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German Pages [273] Year 2006
Hans-Jrg Ehni
Das moralisch Bse berlegungen nach Kant und Ricœur
BAND 78 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495996997
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Der Autor über sein Buch: Das moralisch Böse ist ein wenig behandeltes Thema in den neueren philosophischen Debatten, obwohl der Begriff zu den Grundbegriffen der Ethik gehört. Nach einer Bestandsaufnahme der neueren Literatur beginnt diese Arbeit daher mit einer Analyse des Wortes »böse« auf der Ebene der alltäglichen Sprache und Moral. Es lassen sich zwei Grundelemente der Wortbedeutung herausarbeiten: »zurechenbar« und »ohne Einschränkung schlecht«. Der Übergang zur philosophischen Ethik zeigt, dass gerade ein Ansatz, der beide Elemente vereinigt, problematisch ist. Wie kann das Böse in seiner vollen Negativität zurechenbar d. h. bewusst als solches gewollt werden? Eine Antwort auf diese Frage schließt eine entsprechende Bestimmung der Freiheit, der Zurechenbarkeit sowie der Vernunft im Verhältnis zum Bösen ein. Eine viel versprechende Konzeption, die dies leistet, findet sich bei Kant in Form der These des »radikalen Bösen«. Dennoch zeigt sich auch hier, dass gerade das Bewusstsein, das mit dem bösen Willen verknüpft ist, schwer zu verstehen ist. Dieses Bewusstsein ist auch eines der zentralen Themen in der frühen Philosophie Paul Ricoeurs und ein entscheidender Antrieb dafür, dass er seine Position von einer phänomenologischen zu einer hermeneutischen Philosophie weiterentwickelte. In diesem Zusammenhang wird diese Entwicklung untersucht, Ricoeurs Verhältnis zu Kant und sein besonderer Ansatzes in der Ethik. Als systematischer Ertrag und Ausblick auf eine vollständige Theorie des moralisch Bösen zeigt sich seine Idee einer Empirie des Willens als hermeneutische Untersuchung der Erscheinungsformen des Bösen. Der Autor: Hans-Jörg Ehni, geb. 1969, Studium der Philosophie, Komparatistik und Politikwissenschaft in Stuttgart, Paris und Tübingen. Promotion am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen. Gegenwärtig wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Tübingen.
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Hans-Jrg Ehni Das moralisch Bse
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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Gnther Bien, Karl-Heinz Nusser und Annemarie Pieper Band 78
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Hans-Jrg Ehni
Das moralisch Bse berlegungen nach Kant und Ricœur
Verlag Karl Alber Freiburg / Mnchen https://doi.org/10.5771/9783495996997 .
Originalausgabe Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier (surefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / Mnchen 2006 www.verlag-alber.de Einband gesetzt in der Rotis SemiSerif von Otl Aicher Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Satz: SatzWeise, Fhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg www.difo-druck.de ISBN-13: 978-3-495-48180-6 ISBN-10: 3-495-48180-X
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kapitel: Anforderungen an eine Theorie des moralisch Bösen
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1.1 Neuere Veröffentlichungen zum Thema und Schwierigkeiten mit dem moralisch Bösen in der philosophischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Wortbedeutungen von »böse« . . . . . . . . . . . . . 1.3 Der moralische Sinn von »böse« in Alltagssprache und -moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Das Problem des moralisch Bösen in einer nichtreduktiven Sichtweise . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Kapitel: Kants Lehre vom radikalen Bösen als Vorbild für eine nichtreduktive Theorie des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.1 Was heißt: Der Mensch ist von Natur aus böse? Grundsätzliche Überlegungen zur Interpretation von Kants Abhandlung »Über das radikale Böse in der menschlichen Natur« . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der Begriff des Bösen in der Moralphilosophie Kants 2.3 Ein optimistischer Auftakt: die Anlagen zum Guten . 2.4 Die pessimistische Wendung: der Hang zum Bösen . 2.5 Das radikale Böse und seine Erscheinungsformen . . 2.6 Der faule Fleck der Gattung und die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis – Entwicklung und Verblendung als Aspekte des radikalen Bösen . . . . . . . . . . . . . 2.7 Das Problem der nicht-reduktiven Sicht des moralisch Bösen bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8 Die Aktualität des »radikalen Bösen« . . . . . . . . .
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Inhalt
3. Kapitel: Paul Ricœur über das Böse
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3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6
Das Böse im Zusammenhang der Werke Paul Ricœurs . . Die Phänomenologie des Willens . . . . . . . . . . . . . Phänomenologie und Hermeneutik . . . . . . . . . . . . Ricœur und Kant. Paul Ricœur – ein Kantianer? . . . . . Ricœurs Freiheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen von Ricœurs Theorie des Bösen: Leidenschaften und servum arbitrium . . . . . . . . . . 3.7 Die Möglichkeit zum Bösen: Fehlbarkeit . . . . . . . . . 3.8 Fehlbarkeit als anthropologische Struktur . . . . . . . . 3.9 Die Verinnerlichung der Fehlbarkeit: das unruhige Herz . 3.10 Teleologische Elemente in der Konzeption des Bösen bei Ricœur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.11 Die teleologische Konzeption des moralisch Bösen und der Verfehlung in Soi-même comme un autre . . . . . . 3.12 Freiheit und Passivität: selbstverschuldete Sklaverei des Willens in der Symbolik des Bösen . . . . . . . . . . . . 3.13 Ricœur und Kant. Antagonismus oder Komplementarität?
136 143 155 161 169 177 182 186 190 197 200 214 220
Schlussbetrachtung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . 225 1. Der Begriff des Bösen . . . . . . . . . . 2. Der teuflische Wille . . . . . . . . . . . 3. Das Böse in der menschlichen Natur . . 4. Notwendigkeit einer Empirie des Willens
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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
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Einleitung
Häufig wird das moralisch Böse als ein Phänomen bezeichnet, das sich aufgrund seines schwer verständlichen, wechselnden oder auch irrationalen Charakters der philosophischen Begriffsbestimmung entzieht. 1 Könnte jedoch nicht auch das Gegenteil der Fall sein, und das moralisch Böse ist als solches einfach zu verstehen? Eine Handlung, die böse ist, kann schlicht als Handlung verstanden werden, durch die einer Person, einem Tier oder einem Gegenstand absichtlich Schaden zugefügt wird. Die Ethik kann sich dann ohne weiteres dem Verständnis des moralischen Handelns widmen, dessen Negation den Schaden definiert. So verstanden wäre das moralisch Böse mit unmoralischem Handeln gleichbedeutend. 2 Dabei wird man jedoch dem Anspruch nicht gerecht, der das Prädikat »moralisch böse« auszeichnet. Denn damit wird eine extreme Form des unmoralischen Handelns bezeichnet, die mehr ist als nur »unmoralisch«. Unmoralisch ist es beispielsweise, sich einen Vorteil ohne Gegenleistung zu erschleichen, aber man wird kaum denjenigen, der so handelt, deswegen als böse bezeichnen. Gerade im Extrem des Unmoralischen, das im Bösen vorliegen soll, ist nun die Herausforderung, die sein Verständnis in der Philosophie darstellt, begründet. Während die Motivation dafür, dass absichtlich Schaden zugefügt oder in Kauf genommen wird, nicht schwer zu verstehen ist und einfach in Egoismus, Rücksichtslosigkeit oder auch in einem Affekt begründet sein kann, gilt dies möglicherweise für das Extrem des unmoralischen Handelns nicht auf dieselbe Weise. Denn es ist zu vermuten, dass ein solches Handeln über eine einzelne Absicht hinausgeht und aus einer entsprechenden Grundhaltung stammt. Es ist aber gerade nicht ohne weiteres verständlich, was diese Grundhaltung ausmacht. Wird ein
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Vgl. S. 12 f. dieser Arbeit. Z. B. findet sich eine solche Position in Wolf 2002, 16. A
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Einleitung
mögliches Extrem des Widerspruchs gegen die Moral als solches in einer Grundhaltung in Form eines bösen Willens gewollt? Entscheidet sich ein entsprechender Protagonist des moralisch Bösen aus einer freien Überlegung für einen bösen Willen? Das Bewusstsein, das mit dem bösen Willen verknüpft ist, wird durch diese Fragestellung zu einem grundlegenden Problem für das Verständnis des moralisch Bösen. Eine wichtige Rolle spielt für ein solches Verständnis der Bezug auf Grundbegriffe der Moralphilosophie, zu denen auch das moralisch Böse gehört. Dieser Zusammenhang wird jedoch von der Ethik der Gegenwart als systematisches Problem nahezu vollständig übergangen. Es gibt keine ausführliche moralphilosophische Abhandlung, die diesem Thema gewidmet ist. Die vorliegende Arbeit möchte einen Beitrag dazu liefern, diese Lücke zu schließen. Gleichwohl gibt es zahlreiche Publikationen aus dem Bereich einzelner Wissenschaften, die sich mit dem Bösen beschäftigen sowie einige kürzere philosophische Aufsätze, die sich der Problematik des moralisch Bösen widmen. Dementsprechend beginnt das erste Kapitel der vorliegenden Untersuchung mit einer Bestandsaufnahme der Literatur. Als Resultat dieser Bestandsaufnahme ergeben sich mehrere Anforderungen an eine Theorie des moralisch Bösen: die Skepsis gegenüber einer Begriffsbestimmung ist zu überwinden, der Ursprung des Bösen muss benannt werden und die Möglichkeit einer boshaften Vernunft muss berücksichtigt werden, um dem Vorwurf zu entgehen, das Böse zu verharmlosen. Ein erster Versuch zur Begriffsbestimmung setzt im Anschluss an diese Bestandsaufnahme bei der Verwendung des Prädikats »böse« in der Alltagssprache an. Es ergeben sich dabei zwei grundlegende Bedeutungselemente: die Zurechenbarkeit und die besondere Negativität des moralisch Bösen. Als nicht zu steigernde Form des Schlechten kann das Böse als uneingeschränkt schlecht verstanden werden. In der Folge wird der Versuch unternommen, diese beiden Bedeutungselemente in einen Zusammenhang mit Grundbegriffen der Ethik zu bringen. Eine entsprechende Theorie des moralisch Bösen, welche die Grundbedeutung aus der Alltagssprache und den damit verbundenen Anspruch beibehält, wird als nicht-reduktiv bezeichnet. Es zeigt sich jedoch, dass sich ein derartiger Ansatz mit einem grundlegenden Problem im klassischen Sinn der Unvereinbarkeit mehrerer Sätze, an denen wir gleichwohl aufgrund unserer Überzeugungen festhalten wollen, auseinandersetzen muss, die sich aus 10
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Einleitung
eben jenen Grundbedeutungen ergibt. 3 Die Schwierigkeit besteht darin, verständlich zu machen, wie ein Bewusstsein möglich ist, in dem das an sich Schlechte aufgrund einer freien Entscheidung gewollt wird. Wenn das Böse ohne Einschränkung schlecht ist, aus welchem Grund entscheidet sich dann ein Handelnder, der sich dessen bewusst ist, dafür, es zu wollen? Gibt es aus der Vernunft ableitbare Gründe, dann kann möglicherweise die Eigenschaft, uneingeschränkt schlecht zu sein, nicht mehr aufrecht erhalten werden. Ist aber die Qualität des moralisch Bösen dem Handelnden nicht als solche bewusst, ist das so verstandene Böse dann noch zurechenbar? Dieses Problem führt möglicherweise dazu, eine der beiden Grundbedeutungen des moralisch Bösen, die aus der Alltagssprache abgeleitet worden sind, aufzugeben. Im ersten Kapitel wird eine schematische Übersicht solcher alternativen Sichtweisen entworfen. Gemeinsam ist diesen Positionen, dass sie konsequenterweise das Begriffspaar »gut und böse« zugunsten von »gut und schlecht« aufgeben sollten. Als exemplarische, gelungene Durchführung einer nicht-reduktiven Theorie des moralisch Bösen zeigt sich Kants Theorie des Bösen, die im Rahmen einer Interpretation der Abhandlung »Über das radikale Böse in der menschlichen Natur« im zweiten Kapitel rekonstruiert werden soll. Kant bestimmt einen überzeugenden Begriff des moralisch Bösen, in dem die beiden Grundbedeutungen »zurechenbar« und »uneingeschränkt schlecht« enthalten sind. Das Böse besteht demnach in einer Verkehrung der Selbstliebe und der Moralität in einer obersten Maxime des Handelnden. Im »Hang zum Bösen« benennt Kant zudem den Ursprung des moralisch Bösen in der menschlichen Natur. Auch paradigmatische Erscheinungsformen des moralisch Bösen sind in der Kantischen Konzeption enthalten: die ungereizte Grausamkeit und die falsche Freundschaft. Allerdings findet sich bei Kant auch das Problem des moralisch Bösen einer nicht-reduktiven Theorie wieder. Sie steht hier im Zusammenhang mit dem Verständnis der Freiheit als Autonomie, die eine Freiheit zum moralisch Bösen auszuschließen scheint, das gleichwohl zurechenbar sein soll. Auch wenn Kant eine Lösung dieses Problems gelingt, so bleibt doch die Annahme eines Hangs zum Bösen ebenso umstritten wie Kants These, dass ein teuflischer Wille beim Menschen unmöglich sein soll. Vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeiten untersucht das 3
Vgl. z. B. Bieri 1981. A
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Einleitung
dritte Kapitel Paul Ricœurs Theorie des moralisch Bösen. Geklärt werden soll in diesem Zusammenhang auch das Verhältnis Paul Ricœurs zu Kant. Dessen Auffassung des moralisch Bösen zeigt sich dabei in mehreren Punkten weniger als gegensätzliche Alternative, sondern als mögliche Ergänzung zu Kants Konzeption. Entscheidend sind dabei Ricœurs Verständnis der Fehlbarkeit als Möglichkeit zum Bösen in der menschlichen Natur, die Symbolik des Bösen als Untersuchung des mit dem Bösen verknüpften Bewusstseins und der teleologische Aspekt des moralisch Bösen, der von Ricœur besonders betont wird. Im Anschluss an die Überlegungen Ricœurs zeigt sich abschließend eine »Empirie des Willens« als eine notwendige Ergänzung der Untersuchung des bösen Willens. Erst die Deutung von konkreten Erscheinungsformen des moralisch Bösen vervollständigt eine nicht-reduktive Theorie desselben.
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1. Kapitel:
Anforderungen an eine Theorie des moralisch Bösen
1.1 Neuere Veröffentlichungen zum Thema und Schwierigkeiten mit dem moralisch Bösen in der philosophischen Literatur Zur Frage, ob das moralisch Böse in jüngster Zeit genügend beachtet wird, finden sich zwei scheinbar widersprüchliche Standpunkte in der neueren Literatur. Einige Beiträge konstatieren bereits im Titel, dass es eine »Renaissance« des Bösen gebe oder zumindest des Interesses daran. 1 Andere jedoch sind der Ansicht, dass die intellektuellen Debatten das moralisch Böse übergehen oder vernachlässigen 2 beziehungsweise es sogar darüber hinaus generell in Vergessenheit geraten sei oder ausgeblendet wird 3 . Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich jedoch leicht auflösen: während es zahlreiche Publikationen zum moralisch Bösen aus dem Blickwinkel fast jeder Wissenschaft gibt, fehlt gerade eine systematische Auseinandersetzung im Bereich der Moralphilosophie, zu deren grundlegenden Themen das moralisch Böse eigentlich gehört. 4 Betrachtet man eine Auswahl der neueren Publikationen zum moralisch Bösen, so fällt auf, dass es zwar einige philosophiegeschichtliche Abhandlungen, aber kaum systematische Werke gibt, die diesem Thema gewidmet sind. Es fehlen Monographien aus dem Bereich der Moralphilosophie ebenso wie eine eingehendere Beschäftigung mit dem Thema im Rahmen einer allgemeiner gefassten systematischen Abhandlung zur Ethik. Daher werden auch kaum Thesen oder Standpunkte zum Bösen im Rahmen einer größeren Debatte diskutiert. Auch aus diesem Grund ist immer noch der erste Teil der Vgl. u. a. Albertz / Wuketits 1991, Schuller / von Rahden 1993. Adam 1997, Höffe 1995. 3 U. a. Bohrer 1987, Delbanco 1996, Schuller / von Rahden 1993, VII. 4 Zu diesem Fazit kommt auch Friedrich Hermanni in seiner Sammelrezension zu Schuller / von Rahden 1993 und Colpe / Schmidt-Biggemann 1993. Beiden Bänden lastet eine Lücke im philosophisch-systematischen Bereich an. Vgl. Hermanni 1995, 144. 1 2
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Anforderungen an eine Theorie des moralisch Bösen
Kantischen Religionsschrift für eine Theorie des moralisch Bösen ein viel versprechender Ansatzpunkt. Trotz seiner Kürze umfasst dieses Werk viele der wesentlichen Probleme und Themen, die in der Ethik vom moralisch Bösen aufgeworfen werden. Auf diese klassische Abhandlung wird sich der Entwurf einer Theorie des moralisch Bösen in dieser Arbeit vor allem beziehen. Paul Ricœur hat sich als einer der wenigen Philosophen von internationalem Rang der Gegenwart ausführlich mit dem Thema beschäftigt. Seine beiden Bände der Philosophie de la volonté stellen die Ausnahme eines umfangreichen systematischen Werks zum Bösen dar, das sonst fehlt. Jedoch handelt sich dabei nur um eine Vorarbeit zu einer unvollendet gebliebenen Theorie des moralisch Bösen, die dieses daher auch nicht im Rahmen der Ethik und ihrer Grundbegriffe behandelt. Wenn auch deswegen Ricœur weniger Ansatzpunkte für ein solches Vorhaben liefert als Kant, finden sich doch in seiner Abhandlung einige Grundprobleme wieder, anhand derselben Ricœur eine Kritik an der Kantischen Konzeption von allgemeiner Tragweite formuliert und zu deren Lösung er Alternativen anbietet. Beides macht seinen eigenen philosophischen Ansatz für einen systematischen Grundentwurf zum moralisch Bösen interessant. Wenn man das Fehlen einer systematischen Abhandlung zum moralisch Bösen feststellt, kann man sich zunächst fragen, ob der Grund dafür mangelnde Aktualität sein könnte. Herbert Rommel ist beispielsweise der Ansicht, dass das moralisch Böse als Kategorie sowohl der Alltagssprache verloren gegangen sei, als auch in den einzelnen Wissenschaften und in der philosophischen Ethik, für die er stellvertretend den Utilitarismus und die kommunikative Ethik nennt. 5 Auch im englischen Sprachraum wird nach dem Oxford Dictionnary das Wort »evil« nur noch sehr zurückhaltend verwendet. 6 Es stellt sich die Frage, ob die Phänomene, die bisher mit dieser Eigenschaft bezeichnet worden sind, anders angemessener beschrieben werden können. Allerdings gibt es auch entgegen dieser Tendenz, das Thema zu vernachlässigen oder auszublenden, Ausnahmen. Während umfangreiche systematische Monographien aus dem Bereich der Ethik fehlen – Werke wie diejenigen von Safranski und Wolf haben lediglich den Charakter von allgemein gehaltenen, geis5 6
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Rommel 1997, 28 ff. Baumeister 1996, 7.
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Neuere Veröffentlichungen zum Thema
tesgeschichtlichen Essays 7 – finden sich einige Artikel in verschiedenen Lexika oder Zeitschriften. Zu nennen sind derjenige von Willi Oelmüller 8 im Handbuch philosophischer Grundbegriffe, derjenige von Vossenkuhl im Lexikon der Ethik 9 oder derjenige von Odo Marquard und anderen Autoren im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Letzterer unter »malum«, weil das Stichwort »Böse« versehentlich übergangen wurde, wie Marquard selbst einräumt. Einige dieser Artikel weisen auf die Vernachlässigung des Themas hin und versuchen die Gründe dafür zu benennen. Diese werden teilweise in der zeitgenössischen Philosophie selbst, teils in der besonderen Schwierigkeit gesehen, die das Verständnis des moralisch Böse der Philosophie im Allgemeinen stellt. Ferner enthalten kürzere Passagen einige grundsätzliche Gedanken zum Bösen im Zusammenhang eines Werks, das einen größeren Themenbereich umfasst, allerdings ohne dass die Problematik in ihrem ganzen Umfang deutlich wird. Beispiele hierfür sind Werke von Walter Schulz und Karl Jaspers im deutschen Sprachraum 10 oder Richard M. Hare und John Rawls im englischen 11 . Eine detaillierte Zusammenfassung der älteren Debatte im englischen Sprachraum liefert Ronald D. Milo. Durch sein Werk wird deutlich, dass diese Debatte sich zwar mit unmoralischem Handeln beschäftigt, jedoch nicht vorwiegend mit dem moralisch Bösen im engeren Sinn. Einen wichtigen Rang nimmt beispielsweise die Diskussion um die Willensschwäche ein. 12 Milos Überlegungen zur »wickedness«, die als eine Form des Bösen betrachtet werden kann, scheinen keine weitere Debatte ausgelöst zu haben. Unabhängig davon erscheinen auch in neuerer Zeit regelmäßig englischsprachige Abhandlungen, die das moralisch Böse unter einem speziellen Blickwinkel betrachten, wie
Safranski 1997; Wolf 2002. Wolf übernimmt zudem seine Systematik des »Bösen« von Ronald D. Milo (Milo 1984), den er zwar lobend erwähnt, aber ohne den expliziten Hinweis auf diese Übernahme. Dabei verringert er zudem noch die Komplexität der Vorlage und übersieht, dass »Immoralität«, das Thema Milos, sich nicht mit dem Thema des moralisch Bösen deckt. Einen knappen, populär gehaltenen Überblick, der aufgrund seines begrenzten Umfangs nicht die systematische Problematik in ihrem ganzen Umfang ausloten kann, liefert Pieper 1997. 8 Oelmüller 1974. 9 Höffe 20026 , 26–28. 10 Schulz 1972, Jaspers 1973. 11 Hare 1992, Rawls 1975. 12 Milo 1984. Vgl. auch Spitzley 1992. 7
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Anforderungen an eine Theorie des moralisch Bösen
z. B. diejenigen von Card, McGinn und Neiman 13 , so dass in der englischsprachigen Philosophie am ehesten das Thema des moralisch Bösen gegenwärtig ist, wenn auch hier eine systematische Abhandlung in der Ethik fehlt, welche die Grundzüge einer Theorie des moralisch Bösen entwirft. Selbst in neueren Einführungen und Handbüchern zur Ethik ist es keine Selbstverständlichkeit, dass das Böse als Form des unmoralischen Handelns genannt wird. 14 Schließlich beschäftigen sich einige interdisziplinäre Sammelbände mit dem Bösen, bei denen Philosophen mitwirken 15 . Wie die darin enthaltenen Aufsätze und eine Auswahl der Werke von Psychologen 16 , Soziologen 17 , Biologen 18 , Kriminologen 19 , Pädagogen 20 , Literaturwissenschaftlern 21 und Theologen 22 zeigen, gibt es kaum eine Wissenschaft, die das Böse nicht zu ihrem Gegenstand macht. Das Fazit dieser Übersicht ist, dass in der Philosophie das moralisch Böse nach dem jetzigen Stand der Veröffentlichungen im Hinblick auf seine systematische Bedeutung in der Ethik ein vernachlässigtes Thema ist. Dagegen ist das Interesse am Thema durchaus vorhanden, wie die Abhandlungen aus anderen Disziplinen zeigen. Da der Begriff des Bösen den Rang eines Grundbegriffs der Ethik einnimmt, und in einem engen systematischen Zusammenhang mit den Begriffen des moralisch Guten, der praktischen Vernunft und der Freiheit steht, ist zunächst einmal die Frage nach dem Grund dieser Vernachlässigung zu stellen. Mögliche Anknüpfungspunkte bieten dabei die genannten Arbeiten, die sich mit diesem Umstand auseinandersetzen. Ebenso wie das Fehlen einer systematischen Abhandlung in der Philosophie stellt die große Zahl von wissenschaftlichen Erklärungsversuchen aus den verschiedensten Disziplinen eine McGinn 2001, Card 2002, Neiman 2002. Hinweise auf das moralisch Böse und allgemein auf die Problematik des unmoralischen Handelns fehlen z. B. in Singer 1991 und Quante 2003. Anders dagegen: Anzenbacher 1992, 16 ff. und Düwell u. a. 2002, 381 ff. 15 Holzhey / Leyvraz 1993; Schuller / von Rahden 1993; Colpe / Schmidt-Biggemann 1993. 16 Alford 1999, Battke 1978, Baumeister 1996, Katz 1993, Kutter 1994. 17 Darley 1992, Grand 2000, Plack 1979, Straub 1989. 18 Eibl-Eibesfeldt 1988, Kropf 1984, Lorenz 1963, Watson 1997, Wuketits 1993, Wuketits 1997. 19 Strasser 1984. 20 Bucher 1999. 21 Bloom 1995, Bohrer 1985, Bohrer 1987, Gaillard 1971, Spedicato 2001. 22 Brandenburger 1986, Görres / Rahner 1989, Haag 1978, Häring 1985, Häring 1999. 13 14
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Neuere Veröffentlichungen zum Thema
Herausforderung dar. Denn während Philosophen teilweise selbst der Philosophie die Möglichkeit absprechen, das Thema adäquat zu behandeln, bieten einzelne Wissenschaften alternative Erklärungsversuche an. Welches Problembewusstsein kann man diesem Bestand von Texten abgewinnen, wenn es darum geht, wie hier beabsichtigt, das Böse im Rahmen einer ethischen Systematik zu verstehen? Zunächst gibt es in den vorhandenen philosophischen Texten zum Bösen Thesen zu besonderen Schwierigkeiten, die sich der Philosophie stellen, wenn sie sich mit dem moralisch Bösen auseinandersetzt. Anhand dieser Schwierigkeiten lässt sich vielleicht klären, wo eine solche Abhandlung sinnvoll ansetzen sollte. Denn auf diese Weise kann sie grundsätzliche Bedenken berücksichtigen, die ihr gegenüber bestehen. Einige Autoren, wie Helmut Holzhey, Wilhelm Schmidt-Biggemann und Alfons Hügli führen beispielsweise das Fehlen einer systematischen Abhandlung zum Bösen auf besondere methodische Probleme in der Philosophie zurück. Diese Schwierigkeiten sind von so grundlegender Natur, dass sie die Möglichkeit einer philosophischen Theorie des moralisch Bösen selbst infrage stellen. Es werden dabei vor allem die drei folgenden, regelmäßig wiederkehrenden Einwände gegen eine solche Theorie genannt. Erstens gibt es laut Hügli und Holzhey in der philosophischen Tradition eine bis heute fortbestehende Neigung, das Böse zu verharmlosen und über die Schwierigkeit hinwegzugehen, die ein angemessenes Verständnis seiner Erscheinungsformen aufwirft 23 . Man kann leicht nachvollziehen, auf welche Weise in diesem Umstand die Vernachlässigung des Themas begründet sein könnte. Denn verharmlost man das Böse, ist es naheliegend zu glauben, dass sich seinem Verständnis keine größere Schwierigkeit entgegen stellt bzw. dass sich dieses einfach aus der Annahme eines Mangels am moralisch Guten ergibt. Eine Verschärfung dieser These besteht darin, der Philosophie nicht einfach de facto die Neigung zu unterstellen, das moralisch Böse zu harmlos aufzufassen, sondern diese Neigung mit einem strukturellen Mangel der philosophischen Methoden zu begründen. 24 Eine mögliche Ergänzung zum ersten Einwand stellt daher möglicherweise der zweite, ebenfalls häufig zu findende, dar, der die Leis23 24
Hügli 1980, 693–706; Holzhey 1993, 7 f. Holzhey 1993, 11. A
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Anforderungen an eine Theorie des moralisch Bösen
tungsfähigkeit der philosophischen Methoden in dieser Hinsicht anzweifelt. Demnach sei es nicht möglich, das Böse in einem angemessenen Begriff zu fassen. 25 Unmöglich wiederum unter anderem, weil bereits der Versuch einen Begriff des moralisch Bösen zu fassen, zur Verharmlosung des moralisch Bösen führen soll. Die Eigenart des Bösen ließe sich aus diesem und aus anderen Gründen grundsätzlich nicht begrifflich bestimmen. Zusätzlich lassen möglicherweise auch wissenschaftliche Erklärungen es fragwürdig erscheinen, dass der Begriff »das Böse« noch durch die Philosophie eine adäquate Bedeutung erhalten kann, durch die entsprechende Phänomene des menschlichen Verhaltens besser beschrieben werden, als durch eben jene wissenschaftlichen Erklärungsmodelle. Möglicherweise entsteht der Verdacht, ein philosophisches Verständnis des Bösen sei veraltet und durch andere, zeitgemäßere Auffassungen zu ersetzen, welche dieselben Phänomene aus biologischer, psychologischer oder soziologischer Sicht besser beschreiben, ohne dass überhaupt noch vom moralisch Bösen die Rede sein muss. Das Böse könnte als Begriff erscheinen, der zur Religion und nicht zur Ethik gehört und der nur in einer Philosophie christlicher Prägung noch eine Rolle spielen kann. Dies ist ein möglicher Grund für die Vernachlässigung des moralisch Bösen, den Otfried Höffe in einem Aufsatz anführt, der sich mit solchen Gründen auseinandersetzt. Höffe weist jedoch auch auf den säkularen Anteil der Ideengeschichte des moralisch Bösen hin, so dass sich nicht sagen lässt, dass der Begriff in einer säkularen Ethik keinen Platz habe. 26 In der Philosophie der Gegenwart, die in der Regel bestrebt ist, eine klare Trennlinie zwischen Religion und Philosophie zu ziehen, könnte man versucht sein, dieses Terrain, das man ohnehin nicht für ein genuin philosophisches hält, den Sozial- oder Naturwissenschaften zu überlassen, die sich dann mit konkreten Themen wie dem Verbrechen oder der Psychopathologie beschäftigen sollen, ohne dass Implikationen für die philosophische Theorie bestehen müssen. Wenn das moralisch Böse aus dem allgemeinen moralischen Bewusstsein und aus den intellektuellen Debatten zurecht tatsächlich mehr und mehr verschwinden sollte, könnte man schließlich nach einem dritten Einwand auch den Erfolg eines moralischen Relativis25 26
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Z. B. Schmidt-Biggemann 1993, 7. Vgl. Höffe 1995, 14–15 und Höffe 2001, 89 ff.
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mus oder Skeptizismus dahinter vermuten oder wie Schulte einen Erfolg des modernen Subjektivismus und Nihilismus, der sich in der »lebensweltlichen Neutralisierung« des moralisch Bösen auswirken soll, bei gleichzeitiger Verstärkung der rein ästhetischen Faszination. 27 Für einen Erfolg des Relativismus lässt sich zumindest in der philosophischen Ethik kein Beleg finden. 28 Ebenso fragwürdig erscheint der Siegeszug des Nihilismus. Auch wenn sich das Thema in der Literatur der Avantgarde ausführlich wiederfinden lässt und wenn im Alltag des Prädikat »böse« nur vorsichtig Handlungen und Personen zugeschrieben wird, so ist dieser Befund sicherlich einseitig und übersieht die zahlreichen moralischen Debatten sowie die Konjunktur der Ethik in der Gegenwart. Auch wenn diese Einwände gegen eine Theorie des moralisch Bösen sich nicht als überzeugend zeigen sollten, gibt es möglicherweise ein fehlendes Problembewusstsein, das auf den genannten, verschiedenen Umständen gründet: auf einer traditionellen Verharmlosung des Themas und auf der Ansicht, es könnte sich beim Bösen um einen Begriff handeln, der philosophisch nicht zu bestimmen sei bzw. gar kein philosophischer Begriff im eigentlichen Sinn sei, sondern ein Begriff, den man besser einer empirischen Untersuchung durch die Wissenschaften überlässt, die das moralisch Böse in ein zeitgemäßeres Erklärungsmodell bringen und es aus seinem religiösen Kontext herauslösen. Wie stellen sich nun die Argumentationen zur Verharmlosung, zur Unmöglichkeit des Begriffs und zur Ablösung des philosophischen Verständnisses durch ein zeitgemäßeres im einzelnen dar? Als exemplarische Form der Verharmlosung des moralisch Bösen wird häufig die Privatio-Lehre genannt. In dieser oder ganz allgemein in der Rechtfertigung des moralisch Bösen durch den Bezug auf einen übergeordneten Sinn sehen einige Autoren (Marquard, Oelmüller, Holzhey) 29 zwei entscheidende Defizite der philosophischen Tradition. Leibniz betrachtet das Böse als moralisches Übel oder malum morale als bloßen Mangel, ebenso wie die beiden anderen Übel, nach der durch ihn klassisch gewordenen Unterscheidung von malum morale, malum physicum und malum metaphysicum. Ferner kann man im 27 28 29
Schulte 1998, 324–326, 350. Vgl. Rippe 1993, 162. Vgl. Marquard 1980, 655; Hügli 1980, 693–706; Oelmüller 1974, 257; Holzhey 1993,
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Hinblick auf einen sinnvoll geordneten Kosmos das Böse »positivieren«, d. h. ihm bezogen auf einen umfassenden Zusammenhang, die Entwicklung der Menschheit beispielsweise, einen Sinn zuschreiben. Auf diese Weise wird die Negativität des moralisch Bösen zwar nicht vollständig geleugnet, sie wird jedoch im Hinblick auf einen universellen Sinnzusammenhang abgeschwächt. Die genannten Kritiker dieser philosophischen Lehren weisen darauf hin, dass der Gedanke der Privation gleichermaßen von Platon, wie von Augustinus und im Rationalismus ausgeführt wurde, die Positivierung beispielsweise bei Hegel. Oelmüller unterscheidet ferner zwischen Ontologisierung, Funktionalisierung und Ästhetisierung als Grundmodellen einer Depotenzierung des Bösen im Hinblick auf ein Ganzes. Gemeinsam ist diesen Positionen nach seiner Auffassung, dass das Böse jeweils als notwendiger Mangel im Hinblick auf ontologische (Unvollkommenheit der Materie), funktionale (als notwendiger Antrieb des Fortschritts in der Geschichte) oder ästhetische Kriterien (Kontrast zur Schönheit für die Harmonie des Ganzen) verstanden wird. 30 Auch in der Gegenwart scheint der Gedanke des Mangels noch ein naheliegender Ansatzpunkt zu sein. Jean-Claude Wolf unterscheidet in seinem genannten Essay über das Böse als ethische Kategorie nach Milo zwei Typen von »Immoralität«. Der eine Grundtypus sei auf einen Mangel an Wissen zurückzuführen, der andere auf einen Defekt des Willens oder auf eine mangelnde Motivation zum Guten. Ob eine solche aber lediglich ein Defekt des Willens ist, wenn es sich, wie er schreibt, gleichzeitig um eine präferentielle Lasterhaftigkeit handelt, dürfte nach den genannten Bedenken nicht schlicht vorausgesetzt werden. Wolfs Definition einer solchen Lasterhaftigkeit lautet: »wenn jemand es rational vorzieht anders als moralisch zu handeln«. 31 Gerade aber das Wort »rational« lässt die Eigenschaft der präferentiellen Lasterhaftigkeit, lediglich ein Defekt zu sein, fragwürdig erscheinen. Wenn diese Präferenz auf irgendeine Weise »rational« ist, handelt es sich dann noch schlicht um einen Mangel oder einen defizienten Modus des Guten? Möglich ist es vielleicht, schlicht vorausgesetzt werden darf es jedoch nicht bzw. es bedarf einer genaueren Erläuterung. Kants besonderes Verdienst vom Versuch über die negativen 30 31
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Oelmüller 1991, 259. Wolf 2002, 16.
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Größen bis zur Metaphysik der Sitten besteht in dieser Hinsicht für viele Autoren im Gegensatz zu einer wie auch immer gearteten Depotenzierung darin, das Böse dem Guten in Form einer eigenen Größe mit eigener Wirkung als Gegensatz gegenüber zu stellen. Außerdem kann nach Kant das Böse als das an sich Schlechte oder schlechthin Zweckwidrige weder einen Sinn, noch eine Rechtfertigung erhalten, indem man es aus einer scheinbar übergeordneten Perspektive betrachtet oder in den Zusammenhang einer höheren Ordnung überführt. 32 Dennoch bleibt der Befund bestehen, dass gerade beides von vielen der großen Philosophen versucht wurde, wenn auch Kant eine bedeutende Ausnahme darstellt. Selbst wenn also das Böse als Thema in wichtigen Texten der philosophischen Tradition abgehandelt wird, so die These, steht dennoch dort die Frage nach dem Guten im Vordergrund, da das Böse als bloßer Mangel am Guten vorrangig durch dieses verstanden werden soll. Insofern ist es nachvollziehbar, dass auch zeitgenössische Ansätze dem moralisch Bösen nicht eigens größere Aufmerksamkeit widmen. Denn das Böse scheint ja weitgehend unproblematisch zu verstehen zu sein, wenn ein bestimmtes Verständnis des Guten vorausgesetzt wird, gegenüber demselben böses Handeln einfach als Mangel an diesem Guten verstanden werden kann. Unter dem Aspekt des Bösen als schlichtem Mangel kann auch die Erklärung des Bösen den einzelnen Wissenschaften überlassen werden, die das menschliche Verhalten erforschen. Wenn die Frage nach dem Bösen lediglich die Frage danach ist, unter welchen beeinträchtigenden Umständen jemand vom Guten abweicht, so könnte es naheliegend sein, wenn metaphysische Erklärungen wie das malum metaphysicum der notwendigen Unvollkommenheit der Geschöpfe wegfallen, die Erklärung dieser Abweichung und ihre Bedingungen der Psychologie, Soziologie und Biologie zu überlassen. Es bliebe dann in der Philosophie bei der traditionell vorrangigen Frage nach dem moralisch Guten, ohne dass die Lücke, die das Fehlen von ausführlichen Überlegungen zum Bösen offen lässt, besonders auffallen Reboul 1971, 48- 77. Vgl. Kant, Immanuel: Tugendlehre. VI, 384. Dass für Kant das Böse nicht aus einer übergeordneten Perspektive zu rechtfertigen ist, kann man unter anderem der Abhandlung »Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee« entnehmen. Dort bezeichnet Kant das Böse als das schlechthin Zweckwidrige, das gegen die reinen Gesetze der menschlichen Vernunft verstößt. Kant, Immanuel: Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee. VIII, 256.
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würde. Denn weggefallen sind ja die ohnehin fragwürdig gewordenen metaphysischen Überlegungen. Das moralisch Böse im Zusammenhang einer ausgearbeiteten moralphilosophischen Begrifflichkeit zu betrachten und sich den Schwierigkeiten zu stellen, die sich dadurch ergeben, wäre die Vorgehensweise, die Kant von vielen anderen bedeutenden Philosophen unterscheidet. Allerdings ist dieser Ansatz in seiner systematischen Bedeutung kaum als Theorie des moralisch Bösen mit einem Grundproblem von allgemeiner Tragweite gewürdigt und systematisch weitergeführt worden. Selbst bei Kant sieht jedoch Helmut Holzhey ein generelles Versäumnis, das die Kantische ebenso wie alle anderen bisher versuchten philosophischen Erklärungen des Bösen als unangemessen erscheinen lässt. Dieses Versäumnis führt von der Verharmlosung des Bösen durch die Philosophie zu den grundlegenden methodischen Schwierigkeiten, die sich ihr stellen. Demnach fällt die Philosophie generell unter das Verdikt, dem Bösen nicht gerecht zu werden, weil es in den philosophischen Theorien nur in abgeschwächter, verwässerter Form behandelt wird und auch nicht anders behandelt werden kann. Holzhey begründet diesen Umstand mit dem angeblichen Ausschluss der bösen Vernunft aus dem philosophischen Diskurs. Auf die philosophische Schreibarbeit gewendet: Gibt es den bösen Traktat, in dem das thematische Böse nicht ethisch, geschichtsphilosophisch oder schöpfungstheologisch ein- und aufgefangen, also vom Guten umgarnt wird? Und falls tatsächlich auf eine solche inhaltliche Verarbeitung verzichtet wäre, hätte das reine Böse »der guten Form halber«, also angesichts der Ordnung des Traktats, des dank seiner Ordnung »guten« Traktats, eine Chance? Eine indirekte Bestätigung dieser Fraglichkeit liefert der Ausschluss des Teuflischen, der »boshaften Vernunft« oder des »schlechthin bösen Willens«, aus dem philosophischen Diskurs. 33
Die Philosophie verharmlost das Böse nicht nur, sondern kann aufgrund eines grundlegenden, strukturellen Mangels ihrer Möglichkeiten das Böse nicht angemessen beschreiben. Der genannte Ausschluss der philosophischen Vernunft beruht nicht nur auf einem affirmativen Optimismus seitens der Philosophen, denen es am Willen zur Subversion mangelt, sondern auf einer vermuteten Unzulänglichkeit der philosophischen Methode überhaupt. Holzhey vermisst den bösen Traktat, der das Böse ernst nimmt, indem er es auf der Ebene der Theorie nachvollzieht, ohne den von vorne herein be33
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Holzhey 1993, 9 f.
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ruhigenden und die mögliche Radikalität des Bösen abschwächenden Bezug zum Guten. Einen solchen Traktat hat, nach Holzhey, der Marquis de Sade vielleicht als einziger zu schreiben versucht, der aus der philosophischen Diskussion weitgehend ausgeschlossen sei. Das Kernstück eines solchen Traktats sei die Annahme einer »bösen« Vernunft. Zur Betrachtungsweise des Guten als Mangel steht die These des Ursprungs des Bösen in der Vernunft im größtmöglichen Gegensatz. Dass außer dem Marquis de Sade kein Philosoph es unternommen hat, die böse Vernunft zu begreifen, liegt nicht allein an der philosophischen Tradition, die den Blick von diesem Thema ablenkt. Für Holzhey bestehen berechtigte Zweifel daran, ob philosophische Methoden nicht grundsätzlich dafür ungeeignet sind. Denn die Negativität des Bösen sprenge deren Möglichkeiten, die durch die Rationalität der Methode und der philosophischen Abhandlung begrenzt seien. Wenn man auch skeptisch gegenüber dem philosophischen Gehalt der monotonen pornographischen Schriften de Sades sein kann und auch der Gedanke eines »bösen« Traktats nicht detailliert von Holzhey ausgeführt wird, so ist doch die Frage nach der Möglichkeit einer »bösen« Vernunft bzw. auch nach der Vernünftigkeit des Bösen für ein angemessenes Verständnis desselben eine wesentliche, wenn nicht sogar die zentrale Frage. Während die Frage nach der bösen Vernunft im Anschluss an das Problem der Verharmlosung des Bösen philosophische Abhandlungen zum Thema erschwert, wenn man Holzhey folgt, stellt sich die grundlegende methodische Schwierigkeit bereits an der Stelle, an der eine solche Abhandlung einsetzen könnte. Wiederum an der besonderen Eigenart des Bösen soll der Versuch scheitern, einen philosophischen Begriff des Bösen zu formulieren. Hierzu ein weiteres Zitat aus dem Aufsatz von Helmut Holzhey: Sie (die philosophische Theorie) stößt hierbei auf die Schwierigkeit, ihrem Gegenstand, dem Bösen, in eigentümlicher Art nicht gewachsen zu sein. Und zwar zum einen in formaler Hinsicht, als Theorie, indem allein schon die theoretische Form des Zugangs als solche den Diskurs des Bösen begrenzt, weil Theorie selbst dank der ihr eigenen Ordnung »gut« ist. Zum anderen in inhaltlich-begrifflicher Hinsicht, so dass sie das Böse entweder systematisch (zu einer bloßen Privation des Guten) herabsetzen, schwächen, verharmlosen muss oder an seiner »Wirklichkeit« scheitert. 34 Holzhey 1993, 24. Eine ähnliche Ansicht vertritt: Wilhelm Schmidt-Biggemann in seinem »Vorwort. Über die unfaßliche Evidenz des Bösen«: In: Schmidt-Biggemann /
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Bereits beim Versuch einen Begriff des Bösen zu bestimmen soll also die Philosophie den entsprechenden Phänomenen nicht gerecht werden. Insbesondere in der Ethik ließe sich nach deren Aussage dem moralisch Bösen im Zuge einer Begriffsbestimmung kein systematischer Zusammenhang zuschreiben. Denn dies würde bereits bedeuten, der besonderen Negativität des moralisch Bösen wiederum nicht gerecht zu werden und ihre Eigenart nicht angemessen zu erfassen. Wiederum hat schließlich nach Holzhey die böse Vernunft in der Ethik keinen systematischen Ort, obgleich sie die nicht zu überbietende Möglichkeit des menschlichen Bösen darstellt. Da aufgrund der Struktur der Ethik das Böse dem Guten untergeordnet werden müsse, könne das Böse nicht wie das Gute vernünftig sein. Dass es die Vernunft selbst sei, die böse ist, sei in der Ethik von vorne herein als Möglichkeit nicht vorgesehen, weil sie ihre Anweisungen lediglich aus vernünftigen Handlungsprinzipien ableiten könne, die das Gute ausschließlich in Anspruch nehmen muss. Um das Böse jedoch ernstzunehmen, müsse man es als unabhängige und gleichrangige Wirklichkeit gegenüber dem Guten verstehen. Der grundlegende Mangel der Philosophie als systematischer Theorie gegenüber der vollen Negativität zeigt sich nun konkret bei der postulierten Unmöglichkeit eines philosophischen Begriffs. Nach den genannten Skeptikern sei bisher noch kein angemessener Begriff des Bösen in der philosophischen Ethik formuliert worden, vielmehr sei dies sogar grundsätzlich unmöglich. Das Böse ist demnach nicht philosophisch verstehbar, nicht etwa weil es irrational sei, sondern weil es in einer Form rational sei, die sich der herkömmlichen philosophischen Rationalität grundsätzlich verschließen würde. Der erste Einwand, in der Philosophie werde das Böse verharmlost, ergänzt sich auf diese Weise mit dem zweiten, es sei grundsätzlich nicht möglich einen angemessenen philosophischen Begriff des Bösen zu formulieren. Allerdings stellt sich die Frage, was es für ein Verständnis des Bösen sei, aufgrund dessen diese Aussagen gemacht werden und wie seine Voraussetzungen zustande kommen, wie ja Holzhey ohne weitere Erklärungen »gut« mit »geordnet« und »böse« mit »ungeordnet« gleichsetzt. Anstatt einer begrifflichen Klärung schlägt er vor, einen erneuerten metaphysischen Diskurs zu beginnen, der mit der Colpe 1993, 7. »Das Böse hat keine Logik, man kann es nicht deduzieren und definieren. Man kann das Böse nicht mit der Logik des Guten, seines Gegenteils, bannen; …«.
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Macht des Bösen rechnen solle. Das Böse müsse man als vom Menschen unabhängige Wirklichkeit begreifen, als eine Bedingung der menschlichen Existenz, von der beispielsweise Mythen berichten, auf die man zurückgreifen muss, um es zu verstehen. Ein Ansatz, der an denjenigen von Paul Ricœur erinnert, welcher im dritten Kapitel ausführlich betrachtet werden soll. Von der Durchführung eines solchen Versuchs, Mythen für eine Theorie des Bösen fruchtbar zu machen, unberührt, bleibt die gestellte Aufgabe, entgegen dieser Skepsis einen Begriff des Bösen zu finden, der auf die Annahme einer bösen Vernunft Bezug nimmt. Denn zumindest das Vorverständnis des Bösen ist zu bestimmen und, wenn möglich, auf einen Begriff zu bringen, wobei sich selbst bei Holzhey, der hinsichtlich der Begriffsbestimmung skeptisch ist, ein solches Vorverständnis findet, ohne genauer ausgeführt zu sein. Weitgehend unbestimmt und pauschal bleiben die Voraussetzungen einer besonderen Rationalität des Bösen und der bösen Vernunft. Schwierig wäre wohl im einzelnen der Nachweis zu führen, dass diese grundsätzlich nicht vereinbar seien mit einer ebenso pauschal und unbestimmt vorausgesetzten Rationalität der philosophischen Methode. Wiederum bestehen bleibt jedoch die Aufgabe einen Begriff des moralisch Bösen gegen diese Skepsis zu formulieren und dabei entgegen der Tendenz der Verharmlosung die Negativität einer bösen Vernunft nicht aus dem Blick zu verlieren. Der Vorwurf, die Problematik des Bösen unzulässig zu vereinfachen und zu verharmlosen, wird nicht nur gegen die Philosophie erhoben, sondern auch gegen die einzelnen Wissenschaften. Damit wird bereits deutlich, dass deren Konzeptionen keinesfalls ohne weiteres an die Stelle von philosophischen Deutungen treten können. Die Stichworte sind in diesem Zusammenhang Funktionalisierung (Hügli) oder Pathologisierung (Kapferer) 35 . Bezogen sind diese Schlagworte darauf, dass in wissenschaftlichen Erklärungsversuchen häufig die Qualität des Bösen, ein moralisches Phänomen zu sein, bewusst bestritten wird oder schlicht übergangen wird. Durch diese Vorgehensweise wird ebenfalls die Möglichkeit der bösen Vernunft nicht hinreichend erwogen. Während in philosophischen Theorien das Böse gegenüber dem moralisch Guten als bloßer Mangel verstanden wurde, jedoch das moralisch Böse häufig wie bei Leibniz dennoch auf die menschliche Freiheit zurückgeführt wird, setzen einzelwis35
Hügli 1980, 699 f. Kapferer 1993. A
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senschaftliche Erklärungsmodelle bei der Entstehung von bösen Handlungen an und lassen seinen Freiheitsursprung in den Hintergrund treten. Andere Begriffe werden verwendet, um das Phänomen des »Bösen« zu beschreiben, wie beispielsweise »aggressiv«, »dysfunktional«, »pathologisch«, »psychopathisch« und »asozial«. Soziologische, biologische oder psychologische Erklärungen suchen jeweils eine entsprechende Gesetzmäßigkeit, die eine Ursache für die Entstehung dessen benennt, was aus deren Sicht lediglich in einer veralteten Weltanschauung als »böse« bezeichnet wurde. Nach der wissenschaftlichen Erklärung kann ein so verstandenes Böses nur noch in Anführungszeichen stehen, wofür Konrad Lorenz den Ausdruck »das sogenannte Böse« geprägt hat. 36 In diesen Zusammenhang gehören psychologische Gesetzmäßigkeiten für die Entstehung von Aggressivität als Habitus oder Theorien für die evolutionäre Funktionalität und damit genetische Bedingtheit von einem derartigen aggressivem Verhalten. Vom moralisch Bösen zu reden wird dann antiquiert, auf ähnliche Art und Weise wie auch »Sünde« nicht länger ein allgemein akzeptierter Begriff ist, um moralische Verfehlungen zu beschreiben. Handeln, das vormals als böse bezeichnet wurde, wird in der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise zu einem abnormalen Verhalten, welches auch für das jeweilige Individuum selbst abträglich ist, da es sein normales Funktionieren verhindert oder eine Störung der Persönlichkeit darstellt 37 . Ergänzt werden kann diese Kritik noch durch den Standpunkt, beim Bösen handele es sich um einen Begriff, der letztlich nicht aus der philosophischen Ethik stammt, sondern aus der Religion oder der religiös motivierten Metaphysik. Als solcher sei er zudem häufig missbraucht worden, um den politischen Gegner oder eine bestimmte Personengruppe zu brandmarken und Gewalt zu rechtfertigen. Einem (post-)modernen Denken bleibe daher nichts anderes übrig, als diesen Begriff aufzugeben, mit dessen Hilfe der Andere dämonisiert werde. 38 Ausgeschlossen wird dadurch die Möglichkeit, dass eine freie Entscheidung zum Bösen vorliegen könnte, in der eine mögliche Lebensform angestrebt wird, in der sich die Persönlichkeit des Handelnden im Bösen verwirklicht. Analog dazu wird der böse Wille zum
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Lorenz 1963. Vgl. z. B. Reinfried 1999, 31. Vgl. Geddes 2001, 1 ff.
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pathologischen Willen, der teils natürlich vorhanden sei, teils durch besondere Umstände hervorgebracht werde. Diese Bedingungen wären dann in wissenschaftlichen Untersuchungen zu ergründen. Wie zuvor in den kurz angesprochenen Werken der philosophischen Tradition wird die böse Vernunft in diesen Untersuchungen nicht als Ursprung des Bösen in Erwägung gezogen. Zusätzlich zu den eingangs genannten Schwierigkeiten, die aus der philosophischen Methodik stammen, muss sich eine philosophische Abhandlung zum Bösen folglich mit der Tendenz auseinandersetzen, das Böse als nur »sogenanntes Böses« zu betrachten. Um ihre Kritik zu belegen und wissenschaftliche Erklärungen als Alternative auszuschließen, die das moralisch Böse als Begriff vollkommen ersetzen, muss eine Theorie des moralisch Bösen verdeutlichen, inwiefern man vom Bösem als moralischem Phänomen berechtigterweise sprechen kann und inwiefern eine solche Auffassung tatsächlich den Phänomenen angemessen ist, denen die Eigenschaft des moralisch Bösen zugeschrieben wird. Eine Theorie des moralisch Bösen steht also den folgenden Anforderungen gegenüber: Sie muss zunächst entgegen der Skepsis einen philosophischen Begriff des moralisch Bösen formulieren und insbesondere dabei die Möglichkeit der bösen Vernunft in Betracht ziehen. Als unbefriedigende Alternativen zeigen sich die unkritische Übernahme einer veralteten Konzeption, mit der Missbrauch getrieben werden kann und der Verlust eines Begriffs, der eine Verharmlosung eines Extrems des unmoralischen Handelns nach sich zieht. Ferner muss sie gegenüber den einzelnen Wissenschaften die Angemessenheit dieses Begriffs gegenüber den Erscheinungsformen des Bösen nachweisen, die sie im Zuge eines solchen Nachweises ebenfalls benennen muss. Um einen Begriff des moralisch Bösen zu bestimmen, muss das Böse auf andere Begriffe der Ethik wie Freiheit, praktische Vernunft und moralisch Gutes bezogen werden. Entgegen der angeführten Bedenken lässt sich zeigen, dass ein solcher Begriff bei Kant zu finden ist. Erst dieser kann letztlich mit der Annahme der bösen Vernunft konfrontiert werden. Die Skepsis müsste anhand eines präzise widerlegten Versuchs der Begriffsbestimmung ihre Berechtigung nachweisen, ansonsten bleiben ihre Bedenken von allgemeiner Natur und setzen sich dem Verdacht aus, ein nicht ausreichend geklärtes Vorverständnis des Bösen zu umfassen, das stillschweigend einfach an die Stelle eines Begriffs tritt. Bewähren muss sich diese Auffassung A
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vom Bösen schließlich auch gegen die Kritik seitens der Wissenschaften, indem untersucht wird, ob ein philosophischer Begriff des moralisch Bösen es erlaubt, entsprechende Phänomene wie Grausamkeit oder Verbrechen adäquat zu bestimmen.
1.2 Wortbedeutungen von »böse« Vor der eigentlichen philosophischen Begriffsbestimmung ist es hilfreich, die alltägliche Verwendung des Wortes zu untersuchen und seinen moralischen Sinn auf dieser Ebene herauszuarbeiten. »Das Böse« oder »böse« sind bereits in der Alltagssprache Ausdrücke mit Bedeutungen, die sich sehr voneinander unterscheiden, indem sie verschiedene Nuancen von Negativität bezeichnen. Mit der verwickelten Etymologie, die hier keine Rolle spielt, und der Vieldeutigkeit von »böse« beschäftigt sich ein ausführlicher Artikel des Grimmschen Wörterbuchs39, dessen Inhalt kurz wiedergegeben werden soll. Es wird zuerst eine »echt sinnliche« Bedeutung genannt, im Sinne von »schmerzend«, »verletzend«, »was Schaden zufügt« oder »schlimm«. Ein »böser Zeh« oder ein »böser Finger« ist ein schmerzender, verletzter, entzündeter Finger. Diese konkrete sinnliche Bedeutung wird übertragen auf Krankheiten, Tiere, Menschen und Geister, wie böse Dämonen oder der Teufel, und dadurch immer mehr personifiziert. In verschiedenen Bedeutungsnuancen kann mit »böse« hier »grausam«, »beißend«, »angriffslustig« oder »bösartig« gemeint sein. Gemäß der Tendenz, »böse« als Eigenschaft anzusehen, die auf eine Person bezogen ist, gibt es eine weitere Bedeutung, die auf eine innere, subjektive Verfassung angewendet wird. »Böse« ist dann gleichbedeutend mit, »zornig«, »zürnend« oder »feindlich«, wie in den Ausdrücken, »auf jemanden böse sein«, »ich bin dir böse«, »sie sind böse miteinander«. Gegenüber der ersten Bedeutung von »böse« abgeschwächt ist eine weitere Verwendungsweise, in der »böse« mit »gering«, »verdorben« oder »falsch« synonym ist. Als Beispiele werden angeführt: »böse Luft« für »schlechte Luft«, »böses Korn« für »minderwertiges Korn« oder »böse Steine« für »falsche Edelsteine«. Ohne erkennbare Verbindung zu diesen verschiedenen Bedeutungen konnte »böse« schließlich auch für »fein«,
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Grimm Jakob / Grimm Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Spalten 248–255.
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Wortbedeutungen von »böse«
»gelehrt« oder »erfahren« stehen; »ein böser, ein feiner mann« lautet das Beispiel. Damit schließt die Reihe von Eigenschaften, die von einer einfachen Bewertung der Qualität als minderwertig über die Beschreibung einer Schmerzempfindung und eines Gemütszustandes bis zur einer Gesamtheit von »bösen« Zügen reichen, die in einer grausamen, bedrohlichen Gestalt, beispielsweise einem »bösen Dämon«, personifiziert sind. Aus diesen teilweise sinnlich greifbaren und zumindest anschaulichen Bedeutungen, die sich auf negative Eigenschaften beziehen, lassen sich nach dem Grimmschen Wörterbuch die abstrakten Verwendungen erklären. böse drückt sehr oft den gegensatz des guten oder nützlichen, frommen, das untaugende, nichtsnutze aus. 40 In so allgemeinem ausdruck kann es bald nur eine schwierige, bedenkliche, misliche sache, bald eine ungerechte, verworfne, schlechte bezeichnen. 41
Auffällig ist, dass hier nicht ausdrücklich auf den moralischen Sinn hingewiesen wird. Er ist im Wörterbuch der Brüder Grimm nur eine unter mehreren allgemeinen Bezügen, in die »böse« treten kann, wie derjenige der Religion oder der Brauchbarkeit von Gegenständen oder eine der vielen anderen Verwendungsweisen, die das Wort erlaubt. »Das Böse« entspricht hier also noch mehr dem lateinischen »malum« und vereinigt das malum morale und das malum physicum deutlich in seinem Bedeutungsfeld. Betrachtet man die einzelnen, als Beispiele verwendeten, Ausdrücke, so stehen jedoch diese beiden Grundbedeutungen nicht nur unverbunden nebeneinander in einem Wortfeld. Ein heuchlerischer, falscher, bedrohlicher Lügengeist, ein sündhafter, verdorbener Mensch, giftige Pflanzen, verdorbene Nahrungsmittel und verschandelte, unheimliche Landschaften bis zur »bösen« Luft können sich trotz eines veränderten Sprachgebrauchs immer noch für den heutigen Leser zu einem Gesamtbild zusammenfügen, auf das literarische Fiktionen zurückgreifen konnten und immer noch können, wenn sie eine Vorstellung von »dem Bösen« vermitteln wollen. Ein Vergleich mit einem neueren Sprachlexikon, dem Wörterbuch der deutschen Sprache des Dudenverlags, zeigt, dass inzwischen 40 41
Grimm Jakob / Grimm Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Spalte 252. Grimm Jakob / Grimm Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Spalte 254. A
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die verschiedenen Bedeutungsnuancen ihren Schwerpunkt mehr im Gebrauch des moralischen Sinnes von »böse« haben. Es teilt den verschiedenen Sinngehalt von »böse« im gegenwärtigen Sprachgebrauch in fünf verschiedene Gruppen ein. 1.
»Böse« als »schlecht, schlimm oder übel«. Entweder a) in einem moralischen Sinn verwerflich, bezogen auf einen Menschen, eine Tat oder eine Absicht. Oder b) in einem allgemeinen Sinn, etwa »ein böser Traum«, »eine böse Ahnung«, »ein böses Ende«. 2. Es kann damit der Gemütszustand einer Person gemeint sein, die ärgerlich, zornig oder wütend ist. Beispiel: »auf jemanden böse sein«. 3. »Böse« kann gleichbedeutend mit unartig oder ungezogen sein. »Ein böses Kind«. 4. Die Entzündung eines Körperteils kann »böse« sein. »Ein böses Auge« oder ein »böser Finger«. 5. »Böse« kann eine intensivierende Bedeutung annehmen, wie »sehr« oder »überaus«. Etwa »böse mitgenommen sein«. Vorangestellt wird nun der moralische Sinn, während andere Bezüge, die von diesem am weitesten entfernt sind, wie die auf Dinge, Tiere, Landschaften oder Naturphänomene nicht mehr genannt werden und veraltet erscheinen. Auch ein entzündetes Körperteil oder eine Krankheit als böse zu bezeichnen ist inzwischen weniger geläufig. Von einem Krebsgeschwür wird man eher sagen, es sei bösartig, nicht jedoch böse. Eine sehr ansteckende Seuche mit einer hohen Sterblichkeit wird man heute eher aggressiv als böse nennen. Verwandte Ausdrücke sind ferner »bösartig« gleichbedeutend mit »heimtückisch«, »gefährlich« oder »bedrohlich« und »boshaft« gleichbedeutend mit »voller Neigung Böses zu tun« oder »voll von beißendem Spott«. »Böse« ist also das, was schadet oder der Schaden selbst. Das Böse ist zerstörerisch, angriffslustig, bedrohlich und gefährlich, meist in einem gesteigerten Sinn (2. und 3. abgeschwächt) und das sowohl auf physischer wie auch auf psychischer Ebene (beißender Spott). D. h. die Negativität des Bösen ist eine gesteigerte Form des Negativen überhaupt. Das trifft insbesondere auch auf den moralischen Sinn von »böse« unter 1a) zu. Was »böse« bedeutet, soll im folgenden auf die Frage eingeschränkt werden, was »böse« in einem moralischen Sinn bedeutet, insofern das Wort auf die Handlungen und moralischen Überzeugungen einzelner Personen bezogen wird. Der frühere und auch noch 30
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Wortbedeutungen von »böse«
der jetzige Sprachgebrauch legen es nahe, das Substantiv »Böse« als eine Substanz mit eigenständiger Wirkungsmacht aufzufassen. Auf der älteren sprachlichen Grundlage lässt sich ein umfangreiches Verständnis des Bösen als malum in seinen verschiedenen Formen entwickeln, wie das Leibniz getan hat. 42 Gestützt auf den jetzigen Sprachgebrauch könnte man versuchen, wie es auch teilweise in naturwissenschaftlichen Untersuchungen geschieht, das Phänomen des Bösen im größeren Zusammenhang des Naturphänomens aggressiven Verhaltens zu verstehen, wovon das menschlich verursachte »sogenannte« Böse lediglich ein Sonderfall wäre. Ob man auf diese Weise der Komplexität des menschlichen Bösen gerecht werden kann, ist jedoch zweifelhaft, wie bereits der Hinweis auf die böse Vernunft zeigt. Unabhängig davon ist es jedoch sinnvoll, einen Ansatz für die Frage nach dem Bösen zu finden, der sich auf den bereits im gegenwärtigen allgemeinen Sprachgebrauch zentralen Bereich beschränkt – den Bereich des moralischen Handelns. Diese Einschränkung bedeutet nicht, dass es unmöglich wäre, einen späteren Bezug zu den anderen Formen des Übels oder zum Phänomen der Aggression herzustellen. Zunächst ist die Frage nach dem Bösen allerdings auch in einem großen Teil der dazu in den letzten Jahren erschienenen Publikationen, die Frage nach dem Bösen in einem moralischen Sinn. Auch mögliche alternative Sichtweisen verlangen zuerst einen möglichst präzisen Begriff vom moralisch Bösen, bevor danach gefragt wird, ob dieser angemessen ist, durch naturwissenschaftliche Erklärungen redundant oder zu harmlos. Erst wenn deutlich geworden ist, was eine adäquate Sichtweise des moralisch Bösen innerhalb eines systematischen ethischen Ansatzes ist und worin ihre Schwierigkeiten liegen, kann die Kritik über sie hinaus gehen, wie es Helmut Holzheys Anliegen zu sein scheint oder sie durch eine reduktive Sicht ersetzen.
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Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die Theodizee, 449 ff. A
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1.3 Der moralische Sinn von »böse« in Alltagssprache und -moral Bereits im allgemeinen Sprachgebrauch ohne philosophische Begriffsarbeit lässt sich wie im letzten Abschnitt gezeigt das moralisch Böse deutlich von anderen Verwendungsweisen des Ausdrucks »böse« abgrenzen. Im Anschluss daran lässt sich im Gesamtzusammenhang der verschiedenen Bedeutungen von »böse« leicht eine erste Bestimmung der Bedeutungselemente des moralisch Bösen auf der Ebene der alltäglichen Sprache und Moral durchführen. Eine »böse Handlung« ist zwar auch wie ein »böses Ende« schlecht, aber der Sinn der Negativität des moralisch Bösen ist vom Schlechten oder Schlimmen grundverschieden und beinhaltet einen nicht zu übertreffenden Grad des Schlechten. Entscheidend für jede Ausarbeitung einer Theorie des moralisch Bösen ist die Bestimmung dieser besonderen Negativität im höchsten Grad. Ebenso grundsätzlich unterscheidet sich ein Mensch, der »auf jemanden böse« ist, von einem Menschen mit einer »bösen Gesinnung«. Das Grimmsche Wörterbuch bezeichnet die erste Verwendungsweise als »subjektiv«, da sie sich nur auf die Perspektive einer Person bezieht, aus deren Sicht jemand »böse« ist, weil er oder sie auf sie zornig ist oder ihr gegenüber schlecht gesinnt ist, wie auch das »böse« Ende ein Ausgang ist, der »für jemanden schlecht« ist. Dagegen erhebt derjenige, der eine Handlung in einem moralischen Sinn als »böse« bezeichnet, einen Anspruch auf Unparteilichkeit, dem er gerecht werden muss. Im Gegensatz zur genannten subjektiven Verwendung von »böse« könnte man diese objektiv nennen. Überzeugend ist das Urteil, in dem jemand in diesem objektiven Sinn als »böse« bezeichnet wird, nur, wenn es unabhängig von den persönlichen Interessen und der Person ausgesprochen und wiederholt wird. Andernfalls legt sich der Urteilende »gut« und »böse« nach seinen persönlichen Maßstäben oder nach Nutzen und Sympathie zurecht, was dem allgemeinen Sprachgebrauch und dem moralischen Bewusstsein, das daran geknüpft ist, nicht gerecht wird. »Böse« im moralischen Sinn meint eine Negativität mit objektivem Anspruch, die nicht nur aus einer Perspektive eines Einzelnen so erscheint. Zugeschrieben wird die Eigenschaft in diesem Sinn »böse« zu sein, einer Handlung und letztlich einer Person, die sie ausführt, weder in einem deskriptiven Urteil noch in einem subjektiven Werturteil, sondern in einem normativen Urteil. 32
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https://doi.org/10.5771/9783495996997 .
Der moralische Sinn von »böse« in Alltagssprache und -moral
Wenn man jemanden in diesem moralischen Sinn als böse bezeichnet, spricht man die stärkste moralische Verurteilung aus, die möglich ist, weshalb sie selten ausgesprochen wird und im Falle der Ansicht, moralische Urteile seien nur relativ, vermieden wird oder konsequenterweise vermieden werden müsste. Soll eine Handlung böse sein und nicht nur schlecht, dann kann sie nicht nur in einer Hinsicht schlecht sein. Also etwa bezogen auf irgendeinen Zweck, eine bestimmte Person oder eine Situation. Sondern sie soll dann an sich schlecht oder uneingeschränkt schlecht sein, in Anlehnung an Kants Formulierung aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die ausgehend von der Ebene der »gemeinen sittlichen Vernunfterkenntniß« das moralisch Gute als »ohne Einschränkung gut« näher bestimmt. 43 Damit verbunden ist eine weitere Eigenschaft, die sich nach dem allgemeinen Sprachgebrauch intuitiv einer bösen Handlung zuschreiben lässt. Eine böse Handlung kann man zwar begründen, aber nicht rechtfertigen. Derjenige, der böse gehandelt hat, kann zwar angeben, welchen Zweck er damit verfolgt hat. Insofern die böse Handlung aber an sich schlecht ist, kann keiner dieser Gründe fremde Anerkennung finden und gibt, wenn man den Gedanken konsequent weiterführt, auch für den Handelnden selbst kein wirkliches Gut an. Ob sich dies so verhält, bedarf allerdings einer weiteren Begründung. Zunächst gilt aber für den allgemeinen Sprachgebrauch die Bedeutung: Was böse ist, ist nicht zu rechtfertigen, was sich rechtfertigen lässt, ist nicht böse. Einer bösen Handlung sollte nach allgemeinem Verständnis kein unabhängig Urteilender seine moralische Zustimmung geben können. Seitens des Handelnden gibt es kein Argument, womit er sie nicht lediglich erschleichen könnte. Im moralischen Urteil, eine Person oder ihre Handlung seien böse, ist nicht nur die uneingeschränkte negative Beurteilung enthalten, die Anspruch auf objektive Geltung erhebt, sondern auch die Zurechnung der Tat. Hinter der »bösen Handlung« steht der Verursacher, der bewusst »böse« handelt, mit einer »bösen Absicht«, der Verantwortung, für das was er getan hat und der Schuld, die er auf sich lädt. Bereits im Ausdruck, »auf jemanden böse« sein, im Sinn von »auf jemanden zornig sein«, ist dieser Aspekt der Intention enthalten. Nicht nur gegenüber einem Einzelnen ist ein »böser« Mensch nun böse gesinnt, sondern vor seiner Bosheit ist niemand 43
Kant, Immanuel: Grundlegung, IV 393. A
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Anforderungen an eine Theorie des moralisch Bösen
sicher. Alle anderen, die mit ihm zu tun haben, können sie möglicherweise zu spüren bekommen. Als Grundhaltung ist diese Bosheit auch nicht auf manche Umstände oder einen bestimmten Anlass beschränkt, wie beispielsweise der Affekt des Zorns, sondern sie kann sich bei jeder Gelegenheit äußern. Darin besteht die Allgemeinheit der bösen Gesinnung, die nicht von besonderen Antrieben abhängig ist, sondern aus der in beliebigen Situationen böses Handeln entspringen kann, ohne an bestimmte Personen oder bestimmte Zwecke gebunden zu sein. Gerade in der bösen Gesinnung, mit der möglicherweise zwar ein aggressiver Charakter, aber nicht lediglich ein Affekt oder ein Hassgefühl verbunden ist, besteht der Grund einer besonderen Verantwortung für das böse Handeln, die zurechenbare Schuld, die sich nicht nur auf einen einzelnen Fall bezieht, sondern auf die gesamte Persönlichkeit eines Menschen. Darin zeigt sich erneut der hohe Grad der Anschuldigung an jemanden, böse zu sein. Ein solcher Vorwurf stellt nicht nur einzelne Eigenschaften des Betroffenen oder einzelne Handlungen in Frage, sondern den gesamten moralischen Wert seiner Person. Die Zurechenbarkeit der bösen Handlung führt also zur Annahme der bösen Gesinnung und damit zu einer Unterscheidung von einer rein äußerlich als schlecht betrachteten Handlung und einer bösen Handlung, die aus einer inneren Überzeugung heraus vollzogen wird. Ebenso wie man mit Kant, aber auch schon auf der Stufe des moralischen Alltagsbewussteins, beim moralisch Guten Legalität und Moralität unterscheiden kann, gibt es einen analogen Unterschied auch bei Handlungen, die sich im Widerspruch zur Moral befinden. Deswegen ist eine Handlung nicht schon dann böse, wenn sie äußerlich betrachtet im Gegensatz zu moralischen Prinzipien steht, sondern zusätzlich setzt der Urteilende voraus, dass dem Handelnden dieser Umstand bewusst ist. Ohne mögliche Erkenntnis des moralisch Guten und eine Entscheidung, die diesem entgegen gesetzt ist, kann es nicht zu einer im vollen Sinn bösen Absicht kommen. Sich vollkommen über das moralisch Gute bewusst zu sein und diesem zuwiderzuhandeln, nicht aus egoistischen Motiven, sondern um des Widerspruchs selbst willen, um das Böse als Gegensatz der Moralität in der Welt zu befördern, wäre die äußerste vorstellbare Form der bösen Gesinnung hinter einer entsprechenden Handlung, insofern sie sich auf dieser Grundlage absehen lässt. Damit rückt der böse Wille in den Mittelpunkt des Interesses, als der eigentliche Träger der durch den Begriff vom moralisch Bösen bestimmten Eigen34
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schaft. Erst die Voraussetzung eines bösen Willens berechtigt dazu, das moralisch Böse als Phänomen mit eigener, unabhängiger und nicht reduzierbarer Wirkkraft aufzufassen. Eine einzelne, konkrete böse Absicht ohne Bezug zu Grundsätzen des Handelnden wäre nach diesen Überlegungen widersinnig. Denn die böse Absicht setzt voraus, wenn sie im vollen Sinn zurechenbar sein soll, dass der Handelnde ihren moralischen Charakter kennt, indem er ihn an allgemeinen Maßstäben misst. Dadurch setzt aber eine einzelne Absicht, die im eigentlichen Sinn böse sein soll, eine Entscheidung voraus, die auf grundsätzlichen Überlegungen beruht und daher die allgemeine Gesinnung wiedergibt, die das Handeln des Betreffenden lenkt. Aufgrund dieser Überlegungen und der Untersuchung der alltäglichen Bedeutung von »böse« im vorigen Abschnitt lässt sich eine erste Definition des moralisch Bösen formulieren. Diese besitzt die beiden Grundelemente einer besonderen Negativität, der Eigenschaft ohne Einschränkung schlecht zu sein und der Zurechenbarkeit, die zur Annahme einer bösen Gesinnung führt. Böse ist demnach, wer absichtlich und im Bewusstsein der moralischen Bedeutung eine oder mehrere uneingeschränkt schlechte Handlungen ausführt, die einem oder mehreren anderen schadet bzw. schaden, ohne dass diese Handlung gegenüber einem unabhängigen Dritten zu rechtfertigen ist. Ähnliche Definitionen, die ein herkömmliches und traditionelles Verständnis des Bösen ausdrücken, finden sich sowohl in philosophischen als auch in anderen Werken, wie z. B. bei Rawls, Neiman oder bei Baumeister 44. Hervorgehoben wird dabei häufig der Schaden, der absichtlich zugefügt wird. Dabei wird das Element der Bedeutung von »böse« in der Alltagssprache aufgegriffen, wonach das Böse »schädigend«, »angriffslustig« und »verletzend« sei. Hinzu kommt dabei manchmal noch wie bei Rawls der Gedanke, dass der Schaden um seiner selbst willen zugefügt wird. Dies deutet in die Richtung der bösen Vernunft, des Bösen um seiner selbst willen. Pöltner sieht darin das eigentliche Böse und nennt den bösen Willen den »Willen zum Widersinn«: Das eigentliche Böse ist nicht schon der bloße Gegensatz zum Guten, sondern der Wille zum Widersinn, der sagt, das Nicht-Sein-Sollende soll sein (was freilich letztlich unmöglich ist), und der Genuss dieses bejahten Widersinns.
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Baumeister 1996, 8; Rawls 1979, 478–479, Neiman 2002, 40. A
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Im Unterschied vom Übel oder dem Schlechten ist das Böse der ausdrücklich gesetzte Gegensatz. Im Bösen kommt die Verneinung des Guten zu sich. 45
Eine solche Definition berücksichtigt zwar die besondere Negativität des Bösen und wird auch den Einwänden gegen die Verharmlosung gerecht, indem sie das Böse als eigenständiges Streben betrachtet und es ermöglicht, eine böse Vernunft einzuräumen. Eine solche Negativität ist außerdem auch kaum zu steigern. Allerdings ist es fraglich, ob eine solche Festlegung des Bösen überzeugen kann. Eine solche Zuspitzung ermöglicht es nicht, schlicht instrumentelles Handeln als moralisch böse zu bezeichnen, bei dem nur der eigene Nutzen mit allen Mitteln verfolgt wird. Eine deskriptive sozialwissenschaftliche Phänomenologie des moralisch Bösen wie sie z. B. Baumeister betrieben hat, kann bereits diesen Standpunkt widerlegen. Eines der Resultate seiner Untersuchung ist der Befund des Mythos vom reinen Bösen, des »Myth of Pure Evil«, der das weitverbreitete Bild des Bösen wiedergibt. Darin enthalten ist ein Szenario des Bösen in dem unschuldigen Opfern von sadistischen Tätern Schaden zugefügt wird, ohne anderen Grund als denjenigen, Freude an diesem Schaden zu empfinden, d. h. am Bösen selbst. Dieses Bild des Bösen gibt die Sicht des Opfers wieder, die zwar berechtigterweise große Relevanz besitzt, allerdings eine Beschreibung liefert, die in den meisten Fällen nicht zutrifft. Baumeisters eigene sozialwissenschaftliche Untersuchungen und die anderer, die er heranzieht, ergeben, dass es zwar Handlungen und Umstände gibt, auf die eine solche Beschreibung zutrifft. Jedoch sind diese lediglich in der Minderzahl und viele andere Handlungen und Täter sind nicht in diesem Sinne böse, obwohl sie zumindest in einem herkömmlichen Sinn als böse bezeichnet werden, d. h. nicht zu rechtfertigende Handlungen aus einer bösen Gesinnung heraus begehen. Klare egoistische oder auch idealistische Motive, die vorhanden sind, zeichnen ein anderes Bild. Darunter sind gerade solche am häufigsten, die in einem instrumentellen Sinn als böse verstanden werden können. Auch bei den anderen Fällen, in denen scheinbar das Böse begangen wird, nur um dem Guten zu widersprechen, ist die Frage nach der Motivation angebracht. Denn auch hinter einer sadistischen Persönlichkeit könnte sich letztlich ein egoistischer Antrieb der Steigerung des eigenen Machtgefühls verbergen, anstatt eines obskuren Willens zum Widersinn, dessen Motiva45
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Pöltner 2001, 18.
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tion letztlich nicht genannt wird. Offen bleibt dennoch, wie das Extrem des Bösen zu verstehen ist, das als »Böses um seiner selbst willen« bezeichnet werden kann. Alle Definitionen werfen jedoch sofort neue Fragen auf, wie solche nach einem Kriterium für uneingeschränkt schlechte Handlungen, nach dem Grad des Bewussteins vom moralisch Guten in der bösen Gesinnung oder nach der Möglichkeit eines Bösen, das nur um seiner selbst willen begangen wird. Der Gewinn einer solchen ersten Definition besteht in den zwei wesentlichen Elementen der Bedeutung des moralisch Bösen auf der Ebene der alltäglichen Moral. Was mit dem Bösen gemeint ist, das in der Alltagssprache in moralischen Urteilen Handlungen oder Personen zugeschrieben wird, lässt sich demnach durch zwei Bedeutungselemente weiter einschränken. Das moralisch Böse zeichnet sich vor anderen Formen der Negativität dadurch aus, dass es zurechenbar und an sich schlecht ist. Gegeben ist das so verstandene Böse in einer Handlung, die aus einer bösen Gesinnung oder einem bösen Willen heraus erfolgt. Ob aber diese Auffassung haltbar ist und wie der böse Wille zu denken sei, kann nur eine ethische Systematik zeigen, in der auf dieser Grundlage ein Begriff des moralisch Bösen bestimmt wird. Wenn sich jedoch dieser normative Anspruch, der in der Alltagssprache erhoben wird, als unhaltbar herausstellt, sollte man besser aufhören vom moralisch Bösen zu sprechen, weil eine moralische Verurteilung, in der diese Eigenschaft einem Handelnden zugeschrieben wird, missverständlich, umstritten oder sogar gegenstandslos wird, insofern ihm kein Phänomen korrespondiert. Letztlich wäre es nur irreführend, von einem bösen Urheber einer Handlung zu sprechen, die entweder nicht zurechenbar oder nicht als an sich schlecht zu verurteilen ist oder keines von beiden. Denn es würde lediglich eine aggressive, bösartige oder nur in einer bestimmten Relation schlechte Handlung vorliegen. Eine solche Handlung als böse zu bezeichnen, würde darüber hinweg täuschen, dass die Eigenschaft »böse« in diesem Fall lediglich ein Synonym von »schlecht« oder »aggressiv« wäre und diesen Ausdrücken gegenüber keine weitergehende Bedeutung besitzt. Es bliebe dann in der Tat nur ein »sogenanntes Böses« übrig. Das Böse als moralisches Phänomen ernst zu nehmen, bedeutet, es als zurechenbar und an sich schlecht aufzufassen, darüber hinaus sind zunächst einmal keine zusätzlichen Annahmen nötig. Beide Charakteristika sind zwar keine hinreichenden Eigenschaften zur BeA
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stimmung des moralisch Bösen, jedoch kann man sie als notwendig auffassen, wenn ein Verständnis des moralisch Bösen formuliert werden soll, das auf dem Sinn der alltäglichen Verwendung des Wortes beruht. Ein solches Verständnis des moralisch Bösen wird in der Folge als nicht-reduktiv bezeichnet. Zunächst soll nun die Problematik dieses Verständnisses aufgezeigt werden, die in einer möglichen Unvereinbarkeit besteht.
