pessoa), IchAufspaltung (Beckett) und Ich-Aufsplitterung (Mayröcker) verwenden: Während Pessoa versucht, verschiedene Sprecher- oder Autorpositionen zu besetzen und damit den Weg einer nach außen gerichteten Ich-Vervielfältigung wählt, bei der andere Formen von Subjektivität simuliert werden, stehen in den Texten von Beckett und Mayröcker immer die inneren Bewusstseinsprozesse des schreibenden Ich im Mittelpunkt. Beckett lenkt seinen Blick von Anfang an nach innen und beobachtet und analysiert Bewusstseinsprozesse. Dies führt zu inneren Ich-Aufspaltungen. Bei Mayröcker hingegen kommt es zu einer entgrenzenden Ich-Aufsplitterung, bei der die Grenzen des Subjekts in alle Richtungen zerstäuben. Pessoa erreicht die Ich-Vervielfältigung durch eine simulierende Schreibweise im Namen von Heteronymen, der er im Livro do desassossego eine schwache Schreibpraxis entgegenstellt. Letztere wurde im Anschluss an Foucaults ‚écriture de soi‘ als Schreibpraxis interpretiert, die es ermöglicht, die Schreiberfahrungen der verschiedenen Simulationen wiederholend auf die eigene Subjektivität zu beziehen. Das simulierende Erforschen von Wahrnehmungsvorgaben rückt das Phänomen Subjektivität als wahrnehmungslenkende Konstituente auch für den Leser in den Blick. Indem Pessoa seine Texte verschiedenen Autoren zuschreibt, lassen sie sich sowohl auf ihn als auch auf diese beziehen. Es entsteht ein Netz von Verweisungen zwischen verschiedenen Formen und Möglichkeiten von Subjektivität, eine Literatur der „Entre-Expressão“ (PIL 411), die das Augenmerk auf Intertexte lenkt. Der Leser wird herausgefordert, sich aus verschiedenen biographischen Informationen zu den Heteronymen und ihren jeweiligen literarischen Texten Autoren zu konstruieren und sich bei diesem Konstruktionsprozess zugleich selbst zu beobachten. Die Ich-Aufspaltungen in Becketts Texten nehmen ihren Ausgang in der Selbst-Beobachtung und Selbst-Reflexion des Erzäh-
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lens. Im Gegensatz zu Pessoa, bei dem die eigene Subjektivität im Schreibprozess immer wieder suspendiert wird, stehen in Becketts Texten die Bewusstseinsprozesse des schreibenden Ich im Mittelpunkt. Dieses steigt – in Becketts Metaphorik – in seinen eigenen Schädel hinab, um dort die Zusammenhänge von Erinnerung, Imagination und Ich-Konstitution zu ergründen. Dafür schließt es sich hermetisch von der Außenwelt ab, bis es schließlich in Company, ‚im Dunkeln auf dem Rücken‘ liegend, jeglichen Bezug zur Außenwelt abbricht. Der Leser von Becketts Texten wird aufgefordert, an dieser Reise ins Innere von Bewusstseinsprozessen teilzunehmen und Subjektivität als innere Aufspaltung zu erfahren. Eine Aufspaltung, die – so suggerieren Becketts Texte – dem Konstitutionsprozess des Subjekts immer schon zugrunde liegt. Im Gegensatz zu Becketts Texten befindet sich das schreibende Ich bei Mayröcker in fortwährendem Dialog und Kontakt mit anderen. Dabei gelingt es ihm, ähnlich wie Pessoa/Soares im Livro, fremde Formen von Subjektivität in die eigene Subjektivität zu integrieren. Im Gegensatz zu Pessoa sind die unterschiedlichen Formen von Subjektivität bei Mayröcker jedoch nicht mehr an klar abgrenzbare Figuren gebunden, sondern erweisen sich als verselbstständigte Kommunikationsprozesse, die das schreibende Ich als ‚vernetzte Identität‘ durchströmen. Die Autorin sucht nicht wie Beckett nach dem konzisen komprimierten Ausdruck, sondern spielt mit der sogenannten „Papageiensprache“, die das Subjekt in Form von vielfachen Diskursen immer schon durchzieht und konstituiert. Was in Becketts Texten die immer wieder formulierte Frage nach dem richtigen Ausdruck („comment dire?“) ist, entspricht in Mayröckers Texten dem häufigen Vermerk „usw.“, der das endlose Rauschen des Diskurses andeutet. Der Leser ihrer Texte wird herausgefordert, ähnlich wie das schreibende Ich, eine Vielzahl von simultanen Bezügen gleichzeitig zuzulassen und so Subjektivität als Entgrenzung zu erfahren. Während Pessoa der um die Jahrhundertwende gängigen Denkfigur folgt, dass die Realität die Kunst nachahmen solle, und – an Nietzsches Selbsterschaffungsrhetorik anknüpfend – emphatisch Möglichkeiten sucht, in der Kunst ein neues Selbstverhältnis entstehen zu lassen, steht Beckett der Frage, inwiefern in der Kunst neue Selbstbeschreibungen gefunden werden können, eher skeptisch gegenüber. Seine Texte zeugen am stärksten von den Erschütterungen, denen das Subjekt ausgesetzt ist, und legen durch seine analytische Herangehensweise die Aporien moderner Subjektkon-