1.4 Das Problem des moralisch Bösen in einer nicht-reduktiven Sichtweise Aus der Zurechenbarkeit und der uneingeschränkten Negativität als den Grundelementen der Wortbedeutung des moralisch Bösen, wie sie in der Alltagssprache vorausgesetzt werden kann, lassen sich in der Folge vier Thesen ableiten, indem Bezug auf Grundbegriffe der Ethik genommen wird. Diese Thesen stellen die einfachsten Grundannahmen einer nicht-reduktiven Sichtweise des moralisch Bösen dar, die es ermöglichen, eine solche von jeder anderen Auffassung des Bösen abzugrenzen. Das moralisch Böse wird als Eigenschaft mit den Bedeutungselementen von zurechenbar und an sich schlecht aufgefasst, die zurecht moralischen Phänomenen zugeschrieben werden kann, vor allem Handlungen und der moralischen Grundhaltung von Personen. In den Blick rückt hier zunächst die Ebene des individuellen Handelns, auf der die gemeinsame Eigenschaft »böse« verschiedenen Phänomenen zugeschrieben werden kann. Dies wird durch den Ansatz der Alltagssprache nahe gelegt, schließt aber eine spätere Erweiterung auf Gruppen, soziale Systeme, Institutionen usw. nicht aus. Eine nicht-reduktive Sichtweise des moralisch Bösen ist zunächst jeder Erklärungsversuch, der das Böse auf die Freiheit zurückführt. Nicht-reduktiv ist diese Sichtweise, indem sie auf die alltägliche Bedeutung der Eigenschaft »moralisch böse« bezogen ist, wie diese bisher dargelegt wurde, zu der Zurechenbarkeit gehört. Eine solche Sichtweise ist von anderen Erklärungen zu unterscheiden, die den Ursprung des Bösen nicht in der Freiheit des Handelnden sehen und seine besondere Negativität bestreiten. Solche Erklärungsversuche werden in der Folge reduktiv genannt, da sie eine der beiden elementaren Bedeutungsinhalte der Eigenschaft »böse« negieren. Es können dann Handlungen anders erklärt werden, die nach einem sol38
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chen Verständnis zu Unrecht nach gängiger Auffassung als moralisch böse gelten. Beispielsweise könnte anstelle des moralisch Bösen pathologisches Verhalten treten, das vom normalen Verhalten der psychisch Gesunden abweicht. Die sinnvolle Zuschreibung der Eigenschaft »moralisch böse« wird letztlich von solchen Auffassungen bestritten. Geklärt werden muss dann in der Folge in welchem präzisen Sinn das Böse frei ist und in welchem Sinn man seine Negativität als an sich schlecht verstehen kann. Grundsätzlich gibt es demnach zwei mögliche reduktive Positionen. Die Erste vertritt einen Determinismus zum Bösen. Nach der Zweiten ist unmoralisches Handeln immer nur relativ schlecht oder in einer bestimmten Hinsicht schlecht. Beide Positionen können außerdem miteinander verknüpft werden. Denkbar ist außerdem ein reduktiver Standpunkt, der den Determinismus und den Relativismus des moralischen Handelns insgesamt vertritt. Die Ansicht, unmoralisches Handeln sei nur aus einer bestimmten Perspektive schlecht, kann man z. B. bei Richard M. Hare finden. Bei ihm wird letztlich aus dem vormals Bösen eine amoralische Zweckrationalität, die sich nicht von einem moralischen Standpunkt aus als an sich schlecht verwerfen lässt. Um keine in sich widersprüchliche oder angreifbare Position zu vertreten, muss der Amoralist sich lediglich universeller moralischer Urteile grundsätzlich enthalten. 46 Tut er das, lässt sich kein moralisches Argument gegen seine Position anführen oder eine Verurteilung gegen sie aussprechen. Die amoralische Haltung wird so verstanden, dass der Amoralist von Fall zu Fall gegen moralische Prinzipien handelt und nicht aus einer Haltung heraus, die lediglich für die eigene Person die Gültigkeit von moralischen Prinzipien behauptet. Gegen die letztere Position ließe sich laut Hare argumentieren. Nicht vorgesehen ist eine Grundhaltung, die gegen die Moral selbst gerichtet ist oder ein Handelnder, der Schaden um des Schadens willens zufügen möchte. Wie schlüssig seine Beschreibung einer kohärenten Amoralität auch sein mag: aufgrund dieser Lücke genügt Hares Behandlung der Amoralität nicht den Anforderungen an eine Theorie des Bösen. Der teuflische Wille taucht hier nicht einmal als Möglichkeit auf, die verworfen wird. Es bleibt offen, ob das moralisch Böse versehentlich oder absichtlich übergangen wird. Bei diesem reduktiven Verständnis des moralisch Bösen, das nur amoralisches Handelns beschreibt, bleibt die Freiheit 46
Hare 1992, 253. A
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zum Verstoß gegen die Moral erhalten. Das eine Element des Begriffs des moralisch Bösen wird also beibehalten. Da Hare aber letztlich über keine Möglichkeit verfügt (bzw. eine solche auch gar nicht anstrebt), das Amoralische als an sich schlecht zu bezeichnen, wird der Begriff des moralisch Bösen aufgegeben bzw. von vorneherein nicht verwendet. Hares Ethik gibt zwar einen Maßstab dafür, was getan werden soll und was nicht, wenn man ihre Prinzipien akzeptiert. Aber in ihr muss auf die Annahme verzichtet werden, dass es die Eigenschaft des moralisch Bösen gibt, das unter keinen Umständen getan werden darf. Für Hare scheint dies die einzige Form von Moral zu sein, die durch rationale Argumentation begründbar ist. Wer gegen sie verstößt, verzichtet nur auf die Teilnahme am moralischen Diskurs und nimmt einen amoralischen Standpunkt ein. Zwei Grundansätze sind damit umrissen worden: eine naturwissenschaftliche Sichtweise, die reduktiv und deterministisch verfährt und Hares Ansatz einer reduktiven Sichtweise, die auf das moralisch Böse als uneingeschränkt Schlechtes verzichtet. Neben den bereits genannten Bedenken gegen die Verwendung des Prädikats »böse«, es sei veraltet oder begrifflich nicht zu bestimmen, lässt sich aber auch ein weiterer Grund ableiten, das nicht-reduktive Verständnis aufzugeben und zwar aus einer einfachen grundlegenden Formulierung desselben. Es zeigt sich in dieser, dass die enthaltenen Grundvoraussetzungen nicht ohne weiteres miteinander vereinbar sind. Die nicht-reduktive Sichtweise des moralisch Bösen könnte ein Problem enthalten, das sich bereits zeigt, wenn man die alltägliche Verwendung des Wortes etwas genauer betrachtet. Bereits vor allen komplexen Bedenken, die sich gegen die Möglichkeit eines Begriffs richten oder die Verharmlosung des Bösen anprangern, besteht die Schwierigkeit, die einfachen Grundeigenschaften der Zurechenbarkeit und der besonderen Negativität des moralisch Bösen miteinander zu vereinbaren. Darin besteht ein Anlass, eine dieser beiden Eigenschaften aufzugeben. Verschärft wird dieses mögliche Problem noch durch die dritte Voraussetzung, die bisher ausgeklammert wurde, aber dennoch bereits auf der Ebene der Alltagssprache gemacht wird und die den Übergang zu einer ethischen Systematik markiert: das moralisch Gute. Unabdingbar für eine nicht-reduktive Auffassung des moralisch Bösen sind nach dem Vorhergegangenen zunächst die beiden Grundelemente der Wortbedeutung von »moralisch böse«: die Zurechenbarkeit und die spezifisch moralische Negativität. Eine dritte Voraus40
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setzung, die notwendig hinzukommen muss, ist das in einem allgemeingültigen Sinn verstandene moralisch Gute. Bereits auf der Ebene der alltäglichen Sprache und Moral ist es einleuchtend, dass die Negativität des Bösen darin besteht, dass etwas zerstört oder beschädigt wird, was einen uneingeschränkt guten Wert besitzt. Dieser Wert korrespondiert der Negativität des moralisch Bösen als konträrer Gegensatz. Ein in jedem Fall und in jeder Hinsicht Schlechtes, dem ein nur relativ Gutes gegenübersteht, wäre eine widersprüchliche Konzeption. Zudem verlangt die Zurechenbarkeit des Bösen ein Handeln, das im Bewusstsein seiner moralischen Bedeutung vollzogen wird, also auch mit der Kenntnis des Guten. Danach trifft der erwähnte Vorwurf von Helmut Holzhey nicht zu, der Bezug auf das moralisch Gute würde grundsätzlich schon das Böse verharmlosen. Denn gerade die besondere Negativität des Bösen lässt sich nicht ohne die Voraussetzung des moralisch Guten verstehen, andernfalls liegt die Annahme eines Relativismus von gut und böse nahe. Man könnte jedoch niemandem gegenüber eine derartig starke moralische Verurteilung aussprechen, weil er sich nicht an das nur relative moralische Gute hält oder wenn er nicht imstande ist, das moralisch Gute zu erkennen. Auch der Relativismus verharmlost schließlich im Sinne Holzheys die eigenständige Wirkungsmacht des Bösen und wäre für ihn keine Alternative. Indem der Bezug zwischen moralisch Gutem und moralisch Bösem als kontradiktorischer Gegensatz aufgefasst wird, wird die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit des Bösen nicht von vorne herein abgestritten. Das moralisch Böse erscheint dadurch als ein realer Gegensatz und nicht lediglich als ein Mangel, womit einer der Einwände gegen eine begriffliche Fassung des Bösen zurückgewiesen werden kann. Ob diese dann gegenüber der »bösen Vernunft« zu kurz greift, muss unabhängig davon untersucht werden, da zuerst deren Möglichkeit untersucht werden muss. Die Grundlage dafür besteht aber darin, sich über die elementare Bedeutung der Eigenschaft »moralisch böse« in der Alltagssprache zu vergewissern und sich die Problematik dieser Bedeutung zu vergegenwärtigen. Denn jede noch so ausgefeilte Theorie des moralisch Bösen muss sich auf diese Bedeutung beziehen, sie weiterentwickeln oder verwerfen. Auf dieser Grundlage können die drei Grundvoraussetzungen der nicht-reduktiven Sichtweise des moralisch Bösen formuliert werden. An dieser Stelle findet der Übergang vom moralischen BewusstA
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sein, das sich aus der Alltagssprache ableiten lässt, zu einer systematischen Ethik statt, indem die Voraussetzungen durch Berücksichtigung des moralisch Guten jeweils auf Freiheit und Vernunft bezogen werden. Diese Begriffe müssen auf dieser Ebene noch nicht näher bestimmt werden. Vielmehr zeigt ihre Unbestimmtheit, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, sie zu interpretieren und in einen Zusammenhang mit dem moralisch Bösen zu bringen. Das sich in der Folge zeigende Problem, das sich aus den Voraussetzungen einer nicht-reduktiven Sichtweise des Bösen ableiten lässt, ist darüber hinaus ein Hinweis, dass gerade dieser Zusammenhang den Schwierigkeiten, vor die das moralisch Böse diejenigen stellt, die es verstehen wollen, zugrunde liegt und daher auch bei der Bestimmung der Begriffe von Freiheit und Vernunft berücksichtigt werden sollte. Es ist fraglich, ob zunächst Freiheit und praktische Vernunft ohne Bezug auf das moralisch Böse bestimmt werden können, um sie dann zur Bestimmung desselben heranzuziehen. Voraussetzung 1: die Zurechenbarkeit des Bösen 1a) Das moralisch Böse ist zurechenbar. Die Zurechenbarkeit beruht auf einer Entscheidung ohne inneren oder äußeren Zwang, also auf einer in diesem Sinn freien Entscheidung. Gleichzeitig wird ein mögliches Bewusstsein der moralischen Bedeutung des Handelns vorausgesetzt, also eine vernünftige Einsicht in die Bewertung menschlichen Handelns. Man kann daraus folgenden Satz ableiten: 1b) Das moralisch Böse ist frei und vernünftig. Voraussetzung 2: die Negativität des Bösen 2a) Das moralisch Böse ist ohne Einschränkung schlecht. Bezieht man diese Eigenschaft wiederum auf Freiheit und Vernunft, so lässt sich zunächst sagen, dass auf der Ebene der Alltagssprache uneingeschränkte Negativität zu wollen, kaum als vernünftig bezeichnet werden wird. Daraus lässt sich ableiten: 2b) Das moralisch Böse ist nicht vernünftig und nicht frei. Voraussetzung 3: das moralisch Gute 3a) Das moralisch Gute ist ohne Einschränkung gut. Das moralisch Gute ist nach gängigem Verständnis Verdienst des Handelnden und 42
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beruht auf seinen vernünftigen Entscheidungen. Daraus lässt sich ableiten: 3b) Das moralisch Gute ist frei und vernünftig. Bei jeder Voraussetzung steht unter dem Buchstaben a) die bisher aus der alltäglichen Verwendung des Wortes abgeleiteten Eigenschaften des Bösen. Ferner die aus der Ethik Kants übernommene semantische Besonderheit der moralischen Wertung jeweils ohne Einschränkung gut oder böse zu sein, die man bereits in der Alltagssprache finden kann. Es wird deutlich, dass auf der Ebene der Alltagssprache und -moral eine nicht-reduktive Sichtweise zu einem Widerspruch führen kann, der durch weitere begriffliche Differenzierungen aufgelöst werden muss. Auf den ersten Blick scheinen die Annahmen der Zurechenbarkeit des Bösen und der uneingeschränkten Negativität nicht ohne weiteres vereinbar zu sein. Außerdem besteht ein Widerspruch zwischen der Freiheit zum Guten und der Freiheit zum Bösen, wenn man Freiheit mit vernünftiger Einsicht verbindet. Bei der Suche nach Möglichkeiten diesen Widerspruch aufzulösen, kann man zunächst einmal ist festzuhalten, dass es naheliegend ist, die Zurechenbarkeit des moralisch Bösen mit einer Rationalität des Bösen zu verbinden, in welcher Form auch immer diese dann verstanden wird. Diese Rationalität des Bösen widerspricht wiederum augenscheinlich der ebenso plausiblen Voraussetzung, dass mit »moralisch böse« »uneingeschränkt schlecht« gemeint sei. Derselbe Widerspruch lässt sich zwischen der Rationalität sowie Zurechenbarkeit des Bösen und des Guten konstruieren im Hinblick auf die jeweilige moralische Qualität. Will man diese Grundvoraussetzungen beibehalten, müssen die Anteile der Freiheit und der Vernunft am moralisch Bösen und am moralisch Guten differenziert werden. Reduktive Sichtweisen des Bösen bieten eine Alternative hierzu, indem aufgrund der möglichen Unvereinbarkeit eine oder mehrere der drei Grundvoraussetzungen aufgegeben wird bzw. werden. In der Folge lassen sich auf eine erste einfache Weise die Alternativen Relativismus und Determiniertheit des Handelns im Hinblick auf das Böse beschreiben. Im ersten Fall werden die Voraussetzungen zwei und drei aufgegeben und damit die Eigenschaft des uneingeschränkt Guten sowie des uneingeschränkt Schlechten. Das Böse ist dann nur noch in einem relativen Sinn schlecht und somit kann leichter verständlich werden, weshalb es auf eine näher zu bestimmende Weise frei und vernünftig sein kann. Zugunsten der zweiten und dritten A
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Voraussetzung wird bei einer grundsätzlich deterministischen Position die erste aufgegeben. Das Böse ist als der kontradiktorische Gegensatz des Guten weder frei noch vernünftig, es bleibt uneingeschränkt schlecht. Infragegestellt wird dabei aber die Zurechenbarkeit. Eine systematische Weiterführung dieser Aussagen aus dem Bereich der Alltagssprache jedoch hat die Aufgabe, die spezifische Freiheit zum Bösen und den Anteil der Vernunft an demselben im Verhältnis zum Guten zu differenzieren. Bevor ein solcher Versuch anhand der Kantischen Theorie des Bösen unternommen werden soll, um eine nicht-reduktive Sichtweise zu entwickeln, kann die Systematik der reduktiven Positionen an dieser Stelle noch um andere Versionen gegenüber den beiden bereits genannten weiterentwickelt werden. Zu diesem Zweck lassen sich vier einfache Thesen einer nichtreduktiven Sichtweise aus den genannten Voraussetzungen der Zurechenbarkeit des moralisch Bösen, der besonderen Negativität und des moralisch Guten ableiten. Die grundlegenden Positionen ergeben sich aus der einfachen Kombination dieser Thesen oder ihrer Negation. These 1: Das moralisch Böse ist zurechenbar. These 2: Das moralisch Böse ist uneingeschränkt schlecht. These 3: Das moralisch Gute ist zurechenbar. These 4: Das moralisch Gute ist uneingeschränkt gut. Drei mögliche deterministische Varianten ergeben sich nun aus der Negation von These 1, These 3 oder aus der Negation beider Thesen, wenn man zunächst an der moralischen Qualität des Guten und des Bösen festhält. Die erste Position schränkt die Unfreiheit auf den Widerspruch zur Moralität ein, d. h. während moralisches Handeln frei ist, zeichnet sich böses Handeln im Verhältnis dazu als unfrei aus. Dass nur das Gute unfrei, das Böse dagegen frei ist, wäre die zweite Variante (Position 2). Eine dritte Alternative wäre, die vollständige Determiniertheit des menschlichen Handelns anzunehmen (Position 3). Das Böse ist in diesem Fall nicht zurechenbar, ebenso wenig wie das Gute. Die Unfreiheit des Bösen könnte bedeuten, dass es beispielsweise durch eine psychische Störung verursacht wird, die wiederum ihrerseits auf ein fehlgeleitetes Lernen oder ein entsprechendes soziales 44
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Umfeld zurückzuführen wäre. Frei wäre nur das moralisch gute Handeln, wie erwähnt, ist dies ein auch in der philosophischen Tradition mit anderen Begriffen vertretener Standpunkt. Die soziale, psychologische Bedingtheit des Bösen, etwa durch Aggression auslösende Faktoren, würde der modernen Fassung einer Sichtweise entsprechen, die das Böse auf die menschliche Endlichkeit und Unvollkommenheit zurückführt. Böse, krank und anormal wären in der modernen Fassung des Begriffs vom Bösen zusammengehörig, ebenso wie gut, gesund und normal. Schließlich könnte man in einem weiteren Schritt die Freiheit zum Guten ebenfalls leugnen und auf diese Weise dem menschlichen Handeln die Freiheit ganz absprechen. Fraglich ist es dann, unter welchen Bedingungen man ohne die Voraussetzung der Freiheit, gut und böse noch als uneingeschränkt in ihrer jeweiligen moralischen Qualität bewerten kann. Ohne religiöse Überzeugungen scheint das kaum möglich zu sein, da der Maßstab für gut und böse von außen kommen muss und dennoch verständlich werden muss, wie er auf handelnde Personen zutreffen kann. Ein Beispiel hierfür wäre die Prädestinationslehre, beispielsweise in der Fassung Calvins. Nach dieser ist die Menschheit durch die Erbsünde unfähig zum Guten. Lediglich die Gnadenwahl Gottes ermöglicht das Heil des Einzelnen. Ein vollständiger naturwissenschaftlicher Determinismus müsste dagegen konsequenterweise wohl auf moralische Wertungen verzichten. Eine weitere Variante, ist diejenige, dass nur das Böse frei wäre, das moralisch Gute jedoch nicht. Wenn man gut und böse auf die traditionell damit bezeichneten Phänomene bezieht, wäre die mögliche Folge jedoch schlicht eine Umkehrung der Werte. Während das scheinbar Gute beispielsweise nur gesellschaftlichen Zwängen entspringen würde und auf diese Weise nur aus Unfreiheit die Vorschriften der Moral befolgt werden, überschreitet das Böse diese Grenzen, die der Freiheit des Einzelnen durch die Gesellschaft gesetzt sind. Falls eine solche Position tatsächlich vertreten wurde, und das scheint beim Marquis de Sade der Fall zu sein 47 , wird durch die positive Wertung der individuellen Freiheit lediglich angestrebt, dass sich die Vorzeichen der herkömmlichen Auffassungen von gut und böse umkehren. Insofern durch das, was lediglich durch gesellschaftliche Ächtung bisher als Böse galt, die individuelle Freiheit und die Natur47
Vgl. Domenech 1989, 221 f. A
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anlagen des Menschen verwirklicht werden, wäre dieses ursprünglich böse Handeln eigentlich erstrebenswert und gut, zumindest für einzelne Menschen. Damit wäre diese Möglichkeit gleichbedeutend mit der Position einer auf das Böse beschränkten Freiheit mit einer Freiheit zum Guten, nur dass das Aggressive, der Egoismus und das Destruktive je nach Wertung die vorgenommen wird zum eingeschränkt oder uneingeschränkt Guten werden würden. Ein Relativismus, der weder gut noch böse als absolut gültig betrachtet und beide als Möglichkeiten sieht, wie sich menschliche Freiheit verwirklichen kann, wäre jedoch möglicherweise einleuchtender als diese Position, die allein die Freiheit zum Guten bestreitet. Wenn man den Anteil der Freiheit zum moralisch Bösen untersucht, sind jedoch stets die Gründe interessant, aus denen die Freiheit zum Bösen bestritten wird oder aus denen sie behauptet wird. Die folgende Übersicht enthält nochmals die wichtigsten der genannten Varianten der Unfreiheit zum guten oder bösen Handeln, die jeweils die Thesen 2 und 4 beibehalten. Position 1: Unfreiheit des Bösen Nur das Böse ist unfrei, »böse« wird zu »destruktiv« oder »aggressiv« oder aber zu einem bloßen Mangel. These 1: wird verneint, These 3: beibehalten. Position 2: vollständiger Determinismus Mit Bewertung des Bösen und des Guten. (Bsp. Prädestinationslehre) These 1 und 3 werden verneint. Position 3: Unfreiheit des Guten, Freiheit zum Bösen. These 3 wird verneint. Die zweite Gruppe von Möglichkeiten ergibt sich daraus, dass die moralische Qualität von gut und böse, wie sie aus der Alltagssprache abgeleitet werden kann, verneint wird. Das Böse ist nicht mehr uneingeschränkt schlecht oder das Gute nicht mehr uneingeschränkt gut. Man könnte die sich daraus ergebenden schematischen Standpunkte relativistische Sichtweisen des Bösen nennen. Am schlüssigsten wäre es, mit der uneingeschränkten Negativität des Bösen auch die Universalität des Guten abzulehnen. Dies würde der Annahme einer indifferenten Freiheit entsprechen (Position 4). Das moralisch Böse wäre dann nicht mehr der kontradiktorische Gegensatz des Gu46
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Das Problem des moralisch Bösen in einer nicht-reduktiven Sichtweise
ten, was als Grundlage dafür dienen könnte, beide als frei und vernünftig auf eine jeweils eigene Weise zu bestimmen. Dies entspricht auch der Definition des Relativismus wie sie Richard B. Brandt unternimmt: It is logically possible for a person X to affirm of some act A, ›A is wrong‹ (or ›obligatory‹, etc.) and for some person Y to say of the same thing ›A is not wrong‹ (›obligatory‹, etc.) and for neither statement to be incorrect.« 48
Allerdings könnte auch nur die uneingeschränkte Negativität des Bösen aufgegeben werden. Damit würde zwar das moralisch Gute weiterhin als »ohne Einschränkung gut« verstanden werden, das Böse jedoch nur »mit Einschränkung schlecht«. Ein solcher Standpunkt erscheint jedoch als widersinnig, da nicht einleuchtend ist, wie das moralisch Gute »ohne Einschränkung gut« sein kann und gleichzeitig eine Verletzung dieses Maßstabs nur »mit Einschränkung schlecht« wäre. Diese zweite Möglichkeit ergibt sich also lediglich kombinatorisch (Position 5). Eine aus denselben Gründen wie die zuletzt genannte widersprüchliche Variante ist diejenige nach der nur das Gute relativ sein könnte, das Böse jedoch nicht (Position 6). Denn wenn das Böse ohne Einschränkung schlecht ist, dann ist das nicht isoliert zu betrachten ohne Bezug auf ein uneingeschränkt Gutes, dem es widerspricht, das es zerstört oder verletzt. Konsequenterweise müsste also eine relativistische Position immer den relativen Charakter sowohl des Guten als auch des Bösen annehmen. Und selbstverständlich ist dies auch ein Problem für den Relativisten, dem die Beispiele für das geschehene moralische Böse stets vorgehalten werden können mit der Frage, ob er etwa den uneingeschränkt schlechten Charakter dieser Phänomene leugnen wolle. Daher ist es auch nicht nötig die Kombinatorik der genannten vier Thesen und ihrer Negation vollständig durchzuführen. Versionen, die einen eingeschränkten Relativismus mit einem wie auch immer gearteten Determinismus verbinden sind wohl kaum vertreten worden. In sich schlüssig ist die Einnahme einer Position eines vollständigen Determinismus und Relativismus. Die Kombination einer eingeschränkten Freiheit und eines vollständigen Relativismus ist wohl ebenfalls als reine Konstruktion interessant, da bei einem vollständigen Relativismus der Unterschied zwischen »gut« und »böse«
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Brandt 1954, 235. A
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Anforderungen an eine Theorie des moralisch Bösen
letztlich so weit eingeebnet wird, dass nicht einleuchtend ist, weshalb nur das eine frei sein soll und das andere nicht. Gemeinsam ist diesen Positionen zum Bösen, dass sie sich auf Phänomene beziehen, die aus Übereinkunft oder Herkunft als böse bezeichnet werden und dass sie versuchen, diese zu erklären und verständlich zu machen. Als Positionen, die den vollen Sinn des moralisch Bösen aufgeben, also entweder die Freiheit zum Bösen oder seine moralische Qualität, ohne Einschränkung schlecht zu sein, sind sie reduktionistische Sichtweisen. Es ist nicht plausibel, bei einem dieser Standpunkte den Begriff »das Böse« überhaupt beizubehalten. Welche dieser Perspektiven schließlich den Phänomenen, die im herkömmlichen Sinn als böse betrachtet werden, angemessen ist, lässt sich nicht allein durch einen Vergleich ihrer Grundannahmen entscheiden. Der Relativismus ist dabei der weniger interessante Gesprächspartner für eine Theorie des moralisch Bösen. Denn er muss gerade durch die Konfrontation mit einzelnen Phänomenen, die als böse gelten, seine eigene Plausibilität erst erweisen. In der Regel ist es so, dass nicht die uneingeschränkte Negativität dieser Phänomene zur Debatte steht, zu denen beispielsweise Folter, Konzentrationslager oder Grausamkeit ganz allgemein gehören können. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, den Widerspruch aufzulösen, der zwischen der Zurechenbarkeit und der Negativität des Bösen auf dieser Ebene zu bestehen scheint. Die Freiheit und die Rationalität zum Bösen angesichts seiner uneingeschränkten Negativität zu verstehen, ist die eigentliche Schwierigkeit, die sich einem nicht-reduktiven Verständnis des moralisch Bösen stellt. Interessant werden in diesem Zusammenhang Positionen, die eine eingeschränkte Freiheit zum Bösen annehmen, wenn sie auch konsequenterweise dazu führen können, dass der Begriff aufgegeben werden sollte. Jede ethische Systematik, die an der Zuschreibung der Eigenschaft des moralisch Bösen festhält, muss sich mit dem genannten Widerspruch zwischen der Zurechenbarkeit und der uneingeschränkten Negativität auseinandersetzen. Dabei ist das moralisch Böse auf die Begriffe der praktischen Vernunft, der Freiheit und des moralisch Guten zu beziehen. Das grundlegende Problem einer nicht-reduktiven Sichtweise, wie sie hier beschrieben wurde, beim Übergang von der Ebene der Alltagsmoral zur philosophischen Systematik zu beseitigen, kommt zu den Anforderungen an eine Theorie des moralisch Bösen als Grundschwierigkeit hinzu. Als ein Vorbild für eine derartige Theorie soll im folgenden Kants Theorie des radikal Bösen dar48
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Das Problem des moralisch Bösen in einer nicht-reduktiven Sichtweise
gestellt werden. Es wird sich zeigen, dass dieser Ansatz hinsichtlich der genannten Anforderungen – einen Begriff des moralisch Bösen zu formulieren, das Böse nicht zu verharmlosen und die Angemessenheit des entwickelten Verständnisses nachzuweisen – vielversprechend ist. Auch das Problem der nicht-reduktiven Sichtweise wird in einer neuen Form wieder auftauchen, der Formulierung entsprechend, die Kant der Problematik des Bösen verliehen hat.
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2. Kapitel:
Kants Lehre vom radikalen Bösen als Vorbild für eine nicht-reduktive Theorie des Bösen
2.1 Was heißt: Der Mensch ist von Natur aus böse? Grundsätzliche Überlegungen zur Interpretation von Kants Abhandlung »Über das radikale Böse in der menschlichen Natur« Kants Abhandlung »Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem Guten: Oder Über das radikale Böse in der menschlichen Natur« hat Ablehnung und Kritik hervorgerufen seit sie zuerst in der Berliner Monatsschrift und dann als erstes Stück von Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft erschienen ist. 1 Häufig ist diese Abhandlung als Versuch verstanden worden, das Dogma der Erbsünde in eine neue Form zu bringen und so aufrecht zu erhalten, während zum Zeitpunkt ihres Erscheinens dieses Dogma durch den Glauben der Aufklärung an Fortschritt und Selbstverantwortung des einzelnen Menschen und der gesamten Gattung fragwürdig geworden war. Oft zitiert wird Goethes Ärger über diesen scheinbaren Rückfall Kants hinter aufklärerische Positionen, dem er in einem Brief an Herder freien Lauf lässt. Es handele sich beim radikalen Bösen um einen Anbiederungsversuch, der die eigene Lehre bei gläubigen Christen populärer machen solle. Kant habe »seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenleben gebraucht hat, ihn vor mancherlei sudelhaften Vorurtheilen zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radicalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen.« 2 Der Gedanke, das radikal Böse sei eine säkularisierte Fassung des Dogmas der Erbsünde, ob er nun wertend wie bei Goethe geäußert Exemplarisch für die Zeit der Jahrhundertwende kann die gut belegte Bemerkung von Günther Fittbogen angeführt werden, die Lehre vom radikal Bösen sei das unpopulärste Stück der gesamten Kantischen Philosophie, um 1900 ebenso wie zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung. Vgl. Fittbogen 1907. In der Folge wird sich zeigen, dass diese These auch in neuerer Zeit scharf kritisiert wurde. 2 Goethes Werke. Abt. 4, Goethes Briefe. Band 103, 75. 1
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Was heißt: Der Mensch ist von Natur aus böse?
wird oder nicht, hat sich bis in neuere Zeit gehalten. Nach Christoph Schulte und Reiner Wimmer ist die spezielle Fassung der These vom radikalen Bösen bei Kant nur dann verständlich, wenn man sie vor dem Hintergrund der christlichen Erbsündenlehre betrachtet. 3 Naheliegend könnte diese Ansicht auch dadurch erscheinen, dass der Kontext, in dem diese Abhandlung steht, derjenige eines religionsphilosophischen Werkes ist. Die Abhandlung zum radikalen Bösen lässt sich zumindest aus dem Zusammenhang des umfangreicheren Werks herauslösen, da die Problematik des Bösen in diesem ersten Teil der Religionsschrift weitgehend im Rahmen der Moralphilosophie bleibt, abgesehen von der allgemeinen Anmerkung über die Gnade am Ende des Texts. Ebenfalls die Editionsgeschichte weist darauf hin, dass der erste Teil der Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft sehr gut unabhängig von dem Zusammenhang des Textes betrachtet werden kann. Denn ursprünglich geplant war eine aufeinanderfolgende Veröffentlichung der einzelnen Teile in verschiedenen Ausgaben der Berlinischen Monatsschrift von Biester. Während jedoch der erste Teil erscheinen konnte, da der Zensor Wöllner der Ansicht war, dass in ihm moralphilosophische Fragen und keine theologischen abgehandelt wurden, wurde das Erscheinen des zweiten Teils in Berlin untersagt. Um diese Zensur zu umgehen, änderte Kant die Konzeption der Abfolge von vier einzelnen Schriften und legte sie als geschlossenes wissenschaftliches Werk vor. Kant erhielt daraufhin das Imprimatur der theologischen Fakultät in Königsberg für alle vier Teile, die, nun zur Religionsschrift zusammengefasst, in Jena gedruckt wurden. 4 Es besteht also sowohl aus inhaltlicher als auch aus editorischer Sicht die Möglichkeit, den ersten Teil der Religionsschrift unabhängig von den in dieser weiter entwickelten Themen zu verstehen und den Schwerpunkt der Interpretation auf eine Theorie des moralisch Bösen zu setzen. Unabhängig davon besteht die Möglichkeit, die Religionsschrift als Ganzes zu betrachten und die Bedeutung des moralisch Bösen für Kants Religionsphilosophie zu untersuchen, wie es z. B. Hans-Olof Kvist tut 5 . Wie die vorliegende Untersuchung zeigen
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Schulte 1988, 89; Wimmer 1990, 121. Zur Editionsgeschichte: Vgl. Schulte 1988, 13–20 und Wobbermin 1968, 497–516. Vgl. v. a. Kvist 1983, 248 f. A
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Kants Lehre vom radikalen Bösen
soll, gilt lediglich der Umkehrschluss nicht, dass eine Interpretation des radikalen Bösen nur in diesem Zusammenhang sinnvoll ist. Der Titel und der zentrale Untersuchungsgegenstand dieses kurzen, aber in seinem Argumentationsgang und durch den Bezug auf fast alle grundlegenden Begriffe der Moralphilosophie Kants sehr komplexen, Texts, sprechen jedoch zunächst dafür, dass tatsächlich lediglich eine säkularisierte Version der Erbsünde vorliegen könnte. Denn mit dem »radikalen« Bösen ist das im Menschen »eingewurzelte« Böse gemeint oder mit dem ergänzenden Titel aus der Religionsschrift: die »Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten«. Eine Vielzahl von theologischen Fachtermini, die Kant auf Latein in Klammern hinter dem deutschen Begriff anführt, stellen darüber hinaus den Bezug zur christlichen Dogmatik her. Umfangreich und genau belegt wurden Kants theologische Quellen durch Josef Bohatecs klassische Abhandlung. 6 Muss also das radikale Böse in erster Linie als Versuch verstanden werden, dem Begriff der Erbsünde einen neuen, unter veränderten Zeitumständen haltbaren Sinn zu geben? Es ist zunächst festzuhalten, dass die Frage nach dem Bösen für Kant in der herangezogenen Abhandlung nicht nur die Frage danach ist, was das moralisch Böse im Hinblick auf den einzelnen Handelnden bedeutet. Sondern das über diese Frage hinausgehende, eigentliche Problem ist, wie sich die Natur des Menschen zum Bösen verhält. Oder auch: ob der Mensch als Gattungswesen von Natur aus böse ist oder nicht, wie auch zu erwarten wäre, wenn tatsächlich das Dogma der Erbsünde den Leitgedanken vorgeben würde. Es wird sich jedoch zeigen, dass diese Frage sich für Kant nicht nur deswegen stellt, weil er vom Dogma der Erbsünde ausgeht. Vielmehr sind es Konsequenzen aus seiner eigenen Ethik und Überlegungen zum moralisch Bösen, die zu dieser Frage nach der guten oder bösen Natur des Menschen führen. Diese Überlegungen sind von einer solchen Reichweite, dass der Bezug zur menschlichen Natur weder als fragwürdige Säkularisierung der Erbsünde noch als Sonderproblem der Ethik Kants erscheinen muss. Sowohl der Bestand der philosophischen Tradition als auch die Allgemeinheit des Bösen hinsichtlich seiner Verbreitung und dem zugrundeliegenden bösen Willen legen es nahe, die Frage nach dem Bösen in dieser Reichweite zu stellen. Es wird sich im Fortgang zeigen, inwiefern die Überlegungen Kants im Rahmen seiner eigenen Moralphilosophie zur notwendigen Annahme führen, 6
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Bohatec 1938.
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Was heißt: Der Mensch ist von Natur aus böse?
das Böse sei in der menschlichen Natur verwurzelt. Da der Titel diese Antwort auf die Frage einer bösen Natur des Menschen bereits vorweg nimmt, zeigt der Gedankengang der Abhandlung zum einen den Weg, der zur Ansicht führt, der Mensch sei von Natur aus böse. Zum anderen aber, wie man sich eine solche menschliche Grundeigenschaft in einem moralischen Sinn denken kann. Denn schließlich werden sowohl eine theologische Interpretation im Sinne der Erbsünde als auch ein biologisches Verständnis, das Vererbung als Ursache für das Böse in der menschlichen Natur nennt, in der vorliegenden Abhandlung als unangemessen gegenüber der Eigenart des Bösen zurückgewiesen. 7 Kant hat es dabei unternommen, eine nicht-reduktive Sichtweise des moralisch Bösen nicht nur zu formulieren und die entsprechenden Bedingungen des Bösen und seiner Erkenntnis zu benennen, sondern er hat sie auch von anderen Auffassungen abgegrenzt. Er hat ferner zu zeigen versucht, dass dieses Verständnis des Bösen den Phänomenen angemessen ist, die nach landläufiger Meinung als böse aufgefasst werden und dass es sich zurecht auf sie beziehen lässt. Stellt man die fehlende systematische Theorie des moralisch Bösen und die gegenwärtige Vielfalt der konkurrierenden Erklärungsmodelle fest, dann wird durch diese Besonderheiten bereits hinreichend begründet, dass Kants Theorie des radikalen Bösen zur aktuellen Diskussion herangezogen wird. Der Leitgedanke der vorliegenden Interpretation der Abhandlung zum radikalen Bösen ist also, dass sich die Probleme derselben ganz allgemein aus der Problematik des moralisch Bösen ergeben. Zwei allgemeine Ziele der Abhandlung über das radikale Böse spielen hier eine besonders wichtige Rolle als Schlüssel zur Interpretation und zur systematischen Rekonstruktion. Es handelt sich dabei um das grundsätzliche Anliegen Kants, das Böse in der menschlichen Natur im Rahmen der eigenen Ethik zu verstehen und den Versuch nachzuweisen, dass dieses Verständnis des Bösen den Phänomenen gerecht wird, die für gewöhnlich als böse bezeichnet werden. Für diese Ziele sind nicht nur Überlegungen Kants zur Bedingung des bösen Willens eine Rolle, sondern auch solche zur Bedingung seiner Erkenntnis. Vor der detaillierten Interpretation auf dieser Grundlage sollen nun kurz die Einleitung, die vier Abschnitte und eine allgemeine Anmerkung, in welche die vorliegende Abhandlung einge7
Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 40, Anm. 1. A
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Kants Lehre vom radikalen Bösen
teilt ist, sowie deren einzelne Aufgaben im Fortgang des Texts umrissen werden. Wie Christoph Schulte darlegt, besitzt die Einleitung eine wesentliche Funktion, indem sie »die Bedingungen der Möglichkeit des Bösen im Rahmen der autonomie-orientierten Moralphilosophie Kants« aufzeigt. 8 Es geht Kant jedoch nicht lediglich darum, die Bedingungen der Möglichkeit des Bösen im Rahmen seiner Moralphilosophie zu benennen oder die Grenzen für einen entsprechenden Begriff des Bösen in der menschlichen Natur festzulegen. Auch die Bedingungen werden erläutert, unter denen es möglich ist, zu erkennen, ob diesem Begriff Gültigkeit zukommt. Ein entscheidender Hinweis hierfür ist Kants Bemerkung: Also müßte sich aus einigen, ja aus einer einzigen mit Bewußtsein bösen Handlung a priori auf eine böse zum Grunde liegende Maxime und aus dieser auf einen in dem Subject allgemein liegenden Grund aller besondern moralisch-bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist, schließen lassen, um einen Menschen böse zu nennen. 9
Der erste Schritt, der in diesem Beweisgang vollzogen wird, ist der Nachweis einer »mit Bewußtsein bösen Handlung«. Dieser Nachweis kann nur dadurch erfolgen, dass eine gesetzwidrige Handlung begangen wird, für die es keine andere Erklärung als den bewussten Widerspruch zum moralischen Gesetz gibt. Letztlich ist die Bedingung der Möglichkeit einer bösen Handlung nichts anderes als die Zurechenbarkeit ihrer Gesetzwidrigkeit. Die Bedingung für die Erkenntnis des moralisch Bösen besteht folglich darin, den Nachweis zu führen, dass eine böse Handlung zurechenbar ist und dass mit Bewusstsein gegen das Sittengesetz verstoßen wird. Denn für Kant ist das Bewusstsein des Sittengesetzes eine Voraussetzung, die bei jedem erwachsenen Menschen mit normalen geistigen Fähigkeiten gemacht werden kann. Daher braucht dieses Bewusstsein nicht mehr eigens aufgezeigt zu werden. Obwohl Schulte hier zurecht von den Bedingungen der Möglichkeit des Bösen spricht und es darüber hinaus auch um die Bedingungen der Möglichkeit seiner Erkenntnis geht, handelt sich dabei jedoch nicht um eine transzendentale Argumentation. Henry Allison ist der Ansicht, dass Kants Behauptung, der Mensch sei von Natur 8 9
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Vgl. zum Folgenden: Schulte 1988, 37. Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 20.
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Was heißt: Der Mensch ist von Natur aus böse?
aus böse, als synthetisches »a priori« aufzufassen ist und dass Kant eine transzendentale Deduktion liefern müsste, die er schuldig bleibt. 10 Kant bezeichnet zwar im obengenannten Zitat den Schluss als a priori, mit dessen Hilfe man von den Gründen, aufgrund derer man einen einzelnen Menschen böse nennt, auf die Gründe schließen kann, aufgrund derer man der gesamten Menschheit diese Eigenschaft zuschreiben kann. Es muss sich jedoch um ein analytisches a priori handeln. Einen ersten Hinweis darauf liefert bereits die Erwähnung einer konkreten Handlung als Ausgangspunkt des Beweises. Hier liegt also ein empirisches Element vor, das nicht Gegenstand von transzendentalen Überlegungen werden kann. Kant selbst bezeichnet im Anschluss daran die nötige Untersuchung zum Nachweis des Bösen als »anthropologische Nachforschung«.11 Also ist wiederum eine empirische Untersuchung angesprochen. Am deutlichsten ist schließlich folgende Passage: Er [der Mensch] ist von Natur böse, heißt soviel als: dieses gilt von ihm in seiner Gattung betrachtet; nicht als ob solche Qualität aus seinem Gattungsbegriffe (dem eines Menschen überhaupt) könne gefolgert werden (denn alsdann wäre sie nothwendig), sondern er kann nach dem, wie man ihn durch Erfahrung kennt, nicht anders beurtheilt werden, oder man kann es als subjectiv nothwendig in jedem, auch dem besten Menschen voraussetzen. 12
Nur aufgrund der Erfahrung kann man also dem einzelnen Menschen und der menschlichen Natur die Eigenschaft zuschreiben, böse zu sein. Das Resultat kann nicht lauten, dass der einzelne Mensch notwendig böse ist, da in diesem Fall das moralisch Böse nicht frei zugezogen sein könnte. Gerade dies wäre jedoch die Konsequenz, wenn es sich beim Satz »der Mensch ist von Natur aus böse« um ein synthetisches a priori handeln würde. Für die Abhandlung zum radikalen Bösen bedeuten diese Überlegungen drei nun noch genauer zu bestimmende Beweisziele. Erstens: Die Möglichkeit des Bösen bei einem einzelnen Menschen ist Allison 1990, 154–157. Daß wir aber unter dem Menschen, von dem wir sagen, er sei von Natur gut oder böse, nicht den einzelnen verstehen, …, sondern die ganze Gattung zu verstehen befugt sind: kann nur weiterhin bewiesen werden, wenn es sich in der anthropologischen Nachforschung zeigt, daß die Gründe, die uns berechtigen, einem Menschen einen von beiden Charakteren als angeboren beizulegen, so beschaffen sind, daß kein Grund ist, einen Menschen davon auszunehmen, und er also von der Gattung gelte.« Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 25. 12 Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 32. 10 11
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nachzuweisen und im Rahmen der Kantischen Moralphilosophie zu konzipieren. Zweitens: Aus dieser Konzeption sind Gründe abzuleiten, die es erlauben die Eigenschaft »moralisch böse« in einer angemessen Formulierung der menschlichen Natur zuzuschreiben. Und schließlich: der Anfangspunkt dieser Überlegungen soll gesichert werden, indem gezeigt wird, dass sich eine konkrete gesetzwidrige Handlung nur als Handlung verstehen lässt, die »mit Bewusstsein gesetzwidrig« ist. Damit wird eigens der Wirklichkeitsbezug der Konzeption hergestellt. Aus diesen drei Beweiszielen lässt sich der Gedankengang in der Einleitung und den vier Abschnitten der Abhandlung zum radikalen Bösen rekonstruieren. Zunächst liefert die Einleitung eine Bestimmung des Begriffs, die auf einen einzelnen Menschen bezogen ist und die Bedingungen, unter denen die Erkenntnis der Wirklichkeit der bösen Natur des Menschen möglich ist. Die Abschnitte I und II weiten dann diesen Begriff auf die menschliche Gattung aus. Gezeigt wird an dieser Stelle noch nicht, wie Schulte glaubt, bereits die Wirklichkeit des Bösen in dieser Form. Das zentrale Lehrstück dieses Teils ist der Begriff des Hangs zum Bösen, aber dies ist erst die mögliche begriffliche Fassung einer bösen Natur des Menschen, die gleichzeitig frei zugezogen ist. Erst im Abschnitt III versucht Kant die Wirklichkeit dieses Hangs zum Bösen nachzuweisen und benennt erneut die Bedingungen zu seiner Erkenntnis. Übersieht man diesen Aspekt, besteht die Gefahr, die Seiten von »Wenn nun aber gleich das Dasein dieses Hanges …« bis zum Schluss (VI, 35 – VI, 39), als eine reine Wiederholung aufzufassen, die gegenüber dem II. Abschnitt nicht viel neues über den Hang zum Bösen enthält. Tatsächlich wird jedoch hier der Begriff dieses Hangs um zwei Gesichtspunkte erweitert, die sich aus der Perspektive seines Wirklichkeitsbezugs ergeben. Abschnitt IV enthält schließlich den Vergleich dieser Position einer moralischen Erklärung der Auffassung, weshalb der Mensch von Natur aus böse sei, mit anderen, indem über den Hang zum Bösen hinaus nach dem Ursprung des Bösen gefragt wird. Den Übergang zu religionsphilosophischen Überlegungen, die in diesem Zusammenhang nicht einbezogen werden müssen, enthält die allgemeine Anmerkung, die nach der moralischen Besserung des Menschen fragt und dabei die Möglichkeiten der Religion benennt. Nachdem zuvor bereits die These eingeschränkt wurde, die Abhandlung zum radikalen Bösen ließe sich ausschließlich auf der Basis eines äußeren Einflusses durch die Erbsündelehre deuten, lässt sich 56
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Was heißt: Der Mensch ist von Natur aus böse?
nun eine weitere These heranziehen, die für die Interpretation eine wichtige Rolle spielt. Sie schließt sich an die Frage nach dem Anlass an, der Kant gerade zu dieser Zeit dazu bewogen haben mag, dieses Thema in einer kurzen systematischen Abhandlung zu untersuchen. Damit wird auch nach dem Zusammenhang der Lehre über das radikale Böse mit den übrigen Werken Kants gefragt. Es gibt über den Ort, den die Abhandlung im Werk Kants einnimmt, zwei grundsätzliche Ansichten. Entweder sie wird unabhängig vom Fortschreiten des übrigen Werks gesehen, oder aber man ist der Ansicht, die Abhandlung sei zu einem Zeitpunkt erschienen, zu dem sich Kant auch in anderen seiner Schriften mit Themen beschäftigt hätte, in deren Kontext das radikale Böse gehört. Die erste Meinung wird häufig in Verbindung mit der These geäußert, Kant habe seine Moralphilosophie durch den Bezug auf das Böse wesentlich modifiziert, das er zuvor als Problem innerhalb derselben übersehen habe. Wesentlich für die Interpretation ist nun, ob Kant einen solchen Bruch vollzogen hat, indem sich innerhalb seiner Ethik Widersprüche durch die Einführung des moralisch Bösen zeigten, die ihm im Umfeld seiner Schüler aufgezeigt wurden. Wie zuvor wäre die Alternative, dass die Problematik sich nicht aus äußeren Einflüssen oder formalen Konsequenzen ergibt, sondern aus inhaltlichen Überlegungen Kants, die seine Moralphilosophie um eine detaillierte Behandlung des moralisch Bösen erweitern. In solchen Überlegungen wären dann wiederum wichtige Hinweise für die Theorie des moralisch Bösen im allgemeinen enthalten. Die erstgenannte Meinung, es hätte zunächst ein äußerer Anlass für die Beschäftigung mit dem Thema vorgelegen und Kant würde mit vorigen moralphilosophischen Konzeptionen brechen, vertreten Christoph Schulte und Gerold Prauss. Nach ihnen hätte Kant zuvor nicht bemerkt, dass das böse Handeln im Rahmen seiner Moralphilosophie ein Problem darstellt, das unter ihren Voraussetzungen schwer zu lösen sei. Erst durch Werke seiner Schüler und Anhänger sei er darauf gebracht worden, beispielsweise durch die Briefe über die Kantische Philosophie von Karl Leonhard Reinhold oder das Wörterbuch zum leichteren Gebrauch der Kantischen Schriften von Carl Christian Erhard Schmid. 13 Der Letztere setzt beispielsweise in seinem Wörterbuch unter dem Stichwort »Autonomie« freies und moralisches Handeln miteinander gleich. Dagegen wird unter 13
Vgl. Prauss 1983, 83–92; Schulte 1988, 30–32. A
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dem Stichwort »Böses« der böse Charakter eines Menschen auf einen Akt der Freiheit zurückgeführt. 14 Dieser offenkundige Widerspruch, der direkt unter Kants Augen aus seiner Philosophie abgeleitet worden sei, könne ihm nicht entgangen sein und die Abhandlung »Über das radikale Böse« soll nach Prauss und Schulte eine direkte Antwort darauf sein. Ob Kant tatsächlich diese Werke gründlich gelesen hat und dadurch der Anstoß gegeben wurde, das radikale Böse als These zu formulieren, sei dahingestellt. Direkte Beweise wie Äußerungen oder schriftliche Anmerkungen, die Kant selbst dazu gemacht haben könnte, gibt es dafür scheinbar nicht. Die Interpretation, die damit gestützt wird, ist davon unabhängig. Sei es als Reaktion auf die von Schmid und Reinhold aufgeworfenen Fragen oder nicht, nach dieser Auffassung habe Kant weder in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten noch in der Kritik der praktischen Vernunft ausführlich genug darüber nachgedacht, wie sich das Böse im Rahmen des Konzepts der Freiheit als Autonomie begreifen lassen würde, obwohl sich durchaus einzelne Bemerkungen dazu ausfindig machen lassen. Dieses Versäumnis nachzuholen, sei nun die Hauptabsicht, die Kant verfolgt habe, als er »Über das radikale Böse in der menschlichen Natur« schrieb. Für Schulte ist aus diesem Grund der Leitfaden der gesamten Abhandlung die Zurechenbarkeit des moralisch Bösen, die fraglich werden soll, wenn freies Handeln und moralisches Handeln miteinander gleichgesetzt werden. Dieser Anlass, aus dem Kant diese Abhandlung geschrieben hätte, sei schon das Eingeständnis, dass er durch das Problem des unmoralischen Handelns zumindest in Sorge um die Einheit seiner Ethik gewesen wäre. Den Riss zu schließen, der sich zwischen der Autonomie und dem moralischen Handeln durch das Böse aufgetan hätte und dennoch der Freiheit zum Bösen gerecht zu werden, wäre dann die Aufgabe, die durch die Lehre vom radikalen Bösen vorrangig erfüllt werden sollte. Entsprechend verstehen Prauss und Schulte diese Lehre als Selbstkritik, die jedoch nicht konsequent durchgeführt wurde und in der Metaphysik der Sitten sogar wieder zurückgenommen wird. Um den Preis des offenen Widerspruchs, der zwischen der Freiheit als moralischer Autonomie und der Zurechenbarkeit des Bösen bestünde, versuche Kant letztlich seine Autonomiephilosophie in der Form 14
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Schmid, Carl Christian Erhard: Wörterbuch …, 84 und 131.
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Was heißt: Der Mensch ist von Natur aus böse?
beizubehalten, wie sie in der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft formuliert wurde, anstatt im Problem des Bösen den Anlass zu einer notwendigen Modifikation zu sehen. Ob es sich so verhält, kann nur im Zusammenhang einer genauen Textinterpretation entschieden werden. Allerdings ist die Interpretation des Status der Abhandlung »Über das radikale Böse« anfechtbar, die sie lediglich als Lösungsversuch eines zuvor übersehenen Problems versteht und so als Indiz dafür dient, Kant habe hier Selbstkritik geübt und eine Revision seiner vorigen Lehren vornehmen wollen, wobei er am Ende gescheitert sei und das Resultat dieses Versuchs wieder zurückgenommen habe. Wie dieser Interpretationsansatz vermuten lässt, versucht Kant das moralisch Böse in dieser Abhandlung verständlich zu machen, indem er es auf Grundbegriffe seiner Ethik bezieht. Dabei begründet die Zurechenbarkeit seinen Charakter als moralisches Phänomen, das zum Bereich der menschlichen Freiheit gehört, wodurch Schwierigkeiten aufgeworfen werden, die auf eine Paradoxie in seiner Philosophie deuten. Insofern lässt sich der Befund von Prauss und Schulte nicht bestreiten. Dies ist jedoch nicht das ausschließliche Thema, sondern gerade die Wirklichkeit des Bösen ist ebenso Gegenstand der Untersuchung, wie der Begriff, den man sich vom moralisch Bösen in der Moralphilosophie Kants machen kann. Dies geschieht im Rahmen dessen, was Kant, wie erwähnt, eine »anthropologische Nachforschung« nennt. Anthropologie ist hier, nach der Vorrede der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten oder nach der allgemeinen Einleitung zur Metaphysik der Sitten, als der empirische Teil der Moralphilosophie zu verstehen. Kant unterscheidet innerhalb derselben die »Metaphysik der Sitten« und die »praktische Anthropologie«. Erstere wird als »System der Erkenntnisse a priori aus Begriffen« definiert, wobei die Metaphysik auch noch die Anwendung ihrer Grundsätze auf die besondere Natur des Menschen umfasst. Ergänzt wird die reine Moralphilosophie durch die Anthropologie. Diese enthält die empirische Menschenkenntnis, die für die Morallehre relevant ist, d. h. die Bedingungen der menschlichen Natur, die entweder die Ausführung der moralischen Gesetze behindern oder fördern. 15 Genau das trifft auf die Abhandlung »Über das radikale Böse zu«. Ihr Gegenstand sind die grundlegenden Bedingungen in der menschlichen Natur, die 15
Vgl. Kant, Immanuel: Tugendlehre, VI, 217. A
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der Moralität entgegenwirken, zusammengefasst unter dem Begriff des Hangs zum Bösen. Es handelt sich also um eine praktisch-anthropologische Untersuchung, in der moralische Prinzipien auf die empirische Menschenkenntnis angewandt werden. Eine solche Untersuchung hätte jedoch weder in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, noch in der Kritik der praktischen Vernunft ihren systematischen Ort finden können. Allein daraus, dass sie sich in der Tat dort nicht befindet, kann man nicht ableiten, Kant hätte die Schwierigkeit übersehen und deswegen die Lehre über das radikale Böse später entwickelt, um diese Lücke zu schließen. Interpretiert man Kants Abhandlung so, besteht die Gefahr, dass die in seinem Sinn anthropologischen Elemente dieses Texts zu sehr in den Hintergrund treten. Als solche kann man zumindest die Leidenschaften und die Stufen des Hangs zum Bösen auffassen, damit also zwei wesentliche Gegenstände des Texts. Schließlich lässt sich auch der gesamte Umstand, dass der Mensch überhaupt vom moralischen Gesetz abweicht, nicht a priori erkennen, sondern nur empirisch. Auch diese Themen und der praktisch-anthropologische Charakter der Abhandlung verweisen auf den systematischen Kontext der Werke Kants, mit denen sie etwa zeitgleich erschienen ist: Die Metaphysik der Sitten und die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in denen sich einige thematische Parallelen zur Abhandlung über das radikale Böse finden. In der Anthropologie behandelt eine zentrale Passage das Thema der Leidenschaften 16 und in der Metaphysik der Sitten spielen die Laster eine gewichtige Rolle beim ersten Gebot aller Pflichten gegen sich selbst. 17 Man kann also auch nicht ohne weiteres behaupten, Kant hätte die Erkenntnisse aus seiner Abhandlung über das Böse wieder in der Metaphysik der Sitten zurückgenommen. Aufgrund dieser Zusammenhänge kann man also feststellen, dass mit dem radikalen Bösen nicht nur eine Lehre nachgereicht wird, die ein Versäumnis beseitigen soll. Ob das Problem, das in ihr aufgeworfen wird, tatsächlich auch gelöst wird, verdient noch eine nähere Betrachtung. Es spricht jedoch nichts dagegen, dass der Zeitpunkt des Erscheinens dieses Texts der durch den Systementwurf vorgegebenen Chronologie der anderen Werke Kants zur Moralphilosophie entspricht, die von der reinen Moralphilosophie der Kritik der praktischen Vernunft zur Metaphysik der Sitten fortschreiten, in 16 17
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Kant, Immanuel: Anthropologie … VII, 265–274. Kant, Immanuel: Tugendlehre. VI, 420.
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Was heißt: Der Mensch ist von Natur aus böse?
die anthropologische Überlegungen einbezogen sind. 18 Kant selbst spricht dies deutlich aus, wenn er betont, die Abweichung vom Sittengesetz durch das Böse und ihre Konsequenzen seien der moralischen »Ascetik« zuzurechnen, also der Aufgabe Moralität zu vermitteln, während die Dogmatik, der Begriff des Sollens und seine Geltung, davon unberührt bleiben. 19 Für eine Kontinuität der Religionsschrift und der vorangegangenen Schriften zur Moralphilosophie sprechen außerdem die zahlreichen gemeinsamen Lehren. Dazu gehören der Rigorismus, der nur eine einzige oberste Maxime erlaubt, die Annahme eines Sittengesetzes selbst und andere Lehrstücke, die im Laufe der Interpretation deutlich gemacht werden. Vertreten wird diese Position außer von Eric Weil auch von Henry Allison. 20 Entscheidend ist jedoch vor allem, ob Kant seine Konzeption der Freiheit als Autonomie geändert hat. Allison geht gerade darauf nicht ein. Folgende Leitgedanken der vorliegenden Interpretation und systematischen Rekonstruktion lassen sich nun an dieser Stelle zusammenfassen, neben den Zielen, das Böse beim sowohl beim einzelnen Menschen als auch bei der menschlichen Gattung zu konzipieren und den Wirklichkeitsbezug dieser Konzeption nachzuweisen: Das radikale Böse ist demnach kein Konstrukt, das nur aus dem Versuch abgeleitet wird, das Dogma der Erbsünde zu säkularisieren. Auch wenn Kant dieses Dogma schließlich auf das radikale Böse bezieht, ist die Frage nach der Grundbeschaffenheit der menschlichen Natur in dieser Hinsicht durch grundsätzliche Überlegungen zum moralisch Bösen bedingt. Systematisch passt die Abhandlung zum radikalen Bösen in die Phase der moralphilosophischen Schriften derselben Zeit, so dass nicht allein schon aus der Tatsache des Erscheinungszeitraums gefolgert werden kann, Kant habe das Thema des moralisch Bösen zuvor übersehen. Der erste Teil der Religionsschrift dient einer grundsätzlichen Überlegung zufolge auch nicht vorrangig dazu, eine Lücke in der Ethik Kants zu schließen, wobei bisherige Konzeptionen aufgegeben werden. Vielmehr ist er der Versuch im Rahmen Dieser Ansicht ist Eric Weil: »L’absence du mal radical dans les oeuvres critiques s’explique ainsi parfaitement: sa présence serait au contraire, inconcevable à ce niveau. Il se révèle à celui qui observe l’homme et les hommes, il appartient à la métaphysique morale qui, elle, est tenue de développer le système des devoirs, non de fonder le concept du devoir. Il appartient à l’anthropologie.« In: Weil 1970, 150. 19 Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 50. 20 Allison 1990, 52. 18
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dieser Ethik das moralisch Böse zu verstehen. Schwierigkeiten, die dabei auftauchen, können zwar möglicherweise so verstanden werden, dass sie aus dem später hergestellten Bezug zur Erbsünde oder aus Schwächen der Ethik Kants herrühren. Insgesamt kann die Interpretation sich also darauf stützen, dass hinter der Beschäftigung mit dem Bösen ein Interesse Kants daran besteht, dieses Thema im Rahmen seiner Moralphilosophie angemessen zu behandeln. Es muss weder ein äußerer Anlass in Form eines theologischen Anliegens oder einer Anregung durch die Schüler zum Verständnis herangezogen werden, noch der Versuch, einen offen zutage liegenden Widerspruch zu verbergen, der sich lediglich aus der Eigenart der Kantischen Ethik ergibt. Wie sich zeigen wird, sind die Schwierigkeiten, die sich Kant stellen, außerdem solche, mit denen jeder Versuch konfrontiert ist, das moralisch Böse angemessen zu verstehen.
2.2 Der Begriff des Bösen in der Moralphilosophie Kants Die Frage nach der guten oder bösen Natur des Menschen stellt Kant zuerst, indem er zwei Positionen miteinander konfrontiert. Um diese Dimension der Frage nach dem Bösen zu rechtfertigen, kann man nicht nur auf die Tradition verweisen, aus der das Dogma der Erbsünde hervorgegangen ist. Es werden zwei Grundhaltungen genannt, die das Verhältnis der menschlichen Natur zur Moralität beschreiben, die beide eine lange Überlieferungsgeschichte für sich in Anspruch nehmen können. Beide beziehen sich auf die moralische Entwicklung der Menschheit in einer historischen Perspektive. Auf die ältere Reihe von Vorgängern können nach Kant die Pessimisten verweisen, welche die Autoren des Alten Testaments ebenso zu den Ihrigen zählen können, wie die ältesten Verfasser von Mythen der klassischen Antike, wie beispielsweise des Mythos vom goldenen Zeitalter. Ihrer Ansicht nach, unterliege die Menschheit von Generation zu Generation einem zunehmenden moralischen Verfall. Die gegenteilige Meinung schreibt Kant Philosophen wie Seneca und Rousseau zu. Unter seinen aufgeklärten und aufklärenden Zeitgenossen würden vor allem wohlmeinende und philanthropische Pädagogen diese Meinung vertreten, eine »heroische und gutmütige« Überzeugung, wie er es mit einem leicht ironischen Beiklang formuliert. Eine Überzeugung, die nicht auf die Erfahrung zu stützen sei, sondern nur auf den Widersinn, der darin liege, den Menschen körperlich von Na62
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tur aus gesund anzunehmen, moralisch jedoch von Geburt an verdorben. Es bestünde nach diesen Denkern noch Hoffnung, den ursprünglich guten Charakters der menschlichen Gattung wiederherzustellen, wenn auch der Mensch, so wie er jetzt erscheint nicht gut ist. Nachdem die beiden Lager umrissen sind, wird eine weitere Alternative aufgezeigt. Diese besteht in der mittleren Position der neutralen Indifferenz oder der Gleichzeitigkeit von gut und böse in der Gesinnung oder der Natur des Menschen. Nun beginnt eine kurze Klärung des Begriffes »böse« im Rahmen von Grundbegriffen der Kantischen Ethik wie Maxime und moralisches Gesetz. Allgemein bedeutet »böse« danach »gesetzwidrig«, d. h. gegen das moralische Gesetz als höchsten Maßstab gerichtet, der das an sich Gute festlegt. Analog zu seiner Unterscheidung von Legalität als äußerer Übereinstimmung mit der Pflicht und Moralität als Handeln um der Pflicht willen, nennt Kant auch in der Negation des moralisch Guten zwei Stufen: ein rein äußeres Zuwiderhandeln gegen das Sittengesetz und die Amoralität desjenigen, der aus einer bösen Gesinnung heraus handelt. Ein Mensch, der eine gesetzwidrige Handlung begeht, ist erst dann auch tatsächlich im moralischen Sinn »böse«, wenn er sie aus einer freien Entscheidung heraus vollzieht. »Gesetzwidrig« und »frei« d. h. »zurechenbar« sind also die beiden Elemente, die notwendig sind, um den moralischen Begriff des Bösen von anderen möglichen Auffassungen über das Böse abzugrenzen. Einerseits gegenüber dem Bösen als nur relativ Schlechtem, andererseits gegenüber dem Übel, das nicht durch das freie Handeln von Personen verursacht wird. Es finden sich also hier beide Elemente aus der zuvor durchgeführten Untersuchung der Alltagssprache wieder. Wichtig ist aber der Hinweis, dass nicht nur die Zurechenbarkeit des Bösen von Kant als wesentlich angesehen wird, sondern auch seine Gesetzwidrigkeit, d. h. seine Negativität. Nicht nur die Zurechenbarkeit des Bösen ist der Leitfaden der Abhandlung, wie etwa Christof Schulte meint, und damit die Frage nach dem Verhältnis des Bösen zur menschlichen Freiheit. Die Problematik besteht gerade darin, dass das Böse als frei und gesetzwidrig gedacht werden soll. Also geht es um das Verhältnis zwischen dem Bösen, der Freiheit und der Verbindlichkeit des moralischen Sollens. Wenn eine böse Handlung frei ist und damit nicht aus Naturkausalität ableitbar, muss der Grund dieser Handlung in einer Maxime liegen, d. h. in einer allgemeinen Regel, die sich die Willkür selbst A
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zur Handlungsorientierung setzt. Dies ist keine Neukonzeption des moralisch Bösen gegenüber den Passagen älterer Werke, in denen Kant auf dieses Thema Bezug genommen hat. Auch nach der Kritik der praktischen Vernunft ist eine böse Handlung auf eine gesetzwidrige Maxime zurückzuführen und damit auf den Willen der handelnden Person. Das Gute oder Böse wird also eigentlich auf Handlungen, nicht auf den Empfindungszustand der Person bezogen; und sollte etwas schlechthin (und in aller Absicht und ohne weitere Bedingung) gut oder böse sein oder dafür gehalten werden, so würde es nur die Handlungsart, die Maxime des Willens und mithin die handelnde Person selbst, als guter oder böser Mensch, nicht aber eine Sache sein, die so genannt werden könnte. 21
Schließlich müssen böse Maximen aus einer obersten Maxime abgeleitet sein. Denn die Einstellung zum moralischen Gesetz im Falle des Bösen kann nur in einer gegen dieses gerichteten, höchsten Maxime ausdrückt sein, einem subjektiven Prinzip, aus dem alle anderen Maximen des bösen Willens abgeleitet werden. Die oberste gesetzwidrige Maxime begründet die böse Grundhaltung einer Person. Nachdem Kant das moralisch Böse in einer obersten Maxime begründet sieht, führt er die Bestimmung des Begriffs des Bösen an die Frage nach der guten oder bösen Natur des Menschen heran. Es geht an dieser Stelle noch nicht darum, ob der Mensch tatsächlich von Natur aus gut oder böse ist, sondern nur, was es bedeuten kann, dass er überhaupt von Natur aus eine dieser beiden Eigenschaften besitzt, gleichgültig welche es dann tatsächlich ist. Da es in diesem Zusammenhang um eine Eigenschaft der menschlichen Freiheit geht, muss der Ausdruck »von Natur aus gut oder böse« eine besondere Bedeutung erhalten. Nicht gemeint sein kann, dass der Mensch durch natürliche Gesetzmäßigkeiten wie Vererbung oder körperliche Beschaffenheit als Gattungswesen böse ist. Denn das würde der Freiheit zum Bösen widersprechen und seine Zurechenbarkeit aufheben. Auf einen einzelnen Menschen bezogen, bedeutet seine gute oder böse Natur nach den in die Problematik des Bösen einleitenden Bemerkungen Kants: den »subjektiven Grund des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt (unter objektiven moralischen Gesetzen)« 22 . Dieser »subjektive Grund« wird in der Folge von Kant auch mit der GeKant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. V, 60. Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 21. An dieser Stelle bezieht Kant die Eigenschaft des moralisch Guten »uneingeschränkt« oder wie er es hier formuliert »schlecht-
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sinnung oder dem moralischen Charakter eines Handelnden gleichgesetzt. Die Natur eines einzelnen Handelnden ist damit gleichbedeutend mit seiner moralischen Grundhaltung, aus der heraus spezielle Maximen und die entsprechenden Handlungen erfolgen. Diese Orientierung wird durch die oberste Maxime seines Willens festgelegt, so dass diese gleichzeitig der »subjektive Grund des Gebrauchs der Freiheit überhaupt« oder die Natur eines Handelnden genannt werden kann. Damit ist also ein Wesenszug einer Person gemeint und keine Eigenschaft, die in einem biologischen Sinn natürlich wäre. »Von Natur aus« bedeutet jedoch in diesem Zusammenhang noch mehr. Gerade da es sich beim subjektiven Grund der Handlungen um die oberste Maxime handelt, ist deren Annahme nicht weiter erklärbar. Einer höchsten Maxime könne keine andere Maxime vorangehen, nach deren Vorschrift sie selbst angenommen werden würde, denn das würde zu einem unendlichen Regress führen. Daher verleiht Kant der Natur eines Handelnden in dieser Form den Zusatz »vor aller in die Sinne fallender Tat« 23 . Die moralische Grundhaltung eines Menschen in Gestalt einer obersten Maxime muss dann Kant zufolge von Geburt an angelegt sein, da sie aus keiner ersten Annahme einer Maxime abgeleitet werden kann. Denn auf diese Art entstünde ein unendlicher Regress, da zur Annahme einer Maxime immer wiederum eine andere notwendig wäre. Der Gebrauch der Freiheit beruht nach Kant auf einer solchen obersten Maxime und bringt sie nicht erst hervor. Er soll also angeboren sein. Dennoch muss diese Grundhaltung, von Kant auch »der moralische Charakter« genannt, nach seinen eigenen Überlegungen auch zurechenbar sein. Also muss die Art und Weise, wie dieser subjektive Grund des Gebrauchs der Freiheit in jedem einzelnen Menschen von Geburt angelegt ist, mit der menschlichen Freiheit vereinbar sein. Dies scheint ein offen zutage liegender Widerspruch zu sein, da versucht wird, miteinander Unvereinbares in einem Begriff zu fassen, eine moralische Grundhaltung, die frei erworben und dennoch angeboren sein soll. Kant wird im Anschluss versuchen, diesen Widerspruch durch den Begriff einer intelligiblen Tat aufzulösen, der im Zusammenhang mit der These des Hanges zum Bösen steht. hin gut« zu sein, auch auf das moralisch Böse, das »schlechthin böse« sei, unabhängig von Absichten und Bedingungen unter denen es geschieht. 23 Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 21. A
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Bisher war von der bösen Natur des Menschen nur die Rede, insofern sie sich bei einem einzelnen Menschen als eine Grundhaltung oder als ein Grundzug seines moralischen Charakters äußert. Allerdings ist bereits durch die Wahl des Wortes »Natur«, um die Eigenschaft eines einzelnen Menschen zu beschreiben, nahegelegt, diese Eigenschaft auf die menschliche Gattung auszudehnen. Dies gilt in diesem Fall um so mehr, als sich die oberste Maxime, in der sich die gute oder böse Gesinnung ausdrückt, auf das Sittengesetz bezieht, das nach Kant als Maßstab des uneingeschränkt Guten in jedem Menschen gegenwärtig ist. Während das Gute auf diese Art bei jedem Menschen vorauszusetzen wäre, müsste man danach fragen, ob die Möglichkeit zum Widerspruch gegen dieses Gute auf derselben grundlegenden Stufe, auf der das Sittengesetz konzipiert wird, nur auf einige Menschen beschränkt sei oder nicht. Für Kant ist eine solche Einschränkung von vorne herein nicht plausibel, dennoch verlangt er eigens einen Beweis dafür, dass der Mensch als Gattungswesen einen bösen moralischen Grundcharakter besitzt. Da dieser moralische Grundcharakter folglich nicht nur dem Einzelnen zuzuschreiben sein soll, sondern auch der gesamten Menschheit, entspricht der so eingeführte »subjektive Grund des Gebrauchs der Freiheit« der Natur jedes Menschen. Wiederum ist damit nicht eine Eigenschaft des Menschen gemeint, die sich als biologische Eigenart der Gattung erklären lässt, sondern ein Wesenszug des Menschlichen, der sich gerade aus den biologischen Eigenschaften nicht ableiten lässt und dennoch von Geburt an vorausgesetzt werden muss. Zusätzlich muss jedoch der Einzelne die Verantwortung für diese Grundhaltung tragen, worin sich wiederum eine Paradoxie zeigt, die sich dem Verständnis des Bösen entgegenstellt. Diese besteht in einem Gegensatz zwischen persönlicher Verantwortung und allgemeiner Verbreitung des Bösen. Der Anspruch an die Beweisführung wird dadurch erhöht. Denn gezeigt werden soll nicht mehr nur, dass bei einem Menschen, der auf eine zurechenbare Weise böse sein soll, ein entsprechender moralischer Charakter von Geburt an vorhanden sei, sondern dass man einen solchen ausnahmslos bei der gesamten menschlichen Gattung voraussetzen kann. In der abschließenden Anmerkung zur Einleitung wird zusätzlich noch die Ansicht zurückgewiesen, der Mensch könnte von Natur aus oder seiner Grundorientierung nach weder gut noch böse bzw. beides sein. Die Vertreter dieser Meinungen nennt Kant »Latitudinarier« und unterscheidet sie weiter in »Indifferentisten« und »Synkre66
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tisten«. »Latitudinarier« ist eine Wortbildung, die auf dem Gegensatz zum moralischen Rigorismus beruht. »Rigorismus« bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es für den einzelnen Menschen, der frei und vernünftig handelt, keine gleichgültige Haltung zum moralischen Gesetz geben kann. Die Begründung dieser Ansicht liegt in der Annahme, dass das moralische Gesetz notwendigerweise eine Triebfeder für jeden menschlichen Willen darstellt. Ist seine Wirkung aufgehoben, kann daher nicht ein bloßer Mangel die Ursache sein oder auch eine mögliche moralische Indifferenz, sondern nur eine Entscheidung gegen das Gesetz. 24 Diese Entscheidung für das Böse wiederum muss wie erwähnt die Form einer ersten Maxime besitzen, d. h. einer obersten Maxime, da die Entscheidung für das Sittengesetz ebenfalls die Form der Allgemeinheit verlangt. Sie ist die Annahme einer obersten Maxime, die das Böse dem logischen Rang des kategorischen Imperativ entsprechend in eine oberste Maxime aufnimmt, aus der sich alle anderen Maximen eines Handelnden ableiten. 25 Jemand, der sich dieses Kriteriums bewusst ist, das besagt, Maximen durch ihre Verallgemeinerbarkeit auf ihre Moralität hin zu prüfen, kann dem kategorischen Imperativ, der keine Ausnahmen erlaubt, nur auf einer ebenso allgemeinen Ebene negieren. Da jeder Mensch, dem seine Handlungen zugerechnet werden können, diesen obersten moralischen Maßstab nach Kant in sich trägt, können die beiden möglichen grundlegenden Ausrichtungen des Willens nur darin bestehen, ihn entweder zu befolgen, also gut zu sein, oder ihn Dieses Verständnis einer eigenen Wirkkraft des Bösen hat Kant nicht nur in der Abhandlung »Über das radikale Böse« vertreten. Auch hier zeigt sich eine Kontinuität in seinem Denken über das Böse, die von dem Versuch über die negativen Größen bis zur Metaphysik der Sitten reicht. Selbst die Formulierungen ähneln sich trotz des Zeitabstands dieser Werke: »Wenn das Gute = a ist, so ist sein kontradiktorisch Entgegengesetztes das Nichtgute. Dieses ist nun die Folge entweder eines bloßen Mangels eines Grundes des Guten = 0, oder eines positiven Grundes des Widerspiels desselben = - a.« Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 23. »Der Tugend ist = + a ist die negative Untugend (moralische Schwäche) = 0 als logisches Gegenteil (contradictorie oppositum) das Laster aber = – a als Widerspiel (contrarie s. realiter oppositum) entgegengesetzt.« Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten … VI, 384. Vgl. auch S. 15 f. dieser Arbeit. 25 Etwa nach der ersten Formel des kategorischen Imperativs aus dem zweiten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: »Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.« Kant, Immanuel: Grundlegung … IV, 421. 24
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abzulehnen und folglich böse zu sein. Es gibt keine Alternativen, die dazwischen liegen. Auf diese Weise formuliert die Einleitung zur Abhandlung »Über das radikale Böse« den begrifflichen Rahmen, innerhalb dessen nach Kant das moralisch Böse in der menschlichen Natur zu denken ist. Gleichzeitig deuten sich bereits die Schwierigkeiten an, die mit dieser Erklärungsweise verknüpft sind. Wie erläutert, ist das moralisch Böse dadurch bestimmt, frei gewählt und gesetzwidrig zu sein. Als solches kennzeichnet es den Zustand eines Willens, der nur in einer ablehnenden Grundhaltung zum moralischen Gesetz bestehen kann, die in einer obersten gesetzwidrigen Maxime begründet ist. Weshalb diese Maxime angenommen wurde, lässt sich nicht weiter erklären. Der »subjektive Grund für den Gebrauch der Freiheit« muss so gedacht werden, dass er von Geburt an vorhanden ist und dennoch frei gewählt wurde. Ist dieses Verständnis des Bösen zunächst auf den Einzelnen bezogen, soll es letztendlich auf die Gattung ausgedehnt werden, deren böser Wesenszug unter diesen Bedingungen beschrieben werden soll. Damit sind zunächst die begrifflichen Bedingungen genannt, unter denen das Böse in der Kantischen Ethik als Grundverhältnis eines freien Willens zum moralischen Gesetz denkbar ist, das man möglicherweise allen Menschen zuschreiben können wird. Um die Vorgehensweise zu bestimmen, die nötig ist, damit das so verstandene moralisch Böse auch als wirklich erkannt werden kann, zieht Kant ebenfalls in der Einleitung die ersten methodischen Konsequenzen aus seiner begrifflichen Bestimmung des moralisch Bösen. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten formulierte Kant die Einsicht, dass die Moralität einer Handlung nicht durch äußere Erfahrung erkennbar ist, da man die zugrundeliegende Maxime nicht empirisch erfassen könne. 26 Die äußere Erfahrung allein kann auch die böse Gesinnung hinter einer gesetzwidrigen Handlung nicht verständlich machen. Dennoch gibt es eine Asymmetrie zum Guten. Obwohl der böse Wille sich nicht äußerlich zeigt, erlaubt doch eine Handlung, die gesetzwidrig ist und von einem Menschen begangen wurde, der sich im Zustand der Zurechenbarkeit befindet, den Schluss auf eine böse Maxime. Anders als im Fall einer legalen Handlung, die auch aus nichtmoralischen Motiven begangen werden kann, kann bei einer gesetzwidrigen Handlung, die zurechenbar ist, auch 26
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ein bewusster Widerspruch zum Sittengesetz in Form einer Maxime vorausgesetzt werden. Daher muss die Wirklichkeit des Bösen in einem einzelnen Fall und ebenso, wenn es um einen Wesenszug der Menschheit geht, aus einer bösen Handlung geschlossen werden können, die mit Bewusstsein begangen wurde. Dies ist nur dann möglich, wenn man mit der Zurechenbarkeit auch das Bewusstsein der Moralität voraussetzen kann. Was wiederum nach Kant dann zutreffen muss, wenn die praktische Vernunft Anteil an diesem Handeln hat, wodurch der Handelnde in der Lage wäre, sich an das Sittengesetz zu halten, dessen Einfluss er unterliegt. Andererseits muss ausgeschlossen werden, dass ein solches gesetzwidriges Handeln auf Naturkausalität zurückzuführen ist. Trifft dies zu, dann besteht auch die oberste Maxime des Handelnden in einer ablehnenden Haltung zum Sittengesetz. Stellt man fest, dass jemand tatsächlich eine böse Handlung begangen hat, also eine gesetzwidrige und zurechenbare, kann er nach dem vorherigen nur eine böse Grundhaltung haben oder von Natur aus böse sein. Ob dies auf die menschliche Gattung insgesamt zutrifft, ist schließlich vom Verständnis des Bösen in dieser elementaren Form abhängig. Ist es derart beschaffen, dass es mit Kants Worten, »keine Gründe gibt, einen Menschen davon auszunehmen«, ist die gesamte Menschheit von Natur aus böse. Zeigt man die Wirklichkeit einer bewusst gesetzwidrigen Handlung auf, lässt sich also bereits die Wirklichkeit der bösen Maxime und dadurch gleichzeitig die des subjektiven Grundes der Freiheitsgebrauches einer Person oder der obersten gesetzwidrigen Maxime daraus erschließen. Um jedoch den nächsten Schritt durchzuführen, diese Natur von der ganzen Gattung auszusagen, bedarf es eines zusätzlichen Argumentes. Dieses muss zeigen, wie oben angeführt ist, dass der Grund der einen bösen Menschen zu einem solchen macht, derart beschaffen ist, dass sein Einfluss auch bei allen anderen Menschen angenommen werden muss. Die begrifflichen und methodischen Schwierigkeiten in der Konzeption des Bösen, mit denen Kant im Rahmen seiner Ethik konfrontiert ist, lauten demnach: Wie lässt es sich miteinander vereinbaren, dass eine moralische Grundhaltung in Form einer obersten Maxime nicht abgeleitet werden kann und dennoch frei sein muss? Wenn diese Grundhaltung böse ist, weshalb hat ein Mensch sie sich dann zugezogen, obwohl er zuvor nicht böse war und gleichzeitig den Einfluss des moralischen Gesetzes in sich feststellen kann? Wenn es sich herausstellt, dass das Böse mit einem Wesenszug des Menschen A
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allgemein verknüpft ist, wie kann dann noch die Wahl des Individuums frei und nicht notwendig sein? Ferner liegt das methodische Problem darin, dass die Wirklichkeit des Bösen nach dieser Konzeption sowohl beim einzelnen Menschen als auch bei der menschlichen Gattung nachgewiesen werden soll. Kants Lösungsversuche dieser Schwierigkeiten sollen im folgenden betrachtet werden. Der elementare Widerspruch dabei stammt aus den Annahmen der Freiheit zum Bösen und der Allgemeinheit des Bösen. Diese Allgemeinheit beruht auf zwei unterschiedlichen Aspekten. Erstens ist das Böse allgemein, insofern es einen Widerspruch zum Sittengesetz darstellt, der selbst aufgrund dessen Allgemeinheit wiederum nur ebenso allgemein verstanden werden kann. Zweitens ist das Böse allgemein, insofern es allgemein allen Menschen zugeschrieben werden kann. Bevor aber diese zweifache Allgemeinheit im Hang zum Bösen ihren Ausdruck findet, zeigt Kant, dass er auch Überzeugungen der Optimisten teilt.
2.3 Ein optimistischer Auftakt: die Anlagen zum Guten Kant hat für die »heroische und gutmütige« Meinung der »wohlmeinenden Pädagogen und Philosophen«, die an den moralischen Fortschritt der Menschheit glauben, keinesfalls nur Ironie übrig. Wenn er sich tatsächlich ironisch äußert, dann ist darin auch Selbstironie mit einbegriffen. Sein eigener Gedankengang entspricht dem Argument, das er für die aufklärerische Ansicht anführt, dass es widersinnig sei, den Menschen als von Natur aus körperlich gesund, seelisch jedoch verdorben anzunehmen. So ist das Gute in der menschlichen Natur vorrangig. Kant lässt die »anthropologische Nachforschung«, die untersuchen soll, wie sich die menschliche Natur zur Moralität verhält, mit den Anlagen zum Guten beginnen. Diese Anlagen sind »ursprünglich«, was bedeutet, dass solche Anlagen Bestandteile eines Wesens sind, ohne die ein Individuum aufhört, ein solches Gattungswesen zu sein. Die Anlagen zum Guten gehören notwendig zu den Möglichkeiten, die ein Mensch in sich trägt. Der Frage nach der Moralität entsprechend sind es solche Anlagen, die sich »auf das Begehrungsvermögen oder den Gebrauch der Willkür« beziehen oder mit anderen Worten, die verschiedenen Möglichkeiten darstellen, wodurch das menschliche Handeln angetrieben sein kann und auf deren Verwirklichung es abzielt. Alle diese Zwecke sind dabei nicht nur mit 70
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der Moralität des einzelnen Menschen im Einklang, sondern sollen diese sogar befördern. Offensichtlich hat dieser Umstand noch keinen Interpreten der Religionsschrift verwundert, denn die Frage, weshalb denn die ersten beiden Anlagen die Moralität befördern sollen, taucht in den verschiedenen Kommentaren nicht auf. Diese Anlagen sind nicht dazu bestimmt, Fähigkeiten hervorzubringen, sondern sie sind Anlagen, ein Ziel zu verwirklichen, das der Bedürfnisstruktur entspricht, die zum Menschen wesentlich zugehörig ist. Also geben sie dem menschlichen Handeln Zwecke vor, die der Mensch aufgrund dieser Möglichkeiten anstrebt und die in seiner Natur angelegt sind. Diesen Zwecken sind wiederum Triebfedern zugeordnet, die das Handeln motivieren sollen. Dass sie gleichzeitig die Moralität befördern, kann plausibel mit dem Selbstzweckcharakter des Menschen als vernünftigem Wesen in Verbindung gebracht werden. Die ersten beiden Anlagen zum Guten befördern die Moralität, weil die Anlage der Persönlichkeit als dritte Anlage die beiden anderen einschließen soll. Wenn diese dritte Anlage nun die eigentliche Anlage zur Moralität darstellt und in der Empfänglichkeit der Willkür für das Sittengesetz besteht, dann müssen die beiden anderen Anlagen in irgendeiner, näher zu bestimmenden Weise es erleichtern, das Sittengesetz in die Willkür des Menschen aufzunehmen. Der Selbstzweckcharakter des Menschen wird ferner in den ersten beiden Anlagen anschaulich und inhaltlich bestimmt. 27 Außerdem liefern die Anlagen zum Guten auch einen Hinweis auf die notwendige gegenseitige Anerkennung des Selbstzweckcharakters durch ihre Sozialität und ihr Scheitern im Bösen. Dies ist ein interessanter teleologischer Aspekt der Theorie des Bösen bei Kant, dessen Ethik in der Regel als Gegensatz zu einer teleologischen Ethik betrachtet wird. Da die Anlagen zum Guten eine Entwicklung der Persönlichkeit im Einklang mit der Moral vorschreiben, zerstört das Böse auch diese Entwicklung. Und zwar in ihren körperlichen und sozialen Aspekten, die in den jeweiligen Anlagen genannt sind. Die negative Qualität des Bösen besteht zwar nach Kant im Widerspruch zum Sittengesetz, sie zeigt sich jedoch konkret auch in der Entstellung der Anlagen zum Guten. Da bei Paul Ricœur dieses Themas eine noch herausragendere Rolle spielt, wird davon im dritten Kapitel dieser Arbeit erneut die Rede sein. 28 Den teleologischen Aspekt der 27 28
Vgl. Wimmer 1990, 112. Vgl. 3.10 Teleologische Elemente in der Konzeption des Bösen bei Ricœur, S. 216 ff. A
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Kantischen Ethik hier eingehender zu analysieren würde den vorliegenden Rahmen sprengen. Daher beschränken sich die folgenden Überlegungen auf die Bedeutung der Anlagen zum Guten und ihres teleologischen Aspekts im Hinblick auf das Böse. Die erste Anlage betrifft die körperlichen Bedürfnisse des Menschen, insofern er Teil der belebten Natur ist. Kant nennt sie »die Anlage der Tierheit des Menschen, als eines lebenden.« 29 Den allgemeinen Antrieb, der ihr zugrunde liegt, bezeichnet Kant als physische, bloß mechanische Selbstliebe, die keine Vernunft erfordert. Ihre Zwecke sind wiederum drei verschiedene, die Selbsterhaltung, die Fortpflanzung und die Geselligkeit mit anderen Menschen. Die zweite Anlage hat die eigene Wertschätzung und die Gleichheit mit anderen zum Zweck, ihre Triebfeder ist der Wetteifer mit anderen, in dem Kant einen wesentlichen Ansporn zur Kultur sieht. Er bezeichnet sie als Anlage für »die Menschheit …, als eines lebenden und zugleich vernünftigen;«. Der Mensch zeigt sich hier als ein körperliches Wesen, das Vernunft besitzt. Diese ist jedoch lediglich in die »vergleichende Selbstliebe« eingebunden. Die Selbstliebe, zunächst als Oberbegriff für die auf rein körperliche Funktionen bezogene Sorge um das eigene Wohlergehen verstanden, erhält in dieser Anlage durch die Reflexion über den eigenen Wert eine neue Qualität. Auf diese Weise wird das Bewusstsein des eigenen Wohlbefindens zum Bewusstsein des eigenen Wohlergehens im Vergleich mit anderen. Der Wert des eigenen Besitzes, der Fähigkeiten und der Leistungen wird um ihn einzuschätzen mit demjenigen von anderen verglichen, wobei noch der gesellschaftliche Rang und die Abhängigkeiten, in denen man gegenüber anderen steht, hinzukommen. Mit diesen beiden Anlagen tritt auch zum ersten Mal in dieser Abhandlung ein Hinweis auf die Wirklichkeit des Bösen in Erscheinung. Dieses tritt hier als ein möglicher Missbrauch dieser Anlagen auf, der dem jeweils vorgegebenen Zweck zuwiderläuft. Die entsprechenden Erscheinungsformen des Bösen sind die Laster, nach den beiden genannten Anlagen, Laster der Natur und Laster der Kultur. Die ersteren nennt Kant auch Laster der Rohigkeit und zählt Völlerei, Wollust und wilde Gesetzlosigkeit zu ihnen. An Bösartigkeit übertreffen sie die Laster der Kultur, zu denen Neid, Eifersucht und Schadenfreude gehören. Was jedoch der Grund für die Entstellung der
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Anlagen zum Guten ist, die diesen Lastern vorausgehen, wird an dieser Stelle noch nicht erwogen. Die Moralität ist eigens der Zweck der dritten Anlage zur Persönlichkeit des Menschen, insofern er vernünftig und zurechnungsfähig ist, weshalb diese Anlage anders als die beiden anderen nicht zum Bösen gewendet werden kann. Hier greift Kant auf die wesentlichen Lehren seiner Moralphilosophie aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft zurück. Während die erste Anlage wesentlich mit der Sorge um das körperliche Wohlergehen verbunden ist und die zweite mit dem Bedürfnis nach Anerkennung, begründet erst diese dritte Anlage die moralische Persönlichkeit des Menschen. Erst diese Anlage ermöglicht die moralische Zurechnung von Handlungen. Die Vernunftdimension der anderen Anlagen reicht hierzu noch nicht aus. Denn die Vernünftigkeit dieser beiden Anlagen besteht zwar in der möglichen Selbsterkenntnis und Einordnen der Zwecke dieser Anlagen in den gesamten Selbstzweckcharakter der menschlichen Person. Es wäre aber ein Wesen denkbar, das nur über Vernunft als Mittel verfügt, um die Zwecke zu verfolgen, die seine Triebe ihm vorgeben. Dieses Vermögen hätte dennoch keinen Einfluss auf die Zwecke des Handelns, die durch sie nicht beschränkt werden. Besäße ein fiktives vernünftiges Wesen die Anlage zur Persönlichkeit nicht, würde es seine Handlungen wie eine von Zweckrationalität gesteuerte Maschine ausführen. In einem moralischen Sinn sind ihm keine Handlungen zurechenbar, da es die Bedeutung von Moralität nicht kennt. Die triebhafte Motivation überschreiten kann nur ein Wesen, dessen Vernunft mit Kants Worten »für sich selbst praktisch ist«. 30 Ein solches Wesen ist dann in einem negativen Sinn frei, frei von der Naturnotwendigkeit der körperlichen Triebregungen. Der positive Sinn dieser Freiheit besteht eben in jenem Vermögen die Willkür durch Vernunft zu bestimmen. Kant wiederholt im Zusammenhang der dritten Anlage zum Guten seine Lehre vom moralischen Gesetz als Faktum der Vernunft, das dem Menschen bewusst macht, seine natürlichen Antriebe überschreiten zu können und nicht durch sie bestimmt zu sein. Die Idee des moralischen Gesetzes ist allerdings nicht die Anlage zur Persönlichkeit, sondern die Persönlichkeit selbst, in ihrer abstraktesten Form gedacht. Mit Kant: »die Idee der Menschheit ganz intellektuell
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betrachtet.« 31 Die Anlage zur Persönlichkeit in dieser Form ist die genannte Empfänglichkeit für die Achtung vor dem moralischen Gesetz. Die moralische Persönlichkeit selbst ist also nicht auszulöschen, aber die Eigenschaft der Willkür, die Achtung als Triebfeder aufzunehmen, muss erst gefestigt werden bzw. kann beeinträchtigt werden. Daraus kann nicht der Schluss gezogen werden, unmoralisches Handeln sei im Zusammenhang der Abhandlung über das radikale Böse vernünftig, wie es Christof Schulte tut. Er ist der Ansicht, dass der Anteil der Vernunft an der zweiten Anlage und ihrem möglichen Missbrauch zeigt, dass Vernunft allein nicht genügt, um moralisch zu handeln. Ungeachtet des einfachen Einwands gegen diese These, dass es sich dabei lediglich um eine besondere Form der Klugheit in der Beurteilung anderer handelt und nicht um praktische Vernunft im vollen Sinn, soll diese Ansicht Schultes in diesem Zusammenhang kurz betrachtet werden, da sie auch in der Folge noch relevant für das Verständnis des radikalen Bösen sein wird. Die entsprechende Textpassage lautet wie folgt: Da es in der Autonomiephilosophie Kants nicht unvernünftig ist, moralisch böse zu sein, bedarf es auch mehr als der Vernunft, um moralisch gut zu sein: es bedarf einer moralisch guten Gesinnung, für die jeder Mensch, so Kants anthropologische und moralphilosophische Annahme der Achtung vor dem »Faktum der Vernunft«, die Anlage in seiner Persönlichkeit trägt. 32
Die erste wesentliche These dieser Interpretation besteht darin, dass in der Kantischen Ethik das moralisch Böse nicht unvernünftig sei. Wie bereits erwähnt, versucht Schulte diese Ansicht im Zusammenhang mit der zweiten Anlage zum Guten zu begründen. Das moralisch Böse hat bisher durch Kant die Bestimmung erhalten, gesetzwidrig und zurechenbar zu sein. Insofern es dem moralischen Gesetz entgegengesetzt ist, was gleichbedeutend mit pflichtwidrig und nicht verallgemeinerbar ist, wäre es in der Philosophie Kants bereits aus diesem Grund widersprüchlich, moralisch böses Handeln als vernünftig zu bestimmen. Liegt nun ein solcher Widerspruch vor, wenn Kant die praktische, allerdings anderen Triebfedern dienstbare, Vernunft zur Wurzel der zweiten Anlage macht und einen möglichen Missbrauch in diesem Zusammenhang nennt? Zunächst stellt sich 31 32
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Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 28. Schulte 1988, 78.
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Hans-Jörg Ehni
https://doi.org/10.5771/9783495996997 .
Ein optimistischer Auftakt: die Anlagen zum Guten
die Frage, was an einer solchen Handlung überhaupt als vernünftig oder unvernünftig zu qualifizieren ist. Es ist naheliegend, dafür eine Maxime zu wählen, da in der Ethik Kants es Maximen sind, die auf ihre Verallgemeinerbarkeit und damit auf ihre Vernünftigkeit in einem moralischen Sinn geprüft werden. Eine solche Maxime könnte für den Zweck der zweiten Anlage, die vergleichende Selbstliebe, lauten: »Handle so, dass Du Dein Ansehen bei anderen jederzeit mit allen Mitteln verteidigst und erhöhst«. Aus dieser Maxime könnte man weiter als konkrete Regel für das Handeln in einer gegebenen Situation ableiten »Wenn jemand durch sein Ansehen mein eigenes schmälert und meinen Verdienst in den Schatten stellt, so versuche ich ihn zu verleumden, um mir dadurch einen Vorteil zu verschaffen.« Neid als entartete Form der vergleichenden Selbstliebe wäre die Triebfeder einer solchen Maxime, das eigene Selbstwertgefühl zu erhöhen wäre ihr Zweck. Nur in einer bestimmten Hinsicht betrachtet kann diese Regel und die übergeordnete Maxime auf einen Anteil, den die Vernunft an ihr hat, Anspruch nehmen. Denn sie enthält einen allgemeinen Zusammenhang zwischen einem noch zu wählenden Mittel und einem Zweck, ein höheres eigenes Ansehen durch ein niedrigeres einer anderen Person zu erzielen. Aufgrund dieser Ausgangsbasis wird dann eine Regel formuliert, in welcher der konkrete Zweck und das konkrete Mittel benannt werden, die sich aus der Situation ergeben. Die Maxime ist also in einer bestimmten Hinsicht vernünftig, so wie Kant beispielsweise in der Kritik der praktischen Vernunft festhält, dass alle praktischen Regeln, dadurch ein Produkt der Vernunft sind, dass sie die allgemeine Beziehung zwischen einem Mittel und einem Zweck herstellen. 33 Hinsichtlich ihrer Verallgemeinerbarkeit lässt sich diese Maxime jedoch nicht als vernünftig qualifizieren. Der Zweck dieser Maxime, das eigene Ansehen mittels der Anerkennung anderer zu erhöhen, würde durch die allgemeine gegenseitige Verleumdung zerstört werden, welche die allgemeine Anwendung dieser Maxime zur Folge hätte. Die Vernunft dient zwar als Mittel, um eine solche Maxime als Regel für das Handeln aufzustellen, aber der Antrieb, diese Maxime aufzustellen, stammt weder aus der Vernunft, noch wird die vernünftige Überlegung bei ihrer Formulierung konsequent bis zu ihrer Überprüfung »Die praktische Regel ist jederzeit ein Produkt der Vernunft, weil sie Handlung als Mittel zur Wirkung, als Absicht vorschreibt.« Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. V 20.
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Kants Lehre vom radikalen Bösen
nach Verallgemeinerbarkeit durchgeführt. In diesem Sinn lässt sich verstehen, wie die Vernunft die zweite Anlage zum Guten und auch ihre entartete Form als Laster ermöglicht, ohne dass deswegen böses Handeln in diesem Fall als vernünftig aufzufassen wäre. Dennoch könnte der zweite Teil der Behauptung Schultes sich unabhängig davon als richtig erweisen und zum moralischen Handeln wäre mehr nötig als nur Vernunft, nämlich eine moralisch gute Gesinnung, deren Anlage in der Achtung vor dem moralischen Gesetz bestünde. Dafür spricht Kants Fiktion, es könne ein vernünftiges Wesen geben, aus dessen Vernünftigkeit nicht folgen würde, dass es seine Handlungen auf verallgemeinerbare Maximen prüft. 34 Was aber durch die dritte Anlage hinzu kommt, ist weder ein Vermögen, das zusätzlich zur Vernunft besteht, noch eine schlicht vorausgesetzte gute Gesinnung. Als Anlage handelt es sich um eine bloße Empfänglichkeit der Willkür für die Vernunftbestimmung. Die Vernunft ist dann, wenn sie die Willkür tatsächlich bestimmt, für sich selbst praktisch und nicht »anderen Triebfedern dienstbar«. Die moralische Gesinnung wird erst durch diese Art von praktischer Vernunft ermöglicht. Nicht die Achtung ist die Anlage zur moralischen Persönlichkeit. Das moralische Gefühl gehört zur Moralität und folgt aus der Vernunft, während die Empfänglichkeit der Willkür für die Achtung als Beschaffenheit des Willens es zuallererst ermöglicht, eine moralische Gesinnung zu erwerben. Diese Empfänglichkeit ist die Anlage zur Persönlichkeit und nicht eine bestehende gute Gesinnung oder die Achtung vor dem moralischen Gesetz, wie folgendes Zitat belegt. Die Idee des moralischen Gesetzes allein, mit der davon unzertrennlichen Achtung, kann man nicht füglich eine Anlage für die Persönlichkeit nennen; sie ist die Persönlichkeit selbst (die Idee der Menschheit ganz intellektuell betrachtet). Aber, dass wir diese Achtung zur Triebfeder in unsere Maximen aufnehmen, der subjektive Grund hiezu scheint ein Zusatz zur Persönlichkeit zu sein, und daher den Namen einer Anlage zum Behuf derselben zu verdienen. 35
Schultes komplementäre These, nach Kants Abhandlung über das radikale Böse, sei es nicht unvernünftig böse zu handeln und gleichzeitig sei zusätzlich zur Vernunft eine gute Gesinnung nötig, um moralisch gut zu handeln, ist also im Zusammenhang des Lehrstücks der 34 35
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Ein optimistischer Auftakt: die Anlagen zum Guten
Anlagen zum Guten zurückzuweisen. Mit der dritten Anlage zum Guten ist, anders als Schulte es zur Begründung des zweiten Teils seiner These auffasst, nur eine Empfänglichkeit für das moralische Gesetz gemeint. Außerdem reicht auch nach der Religionsschrift die für sich selbst praktische reine Vernunft zur moralischen Bestimmung des Willens aus. Das Prädikat »gesetzwidrig«, das Kant einer moralisch bösen Handlung zuschreibt, ist unter dieser Voraussetzung bereits ein entscheidender Hinweis darauf, dass eine solche Handlung und das Böse ganz allgemein nicht vernünftig sein kann. Der zuvor schon genannte enge Zusammenhang der Metaphysik der Sitten mit der Abhandlung über das radikale Böse zeigt sich unter anderem gerade durch die Lehre der drei Anlagen zum Guten und ihrer Entartung, den beiden Grundformen des Lasters. In der Tugendlehre werden die Laster als Verstoß gegen die Pflichten gegen sich selbst in zwei Kategorien eingeteilt: Solche Pflichten, die dem Menschen als einem »animalischen und zugleich moralischen« Wesen zukommen und solche, die ihm als einem »blos moralischen« Wesen zukommen. Der Katalog der Laster entspricht demjenigen der Religionsschrift, ebenso spiegelt sich hier ihre Einteilung in Laster der Natur und Laster der Kultur wieder. Gleichzeitig kann man diese Aufzählung der Laster als Gegensatz zu den Anlagen zum Guten auffassen: Selbstmord, wollüstige Selbstschändung und übermäßiger Genuss von Nahrungs- bzw. Rauschmitteln einerseits, Lüge, Geiz und Kriecherei andererseits. 36 Kant benützt an dieser Stelle ebenfalls den Begriff der »Thierheit« der menschlichen Natur. Besonders interessant an den Anlagen zum Guten ist das teleologische Element, das sie in die Beschreibung des Bösen einführen. Denn mit ihnen werden Zwecke vorgegeben, die zugleich natürlich sind und die Moralität befördern sollen. Das Böse jedoch zerstört diese Zwecke und nimmt so eine konkrete Gestalt an. Gleichzeitig wird deutlich inwiefern das moralisch Böse das »schlechthin Zweckwidrige« ist, als das es Kant an anderer Stelle auch bezeichnet. 37 Denn insofern die Anlagen zum Guten Zwecke vorgeben und gleichzeitig die Moralität als obersten Zweck befördern, bewirkt ihre Verkehrung zum Bösen, die in den Lastern ihren Ausdruck findet, dass dieses elementare Gefüge von Zwecken zerstört wird, in denen sich der Kant, Immanuel: Tugendlehre. VI, 420. Vgl. Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 127. 37 Kant, Immanuel: Über das Mißlingen … VIII, 256. 36
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Kants Lehre vom radikalen Bösen
Mensch verwirklichen soll. Bevor aber die Laster als wirkliche Phänomene in der Religionsschrift näher untersucht werden, weist Kant auf ihren Grund hin: den Hang zum Bösen.
2.4 Die pessimistische Wendung: der Hang zum Bösen Der zweite Abschnitt der Abhandlung zum radikalen Bösen behandelt, was es bedeuten kann, dass der Mensch von Natur aus böse ist. Kant bezeichnet diese Eigenschaft als »Hang zum Bösen«. Das von der Einleitung aufgeworfene Problem der Zurechenbarkeit einer solchen menschlichen Grundeigenschaft wird an dieser Stelle erneut aufgegriffen. Daher besteht die Bedeutung des Hangs zum Bösen darin, eine Möglichkeit aufzuzeigen, wie der angeborene und frei zugezogene Charakter des Bösen sowie seine allgemeine Verbreitung und die individuelle Zurechenbarkeit miteinander vereinbar sein könnten. Einen Hang, der sich auf das Handeln bezieht, nennt Kant allgemein »eine Prädisposition zum Begehren eines Genusses«. Um dem Freiheitscharakter des Bösen gerecht zu werden und gleichzeitig auch seiner allgemeinen Verbreitung sowie dem Umstand, dass er angeboren ist, muss dieser Hang, über Eigenschaften verfügen, die es erlauben sollen, den Begriff »von Natur aus« in einem moralischen Zusammenhang zu verwenden. Allerdings führt die Verbindung zu paradoxen Paaren von Eigenschaften, wie den folgenden: Ein solcher Hang muss also wie erwähnt angeboren sein und dennoch selbst zugezogen. 38 Außerdem muss er allgemein sein 39 und dennoch zufällig 40 . Äußern soll sich folglich der Hang zum Bösen bei dem ersten Gebrauch, den ein Mensch von seiner Freiheit macht 41 , aber er darf nicht notwendigerweise Handlungen bewirken, sondern es muss möglich sein, ihn zu überwinden oder ihm nachgeben zu können 42 . Allerdings soll er das Handeln durchaus immer dann bestimmen, wenn ihm nicht entgegen gewirkt wird, da er im Verhältnis zum moralischen Gesetz bereits selbst den obersten subjektiven 38 39 40 41 42
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Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 29. Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 30. Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 32. Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 38. Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 32.
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Die pessimistische Wendung: der Hang zum Bösen
Grund der Möglichkeit darstellt, von dessen Vorschriften abzuweichen und nicht nur möglicherweise einen solchen bewirken kann. D. h. bereits im Hang zum Bösen ist die oberste Maxime gesetzwidrig. 43 Da aber äußerlich pflichtgemäße, legale Handlungen daraus folgen können, muss dieser Hang nicht immer erkennbar sein. 44 Diese Vielzahl von zunächst widersprüchlich wirkenden Annahmen, die man zusammenfassend aus Kants Bestimmung des Hangs zum Bösen ableiten kann, wirkt verwirrend. 45 Weitere Differenzierungen schaffen jedoch größere Klarheit und ermöglichen es, die Widersprüchlichkeit dieser Konzeption zu verringern. Die erste Differenzierung, die Kant vornimmt, sind die Stufen des Hangs zum Bösen. Ein angenommener Hang zum Bösen kann danach in drei Graden des Widerspruchs zum Sittengesetz stehen. »Gebrechlichkeit« ist der Zustand des Willens, wenn das Sittengesetz trotz seiner Anerkennung aus Willensschwäche nicht befolgt wird. »Unlauterkeit« ist der nächste Grad der Ablehnung des moralisch Guten, wenn eine moralische Maxime nicht der wirkliche Antrieb zu einer legalen Handlung ist und der Handelnde sich und andere heuchlerisch über seine Moralität täuscht. Werden schließlich andere Triebfedern bewusst der moralischen Triebfeder der Achtung vor dem moralischen Gesetz vorgezogen, ist der höchste Grad der Negation des Guten erreicht: »Bösartigkeit« oder die Verkehrung der sittlichen Rangordnung von moralischen und nichtmoralischen Maximen. Willensschwäche, Unlauterkeit und Bösartigkeit weisen zwar bereits auf die Wirklichkeit des Bösen hin, sie sind jedoch in diesem Zusammenhang zunächst einmal nur mögliche Grade des Widerspruchs zum moralischen Gesetz. Es handelt sich also noch um die Begriffsbestimmung des Bösen. In seiner Einleitung hatte Kant die Bedingungen des Begriffs und die Bedingungen der Erkenntnis der Wirklichkeit des moralisch Bösen in der menschlichen Natur aufgestellt. Zurechenbarkeit und Gesetzwidrigkeit waren die beiden Grundbedingungen, um das Böse begrifflich zu fassen. Die bewusste Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 31. Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 38. 45 Besonders hervorgeben hat diese Widersprüchlichkeit Gordon Michalson (Michalson 1990, 8). Nach ihm gibt es keine Auflösung der Widersprüche, die daher rühren, dass Kant einerseits versuche, religiösen Ansprüchen gerecht zu werden, während er andererseits das Thema des Bösen auf der Grundlage seiner Moralphilosophie behandeln wolle. 43 44
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Gesetzwidrigkeit war dabei bereits ein Hinweis dafür, dass der Mensch von Natur aus böse sei, denn sie verlangte einen Widerspruch gegen das Gesetz auf prinzipieller Ebene und damit einen Wesenszug des Menschen, der mit dem moralischen Gesetz in einen Gegensatz tritt. Zunächst sollte dann ein Begriff des Bösen in der menschlichen Natur so bestimmt werden, dass er mit den begrifflichen Bedingungen für das moralisch Böse, das individuell begangen wird, vereinbar ist. Dann sollte erwiesen werden, dass es keinen Grund gibt, einen Menschen von diesem auf besondere Art natürlich gegebenem Bösen auszunehmen. Die Erfahrung, die Zeugnis von der Wirklichkeit des moralisch Bösen in dieser Form ablegt, soll schließlich den Beweisgang vollenden, der bis dahin zwar das Böse begrifflich fassen kann, aber nicht in der Lage ist, es ohne Bezug zur Erfahrung nachzuweisen. Dieser letzte Schritt ist im Abschnitt über den Hang zum Bösen noch nicht erreicht. Der Begriff des Hangs zum Bösen leistet nach diesen Vorgaben für den Beweisgang zweierlei. Zunächst soll mittels dieses Begriffs deutlich werden, in welchem Sinn das Böse als angeboren und dennoch frei zugezogen denkbar ist. Denn es soll ja verständlich werden, weshalb eine individuelle Verantwortung für das moralisch Böse besteht und dennoch das Böse aus der Erkenntnis des Menschen als handelndem Wesen, das unter moralischen Gesetzen steht, nicht wegzudenken ist. Dann muss auch erläutert werden, dass tatsächlich die »böse Natur« so zu konzipieren ist, dass kein Mensch davon ausgenommen werden kann und sie der gesamten Gattung zugeschrieben werden muss. Gelingt es Kant nun durch die Ausführungen über den Hang zum Bösen dessen Eigenschaft, angeboren zu sein mit der Zurechenbarkeit zu vereinbaren? Zu diesem Zweck bezeichnet Kant diesen Hang im zweiten Abschnitt seiner Abhandlung als intelligible Tat, die er von einer empirischen Tat unterscheidet. Im Gegensatz zu einer solchen Tat, die als Handlung im Bereich der Erscheinungen wahrnehmbar wird, ist die intelligible Tat ein Akt der Freiheit, durch den eine handelnde Person die oberste Maxime ihres Handeln wählt. Jede empirische Tat, die auf empirisch erkennbare Weise dem moralischen Gesetz widerspricht und zurechenbar ist, ist aus dieser intelligiblen Tat abzuleiten. Weiter kann die Erklärung, aus welchem Grund das Böse gewählt wird, nicht gehen. Das Argument dafür, dass der Menschen von Geburt an einen Hang zum Bösen besitzt, lautet, dass wir keine andere Möglichkeit haben zu verstehen, wie gerade die 80
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Die pessimistische Wendung: der Hang zum Bösen
oberste Maxime des Willens gesetzwidrig werden kann, als einen solchen Hang zum Bösen in Form einer intelligiblen Tat anzunehmen. Eine individuelle Entscheidung – man muss es deutlich sagen – um den Widerspruch hervortreten zu lassen, bei der nach Kant vorbestimmt sei, dass sie jeder Mensch treffen wird. Aber gerade aufgrund dieser Bezeichnung als intelligible Tat muss man sich wiederum fragen, ob die »Bösartigkeit«, die bereits durch diese gegeben zu sein scheint, nicht schon mehr ist, als ein »Hang«, eine »Prädisposition zum Begehren eines Genusses«, wie Kant diesen Begriff in einer Anmerkung erläutert. 46 Im Fortgang des Texts scheint Kant das Gewicht der Bedeutung des Hangs zum Bösen mehr von einer nur möglichen zu einer bereits wirksamen Ausrichtung des Handelns zu verschieben. Zunächst unterscheidet sich die Bösartigkeit noch vom bösen Herzen. Das böse Herz soll eine direkte Folge des Hangs zum Bösen darstellen, als »Unfähigkeit das moralische Gesetz in seine Maxime aufzunehmen«. 47 Insofern scheint hier die Bösartigkeit mehr als eine bloße Möglichkeit zum Bösen zu sein, aber weniger als ein böser Wille, der erst mit dem bösen Herzen vorhanden ist. Denn ein Hang zur Verkehrung kann die Vorstufe zu einer schließlich bestehenden Grundhaltung sein, immer der Selbstliebe gegenüber der Moral den Vorzug zu geben. Diese Grundhaltung in Form des bösen Herzen könnte man als Extrem verstehen, das nicht immer erreicht wird. Aber wie bereits erwähnt wird der Hang zum Bösen nur einige Absätze später als intelligible Tat bezeichnet. Als solche ist er aber nicht ein bloßer Hang, im Sinn einer möglichen Orientierung, gesetzwidrige Maximen anzunehmen, sondern bereits der Akt der Annahme einer obersten Maxime, aus der andere Maximen direkt folgen. Ein bloßer Hang sei diese intelligible Tat nur im Hinblick auf die tatsächlich ausgeführten Handlungen. Der Unterschied zu einem bösen Herzen wird dadurch verkleinert und beschränkt sich auf die Festigung einer bereits bösen Grundhaltung. In dem Zusammenhang der intelligiblen Tat scheint Kant sogar den zuvor gewählten Begriff des Hangs wieder einzuschränken. Denn eigentlich handele es sich um eine Tat, die nicht in der Zeit gegeben ist, was erneut paradox anmutet. Um einen Hang handele es sich nur im Vergleich mit einer empirischen Tat. Diese
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Bestimmung scheint aber in der Konsequenz beide Aspekte, den der Tat und den des Hangs, mit einem Fragezeichen zu versehen. Jene ist intelligible Tat, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar; diese sensibel, empirisch, in der Zeit gegeben (factum phaenomenon). Die erste heißt nun vornehmlich in Vergleichung mit der zweiten ein bloßer Hang, … 48
Hier liegt nun zweifellos ein schwer verständliches und widerspruchsvolles Theoriestück in seinem ganzen Umfang vor, also mit der Ergänzung der Grade des Hangs zum Bösen und seiner Charakterisierung als intelligibler Tat. Diese Konzeption ist entsprechend oft kritisiert worden und hat den hauptsächlichen Anlass zur Vermutung gegeben, dass Kants Anliegen war, eine philosophische Version des theologischen Dogmas der Erbsünde zu liefern. Er selbst bezeichnet den Hang zum Bösen auch in seiner Eigenschaft als intelligible Tat mit dem Begriff »peccatum originarium«, wie auch andere Begriffe eine lateinische Entsprechung erhalten, die in Klammern nach dem deutschen Wort angeführt wird. Nach Bohatec sind diese lateinischen Ausdrücke der protestantischen Dogmatik entlehnt. Die intelligible Tat könnte man daher mit einer gewissen Berechtigung als den Versuch verstehen, dem Begriff der Erbsünde einen neuen Sinn zu geben, insofern die Aspekte des Anhaftens von Geburt an und des Charakters einer Tat enthalten sind, den auch der Begriff der »Sünde« besitzt. Bohatec sieht die Sündenlehre Kants begrifflich im Zusammenhang des Ausdrucks »peccatum originarium« von derjenigen des Theologen Heilmann beeinflusst. Er weist jedoch ebenfalls darauf hin, dass die Stufen des Hangs zum Bösen, die ebenfalls mit lateinischen Termini (fragilitas, impuritas, vitiositas) ergänzt sind, nichts mit dessen Dogmatik zu tun haben. 49 Allgemein beweist die Wortwahl noch nicht die Weiterführung eines Gedankens durch Kant, der seiner eigenen Aussage nach das »Künsteln« von neuen Worten im Bereich der Ethik möglichst vermieden hat und versuchte, den bestehenden einen adäquaten Sinn zu geben. 50 Eine genauere Analyse der drei Stufen des Hangs zum Bösen, die im Abschnitt 2.6. durchgeführt werden soll, könnte die Paradoxie eventuell auflösen. Denn entscheidende Hinweise darauf, wie man Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 31. Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 32 f., Bohatec 1938, 248. Heilmann, Johann David: Compendium … 50 Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, V, 10. 48 49
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die intelligble Tat verstehen könnte, liefert erst die Wirklichkeit des Bösen, die zum jetzigen Zeitpunkt noch untersucht werden muss. Es muss daher zunächst noch offen bleiben, ob dem Begriff der intelligiblen Tat eine Deutung abzugewinnen ist, die ihm eine philosophische Bedeutung zukommen lässt, die von der Vorstellung der Erbsünde unabhängig ist. Zunächst aber zum zweiten Beweisziel neben der Vereinbarkeit von Zurechenbarkeit und angeborenem Charakter des moralisch Bösen: Der Hang zum Bösen sollte nach Kant zuerst zeigen, wie man es sich vorstellen kann, dass das moralisch Böse angeboren ist und dennoch zurechenbar. Es sei einstweilen vorausgesetzt, dies sei ihm gelungen, was jedoch nach dem bisher festgestellten Widerspruch zunächst einmal fraglich ist, stellt sich die folgende Frage: Ist auch das zweite Beweisziel erreicht und wurde durch die Konzeption des Hangs zum Bösen nachgewiesen, dass man die böse Natur als allgemeine Eigenschaft der menschlichen Gattung annehmen muss? Kant scheint der Ansicht zu sein, dass die Art und Weise, wie er die Stufen des Hangs zum Bösen konzipiert, nämlich in den Formen der Willensschwäche, Unlauterkeit und Bösartigkeit, ausreicht, um diesen Hang der gesamten Menschheit zuzusprechen. Dies kann aus seiner Bemerkung abgeleitet werden, »dass der Hang zum Bösen hier am Menschen, auch dem besten (den Handlungen nach), aufgestellt wird«. Diese schließt sich direkt an die Erläuterung der drei Stufen des Hangs zum Bösen an. 51 Die These über den Hang zum Bösen besagt, dass kein Mensch frei ist von Willensschwäche, von einer Täuschung über den eigenen moralischen Charakter oder dass jeder Mensch dazu neigt, moralische Maximen unter die Bedingung von Maximen der Eigenliebe zu stellen. Eine weitere Begründung dafür findet sich nicht. Man kann nur vermuten, dass Kant sein Ziel bereits als erreicht ansieht, das darin besteht, den Hang zum Bösen so zu konzipieren, dass es keinen Grund gibt, »einen Menschen davon auszunehmen«. 52 Es liegt also im Bezug auf die Allgemeinheit des Hangs zum Bösen ein Gedankengang vor, der ohne Bezugnahme auf theologische oder andere philosophische Lehren, nur durch Folgerungen innerhalb der Kantischen Ethik dazu führt, ausgehend von der Gesetzwidrigkeit, die nur durch eine gesetzwidrige oberste Maximen zu denken 51 52
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ist, eine böse Natur in Form eines Hangs zum Bösen anzunehmen. Die Schwierigkeit, dass das Böse angeboren sein soll und dennoch zugezogen, kehrt durch die Allgemeinheit des Bösen als Eigenschaft der menschlichen Gattung wieder. Die Stufen des Hangs zum Bösen sollen davon überzeugen, dass es sich um eine Gattungseigenschaft handelt, da man von ihrer allgemeinen Verbreitung ausgehen kann. Gerade die verschiedenen Stufen des Hangs zum Bösen können als entscheidende Differenzierung dieses Begriffs aufgefasst werden. Denn an ihnen lässt sich die genannte Hauptschwierigkeit, die Zurechenbarkeit mit der Allgemeinheit zu vereinbaren, am besten zeigen. Obwohl die Stufen des Hangs zum Bösen den Grund liefern sollen, weshalb kein Mensch hinsichtlich dieses Hangs eine Ausnahme darstellt und auch die freie Zugezogenheit deutlich werden soll, verlagert sich der Widerspruch nur auf eine andere Ebene. Während man der Willensschwäche und auch der Unlauterkeit als Selbsttäuschung die Allgemeinheit zumindest als plausible Vermutung zugestehen würde, ist das für die Bösartigkeit nicht selbstverständlich. Umgekehrt ist es ebenso schwer zu verstehen, weshalb Willensschwäche und Selbsttäuschung in Form einer intelligiblen Tat zurechenbar sein sollen, was wiederum eine plausiblere Annahme für die Bösartigkeit sein könnte. Die Paradoxie, die in dieser Konzeption des Bösen enthalten ist, scheint also an dieser Stelle noch nicht aufgelöst zu sein, auch wenn man zugestehen mag, dass ein Widerspruch zu einer grundlegenden menschlichen Eigenschaft wie der Moralität angeboren sein soll und dass davon nicht nur einzelne Menschen betroffen sind, sondern alle. Denn bei allen Menschen ist vorstellbar, dass sie über Willensschwäche, Selbsttäuschung und eine prinzipielle Selbstbevorzugung verfügen, da jeder Mensch über das fragile Verhältnis zwischen Selbstliebe und Moralität verfügt, das leicht zugunsten der Selbstliebe entschieden werden kann. Je weiter der Gedankengang im II. Abschnitt der Religionsschrift fortschreitet, je mehr scheint Kants Konzeption einen bloßen Hang doch wieder mit einer bereits wirksamen bösen Gesinnung selbst gleichzusetzen. Dies könnte als Anzeichen gedeutet werden, dass Kant je nach Zusammenhang eine der beiden Eigenschaften dieses Hangs hervortreten lässt, entweder die Allgemeinheit als Gattungseigenschaft oder die Zurechenbarkeit als freie Tat. Jedoch so, dass der Begriff nur eine Verlegenheitslösung zu bleiben scheint, ohne die beiden Elemente tatsächlich miteinander vereinbar zu machen. Die Schwierigkeit dieser inneren Widersprüchlichkeit im Hang 84
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zum Bösen lässt sich hier noch nicht entscheiden, da der folgende Abschnitt noch einiges enthält, was diese Annahme wieder etwas plausibler macht. Während bisher nur die Rede von einer möglichen begrifflichen Konzeption war, mit nur vereinzelten Bezügen zur Realität, rückt Kant erst jetzt die explizite empirische Wirklichkeit des moralisch Bösen in den Blick.
2.5 Das radikale Böse und seine Erscheinungsformen Der entscheidende Abschnitt der Abhandlung »Über das radikale Böse« ist der dritte, der den Titel trägt »Der Mensch ist von Natur aus böse«. Bereits diese Überschrift zeigt an, dass dieser Zustand, der in den bisherigen Abschnitten mit Hilfe des Begriffs eines Hanges zum Bösen lediglich in seiner möglichen Bedeutung formuliert wurde, erst an dieser Stelle als wirklich behauptet wird. Zu Beginn dieses Kapitels wiederholt Kant seine vorangegangenen Überlegungen und erst jetzt verwendet er den Begriff des »radikalen« Bösen, der letztlich bezeichnet, durch welche besondere Annahme die vorliegende Theorie des Bösen sich von anderen abhebt. Erneut wird betont, dass man das Böse als allgemein »verwurzeltes« Böses denken müsse, als einen Hang zum Bösen, der ein selbstverschuldetes und dennoch in der Beschaffenheit des Menschen angelegtes und nicht ausrottbares Böses darstellt, das eine grundlegende Bedingung für menschliches Handeln ist. Nach dieser wiederholenden Zusammenfassung soll nicht nur die Wirklichkeit dieser Form des Bösen erwiesen werden, sondern dieser Abschnitt enthält die eigentliche, geraffte Formulierung von Kants Theorie des Bösen, indem er seine bisherigen Überlegungen unter dem Aspekt der Wirklichkeit des Bösen und ihres einzigen denkbaren Grundes in einen neuen Zusammenhang bringt und so die transzendentalen Überlegungen mit den empirischen Aspekten des Bösen vereinigt. 53 Der eigentliche Begriff des Bösen als »Verkehrung« wird hier entwickelt. Ein Ansatz, die Wirklichkeit des Bösen zu verstehen, war bereits durch die beiden Grundformen der Laster gegeben, die Kant in Laster Diese als eigentliche Formulierung von Kants Theorie des Bösen bezeichnete Textpassage beginnt auf der Seite VI, 34 mit den Worten »Der Grund dieses Bösen …« und endet mit dem Abschnitt III.
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der Natur und Laster der Kultur eingeteilt hat. Beispiele der Erfahrung, die sich nach ihm bis ins Unüberschaubare erweitern lassen würden, sollen nun belegen, dass der Anblick, den die Menschheit bietet, tatsächlich davon geprägt ist, dass der Mensch seine Anlagen zum Guten vorwiegend missbraucht. Kant nennt als Beleg Auftritte von »ungereizter Grausamkeit in den Mordscenen auf Tofoa, den Navigatorinseln, Neuseeland und die nie aufhörende in den weiten Wüsten des nordwestlichen Nordamerika«. 54 Als Berichterstatter aus der letztgenannten Weltgegend nennt er lediglich den »Kapitän Hearne«. Kants Quelle für beides ist jedoch nicht Samuel Hearnes Tagebuch (Hearne besaß dabei nie den Rang eines Kapitäns), das erst nach der Religionsschrift erschien (auf englisch 1795 und auf deutsch 1797), sondern der Reisebericht eines weit berühmteren Entdeckers: James Cook. Dessen dritte Reise führte ihn in jene Gegenden der Südsee, die Kant anführt. Der Bericht über diese Fahrt erschien 1784 auf englisch, 1787 auf deutsch, und in der Einleitung veröffentlicht der Herausgeber Dr. John Douglas, Bischof von Salisbury, auch einen Auszug aus den Tagebüchern Hearnes. In einer Fußnote jener Ausgabe 55 ist genau der Krieg zwischen den beiden Indianerstämmen beschrieben, auf den auch Kant sich bezieht. Mit dem Mord an dem Säugling einer gefangenen Indianerin und der spöttischen Reaktion der Täter ist dort einer jener Akte in derselben Fußnote konkret wiedergegeben, der gut als Beispiel für die »ungereizte« Grausamkeit dienen kann, die Kant ganz allgemein als eine der elementaren Erscheinungsformen des moralisch Bösen anführt. Gegen die Ansicht, dass der Mensch ein Wesen sei, das im Zustand einer nicht weiter fortgeschrittenen Kultur in seiner unverfälschten Natürlichkeit seinesgleichen vor allem mit Wohlwollen begegnet, führt Kant die eben genannte, als »ungereizt« bestimmte, Grausamkeit an. Als Laster der Rohigkeit dürfte damit dasselbe gemeint sein, was Kant zuvor im ersten Abschnitt der vorliegenden Abhandlung als »wilde Gesetzlosigkeit« bezeichnet hat, die entstehen soll, wenn der Trieb zur Gemeinschaft zum Bösen gewendet wird. »Ungereizt« und damit eine menschliche Besonderheit ist diese Grausamkeit, weil sie ohne einen äußeren »Reiz« keinen anderen Zweck verfolgt, als die eigene Überlegenheit durch Zerstörungskraft 54 55
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Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 33. Cook, James: Captain Cooks dritte und letzte Reise …, LXXI-LXXIII, Fußnote m.
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Das radikale Böse und seine Erscheinungsformen
und Vernichten des Gegners zu zeigen. 56 »Reiz« kann man in diesem Zusammenhang bei Kant durchaus auch in einem biologischen Sinn verstehen, als sinnlich wahrnehmbaren Reiz, der auf die Nerven wirkt und ein Empfinden bzw. ein Verhalten auslöst. 57 Menschliche Grausamkeit wäre also ohne einen äußeren Reiz möglich, der sie auslöst. In einem weiteren Sinn könnte man »ungereizt« außerdem als »ohne Provokation« verstehen. Es fehlt ihr in beiden Fällen eine Motivation, die aus der Sinnlichkeit zu verstehen wäre, womit sie mehr ist als eine bloße Aggression oder aggressive Gewalttätigkeit. Damit ist sie auch nicht aus einem Naturgesetz heraus zu verstehen. Vielmehr ist ihr Ursprung in der entarteten Anlage zur Geselligkeit zu suchen, wobei die Ehre und das Machtgefühl der Überlegenheit auf die vergleichende Selbstliebe hinweisen und auf einen Anteil der Vernunft, auch wenn dieser der Systematik von »Natur« und »Kultur« nicht ganz entspricht. Auch die fortschreitende Entwicklung der Kultur bringt keine moralische Besserung der Menschheit mit sich, sondern nur neue Formen des Lasters, die Kant zufolge so vorherrschend in den menschlichen Beziehungen sind, dass sie selbst das Verhältnis unter Freunden vergiften. Während es das Kennzeichen des Naturzustandes ist, von der physischen Gewalt in Form der ungereizten Grausamkeit überschattet zu sein, sind Neid und Eifersucht, Verleumdung und Undankbarkeit die ständigen Begleiter der Kultur. Diese Einteilung muss nicht bedeuten, dass die verschiedenen Formen des Lasters jeweils an einen bestimmten Entwicklungsstand der Menschheit gebunden sind. Ihre Abkunft aus zweckentfremdeten Anlagen zum Guten lässt ohnehin das Gegenteil vermuten. Vielmehr kann man sie so verstehen, dass sie im jeweils ihnen zugeordneten Zustand der Menschheit überwiegen, ohne im anderen zu fehlen. Aufgegriffen wird das Thema des Lasters in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht und in den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre. Vor allem weite Teile des letzteren Werks sind nichts anderes als eine Darstellung von Lastern, deren Systematik derjenigen in der Abhandlung über das radikale Böse weitgehend entspricht. Die beiden in der Religionsschrift erwähnten Formen des Lasters werden in der Tugendlehre im Zusammenhang der PflichtenKant, Immanuel: Die Religion … VI, 33 Anm. Vgl. z. B. Kant, Immanuel: Anthropologie. VII, 172. Kant schreibt an dieser Stelle, dass Alkoholkonsum einen Reiz auf die Nerven ausübt, der das Temperament verändere.
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lehre Kants durch weitere Formen ergänzt. Entsprechend beginnt die »Ethische Elementarlehre« mit einem Paragraphen »Von den vollkommenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst, als einem animalischen Wesen« und behandelt die zugehörigen Laster: »Selbstentleibung«, »wollüstige Selbstschändung« und Unmäßigkeit im Genuss von Nahrungsmitteln und Rauschmitteln. Es folgen die Laster, die den Pflichten gegen sich selbst als moralischem Wesen zuwiderlaufen: die Lüge, der Geiz und falsche Demut. Die eigentlichen Laster der Kultur werden in § 36 abgehandelt, als Neid, Undankbarkeit und Schadenfreude. In der Systematik der Pflichtenlehre sind sie gegen die allgemeine Menschenliebe als unvollkommene Pflicht gegen andere gerichtet. Es folgen in den §§ 42–44 Hochmut, Verleumdung und Verhöhnung. Die Tugendlehre enthält also eine Lehre über Formen des Bösen, dessen Begriff im ersten Teil der Religionsschrift erklärt wird und die sich auf herkömmlicherweise dazu gezählte Erscheinungsformen stützt. Bezeichnet werden diese Erscheinungsformen von Kant als Laster, inhaltlich sind sie teilweise angelehnt an die christlichen Todsünden. Genauer bestimmt werden sie, indem sie in die Systematik der Kantischen Pflichtenlehre eingeordnet werden und ihr Ursprung im radikalen Bösen gesehen wird. Zusätzlich zu diesen Lastern, die dem Naturzustand und der fortgeschrittenen Zivilisation zugeordnet sind, zeigen die zwischenstaatlichen Beziehungen, dass eine scharfe Trennung letztlich nicht möglich ist. Selbst im zivilisierten Zustand herrscht im Krieg zwischen den Staaten noch die ungereizte Grausamkeit, die nicht schon als überwunden gelten kann, sobald das Recht sie zumindest innerhalb eines Staats eindämmt. Die Häufigkeit von Kriegen wiederum kann als weiterer Hinweis auf die böse Natur des Menschen gewertet werden. Dies könnte mit Kant gegen den Einwand angeführt werden, seine Einteilung in Laster der Natur und der Kultur berücksichtige lediglich den Bereich des individuellen, zwischenmenschlichen Handelns, aber nicht Institutionen oder Staaten. Deutlich wird hierbei jedoch, dass Kant die moralische Persönlichkeit in den Vordergrund stellt, wenn es ihm um das Verständnis des Bösen geht. Denn Laster sind Grunddispositionen des individuellen Willens zu bösem Handeln, welche die Persönlichkeit eines Menschen entscheidend prägen und einer Grundhaltung zur Moral entstammen, die auf eine Verfestigung des Hangs zum Bösen zurückzuführen ist. Welche Formen des Bösen beispielsweise einer rechtlichen Sanktion unterworfen sind, insofern sie Verstöße gegen 88
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vollkommene Pflichten gegen andere darstellen, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Die Frage nach dem Bösen ist hier zunächst die Frage nach dem Ursprung und der Struktur des bösen Willens, sowie der Verfassung desjenigen, der sich für das Böse entschieden hat. Eine gegenüber den Lastern in ihrer Heftigkeit gesteigerte Form der gesetzwidrigen Neigung und ein zweiter Begriff aus der moralphilosophischen Tradition, den Kant im Zusammenhang mit dem Bösen neu deutet, sind die Leidenschaften als Gemütsstimmungen, die vor allem in der Anthropologie abgehandelt werden. Ausnahmslos gehören diese nach Kant zum Bösen. 58 Auch die Leidenschaften sind in solche, die aus natürlichen Voraussetzungen heraus entstehen, die Geschlechts- und Freiheitsneigung und solche der Kultur eingeteilt: Die wichtigsten sind Ehrsucht, Habsucht und Herrschsucht. Sie stehen als Gemütszustände, die durch ein starkes Begehren hervorgebracht werden, den Affekten nahe, unterscheiden sich von diesen durch ihre Dauer und den Anteil, den die vernünftige Überlegung an ihnen hat. Daher setzen sie immer eine Maxime voraus, ohne dass eine Leidenschaft insgesamt als vernünftig bezeichnet werden kann. Anders als ein mit kühlem Kopf verfolgter Egoismus, der dem Sittengesetz widerspricht, um ein Laster auf rationale Weise zu befriedigen, wird durch die Leidenschaften selbst ein Minimum an vernünftigem Willen verhindert, das im Abwägen aller Neigungen und ihrer Befriedigung unter dem Zweck der Glückseligkeit besteht. Letzteres kann durchaus, wie Kant in der Religionsschrift zeigt, eine Form des bösen Willens sein, der nach außen hin nicht erkennbar ist, solange die Klugheit es der fraglichen Person gebietet, in äußerer Übereinstimmung mit dem Sittengesetz zu handeln. 59 Gegenüber den Lastern besteht ein nur geringer Unterschied, so bezeichnet Kant in der Tugendlehre Leidenschaften direkt als Laster. 60 Während beide Zustände des Willens sind, kommt zur Leidenschaft noch die Perspektive auf eine emotionale Qualität, mit der sie verbunden ist und die Steigerung des Begehrens eines bestimmten Zwecks bis zum Äußersten hinzu, so dass alle anderen Zwecke, gleichgültig ob dies den eigenen Interessen, der Glückseligkeit oder der Moralität abträglich ist, diesem einen Ziel der Leidenschaft untergeordnet werden. Dadurch 58 59 60
Vgl. Kant, Immanuel: Anthropologie … VII 265 ff. Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 30. Kant, Immanuel: Tugendlehre. VI, 408. A
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verflüchtigt sich der bloße Anschein der Vernünftigkeit, der für das Böse kennzeichnend ist, bei den Leidenschaften am deutlichsten, wenn diese selbst ohne Rücksicht auf Erfordernisse der Klugheit das Handeln bestimmen. Insgesamt stellt Kants Lehre von den Lastern und den Leidenschaften eine ausgearbeitete, jedoch kaum rezipierte Systematik der verschiedenen Erscheinungsformen des moralisch Bösen dar. In dieser Darstellungsweise äußert sich das Böse auf eine vielfältige und abgestufte Weise im menschlichen Leben und in den zwischenmenschlichen Beziehungen, es entstammt jedoch in jedem Fall demselben Ursprung, dem radikalen Bösen. Dieser gemeinsame Grund aller Formen des moralisch Bösen enthält ihre Entstehungsbedingungen und ihre strukturelle Gemeinsamkeit, die sie als böse auszeichnen. Die methodische Bedeutung der Laster und Leidenschaften für die Erkenntnis des Bösen ist in der Folge begrenzt. Aus beidem lässt sich nicht erkennen, was das Böse ist oder wie es beschaffen ist, noch weniger lässt sich eine Aussage über seine Allgemeinheit machen. Der Begriff ist aus dem Zusammenhang der Ethik zu bestimmen. Dafür und für die Methodik der gesamten Abhandlung »Über das radikale Böse« und für die bereits erwähnten Überlegungen zur Erkenntnis des Bösen folgendes methodisches Resümee Kants aufschlussreich: Wenn nun aber gleich das Dasein dieses Hanges zum Bösen in der menschlichen Natur, durch Erfahrungsbeweise des in der Zeit wirklichen Widerstreits der menschlichen Willkür gegen das Gesetz dargetan werden kann, so lehren diese doch nicht die eigentliche Beschaffenheit desselben, und den Grund dieses Widerstreits; sondern diese, weil sie eine Beziehung der freien Willkür (also einer solchen, deren Begriff nicht empirisch ist) auf das moralische Gesetz als Triebfeder (worin der Begriff gleichfalls rein intellektuell ist) betrifft, muss aus dem Begriffe des Bösen, sofern es nach Gesetzen der Freiheit (der Verbindlichkeit und Zurechnungsfähigkeit) möglich ist, a priori erkannt werden. 61
Entscheidend in der Frage nach der Beschaffenheit des Bösen ist, wie es zu denken ist, wenn man es auf die moralische Verbindlichkeit bezieht, die seine spezifische Negativität verständlich macht und auf die Zurechenbarkeit, durch welche die Verantwortung des Menschen für das Böse begründet wird. Beide Aspekte wiederum sind aus dem Verständnis der freien Willkür abzuleiten, die durch das moralische 61
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Gesetz bestimmt werden kann und soll. Was Kant schon in der Einleitung der Abhandlung »Über das radikale Böse in der menschlichen Natur« betont, wird hier erneut bekräftigt. Was sich durch Erfahrung in diesem Zusammenhang erkennen lässt, beschränkt sich lediglich darauf, dass es dieses Böse, wie es begrifflich a priori konzipiert werden muss, als zurechenbaren Widerspruch zum moralischen Gesetz auch tatsächlich gibt. Daher schreibt Kant auch in der Anmerkung zu diesem Abschnitt, der eigentliche Beweis dafür, dass der Mensch als Gattungswesen – selbst wenn ihm nur im Einzelfall empirisch die Eigenschaft »böse« zugeschrieben werden sollte – als »von Natur aus böse« verstanden werden muss, sei bereits im vorigen Abschnitt enthalten, in dem das menschliche Böse in dem Begriff eines Hangs zum Bösen und seinen Stufen präzisiert wird, wobei sich letztere als mögliche Grade des Widerspruchs zum moralischen Gesetz ergeben. 62 Zusammengefasst lautet Kants Argumentationsgang in der Abhandlung über das radikale Böse wie folgt: Insofern das Böse ein moralisches Phänomen ist, muss es als zurechenbar und gesetzwidrig gedacht werden. Diese Eigenschaften machen es notwendig, das Böse aus einem Hang zum Bösen abzuleiten, da es sich um einen bewussten Widerspruch gegen das Sittengesetz auf der Ebene einer obersten Maxime handeln muss. Ein solcher Hang muss eine angeborene Beschaffenheit des Willens darstellen, da sonst die Annahme einer obersten bösen Maxime nicht erklärbar wäre und zu einem unendlichen Regress der Maximen führen würde. Um verständlich zu machen, wie die Eigenschaft angeboren zu sein mit der Zurechenbarkeit vereinbar ist, führt Kant den problematischen Begriff einer intelligiblen Tat ein. Die Art und Weise wie der Hang zum Bösen abgestuft ist und wie diese verschiedenen Stufen als Willensschwäche, Unlauterkeit und Bösartigkeit beschaffen sind, sollen dann zeigen, dass keinem Menschen der Hang zum Bösen abgesprochen werden kann. Diese Wirklichkeit des so verstandenen Bösen wird nun durch die Erfahrung bestätigt, da es menschliche Handlungen gibt, die »bewusst gesetzwidrig« sind. Dies gilt für die Laster als entartete Formen der Anlagen zum Guten, an denen die Vernunft einen Anteil hat, die aber dem Sittengesetz widersprechen. Folgender Schluss wird gezogen: Wenn gezeigt werden kann, dass ein einzelner Mensch böse ist, dann muss man aufgrund der Be62
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dingungen für das Böse davon ausgehen, dass alle Menschen von Natur aus böse sind. Nun gibt es Handlungen, die nicht anders zu erklären sind, außer durch die Annahme, dass es einige Menschen gibt die böse sind. Also sind alle Menschen von Natur aus böse. Nachdem bereits die Widersprüchlichkeit des Hangs zum Bösen festgehalten wurde, wird deutlich, dass die beweisende Funktion, die dem Hang zum Bösen zukommt, von diesem schwer zu leisten ist. Was für Kant so selbstverständlich zu sein scheint, dass er bei der Konzeption des Hangs zum Bösen nicht einmal mehr eigens auf diesen Punkt ausführlich eingeht, wirkt nur unzureichend begründet, wenn er in der Folge einen »förmlichen Beweis« für unnötig hält. 63 Verstärkt wird dieser Eindruck durch den bisher nicht auflösbaren Widerspruch zwischen Allgemeinheit und Zurechenbarkeit in der Konzeption des Hangs zum Bösen. Ein weiterer Widerspruch scheint darin enthalten zu sein, dass Kant nach dem empirischen Nachweis der Wirklichkeit des Bösen durch die Laster seine wesentlichen Resultate also bereits erreicht haben müsste. Dennoch beginnt er von neuem mit der Entwicklung des Begriffs des Bösen. Es handelt sich jedoch um einen weiteren Aspekt, und zwar um den grundlegenden Begriff des moralisch Bösen als Verkehrung im Hinblick auf seinen wesentlichen Grund, seine eigentümliche Motivation. Während Kant bis zu diesem Punkt der Abhandlung eine Definition des Bösen genannt hat (»mit Bewusstsein gesetzwidrig«) und dieses Böse auf die Bedingung eines Hangs zum Bösen zurückführte, der in einer obersten gesetzwidrigen Maxime liegt, gibt er nun die Beschaffenheit des Grundes des Bösen oder die innere Struktur des Hangs zum Bösen an. Die beiden Elemente, die durch diesen Grund verständlich werden sollen, sind letztlich der Verstoß gegen die Verbindlichkeit, deren Bedeutung im Gegensatz des Bösen zum moralischen Gesetz liegt, und die Zurechenbarkeit. Aufgrund der Freiheit zum Bösen kann der Grund des Bösen nicht in der Sinnlichkeit bestehen. Auch kann dieser Grund nicht in der Vernunft liegen, aufgrund der Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes, die durch die praktische Vernunft begründet ist. Diese wäre aufgehoben, wenn das Böse und das Gute gleichermaßen vernünftig wären. Eine der wesentlichen Thesen Kants zum Bösen im Rahmen seiner Ethik, die jedoch auch für jede andere Vernunftethik gilt, lautet in diesem Zusammenhang: 63
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Um also einen Grund des Moralisch-Bösen im Menschen anzugeben, enthält die Sinnlichkeit zu wenig; denn sie macht den Menschen, indem sie die Triebfedern, die aus der Freiheit entspringen können, wegnimmt, zu einem bloß tierischen; eine vom moralischen Gesetze aber freisprechende, gleichsam boshafte Vernunft (ein schlechthin böser Wille) enthält dagegen zu viel, weil dadurch der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder (denn ohne alle Triebfeder kann die Willkür nicht bestimmt werden) erhoben; und so das Subjekt zu einem teuflischen Wesen gemacht werden würde. – Keines von beiden aber ist auf den Menschen anwendbar. 64
Als Grund für die Annahme einer obersten gesetzwidrigen Maxime kommen also weder die Sinnlichkeit noch die Vernunft infrage. Dies ist entscheidend für die besondere Bestimmung des moralisch Bösen bei Kant. Da weder die Triebfedern der Sinnlichkeit oder der Selbstliebe, noch diejenige der Achtung vor dem moralischen Gesetz nach Kant ganz aufgehoben werden können, muss der Grund des Bösen die Verkehrung der Rangfolge von Maximen, in die sinnliche Triebfedern aufgenommen werden und der Maxime sein, in welche die Achtung vor dem moralischen Gesetz aufgenommen wird. Diese Verkehrung besitzt wiederum selbst die Form einer nicht verallgemeinerbaren Maxime, durch die, im Widerspruch zum moralischen Gesetz, die Selbstliebe zur obersten Bedingung des Handelns gemacht wird. Die verabsolutierte Selbstliebe, der jedes Opfer gebracht wird, erhebt der böse Wille so zum höchsten Zweck alles Handelns. 65 Das menschliche Böse, die bewusste Gesetzwidrigkeit, ist in dieser Verkehrtheit begründet, die selbstverschuldet ist und dennoch eine Gattungseigenschaft. Dies ist das radikale Böse, das Resultat der Überlegungen Kants über das Böse. Dennoch wirft die Wirklichkeit des Bösen noch zwei weitere Fragen auf, die zu klären sind. Weiter zurück als zum Hang zum Bösen lässt sich nach einem Grund des bösen Willens nicht fragen, wie aber kann man sich die Entwicklung der Persönlichkeit und eines bösen Willens angesichts dieser Bedingung vorstellen? Ebenso unbestimmt wie diese Entwicklung bleibt auch das Bewusstsein des Gesetzwidrigen. Wie ausdrücklich ist der Widerspruch zum moralischen Gesetz, der in der Verkehrung besteht? Auch die Widersprüchlichkeit des Hangs zum Bösen und die Schwierigkeit, die intel-
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ligible Tat zu verstehen, können nun erneut und abschließend betrachtet werden.
2.6 Der faule Fleck der Gattung und die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis – Entwicklung und Verblendung als Aspekte des radikalen Bösen Im Anschluss an das grundlegende Verständnis des Bösen als Verkehrtheit hinsichtlich der moralisch vorgeschriebenen Ordnung des Willens erwägt Kant ein besonderes Zusammenspiel der drei Stufen des Hangs zum Bösen. Nur auf zwei Seiten schneidet er in einer sehr knappen Weise die beiden wichtigen Aspekte der Entwicklung und Verblendung an. Folgende Fragen werden dadurch aufgeworfen: Stellen die Stufen des Hangs zum Bösen nicht nur Grade dieses Hangs dar, sondern auch Stufen einer fortschreitenden Entwicklung, die notwendig stattfindet und zwingend zum Bösen führt? Ist die Verblendung, durch die sich die zweite Stufe des Hangs zum Bösen auszeichnet, ebenfalls auf der dritten Stufe noch vorhanden und wird sie so zu einem allgemeinen Kennzeichen des Bösen und des Bewusstseins, aus dem heraus böse gehandelt wird? Dieses Bewusstsein soll im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen. Durch beide Aspekte, durch die Entwicklung und die Verblendung, wird es möglich, die widersprüchliche Konzeption des Hangs zum Bösen aufzulösen oder wenigstens so weiterzuführen, dass der Widerspruch abgeschwächt wird. In den Kommentaren zur Religionsschrift fehlt eine Berücksichtigung dieser gleichwohl zentralen Aspekte fast völlig. Die Verblendung und die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis spielen nur bei Jaspers eine Rolle. Die verschiedenen Möglichkeiten, wie die Stufen des Hangs zum Bösen miteinander zusammenhängen könnten, werden in keinem Kommentar ausführlich erwogen. Zur bisherigen statischen Konzeption des Hangs zum Bösen, die alle Stufen lediglich nebeneinander stellte, so als seien sie unmittelbar und gleichzeitig gegeben, tritt nun die Möglichkeit einer Entwicklung hinzu. Durch den Gedanken einer Entwicklung, der zufolge der Hang zum Bösen in seiner Abstufung einem Prozess entspringen könnte, kann seine paradoxe Beschaffenheit, frei zugezogen und von Geburt an sowie allgemein vorhanden zu sein, verständlicher wer94
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den. Diese Schwierigkeit hatte sich bei der Betrachtung der drei Stufen bereits darin gezeigt, dass Willensschwäche und Unlauterkeit, als Verborgenheit der Motivation des Handelns, sich eher als angeboren denken lassen und weniger als frei zugezogen. Das umgekehrte Verhältnis gilt für Bösartigkeit als Verkehrung. Kant hat solche möglichen Überlegungen zu einer Entwicklung des bösen Willens nicht detailliert ausgeführt, so dass sie eine Frage der Interpretation im Zusammenhang der ganzen Abhandlung werden. Was die letzte Stufe des Hangs zum Bösen angeht, äußert er sich deutlich über deren Eigenschaft, angeboren zu sein. Danach besteht diese dritte Stufe bereits als subjektiver Grund in Form einer obersten gesetzwidrigen Maxime, nach der die vom Sittengesetz verlangte Rangfolge zwischen Maximen der Selbstliebe und moralischen Maximen verkehrt wird. Auch dies sei in dem Sinn angeboren, dass ein solcher Hang seine Wirkung zeigt, sobald ein Mensch von seiner Freiheit Gebrauch macht. Man kann – auch wenn eine Entwicklung in das Konzept des Hangs zum Bösen einbezogen wird – nicht so weit gehen, Kant die Ansicht zuzuschreiben, die Bösartigkeit werde von Fall zu Fall, begünstigt durch Willensschwäche und Unlauterkeit, erworben oder nicht. Mit der Bösartigkeit ist im Gegenteil bei jedem Menschen zu rechnen. Also muss sie mit der erwähnten Schwierigkeit allgemein vorausgesetzt werden. Jedoch scheint der Weg zu diesem Gebrauch der Freiheit nach Kant über die Willensschwäche und die Unlauterkeit zu führen, wie die folgende Passage zeigt, die mit dem Ergebnis der abschließenden Begriffsbestimmung beginnt: Die Bösartigkeit der menschlichen Natur ist … vielmehr Verkehrtheit des Herzens, welches nun der Folge wegen, auch ein böses Herz heißt, zu nennen. Dieses … entspringt aus der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur, zu Befolgung seiner genommenen Grundsätze nicht stark genug zu sein, mit der Unlauterkeit verbunden, die Triebfedern (selbst gut beabsichtigter Handlungen) nicht nach moralischer Richtschnur von einander abzusondern, … 66
Zunächst ist festzuhalten, dass hier die Bösartigkeit, also die dritte Stufe des Hangs zum Bösen, aus einer Verbindung der beiden anderen Stufen »entspringt«, wie Kant es formuliert. Damit ist das Moment der Entwicklung bezeichnet, das bei Kant gefunden werden kann. Neben einer Entwicklung, die innerhalb der einzelnen Stufen
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des Hangs zum Bösen fortschreitet, verkleinert diese Textstelle auch den Abstand zwischen der Bösartigkeit und dem bösen Herz. Denn schon die dritte Stufe des Hangs zum Bösen beinhaltet eine Verkehrung von moralischen und nicht-moralischen Maximen, und das böse Herz bedeutet dann letztlich nur die Festigung dieser bösen Gesinnung, indem weitere böse Maximen angenommen und böse Handlungen ausgeführt werden. Dies kann man unter der »Folge« verstehen, weshalb dann schließlich aus der »Verkehrtheit des Herzens« ein »böses Herz« wird. Der böse Wille ist danach der Übergang von der dritten Stufe des Hangs zum Bösen zu einer verfestigten Grundhaltung. Auch dadurch wäre nahe gelegt, dass diese dritte Stufe, anders als die beiden anderen, das Resultat einer Entwicklung sein könnte, obwohl sie Kant ebenfalls als angeboren bestimmt. Man muss sich in diesem Zusammenhang jedoch vor Augen halten, dass es Kant nicht darum geht, zu erklären, wie bei einer Person im Laufe ihrer moralischen Entwicklung ein bestehender guter Wille zu einem bösen Willen wird, weil sie einen Hang zum Bösen als reine, aber nicht verwirklichte Möglichkeit besitzt. Dagegen ist der Hang zum Bösen bereits eine Beschaffenheit des menschlichen Willens und der menschlichen Freiheit, die sich auf jeden Fall als Willensschwäche, als Unlauterkeit und als Bösartigkeit äußert. Allerdings differenziert Kant den Grad der Verantwortung für Willensschwäche und Unlauterkeit einerseits, die er unvorsätzliche Schuld nennt, und für Bösartigkeit andererseits, die er als vorsätzliche Schuld bezeichnet. 67 Kant geht davon aus, in welchem Grad auch immer der Anteil der Unfreiwilligkeit bei den beiden ersteren veränderlich sein mag, dass diese Stufen des Hangs zum Bösen zu überwinden sind, wenn es darum geht, moralisch zu handeln und die eigene Moralität zu befestigen. Daraus lässt sich die Verantwortung sowohl für Willensschwäche als auch für jede Form der Selbsttäuschung ableiten. Wiederum darf man bei dieser Unterscheidung von »unvorsätzlicher« und »vorsätzlicher« Schuld nicht übersehen, dass es sich um die drei Stufen der angeborenen Schuld handelt, um deren Beschreibung es in dieser Aussage geht. In das Spannungsfeld zwischen den beiden Eigenschaften des radikalen Bösen, angeboren und frei zugezogen zu sein, gerät folglich auch immer mehr die Sichtweise der Entwicklung des bösen Willens, 67
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die aus dieser Auffassung vom Bösen abzuleiten ist. Wie entsteht nun in der Biographie eines Menschen ein vollendet böser Wille, also das böse Herz? Zu dieser Frage sind auf der Grundlage einer freieren Kant-Interpretation zwei einander entgegengesetzte Antworten möglich. Die erste könnte lauten, ein böser Wille entstünde gar nicht, sondern sei schon durch den angeborenen Hang zum Bösen im ganzen Umfang vorgegeben, der ja angeboren sei. Es sei nur noch die Frage, wann er sich beim ersten Gebrauch der Freiheit tatsächlich äußert. Denn die bewusste Verkehrung der Maximen, obwohl als vorsätzliche Schuld bestimmt, sei ja ebenso bereits angeboren, wie die schwächeren Grade des Widerspruchs zum moralischen Gesetz. Eine moralische Entwicklung, an deren Ende das Böse steht, würde also in diesem Fall nicht stattfinden, nur eine solche, die von ihm wegführen könnte. Es würde dann lediglich einen Zeitpunkt im Leben eines Menschen geben, in dem sich seine Freiheit zum ersten Mal äußert und diese Äußerung würde dann die Qualität des moralisch Bösen besitzen. Allein durch Wiederholung verfestigt sich dann diese Anfangsbedingung zur bösen Grundhaltung. Um einen moralischen Charakter zu entwickeln, muss jeder Mensch zunächst diesen Hang zum Bösen, den er auf jeden Fall in allen drei Stufen besitzt und in die Tat umsetzt, durchschauen und ihn bekämpfen. Der gegensätzliche Standpunkt dazu wäre, dass lediglich Willensschwäche und Verblendung der menschlichen Willensfreiheit von Anfang an als Makel anhaften würden. Sie würden die Bösartigkeit, als Hang zur Verkehrung, begünstigen, aber nicht in jedem Fall auch nach sich ziehen. Dies wäre vielleicht intuitiv eine plausible Ansicht, widerspricht jedoch der Spitze, die in der Bedeutung des radikalen Bösen enthalten ist, in dem Kant den »faulen Fleck der Gattung« sieht: einen moralischen Makel der gesamten Menschheit, der den Hang zum Bösen im vollen Sinn umfasst. Nach dem Bisherigen kann man schließlich in der Konzeption des radikalen Bösen auch einen Kompromiss zwischen diesen beiden Positionen sehen, obwohl Kant mehr zur Annahme neigt, das Böse im umfassenden Sinn als angeboren zu betrachten, wobei seine volle Ausprägung dennoch aus einer Entwicklung hervorgeht. Denn eine solche nimmt er wie gezeigt an, ebenso wie er dabei bleibt, dass auch die dritte Stufe des Hangs zum Bösen angeboren sei. Gerade die letztere Eigenschaft des radikalen Bösen ist in dieser Konzeption allerdings vorrangig, was die Bemerkung des »faulen A
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Flecks der Gattung« belegt. Die Willensschwäche bei eigentlich guten Vorsätzen wäre dann die Einbruchsstelle des Bösen, wobei zuerst gegen besseres Wissen, aber ohne es zu wollen, moralischen Maximen entgegengehandelt werden würde. Zusätzlich würde im nächsten Schritt der Unlauterkeit dieses Wissen darum, dass man eigentlich anders handeln sollte, verdrängt werden. Der Handelnde würde sich trotzdem für gut halten bzw. zwar pflichtgemäß handeln, jedoch nicht aus Überzeugung. Werden dann offensichtlich moralische Maximen zugunsten anderer zurückgesetzt, ist der Hang zum Bösen in seiner höchsten Stufe erreicht. Eine Steigerung stellt nur noch die Festigung der Bösartigkeit zum bösen Herzen dar. Ist dies angeboren, kann man sich eine solche Entwicklung auch nicht als zufällig vorstellen, so dass sie je nach Einzelfall an einem beliebigen Punkt stehen bleiben könnte, sondern sie muss bis zur Verkehrtheit des Herzens führen. Folgendes Zitat kann das Verständnis dieses Vorgangs noch etwas besser erläutern: Folglich ist der Mensch (auch der beste), nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern, in der Aufnehmung derselben in seine Maximen, umkehrt: das moralische Gesetz zwar neben dem der Selbstliebe in dieselbe aufnimmt, da er aber inne wird, daß eins neben dem andern nicht bestehen kann, sondern eins dem andern, als seiner obersten Bedingung untergeordnet werden müsse, er die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht, … 68
Legt man besonderes Gewicht darauf, dass jemand »inne wird«, die Maximen der Selbstliebe und des Sittengesetzes könnten nicht nebeneinander bestehen, eröffnen sich ebenfalls andere Nuancen der Interpretation. Willensschwäche und Unlauterkeit können so aufgefasst werden, dass in diesem Zustand noch keine Rangordnung der Maximen festgelegt ist. Erneut in einer freieren Interpretation könnte man den Endpunkt einer Entwicklung der Freiheit, die gleichzeitig eine Entwicklung zum moralisch Bösen ist, in diesem »Innewerden« sehen, das Kant hier beschreibt. Während in der Willensschwäche und in der Unlauterkeit der eigentliche Konflikt zwischen Selbstliebe und moralischem Gesetz noch nicht ins Bewusstsein getreten ist, geschieht genau dies im Moment dieses »Innewerdens«. Möglich wäre damit eine Deutung der intelligiblen Tat als Resultat einer Reflexion über das 68
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»Nebeneinander« von moralischem Gesetz und Selbstliebe. Wenn nun aber ein Mensch dieses Nebeneinanders mit Kants Worten »inne wird«, also bemerkt, dass es zwei verschiedene, gegensätzliche Antriebe in ihm gibt, die in Maximen aufgenommen werden und so zur Handlungsorientierung dienen, dann ordnet er in einer ersten Möglichkeit des Gebrauchs seiner Freiheit stets die Moralität dem Eigeninteresse unter. Dieses Innewerden und die Verkehrung sind in diesem Fall eng miteinander verknüpft, man könnte sie als zwei Aspekte eines Aktes betrachten und denselben mit der intelligiblen Tat gleichsetzen, da erst im Akt des Innewerdens das Bewusstsein des Sittengesetzes vorhanden ist. Der Hang zum Bösen, der dabei hervortritt, bewirkt dabei zunächst ein Scheitern gegenüber dem Anspruch der Moralität. Das Rätsel, weshalb nach Kant jeder Mensch mit dieser Verkehrtheit zu kämpfen hat, wird jedoch auch durch die Annahme einer Entwicklung nicht gelöst, von der man sagen könnte, dass sie eine angeborene Entwicklung ist. Dass eine solche stattfindet, kann diese Schwierigkeit nur abmildern, indem sie zeigt, dass der böse Wille nicht sofort in seiner ausgeprägtesten Form zur Geltung kommt. Die Abfolge der drei Stufen des Hangs zum Bösen und ihr Zusammenwirken ist nicht als ein Weg zu bewerten, den die Freiheit eines Menschen einschlagen und auf dem sie zu einem beliebigen Zeitpunkt anhalten kann. In jedem Fall wird dieser Weg bis zu seinem Ende gegangen. Angeborene Willensschwäche und Unlauterkeit, die möglicherweise zur Bösartigkeit führen können, stellen als Hang zum Bösen verstanden keinen Widerspruch zur Zurechenbarkeit des Bösen dar. Insofern ist es möglich, eine plausible Konzeption der Möglichkeit zum Bösen in der menschlichen Natur zu formulieren, die auf dem Hang zum Bösen in seinen drei Graden beruht. Wenn man sich vom Wortlaut des Textes teilweise etwas entfernt und dem Gedanken einer sich vollziehenden Entwicklung und der intelligiblen Tat als Inne-Werden folgt, lässt sich der Widerspruch abschwächen. Denn dass jeder Mensch mit dieser Möglichkeit der Verkehrung konfrontiert ist und dass sie in einer Entwicklung der freien Persönlichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt ins Bewusstsein tritt, ist intuitiv nachvollziehbar. Als plausibel kann auch noch gelten, dass jeder Mensch von Fall zu Fall der Versuchung nachgeben könnte, im Konflikt zwischen Moralität und Selbstliebe die letztere zu bevorzugen. Dass jedoch diese Möglichkeit allgemein bei jedem Menschen zum
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bösen Herzen führen soll, scheint weder aus Kants Argumentation zu folgen, noch aus anderen Gründen einleuchtend zu sein. Es ist gleichzeitig aber daran zu erinnern, dass der Hang zum Bösen als angeborene Eigenschaft des menschlichen Willens nicht alleine durch die Tradition des Dogmas der Erbsünde nahe gelegt wird. Die doppelte Allgemeinheit des Bösen selbst, hinsichtlich seiner Verbreitung und seines Rangs in der Gesinnung, wirft diese Thematik auf, die nach einer Stellungnahme verlangt. Eine Antwort auf die Frage, ob der Mensch von Natur aus Böse sei, muss sich immer auch an dieser Allgemeinheit messen lassen und nicht nur an der Zurechenbarkeit. Ein Hang zum Bösen, der auch in einer von Fall zu Fall bevorzugten Verkehrung mehr ist als die bloße Möglichkeit zum Bösen, kann möglicherweise hier einen Beitrag zum Verständnis leisten. Es geht in einer systematischen Weiterführung der Gedanken Kants darum, eine plausible Lösung für den Status der Bösartigkeit zwischen einem zufälligen Endziel einer Entwicklung und einer sich immer äußernden Tendenz zu finden, gegen die stets angekämpft werden muss. Kant selbst neigt offensichtlich zur zweiten Lösung, liefert jedoch nicht den »förmlichen Beweis«. Aus dem Gedankengang gegen Ende des dritten Abschnitts der Abhandlung über das radikale Böse ergibt sich auch der zweite Aspekt, nach dem hier gefragt werden soll: In welchem Verhältnis stehen die zweite und die dritte Stufe des Hangs zum Bösen? Es gibt zwei mögliche Sichtweisen dieses Verhältnisses. Entweder man nimmt an, die dritte Stufe würde die zweite Stufe noch einschließen oder die dritte Stufe des Hangs zum Bösen sei von der zweiten vollkommen getrennt. Davon abhängig wäre die Bedeutung, die man in der Interpretation von Kants radikalem Bösen dem Bewusstsein des Bösen zumisst. Denn wäre die zweite Stufe noch in der dritten enthalten, würde das bedeuten, dass der böse Wille immer eine gewisse Verblendung oder Selbsttäuschung einschließt, auch im höchsten Grad seines Widerspruchs zum Sittengesetz. In diesem letzteren Fall wäre die mit Verblendung verknüpfte Bösartigkeit die äußerste Form des Bösen, die Kant für denkbar hält. Der Handelnde besitzt nur ein eingeschränktes Bewusstsein der Moralität. Er täuscht sich und andere dabei beispielsweise über seinen moralischen Charakter und zieht für seine Selbsterkenntnis keine Konsequenzen aus der Gesetzwidrigkeit der obersten Maxime. In diesem Zustand könnte jemand etwa die Verkehrung der Maximen durch Scheingründe für gerechtfertigt halten. Der eigene Wille wäre 100
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für den Handelnden, wenn er beginnt von seiner Freiheit Gebrauch zu machen, zum Bösen geneigt, ohne dass diese Tendenz für ihn selbst ohne Anstrengung zu durchschauen wäre. Möglich wäre diese Selbsterkenntnis jedoch. Dies passt zur Interpretation der Entwicklung zum Bösen. Eine solche findet nur statt, indem der Hang zur Verkehrung sich durch Gewohnheit verfestigt, ohne dass die Selbsttäuschung einer klaren Erkenntnis über den eigenen moralischen Charakter weicht. Wäre das Böse mehr als eine Selbsttäuschung, dann könnte beim vollen Bewusstsein der eigenen Bösartigkeit und des Sittengesetzes der böse Charakter noch eigens vom Handelnden reflektiert und als solcher gewollt werden, was Kant auszuschließen scheint, wie sich in der Folge zeigen wird. Damit hätte die Unlauterkeit eine wesentliche Bedeutung für das Verständnis des Bösen gewonnen, die erst an dieser Stelle der Abhandlung deutlich wird. Zwei Interpreten Kants, Olivier Reboul und Karl Jaspers, vertreten diese Ansicht, wobei sie jeweils unterschiedliche Aspekte dieser Interpretation betonen. Diese Deutungen sollen nun im Zusammenhang des Texts betrachtet werden. Reboul stellt vor allem in den Vordergrund, dass für Kant das radikale Böse den Charakter einer Lüge besitzt, sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber. Les vrais coupables sont d’un autre trempe; il s’arrangent pour avoir leur conscience avec eux, pour mettre la loi morale à leur service, pour se justifier, ce qui est l’essence même de l’injustifiable. En un mot, le mal radical est mensonge, et mensonge à sa propre conscience.69
Diese Interpretation kann sich auf mehrere Stellen aus der Abhandlung über das radikale Böse und aus anderen Schriften stützen. Als Beispiele angeführt seien die Bemerkungen Kants, der Hang zum Bösen habe auf alle seine Stufen bezogen zum Hauptcharakterzug »… eine gewisse Tücke … sich wegen seiner eigenen guten oder bösen Gesinnungen selbst zu betrügen …«. 70 Im Anschluss daran nennt er diese Tücke wiederum eine Falschheit, durch welche die innerliche und äußerliche moralische Beurteilung unsicher werden. Weil durch diese Falschheit der wahre moralische Wert der Guten in Frage gestellt wird und die Nichtswürdigkeit der Bösen durch sie so69 70
Reboul 1971, 100; vgl. auch Jaspers 1958, 109–134. Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 38. A
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wohl verhüllt, als auch schwer zu überwinden ist, wird die Tücke oder Falschheit für Kant zum entscheidenden Grund das radikale Böse den »faulen Fleck der Gattung« zu nennen. 71 Insofern an dieser Stelle die oben genannte Tücke auch auf die Bösartigkeit bezogen ist, kann man sagen, dass also selbst im äußersten Grad des Bösen, der Handelnde sich selbst über seinen moralischen Charakter täuscht. Um diese Interpretation zusätzlich zu stützen kann man außerdem noch eine Passage aus der kleinen Schrift »Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie« anführen. 72 Erneut hebt er dort die Bedeutung der Lüge hervor, die er hier »den eigentlichen faulen Fleck der Gattung nennt.« Diese Bedeutung der Lüge wird verständlich, wenn es gerade die Lüge ist, die im Zustand der Bösartigkeit eine moralische Besserung der Menschheit verhindert. Denn durch den Hang zum Bösen, der die Unlauterkeit einschließt, wird bereits der erste Schritt zu einer solchen Besserung erschwert. Ein Anfang, der in der Selbsterkenntnis bestehen würde. Hierzu passt ebenfalls, dass Kant bestreitet, jemand wolle aus Grundsätzen einer böser Vernunft das Böse als solches und um seiner selbst willen. Ein Wille, der auf diese Weise bewusst gegen das moralische Gesetz verstößt, wäre teuflisch. Einen solchen teuflischen Willen glaubt Kant beim Menschen ausschließen zu können. Diese These ist in der Literatur zum radikalen Bösen kontrovers diskutiert worden. Viele Interpreten sind der Ansicht, dass Kant damit dem Bösen nicht gerecht werde, so wie man es aus Geschichte, Erfahrung und Literatur kennt, darunter Wimmer, Schulte und Silber. 73 Die gegenteilige Position vertreten beispielsweise Anderson-Gold und Prauss. 74 Die Kontroverse wurde jedoch bislang nicht mit detailliert ausgearbeiteten Argumenten geführt. Allen Kommentatoren gemeinsam ist, dass sie es jeweils für unmittelbar einleuchtend halten, dass ein menschlicher Wille teuflisch werden kann bzw. es nicht werden kann. Eine weitere Gemeinsamkeit der Kommentare besteht darin, dass nach ihnen Kant zumindest innerhalb seiner eigenen Ethik konsequent und zurecht die Möglichkeit des teuflischen Willen be-
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Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 38 f. Kant, Immanuel: Kleine Schriften. VIII, 422. Wimmer 1990, 120; Silber 1960 CXXVI, Schulte 1988, 103–106. Anderson-Gold 1984, 37; Prauss 1983, 97.