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zeptionen am deutlichsten frei. Bei Mayröcker hingegen scheint sich eine andere Form der Akzeptanz verlorener Subjektgarantien abzuzeichnen. Ihr schreibendes Ich hat die Unmöglichkeit, von sich selbst zu sprechen, akzeptiert und lotet in einer bewusst ‚gestohlenen Sprache‘ die Freiräume innerhalb ihrer Anwendung spielerisch immer wieder neu aus. In den Ich-Vervielfältigungen, Ich-Aufspaltungen und Ich-Aufsplitterungen von Pessoa, Beckett und Mayröcker scheinen verschiedene Möglichkeiten für Neubeschreibungen von Subjektivität auf. Auch wenn die Texte – allen voran L’Innommable – oft herangezogen wurden, um die These vom ‚Tod des Subjekts‘ zu veranschaulichen, haben sie zugleich neue Denkfiguren provoziert. Befragt, warum er nie über Beckett geschrieben habe, erklärt Derrida: „This is an author to whom I feel very close, or to whom I would like to feel myself very close; but also too close. Precisely because of this proximity, it is too hard for me, too easy and too hard. I have perhaps avoided him a bit because of this identification […]. They are texts which are both too close to me and too distant for me even to be able to ‚respond‘ to them.“3
Man sollte Derridas Verweis, dass Beckett ihm zu nah sei, um ihm zu ‚antworten‘, allerdings nicht allzu wörtlich nehmen: Seine Figur der différance ist eine – vielleicht die weitreichendste – von vielen philosophischen Antworten auf Becketts Entgrenzungen ästhetischer Subjektivität. Mit der Figur der différance hat Derrida nicht zuletzt die philosophische Vorstellung einer rein sprachlich verfassten Subjektivität entwickelt, die das Subjekt als Text- oder Zeichenfunktion begreift, das in ein unentwegtes differenzielles Spiel von Kräften eingelassen ist. Eine Sichtweise, die nicht nur eine fundamentale Kritik an traditionellen abendländischen philosophischen Theorien der Subjektivität darstellt, die diese in einer Metaphysik der Selbst-Präsenz des Selbstbewusstseins verankern, sondern die, nachdem sich die ersten Wogen über den vermeintlichen ‚Tod des Subjekts‘ geglättet haben, auch philosophischen Neubestimmungen von Subjektivität die Türen geöffnet hat. Wenn Derrida die Frage, ob „man sich nicht eine Gegenwart und Selbst-Gegenwart des Subjekts vor seinem Sprechen oder seinem Zeichen, eine Selbst-Gegenwart des Subjekts in einem schweigenden und intuitiven Bewusst-
3
Derrida, Jacques: Acts of Literature. New York 1992, S. 60.
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sein denken [kann]?“4, verneint, dann erinnern Frage und Antwort an Becketts unentwegt scheiternde Versuche, im L’Innommable zu eben jener Selbstgegenwart jenseits des Sprechens zu gelangen. Derridas philosophische Begründung von Subjektivität als Effekt eines unablässigen differenziellen Sprachspiels kann somit durchaus als eine philosophische ‚Antwort‘ auf Beckett gelesen werden. In dieser Hinsicht lassen sich Randgänge der Philosophie immer auch als Randgänge ästhetischer Subjektivität lesen.
4
Derrida, Jacques: „Die différance“. In: Ders.: Randgänge der Philosophie. Wien 1988, S. 42.
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Danksagung
Diese Arbeit ist im Kontext des Münchener Promotionsstudiengangs „Literaturwissenschaft“ entstanden, ihm und der Stiftung der Deutschen Wirtschaft danke ich für ideelle und finanzielle Förderung. Mein ausdrücklicher Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Bernhard Teuber, der diese Arbeit mit Offenheit, Wohlwollen und klugem Rat betreut hat, der mir bei Fragen stets zuverlässig zur Seite stand, mich zugleich aber auch meine eigenen Wege hat gehen lassen. Herzlich danken möchte ich auch Timothy Reiss und Simon Critchley, die mir während eines Gastaufenthaltes an der NYU in zahlreichen Gesprächen über Pessoa geholfen haben, (m)einen Zugang zu dessen „unbezähmbaren“ Werk zu finden. Den Studenten meines Beckettseminars an der Ludwig-MaximiliansUniversität München danke ich für ihre Begeisterung und Bereitschaft, sich auch auf schwierige Becketttexte einzulassen und gemeinsam mit mir Thesen zu einer genealogischen Lesart seiner Werke zu entwickeln. Bei Irene Albers und den Teilnehmern ihres Kolloquiums am Peter Szondi-Institut der Freien Universität Berlin möchte ich mich für die Möglichkeit bedanken, einzelne Kapitel der Arbeit vorzustellen und zu diskutieren. Die Anregungen, die ich in diesem Kontext erfahren habe, waren immer wieder Gold wert! Für die Diskussion und Kritik einzelner Teile sei von Herzen meinen unermüdlichen Lesern gedankt: Jörg Dünne, Ralf Eckschmidt, Beatrice Fassbender, Malte Hagener, Catherine Newmark, Anja Oesterhelt, Johanna Schumm und David Wachter. Danken möchte ich auch meinen Eltern für ihre rückhaltlose Unterstützung, Nina Esser für alles, Simone Giostra for waiting und Hella Dietz, ohne die und unsere gemeinsame abgeschottete Schreibklausur diese Arbeit voraussichtlich erst 2050 zu Ende geschrieben worden wäre.