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streitet, auch wenn sich darin je nach Standpunkt des Interpreten eine Schwäche dieser Ethik zeigt. Wie aber versteht Kant den teuflischen Willen im Detail? 75 Ein solcher Wille kündigt zunächst dem moralischen Gesetz den Gehorsam »rebellischerweise« auf. Der Grund dafür könnte lediglich in einer »boshaften Vernunft« liegen, durch welche die Geltung des moralischen Gesetzes aufgehoben wäre. Durch eine solche »boshafte Vernunft« wäre »der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder erhoben«. Häufig wird diese Konzeption schlicht damit wiedergegeben, dass der teuflische Wille nach Kant darin besteht, »Böses um des Bösen willen« (bzw. in der englischsprachigen Literatur: »evil for its own sake«) anzustreben. 76 Kants Konzeption umfasst jedoch mehr als nur den Gedanken eines Bösen, das um seiner selbst willen gesucht wird. Entscheidend für den teuflischen Willen im Sinne Kants ist, dass dieser Antrieb aus der Vernunft selbst stammt. Damit würde ein solcher teuflischer Wille aus dem vollen Bewusstsein der Bedeutung von Moralität heraus deren allgemeine Zerstörung aufgrund von rein abstrakten und rationalen Gründen anstreben. Ein solcher Wille ist letztlich innerhalb der Ethik Kants nicht nur beim Menschen unmöglich, sondern generell. Denn die entsprechenden Grundsätze müssten »bösen« Gesetzen gleichkommen, da sie aus der Vernunft stammen. Da aber aus der praktischen Vernunft lediglich die Verallgemeinerbarkeit als Form moralischer Maximen ableitbar ist, ist keine weitere Gesetzmäßigkeit für böse Maximen denkbar, die gleichfalls nicht aus Naturgesetzen ableitbar sein können. 77 Die Annahme vernünftiger und gleichzeitig böser Maximen würde den Vernunftbegriff der Ethik Kants aufheben. Für Henry Allison ist zudem die Unmöglichkeit des teuflischen Willens eine Bedingung für die Zurechenbarkeit von Handlungen. Denn seiner Ansicht nach könnten einem Wesen dessen Handlungen nicht mehr zugerechnet werden, das durch einen teuflischen Willen die Gültigkeit des moralischen Gesetzes völlig aufhebt und das daher nicht mehr durch die Achtung vor dem Gesetz motiviert werden kann. 78 Nach Allison widerspricht dies der Grundannahme einer moraAlle Eigenschaften des teuflischen Willens werden in folgender Passage genannt: Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 35. 76 Prauss 1983, 97; Silber 1960 CXXVI. 77 Dieser Ansicht ist auch Dieter Schönecker. Vgl. Schönecker 1999, 186 f. 78 Allison 1996, 94. 75
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lischen Persönlichkeit, die für das moralische Gesetz empfänglich ist. Aufgehoben wäre jedoch nicht nur die Zurechenbarkeit, sondern bereits zuvor die Möglichkeit, den bösen Willen zu verurteilen. Könnte die Vernunft selbst tatsächlich die Gültigkeit der Moral aufheben, wie es im teuflischen Willen der Fall ist, dann wäre diese Gültigkeit schlicht nicht gegeben. Ein teuflischer Wille, der das Böse um des Bösen willen aus Grundsätzen einer boshaften Vernunft heraus anstrebt, ist nach diesen Überlegungen eine Konzeption, die innerhalb der Ethik Kants nicht möglich ist. Darüber hinaus ist die Annahme eines teuflischen Willens in dieser Form wohl auch nicht mit der Annahme von allgemeingültigen moralischen Urteilen vereinbar. Sollte man jedoch diese Allgemeingültigkeit zugunsten der Annahme eines teuflischen Willens aufgeben, macht es jedoch keinen Sinn mehr einen solchen Willen teuflisch zu nennen, da das Kriterium für eine solche moralische Verurteilung gerade durch eine solche Annahme in dieser Form zerstört wird. Man verlässt mit einer solchen These den Boden einer nicht-reduktiven Theorie des moralisch Bösen und muss entsprechend auch den Begriff des Bösen als zurechenbar und gleichzeitig uneingeschränkt schlecht aufgeben. Möglicherweise ist aber ein Wille denkbar, der zwar den Widerstreit zur Moral zum Antrieb hat, aber nicht aus Grundsätzen der Vernunft heraus. Reiner Wimmer benennt die Möglichkeit einer »schlechthin bösen Willkür«, die nicht aus einer auch nach ihm unmöglichen »verderbten Vernunft« stammt. 79 Als Beleg dafür, dass es den teuflischen Willen doch gebe, der das Böse um seiner selbst willen anstrebt, führen die Gegner von Kants These zahlreiche Beispiele aus Literatur und Geschichte an. Allerdings fehlt eine genauere Ausführung, wie diese Beispiele als Formen eines teuflischen Willens zu interpretieren sind. Eine Widerlegung von Kants These der Unmöglichkeit eines teuflischen Willens müsste im Rahmen einer solchen Interpretation in mehreren Schritten durchgeführt werden. Zunächst müsste gezeigt werden, in welcher Form ein Wille denkbar ist, der direkt vom Widerspruch gegen die Moral motiviert wird. Dann müsste im einzelnen gezeigt werden, dass diese Beispiele nicht durch Kants Konzeption der Verkehrung verständlich werden. Abschließend müsste gezeigt werden, dass genau das durch eine der zuvor beschriebenen Formen eines »teuf79
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lischen« Willens geschieht. Eine Antwort auf die Frage, ob ein teuflischer Wille möglich ist, kann letztlich also nur eine Untersuchung der angeführten Beispiele erbringen, bei der gleichzeitig klar werden soll, ob eine Theorie, die sich an Kant anschließt, entsprechende extreme Formen des Bösen umfassen kann oder nicht. Da folglich dieser Aspekt nicht allein im Zusammenhang der Religionsschrift zu klären ist, wird er im abschließenden systematischen Ausblick erneut aufgegriffen werden. 80 Zunächst bleibt festzuhalten, dass für Kant die äußerste Form des moralisch Bösen in einer Verkehrung gegeben ist. Diese Verkehrung bedeutet, dass moralische Pflichten egoistischen Interessen untergeordnet werden. Die Lüge, die mit dieser Verkehrtheit verbunden ist, besteht darin, dass der Handelnde sich selbst über die moralische Bedeutung dieser Verkehrung täuscht, indem er beispielsweise glaubt, die Gültigkeit des Sittengesetzes für eine persönliche Ausnahme aufheben zu können. Darin kann man auch das »Vernünfteln« gegen das moralische Gesetz wiederfinden, das bereits in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten auftaucht. 81 Bereits an dieser Stelle in der Grundlegung spricht Kant von einem »Hang« gegen das moralische Gesetz Scheinargumente anzuführen bzw. zu »vernünfteln«. Der »faule Fleck der Gattung« verhindert nicht nur, dass man die Bösartigkeit anderer durchschaut und sich der eigenen Schlechtigkeit bewusst wird. Gerade aufgrund dieses Umstands, durch den die Selbsterkenntnis erschwert wird, wird wie erwähnt die moralische Besserung der einzelnen Menschen und der Menschheit im Ganzen behindert. Dies ist für Karl Jaspers die Hauptlehre, die aus Kants Konzeption des radikalen Bösen zu ziehen ist. Entscheidend für ihn ist, dass die moralische Selbsterkenntnis des Menschen durch das Böse beeinträchtigt wird. Dies muss der Ausgangspunkt für jede bewusste Entwicklung zur Moralität sein, die erst einmal den Widerstand des radikalen Bösen überwinden muss. Aber auch jede philosophische Theorie wird dadurch für Jaspers an die Subjektivität und Innerlichkeit verwiesen, wenn sie sich mit dem Bösen angemessen auseinandersetzen will. Denn die Lüge durchschauen, die im Bösen enthalten ist, könne man nicht, indem man es vergegenständlicht, wie etwa in Theorien, die von einer Vererbung des Bösen ausgehen, 80 81
Vgl. Schlussbetrachtung und Ausblick, S. 249 ff. Vgl. Kant, Immanuel: Grundlegung … IV, 405. A
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sondern nur dadurch, dass man seiner Aktivität und Wirkungskraft auch in der eigenen Subjektivität nachspürt. Grundsätzlich in Frage gestellt ist dabei das Wissen um die eigene moralische Persönlichkeit, das es sich immer wieder neu zu erarbeiten gilt. Jedes Mal ist die Objektivität des Grundsatzes und die Objektivität des Gesetzes – obwohl ohne sie weder gute noch böse Handlungen möglich sind – noch nicht die Wißbarkeit dessen, ob ich selbst im Handeln gut oder böse bin. Dieses ist vielmehr niemals zu wissen. Ich kann immer nur die Legalität meiner Handlungen, nie die Moralität meiner Gesinnung wissen. Ich kann nie wissen, was ich eigentlich bin: Ob ich, weil ich gut gehandelt habe, mich für gut halten darf. Das radikal Böse zu erfassen, war für Kant der kaum mehr zu übertreffende Anspruch an die Innerlichkeit des Menschen. 82
Wie wichtig dieser Gesichtspunkt tatsächlich für ihn war, lässt sich zusätzlich durch einen Vergleich mit anderen Werken Kants nachweisen. Eine herausragende Bedeutung besitzt dieses Thema vor allem in der Tugendlehre. Deutlich wird dies in einer Passage, in der auch die These aufgegriffen wird, der Mensch sei von Natur aus böse. Das moralische Selbsterkenntnis, das in die schwerer zu ergründende Tiefen (Abgrund) des Herzens zu dringen verlangt, ist aller Weisheit Anfang. Denn die letztere, welche in der Zusammenstimmung des Willens eines Wesens zum Endzweck besteht, bedarf beim Menschen zu allererst die Wegräumung der inneren Hindernisse (eines bösen in ihm genistelten Willens), und dann, die Entwicklung der nie verlierbaren ursprünglichen Anlage eines guten Willens in ihm zu entwickeln (nur die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis bahnt den Weg zur Vergötterung). 83
Diese Passage und die letztgenannte aus der Abhandlung zum radikalen Bösen über die »Tücke des menschlichen Herzens« bestätigen Jaspers Verständnis des radikalen Bösen in mehreren Punkten. Die Überwindung des Bösen als erste Aufforderung an die Selbsterkenntnis, als Anfang der Weisheit und ihre Schwierigkeit, da gerade die Selbsterkenntnis durch das Böse wiederum erschwert wird – dies sind die wesentlichen Elemente des Bösen bei Kant für Karl Jaspers. Nun kann man allerdings fragen, ob durch die völlige UndurchJaspers 1958, 119–120 und 134. Kant, Immanuel: Tugendlehre. VI, 441. Mit der Formel »Nur die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis bahnt den Weg zur Vergötterung« zitiert Kant Johann Georg Hamann (Hamann, Johann Georg: Chimärische Einfälle, 164). Dasselbe Zitat findet sich auch im Streit der Fakultäten, VII, 55.
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schaubarkeit der Gesinnung, die nach der Ansicht Jaspers aus dem radikalen Bösen folgt, nicht wiederum die Zurechenbarkeit des Bösen zweifelhaft wird und ob sie nicht zusätzlich zu anderen Annahmen Kants zum Bewusstsein des Bösen im Widerspruch steht. Auch scheint durch die fehlende Erkennbarkeit des bösen Willens die methodische Grundlage der Abhandlung über das radikale Böse gefährdet zu sein, insofern von einigen »mit Bewusstsein gesetzwidrigen Handlungen« auf die gute oder böse Natur des Menschen geschlossen werden sollte. 84 Zu Beginn seiner Abhandlung hatte Kant eine böse Handlung als »mit Bewusstsein gesetzwidrig« definiert und zudem setzt die Bösartigkeit, wie erwähnt, in einem Moment ein, in dem der Handelnde des Widerspruchs zwischen der Moralität und dem Eigeninteresse »inne wird«. Kann man nach dem dritten Abschnitt denjenigen, der eine böse Handlung ausführt und sich selbst darüber täuscht, noch für jemanden halten, der mit einem solchen Bewusstsein ausgestattet ist? Würde aber, wenn man diese Frage mit nein beantwortet, im Falle des Bösen jemand aus Unwissenheit und damit unzurechenbar handeln? Man kann die Unsicherheit über die eigene Gesinnung sicher nicht so verstehen, dass das Bewusstsein des Sittengesetzes bei bösen Handlungen ganz aufgehoben wäre. Die Unwissenheit bezieht sich im Fall der Unlauterkeit auf Handlungen, die äußerlich betrachtet legal sind, wobei aber gesetzwidrige Maximen eine pflichtgemäße Handlung zur Folge haben. Darüber ist sich der Handelnde im Zustand der Unlauterkeit, der zweiten Stufe des Hangs zum Bösen, nicht ausreichend im Klaren, weil er sich selbst über seine Moralität täuscht. Aber die »Tücke des menschlichen Herzens« geht noch tiefer. Allerdings muss sie sich bei einer bösen Handlung von dem zuvor genannten Fall unterscheiden, denn diese soll »mit Bewusstsein gesetzwidrig« sein. Wenn man die Bemerkungen Kants berücksichtigt, die sich auf die Selbsttäuschung und auf die Unmöglichkeit beziehen, dem Gesetz den Gehorsam »rebellischerweise« 85 zu versagen, dann kann ein solches Bewusstsein nur ein mangelhaftes Bewusstsein der Moralität sein. Wer böse handelt, ist sich zwar des Umstands bewusst nach Maximen zu handeln, die dem Sittengesetz widersprechen, aber er ist
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Vgl. auch Wimmer 1990, 129 ff. Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 36. A
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sich nicht über die volle Bedeutung desselben im Klaren. Laut der dritten Anlage zum Guten ist der Mensch ein vernünftiges Wesen, dessen freie Persönlichkeit im Sittengesetz begründet ist. Ein vollständiges Bewusstsein des Sittengesetzes würde ein Wissen um dessen Bedeutung für die eigene Persönlichkeit einschließen, auf der schließlich auch die Anerkennung und Geltung des moralischen Gesetzes beruht. Man kann folglich die Verkehrung in Form der Bösartigkeit so verstehen, dass dem Handelnden zwar die inhaltliche Bedeutung der Moralität bewusst ist, aber nicht die Dimension ihrer Geltung. Es wäre in der Moralphilosophie Kants nicht schlüssig, einzuräumen, dass eine handelnde Person den Geltungsanspruch des Sittengesetzes versteht und ihm dennoch die Anerkennung verweigert. Dies haben die Überlegungen zur These der Unmöglichkeit eines teuflischen Willens nach Kant gezeigt. Gerade der Geltungsanspruch des Sittengesetzes wird nach Kant durch den bösen Willen nicht von einer boshaften Vernunft negiert, sonst würde der Gehorsam gegenüber dem Gesetz »rebellischerweise aufgekündigt« werden und die Vernunft würde in einen unmöglichen Widerspruch mit sich selbst treten. Vielmehr wird dieser Geltungsanspruch des moralischen Gesetzes übergangen, verdrängt oder nur für eine Ausnahme aufgehoben. Auf diese Art lässt sich die Tücke verstehen, mit der sich jemand auch dann noch über seine Gesinnung täuscht, wenn er »mit Bewusstsein gesetzwidrige« Handlungen ausführt. Der böse Wille wäre nach diesen Überlegungen mit dem Bewusstsein des moralischen Gesetzes verknüpft und richtet sich gegen die Anerkennung seiner universalen Geltung. Dies ist eine der grundsätzlichen Einsichten über das Böse, die sich aus Kants Abhandlung gewinnen lassen. Das Bewusstsein der Moralität darf beim bösen Willen nicht ganz fehlen oder gar unerreichbar sein. Es kann auch dem obersten Prinzip der Moralität nicht auf eine vernunftgemäße Weise entgegengesetzt sein, so dass der böse Wille dieses grundsätzlich negieren würde. Im ersten Fall würde aus Unwissenheit gehandelt werden. Im zweiten Fall wäre die Geltung des Sittengesetzes aufgehoben und damit würde das Böse aufhören an sich schlecht zu sein, da es über moralische Verbindlichkeit zwei einander widersprechende Positionen geben würde, die gleichermaßen vernünftig begründbar wären. Im Zweifelsfall würde also ein Handelnder, der die Stufe der Bösartigkeit erreicht und im bösen Herzen verfestigt hat, moralische Prinzipien in Anspruch nehmen wollen, wenn es um seine eigene Behandlung geht. Er richtet sich selbst jedoch nur 108
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von Fall zu Fall und unter Vorbehalt des Eigennutzens nach moralischen Prinzipien. In diesem Sinn sind die Stufen des Hangs zum Bösen auch als unterschiedliche Grade verstehen, in denen die allgemeine Geltung moralischer Prinzipien bestritten wird. Im Zustand der Willensschwäche wird die gültige Universalität des Sittengesetzes noch nicht angezweifelt, der anerkannte Geltungsanspruch wird vielmehr nicht umgesetzt, weil die Hindernisse der egoistischen Motivation zu groß sind. Tritt die Unlauterkeit hinzu, ist diese Geltung bereits weitgehend untergraben, pflichtgemäß wird nicht mehr aus Pflicht gehandelt. Diese Einstellung zur universellen Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes ist jedoch dem Handelnden selbst nicht bewusst. Ist der Wille bei der Bösartigkeit angelangt, so setzt er bewusst den Anspruch der Moralität von Fall zu Fall gegenüber dem Anspruch seiner Selbstliebe zurück. Die Geltung des Sittengesetzes wird dabei nur durch Scheingründe aufgehoben, d. h. im Zustand der Selbsttäuschung und nicht durch gültige Argumente. Wäre letzteres möglich, könnte man nur in einem relativen Sinn vom Bösen sprechen. Als Fazit dieser Überlegungen lässt sich festhalten, dass das Verständnis der Art und Weise, wie sich der Hang zum Bösen nach Kant äußert, durch die größere Gewichtung der beiden genannten Gesichtspunkte sinnvoll zu ergänzen ist. Die Entwicklung zeigt das Zusammenspiel der verschiedenen Stufen und die Verblendung weist auf ein Hindernis der moralischen Selbsterkenntnis hin. Zuvor blieb es offen, ob der Begriff des Hangs zum Bösen beide Funktionen im Argumentationsgang erfüllen kann, die ihm zugeschrieben werden können. Also ob durch diesen Begriff verständlich wird, wie man sich das Böse als angeboren und dennoch frei zugezogen denken kann und ob man die Eigenschaft von Natur aus böse zu sein der gesamten Menschheit zuschreiben kann. Nachdem bisher beides zweifelhaft blieb, stellt sich jetzt die Frage, ob die hinzugekommenen Aspekte etwas daran ändern. Stellt man sich ein Zusammenspiel der verschiedenen Stufen des Hangs zum Bösen vor, so kann man für die Frage nach der Verankerung des Bösen in der menschlichen Natur eine Lösung erkennen. Es scheint plausibel zu sein, dass die menschliche Freiheit ein Hang zu einer solchen Verkehrung besitzt. Ferner ist plausibel, dass dieser Hang durch eine möglicherweise im Einzelfall zu schwache Motivation, moralisch zu handeln, und durch eine mangelnde EinA
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sicht in die eigene Moralität bzw. Bösartigkeit begünstigt wird. Eine solche Einsicht zu erlangen, wäre selbst eine Aufgabe der Entwicklung einer moralischen Persönlichkeit. In diesem Sinn kann man von einem angeborenen Hang zum Bösen sprechen, ohne in Kategorien der körperlichen Bedingtheit zu denken. Dennoch wäre auch die Freiheit, moralisch zu handeln in diesem Fall bereits gegeben, allerdings so, dass die menschliche Freiheit sich zunächst in der moralischen Entwicklung und Selbsterkenntnis verwirklichen müsste. Zurechenbar ist das moralisch Böse, obwohl ihm keine Entscheidung zugrunde liegt, die auf einem umfassenden Bewusstsein der Bedeutung des Widerspruchs zur Moralität zugrunde liegt. Es reicht für die Zurechenbarkeit aus, dass dieser Widerspruch dem Handelnden inhaltlich bewusst ist und das es ihm möglich wäre, eine moralische Persönlichkeit im vollen Sinn zu entwickeln. Nicht die Aktivität, sondern die Passivität wäre dem Handelnden anzulasten. Dann kann verständlich werden, dass auch die Bösartigkeit in dem Sinn angeboren sein könnte, dass eine angeborene Entwicklung zu ihr hinführt, wenn dieser Entwicklung nicht entgegen gewirkt wird. Der Begriff einer intelligiblen Tat könnte dann in der angegebenen Weise gedeutet werden, als Akt bei dem das Eigeninteresse dem Sittengesetz vorgezogen wird, sobald dem Handelnden der Widerspruch zwischen beiden deutlich wird. Jedoch wird dieser Akt nicht im vollen Bewusstsein der Bedeutung von Moralität vollzogen, ohne dass er deswegen seine Zurechenbarkeit verlieren muss. Eine solche Interpretation stellt den Hang zum Bösen zwischen den beiden Alternativen einer Möglichkeit des Bösen, die in der menschlichen Natur begründet ist, und einer zufälligen Entscheidung für das Böse, die jeder Mensch in einem gezielten, reflektierten Wollen bei umfassender Kenntnis der Moralität vollzieht. Diese Interpretation geht über die reine Möglichkeit hinaus, deren Verwirklichung nur zufällig bleibt, und ermöglicht dennoch die Zurechenbarkeit. In diesem Sinn ließe sich verstehen, wie das Böse als allgemeine Eigenschaft der menschlichen »Natur« angeboren sein könnte, ohne dass die Verantwortung für das Böse, die der Mensch besitzt, deswegen aufgehoben wäre. Erfüllt nun der Hang zum Bösen auch seine zweite Funktion? Das heißt sind die Gründe, die angeführt werden können, einen Menschen von Natur aus böse zu nennen, derart dass man ihre Gültigkeit auf jeden Menschen erweitern kann? Zunächst muss man allerdings danach fragen, ob diese Gründe ausreichen, um von einem 110
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einzelnen Menschen sagen zu können, er sei durch sie zum Bösen gekommen. Akzeptiert man die Voraussetzung eines universellen moralischen Prinzips, das zur Persönlichkeit jedes Menschen gehört, dann spricht das Argument aufgrund der Allgemeinheit einer obersten gesetzwidrigen Maxime überzeugend dafür, dass der böse Wille auf eine näher zu bestimmende Art in der menschlichen Natur angelegt sei. Die Art und Weise, auf die der Mensch »von Natur aus böse« sei, die der Hang zum Bösen beschreibt, ist zunächst nachvollziehbar und anschaulich, da sie auf verbreitete Phänomene wie Willensschwäche und Heuchelei zurückgreift. Es wird durch die Aspekte der Entwicklung und der Verblendung auch verständlich, wie der böse Wille aus dem Hang zum Bösen hervorgehen kann, ohne dass ein innerer Zwang vorliegt oder die Verantwortung dafür unverständlich wird. Dennoch werden andere Erklärungsmöglichkeiten nicht durch diese ausgeschlossen. Auch wenn Kant zeigt, dass man einen Hang zum Bösen, der etwas mehr als eine reine Möglichkeit und weniger als eine vollkommen ausgebildete Wirklichkeit ist, annehmen kann, um das Böse zu verstehen, so fehlt der Beweis, dass es gerade auf diese Weise geschehen muss. Als Alternativen angeführt seien an dieser Stelle nur Ricœurs Begriff der Fehlbarkeit des Menschen, der mehr zu einer reinen Möglichkeit tendiert oder die Annahme destruktiver Neigungen, durch welche die Sinnlichkeit weniger unschuldig erscheint, als Kant sie konzipiert hat. Selbst wenn man also davon ausgehen würde, dass alle Menschen von Natur aus böse sind, wäre es immer noch möglich, dass diese Eigenschaft eine andere Bedeutung besitzt, als diejenige, die Kant ihr zuschreibt. Aber auch wenn Kant die einzige Möglichkeit beschrieben hätte, wie der böse Wille aus einer Eigenschaft der menschlichen Natur hervorgeht, fehlt doch die Begründung, weshalb man bei jedem Menschen diese Entwicklung bis zu ihrem Endpunkt notwendig voraussetzen muss. Es ist einleuchtend, jedem Menschen ein mögliches Zusammenspiel von Willensschwäche, Heuchelei und unmoralischer Bevorzugung seiner selbst zuzuschreiben. Im Einklang mit der Erfahrung scheint auch eine moralische Selbsterkenntnis zu sein, die durch eine Neigung erschwert wird, sich selbst in einem besseren Licht zu sehen, als angebracht wäre. Aber eine zwingende Begründung dafür, weshalb man keinen Menschen davon ausnehmen sollte und es notwendig sei, dass alle Menschen in diesem Sinn von Geburt an Heuchler sind und zur Bösartigkeit neigen, fehlt. Man kann es A
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sich zwar vorstellen, aber Kant liefert keinen ausreichenden Grund dafür, weshalb man es sich vorstellen muss. Das ist selbst dann der Fall, wenn man es für wahrscheinlich hält, dass jeder Mensch einen so verstandenen Hang zum Bösen besitzt. Es könnte trotzdem sein, dass es Menschen gibt, die nicht in diesem Sinn von Natur aus zur Bösartigkeit neigen. Hinter dem zweiten Beweisziel bleibt der Begriff des Hangs zum Bösen also zurück, auch wenn die Kantische Konzeption des Bösen insgesamt überzeugend ist. Denn hinsichtlich der Notwendigkeit des Bezugs auf die gesamte menschliche Gattung bleibt dieser Begriff problematisch. Verzichtet man aber auf diese notwendige Zuschreibung beschreibt der Hang zum Bösen eine plausible Möglichkeit, wie das moralisch Böse in der menschlichen Natur angelegt sein könnte, angeboren zwar, aber dennoch auf eine Weise, die einen Bezug zur Verantwortung des Einzelnen besitzt. Bereits zuvor wurde darauf hingewiesen, dass es sinnvoll ist, sich die Frage nach dem Verhältnis des Bösen und der menschlichen Natur zu stellen und dass die Annahme einer bösen menschlichen Natur nicht die Schwierigkeiten vergrößert, die das Verständnis des Bösen erschweren. Denn letztlich verweisen die beiden angesprochenen Probleme, die mit dem Begriff des Hangs zum Bösen gelöst werden sollen, auf das Grundproblem jeder nicht-reduktiven Sicht des Bösen: die Vereinbarkeit von Zurechenbarkeit und Negativität des moralisch Bösen. Hinsichtlich der Negativität wäre es verständlicher, weshalb der Mensch sich für das an sich Schlechte entscheiden kann, obwohl er über die Anlage zu einer moralischen Persönlichkeit verfügt, wenn ihm ebenfalls ein Hang zum Bösen angeboren wäre. Aber dann muss wiederum die Verantwortung für das Böse modifiziert werden. Während also die Voraussetzung eines Hangs zum Bösen der Annahme der besonderen Negativität entgegen kommt, scheint sie der Zurechenbarkeit zu widersprechen. Selbst wenn Kant nicht die Notwendigkeit des Hangs zum Bösen zeigen kann, stellt sich dennoch die Frage, wie man eine solche Gattungseigenschaft belegen und Allgemeinheit und Zurechenbarkeit miteinander vereinbaren kann. Man kann das genannte Problem nun gerade in den beiden Gesichtspunkten der Entwicklung und Verblendung wiederfinden. Nimmt man eine Entwicklung von der zweiten Stufe des Hangs zum Bösen, der Unlauterkeit, zur Bösartigkeit an, wird die Zurechenbarkeit des Bösen verständlicher. Seine Allgemeinheit, die wiederum durch den Widerspruch gegen die oberste Maxime der Moralität na112
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he gelegt ist, scheint jedoch nicht notwendig zu sein. Denn eine Entwicklung der Persönlichkeit, die zwar vorgezeichnet ist, aber von der fraglichen Person aufgehalten werden kann, liegt in deren Verantwortung und muss sich aber gerade deswegen nicht in jedem Fall vollziehen. Würde man aber das Böse in einem stärkeren Sinn als angeboren verstehen, um die Allgemeinheit besser erklären zu können, kann man wiederum die Zurechenbarkeit anzweifeln. Bei der Frage nach der Selbsterkenntnis des bösen Willens verhält es sich ebenfalls so. Wäre das Böse immer von einer Selbsttäuschung begleitet, wäre es zu verstehen, weshalb jemand das an sich Schlechte tut. Andererseits sind wiederum dadurch der Zurechenbarkeit Grenzen gesetzt. Ist dies außerdem wirklich schon der äußerste Grad des Bösen, wenn jemand die Selbstliebe zur höchsten Bedingung seines Handelns macht? Oder gibt es noch einen stärkeren Widerspruch zur Moral, in dem der Widerspruch zur Moralität selbst mit einer bewussten Begründung zur Regel wird und das Handeln motiviert? Wenn ja, wird die aus der Vernunft ableitbare Gültigkeit der Moralität in Frage gestellt, wenn das Böse bei vollem Bewusstsein der Moralität ausgeführt werden kann und bewegt man sich dadurch auf den Standpunkt der Indifferenzfreiheit zu? Der Anlass dieser Schwierigkeiten mit dem Hang zum Bösen kann in den beiden Eigenschaften des radikalen Bösen, angeboren und selbst zugezogen zu sein, gesehen werden. Da diese Eigenschaften sich aber aus der Art und Weise, wie Kant das Böse als gesetzwidrig und zurechenbar konzipiert, ableiten lassen, kann man im allgemeinen Problem jeder nicht-reduktiven Sichtweise des Bösen auch die Grundschwierigkeit von Kants Auffassung des Bösen sehen. Diese Schwierigkeit haben wiederum einige Interpreten zum Anlass genommen, Kants Theorie des Bösen für gescheitert zu halten. Ein Hang zum Bösen, die Entwicklung zum bösen Willen und die Frage, ob das Böse mit einer Verblendung, Selbsttäuschung oder einer Lüge notwendig einher geht – diese Gesichtspunkte sind nicht nur für Kants Theorie des Bösen von Bedeutung, sondern ebenso für jede andere nicht-reduktive Theorie desselben. Will man an Kants Theorie anknüpfen, muss also abschließend der Vorwurf des Scheiterns und damit das genannte Problem in Bezug auf das radikale Böse näher betrachtet werden.
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2.7 Das Problem der nicht-reduktiven Sicht des moralisch Bösen bei Kant Die Gestalt, die die Problematik des Bösen bei Kant annimmt, trägt die Spuren einer sturmbewegten Fahrt des Denkens, zwischen der Scylla der Indifferenzfreiheit und der Charybdis der Unzurechenbarkeit hindurch, an sich. 86
Die Kritik an Kant oder aber die Versuche mancher Interpreten, einen Widerspruch auszuräumen, setzen bei dem Akt der freien Bevorzugung einer gesetzwidrigen Maxime vor einer moralischen an. In der Problematik der freien Annahme einer obersten gesetzwidrigen Maxime ist das erwähnte Problem bei Kant vor allem begründet. Als Problem jeder nicht-reduktiven Sichtweise des Bösen ergab sie sich aus den beiden grundlegenden Widersprüchen, die sich aus den Grundannahmen einer solchen Sichtweise ableiten lassen. Auf der einen Seite steht dabei die Annahme der Zurechenbarkeit des Bösen, aus der sich der zweite Teil dieser Annahme ableiten ließ: das Böse sei frei und vernünftig. Im Widerspruch zu dieser aus der Zurechenbarkeit gefolgerten These stehen die beiden anderen Grundannahmen. So lässt sich aus der uneingeschränkten Negativität des Bösen ableiten, das Böse sei nicht frei und nicht vernünftig. Mit der moralischen Qualität des Guten hingegen, ohne Einschränkung zu gelten, kann man begründen, dass lediglich das Gute frei und vernünftig ist. Indem Kant einerseits Freiheit als moralische Autonomie oder als Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft versteht und andererseits eine freie Annahme der obersten gesetzwidrigen Maxime als Grund des Bösen auffasst, scheint auch hier ein vergleichbarer Widerspruch vorzuliegen. Freiheit als Autonomie und das zurechenbare radikale Böse scheinen miteinander unverträgliche Konzeptionen zu sein. Damit wäre das radikale Böse nicht nur eine in sich widersprüchliche Annahme, sondern nach Christof Schulte, Gerold Prauss und Henry Allison ein gescheiterter Lösungsversuch für die Schwierigkeit des Bösen, der eine grundlegende Schwäche der Ethik Kants aufzeige. Die drei Kritiker haben diesen Punkt am deutlichsten herausgearbeitet, der z. B. für Reboul kein unlösbares Problem im Ver-
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Das Problem der nicht-reduktiven Sicht des moralisch Bösen bei Kant
ständnis des Bösen darstellt. Die diesbezüglichen Auffassungen der Kritiker Kants sollen an dieser Stelle dargestellt werden. Schulte legt das Gewicht bei seiner Interpretation des radikalen Bösen auf die Zurechenbarkeit und damit auf das Verständnis der Freiheit, das sich ergibt, wenn man das Böse auf sie zurückführt. Er ist der Ansicht, in der Abhandlung »Über das radikale Böse in der menschlichen Natur« könne man einen Freiheitsbegriff finden, der sich lediglich auf die Spontaneität der Willkür bezieht, die frei sei, weil sie nicht von äußeren Einflüssen oder Neigungen gezwungen ist, eine beliebige Triebfeder in die Maxime des Handelns aufzunehmen, nicht aber auf die Selbstgesetzgebung des Willens. Eine frei angenommene Maxime könne danach dem Sittengesetz gemäß sein oder auch gesetzwidrig und damit böse. Dies sei ein anderes Verständnis von Freiheit als dasjenige der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft, in denen Freiheit als Autonomie aufgefasst werde. Zur Modifikation seines Freiheitsbegriffs sei Kant dabei von der Zurechenbarkeit des Bösen bewogen worden, die sich nicht verstehen lassen würde, wenn er die Konzeption der Autonomie beibehielte. Damit wäre zwar der Widerspruch in der nicht-reduktiven Sicht des Bösen behoben, der entsteht, wenn allein gutes Handeln frei sein soll und böses Handeln trotzdem zurechenbar. Gleichzeitig würde jedoch mit dem Verständnis der Freiheit als Autonomie eine der Grundlagen von Kants Ethik aufgegeben werden. Dadurch, dass die »absolute Spontaneität der Willkür (der Freiheit)« mit einer sittengesetzwidrigen Triebfeder, »welche sie auch sei«, zusammen bestehen kann« (Rel B12), platzt nicht mehr und nicht weniger als die aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten bekannte und in der Kritik der praktischen Vernunft fraglos übernommene Identifikation des praktischen Begriffs der Freiheit mit dem einer eigenen und zugleich allgemeinen Gesetzgebung des Willens als »Autonomie«, mithin als »Wechselbegriffe« (GMS, BA 104). »Also ist ein freier Wille und ein Wille unter Sittengesetzen einerlei« (GMS. BA 98), hatte es dort geheißen. 87
In der Folge ist nicht mehr nur das moralisch Gute aus der praktischen Vernunft ableitbar. Daher die bereits kritisierte These, es sei in diesem Fall nach Kant mehr als nur Vernunft nötig, um zu begründen, weshalb moralisch gehandelt wird und moralisch gehandelt werden soll. Nach Schulte behilft sich Kant auf eine fragwürdige Weise, 87
Schulte 1988, 53. A
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indem er einfach eine gute Gesinnung als Bedingung für moralisches Handeln voraussetze und in der Anlage zur Persönlichkeit eine zusätzliche Annahme vornehme, die über die praktische Vernunft hinausgehen würde. Diese Ansicht wurde zuvor zurückgewiesen, da bei genauerer Interpretation die genannte Anlage in der Empfänglichkeit für eine gute Gesinnung besteht, aber nicht schon diese selbst voraussetzt. 88 Die Persönlichkeit selbst ist nach Kant das in der Vernunft begründete Sittengesetz. Ein Zusatz ist lediglich die Empfänglichkeit der Willkür für die Achtung. Kant bezeichnet im Zusammenhang mit der dritten Anlage zum Guten den Menschen als vernünftiges Wesen, das der Zurechnung fähig ist. Dies ist keine neue Lehre, sondern nur eine andere Formulierung der These, dass der menschliche Wille durch die praktische Vernunft bestimmbar ist. Ohnehin war jedoch auch die Voraussetzung einer guten Gesinnung, die auf der Anlage zur Persönlichkeit beruht, für Schulte nicht überzeugend und nicht weitreichend genug. Wäre Kant Schultes Ansicht nach konsequent gewesen, dann hätte er eingestehen müssen, dass er keinen Grund nennen kann, weshalb man das Gute tun soll und nicht das Böse. Damit wäre die Indifferenzfreiheit angesichts der Zurechenbarkeit des Bösen ein angemessener Freiheitsbegriff und die Konsequenz wäre ein Dezisionismus, den nicht nur Kant bei einer widerspruchsfreien Konzeption des Bösen nicht vermeiden könne, sondern der darüber hinaus zu einem Grundproblem der modernen Ethik wird, wie Schulte in der folgenden Passage schreibt: Der Leser und Interpret der Abhandlung »Über das radikale Böse in der menschlichen Natur« ist somit am Schluss dieser Abhandlung angesichts der »Zumutung der Selbstbesserung« mangels zureichender Begründung für die Wahl moralischen Verhaltens in der Kantischen Moralphilosophie vor die blanke Dezision zwischen moralischer und nicht-moralischer Gesinnung gestellt und stellt darin letztlich schon vor der im Kern nihilistischen Grundfrage, ob und mit welchem Grund er sein Leben überhaupt nach Prinzipien von Gut und Böse ausrichten soll – ein Problem moderner Autonomiephilosophie, welches erst Kierkegaards Entscheidung zwischen ethischer und ästhetischer Existenz wieder in dieser Schärfe exponieren wird. 89
Im Schema der Positionen zum Bösen, die Alternativen zu einer ethischen sind, hätte dies letztlich den vollständige Relativismus zur Folge. Demnach wären sowohl das Handeln, das als moralisch gut ver88 89
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Vgl. Schulte 1988, 38 ff. Schulte 1988, 78 und 118.
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standen wird, als auch sein Gegenteil, das moralisch böse Handeln, frei und vernünftig. Dadurch wird die gesteigerte Bedeutung der moralischen Qualität aufgegeben: die uneingeschränkte Gültigkeit der moralischen Wertung. Die Präferenz des Guten vor dem Bösen scheint nur noch in einer willkürlichen Entscheidung zu bestehen und die universelle Verbindlichkeit des moralischen Sollens ist aufgehoben. Gerold Prauss, der zweite profilierte Kritiker Kants, der sich auf den Widerspruch zwischen Zurechenbarkeit des Bösen und der Autonomie bezieht, stellt seine These des Scheiterns beim Versuch, das Böse verständlich zu machen in den Rahmen einer grundsätzlichen Kritik an Kants praktischer Philosophie, die jedoch hier nicht ausführlich einbezogen werden muss. 90 Am Beispiel des Bösen zeige sich ein darüber hinausgehender Mangel in der Philosophie Kants am deutlichsten, der darin bestünde, dass in ihr ein angemessenes Verständnis des nicht-moralischen Handelns fehle, sei es ein rein technisch-praktisches Handeln ohne Bezug zur Moralität oder ein unmoralisches Handeln. Der Grund dafür sei, dass Freiheit und moralische Autonomie gleichgesetzt werden, wodurch böses Handeln als heteronomes Handeln unzurechenbar werden würde. In diesem Fall müsste nach Gerold Prauss auch dem moralischen Handeln die Freiheit abgesprochen werden, da dem Handelnden keine Alternative als moralisch zu handeln bleibe, wenn er aus freiem Entschluss handelt. Die Argumentation ähnelt derjenigen Schultes mit der Ausnahme, dass Prauss nicht der Ansicht ist, die Konsequenz daraus, dass man das Böse als frei und vernünftig betrachtet, sei die Annahme einer Indifferenzfreiheit. Zudem argumentiert Prauss, dass Kant zwar in der Religionsschrift noch versucht habe, unmoralisches Handeln als zurechenbar zu bestimmen, aber selbst diese eingeschränkte Lockerung der Bindung zwischen Freiheit und Moralität würde er in der Metaphysik der Sitten wieder zurücknehmen. Um dies zu begründen führt Gerold Prauss das folgende Zitat aus diesem Werk an: Die Freiheit, in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft, ist eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit von dieser abzuweichen, ein Unvermögen. 91
90 91
Vgl. Prauss 1983, 70–115. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten. VI, 227. A
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Ein weiterer Kritiker Kants, der ebenfalls wie Prauss die Verbindung von Freiheit und Sittengesetz nicht überzeugend findet und dessen Position daher gemeinsam mit derjenigen von Prauss betrachtet werden kann, ist Henry Allison. 92 Seiner Ansicht nach entwickelt Kant in der Religionsschrift eine tiefere und subtilere Konzeption von Freiheit. Die oben zitierte Textstelle aus der Metaphysik der Sitten ist auch für ihn ein Rückfall in die weniger überzeugende Gleichsetzung aus der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft. Das Argument, mit dem Kant Sittengesetz und Freiheit verbindet, schließe es aus, dass unmoralisches Handelns als frei bezeichnet werden kann. Gerade aus der zitierten Textpassage ließe sich ableiten, dass Kant, da er nun die Möglichkeit vom Sittengesetz abzuweichen als Unvermögen bezeichnet, die Freiheit zum Bösen, die er in Form der Bösartigkeit angenommen hat, wieder aufhebt. Dies würde nach Allison bedeuten, dass er in der Metaphysik der Sitten das Böse als bloßen Mangel auffassen würde. Dazu deutlich im Widerspruch steht jedoch zunächst einmal Kants Verständnis der Laster und Kants Auffassung des Bösen als realem Gegensatz des moralisch Guten, die er seit dem Versuch die negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen vertritt. Als Grund des Bösen muss man in diesem Zusammenhang den Hang zum Bösen nicht als ein besonderes Vermögen der menschlichen Freiheit verstehen, sondern als eine negative Eigenschaft derselben, die keinen Mangel darstellt, sondern eine bestimmte Haltung begründet. Ob sich daraus ableiten lässt, dass Kant sein Verständnis der Freiheit als Autonomie aufgeben muss, wird zumindest von anderen Interpreten bestritten. Bevor diese zu Wort kommen, soll noch einmal das abschließende Urteil von Gerold Prauss angeführt werden: Fasst man daher die vorgeführten Überlegungen Kants in der REL und in der MS zusammen, so kann man nur sagen: Eher geht Kant bis zum Äußersten, bis zur Sprengung seiner Konzeption durch einen expliziten Widerspruch, als daß er sich bereitfände, jene Identität oder Analytizität im Verhältnis zwischen praktischer Vernunft und Moralgesetz wieder aufzugeben. 93
Die Kritik von Prauss wie auch die von Allison an Kant basiert auf einer fundamentalen These: Freiheit kann nur durch eine Wahl zwi92 93
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Allison 1986, 419. Prauss 1983, 114 f.
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schen gut und böse verstanden werden. Wer moralisch gut handelt, aber nicht die Alternative besitzt, sich auch für das Böse zu entscheiden, ist für Prauss unfrei. Demnach wäre Kants Konzeption der Autonomie von vorneherein verfehlt, da bereits ohne die Frage nach der Zurechenbarkeit des Bösen die Freiheit als moralische Selbstgesetzgebung nur eine scheinbare Freiheit ist. Hinzu kommt noch, dass gerade dann, wenn die Zurechenbarkeit des Bösen zum Thema gemacht wird, kein Widerspruch zwischen der Gleichsetzung von Freiheit und Handeln nach dem moralischen Gesetz einerseits und der Freiheit zum Bösen andererseits entsteht. Der Grundgedanke von Prauss ist zunächst einleuchtend. Versteht man Freiheit grundsätzlich als Wahlfreiheit, scheint es unplausibel zu sein, diese Wahl gerade bei einer so grundlegenden moralischen Entscheidung nicht als frei anzusehen. Prauss und Allison stellen sich jedoch nicht die Frage, ob es nicht zu anderen problematischen Annahmen führt, wenn man die Freiheit als Vermögen unmoralisch zu handeln versteht. Schulte benennt dies immerhin als ein grundlegendes Problem der Annahme der Indifferenzfreiheit. Es ist allerdings auch eine Schwäche der Interpretation Schultes, wie auch derjenigen von Allison und Prauss, dass sie auf der Grundannahme beruht, die Auseinandersetzung mit dem Thema des moralisch Bösen werde von Kant nur geführt, um sein philosophisches System von Widersprüchen zu befreien. Daher verstehen sie die These, von der moralischen Gesetzgebung abzuweichen sei ein Unvermögen, nur durch diesen Antrieb Kants. Ob sie sachlich gerechtfertigt sein könnte, beispielsweise durch Konsequenzen der gegenteiligen Annahme, wird nicht untersucht. Hinzu kommt, dass Kant letztlich an keiner Stelle der Religionsschrift die Konzeption der Freiheit als Autonomie ausdrücklich aufgibt, so dass es fraglich ist, ob die Metaphysik der Sitten in dieser Hinsicht einen »Rückschritt« vollzieht. Vielmehr schließt sie sich gleichzeitig durch viele Annahmen zum Bösen an die Abhandlung zum radikalen Bösen an. Entscheidend an dieser Konzeption von Freiheit ist das Handeln aus der eigenen Gesetzmäßigkeit der Vernunft heraus, welche die wahre Persönlichkeit des Handelnden ausmachen soll. Es geht nicht um eine elementare moralische Wahl, da es nicht möglich ist, die eigene Grundbeschaffenheit als vernünftiges Wesen zu wählen. Nach Prauss wäre ein vernünftiges Wesen unfrei, das immer im Einklang mit dem moralischen Gesetz nach verallgemeinerbaren Maximen handeln würde. Stellt man sich in einem A
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Gedankenexperiment eine entsprechende Person vor, würde man sie tatsächlich als unfrei bezeichnen? Vorgegeben wäre bei einer solchen Person immer die Form des Willens durch die Verallgemeinerbarkeit der Maxime. Aber eine besondere Leistung wäre in jedem konkreten Einzelfall immer noch die Anwendung der Maxime und die Umsetzung des konkreten Handelns. Es wäre zumindest nicht so unplausibel wie Prauss es findet, eine solche Person als frei zu bezeichnen, die auf diese Weise immer konkrete Handlungen nach moralischen Kriterien durchführt, ohne jemals überhaupt das Böse als Alternative in Erwägung zu ziehen. Das Gute kann in einem solchen Gedankenexperiment sehr wohl existieren, ohne dass es die Alternative des Bösen geben muss, damit es überhaupt erst erkannt werden kann. Während grundlegende Bedenken gegen eine Gleichsetzung von Freiheit und moralischer Autonomie zumindest relativiert worden sind, bleibt die im Zusammenhang entscheidende Frage nach der Zurechenbarkeit des moralisch Bösen bestehen. Wie lässt sich die Freiheit zum Bösen vor diesem Hintergrund verstehen? Um den möglichen Widerspruch in der Philosophie Kants zwischen der Zurechenbarkeit des Bösen und der Freiheit als Autonomie zumindest abzuschwächen, weist Olivier Reboul auf den Unterschied von zwei Formen der Freiheit hin, deren Zusammenspiel beim Bösen betrachtet werden müsse. In Anlehnung an Victor Delbos und Eric Weil vertritt er eine wechselseitige Ergänzung von Willkürfreiheit und Willensfreiheit (»liberté comme choix« und »liberté comme loi«). Allerdings stellt er auch fest, dass es einen Widerspruch zwischen beiden Begriffen gibt, der sich nicht auflösen lässt. Dennoch sollen beide notwendig zueinander gehören und sich ergänzen. Ainsi la liberté comme loi et la liberté comme choix ne représentent pas deux aspects successifs ou subordonnés de la pensée de Kant. Il s’agit de deux instances contradictoires mais indispensables l’une à l’autre; sans la loi le choix ne serait qu’illusoire, et toutes nos décisions s’expliqueraient par des mobiles conscients ou inconscients; elles ne seraient plus nos décisions; sans le choix, l’autonomie se réduirait à un automatisme spirituel. Et dans les deux cas, le mal n’aurait que l’existence d’un »non-être«. 94
Diese beiden Formen der Freiheit werden in dieser Interpretation gleichrangig nebeneinander gestellt, so dass die Freiheit als Eigenschaft der Willkür zwar ein Vermögen zu einer spontanen Wahl ist, 94
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Reboul 1971, 118.
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aber auch die Eigenschaft, zwischen Alternativen zu stehen. Das bedeutet unter anderem, in Bezug auf gut und böse nicht festgelegt zu sein. Dagegen ist die Freiheit des Willens ausschließlich ein Vermögen, nach dem moralischen Gesetz zu handeln. Der Wille selbst stünde nicht zwischen Gut und Böse. Man könnte nun das Verhältnis zwischen Willkürfreiheit und Willensfreiheit so verstehen, dass im Falle der Wahl einer bösen Maxime von der Willensfreiheit kein Gebrauch gemacht wird, sondern nur von der Willkürfreiheit. Frei wäre die Annahme einer bösen Maxime dann allein hinsichtlich der Willkür. Auf den Willen bezogen wäre ein solcher Akt nicht frei, d. h. von der Willensfreiheit wäre in diesem Fall kein Gebrauch gemacht worden, wobei die Möglichkeit zu einem solchen Gebrauch bestehen bleiben würde. Eine solche Differenzierung würde also die Freiheit zum Bösen verständlich machen, ohne die Freiheit als Autonomie aufzuheben. 95 Allerdings kann man dieses Verhältnis zwischen Willkür und Wille auch so interpretieren, dass die Willkürfreiheit nur eine relative Freiheit ist. Entscheidend für freies Handeln wäre immer der Bezug zum Willen, der die Selbstbestimmung des Menschen beinhaltet und damit auch den eigentlichen Sinn von Freiheit. In diesem vollen Sinn frei wäre die Willkür nur dann, wenn sie vom Willen durch das moralische Gesetz bestimmt wird. Die Freiheit zum Bösen wäre dann nur eine eingeschränkte Freiheit. 96 Wer böse handelt, handelt dann zwar aus einem inneren Antrieb und nach einer Maxime, also in diesem Sinn noch frei, aber letztlich fehlt bei der Annahme von bösen Maximen das Verständnis dessen, was die eigene Freiheit ausmacht. Bezieht man sich auf die Lehre von den Anlagen zum Guten, kann man die Willkür als den Teil der Subjektivität verstehen, in dem die Ansprüche der Sinnlichkeit und der Moralität zusammentreffen und die jeweiligen Triebfedern in Maximen aufgenommen werden. Die oberste Maxime begründet dabei die Einheit der Willkür, was wiederum erlaubt, ihr und damit auch der fraglichen Person einen moralischen Charakter zuzuschreiben. Der Akt der Annahme Für diese Deutung lässt sich anführen: »Die Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben. Der positive ist: das Vermögen der reinen Vernunft für sich selber praktisch zu sein.« Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. VI, 213 f. 96 Auch Reiner Wimmer ist der Ansicht, dass die Freiheit zum Bösen nur eine eingeschränkte Freiheit sein kann. Vgl. Wimmer 1990, 113. 95
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einer obersten Maxime ist dabei nicht dauerhaft festgelegt, weder durch die Selbstliebe, noch durch das moralische Gesetz. Dennoch ist er zunächst geprägt durch den Hang zum Bösen in Form der Verkehrung. Trotzdem bleibt diese Annahme umkehrbar, was wiederum ein Zeugnis für die Willkürfreiheit ist. Gleichzeitig kann man mit Kant darin, dass die Annahme einer obersten Maxime nicht festgelegt ist, kein Vermögen, sondern eigentlich ein Unvermögen sehen. Keinesfalls muss man eine Willkürfreiheit annehmen, die mit der Autonomie gleichrangig ist. Denn die Persönlichkeit eines Menschen kann nur mittels des Sittengesetzes verwirklicht werden. Diesem zuwider zu handeln kann nach Kant nur bedeuten, hinter der Möglichkeit der eigenen Freiheit zurückzubleiben und die Moralität als eigentliche Persönlichkeit des Menschen zu verkennen. Im vollen Sinn frei ist also auch nach der Religionsschrift nur, wer autonom handelt, auch wenn die Willkür in einem gewissen eingeschränkten Sinn ebenfalls »frei« ist, indem sie nicht festgelegt ist. Wenn aber dem Bösen die Freiheit nur in einem eingeschränkten Sinn zukommt, dann kann man dasselbe auch von der Eigenschaft des Bösen aussagen, vernünftig zu sein. Dieter Henrich hat beispielsweise diesen Sachverhalt so formuliert, dass er demjenigen, der aus einem bösen Willen heraus handelt, die sittliche Einsicht abspricht. Platons paradoxer Satz, dass niemand das Schlechte freiwillig tut, trifft durchaus etwas Richtiges: Niemand handelt dem Guten zuwider, ohne die sittliche Einsicht wenigstens im Moment des Handelns zu zerstören oder zu übertönen. Das kann auf verschiedene Weisen geschehen: Er kann seinen Anspruch vor sich selbst als illusorisch ausgeben. Oder er kann ihn zwar anerkennen, aber den besonderen Fall seines Tuns ihm nicht unterstellen, indem er ihn für ungewöhnlich, als entschuldbare Ausnahme oder als durch zwingende Gründe abgenötigt erklärt. Auch damit wird die Klarheit der sittlichen Einsicht überlagert und verdunkelt. Keine Tat kann im vollen Wissen geschehen: »dies ist das Gute nicht«. Denn die sittliche Einsicht umfasst die Momente des Anspruchs, der Zustimmung und der Gewißheit, entsprechen zu können. 97
Die Formulierungen, den »Anspruch des Guten vor sich selbst als illusorisch auszugeben« oder der »entschuldbaren Ausnahme« erinnern an die »Tücke« des menschlichen Herzens, die nach Kant mit der Bösartigkeit verknüpft ist und daran, dass die Verkehrung der 97
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Henrich 1960, 88.
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Maximen den Charakter einer Lüge besitzt. So etwa, indem wie erwähnt mit Hilfe von Scheingründen eine Ausnahme für sich selbst bei der Geltung des Sittengesetzes gemacht wird oder weil der unmoralische Charakter verdrängt wird, ohne dass aber die Selbsterkenntnis unmöglich wäre. Beide Aspekte, die eingeschränkte Freiheit bei der Annahme einer obersten gesetzwidrigen Maxime und die fehlende sittliche Einsicht, als eingeschränkte Vernünftigkeit des bösen Willens, gehören zusammen. Erst eine sittliche Einsicht im vollen Sinn begründet eine Freiheit im vollen Sinn, die mehr ist als Indifferenzfreiheit. Diese beiden Interpretationen, der erste von Reboul und die zweite im Anschluss an Henrich, sind zwei Versuche, den oben genannten Widerspruch aufzulösen, indem die Freiheit zum Bösen von der Freiheit zum Guten ebenso wie der Anteil der Vernunft am Bösen von demjenigen, den sie am Guten trägt, unterschieden wird. Es soll verständlich werden, inwiefern Freiheit und Vernunft beim moralisch Guten in einem vollen Sinn zur Geltung kommen, im Falle des moralisch Bösen jedoch nicht. Das kann geschehen, indem beispielsweise Vernunft als Vermögen der Verallgemeinerung von Maximen von einer reinen Zweckrationalität unterschieden wird. Obwohl in Kants Theorie des radikalen Bösen Fragen und Widersprüche aufgeworfen werden, die Blumenbergs eingangs genanntes Diktum rechtfertigen, lassen sich auch Lösungen für sie finden. Selbst wenn jedoch diese nicht jeden überzeugen sollten, so sind es doch Fragen und Widersprüche, die sich allein durch die Beschäftigung mit dem moralisch Bösen ergeben und nicht nur durch die besondere Systematik der Kantischen Ethik. Für das Problem einer nicht-reduktiven Sicht des moralisch Bösen zeichnet sich durch die Konzeption des Bösen als Verkehrung und durch die verschiedenen Grade des Hangs zum Bösen eine mögliche Lösung ab. Moralisch Böse ist demnach ein Wille, der aus einer obersten Maxime heraus der Selbstliebe vor der Moral den Vorzug gibt. Als uneingeschränkt schlecht kann ein solcher Wille zurecht gelten, da ihm durch seine oberste Maxime im Bösen keine Grenzen gesetzt sind. Denn diese Rangfolge von Selbstliebe und Moral bedeutet, dass einem solchen Handelnden letztlich jedes Mittel recht ist, um seine Ziele zu erreichen. Das Problem der Zurechenbarkeit und damit der Freiheit einer solchen Grundhaltung, lässt sich dadurch lösen, dass man einen Zusammenhang zwischen den drei Stufen des Hangs zum Bösen herA
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stellt und den bösen Willen zwischen Unlauterkeit und teuflischem Willen ansiedelt. Die Bösartigkeit in Form der Verkehrung trägt noch Züge der Willensschwäche und der Unlauterkeit, so dass auch verständlich werden kann, inwiefern ein »Hang« zum Bösen angeboren ist, da beide Eigenschaften bei der Verwirklichung der menschlichen Freiheit zutage treten, sowie sie sich in ihrer alltäglichen Form zeigt. Bei der Willensschwäche besitzt der Handelnde moralische Grundsätze, die sich aber in einzelnen Fällen gegenüber Motivationen der Selbstliebe nicht durchsetzen können. Im einfachsten Fall der Unlauterkeit liegt ein pflichtgemäßes Handeln aus pflichtwidrigen Maximen vor, ohne ein Bewusstsein dieses Widerspruchs, das aber gleichwohl möglich ist. Heuchelei in dieser Form ist sicherlich ebenso alltäglich wie Willensschwäche. Die Verkehrung trägt nun Züge beider Vorstufen zum eigentlichen Bösen. Es überwiegt die Motivation der Sinnlichkeit gegenüber der Achtung vor dem Sittengesetz, aber anders als bei der Willensschwäche wird ihr bewusst ein Vorrang eingeräumt und auf diese Weise wird ebenfalls anders als bei der Willensschwäche eine oberste gesetzwidrige Maxime angenommen. Dies ist die Gemeinsamkeit mit der Unlauterkeit, bei der sich jedoch der Handelnde im Einklang mit der Moral zu finden glaubt. Ist die Verkehrung erreicht, fällt dieser Glaube weg und der Widerspruch zur Moral tritt ins Bewusstsein. Dennoch muss auch die Verkehrung noch eine Komponente der Selbsttäuschung besitzen, indem der Anspruch des Sittengesetzes durch Scheingründe negiert wird oder aber schlicht verdrängt wird. Insofern kann man einen bewussten Widerspruch zur Moral in der Verkehrung annehmen, aber kein volles Bewusstsein der Moral, das bei Kant auch das Bewusstsein ihrer Geltung für den jeweiligen Willen einschließen müsste. Frei ist der Handelnde in diesem Zustand, weil er dieses Bewusstsein erreichen könnte, aber er macht keinen Gebrauch von dieser Freiheit, weil er sich in einem Zustand der Selbsttäuschung befindet. Insofern es keinen Grund gibt, anzunehmen, dass Willensschwäche und Unlauterkeit unüberwindbar sind und zudem das Bewusstsein des moralisch Richtigen ebenfalls erreichbar ist, kann man jedem Handelnden die Verantwortung für den Zustand der Verkehrung zuschreiben. Es ist also möglich, die Bösartigkeit als Zustand der Verkehrung von Maximen der Selbstliebe und der Moral als kohärente begriffliche Struktur des moralisch Bösen wiederzugeben und das Problem einer nicht-reduktiven Theorie aufzulösen. Inwiefern man in diesem 124
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Die Aktualität des »radikalen Bösen«
Sinn an Kant anknüpfen kann und welchen Ertrag an Thesen und Problemen seine Auffassung des Bösen liefert, wenn man auf sie aufbauen will, soll in einem abschließenden Abschnitt zu Kants Theorie des Bösen kurz zusammengefasst werden.
2.8 Die Aktualität des »radikalen Bösen« Kants Theorie des radikalen Bösen umfasst alle elementaren Gesichtspunkte, die zu einer nicht-reduktiven Theorie des Bösen gehören. Sie ist daher auch für jedes andere Verständnis des Bösen wegweisend, das eine solche Theorie zurückweist. Denn an ihr lässt sich aufzeigen, welche grundlegenden Fragen durch das Böse aufgeworfen werden. Erinnert man sich an die grundlegenden Anforderungen an eine solche Theorie, so kann man bei Kant einen Begriff des Bösen, eine Position zur Möglichkeit der bösen Vernunft und eine mögliche Bezugnahme auf alternative Positionen finden. Kant liefert eine begriffliche Bestimmung des Bösen als zurechenbare und gesetzwidrige Verkehrung von Selbstliebe und Moralität in der obersten Maxime des Willens. Mit dem Hang zum Bösen benennt er die Möglichkeit zum Bösen in verschiedenen Graden, seinen Ursprung in der menschlichen Natur und stellt damit die Frage nach der Allgemeinheit des Bösen. Als Endpunkt der Entwicklung zum Bösen steht das böse Herz als verfestigte Grundhaltung in Form der genannten Verkehrung, während der teuflische Wille und damit die böse Vernunft abgelehnt werden. Die Frage nach Begriff, Möglichkeit und Endpunkt des moralisch Bösen kann dabei von der elementaren Schwierigkeit geleitet werden, die darin besteht, Zurechenbarkeit und Negativität des Bösen zu vereinen. Schließlich sollen die Laster der Natur und der Kultur den Nachweis der Gültigkeit des dargelegten Konzepts vom radikalen Bösen erbringen. Für Kants Theorie des radikalen Bösen spricht darüber hinaus noch, dass selbst diejenigen, die sie nicht überzeugen kann, dennoch in ihr grundlegende Fragen finden können, die innerhalb einer Konzeption des Bösen und innerhalb der Ethik eine Antwort verlangen. Die erste dieser Schwierigkeiten ergibt sich bereits aus dem Zusatz, dass Kant das Böse als radikal versteht. Insofern ist es allgemein vorauszusetzen, nicht auszurotten und in einem gewissen Sinn angeboren. Im Hinblick auf das Böse stellt sich stets die Frage, wie sich die menschliche Natur zu ihm verhält. Ist es tatsächlich als Hang zum A
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Bösen angeboren, ist der Mensch von Natur aus ihm und dem Guten gegenüber indifferent oder ist das Gute angeboren und der Mensch wäre von Natur aus gut? Ebenso entscheidend für das Verständnis des bösen Willens wäre die Art und Weise wie er aus seiner Verankerung in der menschlichen Natur hervorgeht. Wie entwickelt sich ein böser Wille zu einem solchen, welche Stufen werden dabei durchlaufen? Daran schließt sich wiederum eng das Verständnis der Grade des Bösen an. Will man wie Kant die Willensschwäche zu einer Vorstufe des Bösen zählen? Wie sieht das Bewusstsein aus, in dem das Böse begangen wird? Gibt es das Böse um des Bösen willen, oder ist diese Möglichkeit auszuschließen? Hierzu gehört auch, ob man wie Kant der Sinnlichkeit einen eigenen Antrieb zum Bösen absprechen will oder ob man einen solchen sinnlichen Antrieb annimmt. Auch der Anteil, den die Vernunft am Bösen trägt, gehört zu diesem Problembereich. Entscheidend für die nicht-reduktive Betrachtungsweise und für die Ethik insgesamt ist, dass sich letztlich in allen diesen Fragen die Grundschwierigkeit wiederfinden lässt, die als Problem der nicht-reduktiven Sichtweise des Bösen bezeichnet wurde. Ist das Böse auf irgendeine Art angeboren, lässt es sich leichter verstehen, weshalb jemand das an sich Schlechte will, jedoch wird dadurch die Verantwortung dafür eingeschränkt. Ebenso verhält es sich beim Grad des Bewusstseins, das dem bösen Willen zugeschrieben werden kann. Ist sich jemand der uneingeschränkten Negativität seines Willens nicht bewusst oder nur eingeschränkt bewusst, wird es verständlicher, weshalb ein solcher Wille sich durchsetzen kann, aber auch hier wird die Verantwortung für das Böse eingeschränkt oder es wird sogar verharmlost, wie der Vorwurf von Helmut Holzhey an die philosophische Tradition lautet. Es ist aber nicht nur unter dem Aspekt des Bösen nach dessen Verhältnis zur Freiheit und zur moralischen Verbindlichkeit zu fragen. Dies stellt ein sich wechselseitig bedingendes Verhältnis dar. Für die Ethik bedeutet das, dass die Annahme einer moralischen Verbindlichkeit in Form eines obersten moralischen Prinzips auch die Frage nach dem Bösen als dessen schärfstem Gegensatz nach sich zieht. Wird ein universales Prinzip von Moralität aufgestellt, dann wird auch die Frage aufgeworfen, wie durch dieses die uneingeschränkte Negativität bestimmt wird und unter welchen Voraussetzungen eine Entscheidung gegen ein solches Prinzip einen bösen Willen hervorbringen kann. Eine Ethik, welche die menschliche Freiheit unter die Vorschrift eines universellen mora126
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Die Aktualität des »radikalen Bösen«
lischen Prinzips stellt, muss ebenfalls die Frage beantworten können, wie aus dieser Freiheit das Böse hervorgehen kann. Daher kann ein Verständnis der uneingeschränkten Negativität auch das Verständnis von moralischen Prinzipien und menschlicher Freiheit erhellen. Trotz aller Schwierigkeiten, welche die Konzeption des radikal Bösen in sich birgt, lässt sie sich als in sich schlüssige und abgerundete Theorie rekonstruieren. Ihre Schwierigkeiten wiederum lassen sich auf allgemeine Schwierigkeiten mit dem moralisch Bösen beziehen und sind nicht nur auf eine Säkularisierung der Erbsünde oder auf spezifische Probleme der Kantischen Ethik zurückzuführen. Wie zeitgemäß ist jedoch diese Theorie? Sind ihre Voraussetzungen noch gegeben? Deckt sie auch moderne Phänomene des Bösen ab? Kann sie eine Alternative zu Erkenntnissen aus Soziologie, Biologie und Psychologie darstellen oder aber diese berücksichtigen? Diese Fragen, die teilweise von neueren Kritikern Kants aufgeworfen werden, sollen im Folgenden umrissen werden. Entgegen der zu Beginn dieser Arbeit genannten Skepsis, das Böse sei nicht begrifflich zu bestimmen, kann man bei Kant einen überzeugenden Begriff des Bösen finden. Wie schon in der Analyse der Alltagssprache setzt die Begriffsbestimmung bei Kant mit den beiden semantischen Elementen »zurechenbar« und »ohne Einschränkung schlecht« an, was bei Kant mit »gesetzwidrig« gleichzusetzen ist. Eine böse Handlung ist daher als »mit Bewusstsein gesetzwidrig« zu bezeichnen. Dieses Bewusstsein führt zum bösen Willen, dem die Eigenschaft »böse« in dem Sinn grundlegend zugeschrieben werden kann, dass alle Phänomene im Bereich des individuellen Handelns, die ebenfalls als »böse« zu benennen sind, aus einem bösen Willen hervorgehen, seien es Handlungen wie Verbrechen oder besondere Grundhaltungen wie Laster oder Leidenschaften. Für jede besondere Konzeption des Bösen ist also entscheidend, wie der böse Wille aufgefasst wird oder es muss begründet werden, weshalb er keine Rolle zu spielen braucht. Im Bezug auf den bösen Willen lautet der Begriff des Bösen bei Kant schließlich, dass dieses eine Bevorzugung der Selbstliebe vor der Moralität, eine unmoralische Verkehrung, darstellt. Der Egoismus und nicht das moralische Gesetz wird zur obersten Bedingung des Handelns. Die Form dieses bösen Willens wird in Begriffen der Ethik Kants als Verkehrung der Ordnung der Maximen bestimmt, so dass die oberste Maxime gesetzwidrig ist, wodurch die unzulässige Rangfolge von moralischen Maximen und Maximen der Selbstliebe bewusst angenommen wurde. A
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Die Aktualität Kants zeigt auch die Arbeit von Ronald D. Milo, der die Diskussion des unmoralischen Handelns innerhalb der analytischen Philosophie bis Anfang der 1980er Jahre zusammenfasst. Milo stützt sich dabei auf die Unterscheidung von »moral weakness« (Willensschwäche) und »wickedness« (Bösartigkeit), die er auf Aristoteles zurückführt. Kants Beitrag zum unmoralischen Handeln ist seiner Ansicht nach zu vernachlässigen. 98 Dieses Fehlurteil wird offensichtlich davon verursacht, dass Milo die Religionsschrift übergeht, die er nicht in seiner Bibliographie anführt. Dabei zeigt gerade die Form des unmoralischen Handelns, die Milo für besonders verurteilenswert und damit für »evil« (böse) hält, große Ähnlichkeit mit Kants Konzeption des bösen Willens. Die einfache Unterscheidung von Willensschwäche und Bösartigkeit differenziert Milo weiter in sechs verschiedene Formen der Immoralität, deren innere Kohärenz er untersucht. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Bezug auf die metaethischen Grundposition des Kognitivismus und des Nonkognitivismus. Vor allem mit Hare, der ein Vertreter der letzteren Position ist, setzt sich Milo auseinander. Willensschwäche liegt nach Milo in einem einfachen Sinn vor, wenn jemand gegen die eigenen moralischen Prinzipien handelt, wohingegen die Bösartigkeit durch unmoralische Prinzipien gekennzeichnet ist. Die weitere Unterscheidung verschiedener Grundformen stützt sich auf die Überzeugung oder das Wissen beim Handelnden, dass er unmoralisch handelt bzw. auf die ungenügende Motivation moralisch zu handeln, ohne ihm dass dieser Umstand bewusst ist. Hinzu kommt neben Willensschwäche und Bösartigkeit noch eine dritte Kategorie des Unmoralischen, die auf einer Indifferenz der Moral gegenüber beruht. Milos Schema umfasst also sechs Formen der Immoralität. »Preferential wickedness« (»präferentielle Bösartigkeit«), »moral weakness« (Willensschwäche) und »moral indifference« (moralische Gleichgültigkeit) sind jeweils Formen, bei denen sich der Handelnde bewusst ist, dass sein Handeln moralischen Prinzipien widerspricht. Ein solches Bewusstsein fehlt bei den drei anderen Formen der »perverse wickedness« (bösartige Verkehrtheit), »moral negligence« (moralische Fahrlässigkeit) und »amorality« (Amoralität). 99 Hier finden sich einige Parallelen zur Konzeption
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Milo 1984, IX. Vgl. Milo 1984, 234.
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Die Aktualität des »radikalen Bösen«
Kants sowie einige mögliche Ergänzungen, auf die kurz hingewiesen werden soll. Die beiden Formen der Willensschwäche, die Milo unterscheidet, besitzen eine gemeinsamen Ursprung in der mangelnden Selbstkontrolle des Handelnden. Während im Fall der Willensschwäche im engeren Sinn der Widerspruch gegen die eigenen moralischen Überzeugungen dem Handelnden bewusst ist, fehlt dieses Bewusstsein im Fall der moralischen Fahrlässigkeit. Zu unmoralischen Handlungen im letzteren Sinn zählt Milo solche, die durch eine größere Aufmerksamkeit vermeidbar sind, wie das Vergessen einer Verabredung oder eine verletzende Bemerkung im Übermut. 100 Milo setzt sich dabei mit der Problematik der Willensschwäche auseinander wie sie von Davidson und Hare aufgeworfen worden ist. Kants Konzeption ist in diesem Rahmen so zu verstehen wie z. B. Davidson die Medea von Euripides auffasst und als Paradigma anführt. 101 Eine Person handelt gegen ihr besseres Wissen, weil eine stärke Motivation die moralische Motivation überwiegt. 102 Deutlich wird diese Auffassung bei Kant dadurch, dass er im Fall der Gebrechlichkeit des Willens die Motivation der Neigung gegenüber derjenigen der Moralität als stärker ansieht. 103 Die sich an Davidson und Hare anschließende Debatte kann hier nicht wiedergegeben werden, da sie größeren Widerhall als jede Debatte gefunden hat, die in den letzten Jahrzehnten über das moralisch Böse geführt wurde. Milos Überlegungen zeigen jedoch zumindest, dass die Einwände, die auch gegen Kants Konzeption der Willensschwäche als Stufe des Hangs zum Bösen angeführt werden könnten, sich zurückweisen lassen. Denn keinesfalls muss diese Form der Willensschwäche in der Konsequenz zu einem Determinismus oder zur Unzurechenbarkeit führen. Milos Argument beruht darauf, dass eine intuitive Unterscheidung von Willensschwäche und zwanghaftem Handeln möglich ist. Im Fall der Willensschwäche lassen sich ähnlich Umstände anführen, unter denen der Handelnde eine Anstrengung unternommen hat, die ausreichend war, um nicht unmoralisch zu handeln. 104 Während Milos Überlegungen zur Willensschwäche die Kanti100 101 102 103 104
Milo 1984, 106 ff. Davidson 1985, 52. Vgl. auch Spitzley 1992, 194 ff. Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 29. Für die Diskussion der Willensschwäche vgl. Milo 1984, 82 ff. und 115 ff. A
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sche Konzeption der ersten Stufe des Hangs zum Bösen stützen, sind die beiden Formen der moralischen Indifferenz mit Kants Ethik auf den ersten Blick unvereinbar. Denn eine Indifferenz gegenüber der Moral lehnt er gerade zu Beginn der Abhandlung über das radikale Böse ab. 105 Kants Rigorismus lässt keine gleichgültige Haltung gegenüber dem moralischen Gesetz zu, denn dieses muss bei jedem Menschen als Anlage zur Persönlichkeit vorausgesetzt werden. Zwei Formen einer solchen Indifferenz nimmt nun Milo an: die Amoralität und die moralische Gleichgültigkeit. Amoralität ist dadurch definiert, dass der Handelnde keine moralische Überzeugung und kein Wissen über Moralität besitzt. 106 Über ein solches Wissen über die Bedeutung von Moralität verfügt der moralisch Gleichgültige. Es hat jedoch keinen Einfluss auf sein Handeln. 107 Unter der Voraussetzung der Konzeption Kants lassen sich diese beiden Formen der unmoralischen Grundhaltung lediglich anders interpretieren. Ein völlig fehlendes Bewusstsein von Moralität wäre aus der Sicht Kants bei einem Erwachsenen, der normale geistige Fähigkeiten besitzt, nicht denkbar. Dies entspricht jedoch auch Milos Standpunkt, der Amoralität im engeren Sinn nur bei einem »Psychopathen« annimmt, dem die Fähigkeit fehlt, durch moralische Erwägungen motiviert zu werden. Besitzt aber ein Handelnder ein Wissen über die Bedeutung von Moralität, ohne dass dies ein Einfluss auf seine Motivation hat, wäre dies mit der Kantischen Konzeption des moralisch Bösen nur als Verkehrung zu verstehen. Damit sich die Motivation durch die Moral nicht durchsetzt, muss ihr eine andere Motivation entgegenwirken, die bevorzugt wird. Auch für Milo ist dies eine mögliche Sichtweise unter anderen, wobei sich auch hier eine größere Debatte anschließt. 108 Hinsichtlich dieser Problematik ist jedoch Kants Position mindestens insofern aktuell, als dass sie eine plausible Alternative darstellt. »Perverse wickedness« und »preferential wickedness« sind die beiden Formen der Bösartigkeit, die für Milo den höchsten Grad des Widerspruchs zur Moral verkörpern. Sie beruhen beide auf »bad principles«, also schlechten Grundsätzen, deren Negativität jedoch nicht weiter spezifiziert wird. Entscheidend für Milo ist, ob eine bestimmte Form der Immoralität in sich schlüssig ist, d. h. ob beispiels105 106 107 108
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Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 22 ff. Milo 1984, 56 ff. Milo 1984, 140 ff. Milo 1984, 143.
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weise ein Bewusstsein der Moral in einer bestimmten metaethischen Interpretation moralischer Urteile mit einem bewussten Handeln gegen die Moral vereinbar ist. Ein solches bewusstes Handeln gegen die Moral, das auf Grundsätzen beruht, ist die »preferential wickedness«. 109 Obwohl der Handelnde weiß, dass sein Handeln moralisch falsch ist, gibt er aufgrund seiner Grundsätze im Zweifelsfall doch egoistischen Antrieben den Vorzug. Ohne dass Milo dies bewusst ist, entspricht diese grundlegende Definition derjenigen der Bösartigkeit als Verkehrung bei Kant. Für Milo ist diese Form der Immoralität für böses Handeln und für einen bösen Willen paradigmatisch. 110 Denn intuitiv entscheidend für den Begriff der Bösartigkeit sei, dass dem Handelnden die Qualität seines Handelns bewusst ist. 111 Auf der Grundlage dieser Feststellung kritisiert er stellvertretend für andere nonkognitivistische Positionen diejenige Hares. Innerhalb dieser Position sei keine schlüssige Annahme einer solchen Bösartigkeit möglich, da sie zur metaethischen Bedeutung von moralischen Überzeugungen zählt, dass sie beim Handeln den Ausschlag geben. Folglich bleibt für Hare nur die Annahme einer »perverse wickedness« übrig, die auf Grundsätzen beruht, die zwar moralisch schlecht sind, was jedoch dem Handelnden nicht bewusst ist. Milo hält eine solche Form der Immoralität nicht für gänzlich unmöglich, aber gleichzeitig ist er überzeugt, dass es absurd sei, in ihr den Regelfall des moralisch Bösen zu sehen. 112 Denn ein fehlendes Bewusstsein von moralischen Prinzipien, schlechte moralische Prinzipien und gleichzeitig die Einstellung, diese schlechten Prinzipien universell vorschreiben zu wollen, seien drei Voraussetzungen, die kaum einmal tatsächlich erfüllt sein dürften. Ohne dass die Debatten, auf die Milo Bezug nimmt – insbesondere die metaethischen Implikationen – an dieser Stelle wiedergegeben werden können, zeigt sich dennoch die Aktualität des Begriffes der Verkehrung, die von Kant als Extrem des Bösen betrachtet wird und die als Kernstück einer nicht-reduktiven Theorie des moralisch Bösen gelten kann. Anders als Kant berücksichtigt Milo jedoch weder die Möglichkeit des teuflischen Willens als eigene Form der Immoralität, da er ein böses Handeln um des Bösen willen für abwegig 109 110 111 112
Milo 1984, 185 ff. Milo 1984, 53. Milo 1984, 218. Milo 1984, 29 ff. A
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hält 113 , noch die konkreten Erscheinungsformen des moralisch Bösen. Beide Aspekte dienen jedoch neueren Kritikern Kants als Anlass für Einwände gegen dessen Begriff der Verkehrung. Ein erster Einwand gegen diesen Begriff des Bösen richtet sich gegen seine Vollständigkeit. Nach Claudia Card könnte ein böser Wille im Sinne Kants existieren ohne jeden Schaden zu verursachen. Auch spiele der Grad des verursachten Schadens keine Rolle, was aber der Intuition widerspricht, nicht jede moralisch falsche Handlung gleich als böse zu bezeichnen. So werde man kaum einen Schwarzfahrer in der U-Bahn böse nennen. Card ergänzt daher die Negativität des Bösen und seine Zurechenbarkeit um den Umstand, dass durch eine böse Tat unerträglicher Schaden bzw. Schmerz (intolerable harm) zugefügt werde. Diesen Schaden differenziert sie in Grundübel (basic evils), analog zu Grundgütern (primary goods). 114 Tatsächlich kann dies eine sinnvolle Ergänzung der Theorie des moralisch Bösen sein, insofern dadurch die Phänomene in den Blick treten, denen man zurecht diese Eigenschaft zuschreibt. Aus der Sicht von Kant kann man jedoch die Kritik an dessen Begriff des bösen Willens zurückweisen, der scheinbar folgenlos bleibt und der keinen spezifizierten Schaden verursachen soll. Analog zum guten Willen, der laut Kant mehr als der bloße Wunsch ist, kann man auch beim bösen Willen die »Auferbietung aller Kräfte« voraussetzen. Entsprechend wäre es sicherlich ebenso widersinnig, einen bösen Willen anzunehmen, der folgenlos bliebe, wie eine Person anzunehmen, die ihren Willen grundsätzlich nie in die Tat umsetzt. Der böse Wille bei Kant ist schließlich nicht das vereinzelte Wollen einer bösen Tat, sondern die ständige Bereitschaft, alle Mittel einzusetzen um einen beliebigen Zweck zu erreichen. Aufgrund dieses Umstands kann man die Beweislast gegen die Kritik umkehren, die gegen Kant eine Undifferenziertheit bezüglich des Schadens vorwirft. Denn in der Konzeption Kants wäre durchaus die Möglichkeit enthalten, die Motive des Schwarzfahrers zu bewerten, ohne darin seine Bösartigkeit ausgedrückt zu sehen. Ist der Wille des Schwarzfahrers noch nicht der konsequente Wille zum Betrug, könnte man ihn durchaus auch als Willensschwäche verstehen, wenn es nur ein gelegentliches Nachgeben gegenüber der Versuchung ist, Geld für eine Leistung zu sparen, die man eigentlich bezahlen muss, obwohl 113 114
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Milo 1984, 8 Fußnote. Card 2002, 16 ff.
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Die Aktualität des »radikalen Bösen«
man eine solche Leistung nicht prinzipiell erschleichen möchte. Verbirgt sich aber hinter dem Schwarzfahren ein konsequenter Wille zum Betrug bei jeder Gelegenheit, so wäre die Bösartigkeit dieses Willens, die durchaus als vorhanden gelten kann, gerade durch einen Begriff des Bösen nicht zu erfassen, der die Schwere des Schadens hinzuzieht und zum entscheidenden Kriterium für die Bewertung von bösem Handeln macht. Vernachlässigt Kant aber die konkreten Formen des Bösen und den Schaden, den sie bei ihren Opfern verursachen? Zumindest kann man auf die ungereizte Grausamkeit verweisen, die als eines der wesentlichen Beispiele Kants für die Wirklichkeit des Bösen dient. Card übersieht ausgerechnet dieses Beispiel, obwohl ihr Grausamkeit als Paradigma dient, um das Böse zu verstehen. Die Anlagen zum Guten können außerdem einen weiteren Anhaltspunkt dafür liefern, welcher elementare Schaden einer Person durch eine böse Tat zugefügt werden kann, wenn ihr die entsprechenden Voraussetzungen genommen werden, diese Anlagen zu verwirklichen. Auch wenn also Kant keine vollständige Übersicht über Phänomene des moralisch Bösen liefert und auch dies nicht sein Anliegen ist, da er dessen Prinzip untersucht, lässt sich eine solche Übersicht leicht an eine Kantische Theorie des moralisch Bösen anschließen. Claudia Card bemängelt jedoch nicht nur die fehlende Berücksichtigung des Schadens bei den Opfern des Bösen, sondern auch das Prinzip selbst. Denn die Konzeption, die das Böse als Verkehrung der Rangordnung von Moralität und Selbstliebe versteht, scheint zu eng gefasst zu sein. Zum einen stellt sich die Frage, ob die reine Verkehrung bereits wirklich bösartig ist. Zum anderen geht es darum, ob andere böse Prinzipien außer der Verkehrung denkbar sind und vorausgesetzt werden müssen, um bestimmte Phänomene zu erklären, die normalerweise zum moralisch Bösen gezählt werden. Möglicherweise gibt es tatsächlich Fälle, in denen eine Verkehrung von Selbstliebe und Moralität nicht bösartig erscheint, sondern nur unmoralisch. Jedoch geht es Kant nicht um einen möglichen harmlosen Einzelfall, sondern um eine Grundhaltung der verabsolutierten Selbstliebe. Dass diese, wenn sie die Anlagen zum Guten ins Gegenteil verkehrt und die Vernunft instrumentalisiert, bösartig ist, sollte außer Frage stehen. Denn sie bedeutet nichts anderes, als dass jedes Mittel recht ist, um die eigenen Zwecke zu verfolgen. Aber auch wenn man dies einräumt, bleibt noch die Kritik bestehen, dass bestimmte Formen des Bösen durch ein Prinzip der VerA
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kehrung nicht erklärbar sein sollen. Nationalismus, Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus führen unter Umständen für ihre Vertreter und Anhänger zu selbstlosen, teilweise sogar für sie selbst zerstörerischen und fatalen Handlungen. Die Moralität scheint in diesen Fällen nicht der Klugheit untergeordnet zu sein, wie durch das oberste Prinzip der Selbstliebe nahe gelegt wird, sondern anderen Prinzipien, die zwar der Moral widersprechen, ebenso aber auch der Selbstliebe oder dem Egoismus. Vielleicht kann man jedoch solche Handlungen, die im Zusammenhang mit den genannten komplexen historischen Phänomenen stehen, durch die Aufwertung des Selbst aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Gruppe erklären. Eine detaillierte Untersuchung dieser Phänomene, die den Bezug auf das moralisch Böse herstellt, würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Die Frage bleibt bestehen, ob hier tatsächlich eine Verkehrung von Selbstliebe und Moralität vorliegt. Zumindest kann man es nicht von vorneherein ausschließen. Zwei weitere Zweifel an Kants Konzeption des moralisch Bösen lassen sich an diesen anschließen. Nicht nur die Verkehrung wird kritisiert, sondern auch der Umstand, dass durch sie sowohl Neigungen als auch die Vernunft als Ursprung des Bösen ausgeschlossen werden. 115 Kant wird z. B. vorgeworfen, ein zu positives Bild der menschlichen Neigungen gezeichnet zu haben. Demnach stellt sich die Frage, ob es nicht Neigungen gibt, die direkt schon der Moralität entgegengesetzt sind und nicht erst ihre Bevorzugung gegenüber moralischen Prinzipien dazu führt. Z. B. kann man fragen, ob Sadismus auf eine destruktive Neigung, d. h. auf eine ursprüngliche Lust am Leiden anderer, zurückzuführen ist. Im Hinblick auf Kants These vom radikalen Bösen ist auch die erwähnte Zurückweisung des teuflischen Willens und der bösen Vernunft häufig kritisiert worden. Claudia Card führt als Beispiel für den teuflischen Willen »Grauzonen« an, in denen Opfer zur Mittäterschaft gezwungen werden, um sie dadurch noch zusätzlich moralisch zu korrumpieren. 116 Die Frage nach dem teuflischen Willen zielt letztlich auch darauf ab, ob die Verkehrung als Begriff des Bösen ausreichend ist. Um eine Antwort auf sie zu finden, sind die einzelnen teuflischen Handlungen auf ihre Motivation hin zu untersuchen und ist insbesondere die Imagination des Bösen in der modernen Li115 116
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Vgl. z. B. Fackenheim 1954, 264. Card 2002, 219–224.
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teratur heranzuziehen. Literarische Figuren werden häufig als Belege für die Möglichkeit des teuflischen Willens angeführt. Im abschließenden Fazit dieser Arbeit soll eine mögliche Form einer solchen Untersuchung umrissen werden. Dort wird das Thema des teuflischen Willens wieder aufgegriffen, nachdem auch Paul Ricœurs Position dazu erläutert worden ist. Schließlich wirft noch der beispielsweise von Schulte angenommene Nihilismus in der Moderne eine weitere zentrale Frage auf. Kann man das allgemeine Bewusstsein des Sittengesetzes oder eines vergleichbaren Prinzips der Moralität noch als gültige Voraussetzung bewerten? Auch dies ist eine Frage, die über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinausgeht. Susan Neiman stellt beispielsweise fest, dass in intellektuellen Debatten der Gegenwart eine große Vorsicht hinsichtlich der Allgemeinheit von moralischen Prinzipien besteht, aber gleichzeitig doch Einigkeit in der Verurteilung des Bösen und hinsichtlich seiner Erscheinungsformen herrscht.117 Dies relativiert den angeblichen Siegeszug des Nihilismus deutlich und ermutigt dazu, diese Frage bei einer Untersuchung der konkreten Phänomene erneut zu stellen. Die Kritik an Kants Theorie des moralisch Bösen hat nun anhand einiger offener Fragen – neben den eingangs genannten Hauptthemen – einen weiteren Leitfaden für die Vervollständigung einer Theorie des moralisch Bösen durch die Untersuchung konkreter Phänomene gegeben. In einer solchen Untersuchung müssen die Verkehrung als wesentliche Eigenschaft des Bösen, böse Neigungen, der teuflische Wille, das Bewusstsein von Moralität sowie der Rang des Bösen in der Systematik moralphilosophischer Begriffe thematisiert werden. Zuvor sollen jedoch Paul Ricœurs Überlegungen zum moralisch Bösen herangezogen werden, in denen der Entwurf einer solchen Untersuchung konkreter Erscheinungsformen des moralisch Bösen enthalten ist. Auch die Theorie Kants wird dabei von Ricœur in Betracht gezogen, kritisiert und modifiziert. Der Beitrag von Ricœurs Werk Finitude et culpabilité zu einer Theorie des moralisch Bösen soll im folgenden Kapitel dargestellt werden.
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Neiman 2002, 9. A
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3. Kapitel:
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3.1 Das Böse im Zusammenhang der Werke Paul Ricœurs Das moralisch Böse ist das zentrale Thema von Paul Ricœurs Finitude et culpabilité (dt.: Phänomenologie der Schuld), dem zweiten Teil seiner Philosophie de la volonté. Dies ist eines der wenigen umfangreichen Werke eines bekannteren Philosophen der Gegenwart über diesen Gegenstand. Im Unterschied zu Kants Theorie des moralisch Bösen spielt in derjenigen von Paul Ricœur die Schuld eine Hauptrolle. Wesentlich ist dabei die Paradoxie des Schuldbewusstseins, dessen Verständnis aus den verschiedenen Formen des Schuldbekenntnisses abgeleitet wird. Zwei Leitthemen prägen nach Ricœurs eigener Aussage Finitude et culpabilité: zum einen die ontologische Frage nach dem Unterschied von Endlichkeit und Schuld, zum anderen die Notwendigkeit der Hermeneutik angesichts eines mittels anderer Methoden nicht verstehbaren Schuldbekenntnisses. 1 Ricœurs Untersuchung schreitet dabei von einem Vorverständnis des moralisch Bösen über dessen anthropologische Möglichkeit und einem entsprechenden Begriff des Bösen bis zur Untersuchung von Symbolen fort, in denen sich die Wirklichkeit des bösen Willens ausdrücken soll. Nachdem das Problem der moralischen Verfehlung in Le volontaire et l’involontaire 2, dem ersten Teil der Philosophie des Willens, aus methodischen Gründen zunächst ausgeklammert wird, folgen zwei durch ihre Fragestellung und Methode klar voneinander getrennte Abhandlungen. In L’homme faillible (dt.: Die Fehlbarkeit des Menschen) 3 beschäftigt sich Ricœur mit der Möglichkeit zum Bösen in der menschlichen Natur. Methodisch durchgeführt wird 1 2 3
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Vgl. Ricœur 1995, 28–31. Ricœur 1950. Ricœur 1960; dt. Ricœur 1971.
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diese Untersuchung mittels einer rein begrifflichen und transzendentalen Reflexion, die im Bereich der Erkenntnis einsetzt. Die dort herausgearbeitete Struktur wird auf den Willen und das Gefühlsleben übertragen, bis die reflexive Vorgehensweise schließlich beim Verständnis des Bösen an ihre Grenzen stößt. Erkannt wird jedoch mit ihrer Hilfe die Möglichkeit des moralisch Bösen in der anthropologischen Grundstruktur der menschlichen Vermögen, die im Bereich des Gefühls den schwächsten Punkt und die Einbruchsstelle des moralisch Bösen besitzt. Wie auch Kant zieht Ricœur hier die Leidenschaften und den Begriff des »Herzens« hinzu. Den Übergang von dieser anthropologisch konzipierten Möglichkeit zur Wirklichkeit versucht La symbolique du mal (dt.: Die Symbolik des Bösen) 4 durch die Deutung von Symbolen und Mythen zu erhellen. Hier liegt die Paradoxie, welche sich nach Ricœur dem begrifflichen Verständnis des Bösen entgegenstellt, offen zutage. Diese Problematik wird von Ricœur jedoch entgegen einer vorherigen Ankündigung in seinen späteren Arbeiten nicht weiterverfolgt. Er widmet sich vielmehr den allgemeineren theoretischen Konsequenzen dieser Thematik für die philosophische Methode und das Verständnis des menschlichen Bewusstseins. Im Anschluss an La symbolique du mal behandeln daher einige der Aufsätze aus Le conflit des interprétations 5 das moralisch Böse zwar noch im Rahmen der Problematik aus der Philosophie de la volonté, aber bereits mehr im Hinblick auf eine Konzeption der Hermeneutik, die auf einer Theorie der Symbolauslegung begründet ist. Zu diesen gehört der programmatische Aufsatz Phénoménologie et hérmeneutique 6 , in dem Ricœur schließlich unter anderem die theoretischen Konsequenzen aus dieser jahrelangen Beschäftigung mit dem Bösen zieht. Diese bestehen vor allem in einer angemessenen Auffassung des Cogito, die durch eine Verbindung von phänomenologischer und hermeneutischer Vorgehensweise erreicht werden soll. Das inhaltliche Verständnis des Bösen spielt darin keine Rolle mehr und Ricœur wendet sich anderen Themen wie der Narrativität und der Zeit zu. Einige Abschnitte aus Soi-même comme un autre 7 zei-
4 5 6 7
Ricœur 1960a; dt. Ricœur 1971a. Ricœur 1969; dt. Ricœur 1973 u. 1974. Ricœur 1974. Ricœur 1990, dt. Ricœur 1996. A
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Paul Ricœur über das Böse
gen jedoch, dass Ricœur das Thema des Bösen nie ganz aus dem Blick verloren hat und dass einige seiner frühen Ansichten auch in dem Werk ihre Gültigkeit behalten, das nach verbreiteter Ansicht der Höhepunkt seines späten Schaffens ist, wenn es nicht sogar die Summe seiner gesamten philosophischen Arbeit verkörpert. Es handelt sich, wie bereits aus dieser Übersicht der Titel deutlich wird, beim Thema des Bösen um einen Aspekt des Werks von Paul Ricœur, der zu einer jahrelangen Entwicklung beigetragen hat und dessen Formulierung selbst wiederum von dieser geprägt worden ist. Als theoretischer Rahmen ist dabei die Veränderung der Grundposition Ricœurs von einer existentialistischen zu einer hermeneutischen Phänomenologie besonders hervorzuheben. Für das Verständnis des Bösen bei Ricœur ist diese Verbindung von inhaltlichen und methodischen Überlegungen grundlegend, so dass sie zunächst verdeutlicht werden muss. Im Anschluss daran soll das Verhältnis Ricœurs zu Kant kurz dargestellt werden, sofern es für die vorliegende Thematik eine Rolle spielt. Schließlich wird Ricœurs Position mit den Anforderungen und Grundfragen an eine Theorie des moralisch Bösen konfrontiert. Von den Antworten, die von seiner Perspektive her möglich erscheinen, hängt der Beitrag Ricœurs zu einer nicht-reduktiven Theorie des moralisch Bösen wesentlich ab. Diesen Beitrag im Rahmen einer möglichen Theorie des Bösen systematisch zu rekonstruieren ist das Hauptanliegen und Ziel der folgenden Überlegungen, die von der Interpretation der genannten Texte und der Zusammenfassung der in ihnen formulierten Grundannahmen ausgehen. Die Grundzüge von Ricœurs Werken zum Bösen sind, wie oben erwähnt, durch eine Verknüpfung von inhaltlichen und methodischen Fragen geprägt. Trotz der grundlegenden Änderung der methodischen Vorgehensweise behält Ricœur einige inhaltliche Elemente der Auffassung vom moralisch Bösen bei, die er bereits am Anfang der 1950er Jahre vertreten hat. Dies sind die Leidenschaften als Erscheinungsweisen des Bösen und die »selbstverschuldete Sklaverei des Willens«. Es ist die religiöse Konzeption des »servum arbitrium«, des nach dem Sündenfall unfreien Willens, die für den französischen Philosophen und gläubigen Protestanten gleichbedeutend mit dem Willen im Zustand der Leidenschaft ist, also dem menschlichen Willen entspricht, der sich in der Wirklichkeit des menschlichen Lebens zeigen soll. Insbesondere von Luthers Verständnis des servum arbitrium sei er nach eigener Aussage schon vor Finitude et 138
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culpabilité fasziniert gewesen. 8 Beide Konzeptionen, Leidenschaften und servum arbitrium, verdienen in der Folge als wichtige Voraussetzungen Ricœurs größere Aufmerksamkeit. Beide Phänomene bewegen ihn maßgeblich dazu, seine theoretische Position zu überdenken. Der Grund dafür besteht darin, dass der böse Wille, dessen Zustand beide Phänomene beschreiben, sich nicht durch die phänomenologische Methode verstehen lässt, die Ricœur noch in Le volontaire et l’involontaire anwendet. Eine Lösung dieses Problems oder eine vollständig ausgearbeitete Theorie des Bösen sucht man jedoch im Werk Ricœurs vergeblich. Der Kreis der Untersuchung schließt sich in Finitude et culpabilité dementsprechend bei einem vertieften Verständnis des Phänomens, das Ansporn der Überlegungen war, beim unfreien Willen, ohne dass Ricœur vorgibt, eine philosophische Begrifflichkeit bereits erarbeitet zu haben. Vielmehr weist er auf die Schwierigkeit eines solchen Vorhabens hin, die einen »langen Umweg« der Methode erfordert. Die Metapher des »long detour« ist eine der grundlegenden Charakteristika von Ricœurs Denken, die in kaum einer der immer zahlreicher werdenden Einführungen in seine Philosophie fehlt. Sie hängt vor allem mit dem Hauptziel dieser Philosophie zusammen. Dieses erste, grundlegende Ziel der Philosophie Ricœurs besteht in einem authentisch verstandenen Bewusstsein und es lässt sich nach den Erkenntnissen aus der Untersuchung des moralisch Bösen nicht durch eine bewusstseinsimmanente Reflexion erreichen, wie dies die Phänomenologie versucht. Die Reflexion wird auf die Hermeneutik verwiesen. Doch die symbolische Bekenntnissprache, durch die ein Zugang zum Phänomen des bösen Willens möglich wird, lässt sich auch mit Hilfe der hermeneutischen Methode nicht vollständig in einen entsprechenden philosophischen Begriffszusammenhang umwandeln. Entsprechend der charakteristischen Dialektik, die sich in Ricœurs Werk häufig findet, ist die Formulierung des unfreien Willens das Resultat einer Vermittlung von Gegensätzen mit dem Anspruch, das Verständnis des Themas vertieft zu haben, ohne dass jedoch das anfängliche Rätsel vollständig gelöst und damit die von Anfang an im Vorverständnis des Bösen enthaltene Widersprüchlichkeit aufgehoben worden wäre. Aber ebenso wenig wie es gelingt, den Reichtum der symbolischen in eine begriffliche Aus8
Ricœur 1995a, 47. A
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Paul Ricœur über das Böse
drucksweise zu übersetzen, kann es befriedigend sein, die in den Symbolen enthaltene Erkenntnis über das menschliche Dasein aufzugeben. Aus diesem Ergebnis folgt das Motto, das der theoretischen Grundlegung der Hermeneutik in den folgenden Schriften vorangeht: »le symbole donne à penser«. 9 Welchen Wert man Ricœurs Beitrag zu einer Theorie des moralisch Bösen beimisst, hängt wesentlich davon ab, ob man diesem Wahlspruch folgen möchte oder nicht. Trotz des Umfangs der beiden Abhandlungen von Finitude und culpabilité handelt es sich also hinsichtlich einer Theorie des moralisch Bösen erst um Voruntersuchungen. Obwohl eine solche Theorie fehlt, die an den komplexen und differenzierten ersten Teil der Religionsschrift Kants heranreichen könnte, lässt sich bei Ricœur gerade durch den Bezug zu Kant ein in einigen Aspekten alternativer Ansatz verdeutlichen. Umgekehrt tritt auch die Besonderheit einer sich an Kant orientierenden Theorie des Bösen durch diesen Vergleich mit Ricœurs Ansatz deutlicher hervor. Demnach bieten Ricœurs Werke durchaus eigene Lösungen zu den eingangs genannten Anforderungen an eine nicht-reduktive Theorie des moralisch Bösen hinsichtlich dessen Begriff, Möglichkeit und Angemessenheit gegenüber den entsprechenden Phänomenen. Zusätzlich bietet Ricœur auch auf die wichtige Frage nach dem teuflischen Willen eine eigene Antwort. Es lässt sich schließlich neben vielen Gemeinsamkeiten beider Positionen auch eine kritische Stellungnahme Ricœurs gegenüber Kant finden, die man ganz allgemein als eine immanente Kritik eines möglichen, sich an Kant orientierenden Verständnisses des moralisch Bösen auffassen kann. Entscheidend ist, dass wie bei Kant die Problematik der Freiheit zum Bösen im Mittelpunkt steht. Ricœur, der sich ebenfalls als Vertreter einer nicht-reduktiven Auffassung zeigt, vermeidet auch die beiden Extreme des Determinismus und der Indifferenzfreiheit, die letztlich dazu führen, dass der Begriff des moralisch Bösen aufgegeben werden sollte. Wie sich zeigen wird, ist der Grund dafür, dass eine ausgearbeitete Theorie des moralisch Bösen bei ihm fehlt, weniger die Skepsis Ricœurs gegenüber ihrer Möglichkeit. Die von ihm geplante »Empirie des Willens« bezeichnet eine mögliche Formulierung dieser Theorie des moralisch Bösen. Vielmehr hat sich das Interesse Ricœurs vom Bösen weg zu einer theoretischen Grundlegung der Hermeneu9
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Ricœur 1960a, 497 ff.
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tik verschoben, in deren Rahmen das moralisch Böse zwar eine Rolle spielt, aber nur als ein Phänomen unter anderen. Hinzu kommt, dass im Werk Ricœurs die systematische Ethik, in deren Zusammenhang eine ausgearbeitete Theorie des Bösen gehört, nur eine untergeordnete Rolle spielt. Es gibt zwar einen größeren Abschnitt in Ricœurs späterem Hauptwerk Soi-même comme un autre, den er selbst als »kleine Ethik« bezeichnet. 10 Aber obwohl darin grundlegende ethische Fragen besprochen werden, wie das Verhältnis von teleologischer zu deontologischer Ethik, ist jedoch auch diese »kleine Ethik« auf das Grundthema bezogen, das bereits in den frühen Werken vorherrscht: das Verständnis des menschlichen Selbsts. So finden sich in diesem Rahmen zwar Überlegungen zum Bösen, die sich hier weitgehend an Kant anschließen, jedoch wiederum keine detaillierte Theorie desselben. In dieser kurzen Skizze der grundlegenden Annahmen zum Bösen und ihres theoretischen Rangs im Werk Ricœurs wird nun eine thematische Kontinuität und die mit ihr verbundene methodische Entwicklung deutlich. Dies könnte zur Ansicht verleiten, in den drei Bänden der Philosophie de la volonté und sogar noch darüber hinaus, habe Ricœur ein Programm ausgeführt, das schon beim Erscheinen von Le volontaire et l’involontaire feststand, wie er es auch dort angekündigt hat. Tatsächlich lässt sich dort eine Vorgabe dafür finden, wie sich die folgenden Abhandlungen mit dem moralisch Bösen beschäftigen sollten. 11 Demnach plante Ricœur, auf diese phänomenologische Untersuchung die genannte »Empirie des Willens« folgen zu lassen, deren Aufgabe es sein sollte, ein Verständnis der empirischen Erscheinungsweisen des Bösen zu ermöglichen. Der entsprechende empirische Gegenstand einer solchen Abhandlung sollten die Leidenschaften sein, insofern sie das menschliche Alltagsleben prägen und sie von der Literatur dargestellt werden. Es sollte dann eine mit dieser Empirie eng verbundene »Mythik« der Freiheit entworfen werden, deren Aufgabe es sein sollte, den Menschen im Zustand der Unschuld zu zeigen. Auf diese wiederum sollte eine Poetik des Willens folgen, welche von der Problematik der Schuld und von der Imagination einer ursprünglichen Unschuld ausgehend die Bindung des Menschen an das Heilige als Gegenstand haben sollte. Das Thema
10 11
Ricœur 1990, 199–344. Vgl. Ricœur 1950, 28 ff. A
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des Bösen wird dadurch mit dem Thema der Transzendenz verknüpft und erhält dabei eine ontologische Dimension. Während die Poetik des Willens ein immer noch bestehendes Vorhaben Ricœurs zu sein scheint und es deutlich geworden ist, dass er sie bisher nicht verfasst hat, ist es eine verbreitete Ansicht, beide Teile von Finitude et culpabilité oder auch nur La symbolique du mal seien die Ausführung der Empirie des Willens. 12 Dies führt zu einem möglichen Missverständnis des Rangs, den die Resultate dieser Untersuchung nach Ricœur selbst in der Philosophie einnehmen können, wie in der Folge noch genauer gezeigt werden soll. La symbolique du mal ist noch eine vorphilosophische Abhandlung. Eine philosophische Kritik und Reflexion der Resultate dieser Untersuchung müsste erst die Auseinandersetzung mit den Ergebnissen von La symbolique du mal enthalten, die sich ausdrücklich an diese anschließen soll und erst dieses Werk würde den Titel einer »Empirie des Willens« verdienen. Nach eigener Aussage Ricœurs trägt die »Symbolik des Bösen« als hermeneutische Spezialdisziplin zwar Züge einer ursprünglich geplanten Empirie des Willens, ist aber nicht deren Ausführung 13 . Ebenso wie die Poetik des Willens wurde also auch die Empirie des Willens nicht fertig gestellt. In späteren Jahren hat Ricœur es vielmehr bedauert, dass er seinem philosophischen Lebenswerk in einem so frühen Stadium die Last eines derart ehrgeizigen Programms auferlegt hatte 14. Die Beschäftigung mit dem Bösen hat Paul Ricœur, neben derjenigen mit anderen Themen wie der Psychoanalyse, schließlich von der Phänomenologie des Willens zum Versuch einer theoretischen Grundlegung der Hermeneutik geführt. Auch aufgrund des erwähnten Status, den die hermeneutische Untersuchung der »Symbolik des Bösen« in der Philosophie einnehmen kann, ist folglich der theoretische Rahmen zuerst zu klären, in dem die einzelnen Aspekte der Problematik des Bösen formuliert werden. Dabei spielen das Verständnis der Phänomenologie, das am Anfang der Philosophie des Willens steht und der Entwurf einer Hermeneutik, welcher die Reihe der genannten Werke beschließt, eine besonders wichtige Rolle. Um diesen Überblick zu vervollständigen, kann man mit DomeDieser Ansicht ist Franz Prammer vgl. Prammer 1988, 77 ff. Ricœur selbst schreibt 1978 ausdrücklich, allerdings an einer wenig auffälligen Stelle, dass er diese Empirie des Willens nie verfasst habe. Ricœur 1978, 1. 13 Vgl. Ricœur 1971a, 404 ff. 14 Ricœur 1995, 26. 12
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Die Phänomenologie des Willens
nico Jervolino und Ricœur selbst drei Themen festhalten, die ihn in der hier relevanten Phase seines Werks beschäftigt haben. Sie beinhalten ein philosophisches Problem, ein Ziel und eine methodische Problematik. 15 Im Mittelpunkt steht die fragwürdig gewordene Subjektivität, der gegenüber Ricœur versucht, das »ich denke« des Cogito in ein »ich bin« zu überführen. Methodisch soll dies möglich werden, indem Reflexion und Interpretation miteinander verbunden werden. Diese Themen stellen die knappste Formulierung des allgemeinen Rahmens der Problematik des moralisch Bösen bei Ricœur dar, zeigen seine Zielrichtung auf und machen auf seine Grenzen aufmerksam.
3.2 Die Phänomenologie des Willens Drei Einflüsse kommen in Paul Ricœurs Phänomenologie des Willens zusammen: der traditionell orientierte Ansatz der französischen Reflexionsphilosophie, die Phänomenologie Edmund Husserls, sowie der Existenzialismus. Neben Husserl hebt Ricœur noch zwei andere Denker als Lehrmeister hervor, die jeweils einen der genannten philosophischen Ansätze geprägt haben. Freundschaftlich war Ricœur mit Gabriel Marcel verbunden, der einen Existenzialismus christlicher Prägung vertrat. Ebenso groß ist seine Wertschätzung für Jean Nabert, dessen reflexionsphilosophische Position besonders in den oben genannten Werken zum Bösen einen großen Einfluss auf Ricœur ausgeübt hat. 16 Diese drei philosophischen Vorbilder und die jeweiligen philosophischen Strömungen steuern jeweils einen besonderen Teil bei: ein philosophisches Grundanliegen, eine philosophische Methode und ein Thema. Aus der Reflexionsphilosophie stammt zunächst die grundsätzliche Frage nach dem authentischen Bewusstsein und seinem Akt. Methodisch bedient sich Ricœur am Beginn seiner philosophischen Laufbahn der phänomenologischen Reduktion sowie der eidetischen Beschreibung und von Gabriel Marcel stammt das Thema der »incarnation«, d. h. der Leiblichkeit. Zusammen mit diesen einzelnen und teilweise gegensätzlichen Denkrichtungen ist das Ideal einer Einheit der Philosophie im System als ein Anliegen aus der klassischen philosophischen Tradition 15 16
Ricœur, Paul: »Foreword«. In: Domenico 1990, XI-XIV. Ricœur 1992, 92. A
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zu erwähnen. Zumindest zu der Zeit, in der die hier in Frage kommenden Werke entstanden sind, wollte Ricœur dieses Ziel nicht aufgeben 17 . Aber auch in späteren Arbeiten zeichnet sich sein philosophischer Stil dadurch aus, dass er sich kritisch mit der philosophischen Tradition auseinandersetzt, aber nicht mit ihr bricht, sondern versucht, klassische Ansätze weiterzuentwickeln. Dabei trägt er in der Frage des philosophischen Systems dem umstrittenen Charakter des Systemdenkens Rechnung, indem er die Einheit von Gegensätzen zwar anstrebt, aber die Vermittlung selbst stets problematisch und unvollendet bleibt. Wenn man im Folgenden die verschiedenen Aspekte der vorliegenden Thematik betrachtet, wird man erkennen, dass das Bestreben, verschiedene Positionen und Gegensätze zu vereinen, bei Ricœur stets präsent ist. Wobei er Einseitigkeit vermeiden will, ohne dass die Kritik an den einzelnen Positionen unterbleibt. Eine große, aber nicht unkritische Offenheit gegenüber den unterschiedlichsten philosophischen Konzeptionen ist daher ein Kennzeichen der Philosophie Ricœurs. Die oben genannten Einflüsse auf Ricœurs Philosophie gehen in der Phänomenologie des Willens eine enge Verbindung ein. Phänomenologie und Existenzphilosophie in Le volontaire et l’involontaire sind Ausdruck der fundamentalen Polarität, die Ricœur in philosophischer Strenge und philosophischer Tiefe sieht. Während Husserls phänomenologische Methode die erstere gewährleisten soll, bringt der Existenzialismus durch die Thematik der konkreten Existenz Tiefe in diese Verbindung. Beide bereichern sich gegenseitig. Die Methode der Phänomenologie erschließt erst das Thema des Willentlichen und des Unwillentlichen durch begriffliche Differenzierungen, die auf der Methode der phänomenologischen Reduktion basieren, während diese gleichzeitig im Verständnis der konkreten Existenz an ihre Grenzen geführt wird. Es zeigt sich die Notwendigkeit, diese Methode zu erweitern, was Ricœur später durch die Verbindung mit der Hermeneutik erreichen will. Doch auch für die hermeneutische Phänomenologie bleibt die Aufgabe ungelöst, die Tiefe der existentiellen Erfahrung in den Bereich der philosophisch gesicherten Erkenntnis zu überführen. Letztlich könnte dies nur die Poetik des Willens und die zu ihr gehörige Ontologie leisten. Eine solche Ontologie bleibt aber zunächst noch ein weit in der Ferne liegendes Ziel. Den Ausgangspunkt für die gesamte Entwicklung stellt zu17
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Ricœur 1974, 176.
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nächst die Methodik der Phänomenologie des Willens und der Verknüpfung von Phänomenologie und Existenzialismus dar. 18 1950 erscheint Paul Ricœurs erstes Hauptwerk Le volontaire et l’involontaire, eine phänomenologische Untersuchung des Willens und der bereits genannte erste Teil seiner Philosophie des Willens. Die Phänomenologie soll um ein vernachlässigtes Untersuchungsgebiet erweitert werden, nachdem bei Husserl und seinen unmittelbaren Nachfolgern die Untersuchung der erkennenden Bewusstseinsakte zunächst Vorrang hatte. Dabei rückt auch das Thema des menschlichen Körpers in den Blickpunkt, insofern ein Wechselspiel zwischen willentlichen Akten und unwillentlichen Vorgaben der Körperlichkeit stattfindet. Wie häufig in seinen Werken versucht Ricœur zwischen zwei gegensätzlichen Polen zu vermitteln, die sowohl inhaltlicher als auch methodischer Natur sein können. In Le volontaire et l’involontaire ist es der klassische Gegensatz von Freiheit und Natur, ausgedrückt durch die Polarität von Willentlichem und Unwillentlichem, von Cogito und Leiblichkeit und den jeweils korrespondierenden, einen Gegensatzpart einseitig bevorzugenden Sichtweisen des Idealismus und der natürlichen Einstellung der Naturwissenschaften. Der klassische Dualismus von Geist und Materie, der vergeblich einer ontologischen Lösung harrt, wird im Anschluss an den Gegensatz von Idealismus und naturwissenschaftlicher Perspektive als methodologischer Dualismus neu interpretiert. Um diesen zu überwinden, führt die phänomenologische Epoche zunächst zum Schritt einer reinen Deskription der Sinngehalte ohne ontologische Implikationen. Indem die Intentionalität des Bewusstseins auch auf den Bereich des Unwillentlichen erweitert wird, entzieht sich dieser Bereich einer einseitigen, rein naturwissenschaftlichen Beschreibung. Wie das Beispiel der Motivation zeigt, kann diese nicht auf reine Naturkausalität reduziert werden, ohne dass ihr spezifisch menschlicher Charakter verloren geht. Bestritten wird nicht die Berechtigung der naturwissenschaftlichen Vorgehensweise, sondern ihr Anspruch auf eine vollständige Beschreibung des Sinngehalts der mit dem Willen verbundenen Phänomene. In diesem Zusammenhang wird eine zu früh Ricœur hat selbst einen Lexikonartikel mit dem Titel »Phénoménologie existentielle« verfasst, um einige der philosophischen Positionen seiner Zeitgenossen zu charakterisieren. Dort findet sich auch eine hilfreiche Unterscheidung der verschiedenen Bedeutungen, die er dem Begriff »Phänomenologie« zuschreibt. Ricœur, Paul: »Phénoménologie existentielle«. Vgl. Ricœur 1957a.
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einsetzenden ontologische Interpretation zurückgewiesen, sei sie naturwissenschaftlich also materialistisch oder im Gegensatz dazu idealistisch inspiriert. Denn auch die Phänomenologie tendiert zu einer Einseitigkeit. Sie neigt dazu, ihr eigenes Unternehmen als idealistische Position zu verstehen, wenn sie existentialistische Themen ignoriert. Die Konsequenz dieser Haltung besteht darin, dass idealistische Grundthesen vertreten werden, wie etwa die Selbstsetzung des Cogito oder die völlige Erkennbarkeit des Bewusstseins durch eine reine Reflexion, die für Ricœur unhaltbar geworden sind. Um eine einheitliche Sichtweise des Menschen zu ermöglichen, sollen daher im frühen Werk Ricœurs die transzendentale Phänomenologie Husserls und die Existenzphilosophie, unter anderem diejenige von Gabriel Marcel, einander wechselseitig ergänzen. In diesem Zusammenspiel kann die phänomenologische Methode, mit der vor allem sprachlich klare Bedeutungen festgesetzt werden, verhindern, dass die Fragen, die durch den Existenzialismus gestellt werden, in einer dunklen und begrifflich unscharfen Sprache behandelt werden. 19 Es ist allerdings wiederum diese Verbindung von Phänomenologie und Existenzialismus, die durch das Thema des Bösen an ihre Grenze stößt, dessen Untersuchung eine völlig neue Methode erforderlich macht. Daher folgt im Anschluss, vor der eigentlichen inhaltlichen Untersuchung von Ricœurs Annahmen zum Bösen, noch eine genauere Darstellung der Grundzüge dieser phänomenologisch-existenzialistischen Vorgehensweise. In dieser ist die wichtigste Voraussetzung für die Fragestellung und den Methodenwechsel gegeben, die den Rahmen für das Thema des moralisch Bösen bei Ricœur bildet. »Phänomenologie« verwendet Ricœur in der Zeit, in der die Phänomenologie des Willens entstand, in mindestens drei verschiedenen, grundlegenden Bedeutungen. In der allgemeinsten Verwendungsweise ist mit »Phänomenologie« lediglich die klassifizierende Beschreibung eines Bereichs von Erscheinungen gemeint. In diesem Sinn können beispielsweise auch biologische oder andere naturwissenschaftliche Abhandlungen phänomenologisch sein. Teil der Philosophie wird die Phänomenologie als Erscheinungslehre, wenn die Art und Weise problematisch wird, wie etwas erscheint. Nach dieser Definition sind auch Kant und Hegel zu den Phänomenologen zu
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Ricœur 1950, 18 f.
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zählen. 20 Schließlich ist im engeren Sinn die Philosophie Husserls und seiner Schule gemeint, wenn Ricœur von Phänomenologie spricht. Differenziert werden diese Grundbedeutungen noch in verschiedenen Zusammenhängen. So unterscheidet Ricœur mögliche Modelle der Phänomenologie durch ihr Verhältnis zur Ontologie. 21 Die implizite Phänomenologie Kants oder eine daran angelehnte »kritische« Phänomenologie wäre eine solche, die sich gegen die Möglichkeit einer Ontologie wendet, da in einer solchen Phänomenologie die Dinge an sich als unerkennbar betrachtet werden. Ein zweiter Typus phänomenologischen Denkens im Hinblick auf ontologische Grundannahmen kann sich an derjenigen in Hegels Phänomenologie des Geistes orientieren, die eine Abfolge der Erscheinungen durchläuft und auf eine Ontologie abzielt, die letztlich die Phänomenologie selbst aufheben würde. Schließlich könnte man als dritte Möglichkeit eine Phänomenologie anstreben, die sich weder im Gegensatz zur Ontologie befindet, noch durch eine Ontologie ersetzt werden soll, sondern die sich ontologischer Fragestellungen bewusst enthält. Dies wäre das Modell, das Husserl vorgegeben hat. Ricœur selbst strebte noch 1952 eine ontologische Phänomenologie an, gerade im Zusammenhang mit dem Problem des Bösen. Die besondere Erfahrung der Negativität, die in der Schuld enthalten sei, sollte den Leitfaden für dieses Unternehmen liefern, dessen Abschluss die Poetik des Willens bilden sollte. 22 Dies erinnert deutlich an die Bedeutung, die Ricœur der Phänomenologie des Geistes zuschreibt. Es ist jedoch gerade das Thema des Bösen, das dazu beiträgt, dass Ricœur sich den Grenzen der Erkenntnis zuwendet und seine Hermeneutik in dieser Hinsicht einen kritischen Zug bekommt. In der Erkenntniskritik sieht Ricœur auch allgemein ein Charakteristikum der Hermeneutik, so dass diese seiner Ansicht nach in diesem Punkt Kant nahe steht. Don Ihde, der auch eine dreistufige Unterscheidung der Bedeutung von Phänomenologie bei Ricœur festhalten will, ist der Ansicht, dass für Ricœur jede Art von Refle-xionsphilosophie auch als Phänomenologie bezeichnet werden kann und dass dies eine Möglichkeit sei, wie Ricœur diesen Begriff verwendet. Die genannte Stelle könnte als Hinweis darauf dienen, denn Kant und Hegel zählt Ricœur zur Reflexionsphilosophie. Andererseits trifft aber die Beschreibung, dass die problematisch gewordenen Erscheinungen auf Strukturen des Bewusstseins zurückgeführt werden, weder auf Sokrates zu, noch auf Descartes. Deshalb kann jede Art von Phänomenologie im Sinne Ricœurs als Reflexionsphilosophie bezeichnet werden, aber nicht umgekehrt. Vgl. Ihde 1971, 14 f. 21 Ricœur 1986, 77 ff. 22 Vgl. Ricœur 1952, 134 ff. 20
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Zusätzlich zu dieser Typologie von phänomenologischen Ansätzen im Verhältnis zur Ontologie wird auch zwischen der Phänomenologie Husserls und derjenigen einiger seiner Nachfolger noch ein grundlegender Unterschied festgemacht. Der transzendentalen Phänomenologie Husserls steht die existentialistische Modifikation dieser Theorie in den fünfziger Jahren gegenüber, durchgeführt von Gabriel Marcel, dem bereits erwähnten Lehrmeister Ricœurs, sowie von Mérleau-Ponty und Sartre. Zwischen den existentialistischen Versionen einerseits, so verschieden diese ohnehin auch untereinander sein mögen, und der transzendentalen Version der Phänomenologie andererseits, besteht allerdings kein unüberbrückbarer Gegensatz, sondern die existentialistischen Varianten der französischen Philosophen erweitern vor allem die in wesentlichen Grundzügen beibehaltene phänomenologische Vorgehensweise Husserls um die Problematik der menschlichen Existenz. 23 Die wichtigsten methodischen Elemente der transzendentalen Phänomenologie sind nach Ricœur die Reduktion der natürlichen Einstellung und die Konstitution der Bewusstseinsinhalte. 24 Die existentialistische Anwendung dieser Methode wird auf die neuen Gegenstände des Leibs, der Freiheit und des Anderen bezogen, welche die thematische Besonderheit dieser phänomenologischen Positionen ausmachen. Auch von Ricœur wird das transzendentale Element der phänomenologischen Methode nicht grundsätzlich abgelehnt, selbst wenn er es kritisch betrachtet, ebenso wie andere seiner Zeitgenossen, die eine Variante der existentialistischen Phänomenologie entwickeln. Ricœurs eigene Phänomenologie des Willens kann nun mit Hilfe seiner Charakterisierung unterschiedlicher Typen von phänomenologischen Positionen näher bestimmt werden. Sie ist eine Anwendung der transzendentalen Methode Husserls auf die Phänomene des Willens, welche die existentialistischen Themen des Körpers und der Freiheit aufnimmt. Von Kant wird die kritische Intention übernommen, der phänomenologischen Erkenntnis Grenzen aufzuzeigen, wobei sich Ricœur zwar ausdrücklich ontologischer Thesen enthält, aber einen Weg zu einer zukünftigen Ontologie aufzeigen will, so dass er in diesem Zusammenhang allen drei Möglichkeiten einer Phänomenologie, zur Ontologie Stellung zu nehmen, in verschiedenen Teilen seiner Philosophie Rechnung trägt. Insbesondere wird das in den Tei23 24
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Vgl. Ricœur 1957, 19.10–8. Ricœur 1950a, XVI ff.
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len seiner Philosophie de la volonté deutlich. Der erste Band, die Husserl am nächsten stehende Untersuchung über das Willentliche und Unwillentliche, enthält sich einer Ontologie ganz. In L’homme faillible wird eine zu früh in Angriff genommene Ontologie auf der Grundlage der Erfahrung des moralisch Bösen und der Schuld abgelehnt. Schließlich verweist die Symbolique du mal auf die Poetik des Willens, in der das Fernziel der ontologischen Erkenntnis bestehen bleibt. Auch wenn in diesem Bereich die Grenze der Philosophie erreicht ist, möchte Ricœur offensichtlich nicht darauf verzichten, diese Poetik in seine Überlegungen einzubeziehen, wie auch ein entsprechender Abschnitt in Soi-même comme un autre noch zeigt. 25 Dieses Fernziel spielt jedoch für die vorliegende Untersuchung keine Rolle. Die Beschäftigung mit dem moralisch Bösen setzt bei der Philosophie de la volonté ein, wird von Ricœur aber nicht im Rahmen einer Poetik des Willens oder in vorbereitenden Überlegungen zu ihr aufgegriffen. Das Thema einer Poetik des Willens hat allerdings viele Interpreten zu Spekulationen angeregt. Ebenso wie es im Gesamtbild der Philosophie Ricœurs nicht vernachlässigt werden sollte, darf der Hinweis an dieser Stelle nicht fehlen, dass es bereits in Le volontaire et l’involontaire seinen Ursprung hat und dass der Entwurf dieser Poetik eng mit der Thematik des Bösen verbunden ist. Zumindest der letzte Aspekt wird häufig übersehen. Indem die Schuld als fundamentaler Zustand des Menschen und das Verhältnis zur Transzendenz als zentrale Punkte einer adäquaten Ontologie genannt werden, wird erkennbar, dass Ricœur in einer solchen auch seine Zurückhaltung aufgeben müsste, Philosophie auf der einen Seite sowie Religion und Theologie auf der anderen Seite miteinander zu verbinden. Dass die Trennung zwischen beidem allerdings beim Thema des moralisch Bösen durch die Voraussetzung eines bestimmten Verständnisses von Schuld vielleicht nicht ganz so streng ist, wie Ricœur regelmäßig für seine Philosophie behauptet, wird in der Folge noch angesprochen werden. Zunächst aber zurück zur Phänomenologie des Willens. Deren Thema sind fundamentale Willensakte und ihre Korrelate, das Wollen und der Entwurf, das Können und die Bewegung, die Einwilligung in die Notwendigkeit. Ausgeklammert wird der Bereich der moralischen Verbindlichkeit, der bereits die Verfehlung voraussetzen würde. Bereits hier findet sich der von der phänomenologischen 25
Ricœur 1990, 345–406. A
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Schule und u. a. von Scheler angeregte Grundgedanke Ricœurs, dass Werte den Willen ausrichten, ohne dass eine Verpflichtung vorliegt. Später wird er diesen Zusammenhang so formulieren, dass die Teleologie der Deontologie vorausgeht und eine ursprünglichere Dimension des Wollens darstellt. 26 Die Willensvollzüge, die Ricœur analysiert, haben jeweils eine willentliche und eine unwillentliche Komponente. Dabei nähert sich die Untersuchung dem Bereich der körperlichen Phänomene, die eine Grenze der phänomenologischen Verständnismöglichkeiten markieren. Dennoch liegt die Stärke der phänomenologischen Methode darin, Bewusstseinserlebnisse wie Schmerz in ihrem Verhältnis zum Willentlichen so zu erschließen, dass die Naivität einer naturalistischen Sichtweise aufgehoben und das spezifisch Menschliche an diesen Phänomenen ersichtlich wird. Einer rein physiologischen Betrachtung der Schmerzes wird eine phänomenologische Untersuchung zur Seite gestellt, was im Falle des Schmerzes eine entsprechende Untersuchung des Akt wäre, eine Haltung zum Schmerz einzunehmen, sich zu fügen oder den Schmerz hinzunehmen, um ein Ziel zu erreichen. Darin besteht die Stärke dieser Methode, dass sie selbst im Bereich des Körperlichen den Phänomenen eine Bedeutung zuschreiben kann. La phénoménologie parie pour la possibilité de penser et de nommer, même dans la forêt obscure des affects, même au fil du fleuve du sang. 27
Die Grenze dieser Methode ist hier jedoch erreicht, da es nicht gelingt, die Beschreibung von Phänomenen wie dem Schmerz so weit voranzutreiben, dass eine vollständige, einheitliche Sicht der menschlichen Person möglich wäre. Als körperliches Phänomen und als unwillentliches Element des Willens bleibt der Schmerz Gegenstand zweier unterschiedlicher und gleichermaßen berechtigter Sichtweisen, der naturwissenschaftlichen und der phänomenologischen. Während das inhaltliche Ziel von Le volontaire et l’involontaire im allgemeinen darin liegt, das phänomenologisch verstandene Cogito so weit als möglich durch die Willensakte zu erweitern und wenn nötig, dieses Verständnis zu modifizieren, korrespondiert dieser Absicht auch eine theoretische Stoßrichtung. Nach Husserls phänome26 27
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Vgl. z. B. Ricœur 1990, 200 f. Ricœur 1952, 117.
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nologischen Untersuchungen der »objektivierenden Akte« (d. h. zum Bewusstsein von Gegenständen überhaupt gehörende Akte – exemplarisch sind die Analysen der Wahrnehmung) kann seine Auffassung des Cogitos als Teil einer idealistischen Deutung der transzendentalen Phänomenologie verstanden werden. Die Kritik dieser Interpretation der Phänomenologie und der in ihr enthaltenen Konzeption des Cogito sind die beiden Kernthemen der Philosophie Ricœurs, die weit über Le volontaire et l’involontaire hinaus reichen, die Auseinandersetzung mit dem Bösen prägen und schließlich zu Ricœurs Konzeption der Hermeneutik führen. Ricœurs besondere Perspektive auf das Thema des Bösen, seine Herangehensweise und seine Voraussetzungen dabei, werden in diesem Zusammenhang am deutlichsten. Wichtig ist dabei die Unterscheidung der phänomenologischen Methode und der idealistischen Interpretation der Phänomenologie als philosophischer Lehre, so wie sie Husserl selbst in den Ideen und den cartesianischen Meditationen vornahm. Ricœur datiert später seine Unterscheidung der notwendigen Trennung von Methode und idealistischer Deutung in das Jahr 1947. 28 Die wesentlichen Elemente der transzendentalen phänomenologischen Methode wurden bereits genannt. Es sind die Epoche der natürlichen Einstellung, die Reduktion, bestehend aus der transzendentalen und der eidetischen Reduktion und die transzendentale Konstitution. Nach der Ansicht von Klaus Hartmann und Bernhard Waldenfels richtet sich Ricœurs Kritik in Le volontaire et l’involontaire grundsätzlich gegen einen transzendentalen Standpunkt. 29 Nach Waldenfels würde erst in den späteren Werken diese umfassende Kritik an der transzendentalen Vorgehensweise einem differenzierten Verständnis durch die Trennung von Methode und Deutung weichen, was jedoch bereits durch die erwähnte Datierung dieser Unterscheidung durch Ricœur selbst fragwürdig ist. Dennoch könnte es sein, dass Ricœur in seiner Phänomenologie des Willens zunächst noch einige transzendentale Elemente der phänomenologischen Methode ablehnt, die er später weniger kritisch sehen wird. Waldenfels sieht in Le volontaire et l’involontaire eine Kritik am transzendentalen Cogito, das zu einem doppelten Verlust an Wirklichkeit führt, seitens des Objekts an Gegenwart, seitens des Subjekts 28 29
Ricœur1978, 6. Hartmann 1968, 88 ff.; Waldenfels 1983, 275 ff. A
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an einem persönlichen Ich. Methodisch sind es die transzendentale Reduktion und die transzendentale Konstitutionslehre, die zu diesem Resultat führen. Angestrebt werde anstelle dieser transzendentalen Phänomenologie eine rein deskriptive Variante, welche die eidetische Reduktion in den Vordergrund stelle. Belege für eine solche Kritik lassen sich bei Ricœur durchaus finden. Sie bewegt sich jedoch im Rahmen einer Kritik an der idealistischen Deutung der Phänomenologie und muss nicht eine Kritik an transzendentalen Elementen der Methode einschließen, die Ricœur auch den existentialistischen Ansätzen zuschreibt, denen Le volontaire et l’involontaire nahe steht. Betrachtet man die methodische Vorgehensweise Ricœurs in seiner Phänomenologie des Willens, lassen sich dementsprechend durchaus in ihr einige transzendentale Elemente finden, ganz davon abgesehen, dass er in der transzendentalen Reduktion eine grundlegende Errungenschaft sieht, auch wenn es nötig sei, über sie hinauszugehen. 30 Außerdem ist festzuhalten, dass sich das Unternehmen einer Phänomenologie des Willens nicht schon als solches gegen Husserl wendet. Ricœur selbst weist darauf hin, dass bereits der Begründer der phänomenologischen Schule, den Gedanken dazu hatte und auch die Frage stellte, ob für das Verständnis des Bewusstseins die objektivierenden Akte der Wahrnehmung und des Urteilens Vorrang haben oder nicht. Ein deutlicher Bruch mit Husserls Ansatz liegt hier nicht schon aufgrund der Wahl des Themas vor, auch wenn der Begründer der phänomenologischen Schule in seinen eigenen philosophischen Abhandlungen keine Willensakte untersuchte. 31 In den Vordergrund stellt Ricœur in seiner Einleitung zu Le volontaire et l’involontaire mit dem Titel »Questions de méthode« allerdings die deskriptive Methode und die eidetische Reduktion. Dies könnte nun entgegen den ersten Gegenargumenten die Interpretation von Hartmann und Waldenfels stützen. Der erste methodische Schritt, den Ricœur hier vorsieht, ist dabei die Aufhebung der natürlichen Einstellung, die von den empirischen Wissenschaften wie der Biologie geteilt wird. In dieser Einstellung herrscht die Tendenz, das Unwillentliche zu vergegenständlichen. Dagegen wird durch die phänomenologische Epoche der klassische Gegensatz zwischen Freiheit und Natur auf der deskriptiven Ebene der Einheit von Willentlichem 30 31
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Vgl. Ricœur 1952, 138. Ricœur 1952, 113.
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und Unwillentlichem aufgehoben. Dieser Schritt der Reduktion besitzt jedoch bereits einen transzendentalen Aspekt, denn auch durch die eidetische Reduktion wird eine »kopernikanische« Wende vollzogen, wie Ricœur in Anlehnung an Kant schreibt, und der Blick wird auf den Bezug gelenkt, den das Unwillentliche und der Leib zum Willentlichen und zum Cogito besitzen. Diese »kopernikanische« Wende überwindet die erste Naivität des natürlichen Bewusstseins. Auch wenn die Hinwendung zum Cogito, wie Ricœur schreibt, eine zweite Naivität in Form des Idealismus mit sich bringen kann, deren Illusionen noch thematisiert werden, bleibt sie doch die erste Errungenschaft der Philosophie. 32 In diesem Sinn einer nicht hintergehbaren Errungenschaft, schreibt Ricœur später noch der Reduktion insgesamt zu, dass sie das enge Tor zur Phänomenologie sei. 33 Diese Stelle spricht sicherlich für die Ansicht von Waldenfels, dass Ricœur die transzendentale Reduktion in seinen späteren Schriften differenzierter beurteilt habe. Wie jedoch die vorangegangenen Überlegungen zeigen, ist dies keine Abweichung zum Standpunkt, den Ricœur bereits zur Zeit von Le volontaire et l’involontaire vertreten hat. Betont wird an mehreren Stellen die Zusammengehörigkeit der beiden Formen der Reduktion, der eidetischen und der transzendentalen. Deren verschiedene Funktion besteht nach Ricœur im ersten Schritt der eidetischen Reduktion zuerst darin, die Bedeutung der verschiedenen Bewusstseinsakte festzuhalten und dann im umfassenderen transzendentalen Schritt, die Bedeutung des Bewusstseins im allgemeinen wiederherzustellen, sie aus der natürlichen Einstellung herauszuarbeiten. 34 Beide haben es also mit Bedeutungen zu tun und nicht etwa schon mit einer Selbstsetzung des Bewusstseins, auch wenn nach Ricœur die transzendentale Reduktion in diese Richtung neigt, so dass er betont, dass seine Untersuchung der Willensakte ihn von dieser Form der phänomenologischen Reduktion entfernt. 35 Festzuhalten ist jedoch, dass die Grundstruktur des Bewusstseins, die Intentionalität, deren einzelne Ausprägungen Gegenstand der noetisch-noematischen Analyse ist, als weiteres transzendentales Element eine wichtige Rolle in der Phänomenologie des Willens 32 33 34 35
Ricœur 1950, 9. Ricœur 1955a, 45. Vgl. Ricœur 1952, 116; Ricœur 1950, 7; Ricœur 1955a, 46. Ricœur 1950, 19. A
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spielt, indem sie als Leitfaden der einzelnen Detailuntersuchungen dient. So wird der erste grundlegende Willensakt, das »ich will« (je veux), als Noesis verstanden, welcher das Noema des »Entwurfs« (projet) korrespondiert. Ausdrücklich weist Ricœur darauf hin, dass diese Methode der Analyse von Husserls französischen Nachfolgern wie Sartre und Mérleau-Ponty unterschätzt wurde, was ebenfalls für eine frühe Verteidigung einer transzendentalen Vorgehensweise spricht. 36 Die verschiedenen Formen des Unwillentlichen erhalten auf diese Weise ihre spezifische Bedeutung, ihr »principe d’intélligibilité«, das die Probe der imaginativen Variation bestehen soll. Den diskursiven Charakter des »principe d’intélligibilité« als sprachlichem Wesenskern betont Ricœur gegenüber einer möglichen idealistischen Deutung. Konstitutiv für die konkrete Bedeutung der verschiedenen Akte selbst ist das Willentliche als Form des vernünftigen Willens und dies ist ein weiteres transzendentales Element, wie das folgende Zitat zeigt. … pour la description et la compréhension, l’un est la raison du multiple. Or le vouloir est l’un qui ordonne le multiple de l’involontaire. 37
Als dritter Hauptaspekt der transzendentalen Methode soll hier die transzendentale Konstitution eine klare Bedeutung erhalten, die Ricœur in den Ideen vermisst. Konstitutiv ist das Bewusstsein für die verschiedenen Bedeutungen seiner Akte und ihrer Korrelate, indem es sie strukturiert und ihnen dadurch ein »principe d’intelligibilité« verleiht. Die Konstitution besteht nicht, wie in einer möglichen idealistischen Deutung, darin, dass das Bewusstsein in Form des Cogito die Bewusstseinserlebnisse einschließlich ihres Inhalts selbst hervorbringt. Doch auch diese bescheidenere transzendentale Variante der Phänomenologie, die keine idealistische Deutung einschließt, stößt bei Aspekten der Leiblichkeit und endgültig beim Thema der Schuld und des Bösen an ihre Grenze. Nur bedingt sind der begrenzte Charakter, das Unbewusste und die Tatsache der Geburt durch ihren Bezug zum Willentlichen verständlich. Eine Kluft im Cogito wird erkennbar, welche darauf hindeuten soll, dass der Idealismus als philosophische Position aus einer Neigung des Bewusstseins zur
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Ricœur 1952, 115. Ricœur 1950, 14.
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Selbsttäuschung hervorgehe, die aus dem Bedürfnis herrührt, die existentielle Situation der Endlichkeit zu bewältigen. Es ist der dreifache Wunsch des »ich denke« der sich dann in einer philosophischen Form ausdrückt: umfassend, sich selbst durchsichtig und durch sich selbst zu sein. Die Beschäftigung mit dem moralisch Bösen hat für diese philosophische Position und ihre Methode zur Folge, dass der Illusionscharakter dieses Wunsches enthüllt wird und zugleich die darauf beruhenden philosophischen Annahmen. Denn alle in diesem Wunsch enthaltenen einzelnen Anliegen werden durch die alltäglichen Erscheinungsformen des Willens widerlegt. Nach Ricœur befindet sich der Wille im Zustand der Leidenschaften in einer verblendeten Ausrichtung und ist in der Reflexion nicht verständlich. Er hat darüber hinaus seine Freiheit verloren. Während nun endgültig die idealistische Deutung des Bewusstseins unhaltbar wird, stoßen auch die phänomenologische Methode sowie der für Ricœur legitime transzendentale Aspekt des Denkens an die Grenze ihrer Anwendbarkeit. Die bereits eingangs genannte Skepsis gegenüber einer umfassenden begrifflichen Erkenntnis des moralisch Bösen, die sich in vielen Arbeiten zu diesem Thema findet, kann aufgrund dieser Überlegungen auch Ricœur zugeschrieben werden. Anders als es häufig der Fall ist, findet man bei ihm jedoch eine ausführliche Begründung dieser skeptischen These und auch den Versuch, sich dem Thema dennoch weiter anzunähern, indem er auf vorphilosophische Ausdrucksformen zurückgreift, mit denen das moralisch Böse bezeichnet wird oder wurde, und diese an die Philosophie anzunähern versucht. Diese Vorgehensweise verweist auf eine neue Methode und ihre theoretische Deutung: die Hermeneutik, die sich an die Phänomenologie anschließt.
3.3 Phänomenologie und Hermeneutik Die Hermeneutik Paul Ricœurs spielt im Zusammenhang mit der Problematik des moralisch Bösen in seiner Philosophie eine zweifache Rolle. In »Phénoménologie et herméneutique« fasst Ricœur erstens seine Kritik an der idealistischen Deutung der Phänomenologie zusammen, indem er fünf idealistischen Kernthesen jeweils eine hermeneutische gegenüberstellt. Dadurch wird auch deutlich, welche Schwierigkeiten einem begrifflichen und reflexiven Verständnis des A
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Bösen entgegenstehen. 38 Zweitens erhalten die Ergebnisse der Symbolik des Bösen einen Rang im Verhältnis zu einer begrifflichen philosophischen Untersuchung im engeren Sinn, indem der Symbolik der Bekenntnissprache als ganzer eine Position in Ricœurs Gesamtentwurf der Hermeneutik zugewiesen wird. Die Textgrundlage hierfür ist der Aufsatz »Existence et herméneutique«, der Le conflit des interprétations einleitet. 39 Ricœur formuliert den Endpunkt seiner philosophischen Entwicklung von Le volontaire et l’involontaire bis zu Le conflit des interprétations im bereits genannten programmatischen Aufsatz von 1974 mit dem Titel »Phénoménologie et herméneutique«. 40 Zwei Grundthesen werden in diesem Aufsatz entwickelt. 41 Die Hermeneutik steht demnach nicht generell im Gegensatz zur Phänomenologie als solcher, sondern nur zur bereits erwähnten idealistischen Deutung derselben. Während diese These den möglichen Gegensatz zwischen Phänomenologie und Hermeneutik aufzeigt, formuliert die zweite These, auf welche Weise sich Phänomenologie und Hermeneutik wechselseitig ergänzen und bedingen. Um Ricœurs Sichtweise des Bösen zu verstehen, sind außer diesen beiden Grundannahmen insbesondere die fünf Thesen der idealistischen Phänomenologie wichtig. 42 Denn deren hermeneutische Widerlegung in Form von fünf Gegenthesen ist letztlich eine Konsequenz aus der Problematik des Bösen und jeder dieser hermeneutischen Kritikpunkte beleuchtet einen Aspekt dieser Problematik, auf die es nun einen Blick im theoretischen Zusammenhang zu werfen gilt. Sämtliche Hauptthesen einer idealistischen Phänomenologie Ricœur 1974b, 31–75. Ricœur 1973a. Die deutsche Ausgabe von Le conflit des interprétations übernimmt den Aufbau des französischen Originals nicht und verwischt daher die Bedeutung, welche die einzelnen Aufsätze durch diesen erhalten. Von der ursprünglichen Einteilung bleiben nur zwei Abschnitte übrig, die in der deutschen Edition zu den Titeln der beiden Bände werden, in die das ursprünglich einbändige Werk aufgeteilt werden: Hermeneutik und Strukturalismus für Band I und Hermeneutik und Psychoanalyse für Band II. Die weiteren Teile verschwinden ganz in der Übersetzung: III. Herméneutique et phénomenologie, IV. La symbolique du mal interprétée, V. Foi et réligion. Der Titel des Gesamtwerks ist außerdem eine thematisch passende Anspielung auf die französische Übersetzung von Kants »Streit der Fakultäten«, frz. »Le conflit des facultés«, die in der vorliegenden deutschen Übertragung ebenfalls verloren geht. 40 Ricœur 1974b. 41 Ricœur 1974b, 31 und 52. 42 Ricœur 1974b, 33–37. 38 39
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Phänomenologie und Hermeneutik
bei Husserl leitet Ricœur dabei aus den Cartesianischen Meditationen und den Ideen zu einer reinen Phänomenologie ab. Er bezieht sich bei der Kritik an derselben zwar nicht auf die Resultate von Finitude und culpabilité. Der Bezug lässt sich jedoch leicht herstellen, wie die folgenden Überlegungen zeigen. Der erste Punkt der Kritik zielt auf das Ideal der Wissenschaftlichkeit von Husserls Idealismus, welchem der Gedanke einer Letztbegründung des Wissens zugrunde liegt. 43 In seiner hermeneutischen Kritik stellt Ricœur dieser theoretischen Konzeption den Begriff der Zugehörigkeit entgegen, den er von Gadamer entlehnt. Ausgedrückt wird die Zugehörigkeit zu Verhältnissen, in denen der Mensch sich immer schon befindet, durch die ontologische Bedingung der Endlichkeit, die bereits in Le volontaire et l’involontaire thematisiert wurde. Die Methode des Verstehens ist im Gegensatz zum Versuch, einen Anfang bei der Begründung des Wissen zu finden, an die Interpretation von Verhältnissen gebunden, die stets vorausgehen. Geht es um das Thema des moralisch Bösen, ist es insbesondere das Schuldbewusstsein, das an solche Vorgaben gebunden ist. Das Bekenntnis des moralisch Bösen wird im Falle der Schuld nach Ricœur nicht unmittelbar in der Reflexion der Tat hervorgebracht, sondern ist angewiesen auf eine symbolische Ausdrucksweise, die sich im Laufe einer geschichtlichen Abfolge verschiedener Stufen von Schuldbewusstsein herausgebildet hat. Die Schulderfahrung bleibt rätselhaft, wie sie es schon immer gewesen sei, und bedingt durch diese Undurchsichtigkeit entstand eine Symbolik der Schuld, die eine sprachliche Vorbedingung für die gegenwärtige Gestalt der Schulderfahrung darstellt. Das Schuldbekenntnis, das für Ricœur den privilegierten Zugang zum Thema des moralisch Bösen darstellt, erhält auf diese Weise eine historische Dimension. Die Erkenntnis des Bösen muss dem Umstand gerecht werden, dass die Schuld zu den Gegebenheiten gehört, die der philosophischen Reflexion immer schon voraus gehen und die eine entsprechende methodische Herangehensweise erfordern, die nur die theoretisch fundierte Interpretation bieten kann. Erinnert man in diesem Zusammenhang daran, dass eines der Hauptanliegen Ricœurs die reflexionsphilosophische Suche nach dem authentischen Bewusstsein und seinem Akt ist, zeichnen sich 43
Ricœur 1974b, 38 ff. A
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hier einige grundlegende Züge der Thematik des Bösen ab. Die rein reflexiv vorgehende Philosophie nach der Vorgabe der idealistischen Phänomenologie, kann wie erwähnt ebenso wenig wie ein transzendentaler Ansatz das Modell für die Erkenntnis des moralisch Bösen liefern. Um die Schuld als Form des Selbstbewusstseins zu erkennen und damit den bösen Willen, kommt als Methode nur die Interpretation in Frage, die den Umweg über die Symbole beschreitet, in denen sich dieses Bewusstsein ausdrückt. Für die Erkenntnis des menschlichen Selbstbewusstseins wird die Interpretation der Werke und Zeichen, in denen es sich ausdrückt und zu denen auch die Grundsymbole für das Böse gehören, zur grundlegenden Methode. Die zweite, von Ricœur kritisierte Grundannahme der idealistischen Phänomenologie lautet, dass die Prinzipienbegründung mit Hilfe einer besonderen Form der Anschauung durchgeführt wird. Prinzipien, so Ricœur, würde bei Husserl der Charakter eines Erfahrungsfeldes der Anschauung zukommen, analog zu einer Erfahrung des Sehens, und sie sind daher in einer besonderen Art der Intuition erkennbar. 44 Der Umstand jedoch, dass sich der umfassende Sinn bestimmter Phänomene, exemplarisch der böse Wille, nie in seiner Gesamtheit veranschaulichen lässt, führt über diese Konzeption hinaus. Denn das Verstehen ist, wie erwähnt, an Vorgaben gebunden, die sich aufgrund ihres in sich widersprüchlichen Charakters der Möglichkeit entziehen, Gegenstand einer einzigen Anschauung zu werden. Für die Erkenntnis des moralisch Bösen sind solche Vorgaben noch die Symbole und Mythen der Bekenntnissprache und sie begründen damit die Hermeneutik der Symbole als Grundform der philosophischen Hermeneutik. In Ricœurs späterem Ansatz ersetzen das Gespräch und der Text als grundlegende Gegenstände der Hermeneutik die Symbole. In diesem Zusammenhang kommt Ricœur jedoch nicht noch einmal auf das Thema des moralisch Bösen zurück. Die Interpretation von Sinnzusammenhängen soll die Rolle der Anschauung bei der Prinzipienbegründung ersetzen. Das Verstehen von Sinn beruht nach dem späteren Ansatz auf dem fortdauernden Dialog und der Tradition der Textauslegung, nicht auf einem besonderen Anschauungscharakter von Prinzipien. Zu dieser Konzeption der Hermeneutik sind die Werke bis zur Symbolik des Bösen lediglich eine Vorstufe, denn in ihnen ist weder das Gespräch noch der Text Gegen-
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Ricœur 1974b, 41 ff.
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stand der Interpretation, sondern symbolische Ausdrucksweisen des Selbst. Die Kritik an der Möglichkeit einer Anschauung grundlegender Bewusstseinsinhalte nimmt schon Le volontaire et l’involontaire vorweg. Den Leidenschaften und der korrespondierenden Sklaverei des Willens fehle das »principe d’intelligibilité« hieß es dort 45 , was gleichbedeutend damit ist, dass sie kein »eidos« besitzen, das Gegenstand einer imaginativen Variation werden könnte. Der Sinn dieser Phänomene des Bösen lässt sich also nicht in einer grundlegenden Anschauung zugänglich machen. Auch die Symbolsprache des Bösen bezieht sich nicht auf einen sprachlichen Wesenskern, der allen zu ihr gehörenden symbolischen Ausdrucksformen zugrunde liegen würde. Die verschiedenen Symbole, in denen der Zustand des bösen Willens ausgedrückt wird, befinden sich in einem Verhältnis zueinander, das durch eine historische und dialektische Abfolge von Ricœur beschrieben wird. Inwiefern er dabei versucht zu zeigen, wie diese Symbole zugleich verdeutlichen, dass der Weg zu einem begrifflichen Verständnis versperrt ist und gleichzeitig aber ein neues Verständnis eröffnen sollen, wird Gegenstand der Untersuchung der inhaltlichen Aspekte von Ricœurs Theorie des moralisch Bösen sein. Die Letztbegründung des Wissens durch erste Prinzipien und der Anschauungscharakter derselben führen schließlich zu den beiden nächsten Thesen des Husserlschen Idealismus, zu der Unbezweifelbarkeit der Bewusstseinsimmanenz 46 und zum transzendentalen Rang der Subjektivität 47 . Bestritten wird beides wiederum durch hermeneutische Thesen, nach denen auch das Selbstbewusstsein fragwürdig ist und der Subjektivität kein Primat bei der Erkenntnis zukommen kann. Dies deckt sich wiederum mit den schon zuvor ermittelten Erfordernissen der Auslegung dessen, was das Selbstbewusstsein hervorbringt und mit dem Umstand, dass die Subjektivität sich an endliche Vorgaben gebunden vorfindet, die verhindern, dass sie einen Anfang der Erkenntnis darstellen könnte. Auch hier hat Ricœur seine Position gegenüber seiner Philosophie de la volonté weiterentwickelt, indem er neue Themen in den Zusammenhang dieser These bringt. Dennoch lässt diese Grundannahme sich bereits im Rahmen der Problematik des Bösen finden. Während nun die Ideo45 46 47
Ricœur 1950, 24 ff. Ricœur 1974 b, 43 ff. Ricœur 1974b, 47 ff. A
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logiekritik und die Psychoanalyse für die Interpretation des Selbstbewusstseins als Beispiele für seine trügerische Unmittelbarkeit herangezogen werden, war es zuvor gerade das Bewusstsein der Schuld, das Ricœur unverständlich und undurchsichtig nannte. Dem Primat der Subjektivität wurde zunächst die Symbolik der Bekenntnissprache entgegengestellt, nun ist es der Text in einem allgemeinen Sinn. Abschließend lautet im Rahmen dieser umfassenden Kritik an der idealistischen Deutung der Phänomenologie die besonders für die Ethik bedeutsame These Ricœurs, dass ein Handeln aus letzter Selbstverantwortung sich als eine Illusion herausgestellt habe. 48 Dies kann als eine Folgerung aus den vorherigen Annahmen gelten, die allesamt die Unabhängigkeit des Subjekts in Frage stellen. Auch ohne ausdrücklichen Hinweis steht diese These im Gegensatz zur Konzeption der moralischen Autonomie. Ein Umstand, der sich ebenfalls mit einem Aspekt der Problematik des Bösen bei Ricœur deckt. Die These der selbstverschuldeten Unfreiheit des bösen Willens und ihrer Unverständlichkeit wendet sich in letzter Konsequenz gegen die volle Autonomie des moralischen Subjekts. Anlass für die Entdeckung dieser eingeschränkten Autonomie sind zuerst die Ansteckungskraft des vorhandenen Bösen und die mangelnde reflexive Klarheit des Bewussteins der Schuld. In Frage gestellt wird die Reichweite der praktischen Vernunft bei der moralischen Selbstbestimmung sowohl in der Beurteilung der moralischen Qualität des eigenen Handelns, zu der sie grundsätzlich einer Hermeneutik bedarf, als auch in dem Grad, in dem sie dieses Handeln tatsächlich zu lenken vermag. Gegen die unbeeinträchtigte Möglichkeit beider Aspekte des autonomen moralischen Handelns soll das Schuldbekenntnis zeugen. Für die Theorie des moralisch Bösen liegt die Bedeutung von Ricœurs Perspektive in dieser Annahme der Unerkennbarkeit des Bewusstseins vom Bösen und in einer besonderen passiven Komponente des bösen Willens, die in der Folge noch detaillierter ausgearbeitet werden soll. Bereits jetzt zeigt sich jedoch die implizite kritische Distanz von Ricœurs Position zu derjenigen Kants, die im Hinblick auf eine Theorie des moralisch Bösen berücksichtigt werden soll. Von besonderem Interesse ist daher für die vorliegende Thematik auch das grundsätzliche Verhältnis Ricœurs zu Kant, das im nächsten Abschnitt näher untersucht werden soll. 48
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Ricœur 1974b, 49 ff.
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Ricœur und Kant. Paul Ricœur – ein Kantianer?
3.4 Ricœur und Kant. Paul Ricœur – ein Kantianer? Nach der Skepsis Ricœurs gegenüber der Erkennbarkeit der grundlegenden Strukturen der Subjektivität und dem Zweifel an der Selbstbestimmung des handelnden Subjekts scheint es abwegig zu sein, einen Kantianer in ihm zu sehen. Unter den vielen Interpreten, die sich mit seiner Grundposition beschäftigt haben, gibt es jedoch auch eine, Pamela Sue Anderson, die Ricœur einen Kantianer nennt, genauer einen »post-hegelianischen Kantianer«. 49 Damit kann sie sich auch auf Ricœur selbst beziehen. 50 Tatsächlich nimmt Ricœur häufig Bezug auf Kant und vergleicht schon in einem frühen Aufsatz von 1954 dessen Position mit derjenigen Husserls. In der Zeit, während der dieser Aufsatz entstand, unterrichtet Ricœur Philosophiegeschichte an der Universität Strassburg. Er nutzt diese Unterrichtstätigkeit für eine intensive Auseinandersetzung mit den Klassikern, deren Früchte sich gerade in L’homme faillible zeigen. Dieses Werk nennt Ricœur selbst das am meisten von Kant beeinflusste unter seinen Werken. 51 Ricœur stellt zwar dort den Bezug zu Kant nicht detailliert im Einzelnen her, aber viele Thesen beider Denker zum Bösen lassen sich aufeinander beziehen. Während der konkrete Bezug ungenannt bleibt, gibt es eingangs von L’homme faillible eine allgemeine Würdigung Kants hinsichtlich seines Beitrags zum Verständnis des moralisch Bösen. Für den Entwurf einer Theorie des moralisch Bösen und um auf die Probleme aufmerksam zu machen, die sich in ihr stellen, hat sich insbesondere der erste Teil der Religionsschrift Kants als ein vielversprechender Ausgangspunkt gezeigt. Ricœur sieht nun in Kant den Hauptvertreter einer grundlegenden Sichtweise des moralisch Bösen, die er in Anlehnung an Hegels Phänomenologie des Geistes »moralische Weltanschauung« (vision éthique du monde) nennt. 52 Die Mängel dieser »Weltanschauung« sollen sich erst im Zuge einer umfassenden Kritik zeigen, die jedoch zunächst ebenfalls die Kantische Sichtweise des Bösen als Ausgangspunkt nimmt. Ricœur geht es dabei nicht daVgl. Anderson 1993. Ricœur 1969, 412. 51 Ricœur 1978, 8. 52 Vgl. Ricœur 1960, 14 u. Ricœur 1971, 11. Hegels Begriff einer »moralischen Weltanschauung« stammt aus der Phänomenologie des Geistes (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, 461 ff.). Die deutsche Übersetzung »ethische Weltanschauung« ist daher irreführend, weshalb ich sie nicht übernehmen werde. 49 50
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rum, diese Position lediglich von einem anderen Standpunkt aus zu widerlegen, sondern sie von ihren Voraussetzungen her bis an ihre Grenzen zu führen, an denen sich ihre Unzulänglichkeit zeigen soll. Dabei lassen sich zahlreiche Bezüge zwischen den wesentlichen Aspekten der Theorie des Bösen in der Religionsschrift Kants und Paul Ricœurs Finitude et Culpabilité herstellen, häufig in Form einer Umdeutung des Kantischen Begriffs. Dem Hang zum Bösen, der bei Kant die Möglichkeit zum Bösen beschreibt, korrespondiert bei Ricœur die Fehlbarkeit. Auch der Begriff des Bösen als Verkehrung findet sich in anderer Form ebenso bei Ricœur wieder wie die Wirklichkeit des Bösen in der Leidenschaft. Für Ricœur wie für Kant rätselhaft ist der Übergang von der Unschuld zum bösen Willen und hier liegt der Ansatzpunkt für Ricœur, über die Kantische Sichtweise des Bösen hinauszugehen. Am Ende von Finitude et Culpabilité findet die methodische Wende zur Hermeneutik statt, die gleichzeitig von einer Theorie des Bösen nach einem von Kant angeregten Modell wegführt. Dieses besondere Verhältnis Ricœurs zu Kant im Hinblick auf das Thema des Bösen ist allerdings ebenso wenig eingehend untersucht worden, wie der Einfluss Kants in Ricœurs gesamten Werk. Möglicherweise tritt dieser Einfluss bei der genannten Auseinandersetzung mit der Phänomenologie, dem Existenzialismus und der Hermeneutik zu sehr in den Hintergrund, obwohl er durchaus seinen Anteil an ihr hat, wie der Aufsatz »Kant et Husserl« 53 zeigt. Provokant gegenüber der Hauptströmung der zahlreichen Versuche, Ricœurs philosophischen Standpunkt im Spannungsfeld gerade der genannten philosophischen Strömungen zu bestimmen, verhält sich daher die Grundthese von Pamela Sue Andersons Studie, Ricœur sei ein »Post-hegelianischer Kantianer«. Obwohl dieser Hinweis auf die Bedeutung Kants für das Werk des französischen Philosophen zwar begründet werden kann, ist er dennoch in dieser Form und Gewichtung irreführend. Man kann sich zwar wie erwähnt bei dem Etikett eines »post-hegelianischen Kantianers« auf Ricœur selbst stützen, der seine philosophische Position in Anlehnung an die gleichlautende Selbstbezeichnung von Eric Weil so bezeichnet hat 54 . Ricœur nimmt allerdings dazu an anderer Stelle eine ironische Distanz ein und scheint diese Möglichkeit eines »post-hegelianischen 53 54
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Ricœur 1955a. Vgl. Dosse 2001, 666.
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Ricœur und Kant. Paul Ricœur – ein Kantianer?
Kantianismus« nur mit einem Augenzwinkern in Erwägung zu ziehen. 55 Skeptisch gegenüber der tatsächlichen Bedeutung einer solchen Selbstcharakteristik sind auch François Dosse und Jean Greisch. 56 Anderson unterliegt mindestens zwei Irrtümern, indem sie sich auf dieses Diktum beruft und auf dieser Grundlage Ricœurs Philosophie interpretiert. Der erste Irrtum besteht in der Ausschließlichkeit, mit der sie dieses Etikett gebraucht, der zweite liegt in der These, Ricœur habe von Kant dessen Freiheitsbegriff übernommen. Beide Behauptungen verdienen jedoch eine genauere Betrachtung, da sie helfen, wesentliche Aspekte des Verhältnisses von Ricœur und Kant zu erschließen. In welchem Sinn Paul Ricœur als Kantianer bezeichnet werden kann, läuft zuerst auf die Frage nach den allgemeinen Anregungen hinaus, die Ricœur von Kant übernommen hat. Für das Verständnis des Bösen von besonderer Bedeutung ist schließlich der zweite Aspekt, der Freiheitsbegriff. Zunächst jedoch zur ersten Frage, inwiefern Ricœur ein Kantianer oder genauer: ein »post-hegelianischer Kantianer« sein könnte. Ist das die Hauptkategorie, in welche die philosophische Position Ricœurs eingeordnet werden soll, stellt das angesichts der bereits genannten Beiträge Ricœurs zur Hermeneutik und zur Phänomenologie, die einen weit größeren Teil seines Werks ausmachen und prägen, einfach eine falsche Gewichtung dar. Vertretbar ist die These jedoch in abgeschwächter Form, da sich Anregungen von beiden Denkern im Werk Ricœurs gerade auch in L’homme faillible belegen lassen. Irreführend ist diese Bezeichnung dennoch, da sie suggeriert, Ricœur habe das philosophische Unternehmen Kants direkt weitergeführt und gleichzeitig dabei möglicherweise Einwände und über den Königsberger Philosophen hinausgehende Erkenntnisse Hegels berücksichtigt. Wie sich zeigen wird, spielen zwar die übernommenen Elemente eine wichtige Rolle als Inspiration des Denkens. Dass aber Ricœur eine kritische Philosophie oder eine Form der Transzendentalphilosophie entwickelt hätte, ist trotz einzelner Aspekte nicht zutreffend. Gerade Ricœurs Sichtweise des Bösen mit ihren genannten methodischen Konsequenzen ist einer der Gründe für seine Distanz zu einer solchen Position. Der Einfluss Hegels ist darüber hinaus in Ricœurs früher Phi55 56
Ricœur 1978, 10. Vgl. Dosse 2001, 581–589. A
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losophie nicht sehr groß und zudem noch teilweise über das Thema der Negativität indirekt durch den Existenzialismus vermittelt. Die Formel der »Größe und Grenze einer moralischen Weltanschauung« spielt zwar auf Hegel an, Ricœur übernimmt aber sonst keine Lehren aus der Phänomenologie des Geistes. Ganz allgemein besagt die Formel lediglich, dass die »moralische Weltanschauung« zwar einen Höhepunkt der Erklärung des moralisch Bösen darstellt, jedoch kein vollständiges und deutliches Verständnis desselben einschließt, vor allem im Hinblick auf das Schuldbekenntnis und des aus diesem ableitbaren bösen Willens. Hier ist zwar eine ganz allgemein von Hegel inspirierte wiederherstellende Hermeneutik vorweggenommen, aber auch diese ist nicht in erster Linie auf der Philosophie Hegels begründet. Die wesentliche Anregung durch Hegel besteht in einer dialektischen Vorgehensweise, z. B. bei der Vermittlung des Gegensatzes von Willentlichem und Unwillentlichem. Dieser Methode fehlt in Ricœurs Philosophie eine weitreichende systematische philosophische Interpretation wie er sie bei der Phänomenologie oder der Hermeneutik vorgenommen hat. Als solche könnte man nur Ricœurs Hinweis auf das Streben nach einem philosophischen System bei einer gleichzeitigen Unmöglichkeit desselben werten. Für Ricœurs Dialektik charakteristisch ist dabei das Fehlen einer vollständigen Synthese von These und Antithese. 57 Ein Gesamtbild des Willens beispielsweise ergeben alle Aspekte der Vermittlung, ohne dass sich am Ende die Gegensätze methodisch und inhaltlich in einer einheitlichen Konzeption des Willens vereinen lassen würden. Außer einer neu gedeuteten Dialektik übernimmt Ricœur in L’homme faillible Aspekte von Hegels Theorie der sinnlichen Gewissheit aus der Phänomenologie des Geistes. 58 Diesem Werk Hegels verleiht Ricœur eine größere Bedeutung, indem er es als Modell der genannten wiederherstellenden oder teleologischen Hermeneutik interpretiert. 59 In Zusammenhang mit dem Bösen spielt dies jedoch kaum eine Rolle. Insgesamt hat Ricœur also von Hegel einzelne Ideen und Motive übernommen, aber in einer sehr freien Interpretation und weder bemüht, dem Forschungsstand über die philosophischen Werke Hegels gerecht zu werden, noch den Standpunkt eines Hegelianers ein57 58 59
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Vgl. Clark 1990, 15. Ricœur 1960, 42. Ricœur 1969, 327.
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zunehmen. Dasselbe lässt sich nun auch im Verhältnis Ricœurs zu Kant feststellen, dessen Einfluss jedoch größer ist. Aufschlussreich für die grundlegenden Motive, die Ricœur von Kant übernommen hat, ist der allgemein gehaltene Lexikonartikel »Emmanuel Kant«, den er für die Encyclopédie du protestantisme verfasst hat. 60 Die kritische Philosophie Kants wird dort durch zwei wesentliche Züge charakterisiert, welche wiederum durch zwei ihrer zentralen Anliegen bestimmt werden: Endlichkeit und Kritik. Kants Ziel sei es, die endliche Beschaffenheit des menschlichen Geistes sowohl in der theoretischen als auch in der praktischen Philosophie herauszuarbeiten. Durch seine kritische Philosophie würde er überzogene Erkenntnisansprüche dieses nur endlichen Vermögens zurückweisen. Die Betonung Ricœurs liegt dabei offensichtlich mehr auf Grundvoraussetzungen und negativen Abgrenzungen des Kantischen Ansatzes und weniger auf positiven Resultaten, was man wiederum von einem Kantianer eher erwarten würde. Die Endlichkeit des menschlichen Geistes herauszuarbeiten und Grenzen der Erkenntnis zu bestimmen sind auch für Ricœur selbst wesentliche Ziele, die er allerdings, wie schon die bisherige Darstellung seiner Philosophie zeigt, auf seine eigene Weise umsetzt, ohne sich dabei direkt an Kant anzuschließen. Die Vorstellung einer Grenze des Erkennens und die Kritik der Erkenntnis spielt bereits in »Kant et Husserl« 61 eine wichtige Rolle. Mit einem Hinweis auf Kant, der nach der Interpretation Ricœurs dem Bewusstsein in der theoretischen Philosophie das Ding an sich und in der praktischen Philosophie den Anderen als Grenze seiner Ansprüche gegenüber stelle, weist er den bereits dargestellten idealistischen Entwurf des Cogito durch Husserl zurück. Ricœurs Bemerkung, Husserl habe zwar Phänomenologie betrieben, Kant jedoch habe sie eingegrenzt und begründet, fasst seine eigene Position prägnant zusammen. 62 Erwähnt wird zwar dabei, dass die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis herausgearbeitet werden sollen, worin der transzendentale Status dieser Untersuchungen begründet sei. Aber in den Hintergrund tritt die Frage nach den apriorischen Elementen der Erkenntnis. Dabei ist Ricœur die Frage nach der Mög-
60 61 62
Ricœur 1995, 816–820 Ricœur 1955a. Ricœur 1955a, 67. A
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lichkeit synthetischer Urteile a priori als Grundfrage der Vernunftkritik durchaus gegenwärtig. Gerade aber das Anliegen der Frage »quid juris?«, die darauf abzielt, objektive Erkenntnis zu begründen, verdecke jedoch die Möglichkeiten zu einer Erkenntnis der Bewusstseinsinhalte, die in der Philosophie Kants angelegt seien. 63 Dies sind für Ricœur gleichzeitig die Möglichkeiten zu einer in dieser implizit enthaltenen Phänomenologie. Ein weiterer Gedankengang führt in »Phénoménologie et Hérmeneutique« 64 zur hermeneutischen Kritik an der idealistischen Deutung der Phänomenologie. Diese ignoriere die Grenzen der Erkenntnis, weshalb Ricœur auch auf einen kantischen Zug seiner Hermeneutik betont, insofern diese die Ansprüche der idealistischen Deutung der Phänomenologie zurückweist. Die Konzeption des Bösen, die wie erwähnt dabei auch eine wesentliche Rolle spielt, macht allerdings gerade in diesem Zusammenhang erkennbar, dass die Gemeinsamkeit zwischen beiden Denkern, was die Grenzen der Erkenntnis angeht, hier endet. Während für Kant zwar der Ursprung des Hangs zum Bösen unerkennbar bleibt, ist jedoch das moralisch Böse selbst und der Anteil der Freiheit an ihm begrifflich bestimmbar und erhält seinen entsprechenden Rang im Zusammenhang mit anderen moralphilosophischen Begriffen. Ricœur gelangt dagegen zur Ansicht, dass der Zustand des bösen Willens selbst und die Freiheit zum Bösen rätselhaft bleiben müssen. Die Symbolik des Bösen liefert zwar Anhaltspunkte, lässt sich aber nicht in eine rein begriffliche Reflexion überführen. In der Konsequenz ist das Bewusstsein nur über eine Deutung seiner Ausdrucksgestalten oder Werke zugänglich, was nicht nur bezüglich des Bösen gilt, sondern ganz allgemein. Eine Konzeption, die Ricœur deutlich von einer Transzendentalphilosophie nach dem Vorbild Kants wegführt. Wichtiger als eine eng an Kant angelehnte Transzendentalphilosophie weiterzuführen – was berechtigen würde, ihn einen Kantianer zu nennen – ist es also für Ricœur, einzelne Motive und Gedanken Kants im Rahmen eines eigenen phänomenologischen oder hermeneutischen Ansatzes neu zu interpretieren. Ausdrücklich weist er darauf hin, dass es ihm nicht darum geht, im Dialog mit der Kantforschung eine entsprechende Philosophie auf der Grundlage einer 63 64
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Ricœur 1955a, 47. Ricœur 1974b.
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Ricœur und Kant. Paul Ricœur – ein Kantianer?
avancierten Kantinterpretation zu entfalten. 65 Wenn er beispielsweise im Zusammenhang mit einem Denken, das von Symbolen ausgeht, von einer transzendentalen Deduktion spricht, steht dahinter eine sehr freie Verwendung einer solchen Konzeption, die sich kaum als Beleg für Kantianismus anführen lässt. Es geht bei dieser Idee weniger darum, die Gültigkeit einer von Symbolen bereicherten Erkenntnis zu erweisen, sondern mehr um das Modell einer Heuristik von sprachlichen Sinngehalten, die sich in einem bewusst gewählten hermeneutischen Zirkel bewähren müssen. Die Erklärung dafür, wie sie aber dieses genau tun, so viel sei bereits an dieser Stelle vorweg genommen, bleibt Ricœur jedoch schuldig. Ähnlich allgemein und unverbindlich leitet sich die Konzeption der Grenze von Kant ab, die Ricœur selbst in den Mittelpunkt seines Bezugs auf Kant stellt. So führt er den kantischen Zug seiner Hermeneutik nur darauf zurück, dass es in ihr auch um Grenzen gehe. Es geht dabei allerdings mehr um eine grundsätzliche Aufmerksamkeit für Grenzen überhaupt. Wie die Grenzen der menschlichen Erkenntnis von Ricœur letztlich bestimmt werden, hängt jedoch nicht von Argumenten ab, die er in Anlehnung an Kant entwickelt. Mit dem Gedanken einer Grenze für das menschliche Erkenntnisvermögen, die gleichzeitig eine Grenze dafür ist, wie und in welchem Umfang philosophische Methoden angewandt werden können, ist eng die Auffassung verbunden, dass ein Grundzug des Menschen überhaupt die Endlichkeit ist. Anders als der Gedanke der Grenze und anders als die Vermutung von Anderson stammt diese Grundidee bei Ricœur nicht von Kant, bei dem er ihn lediglich wiederzufinden glaubt, sondern aus dem existenzialistischen Denken von Gabriel Marcel, der die Endlichkeit als »incarnation« formuliert. Als Beleg dafür kann vor allem die Konzeption des Unwillentlichen aus Le volontaire et l’involontaire angeführt werden. 66 Diesem liegt die Körperlichkeit des Menschen zugrunde, in ihren verschiedenen Ausprägungen als vitaler Ursprung der Motivation, als Instrument des Handelns und als Aspekt der Bedingtheit mit verschiedenen Zügen, wie die situative Gegebenheit des Daseins durch die Geburt, das Erbe von Eigenschaften der Eltern und das Unbewusste. Dies sind die Elemente der Endlichkeit, wie sie in Ricœurs Schriften der 50er Jahre zu finden sind. 65 66
Ricœur 1960, 36. Vgl. dazu auch Ricœur 1995, 24. A
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Die Konzeption der Endlichkeit wird in den Schriften nach Le volontaire et l’involontaire auf alle menschlichen Vermögen ausgeweitet, und zwar in diesem Fall schließlich unter Bezugnahme auf Kant und die kopernikanische Wende. Dies geschieht indem der Gegensatz von Willentlichem und Unwillentlichem auf den allgemeineren Gegensatz von Unendlichem und Endlichem bezogen wird. Die anthropologische Untersuchung der Möglichkeit zum Bösen beruht auf diesem Gegensatz, der mit Hilfe einer Anlehnung an die Kantische Theorie der zwei Erkenntnisstämme neu gedeutet wird, um ihm seine unmittelbare und unhaltbar gewordenen ontologische Bedeutung zu nehmen. 67 Damit gehören die Eigenschaften unendlich und endlich nicht mehr zur Beschreibung der Wirklichkeit, sondern charakterisieren die menschlichen Vermögen. Endlich ist die sinnliche Wahrnehmung, da sie an eine Perspektive gebunden ist. Unendlich ist die Vernunft, insofern sie diese Perspektive überschreiten kann. An Kant orientiert und frei übernommen ist der Gedanke einer Vermittlung zwischen beiden Polen durch eine dritte Instanz, in diesem Fall die transzendentale Einbildungskraft. Die so ermittelte Grundstruktur der philosophischen Anthropologie eines Gegensatzes zwischen endlichem und unendlichem Pol sowie der Vermittlung zwischen beiden wird dann auf die Bereiche des Wollens und Fühlens nach der klassischen (und nicht wie Anderson glaubt, von Kant eingeführten) Einteilung der menschlichen Vermögen übertragen. Wie nun die anthropologische Grundstruktur eines endlichen und unendlichen Pols sowie deren Vermittlung von Kant abgeleitet wird, soll Gegenstand einer genaueren Untersuchung des Begriffes der Fehlbarkeit des Menschen werden. Es zeigt sich jedoch auch in diesem Zusammenhang, was bereits festgehalten wurde: Ricœur ist kein Kantianer im engeren Sinn, sondern er nimmt einzelne Thesen auf der Grundlage seiner bereits bestehenden philosophischen Position einer existentialistischen bzw. hermeneutischen Phänomenologie auf und interpretiert sie neu. Dies gilt zumindest für seine Philosophie des Willens. Soi-même comme un autre, das als einziges späteres Werk Ricœurs noch aufgrund seines Bezugs zum Thema des Bösen herangezogen werden soll, enthält eine Annäherung an die Moralphilosophie Kants, in der aber die Kritik an Kant, vor allem am Freiheitsbegriff, noch enthalten ist. Wie sich in der Folge zeigen wird, gehört gerade Ricœurs Konzeption der Freiheit zu den wich67
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Ricœur 1960, 24.
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Ricœurs Freiheitsbegriff
tigsten Abgrenzungsversuchen Ricœurs gegenüber Kant, so dass gerade das Gegenteil von Andersons These zutrifft, Ricœur sei Kantianer und dies habe sich vor allem im Freiheitsbegriff der Philosophie des Willens ausgewirkt. Ricœur ist gerade deswegen kein Kantianer, weil er dem Verständnis der Freiheit als Autonomie kritisch gegenüber steht.
3.5 Ricœurs Freiheitsbegriff Entscheidend für die Antwort auf die Frage, ob Ricœur zurecht als Kantianer bezeichnet werden kann, ist sein Freiheitsbegriff. Anderson interpretiert diesen so, dass eine grundlegende Gemeinsamkeit zwischen beiden Denkern sichtbar werden soll. Dies beruht jedoch darauf, dass sie den Akzent der Freiheitstheorie Kants nicht auf die moralische Autonomie legt, sondern auf den negativen Freiheitsbegriff der Unabhängigkeit des Willens von einer Determination durch naturgesetzliche Zusammenhänge. Wert legt sie außerdem auch auf die Bezeichnung des Menschen als endliches Vernunftwesen mit den entsprechenden Konsequenzen für seinen Willen und seine Freiheit, denen eine absolute Spontaneität abgeht. 68 Es wird sich jedoch zeigen, dass gerade die Bedeutung von Freiheit als Vermögen nach (moralischen) Gesetzen zu handeln oder die Autonomie von Ricœur relativiert wird und daher ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Auffassungen von Freiheit vorliegt. Für einen Vergleich von Ricœurs und Kants Theorie des moralisch Bösen ist dieser Unterschied von elementarer Bedeutung. Ricœurs erste Überlegungen zur Freiheit finden sich in Le volontaire et l’involontaire. Sie sind vom bereits beschriebenen Ansatz einer existentialistischen Phänomenologie geprägt, auf dem dieses Werk beruht. In der gesamten Phänomenologie des Willens spielt das Verständnis der menschlichen Freiheit eine herausragende Rolle, denn das Resultat derselben ist im Ausdruck »une liberté seulement humaine« zusammengefasst. Die menschliche Freiheit zeichnet sich nach der Analyse des Unwillentlichen durch eine dreifache Bedingtheit aus. Der Antrieb des Handelns hängt von Motiven ab, die letztlich auf die Ebene des Körpers zurückgehen. Dieser selbst setzt ihr wiederum Grenzen durch die körperlichen Fähigkeiten und schließ68
Anderson 1993, XV. A
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lich stellt das Körperliche insgesamt eine Gegebenheit dar, die eine nicht hintergehbare Voraussetzung für das menschliche Handeln schafft. Ricœur fasst diese Eigenschaften in der Formel »la liberté humaine est une liberté motivée, incarnée et contingente« 69 zusammen. Hierin sieht Anderson ein kantisches Element, indem sie eine Verbindung zum Begriff des »endlichen Vernunftwesen« herstellt. Wie Kant Vernunft und Neigungen einander gegenüberstellt, so würde Ricœur dies mit Willentlichem und Unwillentlichem tun. In einem sehr allgemeinen Sinn gibt es sicher eine Ähnlichkeit, näher betrachtet handelt es sich jedoch um zwei völlig verschiedene Ansätze. So hält Ricœur fest, dass er sich bis 1970 kaum für Ethik und Moralphilosophie interessiert habe 70, was ein erster Anhaltspunkt dafür ist, dass es sich bei der Philosophie des Willens nicht um einen kantianischen Ansatz handelt. Denn anders als Kant bestimmt Ricœur die Bedeutung von Freiheit nicht im Zusammenhang mit dem Begriff der moralischen Verpflichtung. Er lehnt im Gegenteil eine solche Bestimmung als verkürzt ab und betont, dass es einer seiner Grundgedanken seit 1974 ist, dass die moralische Verpflichtung weniger fundamental sei als das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. 71 Bereits in seiner Dissertation von 1950 formuliert Ricœur eine erste Fassung dieses Grundgedankens seiner Philosophie, der auch in Soi-même comme un autre noch eine zentrale Rolle spielt. Danach gibt es jeweils eine ursprüngliche und fundamentale Bedeutung der menschlichen Freiheit und des Willens, die sich zunächst der Phänomenologie erschließen und die dann durch die Reflexion über die Werke der Freiheit vertieft werden soll. Verfälscht wird diese Bedeutung durch das Böse. Moralische Begriffe wie Verpflichtung und Norm erhalten jedoch ihre Bedeutung nur im Zusammenhang mit dem Bösen, weshalb sie nicht der grundlegenden Bedeutung von Freiheit und Willen zuzurechnen sind. In Ricœurs Werk findet sich dieser Gedanke an verschiedenen Stellen in unterschiedlicher Form wieder. Zuletzt hat Ricœur den Vorrang einer teleologisch verstandenen Ethik vor einer deontologisch konzipierten Moral für das Selbstverständnis des Handelnden vertreten. Auch hier steht das Böse in 69 70 71
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Ricœur 1950, 455. Ricœur 1995, 54 Ricœur 1995, 54 f.
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Ricœurs Freiheitsbegriff
engem Zusammenhang mit dem moralischen Sollen, insofern böses Handeln moralische Gesetze erst nötig macht. Dies ist jedoch wie gesagt der Endpunkt einer Entwicklung, die bereits in den 50er Jahren begann und die im Zusammenhang mit Paul Ricœurs eigentlicher Theorie des Bösen noch näher betrachtet werden soll. Ricœurs Freiheitsverständnis ist jedenfalls bereits in der frühen Philosophie des Willens ein grundlegend anderes als dasjenige Kants und dieser Unterschied wird von ihm auch in seinen späteren Werken beibehalten. Von ihren Grundzügen her ist diese Philosophie des Willens ein phänomenologischer Beitrag zur Handlungstheorie, indem sie Grundelemente des Handelns wie Entscheidung, Enwurf oder Bewegung durch ihren Bezug auf Willensakte zu bestimmen versucht. Für Ricœurs Bestimmung der Freiheit ist dieser Umstand wesentlich, denn die grundlegenden Elemente des freien Handelns, die in der Phänomenologie des Willens ermittelt werden, sind ursprüngliche Akte des Willens und des Handelns sowie die Korrelate dieser Akte, ihr jeweiliges Noema. Moralische Begriffe hingegen sind auf den bösen Willen bezogen, der sich in einem Zustand befindet, in dem der Wille und das Handeln bereits entstellt und verfremdet sind. Es ist also gerade das Thema des Bösen, das für Ricœur der Grund ist, weshalb Freiheit nicht als Autonomie zu verstehen ist. Das moralische Gesetz beziehe sich nicht auf den Willen in seiner eigentlichen Bedeutung, die Gegenstand einer Eidetik sein kann, sondern auf einen Willen, der bereits fehlgegangen sei. 72 Freiheit im Hinblick auf das sittliche Handeln ist nach dem ersten Werk zunächst durch den Bezug auf Werte (valeurs vitals) zu verstehen, die von elementaren Motiven abgeleitet sind. Diese stammen ihrerseits aus dem Bewusstsein des körperlich Zuträglichen und Abträglichen. Der freie Wille ist ursprünglich auf solche Werte ausgerichtet und wird von ihnen geleitet, ohne dass er durch ein Bewusstsein der Pflicht genötigt oder sogar erniedrigt wird. 73 Der Bezug der Freiheit zu Normen ist erst darin begründet, dass die Leidenschaften den menschlichen Willen beherrschen. Eine Selbstbestimmung durch moralische Autonomie schließt Ricœur zwar nicht ausdrücklich aus. Sie wäre aber erst angesichts des Bösen denkbar und damit ebenso zweitrangig und abgeleitet wie es für ihn ebenfalls moralische Normen sind. Damit ist die Bedeutung des Gesetzes als Gestalt der moralischen Verpflichtung für das Ver72 73
Ricœur 1950, 23 ff. Ricœur 1950, 124 ff. A
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ständnis der menschlichen Freiheit nicht grundlegend, wie es die Strukturen des Willens sind, die durch die Untersuchung des Willentlichen und des Unwillentlichen herausgearbeitet wurden. In diesen Zusammenhang gehört auch eine weitere, in seinem Werk häufiger geäußerte Kritik Ricœurs an Kant. Ein Fehler sei es demnach, wenn man wie Kant es getan habe, das Verständnis des menschlichen Handelns ausschließlich an einer transzendentalen Erkenntnis des Objekts ausrichte. 74 Das sei die Ursache dafür, dass Kant die zweite Kritik nach dem Vorbild der ersten durchgeführt habe und diese nur ein Abklatsch jener sei. 75 Aus dem Blick würde dabei gerade die Bedingtheit der menschlichen Freiheit geraten. Sowohl die Endlichkeit des Körpers als auch die Eingebundenheit in historische Gegebenheiten, zu denen auch das Schuldbekenntnis in seiner symbolischen Gestalt zählt, gehören zu diesen Aspekten einer »nur menschlichen Freiheit«, die vom Handelnden immer schon vorgefunden werden. Trotz der großen Wertschätzung, die Ricœur für Kant immer wieder äußert, steht er im Verständnis von Freiheit als Autonomie ebenso weit von einem kantischen Ansatz entfernt wie von einem transzendentalphilosophischen Grundansatz. Gerade Ricœurs beide Hauptanliegen, die Kritik am Cogito als Modell für die Subjektivität und die Ergänzung des transzendentalen Elements der Phänomenologie Husserls durch die Hermeneutik, bedingen diese Grundhaltung. Ricœurs Anerkennung der Bedeutung Kants für seine eigenen Überlegungen und seine gleichzeitige Einschränkung dieser Bedeutung findet dabei auch in der Formel »Größe und Grenze einer moralischen Weltanschauung« ihren Ausdruck, die seine eigentliche Beschäftigung mit dem Thema des Bösen einleitet. 76 In dieser Formel findet sich sowohl das beschriebene allgemeine Verhältnis Ricœurs zu Kant wieder, das man als eine kritische Aneignung von Grundthemen nennen könnte, als auch die besondere Rolle, die Kant für Ricœur beim Thema des Bösen spielt. Die moralische Weltanschauung ist gerade durch das wechselseitige Verhältnis von Freiheit und Bösem definiert. Sie ist im Bekenntnis begründet, durch das sich die menschliche Freiheit die Verantwortung für das Böse selbst zuschreibt, anstatt seinen Ursprung der menschlichen Endlichkeit anzulasten. Damit ist für Ricœur noch 74 75 76
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Ricœur 1960, 90. Ricœur 1975a, 315. Ricœur 1960, 14 ff.
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nichts über den ersten Ursprung des Bösen entschieden. Es bleibt offen, ob der Mensch zuerst böse Taten begangen oder das bereits in der Welt vorgefundene Böse weitergeführt hat. Für das menschliche Schuldbekenntnis, das den Zugang zur bösen Tat eröffnet, macht das keinen Unterschied. In diesem Schuldbekenntnis, sich als verantwortlich für das moralisch Böse zu betrachten, liegt die Größe der moralischen Weltanschauung. Ihren Höhepunkt stellt die Philosophie Kants dar, worin die besondere Wertschätzung Ricœurs für diesen zum Ausdruck kommt. Der Bezug der Auffassung Ricœurs vom Bösen zu derjenigen Kants wird in dieser Überschrift ebenfalls deutlich. Es handelt sich nicht um eine Alternative zu Kant, sondern um eine Kritik, die selbst von einer Grundlage ausgeht, die von Kant übernommen wird, dann aber über diesen Standpunkt hinausführen will. Der Verdienst der Theorie des radikalen Bösen soll erhalten bleiben, wobei gleichzeitig gezeigt werden soll, inwiefern das Phänomen des Bösen durch die Theorie Kants nicht vollständig erklärt werden kann. Dies nimmt zwar Kant auch nicht in Anspruch, z. B. weist er auf den unerklärlichen ersten Ursprung des Bösen hin, für Ricœur ist jedoch das Rätsel des Bösen größer und die Schwierigkeit, das Böse zu verstehen, tiefergreifend und methodisch folgenreicher. Den Gedanken einer Grenze des Erkennens, den Ricœur als Anregung von Kant übernimmt, wendet er aufgrund dieser Überzeugung einer Grenze der moralischen Weltanschauung auf dessen Theorie der Freiheit und des moralisch Bösen an. Inwiefern das Verständnis des Bösen, in dem menschliche Begrenztheit und Vorgaben des Handelns ausgedrückt werden, selbst eine Grenze des Erkennens aufzeigt, ist eine Frage, die im Mittelpunkt der Untersuchungen Ricœurs zu diesem Thema steht. Es ist dabei vor allem eine grundlegende Paradoxie, die sich einer Theorie des moralisch Bösen entgegenstellt und welche die Begrenztheit einer phänomenologischen oder transzendentalen Reflexion der Bewusstseinsinhalte und Strukturen aufzeigen soll. Paradox am moralisch Bösen ist für Ricœur sein widersprüchlicher Charakter aus Freiheit selbstverschuldet und dennoch in einer noch näher zu bezeichnenden Weise passiv erlitten zu sein und außerdem noch den Verlust der Freiheit nach sich zu ziehen. In dieser Paradoxie liegt die Besonderheit von Ricœurs Beitrag zum Bösen begründet und daran entscheidet sich, wie überzeugend man diesen Beitrag findet. Im Hinblick auf sein Verhältnis zu Kant – insbesondere im Bezug auf das jeweilige Verständnis der Freiheit zum moralisch Bösen – A
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kann man festhalten, dass beide Philosophen dieselbe Grundfrage stellen: Welchen Anteil hat die Freiheit am moralisch Bösen? Im Anschluss daran stellen beide Philosophen wiederum dieselbe Frage: Nachdem Ricœur das Phänomen des Bösen und den bösen Willen in Le volontaire et l’involontaire ausgeklammert hat, wird in L’homme faillible zuerst das Problem behandelt, inwiefern man davon ausgehen kann, dass die Möglichkeit zum Bösen in der menschlichen Natur angelegt ist, ohne die Zurechenbarkeit des Bösen aufzuheben. Für Ricœur würde die Einschränkung der Zurechenbarkeit bedeuten, den Ursprung des Bösen in der menschlichen Endlichkeit zu suchen. Er versucht diese Problematik durch eine eigens auf sie zugeschnittene Anthropologie zu lösen. Im Rahmen der anthropologischen Abhandlung wird ebenfalls eine begriffliche Bestimmung des Bösen in Bezug auf den menschlichen Willen durchgeführt. Dabei wird der Begriff in einer engen Beziehung zur Möglichkeit des Bösen in der anthropologischen Grundverfasstheit des Menschen bestimmt. Dieser Begriff wiederum wird angewandt auf die bisher bereits genannten Erscheinungsformen des bösen Willens, die Leidenschaften. Im Fortgang der Untersuchung wird dann die Frage aufgeworfen, wie der Übergang des Willens von der bloßen Möglichkeit des Bösen zur Wirklichkeit zu verstehen ist. Diese Frage ist es, bei der die wechselseitige Erklärung der Freiheit und des Bösen nicht nur durch eine transzendentale Reflexion an ihre Grenzen stößt. Denn an dieser Frage scheint jede Form von Begriffsbestimmung zu scheitern. Eine Annäherung wird in der Symbolique du mal versucht, mit einem offenen Resultat. Diese kurze Übersicht und die bisherige Untersuchung zeigen bereits, wie die unterschiedlichen Voraussetzungen sich darstellen, unter denen beide Philosophen versuchen, die Frage nach dem Bösen zu beantworten. Während Kant dies im systematischen Rahmen seiner Ethik versucht, fragt Ricœur nach dem Bösen im Anschluss an seine Phänomenologie des Willens. Diesem besonderen Ansatz entsprechend setzt Ricœur die Wirklichkeit des moralisch Bösen in Phänomenen voraus, die Zustände des gesamten Willens beschreiben, wobei er sich im Rahmen seiner Frage nach dem menschlichen Selbstbewusstsein vor allem auf das Schuldbekenntnis als einer konkreten Form desselben bezieht. Anders als bei Kant, bei dem es um Handlungen und den Charakter einer Person im Hinblick auf moralische Prinzipien geht, spielen solche Prinzipien bei Ricœur keine Rolle. Die Leidenschaften und die selbstverschuldete Sklaverei des 174
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Willens sind Zustände des Willens, die über eine moralische Verfehlung im engeren Sinn eines Verstoßes gegen das Sittengesetz hinausgehen. Ricœur zieht den Willen in Betracht, insofern er das Vermögen absichtsvoll zu handeln ist, und insofern er auf das Glück des Handelnden ausgerichtet ist. In beiden Hinsichten wird der ursprüngliche Wille von den Leidenschaften entstellt, in denen der böse Wille seinen Ausdruck findet. Entsprechend weit gefasst ist ebenfalls die Freiheit als Vermögen dieses Willens. Auch die Sprache des Schuldbekenntnisses in ihrer Gesamtheit betrachtet – die »Symbolik der Schuld«, welche dem entsprechenden Werk den Titel gibt, der Ricœur so große Bedeutung für das Verständnis des Bösen zuschreibt – lässt sich auf dieser Grundlage als Beschreibungen von Willenszuständen in einem umfassenden Sinn verstehen. Für Ricœur war es naheliegend diese im Anschluss an seine Phänomenologie des Willens heranzuziehen. Ein begriffliches Verständnis des Bösen wird zunächst anhand des Phänomens der Leidenschaft entwickelt, das bereits auf das Konzept des »servum arbitrium« hinweist. Dieses wiederum ist der Höhepunkt der Schuldsymbolik. Indem er seiner späteren hermeneutischen Methodik vorgreift, geht Ricœur bei der Frage nach der Möglichkeit des Bösen von vorphilosophischen Verständnisweisen des Bösen und der Schuld aus, die jedoch bereits an der Grenze zur Philosophie aufgetaucht sein sollen. Wie bei Kant geht dabei in Ricœurs Ansatz mit der begrifflichen Bestimmung des Bösen die Frage nach seiner Möglichkeit in der menschlichen Natur einher. Dieses Vorverständnis besteht in einer von Platon angeregten Pathetik und einer von Pascal hergeleiteten Rhetorik des menschlichen Elends. 77 Dabei handelt es sich um Ausdrucksweisen des menschlichen Elends, in denen die aus der Endlichkeit ableitbaren Übel und die Schuld nicht deutlich voneinander getrennt sind. Die Aufgabe, die sich für Ricœur zunächst stellt, besteht darin, den Willen, insofern er endlich ist, vom bösen Willen zu unterscheiden. Im Ausgangspunkt seiner Untersuchung, in den Leidenschaften als Ausdrucksformen des bösen Willens und im servum arbitrium, der »selbstverschuldeten Sklaverei des Willens«, zeigt sich gerade, wie nahe Endlichkeit und Schuld liegen. Das Anliegen, beides voneinander zu trennen, spiegelt sich im gleichlautenden französischen Titel Finitude et culpabilité wieder, der den zweiten und dritten 77
Ricœur 1960, 26 ff. A
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Band der Philosophie des Willens zusammenfasst. Die Pathetik des Elends, in der das Schuldbekenntnis seinen Ausdruck findet und die Ricœur in L’homme faillible zugrundelegt, unterscheidet noch nicht deutlich zwischen Irrtum und Schuld, zwischen Verblendung und Vergehen. Dies ist die Aufgabe der philosophischen Anthropologie, die Ricœur in der Folge entwickelt und in der die Endlichkeit als Ursprung des moralisch Bösen ausgeschlossen werden soll. An die Grenze stößt jedoch die Anthropologie bei der Frage nach dem Zustand des bösen Willens, insbesondere im Bezug auf den Teilaspekt nach dem Übergang von Unschuld zu Schuld. Mit dieser neuen Frage und einem neuen Vorverständnis, der Symbolik des Bösen, setzt Ricœur die Untersuchung in La symbolique du mal, dem zweiten Teil von Finitude et culpabilité, fort. Erneut steht der passive Charakter des Bösen im Mittelpunkt. Rätselhaft ist, wodurch die Freiheit zur Selbstaufgabe bewegt wird. Einen Ansatz zur Erklärung dieses Phänomens sieht Ricœur in der Auslegung der Symbolsprache, in der sich das Schuldbekenntnis über Jahrhunderte geäußert hat. Wie bei Kant lassen sich in Ricœurs Untersuchung ebenfalls Antworten auf die grundlegenden Anforderungen an eine nicht-reduktive Theorie des moralisch Bösen finden: Wie ist das Böse begrifflich zu verstehen? Wie lässt sich das Böse verstehen, ohne es zu verharmlosen? Wie kann man die Angemessenheit des entwickelten Verständnis nachweisen? Schließlich werden auch wieder dieselben Fragen auftauchen, die sich an Kants Theorie des moralisch Bösen stellen lassen: Wie ist der Ursprung des moralisch Bösen in der menschlichen Natur mit seinem Freiheitscharakter vereinbar? Wie ist der Begriff des Bösen als Verkehrung zu bestimmen? Wie kann man den Akt verstehen, durch den sich ein Wille für das Böse entscheidet? Was ist der Endpunkt, den die Entwicklung des bösen Willens erreicht? Während Ricœur Überlegungen anstellt, wie seine Gedanken zum moralisch Bösen sich gegenüber konkreten Phänomenen als angemessen zeigen sollen, fehlt jedoch die Umsetzung, die Antwort auf eine abschließende Frage nach der Wirklichkeit des so bestimmten moralisch Bösen, die Gegenstand der Empirie des Willens gewesen wäre. Geleitet wird der Fortgang innerhalb dieser Fragen von der wesentlichen Grundfrage: Wie ist das Verhältnis zwischen Freiheit und Bösem zu verstehen? D. h. in welchem Sinn ist das Böse frei und wie ist das Verständnis der menschlichen Freiheit durch das Böse zu mo176
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difizieren. Die allgemeine Antwort beider Philosophen fällt gleich aus: das moralisch Böse ist zwar zurechenbar, kann jedoch nicht im vollen Sinn als frei verstanden werden. Bei diesen Gemeinsamkeiten dürfen jedoch die Unterschiede nicht übersehen werden, die bereits teilweise deutlich geworden sind. Jede dieser Fragen geht Ricœur in einem größeren Maße als Kant mit nicht-philosophischen Voraussetzungen an: das begriffliche Verständnis des Bösen mit einem religiös geprägten Verständnis der Leidenschaften und des servum arbitrium, die Möglichkeit zum Bösen mit der Pathetik und Rhetorik des Elendes und schließlich den Übergang zum Bösen mit der Voraussetzung der Symbolsprache oder Symbolik des Bösen. Problematisch bleibt dabei der Nachweis der Gültigkeit der aus diesen Voraussetzungen abgeleiteten Erkenntnisse. Auch im Hinblick auf die Frage nach der Freiheit ist es wichtig zu sehen, dass Ricœur und Kant sehr unterschiedliche Anliegen verfolgen. Während sich für Kant das Böse als Problem im Rahmen einer Systematik von moralphilosophischen Begriffen stellt, hat für Ricœur das Problem des moralisch Bösen im Hinblick auf das Verständnis des menschlichen Bewusstseins und der Identität der Person Vorrang. Möglicherweise ist bei Ricœur – gerade auch im Hinblick auf die Rolle für die Identität der Person – die Frage nach der Negativität des Bösen, die durch den Bezug zu moralischen Prinzipien bestimmt wird, zu kurz gekommen,. Beide Perspektiven auf das Böse ergänzen sich jedoch und diejenige Ricœurs kann es erleichtern, vielleicht bei Kant den einen oder anderen Aspekt noch zu entdecken oder zu ergänzen, der bei ihm nur knapp umrissen ist.
3.6 Voraussetzungen von Ricœurs Theorie des Bösen: Leidenschaften und servum arbitrium Ricœurs Untersuchungen zum Thema des Bösen sind charakteristisch für seine philosophische Arbeitsweise. Wie bereits erwähnt entwickelt sich erst anhand dieser Thematik seine besondere Formulierung einer phänomenologischen Hermeneutik. Aber bereits am Beginn seiner Überlegungen kann man eine Denkbewegung finden, wie sie für seine späteren hermeneutischen Werke charakteristisch ist. Dieses Modell der Denkmethode setzt ein Verständnis des Gegenstandes voraus, welches von der Philosophie vorgefunden wird und dessen Bedeutungsgehalt durch die philosophische Methode eingeA
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holt und geprüft werden soll. Der Versuch, dieses Vorverständnis durch eine rein begriffliche Reflexion zu vertiefen, stößt jedoch auf Aporien, die einen Umweg der Reflexion über die Interpretation und die Verknüpfung beider Methoden verlangen. Anders als Kant, der das Böse im Zusammenhang der Begriffe seiner Ethik bestimmt, setzt Ricœur demnach ein bestimmtes vorphilosophisches Verständnis des Bösen voraus, das er interpretiert und für die Aufnahme in die Philosophie vorbereiten will. Kant zieht zunächst die begriffliche Systematik seiner Ethik heran, um Begriff und Möglichkeit des Bösen zuerst zu bestimmen. In einem darauf folgenden Schritt überprüft er die Thesen, die auf diese Weise gewonnen worden sind, anhand der Phänomene, die zur Wirklichkeit des Bösen gerechnet werden können. Exemplarisch sind dabei die ungereizte Grausamkeit und die falsche Freundschaft. Einbezogen wird die Wirklichkeit des Bösen von Kant daher so, wie es einer alltäglichen Sichtweise entsprechen würde. Geprüft wird, ob das entwickelte Verständnis den Phänomenen angemessen ist. Ricœur hingegen setzt bereits sehr spezifische Phänomene des Bösen voraus und versucht dann sich an diese anzunähern. Zentral sind die Vorstellungen eines servum arbitrium und der Leidenschaften zur Beschreibung des Zustands, in dem sich der böse Wille befindet, sowie die Pathetik des Elends und die symbolische Bekenntnissprache für das Schuldbekenntnis als Eingeständnis einer bösen Tat. Vergleicht man die Grundzüge dieser Vorgehensweise mit derjenigen Kants, so lassen sich neben grundlegenden Unterschieden auch einige Gemeinsamkeiten feststellen. Ricœur beginnt zunächst bei einem Vorverständnis des Bösen, das der phänomenologischen Methode – stellvertretend für die begriffliche Bestimmung im allgemeinen – nicht zugänglich sei. Leidenschaft und selbstverschuldete Sklaverei des Willens sind die Stichworte, die diesen Ausgangspunkt ausmachen. Seine nächste Frage gilt der Möglichkeit des Bösen. Hier setzt er ein zweites, der Philosophie vorausgehendes Verständnis des Bösen voraus: die »Pathetik des Elends«. Durch diese angeregt und mit der weiteren Voraussetzung der Freiheit zum Bösen im Zuge der Würdigung der »moralischen Weltanschauung«, versucht Ricœur durch eine Reflexion transzendentalen Typs die Möglichkeit des Bösen zu bestimmen. Eine weiterreichende begriffliche Bestimmung des Bösen fehlt zunächst, man kann sie aber im Fortgang der Untersuchung finden, auch wenn sie nicht ausdrücklich als solche gekennzeichnet ist. Anhand der Bestimmung der Möglichkeit und des Be178
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griffs des Bösen werden die Leidenschaften als Erscheinungsformen des Bösen neu gedeutet. Während die Grundstrukturen der Möglichkeit und der Wirklichkeit des Bösen nun scheinbar ermittelt sind, bleibt der Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit und damit der böse Wille rätselhaft. Denn Ricœur wendet sich einer neuen Vorgabe zu, der Symbolik des Bösen. Ein dadurch gewonnenes, vertieftes Verständnis des Bösen ist erneut aporetischer Natur, die selbstverschuldete Sklaverei zeigt sich in einer neuen Form. Die moralische Weltanschauung stößt hier endgültig an ihre Grenzen und die Untersuchung wäre nur mit Hilfe neuer philosophischer Methoden fortzuführen. An diesem Punkt jedoch bricht Ricœurs Untersuchung zum Bösen ab und die geplanten Projekte einer Poetik des Willens und einer Empirie des Willens bleiben unvollendet. Die Zirkularität dieser Untersuchung besteht darin, dass sie bei einer Auffassung von Leidenschaft und selbstverschuldeter Sklaverei des Willens beginnen und dass sie bei einem vertieften Verständnis beider Phänomene endet. Wie sieht nun ihre Formulierung am Anfang aus? Ricœurs Konzeption der Leidenschaften ist die erste Leitfrage, die man an seine Auseinandersetzung mit dem Bösen stellen sollte. Die Leidenschaften sind demnach die alltägliche Erscheinungsweise des Willens in Alltag und in der Welt der Literatur. Sie entstellen und verfremden den Anblick des Willens durch ihren in sich widersprüchlichen Charakter. Sie stellen einen Bruch in der menschlichen Existenz dar und entstellen diese in ihrer Gesamtheit. Eine Leidenschaft ist nicht nur ein vereinzeltes psychisches Phänomen, sondern eine Gestalt, die der böse Wille dem Charakter des Handelnden als Ganzes verleiht. Dabei sind Leidenschaften zwar an ein nichtiges Ziel gebunden, besitzen jedoch eine positive eigene Kraft und stellen keinen Mangel dar. Noch deutlicher als bei Kant geht für Ricœur der Zustand des bösen Willens mit einer Verblendung einher. Es wird sich im Anschluss zeigen, dass die Eigenschaft des nichtigen Ziels der Leidenschaft, eine schlechte Unendlichkeit, eine Maßlosigkeit zu sein, eine besondere Rolle spielt. 78 Aufgrund dieser Verblendung, der Entstellung und Widersprüchlichkeit des Willens im Zustand der Leidenschaften, ist, wie Die Bestimmung der genannten Grundzüge der Leidenschaften befindet sich in: Ricœur 1950, 26 ff.
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bereits zuvor erwähnt, sein Verständnis erschwert und nicht durch eine phänomenologische Beschreibung zu erreichen, die sich wie diejenige in Le Volontaire et l’involontaire an Husserl orientiert. Dem bösen Willen fehlt das »principe de l’intelligibilité« der übrigen Formen des Willens, das Eidos. Das wird am Umstand erkennbar, dass ihr Ziel ein eingebildetes Nichts sei, das gleichzeitig aufgeladen wird mit einem übermächtigen Antrieb, der das ganze Wollen mit sich reißt. In diesem Sinn ist der Wille, der sich seinen Leidenschaften oder seiner Leidenschaft unterworfen hat, nicht mehr Herr seiner selbst und hat sich sehenden Auges in die selbstverschuldete Sklaverei des Willens begeben. Hier findet man die grundlegende Paradoxie des Bösen nach Ricœur in einer ersten Form: die Freiheit bindet sich selbst an ein Nichts, der selbstverschuldete Verlust der Freiheit wird vollzogen. Darin besteht der Zustand des »servum arbitrium«. Es fällt auf, dass dies eine traditionelle und religiös geprägte Bestimmung des Bösen ist. Das Thema der Leidenschaften mutet zunächst ebenfalls in dieser Form veraltet an, da es aus der hohen Literatur und der Psychologie weitgehend verschwunden zu sein scheint. Eine zeitgemäße Formulierung dieses Themas ist daher in diesem Zusammenhang gefragt. Bei Kant sind zwar die Leidenschaften auch Phänomene, die zum moralisch Bösen gehören, aber nur als Teil der grundlegenden Kategorien der Wirklichkeit des Bösen. Grausamkeit und falsche Freundschaft wiederum scheinen als exemplarische Formen des Bösen moderneren Charakter zu besitzen oder können im Hinblick auf ein zeitgemäßes Verständnis des Bösen leichter herangezogen werden als Ricœurs Beispiele. In den Leidenschaften die grundlegende Erscheinungsform des Bösen zu sehen, scheint außerdem von vorne herein eine Verkürzung zu beinhalten. Der kaltblütige Verbrecher, den Kant noch vor Augen hatte, taucht in diesem Bild nicht auf, ebenso wenig wie die Erscheinungsformen des Bösen in der Moderne, die bereits genannt wurden. Ricœur ist sich jedoch dessen bewusst und weist selbst auf diese Lücke hin. Eine umfassende Theorie des moralisch Bösen muss nach seinen eigenen Bemerkungen auch die besonderen Phänomene der Moderne wie die Konzentrationslager der Nationalsozialisten umfassen und muss Erkenntnisse aus den Sozialwissenschaften und anderen Spezialdisziplinen heranziehen. 79 Dabei könnte sich allerdings möglicherweise auch zeigen, dass er seinem Begriff der Fehlbarkeit 79
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Ricœur 1960, 13.
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als anthropologisch verankerter Möglichkeit zum Bösen und dem dabei herausgearbeiteten Begriff des Bösen eine zu schmale Grundlage gegeben hat. Die Bestimmung der Leidenschaften als Grundform des Bösen ist jedoch nicht nur fragwürdig, weil sie vielleicht zu kurz greift und antiquiert erscheint. Ricœur setzt sich zusätzlich noch dem Vorwurf aus, in eine vormoderne Abwertung des menschlichen Gefühlslebens und der Leidenschaftlichkeit zurückzufallen, die in der Gegenwart kaum Zustimmung finden dürfte. Auf diese Weise äußert sich Robert C. Solomon als einer der wenigen, die sich überhaupt mit dem Thema der Leidenschaften bei Ricœur und auch ganz allgemein auseinander gesetzt haben. 80 Gerade die Pointe von Ricœurs Verständnis der Leidenschaften ist ihm dabei jedoch entgangen. Seine Kritik setzt voraus, dass Ricœur die Leidenschaften zusammen mit den Gemütsbewegungen und Affekten zu den Gefühlen (feeling) zählt. Die Leidenschaften sollen von den Gemütsbewegungen (emotions) ihren Ausgang nehmen und deren Komplexion darstellen. Eine der wichtigsten Eigenschaften aber, den die Leidenschaften bei Ricœur besitzen, besteht gerade darin, dass sie nicht nur Phänomene des Gefühlslebens sind, sondern den gesamten Willen und die Vernunft, also den gesamten Menschen, umfassen. Gemütsbewegungen und Affekte gehören dagegen für Ricœur zum Bereich des Unwillentlichen. Affekte sind dabei Zeichen eines körperlichen Aufruhrs, wie ein Krampf, ein Schrei oder Zittern. Sie können zwar die Leidenschaften begleiten, sind jedoch nicht mit diesen ursächlich verknüpft und im Gegensatz zu ihnen nur von kurzer Dauer. Insofern das Unwillentliche zur Endlichkeit gehört, ist es zudem ein Anliegen Ricœurs, das zu ihm gehörende Gefühlsleben vom Vorwurf zu entlasten, den Ursprung des Bösen darzustellen. Das Kernstück von L’homme faillible stellt eine Philosophie des Gefühls dar, die gerade eine solche Abwertung abwenden soll, wie sie Solomon bei Ricœur vermutet. Relevant ist dieses Thema in dieser Form besonders für das Verständnis der Fehlbarkeit, das an anderer Stelle entwickelt werden soll. Zunächst jedoch zurück zur zweiten Voraussetzung Ricœurs, zum Willen als Entscheidungsvermögen, das sich im Bösen selbst bindet. Damit wird der Status der Willensfreiheit im Zustand der Leidenschaften wiedergegeben. Und ebenso wie mit den Leidenschaften verhält es sich mit dieser selbstverschuldeten Sklaverei des Wil80
Solomon 1979. A
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lens. Aufgrund der religiösen Bedeutung und Herkunft dieses Terminus aus der protestantischen Tradition des von Luther geprägten »servum arbitrium« muss erst noch gezeigt werden, dass der Begriff ein sinnvoller und fruchtbarer Ansatzpunkt für eine zeitgemäße Philosophie des moralisch Bösen sein kann. Ricœur begibt sich damit in dieselbe Position wie Kant, als dieser sich durch den Hang zum Bösen dem Vorwurf aussetzte, eine Säkularisierung der Erbsünde durchzuführen und damit einem Menschenbild Vorschub zu leisten, das für ein aufgeklärtes Selbstverständnis längst nicht mehr akzeptabel zu sein scheint 81 . Es bleibt an dieser Stelle lediglich weiter festzuhalten, dass das Verständnis von Leidenschaft und selbstverschuldeter Sklaverei des Willens zwar problematisch ist, aber dass es sich nur um ein vorläufiges handelt. Was Ricœurs Thesen zum Bösen tatsächlich leisten, kann man erst an der weiter fortgeschrittenen Formulierung beider Begriffe in L’homme faillible und in La symbolique du mal feststellen. Ob sich die Resultate dann für eine Beschreibung von konkreten Phänomenen des moralisch Bösen eignen, kann dann vielleicht erst der Versuch einer solchen zeigen.
3.7 Die Möglichkeit zum Bösen: Fehlbarkeit Ricœur hat sich wie Kant mit der Möglichkeit zum Bösen in der menschlichen Natur beschäftigt. Die Parallele des Hangs zum Bösen ist die Fehlbarkeit des Menschen. Gegenüber dem Begriff des »Hangs«, der die Wahrscheinlichkeit größer erscheinen lässt, dass ein handelnder Menschen sich für einen bösen Willen entscheidet, deutet die Wortwahl »Fehlbarkeit« zunächst mehr auf eine neutrale Möglichkeit einer Entwicklung zum Bösen. Erinnert man sich an die Schwierigkeit, die darin bestand, dass Kant den Hang zum Bösen als angeboren und frei zugezogen betrachtet, dann könnte darin ein Vorteil für Ricœurs Sichtweise liegen. Wenn das Böse in der Natur des Menschen nur als Möglichkeit angelegt ist, sich zu verfehlen, dann entfällt dieses Problem. Zusätzlich zu diesem grundlegenden Unterschied zeigen sich bei näherer Betrachtung sofort weitere unterschiedliche Nuancen zwischen beiden Konzeptionen. Bereits die Anlässe, aus denen Kant 81
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Für die religiösen Quellen Ricœurs vgl. Sys 2000, 266.
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und Ricœur nach der Möglichkeit des Bösen in der menschlichen Natur fragen, weichen voneinander ab. Wie erwähnt wurde Kants These vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur als Versuch verstanden, die Vorstellung der Erbsünde zu säkularisieren. Ganz unabhängig davon ließ sich jedoch auch zeigen, wie alleine im Rahmen der Bestimmung des moralisch Bösen durch den Bezug auf Begriffe der Ethik Kants nahegelegt wird, die Frage nach dem Ursprung in der menschlichen Natur zu stellen. Kant nimmt sowohl ein allgemeines Bewusstsein des Sittengesetzes an als auch eine oberste gesetzwidrige Maxime des bösen Willens. In diesem Fall ist die Frage einleuchtend, ob nicht die Möglichkeit, eine Maxime anzunehmen, die dem Sittengesetz widerspricht, ebenso allgemein sein muss wie das Bewusstseins des obersten Prinzips der Moralität. Kant wurde wie gesehen teilweise die Säkularisierung der Erbsünde als Versuch vorgeworfen, einen von der Aufklärung diskreditierten Begriff unter dem philosophischen Deckmantel wieder einzuführen. Obwohl ein solcher Vorwurf gegen Ricœur nicht erhoben wurde, könnte es gegen ihn genauso geschehen wie gegen Kant. Dies war jedoch nicht der Fall, möglicherweise weil die Provokation, die darin liegt, den menschlichen Willen als »servum arbitrium« zu verstehen, von den möglichen Gegnern Ricœurs schlicht ignoriert worden ist oder weil die zeitgenössischen Zweifel an der menschlichen Freiheit aus einer völlig anderen Richtung kamen, wie z. B. die grundlegenden Zweifel an der menschlichen Subjektivität, die Ricœur selbst mit den Strukturalisten in den 60er und 70er Jahren diskutiert hat. Gerade der Begriff des »servum arbitrium« ist es nun, der zusammen mit den Leidenschaften Ricœurs Ausgangspunkt markiert. Die Allgemeinheit des moralisch Bösen besteht für Ricœur darin, dass die Leidenschaften den Anblick des menschlichen Willens im Alltag zugleich prägen und verfälschen. Für sich genommen erscheint diese These als unzeitgemäß. Die Leidenschaften als Phänomen des Bösen scheinen wie erwähnt nicht einmal einen kaltblütigen Kriminellen zu berücksichtigen, der nur seinen eigenen Nutzen vor Augen hat und nicht von Leidenschaften angetrieben wird. Gegenüber den modernen Formen des Bösen erscheinen sie vollends als unangemessene Grundformen aus einer anderen Zeit. Es mag sein, dass durch eine entsprechende Definition der Leidenschaften Ricœurs These plausibler werden könnte, was zu untersuchen ist. Aber hinzu kommt, dass der Mensch im Zustand der Leidenschaft aus einem ZuA
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stand der Unschuld herausgetreten sein soll und ein Bereich von vitalen Werten fundamentaler als die moralische Verpflichtung sein soll. Hier klingt deutlich die Vorstellung einer Welt nach dem Sündenfall an, in der die Erbsünde die ursprünglich gute Schöpfung ins Gegenteil verkehrt. Auch dies ist ein deutlicher Unterschied zu Kant, der zwar eine Verkehrung der Anlagen zum Guten annimmt, aber auch im Bezug auf das Sittengesetz die Anlage zur Persönlichkeit sieht. Dagegen deutet Ricœurs Sichtweise der moralischen Verbindlichkeit als Gestalt einer »feindlichen Transzendenz« 82 , welche die ursprünglich motivierenden Werte durch die Leidenschaften annehmen, darauf hin, dass für Ricœur das moralische Sollen dem Willen des Handelnden zumindest teilweise äußerlich bleiben muss. In dieses Bild fügt sich seine genannte Skepsis gegenüber der Autonomie. Eine weiterer Unterschied besteht darin, dass für Kant die Struktur des bösen Willens keine unlösbaren Rätsel aufgibt und das Unerklärliche darin besteht, weshalb der Mensch überhaupt die Möglichkeit zum Bösen in sich trägt. Erst die tatsächliche, konkrete Erkenntnis der eigenen Motive wird bei Kant zur Herausforderung und möglicherweise zu einer Auslegung der eigenen Willensäußerungen, zur »Höllenfahrt der Selbsterkenntnis«. Für den französischen Philosophen dagegen ist bereits die Struktur des bösen Willens, die selbstverschuldete Sklaverei des Willens, paradox und absurd. Es ergibt sich daher für Kant der Hang zum Bösen letztlich konsequent aus der Begriffsbestimmung des moralisch Bösen, auch wenn die Art und Weise, wie er diesen Hang konzipiert erst den Ausschlag für die endgültige Formulierung geben. Ricœur jedoch kann die Frage nach der Möglichkeit des Bösen in der menschlichen Natur nicht im Rahmen eines kontinuierlichen Fortgangs seiner Untersuchung der Phänomenologie des Willens beantworten. Ricœur begegnet dieser Schwierigkeit, indem er zunächst die Frage nach der Möglichkeit des moralisch Bösen in der menschlichen Natur nicht von der Ethik sondern von der Anthropologie her stellt. Sein Anliegen ist es also, eine anthropologische Struktur zu finden, welche die moralische Verfehlung ermöglicht. Gleichzeitig ist für Ricœur das Wesentliche für eine anthropologische Fragestellung, dass sie nicht von einem Teilaspekt der menschlichen Existenz ausgeht, sondern »im Innern der Totalität derselben fortschreitet«. 83 82 83
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Ricœur 1950, 24. Ricœur 1960, 24.
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Hans-Jörg Ehni
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Die Möglichkeit zum Bösen: Fehlbarkeit
Jene Totalität formuliert er dadurch, dass er die Allgemeinheit der Pole erweitert, zwischen denen sich die Willensakte in Le volontaire et l’involontaire vollziehen. Angeregt von Descartes stellt Ricœur in der Folge dieser Erweiterung die These eines endlichen und eines unendlichen Pols der menschlichen Existenz auf, sowie der Vermittlung zwischen diesen beiden. Waldenfels bezweifelt allerdings, dass es sich hier um eine bloße Erweiterung handelt. 84 Anders als der Gegensatz zwischen Willentlichem und Unwillentlichem würde derjenige von Endlichem und Unendlichem nicht nur darauf hinweisen, dass etwas zerbrochen sei, sondern darauf, dass etwas grundsätzlich nicht zusammen passe. Dazu ist zu bemerken, dass bereits der Abschnitt der Einwilligung in die Notwendigkeit die Grenzen einer Vermittlung zwischen Willentlichem und Unwillentlichem aufgezeigt hat. 85 Insofern die Vermittlung zwischen Endlichem und Unendlichem schwierig ist und Grenzen besitzt, aber nicht grundsätzlich unmöglich ist, ändert sich hier nichts. Hinzu kommt jedoch als neue Dimension des Scheiterns die Schuld. Wo aber setzt in diesem Bild die Frage nach der Möglichkeit des Bösen an? Eine zweite Voraussetzung wird von Ricœur herangezogen: zwei vorphilosophische Ausdrucksweisen des Elends, dem der Mensch durch seine Konstitution ausgesetzt ist. Er nennt diese die »Pathetik« und »Rhetorik« des Elends. Obwohl beide nicht in philosophischen Begriffen formuliert sind, tauchen sie in philosophischen Texten auf: in verschiedenen Dialogen Platons und in einigen der Pensées von Pascal. Eine Form des Elends, die darin beklagt wird, kennt der Leser bereits aus Ricœurs erstem Band der Philosophie des Willens: es ist das Leiden an der menschlichen Endlichkeit. Dieses ist in der Pathetik und der Rhetorik des Elends nicht deutlich getrennt von der zweiten Form, die in der Klage besteht, sich in moralische Irrtümer und moralische Schuld begeben zu können. Eines der Anliegen, das aus dem Gesamttitel, Finitude et Culpabilité, hervorgeht, ist eine solche Trennung, die auch von der erwähnten moralischen Weltanschauung gefordert wird. Ein erster Grundgedanke, worin die Fehlbarkeit besteht, zeichnet sich nun bereits ab. Es ist die Disproportion der beiden Pole der menschlichen Existenz und die Schwierigkeit zwischen beiden zu 84 85
Waldenfels 1983, 288. Ricœur 1950, 441 ff. A
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vermitteln, in der die Möglichkeit der Verfehlung ganz allgemein angelegt ist. Laut Ricœur ist für Platon »Eros« als Mischwesen das Gleichnis, das den beklagenswerten Zustand der Conditio humana beschreibt. Als Abkömmling von »Poros«, dem Reichtum, und »Penia«, der Armut, steht seine Existenz zwischen diesen beiden Polen, wodurch sie einen unsicheren Status erhält. Das menschliche Streben beginnt beim Mangel und zielt auf die Erfüllung. Die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz ist dem Mythos Platons zufolge in dieser zweideutigen Situation begründet. Die Möglichkeit, fehl zu gehen gründet nach der klassischen Sichtweise in derjenigen, das richtige Maß zu verfehlen. Auch für Pascal steht der Mensch zwischen zwei Gegensätzen, die es ihm schwer machen, das Richtige zu treffen. So muss er sich zwischen dem unendlich Grossen und dem unendlich Kleinen des Kosmos einrichten. Beidem ist sein Geist jedoch nicht angemessen, was ihn ständig der Gefahr des Irrtums aussetzt. Entscheidend für Ricœur ist, dass in diesen verschiedenen Fassungen der Pathetik des Elends das zweifache Übel, das aus der Endlichkeit resultiert – also der Irrtum und die selbst zu verantwortende Schuld – nicht deutlich begriffen wird. Das Schuldbekenntnis wird zur Klage über die moralische Verblendung, die näher an der Begrenztheit des endlichen Erkenntnisvermögens als an der moralischen Verantwortung für die Tat liegt. Aufgabe der philosophischen Anthropologie, die sich von der Pathetik anregen lässt, ist es nun, die begriffliche Trennung zwischen Endlichkeit und Schuld durchzuführen.
3.8 Fehlbarkeit als anthropologische Struktur Den ersten Schritt aus der Pathetik und der Rhetorik des Elends heraus unternimmt Ricœur durch eine von Kant angeregte transzendentale Reflexion. Durch diese soll den Begriffen des Mischwesens, des Endlichen und des Unendlichen eine Bedeutung als Strukturen des Menschlichen gegeben werden, die weder ontologisch noch psychologisch verstanden werden kann. Transzendental ist diese Reflexion nach Ricœur, weil sie beim Gegenstand der theoretischen Erkenntnis ansetzt und vom Gegenstand auf die Bedingung der Möglichkeit seiner Konstitution bzw. Synthesis im Subjekt gerichtet ist. Hervorzuheben ist dabei, dass nicht die weiteren Untersuchungen 186
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der Disproportion im Bereich des Wollens und Fühlens ebenfalls mittels einer transzendentalen Reflexion durchgeführt werden. Diese ist auf das Erkennen beschränkt, auch wenn ihre Resultate übernommen und auf die beiden anderen Bereiche übertragen werden. Ohne dass er sich dabei im engeren Sinn an eine Vorgabe aus der Philosophie Kants hält, bedient er sich im Zuge seiner Überlegungen mehr bei Husserl. Die Frage nach der Endlichkeit des Erkennens wird mit einer durch die Wahrnehmung eingeschränkten Perspektive beantwortet, die nach Husserl lediglich Abschattungen eines Dinges liefert. Endlich ist die Wahrnehmung nicht, weil sie rezeptiv ist, sondern weil sie an eine Zeit und an einen Ort gebunden ist. Auf diese Weise liefert sie nur eine Perspektive oder einen Teilausschnitt der Wirklichkeit. Überschritten wird diese Perspektive im Urteil durch das Verb, das in der Prädikation erlaubt, auf eine Gesamtsicht des Gegenstandes hinzuweisen. Die Vermittlung findet durch die transzendentale Einbildungskraft statt. Anders als die Wahrnehmung und die Zuschreibung von Bedeutung ist die Einbildungskraft keiner Reflexion zugänglich. Für Ricœur wird die allgemeine Struktur der Wahrnehmung im Bewusstsein ihrer Perspektivität zugänglich und diejenige der Bedeutung im Bewusstsein der Prädikation. Die eigentliche Synthese vollzieht sich jedoch im Gegenstand selbst und ist nur intentional und keine Form des Selbstbewusstseins. Darin besteht die Objektivität, die als Gegenstandssynthese dem Selbstbewusstsein gegenüber gestellt ist. Diesen Anfang der anthropologischen Untersuchung und die Übertragung der Resultate auf die gesamte Struktur der menschlichen Existenz kritisiert Bernhard Waldenfels. Er sieht darin einen Widerspruch zu Ricœurs eigener Kritik an Husserl. 86 Denn dieser hatte in Le Volontaire et l’involontaire hervorgehoben, dass die Einschränkung auf die Urteilsakte und die ihnen korrespondierenden Vorstellungen eine Verkürzung darstellt. Gerade eine solche verkürzte Sichtweise würde jedoch Ricœur selbst mit seinem Beginn der anthropologischen Untersuchung beim Erkennen rechtfertigen. Findet sich nun bei Ricœur eine analoge Vorgehensweise und mögliche Verkürzung, so dass der Vorwurf des Widerspruchs berechtigt ist? Entscheidend ist in dieser Hinsicht, wie man die allgemeinen Strukturen bewertet, die Ricœur bei der Untersuchung des Erken86
Waldenfels 1983, 290. A
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nens ermittelt. Ziel ist es, den Begriffen des Endlichen, des Unendlichen und des Menschen als Vermittler eine Bedeutung zu geben, die keine ontologischen Implikationen besitzen soll. Dies sind die Perspektive, ihr Überschreiten in Zielrichtung auf einen umfassenden Sinn, der im Urteilen hergestellt wird und die Vermittlung zwischen beiden im Gegenstand. Für Ricœur selbst ist zunächst ganz allgemein klar, dass damit noch nicht die menschliche Disproportion in ihrem ganzen Umfang verstanden worden ist, die in der Pathetik des Elends zum Ausdruck kam. Er betont, dass hier noch kein Selbstbewusstsein gegeben ist, sondern erst ein Gegenstandsbewusstsein, das noch erweitert werden muss. Beides sind Hinweise darauf, dass sich Ricœur der Problematik der Verkürzung bewusst ist, auf die er auch selbst an anderen Stellen aufmerksam machen will. Ob im einzelnen dennoch eine solche Verkürzung vorliegt, muss die Untersuchung der Gesamtkonzeption der Fehlbarkeit erbringen. Entscheidend ist, wie Ricœur in anderen Bereichen der menschlichen Existenz die Perspektive, die Sinntotalität und die Vermittlung definiert. Erst dann könnte man von einem Widerspruch sprechen, wenn dabei tatsächlich das Erkennen einseitig dominiert. Angewandt auf den Bereich der praktischen Philosophie wird aus der endlichen Perspektive der Charakter, der dem einzelnen Menschen vorgibt, in welcher individuellen Weise er auf den gesamten menschlichen Wertekosmos ausgerichtet ist. Dabei gilt es zunächst die bisher abstrakte Formulierung des Perspektivebegriffs zu erweitern. Dies geschieht durch die affektive Wertigkeit der Gegenstände. Insofern die Gegenstände den Menschen affizieren und der ihnen zugeschriebene Wert das Handeln motivieren kann, erweitert sich der rein theoretische Standpunkt durch denjenigen des Wollens, des Begehrens und des Entwerfens einer Handlung. Im Mittelpunkt steht dabei die Körperlichkeit, in der die Endlichkeit erkennbar wird. Der Leib ist nach Ricœur nicht primär dadurch endlich, dass er einen spezifischen Zuschnitt des Begehrens besitzt, sondern dadurch, dass er Anlass ist, die Urdifferenz des Subjekts zu allen anderen Entitäten in der Welt zu entdecken. Ricœur nennt dies die affektive Verschlossenheit oder im Hinblick auf die damit verbundene Selbstliebe – die in sich selbst verliebte Differenz. 87 Zu dieser so verstandenen Selbstliebe kommt die Trägheit oder Form der Beharrung in den Abläufen hinzu, die sich der Handelnde im Laufe seines Lebens aneignet, kurz 87
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Ricœur 1960, 80
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Fehlbarkeit als anthropologische Struktur
die Gewohnheit. Der Begriff des Charakters schließlich wird von der Gesamtheit dieser endlichen Züge der Perspektive, ursprünglichen Selbstliebe und Gewohnheit ausgemacht. Der Gegenpol zu dieser endlichen Ausrichtung ist das Glück, verstanden als Horizont des Strebens aller menschlicher Tätigkeiten. Diese Totalität von Sinn, die der Gesamtheit des menschlichen Handelns gegeben wird, muss laut Ricœur als Ganzes betrachtet werden, nicht als Summe, da hinter ihr der Gedanke der Schicksalsvollendung steht und nicht die der Erfüllung einzelner Wünsche. Der Gegensatz zwischen dem »Nichts Menschliches ist mir fremd«, in dem die Ausrichtung auf den Horizont der Glückseligkeit zum Ausdruck kommen soll und zwischen dem endlichen Charakter bezeichnet die nächste Stufe der menschlichen Disproportion. Das »Ergon« des Menschen bleibt bei Ricœur unbestimmt, der sich zunächst von Aristoteles leiten lassen hat. Anstatt die Tätigkeit des Menschen hinsichtlich seiner Vermögen zu bestimmen, ist hier lediglich der gesamte Horizont aller menschlichen Tätigkeiten gemeint. Die endliche Perspektive des Charakters und die unendliche Totalität der Glückseligkeit kommen in der Person zusammen. Die Person als Synthesis konstituiert sich in der Achtung und auf diese Weise als Zweck an sich selbst. Ricœur übernimmt hier ausdrücklich zwei Anregungen von Kant, dem er jedoch auch hier nicht bis zur Konzeption des moralischen Gesetzes folgt. Ähnlich wie die transzendentale Einbildungskraft konstituiert die Achtung ihr intentionales Ziel aus der Vermittlung zwischen den beiden Polen der menschlichen Existenz. Die spezifische Art und Weise, wie das im Fall der Person geschieht, ist jedoch für Ricœur nicht aus dem Bereich der gegenständlichen Objektivität ableitbar. Denn die Person ist anders als der Gegenstand ein Entwurf, ein in die Zukunft projiziertes Ideal. Dadurch definiert die Eigenschaft Person zu sein für Ricœur die Menschlichkeit des Menschen und darin besteht ihr Selbstzweckcharakter. Gegeben ist damit nicht nur die jeweils eigene Menschlichkeit des Subjekts, sondern gleichzeitig die Beziehungen zum Anderen, die Wechselseitigkeit, die in Kants Formel zum Ausdruck kommt, die Menschheit in der eigenen Person und die des Anderen immer zugleich als Zweck und niemals nur als Mittel zu behandeln. 88 Denn den eigenen Personenstatus können nur diese wechselseitigen Beziehungen herstellen. 88
Ricœur 1960, 101. A
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Ausdrücklich will Ricœur dabei die Pointe der Achtung verändern. Als Achtung vor der Person ist die Achtung von einem anderen Gefühl begleitet als in dem Fall, in dem sie sich auf das Gesetz bezieht. Wenn sie dann »den Eigendünkel niederschlägt« 89 , dann ist bereits eine verderbte Sinnlichkeit, d. h. das moralisch Böse mit vorausgesetzt. Ricœur glaubt jedoch, vor dieser Voraussetzung seine Fehlbarkeit ansetzen zu können, in einem Zustand, der als reine Möglichkeit zum Bösen der Schuld des menschlichen Willens vorausgeht. Ausdrücklich grenzt er dabei das Konzept der Fehlbarkeit vom radikalen Bösen ab, insofern sie die bloße Möglichkeit darstellt, gegenüber einem Verständnis des Bösen, das den Menschen so auffasse, als sei er immer schon fehlgegangen. 90 Um den Schwerpunkt der Achtung zu verlagern, muss ihre affektive Komponente aufgefunden werden, die nicht im Niederschlagen der Ansprüche der Sinnlichkeit bestehen soll. Denn bisher ist zwar bereits deutlich geworden, auf welche Weise die Vermittlung scheitern kann. Vorstellbar ist dies als Verharren im Standpunkt einer einseitigen Wahrnehmung oder im Scheitern der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und der Anerkennung der Person des Anderen. Aber was noch fehlt ist die emotionale Komponente der Fehlbarkeit, die in der Pathetik ausgedrückt wird, d. h. wie es sich anfühlt, sich verfehlen zu können. Im fortschreitenden Gedankengang von L’homme faillible, der vom theoretischen Bewusstsein über das Selbstbewusstsein bis zum konkreten subjektiven Empfinden führen soll, besteht der letzte Schritt darin, die Pathetik des Elends durch die Reflexion begrifflich nachzuvollziehen. Es fehlt noch die innere Dynamik der Möglichkeit, das moralische Böse hervorzubringen. Ricœur nennt dies »das unruhige Herz«.
3.9 Die Verinnerlichung der Fehlbarkeit: das unruhige Herz Der Hauptteil der anthropologischen Untersuchung der Fehlbarkeit ist dem Gefühlsleben gewidmet. Hier glaubt Ricœur den zerbrechlichsten Punkt der menschlichen Konstitution ausmachen zu können: das unruhige Herz. Man wird dadurch an Kant erinnert, der im Bild des »bösen Herzens« den Endpunkt der Entwicklung zum Bösen sah, 89 90
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Ricœur 1960, 108 Ricœur 1960, 92.
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Die Verinnerlichung der Fehlbarkeit: das unruhige Herz
die im Hang zum Bösen ihren Anfang nimmt. »Herz« wird dabei gleichbedeutend mit Gemüt verwendet, in dem Sinne, dass dort das Empfinden der eigenen Befindlichkeit zusammengefasst ist. Dieses Empfinden gründet auf einer Affektion und einer Intention. Auf der emotionalen Affektion durch die Welt der Dinge und Personen, sowie auf der Intention, die diesen ihre emotionale Wertigkeit und Einfärbung verleiht. Die Philosophie des Gefühls, in der erneut die Leidenschaften im Mittelpunkt stehen, ist demnach der Höhepunkt der Untersuchung über die Fehlbarkeit. Durch das Empfinden tritt die Disproportion in das Selbstbewusstsein. Hier wird also für den einzelnen Menschen, die Fehlbarkeit erkennbar und fühlbar, ebenso wie für die reine Reflexion in ihrer vollständigen Gestalt nachvollziehbar. Zunächst bestimmt Ricœur das Gefühl grundsätzlich als Einheit der genannten Intention und Affektion, dann lässt er sich von Platon anregen und unterscheidet ein sinnliches Begehren als endlichen Pol im Sinne der »Epithymia«, ein der Vernunft geneigtes Begehren analog zum »Eros« und das Gemüt als »Thymos«, in dem diese Bestrebungen aufeinander treffen und das damit die Rolle des vermittelnden Dritten übernimmt. 91 Zwei Interpreten, Don Ihde und Theodorius M. van Leeuwen sind der Ansicht, Ricœur würde die Dreigliederung, die er noch im Bereich der Untersuchung des Theoretischen und des Praktischen vornimmt, hier vollständig aufgeben, da die Differenzierung komplexer werde. 92 Damit entgeht ihnen die Pointe der Untersuchung, auf welche Weise die Leidenschaften aus der zerbrechlichen Vermittlung des Gemüts stammen, das die schwächste Stelle in der menschlichen Konstitution darstellt und so die Fehlbarkeit im engeren Sinn ermöglicht. Die Disproportion des Gemüts entsteht nun gerade dadurch, dass die endliche Dimension des Gefühls mit der unendlichen zusammentrifft und in den »thymischen Strebungen« nach Besitz, Macht und Geltung Gestalt annimmt. Das Scheitern dieser Vermittlung führt zu den Leidenschaften, wenn die ursprüngliche Rangordnung in ihr verkehrt wird und der endliche Pol die Überhand behält, gleichzeitig aber mit der Bedeutung der »unendlichen« Bestrebungen des Gefühls aufgeladen wird. Die Leidenschaften sind keine Dominanz der Endlichkeit, sondern eine schlechte Unendlichkeit, die auf 91 92
Ricœur 1960, 110–172. Ihde 1971, 75 ff.; Leeuven 1981, 48 ff. A
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einer schlechten Vermittlung von Endlichkeit und Unendlichkeit beruht. Ihdes Interpretation verlegt dagegen den unendlichen Pol in die Intention des Gefühls, den endlichen in die Affektion, wofür sich bei Ricœur kein Beleg findet und wodurch letztlich das Scheitern der Vermittlung unverständlich wird. Um zu klären, wie die besondere Struktur des Gefühls beschaffen ist, untersucht Ricœur zunächst das Verhältnis von Gefühl und Erkennen. Während das Erkennen dem Subjekt das Objekt gegenüber stellt, tritt im Gefühl die Zugehörigkeit des Menschen zum Bereich der Dinge und zum Bereich der Mitmenschen an den Tag. Die Intentionalität des Gefühls ist diejenige der Tendenzen des Liebenswerten und des Hassenswerten, die auf die Dinge und Personen gerichtet sind. An den Dingen wird durch das Gefühl deutlich, auf welche Art sie uns affizieren. Mit einem Begriff der Scholastik bezeichnet Ricœur diese Affektion als connaturalitas, als harmonisches und disharmonisches Abgestimmtsein mit der Wirklichkeit. In diesem Zusammenhang ist weder von einer eingeschränkten Perspektive die Rede, noch davon, dass diese überschritten wird. Was beides bedeutet, wird in der Folge deutlich, wenn Ricœur ausdrücklich die Disproportion des Gefühls mit der des Erkennens gleichsetzt. Auch das Gefühl ist zwischen dem »Ergreifen des Hier und Jetzt und der Forderung, das Wissen in der Wahrheit des Ganzen zu vollenden« 93 hin- und hergerissen. Diese Disproportion wird in diesem neuen Zusammenhang zum inneren Konflikt und tritt damit vollständig ins Bewusstsein. Intention und Affektion besitzen, wie das Gefühl insgesamt, jeweils eine endliche wie auch eine unendliche Komponente. Die Weise, in der Ricœur hier die Pole Endlichkeit und Unendlichkeit auf das menschliche Empfinden überträgt, die Verschlossenheit im Rückbezug auf sich selbst und die Öffnung im Horizont auf das Glück, lässt vielleicht den zuletzt genannten Vorwurf von Waldenfels gerechtfertigt erscheinen. Auf den ersten Blick scheint es so zu sein, dass das Gefühlsleben keine eigene Dynamik besitzt und eine Grundstruktur ihre Bedeutung durch den Bezug auf Vernunft und Wahrnehmung erhält. Eine phänomenologische oder empirische Untersuchung, die eigens die verschiedenen Formen des Gefühls beschreiben, sucht man vergebens. Angst, Erregung, Nervosität, um nur diese zu nennen, werden nicht einbezogen. Für Ricœurs Ansatz 93
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Die Verinnerlichung der Fehlbarkeit: das unruhige Herz
spricht jedoch in dieser Hinsicht, dass zumindest vorstellbar wäre, diesen Formen in seiner anthropologischen Untersuchung im Zusammenhang mit der Sorge um sich selbst einen Platz einzuräumen. Sein wesentliches Anliegen, die Einbruchstelle des Bösen zu bestimmen, muss schließlich als Maßstab dienen, ob seine Thesen überzeugen können. Abgesehen davon, dass Ricœur nicht eigens eine umfangreiche Untersuchung über die Formen des Gefühls durchführt, kommt durch das Gefühl durchaus eine neue Qualität zu den theoretischen und praktischen Aspekten der Anthropologie der Fehlbarkeit hinzu: das Selbstempfinden. Die Pole des Gefühlslebens sind die »Epithymia« und der »Eros«, oder das Vitalbegehren und die geistige Liebe. 94 Deren Polarität kommt am deutlichsten in den Affektionen zum Ausdruck, in denen sie zu einer Vollendung kommen: in der Lust und im Glück. Die Lust krönt eine gelingende Tätigkeit oder die Befriedigung eines körperlichen Bedürfnisses. Darin liegt ihre Bindung an einen gegenwärtigen Moment und ihre Endlichkeit. Es ist darin auch die Gefahr einer Verschlossenheit begründet, weil die Lust aufgrund dieser Gebundenheit an das Jetzt den Fortgang der menschlichen Tätigkeit hemmen kann, indem der Handelnde im Angenehmen verharrt und sein Leben ganz auf den Lustgewinn konzentriert. Überschritten wird diese affektive Endlichkeit der Lust in Richtung auf die Glückseligkeit, wenn die momentane Lustempfindung überwunden wird, um den Horizont einer im vollen Sinn menschlichen Tätigkeit anzustreben. Hier verbindet sich das Gefühl mit der Vernunft und der Vernunftbestimmung des Menschen und wird zur intellektuellen Liebe, deren Vollendung vom Glück begleitet wird. Ricœur nennt dies das ontologische Gefühl der »Zugehörigkeit zu einem Wir« und der »Zugehörigkeit zu einer Idee«. 95 Die Lust, wenn nicht um ihrer selbst willen gesucht, steigert sich auf allen Stufen der menschlichen Handlungen und wird schließlich zum Glück, zur Seligkeit, zur Freude. Der Mensch steht also zwischen zwei Möglichkeiten, der Hingabe an eine Idee oder an seine Mitmenschen einerseits und der Sorge um sich selbst andererseits. Diese besondere Konstitution bedeutet, ständig einem inneren Konflikt ausgesetzt zu sein, der bewirkt, dass die Vermittlung zwischen diesen beiden Polaritäten immer problematisch ist. Die Leidenschaften als Endpunkte 94 95
Vgl. Ricœur 1960, 142 ff. Ricœur 1960, 119 f. A
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der Entwicklung zum Bösen sind das Resultat des Scheiterns dieser Bemühung, die Tendenzen von Lust und Glückseligkeit, Sorge und Hingabe miteinander zu vereinen. Sie sind daher vom Gemüt und seiner eigentümlichen Leistung der Vermittlung zwischen diesen Polaritäten her zu verstehen. Nachdem die Vermittlung der reinen Einbildungskraft das Objekt konstituiert hat und die vermittelnde Leistung der Achtung die Person, bildet sich im Gemüt das Selbst mit dem zugehörigen Gefühl der eigenen Befindlichkeit heraus, zwischen den vitalen Bestrebungen der Sorge und dem geistigen Streben der Zugehörigkeit und Hingabe. Bevor es zur absoluten Selbstbevorzugung in den Leidenschaften kommt, zur absoluten Präferenz der eigenen, endlichen Perspektive, bevor das Streben nach Besitz, Macht oder Anerkennung sich in einen Wahn steigert, muss es nach Ricœur einen unschuldigen Zustand der Differenz geben. Diese ursprüngliche Differenz zu anderen, in der sich das Selbst im Gemüt konstituiert, soll deutlich werden, indem Ricœur die grundlegenden Bestrebungen des menschlichen Begehrens darstellt. Diese Bestrebungen gehen den Leidenschaften voraus, die nur verzerrte Form derselben sind. 96 Ricœur folgt dabei der Einteilung der Leidenschaften aus Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht mit der Triade von Habsucht, Herrschsucht und Ehrsucht. 97 Durch die ursprünglichen Bestrebungen – die Suche hinter der Sucht –, mit denen die Menschen in den wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Beziehungen Befriedigung suchen, kommt letztlich die Differenz des Selbst zu anderen zustande. Hinter der Habsucht verbirgt sich das Streben nach Besitz, das Haben, in dem sich durch den Wunsch nach verfügbaren Gütern der Bereich des Mein und Dein herausbildet. Von der Arbeit her, verstanden als Herrschaftsbeziehung zu den Dingen in gemeinschaftlich organisierten Unternehmungen, lässt sich die Hierarchisierung der menschlichen Beziehungen in Machtverhältnissen denken. Die Legitimität der Macht gegenüber der Herrschsucht besteht zunächst darin, eine Gemeinschaft in der Organisation ihrer gemeinsamen Anliegen, die bei der Naturbeherrschung beginnen, entschlussfähig zu machen. Zur Differenz zwischen den einzelnen Personen tritt nun der Bereich der gesellschaftlichen und politischen
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Ricœur 1960, 122–141. Ricœur 1960, 127 ff.
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Institutionen. Geht man über die Ehrsucht zurück zu ihrem unverfälschten Ursprung, wird das Streben nach Anerkennung sichtbar, die Bestätigung des Werts der Menschlichkeit des Selbst durch die Schätzung der Anderen. Ausdruck findet dieses Streben nach wechselseitiger Bestätigung und der Wert des einzelnen Menschen in Denkmälern oder auch in den Werken der Kunst. Durch die Anerkennung in der Würdigung durch andere, die wiederum ihrerseits Anerkennung und Wertschätzung erfahren, gelangt das Selbst zur Selbstschätzung. Ricœur nennt dies den höchsten Punkt, zu dem sich das Selbstbewusstsein im Gemüt erheben kann. Ricœur verwendet in diesem Zusammenhang also die einfache Einteilung in Haben, Vermögen und Gelten. Er schreibt den jeweiligen Tätigkeiten die grundlegenden Güter Besitz, Macht und Anerkennung zu. Diese stellt er in den Zusammenhang von Befriedigung und Selbstwertgefühl, nicht in den Bereich des praktischen Strebens, den er zuvor behandelt hat. Wieso aber kann das Böse in Gestalt der Leidenschaften gerade in die thymischen Bestrebungen einbrechen und sie entstellen? Erneut soll der Blick auf die Vollendung des besonderen Strebens die Lösung des Problems ermöglichen. Ruhe ist das Kennzeichen der Lust und der Glückseligkeit, vorübergehend im ersten Fall, bleibend in der Glückseligkeit, welche die Vollendung der menschlichen Tätigkeit begleitet. Dagegen kommen die thymischen Begierden nicht über Unruhe und Unbestimmtheit hinaus. Das Selbst ist nie gesichert, es gibt kein objektives Maß, wann der Besitz genügt, wann die Autorität oder das Ansehen ausreichend gefestigt sind. Das menschliche Herz ist unruhig. Diese bildliche Ausdrucksweise ist die entscheidende Formulierung der Fehlbarkeit. Diese Unruhe überträgt sich auf die vitalen und die geistigen Bestrebungen des Menschen, die im Gemüt aufeinandertreffen. Auf diese Weise durchdringt das Streben nach Besitz, Macht und Anerkennung die Sexualität und andere körperlichen Bedürfnisse und prägt so erst ihren menschlichen Charakter, verhindert aber auch durch eine mögliche Steigerung ins Unendliche das Ende der Begierde in der einfachen Befriedigung der Bedürfnisse. Als Form des Bösen greift Ricœur hier die antike pleonexia auf, ohne sich explizit auf sie zu beziehen. Die große Kraft, welche hinter den Leidenschaften steht, wird jedoch erst verständlich, wenn man den Bezug des Gemüts zum eros betrachtet. Dieser starke Antrieb, der mit dem Wahn eines eingebildeten Nichts verbunden ist, beruht auf einer Eigenschaft des Gemüts, A
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die Ricœur dessen »Schematismus des Glücks« nennt. 98 Nur weil die Objekte des Gemüts imstande sind, das Ganze des Glücks abzubilden und auf diese Weise dafür ein Abbild liefern, können die Leidenschaften die Schwungkraft der Hingabe und der Aufopferung für ein solches Ziel aufbringen. Zu einem eiteln Wahn wird das Streben nach Besitz, Macht und Anerkennung erst, indem die Symbole zu Idolen werden, zum alleinigen Ziel, dem alles Handeln untergeordnet wird und das man allem anderen vorzieht, wodurch sich der Horizont des Handelns, die Totalität des Menschlichen, verschließt. Die Differenz des Selbst, die den Personencharakter des Menschen vollendet, wird zur absoluten Präferenz des Selbst, welche die eigene Persönlichkeit entstellt und die der anderen aberkennt. Das »unruhige Herz«, dessen »affektive Zerbrechlichkeit«, ist der Kern der menschlichen Fehlbarkeit und ermöglicht so das Böse, das in den Leidenschaften seine Vollendung findet. In der Anthropologie der Fehlbarkeit werden also die Leidenschaften grundlegend neu bestimmt. In Le volontaire et l’involontaire war lediglich vorausgesetzt, dass die Leidenschaften eine selbstverschuldete Sklaverei des Willens verursachen, dass sie ein Streben nach einem eingebildeten Nichts sind und dennoch eine starke Antriebskraft, eine Setzung und ein besonderes Nicht-Sein des Menschen. Diese Aspekte werden im Zusammenhang der Frage nach dem Ursprung und der Möglichkeit des Bösen in der menschlichen Natur begründet. Diese Frage ist damit für Ricœur beantwortet. Rätselhaft bleibt jedoch der Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit des Bösen in Form des bösen Willens, von der Fehlbarkeit zur Schuld. Dieses Rätsel soll die Symbolik des Bösen einer Lösung näher bringen. Der Zwischenschritt einer expliziten begrifflichen Bestimmung des moralisch Bösen scheint dabei zu fehlen. In der Formel der Größe der moralischen Weltanschauung taucht zwar der Bezug zur Freiheit auf, ebenso im wechselseitigen Bezug der Leidenschaft zur moralischen Norm. Aber einen Begriff des moralisch Bösen, der wie bei Kant auf das moralische Gesetz und die menschliche Freiheit bezogen ist, sucht man bei Ricœur vergebens. Der Grund dafür besteht sicherlich auch darin, dass sich Ricœur in dieser Zeit für Fragen der systematischen normativen Ethik wenig interessiert hat. Erneut spielt in diesem Zusammenhang der Hintergrund der Frage nach dem menschlichen Selbst eine große Rolle. Denn ein Begriff des Bösen lässt sich in L’homme 98
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Ricœur 1971, 171.
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Teleologische Elemente in der Konzeption des Bösen bei Ricœur
faillible dennoch bestimmen. Dieser Begriff beruht jedoch wesentlich auf teleologischen Aspekten, aus denen kein moralisches Sollen abgeleitet wird.
3.10 Teleologische Elemente in der Konzeption des Bösen bei Ricœur Ricœur sieht wie viele andere Philosophen die Verkehrung als eine Grundeigenschaft des Bösen an. Auch bei Kant spielt, wie bereits gezeigt wurde, der Gedanke der Verkehrung oder der Verkehrtheit des bösen Willens eine wichtige Rolle. Während Kants Auffassung dieser Verkehrtheit des bösen Willens von seiner Ethik geprägt ist, verwendet Ricœur die Anthropologie der Fehlbarkeit als systematischen Zusammenhang, um die eigentümliche Verkehrtheit des bösen Willens darzustellen. Es wird nicht einem oder mehreren normativen Prinzipien, Gesetzen oder Regeln auf irgendeine Weise widersprochen, sondern im bösen Willen werden die Vorgaben für die Entwicklung einer menschlichen Persönlichkeit verfehlt. Es misslingt die Synthesis der verschiedenen Pole des Mischwesens, das der Mensch ist. Die philosophische Reflexion über die Pathetik des Elends, die als transzendentale Reflexion über die Erkenntnis begonnen wird, hatte für Ricœur ergeben, dass die menschlichen Vermögen des Erkennens und Handelns einen endlichen Pol der Perspektivität und einen unendlichen Pol des Überschreitens dieser Perspektive besitzen sowie eine Vermittlung zwischen beiden Polen leisten. Zu einer Lebensaufgabe der Verwirklichung des Menschlichen wird diese vermittelnde Synthesis im Bereich des Praktischen. Jeder Mensch muss die jeweils eigene Formel des Glücks finden, die sich aus der Vermittlung zwischen Charakter und allgemeinen menschlichen Lebensentwürfen ergibt. Das Glück ist einerseits bestimmt durch die Anlehnung an Aristoteles, es sei ein höchstes Ziel, das um seiner selbst willen und weswegen anderes um seinetwillen angestrebt wird. Hinzu kommt die Bestimmung, es sei ein vollendetes Schicksal, dessen Idee sich aus dem Gedanken der Sinntotalität ergibt, der vom Bereich der theoretischen Erkenntnis auf den Bereich des Handelns übertragen wird. Ein spezifisches Ergon des Menschen bestimmt Ricœur daher nicht. Die Totalität wird bewusst als Offenheit des Horizonts der menschlichen Werte bestimmt. Erst in der Person, die sich durch die Vermittlungsleistung der Achtung konstituiert, nimmt diese OffenA
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heit durch die Bindung an einen Charakter Gestalt an, wenn auch zunächst als Ideal eines Lebensentwurfs, der gleichzeitig Zweck an sich selbst sein soll und so den Wert verkörpert, auf den sich die Achtung bezieht. Diese Vermittlung in der Person erhält ihre endgültige und vollständige Gestalt erst im Bereich des Gemüts. Hier bilden die elementaren Güter Besitz, Macht und Anerkennung stellvertretend für andere die möglichen Ziele verschiedener Lebensentwürfe ab, in denen sich Lust und Glück durch das Gelingen des jeweiligen Vorhabens vereinigen. Ricœurs Anthropologie trägt daher den Kern einer teleologischen Ethik in sich, in deren Zusammenhang das Böse verstanden wird. Vorrangig ist dieses nicht die Negation des moralischen Sollens, sondern das Verfehlen der Menschlichkeit in der eigenen Person. Wer böse handelt, verstößt nicht in erster Linie gegen Pflichten gegenüber anderen, sondern verbaut sich in erster Konsequenz nach Ricœurs anthropologischer und teleologischer Konzeption die Möglichkeit zum Glück durch das Verharren in der endlichen Lust. Der böse Wille scheitert zunächst einmal daran, die Menschlichkeit der eigenen Person zu verwirklichen. An Ricœurs Theorie des Bösen ist gerade der Umstand überraschend, dass es in ihr keinen normativen Aspekt gibt. Es handelt sich dabei um eine Lücke dieser Theorie, die aus dem erwähnten Desinteresse Ricœurs an der systematischen Ethik herrühren könnte. Allerdings tritt die besondere Eigenart seiner Konzeption gerade dadurch deutlich hervor. Kant bestimmt das moralisch Böse als Verstoß gegen das Sittengesetz, der aus der entsprechenden Grundhaltung des Willens begangen wird. Dagegen betont Ricœur die Eigenschaft des Bösen, eine Verfehlung darzustellen. Den näher bestimmten teleologischen Begriff des Bösen kann man nun an den Leidenschaften erkennen, deren Verständnis in L’homme faillible neu formuliert wird. Im Bereich des Gefühls korrespondieren den praktischen Polen des Charakters und des Glücks die endliche Lust einerseits und die ontologischen Gefühle andererseits. Die Vermittlung zwischen beidem wird im Gemüt vollzogen und in den entsprechenden Bestrebungen des Gemüts. Das Begehren richtet sich demnach auf Objekte, die das Glück abbilden und gleichzeitig der persönlichen Charakterstruktur sowie menschlichen Grundbedürfnissen entsprechen. Die Leidenschaften Ehrsucht, Habsucht und Herrschsucht verfälschen den der menschlichen Natur angemessenen Bezug zu solchen grundlegenden Objekten des Begeh198
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Teleologische Elemente in der Konzeption des Bösen bei Ricœur
rens. Haben, Vermögen und Gelten sind die Bestrebungen, die den Leidenschaften vorangehen. Ihre Ziele bilden für Ricœur gleichzeitig ursprünglich menschliche Bedürfnisse ab. Hinter der Sucht in den Leidenschaften verbirgt sich eine unschuldige Form der Suche, die diesem entstellten Zustand des Begehrens vorangeht. Es handelt sich darum, Dinge zu gebrauchen, gemeinsame Unternehmungen durch Arbeitshierarchien zu organisieren und um wechselseitige Anerkennung der Handelnden, durch welche der Wert der Personen als solcher bestätigt wird. Durch Besitz, Macht und Anerkennung werden fundamentale Werte verkörpert, die eine gelungene Synthesis von Glück und Charakter, von ontologischen Gefühlen wie Freude einerseits und Lust andererseits, zustande kommen lassen können oder unterstützen. Bei einer Verkehrung durch das Böse misslingt jedoch diese Vermittlung und eines oder mehrere dieser Ziele werden durch das Begehren verabsolutiert. Die affektive Verschlossenheit der Lust im gegenwärtigen Augenblick und im Selbstbezug werden verfestigt. Die Offenheit gegenüber dem Horizont der menschlichen Tätigkeiten und Werte verschwindet. Im Kern ist dieser böse Wille ein Wille der schlechten Unendlichkeit und Verschlossenheit, der dadurch scheitern muss. Dieses Scheitern ist zunächst einmal ein Scheitern hinsichtlich der eigenen Identität. Erst in zweiter Linie kommen über die Ziele, die in den Leidenschaften das einzige, reduzierte Objekt des Begehrens darstellen, auch der Verstoß gegen die Persönlichkeit der Anderen und der Verstoß gegen die Moral in den Blick. Die Bereitschaft, alles zu tun für Besitz, Macht und Anerkennung, die als zu den Leidenschaften zugehörig gedacht werden muss, deutet auf die fehlende Achtung nicht nur der eigenen Person, sondern auch auf die Missachtung der Anderen. Nicht gestellt werden dabei die Fragen nach dem Bezug zu moralischen Prinzipien und nach der Allgemeinheit der Achtung. Ricœur spricht das Thema nicht an, weshalb ein einzelner Handelnder nicht nur nach Belieben den absoluten Selbstzweckcharakter der eigenen Person oder einiger Auserwählter anerkennen sollte. Ricœurs Konzeption der Verfehlung zeigt sich nun deutlich als eine teleologische Auffassung des moralisch Bösen. Erst diese Möglichkeit, sich zu verfehlen, begründet überhaupt die Berechtigung der Moral und des zu ihr gehörigen moralischen Sollens. Diese Konzeption des Verhältnisses von Teleologie und Deontologie sowie der Verfehlung greift Ricœur in seinem späten Werk Soi-même comme un A
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autre erneut auf. Das Böse spielt in dieser weiterentwickelten Konzeption erneut eine zentrale Rolle. Es lohnt sich daher, den entsprechenden Abschnitt in dieser Hinsicht heranzuziehen.
3.11 Die teleologische Konzeption des moralisch Bösen und der Verfehlung in Soi-même comme un autre Ricœurs großes Alterswerk besteht aus zehn Abhandlungen, von denen die achte und die neunte der Moralphilosophie gewidmet sind. Daher bezeichnet er diese auch als »kleine Ethik«. Diese stellt einen knappen, aber komplexen Entwurf einer umfassenden systematischen Moralphilosophie dar. In Ricœurs Werk ist dies ein Novum, da er sich zuvor nur am Rande mit systematischen Überlegungen zur Ethik beschäftigt hat, etwa in L’homme faillible und im kurzen Aufsatz »Le problème du fondement de la morale« 99 . Zwischen diesen Werken und Soi-même comme un autre gibt es eine wichtige thematische Kontinuität, die in dem vorliegenden Zusammenhang eine wesentliche Rolle spielt. Für ein mögliches teleologisches Verständnis des Bösen als Verfehlung liefert außerdem Ricœurs »kleine Ethik« eine wichtige Ergänzung. Der Aufbau dieser »kleinen Ethik« ist durch die Unterscheidung von Ethik und Moral bestimmt. Im folgenden Abschnitt werden daher beide Begriffe in Ricœurs Sinn verwendet, der noch näher erläutert werden wird. Laut Ricœur ist diese Wahl beider Bezeichnungen ausdrücklich nur eine Konvention und kann sich nicht auf etymologische Gründe berufen. Der Gegenstand der Ethik ist die Ausrichtung auf das gelungene Leben, so wie sie durch eine teleologische Tradition beschrieben worden ist, die Aristoteles begründet hat, der gleichzeitig Ricœurs wichtigster Gesprächspartner in diesem Bereich ist. Die Moral versteht Ricœur als deontologisch mit dem Hauptvertreter Kant. Ihr Grundzug ist die Formulierung der ethischen Ausrichtung in Normen, deren Kennzeichen die Universalität und der von der Pflicht ausgeübte Zwang sind. Im Fortgang der drei Abhandlungen, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen, wird nun zwischen beiden Ansätzen vermittelt. Ricœur bestimmt ein für ihn charakteristisches dialektisches Verhältnis einer zerbrechlichen Verbindung von Ethik und Moral. Es handelt sich dabei um ein Verhält99
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nis der wechselseitigen Ergänzung und Unterordnung, das in den drei folgenden Thesen zum Ausdruck kommt: 1. Die Ethik besitzt einen Vorrang vor der Moral. 2. Die ethische Ausrichtung muss notwendigerweise auf moralische Normen bezogen werden. 3. Die Moral kann und sollte in Grenzsituationen und Konflikten auf die ethische Ausrichtung zurückgreifen. [Im Original: 1. La primauté de l’éthique sur la morale. 2. La nécessité pour la visée éthique de passer par le crible de la norme. 3. La légitimité d’un recours de la norme à la visée, lorsque la norme conduit à des impasses pratiques. 100 ] Eine wichtige Rolle spielen im vorliegenden Zusammenhang lediglich die Thesen 1 und 2. Durch den Vorrang der Ethik wird auch der spezifische Charakter der Verfehlung im moralisch Bösen deutlich, der hier etwas verändert konzipiert wird. Das Böse wiederum ist der Grund dafür, dass überhaupt die ethische Ausrichtung durch die deontologische Moral korrigiert wird. Dies ist ein Gedanke, der bereits in anderer Form in Le volontaire et l’involontaire formuliert worden ist. Als Beleg kann erneut an das erwähnte Stichwort der »feindlichen Transzendenz« erinnert werden, zu der die Werte in Form des Gesetzes werden. Als wesentlichen Kern der teleologisch konzipierten »Ethik« fasst Ricœur die ethische Ausrichtung in einer Formel zusammen. Nach diesem Grundsatz, der aus drei Hauptelementen besteht, geht es in der Ethik um ein »gelungenes Leben mit Anderen und für sie in gerechten Institutionen« 101 . Jedes der Hauptelemente bezeichnet ein Verhältnis des Selbst, in dem durch die Reflexion auf das Prädikat »gut«, das bestimmten Handlungen zugeschrieben wird, ein neuer Aspekt des Verständnisses des menschlichen Selbst gewonnen werden kann. Diese Verhältnisse sind diejenigen des Selbst zu sich, zu Anderen in intersubjektiven Beziehungen und die Stellung desselben in einer Gemeinschaft. Um diese Verhältnisse näher zu beschreiben, sind ihnen die folgenden Grundbegriffe zugeordnet, die jeweils ein Abschnitt der »kleinen Ethik« näher erläutert. Das gute Leben bezieht sich auf die Selbstschätzung (estime de soi), die Fürsorge (solli100 101
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citude) leitet sich aus dem hinzukommenden Verhältnis zu Anderen ab und die Gerechtigkeit, die auf dieser Ebene als Gerechtigkeitssinn erscheint, schließt diesen Dreischritt ab. Dessen Form bezieht Ricœur auf die Kategorien der Einheit, Vielheit und Allheit in Anlehnung an Kant. Am Anfang dieses Gedankengangs steht das gute oder gelungene Leben, der erste Teil der obengenannten Formel und als Dimension des Selbst in diesem Zusammenhang die Selbstschätzung. 102 Leiten lässt sich Ricœur bei der Frage, was das gelungene Leben sei, von Aristoteles. In einer freien Interpretation verbindet er dabei Grundgedanken aus der Nikomachischen Ethik mit seiner eigenen Auffassung einer narrativen Identität. Das »gute Leben« bleibt dabei inhaltlich unbestimmt, formell ist es das Leben als narrative Einheit betrachtet, als praxis, die auf Lebensplänen (plan de vie) und einzelnen Entwürfen (pratique) beruht. Vor diesem Hintergrund der Einheit des Lebens und seiner Entwürfe werden einzelne Handlungen im Rahmen der Gesamtheit interpretiert, analog zu einer Textinterpretation. Diese Interpretation der Handlungen wird auf der Ebene der Ethik zur Selbstschätzung. Beurteilt werden diese nach sogenannten »Maßstäben der Vortrefflichkeit« (standards of excellence), einem Ausdruck von Alaistair MacIntyre. Diese Maßstäbe sind bereits ein Hinweis auf die dialogische Struktur der Selbstschätzung, da sie ja nicht vom Urteil eines Einzelnen abhängen können. Die Grundlage dieser Wertschätzung bilden dabei zwei Fähigkeiten: diejenige absichtsvoll zu handeln und diejenige die Initiative zu einer Änderung des Weltlaufs ergreifen zu können. Um aber tatsächlich über die Güte unserer einzelnen Handlungen zu urteilen, ist eine ständige Interpretation derselben im Verhältnis zu den Entwürfen, Praktiken und zu unserem Lebensideal nötig. Das gute Leben wird auf diese Weise zu einem Horizont und zu einer Grenzidee. Beides sind Aspekte, die sich wie erwähnt in L’homme faillible bereits finden und sind hier nur unwesentlich modifiziert. Es besteht ein hermeneutischer Zirkel zwischen der Idee des guten Lebens und den einzelnen Vorzugsentscheidungen. Dem Horizont des guten Lebens kann man sich auf diese Weise nur provisorisch und momentan annähern. Die Urteile, die unsere Klugheit über die Qualität unserer Handlungen fällt, können lediglich den Anspruch erheben, plausibel zu sein. Diese Form der eingeschränkten 102
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Gewissheit wird in der Bezeugung (attestation) geäußert, die für Ricœur den Status der gesamten Studie beschreibt und die ein Element des Nachvollzugs durch den Leser miteinschließt. Zur Selbstschätzung kommt auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen die Fürsorge (sollicitude) hinzu, die man in einem möglichen Gegensatz zu dieser sehen könnte. 103 Jedoch wird in der Fürsorge das ursprüngliche dialogische Element der Selbstschätzung entfaltet. Dies liegt im reflexiven Akt begründet, in dem das eigene Handeln als gut geschätzt wird. Denn hierin ist nicht nur der Bezug zu den Maßstäben der Anderen enthalten, sondern auch ein grundlegender Mangel, der auf die Anderen verweist. Die Selbstschätzung beruht elementar auf absichtsvollem Handeln und der Handlungsinitiative. Beides bedarf der Vermittlung durch den Anderen. Indem darüber hinaus das Selbst als eine Struktur verstanden wird, die allgemein menschlich ist, wird die Grundlage der Selbstschätzung ebenfalls allgemein menschlich. Um sein eigenes Selbst zu schätzen ist der Andere notwendig, der seinerseits die Züge eines Selbst bekommt. Diese Rolle des Anderen, der nötig ist, um vom reinen Vermögen zur Verwirklichung im Handeln zu schreiten, kommt in der Freundschaft zu ihrem ersten Ausdruck. Auch hier bezieht sich Ricœur zunächst auf die klassische Abhandlung des Aristoteles zu diesem Thema in den Büchern XIII und IX der Nikomachischen Ethik. Freundschaft besitzt nach Ricœur als Entfaltung des Strebens nach dem gutem Leben eine Komponente der Selbstliebe (philautia). Für Ricœur ist jedoch der wesentliche Gewinn für das Selbstverständnis durch die ethische Dimension der Freundschaft die Gegenseitigkeit (réciprocité). Diese Gegenseitigkeit ist das Charakteristikum der Art der Freundschaft, in welcher der Andere um seiner selbst willen geschätzt wird. Damit steht sie zwischen Selbstschätzung und Gerechtigkeit, da hier erstmals die Gleichheit in den Blick kommt, die eine zentrale Rolle im Abschnitt über Gerechtigkeit spielen wird. Mit der Freundschaft ist jedoch die Bedeutung der Fürsorge für das Verständnis des Selbst noch nicht vollständig erfasst. Insofern es beim intersubjektiven Verhältnis um Geben und Nehmen geht, stellt die Freundschaft ein fragiles Gleichgewicht zwischen zwei Polen dar. In diesen asymmetrischen Verhältnissen besitzt jeweils das Selbst 103
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oder der Andere ein Übergewicht. Dieses wird in beiden Fällen durch die Fürsorge ausgeglichen, die dabei den Status einer »wohlwollenden Spontaneität« (spontanéité bienviellante) besitzt. Indem die Fürsorge auf das Selbstverständnis rückbezogen wird, zeigt sie das Selbst als einen Anderen unter Anderen, mit dem wesentlichen Aspekt der Unersetzlichkeit von Personen. Die vollständige Bestimmung der ethischen Ausrichtung auf das gute Leben wird mit einem Kapitel über die Gerechtigkeit abgeschlossen. 104 Gut zu leben, so lautet die grundlegende These, beschränkt sich nicht nur auf die Wertschätzung für sich selbst und auf zwischenmenschliche Beziehungen, sondern ist ebenfalls auf das Leben in Institutionen bezogen und schließt daher die Gerechtigkeit mit ein. In dieser ist eine Forderung nach Gleichheit enthalten, die über die Fürsorge hinausgeht. Die neue Bestimmung des Selbst, die daraus hervorgeht, ist diejenige des Jedermann, insofern jedem sein Recht gebührt. Eine Institution wird von Ricœur als Struktur des Zusammenlebens einer geschichtlichen Gemeinschaft definiert, die gekennzeichnet ist durch gemeinsame Sitten und nicht durch zwingende Regeln. Die Betonung liegt auf dem Zusammenleben, der damit verbundenen Möglichkeit gemeinsame Handlungen auszuführen und der gemeinsamen Macht (pouvoir en commun). Diese besitzt einen Vorrang vor der Herrschaft (domination). Letztere beruht auf Trennung und Gewaltsamkeit, erstere entspringt unmittelbar dem Handeln. Das gemeinsame Können schließt die Ideen der Pluralität und Absprache ein. Pluralität bedeutet demnach, dem Können Dauer zu verleihen, indem es von der intersubjektiven auf die allgemeine, gemeinschaftliche Ebene der Institution gehoben wird. Ricœur selbst wirft dabei die Frage auf, weshalb er die Gerechtigkeit nicht primär deontologisch auffasst. Er hält zur Begründung seiner Position zwei Seiten der Gerechtigkeit fest: die der Ausweitung des Guten von den zwischenmenschlichen Beziehungen auf die Institutionen und die des Legalen. Hier kommt nur die des Guten zur Sprache. Zwei Gründe werden dafür angeführt: Die alte Herkunft der Idee der Gerechtigkeit, die der Konstruktion von juridischen Systemen vorausgehen soll, und der Gerechtigkeitssinn, der sich nicht in solchen Systemen erschöpft. Die Idee der Gerechtigkeit sollte nach
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Ricœur auf der fundamentalen Ebene besser als Sinn für das Gerechte und das Ungerechte verstanden werden. Rechtlichen Sanktionen geht die Empörung über das Ungerechte voraus. Grundlegend ist dabei die Gerechtigkeit als verteilende Gerechtigkeit, durch welche die Teilnahme an der Institution und die Aufteilung der Anteile unter dem Aspekt der Gleichheit geregelt werden. Man sieht, wie sich auch hier die drei fundamentalen Güter aus L’homme faillible wiederfinden lassen. Der Besitz auf der Ebene des guten Lebens, auf der er angesiedelt werden kann, insofern es um das eigene Wohlergehen als Bestandteil des guten Lebens geht. Anerkennung und organisierte, hierarchisierte Macht sind Güter der Freundschaft sowie des Lebens in Institutionen. Neu hinzugekommen sind jedoch die Aspekte des Bezugs auf Andere, die sich in den wechselseitigen Beziehungen wiederspiegeln, in der sich die Personen befinden. Bereits auf der Ebene der Selbstschätzung ist die Wechselseitigkeit eine Notwendigkeit, um diese zu vollziehen. Dadurch wird deutlich, inwiefern das Böse, das diese Wechselseitigkeit zerstört, auch das Selbst der Handelnden untergräbt und verhindert, dass sich die ethische Ausrichtung verwirklichen kann. Durch das moralisch Böse werden die Selbstschätzung, die Fürsorge und die Gerechtigkeit vernichtet. Dies zu verhindern, indem dem Handeln Grenzen aufgezeigt werden, ist die Aufgabe der Moral. Der Bereich der Moral ist für Ricœur durch Normen bestimmt, die einen Anspruch auf Universalität enthalten und als Pflichten Zwangscharakter besitzen 105 . Während der ethischen Ausrichtung der grammatikalische Modus des Optativ korrespondiert, sind die Anweisungen der Moral als Imperative formuliert. Der Wunsch nach dem guten Leben wird durch sie auf die Probe der Universalität gestellt. Ricœurs eingangs erwähnte erste These zum Verhältnis zwischen Ethik und Moral lautete, dass die ethische Ausrichtung gegenüber der Moral ursprünglich ist. Allerdings gibt es einige Verbindungspunkte zwischen teleologischem und deontologischem Ansatz, an denen der Übergang von ethischer Ausrichtung zur moralischen Norm stattfindet. Die Prüfung der ethischen Ausrichtung durch die Moral kennzeichnet demgegenüber einen möglichen Vorrang der Moral. Nach Ricœur besitzt die teleologisch verstandene Ethik bereits Elemente der Universalität. Als Beispiele können der Begriff der 105
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richtigen Mitte bei Aristoteles und die Wertschätzung mancher allgemeiner Fähigkeiten dienen, wie diejenige der Handlungsinitiative und des Handelns nach Gründen. Diese verweisen bereits auf die Besonderheit der Moral, da sie zur Auffassung der Person als Zweck an sich führen. Den Selbstzweckcharakter der Person hatte Ricœur in L’homme faillible noch deutlich von der moralischen Verpflichtung abgegrenzt. Hier ist er nun ein erster Schritt in diese Richtung. Andererseits finden sich nach Ricœur in Kants für die Deontologie paradigmatischem Ansatz auch teleologische Elemente. Vorrangig trifft dies auf den Begriff des guten Willens zu. Die Kontinuität zwischen Teleologie und Deontologie liegt im Willen, insofern er als Vermögen der Gegenstand der Wertschätzung ist. In diesem Zusammenhang kann jedoch auch der Bruch zwischen beiden Traditionen und Perspektiven ausgemacht werden. Dieser wird in der Qualifizierung des moralisch Guten als »ohne Einschränkung gut« zuerst erkennbar, an die sich die Forderung nach Universalität anschließt. Dabei wird das vernünftige Begehren durch ein neues Verständnis des Willens ersetzt. Die Zielrichtung des Begehrens wird vom Verhältnis des Willens zum Gesetz abgelöst, wodurch der Bezug zur möglichen Universalität der Maximen des Willens hergestellt wird. Zwang und Pflicht machen das zweite Kennzeichen der deontologischen Moral aus. Der Zwang betrifft den Willen, sofern er endlich ist und Neigungen unterworfen. Die Endlichkeit ist nun mit der grundlegenden Verfassung des Willens als praktischer Vernunft zu vermitteln. Für Ricœur gibt es eine Grundbewegung in der deontologischen Moral, die von der Endlichkeit des Willens bis zur praktischen Vernunft führt und die als Selbstgesetzgebung des Willens verstanden wird, d. h. als Autonomie. Dies wird mit Hilfe des Ausschlusses von verschiedenen möglichen Bestimmungen des Guten aus dem Bereich der Moral erreicht. Der Leitgedanke der Rekonstruktion einer deontologischen Moral wird am folgenden Zitat erkennbar: Der Stil einer Verpflichtungsmoral kann dann durch die progressive Strategie einer Distanzierung charakterisiert werden – einer Reinigung, einer Exklusion an deren Ende der uneingeschränkt gute Wille gemäß dem höchsten Prinzip der Autonomie, dem sich selbst seine Gesetze gebenden Willen, gleich sein wird. 106
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Am Ende der genannten Strategie der deontologischen Moral zeigt sich der uneingeschränkt gute Wille als autonom. Beiseite gelassen werden dabei die Neigungen, insofern sie empirisch sind, die Motivation durch die Neigungen, insofern sie nicht verallgemeinerbar ist und die Heteronomie. Es ergeben sich daraus die Grundelemente der Abgrenzung eines deontologischen Standpunkts von einem teleologischen: die Bestimmung des uneingeschränkt guten Willens, das Verallgemeinerungskriterium, die Gesetzgebung allein durch die Form und die Autonomie. Die Setzung des gesetzgebenden Selbst darf dabei nach Ricœur nicht mit einer egologischen These verwechselt werden. Sie ist durch die Universalität des moralischen Urteils jenseits der Alternative von Monolog und Dialog. Ebenso wie die ethische Ausrichtung besitzt auch die Moralität eine triadische Struktur. Die ethischen Grundbegriffe und reflexiven Bezüge erhalten in der Folge ihre moralischen Entsprechungen. Dem guten Leben und der Selbstschätzung entsprechen die Autonomie und die Selbstachtung. Auf der Ebene des Zusammenlebens mit Anderen wird die Fürsorge zur Achtung und in diesem Zusammenhang wird der Begriff der Person als Zweck an sich selbst eingeführt, der auf dieser Ebene der Autonomie korrespondiert. Diese Konzeption ist ebenfalls deutlich näher an Kant angelehnt als die Konzeption der Achtung als Vermittlung zwischen Glück und Charakter, durch die die Person konstituiert wird, wie der Leser Ricœurs es in L’homme faillible noch nachvollziehen kann. Die Gerechtigkeit wird schließlich als prozedurale Gerechtigkeit umformuliert und nach Ricœur von inhaltlichen Bestimmungen losgelöst. Auch hier nimmt die Autonomie, in welcher der Bereich der Moral seine Grundlage besitzt, eine neue Form an, diejenige des Vertrags. Ricœur bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls, in der er die am weitesten fortgeschrittene Fassung einer so verstandenen deontologischen Gerechtigkeit sieht. Was aber bewirkt den Übergang von der ethischen Ausrichtung zur Moral? Ricœur sieht vor allem in einem Phänomen den Grund dafür: in der Gewalt, verstanden als die Verminderung des Tun-Könnens Anderer. Aus dem Blickwinkel der moralischen Verpflichtung wird aus der Gewalt das Böse, das nicht sein soll. Die Notwendigkeit, eine Korrektur der Ethik durch die Moral vorzunehmen, beruht also letztlich auf der Annahme des Bösen. Daher könnte der kategorische Imperativ für Ricœur auch wie folgt lauten:
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Handle ausschließlich nach der Maxime, die bewirkt, daß du zugleich wollen kannst, daß das nicht sei, was nicht sein soll, nämlich das Böse. 107
Deutlich wird dies im Weg von der Fürsorge zum Tötungsverbot, der den Verhältnissen von Nichtgegenseitigkeit angepasst ist, in denen sich die Gewalt entwickelt. Anlass und Hinwendung zur Gewalt liegen in der Macht, die ein Wille über den anderen ausübt. »Macht« wird nun nicht mehr auf der Grundlage des Vermögens verstanden, das man gemeinsam mit anderen hat, sondern als Macht über Dinge und Personen. Von der Beeinflussung, über die Drohung und den Zwang, bis zu Mord und Folter sind die Formen des Bösen als Erscheinungsweisen der physischen Gewalt zahllos. Die Aufhebung des freien Handlungsvermögens und der Selbstschätzung bzw. Selbstachtung sind ihre extremen Formen. Andere Formen der Gewalt finden sich im Redeakt: im gebrochenen Versprechen oder der falschen Freundschaft, außerdem im Unrecht auf der Ebene des Habens oder in Formen sexueller Gewalt. Diesen Gestalten des Bösen im intersubjektiven Bereich, der ursprünglich der Fürsorge gewidmet ist, entspricht ein Katalog von Verboten, die nach Ricœur aus der Goldenen Regel hervorgegangen sein sollen, wie beispielsweise »Du sollst nicht töten«. Daher ist das Verbot als Gestalt der moralischen Norm unumgänglich. Verständlich wird auch inwiefern die Ausrichtung auf das gute Leben durch die Prüfung der Universalisierbarkeit und durch den moralischen Formalismus korrigiert werden muss. Denn in jedem Verhältnis gibt es die Möglichkeit zum Bösen. Daher schließt der moralische Formalismus zurecht bei der Bestimmung des moralisch Gebotenen nacheinander Folgendes aus: die Neigungen, die gegen das moralische Gesetz gerichtet sein können, den Missbrauch des Anderen als Mittel und den Utilitarismus, insofern dieser das Sündenbockprinzip ermöglicht. Angesichts des Bösen muss also das gute Leben, auf das jeder Mensch zunächst ausgerichtet ist, durch die Moral überprüft werden. So könnte eine knappe, auf das moralisch Böse bezogene Fassung der beiden eingangs genannten Thesen des Vorrangs der Ethik vor der Moral und der Notwendigkeit der Korrektur der ethischen Ausrichtung durch moralische Normen lauten. Wie aber sieht nun die Begründung dieser beiden Thesen aus, die Ricœur vornimmt? 107
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Bei beiden Thesen sucht man zunächst vergeblich eine ausdrückliche Begründung. Ricœur scheint so vorzugehen, dass die Erläuterung der ethischen Ausrichtung selbst einen ausreichenden Beleg für die erste These liefern soll. Ricœur räumt der Ethik und der dazugehörenden Ausrichtung zunächst einen Vorrang (primauté) ein, an anderen Stellen bezeichnet er sie als ursprünglich (originaire) oder als fundamental (fondamental). Dies könnten zwar unter anderem auch Bezeichnungen in der phänomenologischen Tradition Husserls sein, aber Ricœur weist sie nicht als solche aus. Aus dem Zusammenhang des Texts lassen sich allerdings mehrere verschiedene mögliche Bedeutungen eines ursprünglichen und fundamentalen Vorrangs bestimmen. Die ethische Ausrichtung könnte erstens schlicht als historisch ursprünglich verstanden werden. Sie kann zweitens Ausdruck von elementaren, allgemein menschlichen Gefühlsregungen sein. Drittens könnte sie unmittelbar mit dem elementaren Sinn menschlichen Handelns verbunden sein. Viertens könnte sie einen Vorrang vor der Moral besitzen, insofern der Sinn der Moralität aus der Ethik zumindest teilweise abgeleitet werden muss. Schließlich ließe sich der Vorrang so deuten, dass die ethische Ausrichtung einem menschlichen Wesenszug entsprechen würde, während die Moral von kontingenten Umständen abhängig sei. Grundsätzlich wäre dann das menschliche Leben auch ohne den Bereich der Moral denkbar. Diese verschiedenen möglichen Bedeutungen des Vorrangs der Ethik können kurz anhand Ricœurs Interpretation der Goldenen Regel dargelegt werden. Anhand dieser Deutung lassen sich alle oben genannten möglichen Bedeutungen nachweisen. 108 Ricœur versteht die Goldene Regel als Übergangsstadium von der Fürsorge zur moralischen Norm. Sie stellt bereits einen ersten expliziten Versuch der Universalisierung und der Formalisierung dar, dennoch kommt in ihr noch die Intuition der Fürsorge, der Wert des Anderen und derjenige der Pluralität der Menschen zum Ausdruck, besonders in ihrer positiven Fassung, die noch eng mit dem spontanen Wohlwollen für den Anderen verknüpft ist. Deutlich ist hier der historische Charakter der Formalisierung eines vorangehenden ethischen Elements erkennbar. Denn die Goldene Regel wird weiterentwickelt und Kant verbessert schließlich in
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Vgl. Ricœur 1990, 265 ff. A
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der zweiten Formel des kategorischen Imperativs ihre Form entscheidend. Ferner kann man darauf hinweisen, dass auch das Argument, das die Gerechtigkeit dem Bereich der ethischen Ausrichtung auf das gute Leben zuordnete, historischen Charakter besitzt. Denn bevor noch die Gerechtigkeit in Rechtssystemen Form angenommen habe, hätten schon geschichtlich frühere Ausdrucksformen im Mythos vorgelegen. Das Wohlwollen gegenüber anderen liegt wie erwähnt auch der Goldenen Regel zugrunde und geht ihr voraus. Ursprünglich ist das Wohlwollen offensichtlich in dem Sinn, dass es als Gefühl einer Regel vorausgeht. In diesem Zusammenhang kann man an den Gerechtigkeitssinn erinnern. Dieser bringt die Empörung hervor, die ebenfalls allen Gerechtigkeitsregeln vorausgeht. Hier könnte man gegen Ricœur anführen, dass das Wohlwollen als Gefühl rein zufällig vorhanden sei und Antipathie mit Sympathie gleich ursprünglich ist. Seine Position könnte man in die Nähe der englischen Ethik des moral sense rücken, die aufgrund ihres zu optimistischen Menschenbildes kritisiert wurde. Aber gerade die nächste These, dass die ethische Ausrichtung fundamental sei, da sie unmittelbar mit dem Sinn des menschlichen Handelns verbunden ist, widerlegt diese Deutung. Denn für Ricœur handelt es sich bei der Fürsorge keinesfalls nur um ein psychologisches Phänomen. Vielmehr entspringt sie dem Mangel, der darin besteht, alleine nur unvollkommen handlungsfähig zu sein und dem Vorteil, gemeinsam Handlungen auszuführen. Ergänzt wird dieser Aspekt durch die elementare Selbstschätzung, die nicht monologisch stattfinden kann und die unabdingbar mit der Entdeckung des Schätzenswerten am Anderen und durch den Anderen verbunden ist. Wiederum kommt in der Goldenen Regel die Anerkennung dieses Werts zum Ausdruck, wobei die Selbstschätzung und die wechselseitige Anerkennung dieser vorausgehen. Hieraus wird auch ersichtlich, dass der Sinn der moralischen Norm diesen vorausgeht und von der ethischen Ausrichtung geliefert wird, die sie formalisiert. Denn der Wert des Selbst wird bereits auf der ethischen Ebene festgelegt. Hinzugefügt wird auf der moralischen Ebene das formale Element der Universalisierung. Dieses ist wiederum abhängig vom Vorhandensein der Gewalt. Denn nur wenn es eine Asymmetrie zwischen Handelndem und Erleidendem gibt, die von einer einfachen Machtausübung bis zur Gewalttat reicht, ist auch die Forderung der Goldenen Regel angemessen. Insofern die Gewalt als kontingent bezeichnet werden kann, trifft dies auch auf 210
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die Moral zu, die ohne die Gewalt in den zwischenmenschlichen Verhältnissen nicht benötigt wird. Zusammenfassend lässt sich sagen: die ethische Ausrichtung entspringt für Ricœur unmittelbar dem menschlichen Handeln und überträgt ihren Sinn auf die moralische Norm. Diese wiederum ist von kontingenten Umständen abhängig, die sich unter dem Begriff des moralisch Bösen zusammenfassen lassen, ohne die sie nicht gebraucht werden würde. Damit kommt die zweite These in den Blick. Die Ursprünglichkeit der Ethik ist letztlich mit dem Phänomen des Bösen eng verbunden, da erst dieses die Moral notwendig macht. Ist diese These jedoch berechtigt? Während für Ricœur die ethische Ausrichtung ursprünglich mit dem Sinn des menschlichen Handelns verknüpft ist, steht das Böse im Mittelpunkt seiner Überlegungen zur Moral. Beide Thesen bedingen sich wechselseitig. Da das Böse auch im Spätwerk Ricœurs noch absurd und kontingent ist, kann das moralische Gesetz, das auf dieses bezogen ist, gleichfalls nicht dem menschlichen Handeln und der menschlichen Freiheit in einem grundlegenden Sinn entsprechen. Dieser muss ein anderer sein, während die Moral erst verständlich wird, wenn man sie auf das Böse bezieht. Von diesem Bezug ist jedoch auch die erste These abhängig, denn sollte dieser sich als unberechtigt erweisen, fällt ebenfalls der Grund dafür weg, weshalb die Moral nicht zumindest gleichrangig mit der ethischen Ausrichtung sein sollte. Der Gedanke, das moralische Gesetz und das Böse stünden in einem engen Bezug zueinander, findet sich schon sehr früh im Werk Ricœurs, zuerst in Le volontaire et l’involontaire, später auch in mehreren Aufsätzen. 109 Gebunden ist dieser Gedanke an mehrere grundlegende Vorstellungen, die Ricœur voraussetzt. Zu diesen gehören eine ursprüngliche Unschuld des Menschen, die Fehlbarkeit als Grundzug der menschlichen Verfasstheit und die Utopie einer zukünftigen Unschuld sowie eine gewisse Skepsis gegenüber moralischen Normen, die zwar notwendig sein sollen, aber dem menschlichen Willen dennoch in einer gewissen Weise durch den Zwang, den sie ausüben, immer fremd bleiben würden. Diese allgemeinen Voraussetzungen beruhen jedoch ebenfalls auf der Grundannahme des Bezugs zwischen Bösem und Moral. Hin-
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Vgl. Ricœur, 1950, 1971, 1975, 1987, 1988 und 1991. A
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Paul Ricœur über das Böse
sichtlich dieses Zusammenhangs sollen zwei kritische Fragen aufgeworfen werden: Kann die Moral darauf reduziert werden, dass sie das Böse verbietet? Ist die Art und Weise, wie Ricœur das Böse in diesem Zusammenhang beschreibt, eine ausreichend begründete Voraussetzung? Der entscheidende Punkt in der ersten Frage kann in der Bedeutung der moralischen Autonomie gesehen werden. Ricœur legt zwar dar, wie der Status der Person als Zweck an sich selbst aus der ethischen Ausrichtung hervorgeht, indem die elementaren schätzenswerten Fähigkeiten des Selbst im Hinblick auf die Menschheit universalisiert werden. Die Selbstachtung beruht jedoch wesentlich auf der Autonomie und kann also nicht aus der für ursprünglich gehaltenen Selbstschätzung abgeleitet werden. Darauf aufbauend ist die Achtung gegenüber der Person als Zweck an sich selbst ebenfalls auf die Autonomie bezogen. Dass nun diese keinen elementaren und vorrangigen Wert besitzen soll, sondern sich nur auf das Böse bezieht, scheint im Widerspruch zu Ricœurs eigenen Annahmen zu stehen. Die Fähigkeit nach verallgemeinerbaren Prinzipien zu handeln scheint daher nicht nur deswegen schätzenswert zu sein und zum Wert der Person beizutragen, weil sie verhindert, dass das moralisch Böse begangen wird. Überzeugend scheint dagegen Ricœurs Gedanke der Notwendigkeit der Moral angesichts des Bösen zu sein, wenn man tatsächlich das Böse in dem Sinn voraussetzt, dass es nicht geschehen soll. Ricœur fragt nicht nach dem Verständnis des Bösen, das aus einer bestimmten Konzeption der Moral folgt. Aus seinen Überlegungen lässt sich vielmehr die entgegengesetzte Richtung einer möglichen Frage ableiten: welche Konzeption der Moral muss man vertreten, wenn man voraussetzt, dass bestimmte Handlungen unter keinen Umständen geschehen sollten? Für Ricœur ist dies eine Frage, die sich nur mit der deontologischen Moral beantworten lässt. Tatsächlich ist schwer vorstellbar, wie ohne ein formales Kriterium der Universalisierung, mit dessen Hilfe Regeln geprüft werden, ein solches Verständnis des Bösen in einer moralphilosophischen Position ermöglicht werden soll. Eine Begründung für die Voraussetzung des Bösen ist dies allein jedoch nicht und auch bei Ricœur ist eine solche nicht zu finden, wobei gerade die Teleologie dazu dient, die Verfehlung inhaltlich festzulegen, während der Verstoß auch rein formal erkannt werden kann. Aufgrund der Beispiele, die Ricœur heranzieht und ihres zerstörerischen Charakters gegenüber dem guten Leben in 212
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Die teleologische Konzeption des moralisch Bösen
allen seinen Dimensionen, kann man jedoch auch Ricœur einen »förmlichen Beweis« plausibel ersparen. Eine fundamentale Verfehlung wird auch in L’homme faillible herausgearbeitet, wenn dort die Erscheinungsformen des Bösen als solche auch deswegen erkennbar sind, weil sie ein ursprüngliches Streben verfälschen und entfremden. Eines der Beispiele ist bereits hier die Macht, verstanden im Bezug auf die Hierarchie von gemeinsamen Unternehmungen, welche durch die Herrschsucht entstellt wird. Durch diesen Zusammenhang lässt sich der Bogen von der frühen zur späteren Schrift hinsichtlich des Themas der Verfehlung spannen: auch nach Ricœurs späterer Ansicht misslingt im Bösen die Aufgabe, die eigene Menschlichkeit zu verwirklichen, die eine Aufgabe der Person, des menschlichen Selbst, ist. Während Ricœur zuvor jedoch das Augenmerk mehr auf die konkreten Formen des Scheiterns in den Leidenschaften gerichtet hat, treten nun die Beziehungen zu den Anderen, wie sie zum gelungenen Leben gehören, in den Vordergrund. Durch die physische oder psychische Gewaltsamkeit des Bösen werden die Grundlagen der Selbstschätzung aufgehoben, indem die Schätzung durch die Anderen vernichtet wird. Vernichtet wird die Grundlage der Freundschaft, da die Person des Gegenüber ihren unverwechselbaren Wert in der vorgetäuschten falschen Freundschaft verliert. Schließlich wird auch dem Zusammenleben das Fundament entzogen, das in der gerechten Gestaltung der Institutionen besteht. In dieses schematische Tableau der Vernichtung des guten Lebens in seinen verschiedenen Dimensionen durch das Böse passen jedoch auch noch die Leidenschaften aus dem früheren Werk. Bereits gezeigt wurde, inwiefern sich die Ziele, auf die sich die Leidenschaften richten, ins Bild fügen. Die Verfehlung in Soi-même comme un autre zeigt auf, viel deutlicher noch als das in L’homme faillible gelungen war, wie man sich die Entstellung des handelnden Selbst durch das moralisch Bösen vorstellen kann. Gleich geblieben ist lediglich der Grundbefund, dass die Verwirklichung der Persönlichkeit in einem ethischen Sinn scheitert. In den Blick geraten nun jedoch auch diejenigen, die durch das Böse geschädigt werden und die Beziehungen, die zerstört werden. Ein Zusatz der besonderen Konzeption der Verfehlung aus L’homme faillible bleibt jedoch der Blick, der auf die Fehlbarkeit gerichtet ist. Denn auf diese Weise wird zum einen verständlich, wodurch die Dynamik der Verfehlung ausgelöst werden kann, woher sie ihren Antrieb nimmt und inwiefern die spezifische menschliche A
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Konstitution dazu beiträgt, indem sie einzelne Objekte des Wollens so verabsolutiert, dass ihnen alles geopfert wird. Wie aber der Schritt von der Fehlbarkeit zur tatsächlichen Verfehlung getan wird, das bleibt für Ricœur ein Rätsel, auch wenn der teleologische Aspekt seiner Theorie des Bösen ein wichtiger Beitrag zu derselben ist. Deutlich wird durch diesen Aspekt, welches Vernichtungswerk das Böse beim Handelnden selbst anrichtet, aber gerade deswegen stellt sich erneut die Frage nach dem Bewusstsein, in dem dieses Vernichtungswerk begangen wird. Die Auslegung der symbolischen Bekenntnissprache soll dieses Rätsel des Selbstbewusstseins einer Lösung näher bringen.
3.12 Freiheit und Passivität: selbstverschuldete Sklaverei des Willens in der Symbolik des Bösen Die Symbolik des Bösen ist der zweite Teil von Finitude et culpabilité. Es handelt sich dabei um eine Auslegung der besonderen Sprache, in der das Bekenntnis der Schuld ausgesprochen wird. An anderer Stelle erhebt Ricœur diese Untersuchung in den Rang einer eigenen hermeneutischen Disziplin, zu denen er sonst beispielsweise noch die Psychoanalyse rechnet. 110 In dieser Hermeneutik der Bekenntnissprache unterscheidet Ricœur zwei verschiedene Formen des Bekenntnisses, die Symbole und die Mythen der Bekenntnissprache. Dementsprechend ist sie in zwei Abschnitte unterteilt. In diesem Zusammenhang soll vor allem die zentrale These hervorgehoben werden, die auch im Rahmen einer Theorie des moralisch Bösen von größerer systematischer Bedeutung sein kann. Diese These beinhaltet eine besondere Passivität der Freiheit, die das Böse begeht und im Bekenntnis ihrer Schuld feststellt, dass sie dem Bösen auch zum Opfer gefallen sei. Diese Passivität ist vor allem das Thema der Untersuchung der Symbole. Bereits in der Fehlbarkeitsuntersuchung war als das Rätsel des Bösen der Übergang von der Fehlbarkeit zur Wirklichkeit des Bösen bezeichnet worden. Dieser Übergang war zunächst als Sprung zu konzipieren und soll für die Reflexion nicht unmittelbar zugänglich sein. Einen Anfang für die Untersuchung dieses Übergangs stellt daher das religiöse Bekenntnis dar, dessen Gehalt es nicht im Glauben an seine Wirklichkeit, sondern aus der Distanz, in Imagination und 110
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Ricœur 1969, 412.
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Freiheit und Passivität
Sympathie, zu wiederholen gilt. Dabei zeigt sich, dass dieses Bekenntnis stets symbolisch formuliert ist und dass das Symbol der Erbsünde sich bereits mit der philosophischen Reflexion berührt. Gerade weil aber die Erbsünde bereits eine spekulative Wiederaufnahme einer noch tieferen Schicht der Symbolsprache ist, kann sie nicht als Ausgangspunkt dienen. Dieses spekulative Symbol verweist auf den Mythos vom Fall, der zur Kategorie der Mythen vom Anfang des Bösen gehört. Aber auch hier ist noch nicht die tiefste Schicht des Schuldbekenntnisses erreicht. Denn die Mythen verarbeiten bereits vorhandene Symbole, die sich als die grundlegenden Ausdrucksweisen der Schulderfahrung herausstellen. Hier wird erneut die Grundthese hinsichtlich der Konsequenz des Bösen für Ricœurs methodische Vorgehensweise insgesamt deutlich: das Selbstbewusstsein äußert sich zuerst in einer symbolischen Sprache und bedarf deswegen grundsätzlich einer Hermeneutik, die den Zugang ermöglicht. Auch wenn die Grundsymbole des Schuldbekenntnisses sehr alt sind und ihre Nähe zu unserem Denken letztlich von der moralischen Weltanschauung abhängt, soll ein Verständnis des Bösen dennoch nicht ohne sie auskommen können. Bei diesen Grundsymbolen handelt es sich um drei – den Makel, die Sünde und die Schuld –, die weitere Symbole um sich gruppieren. Der Symbolcharakter dieser Zeichen besteht darin, dass sie zwei Sinnschichten besitzen, von denen die erste auf die zweite intentional verweist. 111 Allerdings nicht in der Form, dass von der ersten Sinnschicht durch eine einfache Allegorese die zweite Sinnschicht für sich genommen zugänglich werden könnte. Der zweite Sinn umfasst eine Mehrbedeutung, die einer besonderen Auslegung bedarf, welche durch den ersten Sinn geleitet wird. So verweist das Symbol der Befleckung über einen ersten Sinn des Schmutzes auf eine Beschmutzung im moralischen Sinn. Aber deren Bedeutung lässt sich nicht vollständig in einen unmittelbar zugänglichen Sinn übersetzen, der den ersten Sinn der körperlichen Befleckung überflüssig machen würde. Das Verhältnis dieser Grundsymbole zueinander besteht in einer historischen Abfolge, in der sie sich im doppelten Sinn aufheben. Die Vorstellung der Sünde, verbunden mit weiteren Symbolen, etwa das Abweichen vom rechten Weg oder der Gefangenschaft, löst die Vorstellung des Makels ab, aber bewahrt auch einen Teil von deren Sinngehalt. So enthält auch die Schuld als Endpunkt 111
Vgl. Ricœur 1960a, 173 ff. A
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dieser Bewegung noch Elemente der älteren Symbole, was ein Hinweis darauf ist, dass die Schulderfahrung nur in einer gewissen Zweideutigkeit ausgedrückt werden kann. 112 Das älteste Symbol, der Makel, beschreibt die Vorstellung des Bösen als eine Vorstellung von etwas Äußerlichem, Materiellen und gleichzeitig Ansteckendem. 113 Alleine die räumliche Nähe oder die Berührung mit dem Unreinen kann die Befleckung verursachen, den moralischen Makel des Betroffenen. Das Element der Zurechnung ist in diesem Zusammenhang auf ein Minimum reduziert. Dass sich jedoch der sprachliche Sinngehalt des Symbols bis in unsere Zeit halten konnte, zeigen Ausdrücke wie »sich die Hände schmutzig machen« oder eine »weiße Weste haben.« Einen neuen Sinngehalt bringt die Sünde in die Sprache des Bekenntnisses, wenn man diesen Ausdruck als Grundsymbol versteht. 114 Gekennzeichnet ist dieser Zusammenhang von Symbolen zunächst durch zwei Dimensionen: durch eine subjektive, empfundene Seite und durch einen objektiven Aspekt. Die subjektive Seite entspricht dabei einer besonderen Negativität, die mit der Sünde einhergeht: ein inneres Empfinden der Nichtigkeit, des Wahns, beispielsweise in den alttestamentarischen Bildern des Windhauches oder des Dunsts. Die Sünde ist dabei nicht mehr wie der Makel eine räumliche Präsenz, sondern ein Bruch in der Beziehung zu Gott, ein krummer Weg oder ein Irrweg. Dennoch besitzen auch die Vorstellungen, die in diesem Zusammenhang auftauchen einen positiven Aspekt des realen Vorhandenseins, der sich an denjenigen der Befleckung anschließen lässt. Dieser sogenannte »Realismus« der Sünde bezeichnet die Sünde als reale Macht, als Verstocktheit, Besessenheit und Verblendung, sowie die tatsächliche Situation des Menschen vor Gott. In dieser Lage des Menschen liegt eine wesentliche Vorstellung in der Entwicklung des Schuldbekenntnisses begründet, der »absolute Blick Gottes«, der den Menschen und sein Herz durchschaut. Dies ist für Ricœur der Anlass, bei dem der Mensch die fehlende Transparenz seines Selbstbewusstseins entdeckt habe. Daher sei diese Entdeckung in der Geistesgeschichte von mindestens ebenso großer Bedeutung wie die frühen Anfänge der Naturerkenntnis. 115 112 113 114 115
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Ricœur 1960a, 301 ff. Ricœur 1960a, 187 ff. Ricœur 1960a, 207 ff. Ricœur 1960a, 242.
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Freiheit und Passivität
Die geschichtliche Abfolge der von Ricœur untersuchten Symbole wird vom dritten Grundsymbol beendet: der Schuld. 116 In diesem symbolischen Zusammenhang wird der Prozess der fortschreitenden Verinnerlichung abgeschlossen und die Instanz des persönlichen Gewissens tritt hervor. Es bilden sich nun auch die drei Aspekte der Symbolik der Schuld heraus, die der moralischen Weltanschauung am nächsten kommen: die Zurechnung, die Anklage und die Strafe. Allerdings liegen die jeweiligen Elemente nicht in einer einzigen Form des Bewusstseins von Verfehlung vor, sondern in drei verschiedenen Erfahrungen. So erreicht die persönliche Verantwortung in der griechischen Form der ethisch-juristischen Zurechnung ihren Höhepunkt. Aufschlussreich sind hier die beiden Begriffe der Amartia, der Verblendung und der Hybris, der Anmaßung. Beide werden nach Ricœur aus dem ursprünglichen Kontext der Tragödie herausgelöst. Auf diese Weise wird aus der Unfreiwilligkeit der Verblendung des tragischen Helden eine psychologische Unfreiwilligkeit, die ihn entlastet. Dagegen werden das aktive Element der Hybris und die persönliche Verantwortung stärker betont. Anklage und Gewissen treten im Judentum am deutlichsten hervor, in Form der prophetischen Anklage und des skrupulösen Gewissens der Pharisäer, der versucht, bis ins letzte Detail die Gesetze Gottes zu befolgen. Heuchelei und Selbstgerechtigkeit sind die Formen des Scheiterns dieses Unterfangens. Die empfundene Last, die sich an die Erfahrung der Schuld anschließt, sieht Ricœur im Antilegalismus des Christentums nach Paulus am prägnantesten ausgedrückt, der gleichzeitig eine Reaktion auf das Pharisäertum darstellt. 117 Der »Fluch des Gesetzes« besitzt eine doppelte Form: eine vergebliche Annäherung und eine feindliche Distanz. Das Gesetz wird zu einer feindlichen, unverständlichen Transzendenz, auf die der Handelnde mit Hass reagiert. Eine solche Transzendenz des Gesetzes findet Ricœur in den Werken Kafkas wieder, in denen die Figuren mit der unerbittlichen Maschinerie eines Regelsystems konfrontiert sind, das sie nicht verstehen. An dieser Stelle begegnet der Leser Ricœurs erneut der Vorstellung des unfreien Willens oder dem »servum arbitrium«. Denn diese Vorstellung bildet den Horizont, auf den die Symbolik des Bösen zustrebt. 118 Während der Weg vom Makel über die Sünde bis zur 116 117 118
Ricœur 1960a, 255 ff. Ricœur 1960a, 191 ff. Ricœur 1960a, 300 ff. A
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Schuld durch eine fortschreitende Verinnerlichung gekennzeichnet ist und sich die Freiheitsdimension des bösen Willens herausbildet, bleibt auch die Passivität als Aspekt des bösen Willens erhalten, die auf den Makel zurückweist. Der unfreie Wille verliert durch die moralische Verfehlung selbstverschuldet seine Freiheit und ist dabei dennoch einer Anziehungskraft des Bösen erlegen. Grundsätzlich bleibt daher diese Vorstellung paradox, da sich Freiheit des Willens zum Bösen und Passivität des Willens angesichts des Bösen vereinigen. Ricœur nennt dies eine Affektion der Freiheit durch sich selbst. Dabei ist es gerade die Passivität, die den Erkenntnisgewinn der Symbolik des Bösen ausmachen soll. Denn durch diese Vorstellung soll es möglich werden, nachzuvollziehen, weshalb der Wille aus einer freien Entscheidung heraus seine eigene Freiheit preisgibt oder die Verkehrung der Persönlichkeit anrichtet, die das Böse hinterlässt. Die Passivität des bösen Willens, die im servum arbitrium als Symbol der Bekenntnissprache zum Ausdruck kommt, lässt sich nun in einem Schematismus zusammenfassen. Die drei Schemata dieser Passivität sind Positivität, Äußerlichkeit und Ansteckung. 119 Das Schema der Positivität schreibt dem Bösen eine eigene Kraft zu, die über einen bloßen Mangel hinausgeht. Es ist etwas, das »gesetzt« ist und das wieder »entfernt« werden muss. Deutlich wird dadurch, dass in Form dieses Schemas das Symbol des Makels oder der Befleckung weiterexistiert. Ebenfalls aus der Vorstellung des Makels rührt die Vorstellung der Äußerlichkeit des Bösen her. Dies ist die Erfahrung der Verführung durch das Böse. Für Ricœur wird darin die Grundeinsicht ausgedrückt, dass das Böse dem menschlichen Willen auf eine bestimmte Weise immer äußerlich bleiben muss. Er stellt hier eine Verbindung zur Thematik des teuflischen Willens her, da der Mensch nie aus voller Überzeugung und absolut böse sein könne. Eine vollständige Identifikation mit dem Bösen sei nicht möglich ohne die Modalität einer »verführenden Äußerlichkeit«. Das dritte Schema der Sklaverei des Willens ist schließlich die Ansteckung. In ihr komme nach Ricœur zum Ausdruck, dass die aktive Macht, die das Böse ausübt, nie die menschliche Freiheit und Persönlichkeit vollständig aufheben und zerstören, sondern nur trüben und infizieren, in einen Zustand der Krankheit versetzen.
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Ricœur 1960a, 304–306.
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Freiheit und Passivität
Wie lässt sich nun diese Symbolik der Passivität des bösen Willens in eine nicht-reduktive Theorie des moralisch Bösen integrieren? Der unfreie Wille als Wille im Zustand der Leidenschaften, die Grundvoraussetzung Ricœurs aus Le volontaire et l’involontaire, erweist sich nun auch als Ziel der Symbolik des Bösen. Ausdrücklich bleibt der Wille als Vermögen zur Freiheit mit der Vorstellung einer selbstverschuldeten Knechtschaft in einem einzigen Begriff unvereinbar. Eine Philosophie der Schuld ist die Symbolik des Bösen nicht, aber ihr Resultat, der unfreie Wille, soll eine Wiederaufnahme der philosophischen Reflexion leiten können. Eine solche Wiederaufnahme hat Ricœur selbst nicht durchgeführt. Nach der Symbolik des Bösen setzte er sich unter anderem mit der Psychoanalyse in De l’interprétation und den grundlegenden Problemen einer philosophischen Hermeneutik in Le Conflit des interprétations auseinander. Er hat allerdings einen programmatischen Aphorismus formuliert, der »das Symbol gibt zu denken« lautet. 120 Nach dieser Anweisung sind zwei Vorgehensweisen zu meiden. Einen mythischen Diskurs wieder direkt in die Philosophie einzuführen und die reine Reflexion über die Fehlbarkeit unmittelbar mit Mythen und Symbolen zu verknüpfen, ist nach Ricœur nicht mehr möglich. Aber auch der Versuch muss scheitern, den symbolischen Sinngehalt direkt in eine philosophische Begrifflichkeit zu übersetzen und dabei die Widersprüchlichkeit schlicht zu übergehen. Dem Reichtum an Sinn, der sich in den Symbolen verbirgt, kann man nicht gerecht werden, wenn man ihn als eine verborgene Lehre betrachtet, deren Hülle das Symbol ist und die man nicht mehr braucht, sobald diese Lehre extrahiert ist. »Das Symbol gibt zu denken« soll einen dritten Weg aufweisen, der zwei Elemente vereint, die Gabe und das Denken. Eine Gabe ist das Symbol, weil es ein möglicher Anfang für die Philosophie ist und eine Erinnerung an die in der Moderne vergessenen Erfahrungen im Umfeld des Bekenntnisses vom begangenen Bösen. Zu denken gibt das Symbol, weil es zu deuten gibt. Es ist mit dem philosophischen Diskurs deswegen schon verbunden, weil das Sprechen in Rätseln und die Interpretation immer schon zusammengehören. Die Hermeneutik bedient sich dieser Verbundenheit, allerdings nicht im Geist des Glaubens, sondern im Geist der Kritik. Diese
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Ricœur 1960a, 479 ff. A
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Kritik ist jedoch keine nur reduktive Kritik, sondern eine wiederherstellende Kritik, in Gestalt einer Wette. Der hermeneutische Zirkel in der Form »Man muss verstehen, um zu glauben und man muss glauben, um zu verstehen« wird durchbrochen, indem man auf den Sinn des Symbols setzt. Ricœur vergleicht diese Wette mit einer »transzendentalen Deduktion«. Die Gültigkeit eines Begriffs soll nachgewiesen werden, indem gezeigt wird, dass er die Bedingung der Möglichkeit enthält, einen Gegenstandsbereich zu konstituieren. Für das Problem des Bösen, bedeutet dies zunächst, dass eine »Empirie der Knechtschaft der menschlichen Freiheit« herausgearbeitet wird, indem man auf die Symbolik des Bösen »setzt«. 121 Zurückgewiesen wird dann die zu einfache Sicht, das Böse auf einen Modus der Endlichkeit zurückzuführen. Wenn man aber an die Problematik einer vollständigen Freiheit zum moralisch Bösen als dem an sich Schlechten und nicht zu Rechtfertigenden erinnert, dann kann die Passivität in der Symbolik des Bösen möglicherweise als nützlicher Leitfaden dienen, um in den empirischen Erscheinungsformen des Bösen dieser Modalität der Freiheit nachzuspüren und die Erfahrung der Verführung und der Verblendung durch das Böse so zu thematisieren, dass sie einen neuen angemessenen Sinn erhält. Auch haben sich sogar in der Symbolik des Bösen trotz des völlig unterschiedlichen Ansatzes einige thematische Parallelen zur Theorie des radikalen Bösen bei Kant gezeigt: die Verblendung, die Heuchelei und die Frage nach einer Motivation des bösen Willens, die sich direkt gegen die Moral richtet. Darin könnte man eine mögliche wechselseitige Ergänzung der Theorie Ricœurs und derjenigen Kants sehen, auch wenn sich bereits einige Gegensätze gezeigt haben.
3.13 Ricœur und Kant. Antagonismus oder Komplementarität? Zunächst ist jedoch der Gedanke naheliegend, dass die Grundzüge der theoretischen Konzeption des moralisch Bösen bei Ricœur und bei Kant in einem Gegensatz zueinander stehen. Ein Grund dafür ist vor allem Ricœurs erwähnte Skepsis gegenüber der Autonomie, die in seinen frühen Schriften ausgeprägt ist und die zudem unter anderem auf seiner Konzeption des Bösen gründet. Auch der Vorrang, den
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Ricœur und Kant. Antagonismus oder Komplementarität?
Ricœur Ethik vor der Moral einräumt, scheint in diese Richtung zu weisen. So wie Ricœur noch in Soi-même comme un autre Moral versteht, besitzt sie anders als bei Kant keinen Anteil an der Persönlichkeit des Menschen. Schließlich passt hierzu auch der explizite Bezug, den Ricœur in der Formel »Größe und Grenze der moralischen Weltanschauung« zu Kant herstellt. Nach dieser Stellungnahme erscheint Kants Theorie des moralisch Bösen zwar verdienstvoll durch die Annahme der Freiheit zum Bösen, aber in ihrer Reichweite eingeschränkt, da sie die in der Symbolik des Bösen ausgedrückte Passivität der Freiheit nicht berücksichtige. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass Ricœur und Kant im Wesentlichen dieselbe Grundkonzeption des moralisch Bösen vertreten haben. Zusätzlich verhalten sich die verschiedenen Grundannahmen, die den jeweiligen Standpunkt charakterisieren, eher komplementär zu einander als antagonistisch. Der Grund dafür, dass Ricœur dieses Verhältnis völlig übergangen hat, besteht möglicherweise darin, dass er sich nicht gründlich mit Kants Theorie auseinandergesetzt hat, da deren normativer Schwerpunkt nicht zu seinen eigenen Interessen passt. Trotz dieser normativen Grundausrichtung lässt sich zeigen, dass viele von Ricœurs Annahmen sich mit denjenigen von Kant ergänzen und dass beide Ansätze sich gegenseitig bereichern, auch wenn einige Diskrepanzen und unterschiedliche Gewichtungen bestehen bleiben. Die Grundkonzeption, die von beiden Philosophen vertreten wird, besteht zunächst einmal in einer nicht-reduktiven Theorie des moralisch Bösen. D. h. für beide ist das Böse der Freiheit zuzurechnen und ohne Einschränkung schlecht. Der böse Wille ist ferner für beide Denker ein Wille des verabsolutierten Egoismus und kein teuflischer Wille, der sich für das Böse um des Bösen willen entscheidet. Gemeinsam ist dieser Konzeption außerdem, dass es sich bei der Grundstruktur des bösen Willens um eine Verkehrung handelt. Diese Verkehrung allerdings markiert den unterschiedlichen Schwerpunkt beider Theorien. Während bei Kant der Selbstliebe das moralische Gesetz untergeordnet wird und der böse Wille sich durch eine oberste gesetzwidrige Maxime auszeichnet, besitzt Ricœurs Konzeption einen teleologischen Schwerpunkt. Hier werden die Achtung vor dem Selbstzweckcharakter der eigenen und der fremden Persönlichkeit der verabsolutierten Selbstliebe in den exemplarischen Leidenschaften untergeordnet bzw. die grundlegenden Bestrebungen der Ausrichtung auf ein gutes Leben zerstört. A
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Bereits an der Nähe dieser Konzeption der Persönlichkeit zur Bestimmung der vernünftigen Natur als Zweck an sich selbst sieht man, dass hier kein unüberbrückbarer Gegensatz vorliegt. Die Komplementarität beider Ansätze wird durch einen Vergleich einiger wesentlicher Elemente derselben noch deutlicher. So ergänzen sich jeweils Fehlbarkeit und Hang zum Bösen, Ricœurs Konzept der Leidenschaften und die Anlagen zum Guten, sowie die Symbolik des Bösen und die »Höllenfahrt der Selbsterkenntnis«. Wie fällt nun der Vergleich zwischen dem Konzept der Fehlbarkeit und dem Hang zum Bösen aus? Zunächst ist deutlich, dass der Hang zum Bösen bereits näher beim tatsächlich begangenen Bösen steht als die Fehlbarkeit, die nur die reine Möglichkeit des Bösen beschreibt, indem sie seine Einbruchstelle aufzeigt. Man kann Ricœurs Erklärung des Ursprungs des Bösen daher neutraler nennen. Sie ist weniger dem Vorwurf ausgesetzt, eine Säkularisierung der Vorstellung von der Erbsünde zu sein. Ein Vorteil der Kantischen Konzeption ist es jedoch, dass in ihr ein Modell dafür vorhanden ist, wie die Tendenz zum Bösen sich in Graden steigert und verfestigt. Beides schließt sich nicht aus. Die Fehlbarkeit, so wie sie Ricœur konzipiert, erscheint als dynamisches Verständnis der Möglichkeit zum bösen Willen, der Hang zum Bösen als ein strukturelles Verständnis der verschiedenen Grade und Abstufungen im Werdegang des bösen Willens. Diese Dynamik der Fehlbarkeit nimmt ihren Ausgang von der seelischen Spannung, die in der Polarität des Endlichen und Unendlichen in der menschlichen Natur angelegt ist. Der Gegensatz von Neigungen und Vernunft bei Kant lässt sich durchaus in dieses Schema einordnen. Denn auch bei Ricœur ist die Sinnlichkeit, stellvertretend für andere Neigungen, zunächst unschuldig und nicht der Ursprung des Bösen. Was Ricœur unter dem Überbegriff »Charakter« zusammenfasst, kann durchaus auch für eine Summe der Neigungen stehen. Und gerade in der notwendigen Vermittlung zu einem Pol, in dem die endlichen Neigungen und der endliche Charakter überschritten werden, liegt die Gefahr einer Verkehrung, einer absoluten Selbstbevorzugung und einer bloßen Instrumentalisierung der Vernunft. Die Fehlbarkeit beschreibt die Verführbarkeit des Menschen als innere Anspannung, Konflikt und Unruhe. Die Unsicherheit der Befriedigung einerseits und die Imagination einer möglichen unendlichen Anhäufung von Gütern andererseits, wie sie der Rückblick von den Leidenschaften auf einen vorausgegangenen Zustand der Un222
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Ricœur und Kant. Antagonismus oder Komplementarität?
schuld zeigt, schaffen die Voraussetzungen für diese spezifisch menschliche Befindlichkeit. Während Ricœur die Anfänge der Entwicklung zum bösen Willen und den Endpunkt im Willen aufzeigt, der von den Leidenschaften beherrscht wird, verdeutlicht Kant mit den Stufen des Hangs zum Bösen die Grade dieser Entwicklung. Zudem besitzt auch die formale und einfache Struktur einer obersten gesetzwidrigen Maxime eine größere Reichweite als Ricœurs Triade der Leidenschaften, die stellvertretend für alle anderen Formen des moralisch Bösen stehen soll. Während sich in der unterschiedlichen Konzeption der Fehlbarkeit und des Hangs zum Bösen wiederum die teleologische bzw. die normative Grundausrichtung beider Ansätze zeigt, ist gerade diese Grundausrichtung kein absoluter Gegensatz. Die Negativität des Bösen bei Ricœur, das schlechthin zweckwidrig ist, öffnet diese Position für eine nähere normative Bestimmung des Bösen als uneingeschränkt Schlechtes, das als Gegensatz zum moralischen Sollen verstanden wird. Umgekehrt zeigen die Anlagen zum Guten und ihre Verkehrung teleologische Elemente auch bei Kant auf, die sich sogar auf die Erscheinungsformen des Bösen bei Ricœur beziehen lassen. Denn die Leidenschaften der Ehrsucht, Habsucht und Herrschsucht, ebenfalls bereits bei Kant zu finden, lassen sich durchaus auf vom Bösen verfremdete Formen der beiden ersten Anlagen beziehen, die Kant annimmt. Auch die Passivität, die sich als Resultat der Symbolik des Bösen ergeben hat, lässt sich schließlich in den Ansatz von Kant integrieren. Denn rätselhaft bleibt für diesen wie für Ricœur, weshalb die menschliche Freiheit sich überhaupt dem Bösen zuwendet. Eine gleichwertige Freiheit zum Bösen und zum Guten widerspricht grundsätzlich der Negativität des Bösen. Wo für Kant angesichts Selbsttäuschung, Heuchelei und Verblendung eine »Höllenfahrt der Selbsterkenntnis« erforderlich ist, kann Ricœurs Symbolik des Bösen mit den Schemata der Positivität, Äußerlichkeit und Ansteckung einen Leitfaden für eine hermeneutische Untersuchung der Erfahrungen des moralisch Bösen liefern. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Kants Konzeption durch die normative Dimension sich als vollständiger und trotz der Kürze der Religionsschrift schematisch weiter ausgearbeitet präsentiert. Ricœurs Thesen lassen sich jedoch in diese einfügen und bieten so eine Ergänzung. Inwiefern sich eine nicht-reduktive Theorie des A
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moralisch Bösen gegen die eingangs genannten Bedenken verteidigen lässt, wenn sie sich auf eine solche Konzeption auf der Grundlage von Kant und Ricœur stützt, soll in der folgenden Schlussbetrachtung verdeutlicht werden, die nochmals die wesentlichen Aspekte rekapituliert.
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Schlussbetrachtung und Ausblick
1.
Der Begriff des Bösen
Die Skepsis gegenüber der Möglichkeit eines Begriffs des moralisch Bösen wird häufig von der Sorge genährt, dass ein solcher Begriff zu kurz greift und das Böse verharmlost. Die Begriffsbestimmung als solche würde nach diesem Bedenken schon das moralisch Böse in einen systematischen Zusammenhang bringen, der es einem Ordnungsgedanken unterwirft. Grundsätzlich soll die Philosophie deswegen gerade dem unberechenbaren, chaotischen, destruktiven oder irrationalen Charakter, der angeblich das Böse ausmache, nicht gerecht werden. Zusätzlich erscheint es manchen Denkern als abwegig, das Böse in Beziehung zum moralisch Guten zu setzen, da die Motivation des Bösen dadurch von vorne herein plausibel und nachvollziehbar gemacht werde, ohne dass der eigentliche menschliche Abgrund sich einem solchen Verständnis zeigt, der sich angesichts des Bösen auftut. Diese Skepsis ist daher eine Mahnung, die Erscheinungsformen des Bösen nicht zu vernachlässigen und auch ihre Darstellung in Kunst und Literatur zu einem vertieften Verständnis heranzuziehen. Entgegen dieser Skepsis hat sich jedoch gezeigt, dass bei Kant und Paul Ricœur vielversprechende Ansätze einer Begriffsbestimmung vorhanden sind, die sich mit einem aus der Alltagssprache abgeleiteten elementaren Verständnis des Bösen verknüpfen lassen. Auf diese Weise kann durch eine umfangreiche philosophische Konzeption begründet werden, dass das Prädikat »böse« in einem alltäglichen, moralischen Sinn zurecht Handlungen oder Personen zugeschrieben wird. Als Grundelemente, durch die das moralisch Böse auf dieser Ebene von ähnlichen Wortbedeutungen abgegrenzt werden kann, haben sich die Zurechenbarkeit und eine besondere moralische Negativität ergeben. Eine Theorie, die beide Grundelemente beibehält, wurde als nicht-reduktiv bezeichnet. Die Alternative zu A
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Schlussbetrachtung und Ausblick
einer solchen Theorie besteht darin, den Begriff des Bösen einer Kritik zu unterziehen, die ihn als haltlos entlarvt und empfiehlt, ihn nicht mehr zu verwenden. Der Preis dafür besteht darin, entweder die Zurechenbarkeit aufzugeben oder aber die besondere Negativität des Bösen, was zunächst einmal mindestens der unmittelbaren moralischen Intuition widerspricht. Diese kann sich auf die Zurechenbarkeit von Verbrechen stützen und auf die Empörung gegenüber manchen schrecklichen Taten, die von einem moralischen Standpunkt aus nicht begangen werden dürften. Die Aufgabe einer nicht-reduktiven Theorie des moralisch Bösen besteht aufgrund dieses Umstands darin, die Zurechenbarkeit und die Negativität als Grundeigenschaften weiter zu bestimmen und auf dieser Grundlage ein komplexeres und durch den Bezug auf Grundbegriffe der Ethik vertieftes Verständnis des Bösen aufzubauen. Die besondere Negativität lässt sich in der Folge als »ohne Einschränkung schlecht« wiedergeben, gegenüber einer Negativität, die nur ein »relativ schlecht« beinhaltet. Der Anspruch, der damit einhergeht, besteht darin, dass einer so qualifizierten Handlung oder Person die Eigenschaft schlecht zu sein in einem objektiven Sinn zugeschrieben wird, d. h. unabhängig von der Situation, der Kultur, dem Zweck oder demjenigen, der dieses Urteil ausspricht. Damit verbunden sind weitere zusätzliche Bedeutungselemente wie »nicht zu rechtfertigen« oder »etwas, das auf keinen Fall geschehen sollte«. Dieser schwer zu erfüllende Anspruch kann als einer der Gründe gelten, weshalb letztlich das Prädikat »moralisch böse« nur sehr zurückhaltend verwendet wird, um so mehr angesichts eines Pluralismus von Werten und Lebensformen, der ebenfalls das alltägliche Moralbewusstsein mitbestimmt. Gegenüber dieser Vorsicht liefern jedoch die »schreienden Beispiele der Erfahrung«, die man wie Kant immer noch geltend machen kann, einen ausreichenden Grund, den Begriff des moralisch Bösen nicht zu übergehen. Es sind die Verbrechen des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, ihr Ausmaß an Vernichtung von menschlichem Leben und der Umfang der beteiligten Personen und Institutionen, die letztlich die Beweislast gegen den Relativismus umkehren, der es nahe legt, den Begriff des moralisch Bösen als veralteten, religiös vorbelasteten Begriff aufzugeben. Die aus der Alltagssprache abgeleitete Bedeutung des moralisch Bösen, »ohne Einschränkung schlecht« zu sein, macht es entgegen den erwähnten Einwänden plausibel, das Böse auf das moralisch Gute zu beziehen. Denn die Annahme einer entsprechenden Negativität 226
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Der Begriff des Bösen
ist nicht vorstellbar, ohne dass ein entsprechender positiver Wert negiert werden würde. Dennoch besitzt die eingangs genannte Skepsis, die einen solchen Bezug ganz vermeiden möchte und daher nicht vollkommen aufrecht zu erhalten ist, eine gewisse Berechtigung. Diese Berechtigung beruht darauf, dass sich die traditionelle und teilweise immer noch vertretene Vorstellung, das Böse sei ein bloßer Mangel des Guten, als problematisch gezeigt hat, da auf diese Weise dem Bösen ein eigener Antrieb abgesprochen wird. Damit wäre der Anlass, böse zu handeln von vorne herein beispielsweise auf einen Irrtum oder auf Willensschwäche reduziert. Wird aber dem moralisch Bösen ein eigener Antrieb zugestanden, und damit gleichzeitig auch ein Anteil der Vernunft und der Freiheit am Bösen, dann führt dies zu einer Schwierigkeit, die sich als das Grundproblem jeder nicht-reduktiven Sicht des Bösen zeigte. Zu einem Widerspruch scheinen gerade die beiden Grundeigenschaften zu führen, das moralisch Böse als zurechenbar und im Anschluss daran als im vollen Sinn frei zu verstehen sowie gleichzeitig von seiner uneingeschränkten Negativität auszugehen. Das angemessene Verständnis des moralisch Bösen wird dadurch aber nicht nur für sich genommen zu einer Herausforderung, sondern auch für jede Moralphilosophie, die einen Zusammenhang zwischen dem moralisch Guten, der Vernunft und der Freiheit herstellt. Denn innerhalb dieses Zusammenhangs lässt sich stets die Frage nach dem moralisch Bösen stellen und ob es sich im Hinblick auf die jeweilige Bestimmung der genannten Begriffe ebenfalls angemessen begreifen lässt. Auch bei Kant, der als bedeutendster Vertreter einer nicht-reduktiven Theorie des moralisch Bösen betrachtet worden ist, lässt sich dieses Problem wiederfinden. Gleichzeitig stellt das genannte Problem auch eine wichtige Voraussetzung für die Interpretation der Abhandlung zum radikalen Bösen dar. Denn durch diese Voraussetzung sollte deutlich gemacht werden, dass diese Schrift nicht nur der Erneuerung der Vorstellung einer angeborenen Sündhaftigkeit gewidmet ist oder eine Problematik zum Gegenstand hat, die sich alleine aus der Ethik Kants ergibt. Vielmehr gibt es gute Gründe dafür, dass die Schwierigkeiten, mit denen sich Kant auseinander setzt, durch die Problematik des moralisch Bösen selbst gegeben sind. In diesem Licht betrachtet, erscheinen die Vorraussetzungen Kants und sein Verständnis des Bösen, das er aus ihnen und dem Zusammenhang seiner Ethik entwickelt, als mögliche Antworten auf die Fragen jeder nicht-reduktiven Theorie des moralisch Bösen. A
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Schlussbetrachtung und Ausblick
Kants Ausgangspunkt ist eine eigene Bestimmung der beiden Grundeigenschaften des moralisch Bösen, der Zurechenbarkeit und der Negativität. Diese Bestimmung lautet: »mit Bewusstsein gesetzwidrig«. Daraus leitet Kant in der Folge seinen eigentlichen Begriff des Bösen ab. Moralisch Böse ist demnach, eine Grundhaltung einzunehmen, die in der Annahme einer obersten gesetzwidrigen Maxime besteht. Diese Maxime kann als Grundsatz eines verabsolutierten Egoismus gelten, der für sich in Anspruch nimmt, alles andere dem eigenen Wohlergehen unterzuordnen. Der Egoismus wird wider ein mögliches besseres Wissen zur Grundbedingung des moralischen Handelns gemacht. Den höchsten Grad des Widerspruchs zur Moral, der damit erreicht sein soll, sieht Kant in einer entsprechenden Verkehrung der gebotenen Rangordnung der Maximen der Selbstliebe und der Moral. Die Gültigkeit des Sittengesetzes wird dabei nicht bestritten. Der Handelnde erlaubt sich lediglich eine beliebige, willkürliche Ausnahme, indem er die Moral seinen eigenen Interessen unterordnet. Hinzu kommt die Möglichkeit, den bösen Willen nach Kant so zu verstehen, dass sich der Handelnde im Unklaren über seine wahren Motive befindet, also in einem Zustand der Verblendung oder Selbsttäuschung. Damit formuliert Kant ein klassisches Verständnis des Bösen als Verkehrung neu und schafft den Ansatzpunkt für eine moralpsychologische Untersuchung, die an die Vorstellung einer Verblendung anknüpft, die Ricœur in seiner Untersuchung der symbolischen Bekenntnissprache bereits in archaischen Ausdrucksformen des Schuldbewusstseins entdeckt. Mit dem Verständnis des moralisch Bösen als Verkehrung, in der dem Egoismus ein absoluter Vorzug eingeräumt und die Moral gleichzeitig untergeordnet wird, stellt sich die Frage nach dem teuflischen Willen. Für Kant, wie auch für Paul Ricœur, ist es gerade die Verkehrung von Egoismus und Moral, in der das Maximum des Bösen gegeben ist. Bei Kant ist damit die umstrittene These verbunden, dass der Mensch keinen teuflischen Willen besitzen kann. Ein menschliches Wesen könne der Moral nicht »rebellisch« den Gehorsam aufkündigen, also unmoralisches Handeln kann nach Kant nicht Selbstzweck sein, das Böse kann nicht allein um des Bösen willen gewollt werden. Die Gegner dieser Position haben sich häufig auf Beispiele aus der Erfahrung berufen, die belegen sollten, dass mit diesem Begriff des moralisch Bösen längst nicht alle Taten und Täter zu begreifen sind. Zahlreiche Beispiele aus Erfahrung oder Literatur würden für sich sprechen und wiederum keinen förmlichen Beweis 228
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Der Begriff des Bösen
erfordern, um die Ansicht zu widerlegen, der menschliche Willen könne nicht teuflisch sein. Entscheidend ist dabei die Deutung dieser Beispiele im Hinblick auf einen bestimmten Begriff des moralisch Bösen. Für eine solche Untersuchung hat Ricœur den Vorschlag einer Empirie des Willens gemacht, der im abschließenden Teil dieses Kapitels untersucht werden soll. Für eine solche Empirie des Willens haben sich bereits einige Anknüpfungspunkte gezeigt, wie die Frage nach der Verblendung des bösen Willens oder jetzt die Frage nach der Unmöglichkeit des teuflischen Willens. In der Folge soll dargelegt werden, dass diese empirische Untersuchung der Erscheinungsformen des bösen Willens und seiner Werke eine notwendige Ergänzung zur Vollständigkeit einer Theorie des moralisch Bösen darstellt. Doch nicht nur für die nicht-reduktive Theorie des Bösen hätte es Konsequenzen, wenn ein teuflischer Wille nachweisbar wäre, sondern für die Ethik insgesamt. Versteht man einen solchen Willen so, dass dabei im vollen Bewusstsein der Bedeutung von Moral gegen die Moral selbst gehandelt wird, und zwar mit dem Ziel Moralität in zwischenmenschlichen Beziehungen zu untergraben und zu zerstören, dann wäre dies eine weitreichende Konsequenz für das Verständnis moralphilosophischer Grundbegriffe. Denn in einem so konstruierten teuflischen Willen würde es keinen anderen Antrieb geben als allgemeine rationale Erwägungen, die eine bewusste und vernünftige Entscheidung gegen die Moral hervorbringen. Damit wäre die Vernunft gegenüber der Moral vollkommen neutral und die menschliche Freiheit wäre indifferent. Die Entwicklung der Persönlichkeit würde in einem beliebigen Verhältnis zur Moralität stehen können, denn das Böse wäre eine Lebensform, für die man sich beliebig aus einem aufgeklärten Selbstinteresse heraus entscheiden könnte. Oder aber es müsste dieses aufgeklärte Selbstinteresse anders als durch die Vernunft bestimmt werden. Denn in diesem Fall wäre mit der bewussten Entscheidung für das Böse kein Irrtum und keine Selbsttäuschung verbunden. Auch diese Möglichkeit, die von Kants Moralphilosophie ausgeschlossen wird, müsste von anderen Theorien der praktischen Rationalität erwogen werden, und wenn es nur geschieht, um die vorgebliche Rationalität des Willens, der das Böse um seiner selbst willen anstrebt, als Scheinrationalität oder eingeschränkte Rationalität zurückzuweisen oder aber um die Unmöglichkeit eines solchen Willens darzulegen. Es müsste dann gleichzeitig gezeigt werden, wie ein scheinbar teuflischer Wille anders zu interpretieren sein könnte. A
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Schlussbetrachtung und Ausblick
Im Zusammenhang mit der Problematik des teuflischen Willens kann auch der teleologische Aspekt der Bestimmung des moralisch Bösen einbezogen werden. Denn es stellt sich die Frage nach der entsprechenden bösen Lebensform, in welcher der Mensch sich ebenso verwirklichen können soll, wie in einem moralischen Leben. Teleologische Elemente bei Kant und Paul Ricœur lassen sich zusätzlich gegen eine mögliche Trennung von Moralität und Vernunft anführen, sowie gegen eine Trennung von Moralität und Entwicklung der Persönlichkeit. Eine Selbstverwirklichung oder ein gelungenes Leben sind nach beiden Denkern im Bösen nicht möglich. Ein böser Wille wirkt sich nicht nur zerstörerisch auf die Opfer desselben aus, sondern auch auf den Täter. Bei Kant ist diese These in den Anlagen zum Guten festgehalten, deren Verwirklichung ein böser Wille entstellt und verhindert. Die Verkehrung, die in der moralischen Persönlichkeit durch den bösen Willen gegeben ist, setzt sich in allen anderen Bereichen der Person fort. Eine »pervertierte«, also verkehrte Selbstliebe ist ebenfalls für Ricœur die Konsequenz des moralisch Bösen. Er versucht dabei in L’homme faillible und in Soi-même comme un autre zu zeigen, wie fundamentale Bestrebungen durch das Böse ihr Ziel verlieren, zweckentfremdet werden und in den Leidenschaften zu einem leeren Wahn werden. In seinem späteren Werk wurde diese Position noch vertieft, indem die fundamentale ethische Ausrichtung, auf der die Selbstschätzung gründet, durch das moralisch Böse unmöglich wird. Gerade das Böse zerstört nach Ricœur die fundamentale Beziehung zu sich selbst, zu anderen und das Leben in Institutionen und macht moralische Normen notwendig. Moralität schafft erst die Bedingungen, damit sich die ethische Ausrichtung eines »guten Lebens, mit und für den anderen, in gerechten Institutionen«, wie Ricœur es formuliert 1 , verwirklichen lässt. Eine Entscheidung für das moralisch Böse als Grundhaltung, die auf einem aufgeklärten Selbstinteresse beruht, ist damit unmöglich. Es zeigt sich dadurch die wichtige Bedeutung, welche die moralische Identität in diesem Zusammenhang spielt. Der teleologische Aspekt der Zerstörung des guten Lebens durch das Böse äußert sich in den Erscheinungsformen der Laster und der Zweckentfremdung der Anlagen zum Guten durch den bösen Charakter. Dieses Thema wird kaum diskutiert, weder allgemein im Hinblick auf das Böse, noch in den Kommentaren zu der jeweiligen 1
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Ricœur 1990, 202.
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Der teuflische Wille
Schrift von Kant oder Ricœur. Die Frage nach der Bedeutung des bösen Willens für die persönliche Identität geht dabei verloren. Möglicherweise erscheint die Position als unzeitgemäß, ein gelungenes Leben wie etwa Ricœur es beschreibt, lasse sich nicht im Bösen verwirklichen. Gerade im Hinblick auf die Frage nach dem teuflischen Willen spielt sie eine wichtige Rolle, da die Indifferenzfreiheit durch ein zusätzliches Argument zurückgewiesen werden kann. Es bleiben jedoch die Beispiele bestehen, die gegen die These angeführt werden, der menschliche Wille könne nicht teuflisch sein. Diese sollen im nächsten Abschnitt noch näher betrachtet werden.
2.
Der teuflische Wille
Wie kann entschieden werden, ob der teuflische Wille für den Menschen tatsächlich ein mögliches Extrem des Bösen ist oder nicht? Für Kant führten Erwägungen innerhalb der Systematik seiner Moralphilosophie zu der Annahme, der Mensch könnte nicht »den Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder machen«. Damit wird eine boshafte Vernunft ausgeschlossen, die vom moralischen Gesetz »freisprechen« könnte, dem dann der Gehorsam »rebellischerweise« aufgekündigt wird. 2 Diese Definition des teuflischen Willens besitzt zwei Aspekte: Zunächst würde die Gültigkeit des moralischen Gesetzes durch rationale Gründe für den Handelnden aufgehoben werden, in einer weiteren Steigerung würde in einem teuflischen Willen schließlich das Böse selbst zum Antrieb, und die Motivation des Handelns bestünde ausschließlich darin, gegen die Moral zu handeln und das Böse um seiner selbst willen zu befördern. Während beides nach Kant nicht möglich ist, wird für ihn das Maximum des Bösen in einer verkehrten Rangordnung der Maximen der Selbstliebe und der moralischen Maximen erreicht, die wiederum selbst in einer obersten Maxime festgehalten wird. Dadurch wird der Selbstliebe oder dem eigenen Nutzen ein absoluter Vorrang eingeräumt, entweder gegen besseres Wissen oder in einem Zustand der Verblendung. Die Möglichkeit des teuflischen Willens innerhalb seiner Moralphilosophie weist Kant nach einhelliger Meinung aller Interpreten und Kritiker zurecht und konsequent zurück. Während ein möglicher teuflischer Wille des Menschen auch für manche Kommentato2
Kant, Immanuel: Die Religion … VI, 35 f. A
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Schlussbetrachtung und Ausblick
ren Kants eine unplausible Annahme darstellt, sehen andere Kants These durch zahlreiche Gegenbeispiele aus der Erfahrung und aus der Literatur widerlegt. 3 Zu diesen Beispielen gehören historische Phänomene verschiedenster Kategorien wie die Inquisition, der Nationalsozialismus, Völkermord, Folter oder Rassismus 4 oder literarische Figuren wie Shakespeares Jago 5 oder de Sades Juliette 6 . Eine eigene Problematik stellen dabei die Beispiele aus der Literatur dar, insofern es sich dabei um Fiktionen handelt, deren eigene Plausibilität erst nachzuweisen wäre. Es fehlt in der Untersuchung dieser Phänomene ein Ansatz, der die Aufgabe einer »Empirie des Willens« erfüllen könnte, wie sie Ricœur vorgeschlagen hat. Die genannten Gegenbeispiele, die einen teuflischen Willen belegen sollen, müssten in einer solchen Empirie durch den Bezug auf die begriffliche Konzeption des moralisch Bösen gedeutet werden. Dabei müsste dann der Nachweis geführt werden, dass eine bestimmte Erscheinungsform des Bösen nur verständlich wird, wenn man sie als einen konkreten Fall des teuflischen Willens im Sinn Kants interpretiert. Als Alternative müsste in Erwägung gezogen werden, dass auch die Verkehrung als Erklärungsmodell geeignet ist, um Einzelfälle verständlich zu machen, die eigentlich als Beleg für den teuflischen Willen fungieren sollen. Bei den gegen Kant angeführten Einzelfällen lassen sich durch die jeweilige Motivation verschiedene Grundformen unterscheiden, ohne dass eine entsprechende Systematik bisher ausgearbeitet wurde. Es zeigt sich dabei, dass diese Motivationen verschiedene Möglichkeiten der Deutung zulassen. Daher ist zumindest nicht von vorne herein ausgeschlossen, dass sich diese Beispiele doch als Verkehrung von Moral und Selbstliebe verstehen lassen. Sie lassen sich in drei Gruppen unterteilen, die jeweils exemplarisch den teuflischen Willen repräsentieren sollen: eine gegen die Moral gerichtete Ideologie oder ein bösartiger Idealismus, der Sadismus und der reflektierte Sadismus. Das Prinzip der Einteilung beruht auf den beiden Alternativen einer Motivation gegen die Moral, die aus Grundsätzen oder aus einer Neigung stammt sowie aus der Kombination beider MotiVgl. S. 109 ff. dieser Arbeit. Vgl. z. B. Card 2002, 89 f. 5 Vgl. z. B. Spinner 1992. 6 Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, 88–127; Schulte 1988, 321 f. 3 4
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vationen. Ein bösartiger Idealismus würde den Handelnden antreiben, der sich Grundsätze zu eigen macht, die bewusst gegen die Moral gerichtet sind, ohne dass der Eigennutz des Handelnden angesprochen wird. Eine solche Ideologie ist in zwei Stufen denkbar. In einer ersten Stufe widersprechen Grundsätze lediglich der Moral, um diese in einer bestimmten Hinsicht außer Kraft zu setzen, aber nicht um Moralität generell abzuschaffen oder ins Gegenteil zu verkehren, sondern um andere Zwecke zu erreichen. Eine gesteigerte Form wären Grundsätze, die sich direkt gegen moralische Prinzipien richten. Eine egoistische Motivation, die wiederum direkt gegen moralische Prinzipien gerichtet ist, aber nicht aus Grundsätzen stammt, sondern aus einer Neigung, liegt im Fall des Sadismus vor. Ergänzt um entsprechende Prinzipien wird der schlichte, nicht auf einer Argumentation beruhende Sadismus zu einer reflektierten Form desselben. Letztlich ist es die Aufgabe einer Empirie des Willens – deren mögliche Konzeption noch etwas ausführlicher im abschließenden Abschnitt vorgestellt werden soll – innerhalb dieser Systematik einzelne Phänomene zu untersuchen. Zuvor kann man jedoch bereits die Frage stellen, ob diese theoretisch möglichen Formen des bösen Willens sich nur als Formen eines teuflischen Willens verstehen lassen. Ein bösartiger Idealismus, wie beispielsweise der Nationalsozialismus, im Sinn einer Ideologie, die zu bösen Handlungen antreibt, wird häufig als Gegenbeispiel gegen Kants These angeführt 7 , das Extrem des Böse bestünde in einer Verkehrung. Denn der Handelnde würde keinesfalls aus einem Antrieb handeln, hinter dem die verabsolutierte Selbstliebe steht, sondern letztlich selbstlos eine Grundhaltung einnehmen, die bis zum eigenen Untergang führen könnte und die gleichzeitig zur Vernichtung anderer führt, ohne dass ein persönliches Interesse erkennbar werde. Die Mechanismen solcher Ideologien, die in den Studien wie in derjenigen von Katz aufgedeckt werden, zeichnen jedoch ein anderes Bild als dasjenige einer möglichen Selbstlosigkeit. 8 Vielmehr wird das schwache Selbstbewusstsein durch die Gruppenzugehörigkeit aufgewertet und so der absolute Gehorsam durch die Identifikation von Selbst und Gruppe einschließlich zugehöriger Ideologie erzeugt. Ein Angriff auf die Gruppe erscheint daher als Angriff auf das Selbst und das eigene Selbstwertgefühl. 7 8
Vgl. Anderson-Gold 1984, 34 ff. Vgl. z. B. Katz 1993, 66 ff. A
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Auch wird in diesem Fall nicht das Böse um seiner Selbst willen gesucht. Wenn die Ideologie letztlich böse Ziele und Handlungen propagiert, so werden diese von ihren Anhängern dennoch in einer pervertierten Moral als gut aufgefasst oder es handelt sich für sie um Nebeneffekte, die durch einen angeblich guten Endzustand, den die Ideologie schaffen will, gerechtfertigt sind und zwar ebenfalls durch eine pervertierte moralische Argumentation. In einem solchen Fall würde die erste Stufe einer bösartigen Ideologie vorliegen, die erlaubt, Menschen zu ermorden, um eine angeblich ideale Gesellschaft hervorzubringen. Das Böse in dieser Form lässt sich folglich als eine Argumentation mit Scheingründen verstehen, die nicht unbedingt die Geltung moralischer Grundsätze angreifen muss. Grundsätzlich wäre also ein Verständnis dieser Form eines vordergründig teuflischen Willens als Verkehrung möglich, in der auch Heuchelei und Selbsttäuschung eine Rolle spielen können. Im Einzelnen müsste sich allerdings in der Auslegung einer entsprechenden Grundhaltung zeigen lassen, auf welche Weise die Geltung der Moral bei den jeweiligen Protagonisten außer Kraft gesetzt wird. In diesem Sinn hat z. B. Fred E. Katz die Fälle einiger Nationalsozialisten untersucht und ein plausibles Bild ihrer Bemühungen gezeichnet, die moralische Bedeutung ihres Handelns zu ignorieren und eine zwischen Familienleben und Massenmord zerrissene Existenz zu führen. 9 Auch Baumeister nimmt eine solche Form des Bösen an. 10 Sharon Anderson-Gold und Henry E. Allison 11 ziehen eine Parallele zwischen Kants Ablehnung des teuflischen Willens und Hannah Arendts Konzept der Banalität des Bösen im Fall Eichmann, den auch Katz als Beispiel dafür anführt, wie jemand aufgrund einer bösartigen Ideologie und aufgrund eines pervertierten Pflichtbewusstseins an einem Massenmord teilnimmt, ohne sich scheinbar über die Bedeutung seines Handelns im Klaren zu sein 12 . Im Bezug auf Hannah Arendt, die wegen einer möglichen Verharmlosung des Bösen angegriffen wurde, ist es wichtig festzuhalten, dass sie selbst nicht die Absicht hatte, eine theoretische Abhandlung über das moralisch Böse zu schreiben, auch wenn ihr Buch teilweise so verstanden worden ist. Ihr Anliegen war nicht, die »Banalität« jeder Form des Vgl. Katz 1993, 61. Baumeister 1996, 396 f. 11 Vgl. Allison 2001, 95. 12 Katz 1993, 21–23, 79 f. 9
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Bösen zu behaupten 13 , sondern nur den Einzelfall Eichmann als Phänomen einer neuen Form des Bösen zu beschreiben, deren Monstrosität gerade darin besteht, dass sie nicht teuflisch oder sadistisch ist, sondern auf einem bürokratischen Pflichtbewusstsein beruht 14 . Dadurch hat sie allerdings gezeigt, dass nicht jede Form des bösen Willens sich als teuflisch erweisen muss, die intuitiv als solche erscheint, sondern dass sich Kants Konzeption der Verkehrung möglicherweise erweitern lässt. Möglich wäre eine solche Erweiterung beispielsweise durch die Argumentation mit einer Ausnahme bei der Geltung moralischer Grundsätze, wie sie sich als typisch für die Verkehrung gezeigt hat. Eine solche Argumentation könnte im Fall einer bösartigen Ideologie auf vorgeblich höheren Zielen beruhen, die wichtiger seien als das Einhalten moralischer Prinzipien. In diesem Fall wäre es auch möglich, eine Verkehrung in einer Pervertierung moralischer Grundsätze zu entdecken, wie z. B. im rassistischen Denken. Moralische Prinzipien werden durch dieses nicht grundsätzlich angegriffen, sie sollen innerhalb der jeweils definierten Gemeinschaft durchaus weiterhin gelten. Manchen Menschen wird jedoch durch eine scheinrationale, teilweise auch pseudowissenschaftliche Argumentation die Menschlichkeit abgesprochen und sie werden so aus der Perspektive des Rassisten außerhalb der Reichweite von moralischen Erwägungen gestellt. Insofern dadurch die moralisch gebotenen Pflichten gegen andere direkt angegriffen werden, findet hier der Übergang von einem bösartigen Idealismus zu einem bösartigen Idealismus statt, der direkt gegen die Moral selbst gerichtet ist. In diesem Fall werden die Grundlagen der Moral und des moralischen Zusammenlebens direkt und bewusst mit dem Ziel ihrer Zerstörung angegriffen. Der Mord wird dann nicht mehr nur als Mittel propagiert, um eine ideale Gesellschaft zu errichten, in der es keinen Mord mehr gibt. Sondern der Mord wird propagiert, um eine in diesem Sinn »ideale« Gesellschaft zu ermöglichen, in der Mord kein Verbrechen mehr darstellt, wie es beispielsweise der Marquis de Sade getan hat. 15 Dies wäre der extremste Fall des teuflischen Willens, in dem das Böse nur um seiner selbst willen getan wird, ohne Nutzen für den Einzelnen und aus 13 14 15
Arendt 1986, 54. Vgl. Katz 1993, 80. Sade, D.-A.-F. de: Franzosen, noch eine Anstrengung …, 191 ff. A
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Prinzipien. Es ist schwer vorstellbar, worin die Motivation einer solchen Grundhaltung liegen soll und wie sie verständlich werden kann, wenn sie nicht letztlich doch auf Egoismus oder auf einen »Hass aufs Gesetz« zurückgeführt wird, wie Ricœur ihn beschreibt 16 , und damit auf einen emotionalen Antrieb, der gleichfalls auf die verletzte Eigenliebe zurückzuführen ist. Der Ansicht, dass sich ein teuflischer Wille in dieser Form kaum realistisch konzipieren lassen würde, sind Sharon Anderson-Gold17 und Michael Gelven 18 . Beide sind überzeugt, dass es kaum möglich ist, sich die Motivation eines solchen Willens vorzustellen. Sie wollen jedoch nicht ausschließen, dass solche Versuche nicht doch in der Literatur gelungen sind, wie z. B. im Fall von Shakespeares Jago. Eine genauere Untersuchung solcher Figuren und ihrer Plausibilität vor dem Hintergrund einer systematischen Theorie des moralisch Bösen fehlt jedoch bei Anderson-Gold und Gelven ebenso wie sie ganz allgemein noch aussteht. Der Sadismus als zweite grundlegende Form, die sich aus den häufig angeführten Beispielen für den teuflischen Willen herausarbeiten lässt, wird in einem einfachen Sinn durch die Freude am Leid anderer definiert. Colin McGinn sieht darin die Grundform des moralisch Bösen. 19 Als Böses um seiner selbst willen kann der Sadismus deswegen gelten, weil das Leid, der Schaden oder der Schmerz, die anderen durch ihn zugefügt werden, Zweck einer Handlung sind und nicht nur Mittel zu einem anderen Zweck. Beim Urheber dieser Handlung bezieht sich diese Motivation nicht nur auf einzelne Handlungen, sondern sie ist ein wesentlicher Antrieb seines Handelns insgesamt und ein prägender Bestandteil seines Charakters. Sadistische Handlungen wird man ohne Zweifel als teuflisch bezeichnen können, ohne dabei Widerspruch zu ernten. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass auch Kant manche Laster als teuflisch bezeichnet. 20 »Teuflisch« in diesem Sinn bezeichnet lediglich den Grad der moralischen Abscheulichkeit einer Handlung, ihre Hinterhältigkeit oder den Schaden, den sie verursacht. Man kann diese Wortverwendung bei Kant als Orientierung an der alltäglichen Sprache verste16 17 18 19 20
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Vgl. S. 240 dieser Arbeit. Anderson-Gold 1986, 35. Gelven 1983, 209 f., 214. McGinn 1997, 67. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten. VI, 461.
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hen, der keine systematische Bedeutung zukommt. Davon zu unterscheiden ist der moralphilosophische Sinn, in dem der menschliche Wille auch dann nicht teuflisch ist, wenn er über solche Laster verfügt. Zumindest in diesem engeren Sinn muss auch der sadistische Wille, so wie er zunächst oben verstanden wurde, nicht teuflisch sein. Denn seine Motivation besteht darin, die eigene Befriedigung im Leiden anderer zu suchen, nicht in einem Antrieb, der gegen die Moral selbst gerichtet ist. Wie eine solche Motivation tatsächlich beschaffen sein könnte, wird häufig übergangen. Der Sadist aber müsste nicht aus einer Bosheit heraus handeln, die auf Grundsätzen beruht. Es sind seine sinnlichen Bedürfnisse, die ihn antreiben, keine allgemeinen Überzeugungen. Diese Bedürfnisse bringen ihn in einen Gegensatz zu moralischen Prinzipien. Das Bewusstsein dieses Gegensatzes könnte mit den Begriffen beschreibbar sein, die auch Kant in seiner Konzeption des bösen Willens verwendet: mit Willensschwäche, wenn der Sadist gegen sein Gewissen sadistische Handlungen vollzieht oder mit Selbsttäuschung, indem er sich den Widerspruch zur Moral ausredet oder ihn schlicht verdrängt. Insofern kann man den Sadismus als einen besonderen Fall des Egoismus verstehen, bei dem der Antrieb der eigenen Bedürfnisse für andere besonders bedrohlich ist. Allerdings kann man die Frage stellen, ob Kants Konzeption des Bösen dann zwar in diesem Fall hinsichtlich einer bösen Vernunft nicht zu kurz greift, aber ein zu unschuldiges Bild der Neigungen und der menschlichen Natur zeichnet. In diesem Zusammenhang muss das Bedürfnis, das Leiden anderer zu verursachen und sich selbst so einen sinnlichen Genuss zu verschaffen, besser analysiert und verstanden werden. Diese Erklärung ist von der Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Bösen in der menschlichen Natur abhängig und angeborene sadistische Neigungen müssten als Möglichkeit in Erwägung gezogen werden. Das Resultat dieser Überlegungen müsste dann mit der These Kants verglichen werden, dass die Sinnlichkeit keinen Anteil am Bösen hat. Der Konflikt mit moralischen Prinzipien, in den der Sadist durch seine Bedürfnisse gerät, kann jedoch noch zu einer weiteren Grundhaltung führen, deren Verständnis innerhalb einer kantischen Konzeption des Bösen Schwierigkeiten bereitet. Der Sadist könnte zu einer Grundhaltung gelangen, die aus Überzeugung gegen die Moral gerichtet ist und die aus allgemeinen Grundsätzen darauf ausgerichtet ist, Moralität allgemein zu untergraben und zu zerstören. Der A
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Antrieb zum Handeln wäre dann nicht nur der Sadismus, sondern ein aus sadistischen Neigungen zusätzlich hervorgehender »Hass auf das Gesetz« wie ihn Ricœur in der Symbolik des Bösen beschreibt. Dieser Hass auf das Gesetz werde durch das Gefühl der Ohnmacht gegenüber der »unendlichen Forderung« des Gesetzes hervorgebracht. Diese unendliche Forderung steht nach Ricœur im Zusammenhang mit den Bemühungen der Pharisäer, den Alltag bis ins kleinste Detail nach den Geboten Gottes zu regeln. Damit betrifft der Hass aufs Gesetz zunächst nicht die moralische Autonomie. Ricœur verwendet jedoch dieses Muster als Ausgangspunkt für den Zustand des Willens unter der Herrschaft der Leidenschaften. 21 Hier wird das Gesetz, und zwar auch die moralische Autonomie, zur feindlichen Transzendenz. Wenn die Moralität als Kränkung des Selbst empfunden wird, weil durch sie die eigenen Neigungen und Leidenschaften zurückgewiesen werden, wird ein Hass auf die Moral und auf moralische Personen verständlich, wie ihn beispielsweise der Marquis de Sade in endlosen Litaneien der Amoral seinen Protagonisten in den Mund legt. Hier liegt der Fall einer direkt moralfeindlichen Haltung vor, die sich aus Grundsätzen speist, die gegen die Moral gerichtet sind. In seinem Pamphlet Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner bleiben wollt drückt de Sade genau eine solche Feindschaft gegenüber Gesetzen aus, die das menschliche Zusammenleben regeln sollen. Das Eintreten de Sades für Straffreiheit bei Diebstahl, Verleumdung, sexuelle Ausschweifungen jeder Art und Mord gipfelt in der Absage an jede allgemeine sittliche und moralische Gesetzgebung. 22 Dem einzelnen Individuum mit seiner jeweiligen natürlichen Veranlagung sei es nicht möglich, bestimmte Gesetze einzuhalten. Die individuelle Freiheit würde durch jede Art von Gesetz unterdrückt und zerstört. Dabei nimmt den größten Raum die Verteidigung der sexuellen Freiheit gegenüber jeder Art des Verbots ein, insbesondere die Ausübung sadistischer Neigungen. Ohne auf die verschiedene Bandbreite der möglichen Interpretationen des Pamphlets einzugehen und der Gedanken de Sades insgesamt, was den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, ist doch Folgendes festzuhalten: die Fantasien de Sades – auch wenn sie lediglich Parodien des Gedankenguts der Aufklärung sein mögen, wie teilwei21 22
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Ricœur 1950, 23. Sade, D.-A.-F. de: Franzosen, noch eine Anstrengung …, 167.
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Der teuflische Wille
se vermutet wurde, und in sich wenig konsistent – stellen doch für sich genommen den Versuch dar, eine gegenmoralische Grundhaltung zu rechtfertigen und ein zerstörerisches Handeln aus dieser heraus zu propagieren. Gleichzeitig zeigt die Auslegung der Motivation dieser Grundhaltung, dass sie nicht lediglich als abstrakte Entscheidung gegen die Moral verstanden werden muss, sondern ebenfalls auf egoistischen Motiven beruhen kann, den sadistischen Neigungen. Grundsätzlich ist diese Haltung daher in ein Modell der Verkehrung integrierbar, wenn ihre Gründe als Scheingründe entlarvt werden. Entgegen der immer wieder geäußerten Ansicht, de Sade habe die Aufklärung mit ihren eigenen Waffen geschlagen und den Glauben an Natur und Vernunft ad absurdum geführt, dürfte eine solche Widerlegung nicht schwer fallen. Wie wenig de Sade tatsächlich rational argumentiert und ein Vertreter der Aufklärungsphilosophie ist, der sie lediglich bis in ihre radikalsten Konsequenzen weiterdenkt, zeigt beispielsweise Jacques Domenech detailliert auf. 23 Auch Winfried Schröder hat kürzlich auf den keinesfalls aufklärerischen und rein rationalen »naturphilosoph-metaphysischen Vitalismus« de Sades hingewiesen. 24 Dennoch hat de Sade einen bösartigen Bereich der menschlichen Neigungen aufgezeigt und eine gegenmoralische Argumentation, die über das hinausgehen, was Kant in der Religionsschrift als Extrem des Bösen augenscheinlich konzipiert hat. Denn für Kant scheint die menschliche Sinnlichkeit keine derart bösartige Form annehmen zu können und es ist fraglich, ob die These noch zutrifft, dass hier der Gehorsam gegenüber dem moralischen Gesetz nicht rebellisch aufgekündigt wird, auch wenn die Gründe, die angeführt werden, sich lediglich als Scheingründe erweisen. Als vernünftig lässt sich eine derartige Argumentation dennoch nicht verstehen, es sei denn man will die Selbstzerstörung des Menschen, in die das Denken de Sades mündet 25 , als vernünftig bezeichnen. Daher kann man auch hier noch davon ausgehen, dass kein teuflischer Wille vorliegt, der von einer boshaften Vernunft angetrieben wird, sondern nur ein Anschein von Vernünftigkeit. Wenn man aber den Begriff des Bösen als Verkehrung so weit ausdehnen kann, dass er auch diese Form des bösen Willens noch 23 24 25
Domenech 1989, 220 f. Schröder 2002, 136. Vgl. Bataille 1987, 98 ff. A
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umfasst, dann erhält er möglicherweise gegenüber der nach Kant möglichen Verkehrung von Selbstliebe und Moral eine erweiterte Bedeutung. Die Korruption der durch diesen Willen verkörperten Sinnlichkeit und die propagierten Grundsätze scheint schwerwiegender zu sein, als das was Kant in seiner Konzeption der Verkehrung beschreibt. Die Fiktionen de Sades werfen die Frage nach der Wirklichkeit des bösen Willens in einer neuen Form auf und verweisen auf die Möglichkeit einer durch Grundsätze gestützten, bösartigen Sinnlichkeit, die zum Bösen in der menschlichen Natur hinzukommen könnte. In der Literatur der Moderne besitzen diese Fiktionen eine weitreichende Wirkungsgeschichte 26 und einige Denker wie Sollers oder Bataille sehen de Sade durch das 20. Jahrhundert weitgehend bestätigt 27 . Aber auch wenn die Sinnlichkeit bösartigere Formen annimmt und die Argumentation gegen die Moralität selbst auf der Prinzipienebene im vollen Bewusstsein der Bedeutung der Moral geführt wird, so gibt doch die korrumpierte Sinnlichkeit die Motivation, moralfeindliche Grundsätze zu formulieren. Zu ergründen wäre in einer Empirie des Willens, wie die Korruption der Sinnlichkeit zustande kommt und mit welchen Grundsätzen sie gerechtfertigt wird. Auf der Grundlage eines auf diese Weise bösen Willens könnte beispielsweise verständlich werden, wie zwischenmenschliche Verhältnisse entstehen, in denen die Moral bewusst völlig zerstört wird und »Kulturen der Grausamkeit« ebenso bewusst erzeugt werden, wie sie beispielsweise Fred E. Katz beschreibt. 28 Eine solche Kultur der Grausamkeit besteht für Katz darin, dass innerhalb einer bestimmten Gruppe aus freiem Entschluss Grausamkeiten nach einem durch Autoritäten vorgegebenen Schema ausgeführt werden. Die Grausamkeit wird schließlich gesteigert durch den Erfindungsreichtum der Einzelnen und die gegenseitige Anerkennung unter den Tätern steigt, je größer dieser Erfindungsreichtum ist. Die Bereitschaft an einer solchen Kultur der Grausamkeit teilzuhaben und Genuss daran zu finden scheint unter manchen Umständen so groß zu sein, dass eine Neigung dazu in der menschlichen Natur vermutet werden könnte. Zum Zweifel an der Unmöglichkeit des teuflischen Willens tritt daher durch den reflektierten Sadismus der Zweifel an der Unschuld der Sinnlichkeit hinzu. Festzuhalten bleibt, dass ein teuf26 27 28
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Vgl. Breton 1966. Sollers 1996, 11; Bataille 1987, 112 ff. Katz, 1993, 83 ff.
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lischer Wille in der Form, dass er aus rein abstrakten Vernunftgründen auf Prinzipienebene nur um dieses Widerspruchs willen gegen die Moralität selbst gerichtet ist, weiterhin als unplausibel gelten kann. Der »faule Fleck der Gattung« allerdings, den Kant ausgemacht hatte, könnte sich als dunkler erweisen, als der Königsberger Philosoph vermutet hatte.
3.
Das Böse in der menschlichen Natur
Kant und Paul Ricœur haben gleichermaßen, versucht die Möglichkeit zum moralisch Bösen in der menschlichen Natur zu bestimmen. Der Hang zum Bösen und die Fehlbarkeit des Menschen sind die Resultate dieser Bemühungen. Bei allen Unterschieden dieser Konzeptionen besteht ihre große Gemeinsamkeit darin, dass sie die Möglichkeit zum Bösen oder seinen Ursprung nicht in die Sinnlichkeit verlegen. Ganz allgemein basiert die Verkehrung, die beide im moralisch Bösen sehen, auf einer moralisch falschen Rangordnung und Vermittlung zwischen den Bestrebungen der Selbstliebe und der Vernunft. Bei Ricœur ist es erst eine schlechte Verbindung von Vernunft und Sinnlichkeit, die das Böse hervorbringt. Erst wenn die Vernunft eine untergeordnete Rolle einnimmt und gleichzeitig die thymischen Bestrebungen nach Grundgütern, in denen sich der unendliche Pol der menschlichen Natur abbilden kann, zu den Leidenschaften werden, kommt es zum Bösen, das in dieser Form nur dem Menschen möglich ist. Die Problematik des teuflischen Willens hat gezeigt, dass diese Bestimmung des Bösen möglicherweise zu kurz greifen könnte, was den Anteil der Vernunft betrifft. Der Sadist, dessen Neigungen von de Sade selbst auf die Natur zurückgeführt werden, wirft das Problem auf, ob es Neigungen zum Bösen gibt, die angeboren sind, also in der biologischen Beschaffenheit des Menschen begründet sind. Die Ansicht, dass das Böse auf das biologische Erbe der Menschheit zurückzuführen sei, hat Georg Picht in einem kurzen Aufsatz geäußert. 29 Es sei offensichtlich, dass das Leben ambivalent sei und Grausamkeit, Gewalt, Tücke, Verschlagenheit und Hinterlist sich als Strategien des Lebens in der Evolution durchgesetzt hätten. Picht ge29
Picht 1981, 487 ff. A
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steht zwar dem Menschen eine Sonderstellung aufgrund der Erkenntnis von Gut und Böse zu, hält es aber für einen großen Fehler, die Natur nicht mit einzubeziehen, in welcher der Mensch sein eigenes Böses wiedererkennen sollte. In vielen Phänomenen der Moderne sieht er kein moralisch Böses am Werk, das der Einzelne selbst durchschauen könnte und als solches wollte, sondern den atavistischen, biologischen Mechanismus eines Freund-Feind-Denkens. Unterstützung erhält Picht weniger von Philosophen als von Biologen, insbesondere von Vertretern der Soziobiologie, wie z. B. Franz M. Wuketits und Lyall Watson. Die Soziobiologie erweitert die Evolutionstheorie dadurch, dass sie den Protagonisten der Selektion nicht im Individuum und in Arten sieht, sondern im Genom. Dadurch werden vom Standpunkt der Evolution vorteilhafter Verhaltensweisen solche verständlich, die nach der klassischen Evolutionstheorie eigentlich ein Nachteil für den Träger dieser Eigenschaft sein müssten. Zu solchen gehören altruistische Verhaltensmuster, die dem Individuum nichts nützen, jedoch seinen nächsten genetischen Verwandten. Ebenso gehören destruktive Verhaltensformen dazu, die dem Überleben der Art abträglich sind, aber die Chancen der Verbreitung der eigenen Gene verbessert. 30 Es stellt sich die Frage, ob sich hier eine Erklärung von sadistischen Neigungen finden lässt. Watson leitet aus den Grundannahmen der Soziobiologie drei Regeln ab, durch die allgemein Verhaltensstrategien von Organismen erklärt werden sollen, die zur Schädigung anderer Lebewesen führen, gleichgültig ob es sich dabei um Angehörige derselben Art oder anderer Arten handelt. Diese schlichten Regeln lauten: »Sei gemein zu Fernstehenden, sei nett zu Nahestehenden und betrüge, wo Du kannst«. 31 Einmal vorausgesetzt, die Grundannahmen der Soziobiologie seien korrekt, lassen sich aus Watsons Regeln Erkenntnisse über eine mögliche sadistische Natur des Menschen ableiten? Watsons Regeln besitzen eine Gemeinsamkeit, die sich aus dem evolutionstheoretischen Ansatz ergibt. Sie erklären ein Verhalten, das der Verbreitung der Gene eines Organismus dient und definieren den Nutzen einer beliebigen Verhaltensstrategie dadurch, ob es für dieses Ziel als geeignet angesehen werden kann. Wird dann die Parallele zu menschlichen Verhaltensweisen gezogen, die als böse gelten können, lassen sie sich auf dieser Grundlage nur noch als Strate30 31
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Vgl. Wilson 1976. Watson 1997, 376.
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Notwendigkeit einer Empirie des Willens
gien eines skrupellosen Egoismus interpretieren, der eventuell noch übertragbar ist auf Gruppenegoismus und Gewalt gegen Fremde. Allein dadurch zeigt sich diese Vorgehensweise als ungenügend. Sie blendet von vorneherein die Möglichkeiten des Sadismus aus, da in der funktionalen Verkürzung des schädigenden Verhaltens ein solcher Sadismus nicht vorgesehen ist. Eine Neigung, das Leiden anderer vor allem sexuell zu genießen, in dem extremen Grad, den de Sade beschreibt, also bis zum Mord, ist vom Standpunkt der Verbreitung der Gene aus nicht zu erklären. Ebenso rückt ein möglicher teuflischer Wille, der im Bewusstsein der Moral gegen die Moral handelt, in dieser Erklärungsweise nicht ins Blickfeld. Es bleibt dann lediglich die Erklärung von Phänomenen mit Hilfe von Watsons Regeln übrig, wie eine größere Gefährdung von Kindern durch Stiefeltern als durch die leiblichen Eltern. 32 Auch die Bereitschaft zur Gewalt gegenüber Personen, die nicht zur eigenen Gruppe gehören, kann vielleicht noch auf Watsons Regeln für evolutionär begünstigte Verhaltensstrategien zurückgeführt werden. Letztlich zeigt jedoch die Problematik einer durch das biologische Erbe begünstigten bösen Natur des Menschen erneut die Notwendigkeit einer Empirie des Willens auf. Denn erst eine solche Untersuchung könnte aufzeigen, welche Formen des Bösen tatsächlich vorausgesetzt werden können, indem sie im Bewusstsein der Problematik des teuflischen Willens und der sadistischen Neigungen durchgeführt wird. Als abschließender Ausblick sollen noch einige Grundzüge einer solchen Empirie des Willens dargelegt werden.
4.
Notwendigkeit einer Empirie des Willens
Während Kants Konzeption des Bösen als Verkehrung das Problem einer nicht-reduktiven Theorie auflösen kann, zeigen die drei möglichen Formen des teuflischen Willens die Grenzen einer rein begrifflichen Untersuchung auf. Es lassen sich zwar in einem systematischen Zusammenhang die Gründe des bösen Willens als Scheingründe zurückweisen. Aufgrund von teleologischen Überlegungen lässt sich das Scheitern einer bösen Lebensform ebenfalls darlegen. Die Motivation und die Rechtfertigung der verschiedenen Formen des teuflischen Willen, die allgemein in groben Züge be32
Watson 1997, 288. A
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Schlussbetrachtung und Ausblick
schrieben worden sind, lassen sich jedoch nur anhand von konkreten Einzelfällen feststellen und genauer analysieren. Literatur und Geschichte erweisen sich als der Raum, in dem ständig neue Formen des bösen Willens entstehen. Für die Ethik, die Theorie des Handelns und der praktischen Rationalität, die das Problem des moralisch Bösen nicht übergehen sollten, besteht daher die Notwendigkeit diesen empirischen Formen gerecht zu werden. Eine entscheidende Anregung für eine derartige Untersuchung kann von Paul Ricœurs Gedanken einer Empirie des Willens ausgehen. In einer solchen Empirie sollten die Erscheinungsformen des Willens unter dem Regime der Leidenschaften dargestellt werden, so wie sie in der Literatur und dem täglichen Leben zu finden sind. Es hat sich gezeigt, dass Ricœurs Verständnis der Leidenschaften als alleiniger Erscheinungsform des bösen Willens zu kurz greift gegenüber der kühl kalkulierenden Kriminalität ebenso wie gegenüber dem staatlich geplanten und bürokratisch umgesetzten Massenmord des Nationalsozialismus oder Stalinismus. Auch methodisch bleibt die Empirie des Willens von Ricœur noch unbestimmt. Wesentliche Anregungen könnte diese Empirie jedoch von einem anderen methodischen Konzept Ricœurs erfahren: von der hermeneutischen Phänomenologie. Eine phänomenologische Untersuchung könnte die Empirie des Willens zunächst in einem einfachen, deskriptiven Sinn sein, indem in ihr versucht wird, einen Bereich der Erscheinungen möglichst vollständig zu beschreiben. In einem nächsten Schritt lässt sich auch der Gedanke der Intentionalität von Bedeutungen bei der Auslegung bestimmter Aspekte des bösen Willens und entsprechender Handlungen anwenden. Während die phänomenologische Untersuchung die Grundlage liefert, müsste der hermeneutische Teil die Ergebnisse interpretieren. Diese Auslegung könnte angeleitet sein von den Fragen, die durch die Untersuchung der moralisch Bösen innerhalb der ethischen Systematik aufgeworfen werden. Als Themen sind die Motivation, die Grundsätze und der mögliche Ursprung der Motivation in der menschlichen Natur nahe liegend, deren rein biologisches Verständnis in diesem Fall zu kurz greift. Den Rahmen für diese Auslegung für die Interpretation als allgemeine Muster können bei diesem Vorgehen die verschiedenen möglichen Konzeptionen des bösen Willens und seiner Vorstufen bilden: die Verkehrung, die denkbaren Formen des teuflischen Willens, Willensschwäche und Heuchelei. Auch die Resultate der Symbolik des Bösen können herangezogen werden, um 244
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zu prüfen, ob sich die Schemata des unfreien Willens auch in aktuellen Bekenntnissen und Beschreibungen des bösen Willens wiederfinden lassen. Wie aber lassen sich die Gegenstände einer solchen Empirie des bösen Willens auffinden? Zu diesem Zweck lassen sich die beiden Grundformen des Lasters verwenden, die Kant benennt: die ungereizte Grausamkeit und die falsche Freundschaft. Die Grausamkeit, die durch das Prädikat »ungereizt« als spezifisch menschliche qualifiziert wird, kann dabei als die elementare Erscheinungsform des Bösen gelten. Denn in ihr kommt der maßlose, zweckfreie, erfindungsreiche und schädigende Charakter des moralisch Bösen zum Vorschein. Ohne dass der Begriff des Lasters beibehalten werden muss, bietet die Unbestimmtheit und Allgemeinheit des Begriffs einer ungereizten Grausamkeit, die Möglichkeit eine Vielzahl menschlicher Handlungen und komplexer Phänomene in eine Systematik zu bringen. Eine Phänomenologie der Grausamkeit müsste, ähnlich wie Wolfgang Sofskys Traktat über die Gewalt – gleichsam in dunklen Grundsituationen des menschlichen Lebens – wiederkehrende Formen der Grausamkeit beschreiben, zu denen Folter, Massaker und Pogrome gehören. 33 Der allgemeine Charakter dieser Situationen kommt für Sofsky in seiner elementaren Gestalt Formen des Mythos gleich. 34 – ein Gedanke, der an Ricœur erinnert. Zu deuten wären die Instrumente, die Situationen, die Täter und die Opfer, die besondere Intention, die Rechtfertigung und die Zwecke, die in diesen Erscheinungsformen des Bösen strukturell wiederkehren. Ebenso wären Untersuchungen von Einzelfällen heranzuziehen, wie diejenige von Katz und Hannah Arendt. Diese Phänomenologie der Grausamkeit wäre zu ergänzen durch eine Phänomenologie der bösartigen Lüge und des Betrugs, deren exemplarische Form die falsche Freundschaft ist. Paul Ricœur hat darauf hingewiesen, inwiefern die Pervertierung der Freundschaft durch das Böse die elementare Zerstörung des guten Lebens in zwischenmenschlichen Verhältnissen darstellt. Die bösartige Täuschung des Anderen durch den Missbrauch der Freundschaft erscheint als die perfideste Form der Lüge. Ergänzt werden könnten die Phänomenologie der Grausamkeit und die des Betrugs durch einen dritten Teil, der den literarischen 33 34
Vgl. Sofsky 1996. Sofsky 1996, 10 f. A
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Imaginationen dieser beiden Grundformen des Bösen gewidmet ist. Literarische Figuren wie Shakespeares Jago oder Melvilles Claggvill aus Billy Budd, Sailor werden immer wieder als Belege für die Möglichkeit des teuflischen Willens angeführt. Nach der Überzeugung von Karl-Heinz Bohrer soll sich die Imagination einiger Schriftsteller dem Phänomen des moralisch Bösen angemessener annähern als diejenige der Philosophen. Die Plausibilität dieser fiktiven Figuren muss jedoch ebenfalls zuerst nachgewiesen werden, bevor sie den empirischen Teil der Moralphilosophie bereichern können. Hinsichtlich des Bösen wäre auch dies die Aufgabe einer Empirie des Willens, ihr Motto könnte der folgende Gedanke von Paul Ricœur sein: Die Gedankenexperimente, die wir im großen Laboratorium der Einbildung durchführen, sind auch Forschungsreisen durch das Reich des Guten und des Bösen. Etwas umzuwerten, möglicherweise sogar abzuwerten bedeutet immer noch, es zu bewerten. Das moralische Urteil ist nicht abgeschafft, es ist vielmehr selbst den der Fiktion eigenen imaginativen Variationen unterstellt. 35
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Ricœur 1990, 201.
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Danksagung
Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Otfried Höffe, der die Arbeit von Beginn an mit Kritik und Anregungen hervorragend betreut hat, möchte ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen. Ohne seine Ermutigung hätte ich mich nicht an das Thema herangewagt. Auch den Teilnehmern des Oberseminars von Herrn Professor Höffe gilt mein Dank für konstruktive Kritik, die mir an vielen Punkten weitergeholfen hat. Für gründliche und kritische Korrekturen möchte ich ebenfalls Franziska Remeika danken. Ebenso für seine Unterstützung Herrn Dr. Eberhard Zwink von der Württembergischen Landesbibliothek, dessen bibliothekarische Neugier und Offenheit sehr hilfreich für meine Arbeit war. Danken möchte ich Herrn Trabert für die Aufnahme in das Verlagsprogramm und den Mitarbeitern des Alber-Verlags für die freundliche Zusammenarbeit. Schließlich auch den Herausgebern der Reihe »Praktische Philosophie« dafür, dass sie das Buch in die Reihe aufgenommen haben.
A
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Namenregister
Allison, H. 54, 61, 103, 114, 118–119, 234 Anderson, P. S. 161–163, 167–170, 236 Anderson-Gold, S. 102, 234, 236 Arendt, H. 234, 245 Aristoteles 128, 189, 197, 200, 202–203, 206 Augustinus 20 Bataille, G. 240 Baumeister, R. F. 35–36, 234 Blumenberg, H. 123 Bohrer, K.-H. 246 Bohatec, J. 52, 82 Brandt, R. B. 47
Hearne, S. 86 Hegel 20, 146, 161, 163–164 Heilmann, J. D. 82 Henrich, D. 122–123 Höffe, O. 18 Holzhey, H. 17, 19, 22–25, 31, 40, 126 Hügli, A. 17, 25 Husserl, E. 143–150, 152, 154, 157–162, 165, 172, 187 Ihde, D. 191–192 Jaspers, K. 15, 94, 101, 105–107 Jervolino, D. 143 Kafka, F. 217 Kant 11, 12, 14, 20–22, 27, 33, 43, 48, 50– 140, 146–148, 160, 162, 166–168, 176– 178, 182–184, 187, 189–190, 194, 196– 197, 200, 202, 206, 209, 220–224, 228, 230–231, 236, 240 Kapferer, N. 25 Katz, F. E. 233–234, 240, 145 Kvist, H.-O. 51
Calvin, J. 45 Card, C. 16, 132–134 Cook, J. 86 Davidson, D. 129 Delbos, V. 120 Descartes 185 Domenech, J. 239 Dosse, F. 163 Douglas, J. 86
Leeuwen, T. M. van 191 Leibniz 19, 25, 31 Lorenz, K. 26 Luther 138, 182
Euripides 129 Gadamer, H.-G. 157 Gelven, M. 236 Goethe 50 Greisch, J. 163 Grimm, J. u. W. 28–29, 32 Hare, R. M. 15, 39–40, 128–131 Hartmann, K. 151–152
Marcel, G. 143, 146, 148, 167 Marquard, O. 15, 19 McGinn, C. 16, 236 Melville, H. 246 Mérleau-Ponty, M. 148, 154 Milo, R. D. 15, 20, 128, 130–131
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Namenregister Nabert, J. 143 Neimann, S. 16, 35, 135 Oelmüller, W. 15, 19–20 Pascal 175, 185–186 Paulus 217 Picht, G. 241 Platon 20, 175, 185–186, 191 Prauss, G. 57–59, 102, 114, 117–120 Rawls, J. 15, 35, 207 Reboul, O. 101, 114, 120, 123 Reinhold, K. L. 57–58 Ricœur, P. 12, 14, 25, 71, 111, 135, 136– 224, 228, 230, 231, 245, 246 Rommel, H. 14 Rousseau 62 Sade, D. A. F. de 23, 45, 232, 235, 238– 240, 243 Safranski, R. 14 Sartre, J.-P. 148, 154
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Scheler, M. 150 Schmid, C. C. E. 57–58 Schmidt-Biggemann, W. 17 Schröder, W. 239 Schulte, C. 19, 51, 54, 56–59, 63, 74, 76– 77, 102, 114–117, 119, 135 Schulz, W. 15 Seneca 62 Shakespeare 232, 236, 246 Silber, J. 102 Sofsky, W. 245 Sollers, P. 240 Solomon, R. C. 181 Vossenkuhl, W. 15 Waldenfels, B. 151–153, 185, 187, 192 Watson, L. 242–243 Weil, E. 61, 120, 162 Wimmer, R. 51, 102, 104 Wolf, J.-C. 14, 20 Wöllner, J. C. von 51 Wuketits, F. M. 242
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Sachregister
A priori 54–55, 59–60, 90–91, 165–166 Abschattung 187 Absicht 9, 30, 33- 35, 175, 202–203 Achtung 74, 76, 79, 93, 103, 116, 124, 189–190, 194, 197–199, 207, 212, 221 Affekt 9, 34, 89, 181, 188, 190–191, 196, 199 Affektion 191–193, 218 Aggression 26, 30, 31, 34, 37, 45–46, 87 Allegorese 215 Allgemeinheit des Bösen 34–35, 52, 66– 67, 70, 78, 83–85, 90, 92, 94, 100, 111– 113, 125, 183 Alltagsmoral 32–37, 41, 43, 48, 178, 225– 226 Alltagssprache 10, 28, 32–38, 40–46, 63, 225–226, 236 Altes Testament 62, 216 amartia (s. Verblendung) 217 Amoralität (amorality) 39–40, 63, 128, 130, 238 Andere(r) 26, 165, 189–190, 195, 199, 201–210, 213, 235–237, 245 Anerkennung 33, 71, 73, 75, 190, 194– 199, 205, 210, 240 Anerkennung des Sittengesetzes 79, 108 Anklage (s. Symbolik des Bösen) 217 Anlage der Menschheit (zur Geselligkeit) 71–72, 74–76, 87 Anlage der Persönlichkeit 71, 73–74, 76– 77, 108, 112, 116, 130 Anlage der Tierheit 71–72 Anlagen zum Guten 70–77, 86–87, 91, 108, 121, 133, 184, 222–223, 230 Anschauung von Bewusstseinsinhalten 158–159
Ansteckung (s. Schemata der Passivität) 160, 218, 223 Anthropologie 55, 59–61, 70, 74, 87, 89, 136–137, 168, 174, 176, 181, 184–190, 193, 196–198 Antilegalismus 217 Anziehungskraft des Bösen 218 Argumentation, transzendentale 54, 85 Ascetik, moralische 61 Ästhetisierung des Bösen 19–20 Aufklärung 50, 62, 70, 183, 238–239 Ausrichtung, ethische 155, 189, 200–201, 204–212, 221, 230 Äußerlichkeit (s. Schemata der Passivität) 218, 223 Autonomie 11, 54, 57–58, 61, 74, 114– 115, 117–122, 160, 169, 171, 184, 206– 207, 212, 220, 238 Banalität des Bösen 234–235 Befleckung 215–216, 218 Begehren 78, 81, 89, 188, 191, 193–194, 198–199, 206 Begehrungsvermögen 70 Begierde 195 Begriffsbestimmung des Bösen 9, 10–11, 18–19, 24–28, 49, 54, 56, 62–69, 79– 80, 90, 93, 95, 125, 127, 166, 174–176, 178, 184, 196, 198, 225, 227 Bekenntnis, religiöses 214–215 Bekenntnissprache (s. Symbolik des Bösen) 139, 156, 158, 160, 178, 214, 216, 218–219, 228 Besitz 72, 194–199, 205 Besserung, moralische 56, 87, 102, 105, 116 Betrug 132–133, 245
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Sachregister Bewegung 149, 171 Bewusstsein des Bösen 10–12, 35, 41–42, 54, 56, 69, 94–113, 126–128, 214, 217, 243 Bewusstseinsakte 145, 151, 153, 157 Bewusstseinsimmanenz 139, 159 Bezeugung (attestation) 203 Bösartigkeit (s. Stufen des Hangs zum Bösen) 72, 79, 81, 83–84, 87, 91, 95– 102, 105, 107–112, 118, 122, 124, 130– 133, 237 Böses um des Bösen willen (s. Wille, teuflischer) 35–36, 39, 103–104, 126, 131, 221, 228, 231, 234 Böses, angeborenes 55, 65–66, 68, 78, 80, 83–84, 91–92, 97–100, 106, 109–113, 124–126, 182, 241 Böses, radikal 11, 23, 48, 50–135, 173, 183, 190, 110, 227 Böses, sogenanntes 26–27, 31, 37 Bosheit 33, 34, 237 Charakter 34, 58, 63, 65–66, 83, 97, 101– 102, 154, 174, 179, 188–189, 197–199, 207, 222, 230 Christentum 217 Cogito 137, 143, 145–146, 150–151, 153– 154, 165, 172 Conditio humana 186 connaturalitas 192 Deduktion, transzendentale 55, 167, 220 Demut, falsche (s. Laster) 88 Deontologie 141, 150, 170, 199, 200–201, 204–207, 212 Destruktives 46, 111, 225, 242 Determinismus 39–40, 43–47, 129, 140, 169 detour, long (langer Umweg) 139 Dezisionismus 116 Dialektik 139, 159, 164, 200 Differenz 194, 196 Ding an sich 165 Disproportion 185, 188–192 Dogmatik, moralische 61 Dogmatik, christliche 52, 82 Dualismus 145
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Egoismus 9, 34, 36, 46, 89, 105, 109–110, 127, 131, 134, 221, 228, 233, 236–237, 239, 243 Ehre 87 Ehrsucht (s. Leidenschaften) 89, 194–195, 198, 223 Eidetik 143, 151–153, 171 Eidos 159, 180 Eifersucht (s. Laster der Kultur) 72, 97 Einbildungskraft, transzendentale 168, 187, 189, 194 Einsicht, sittliche 122–123 Elend 175–178, 185–186, 188, 197 Empirie des Willens 12, 140–142, 176, 179, 220, 229, 232–233, 240, 243–246 Empörung 205, 210, 226 Endliches und Unendliches 168, 185–189, 191–193, 222 Endlichkeit 45, 136, 155, 157, 159, 165, 167–169, 172–176, 181, 185–189, 191– 193, 206, 220, 222 Entscheidung 11, 26, 34–35, 42–43, 63, 81, 110, 116–117, 119, 126, 171, 202, 218, 229–230, 239 Entwicklung der Persönlichkeit 71, 93– 113, 128, 182, 229–230 Epithymia 191, 193 Epoche, phänomenologische 145, 152 Erbsünde 45, 50–53, 56, 61–62, 82–83, 100, 127, 182–184, 215, 222, 227 Ergon (des Menschen, s. Tätigkeit) 189, 197 Erkenntnis, theoretische 137, 165–168, 172, 186–187, 197 Erkenntnis, moralische 34, 53–56, 59, 79– 80, 90, 155, 157–159, 242 Erkenntnisvermögen 137, 167, 186, 192 Eros 186, 191, 193, 195 Erscheinungsformen des Bösen (s. Wirklichkeit des Bösen) 11–12, 17, 27, 72 85–93, 132, 135, 138, 141, 155, 174, 179–180, 208, 213, 220, 225, 229, 232, 244–245 Ethik und Moral 200–202, 221 Evolution 26, 241–242 Existenz 25, 116, 144, 148, 179, 184–189, 234 Existenzialismus 143–146, 162, 164, 167
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Hans-Jörg Ehni
https://doi.org/10.5771/9783495996997 .
Sachregister Faktum der Vernunft 73–74 Fehlbarkeit 12, 111, 162, 168, 180–197, 211, 213–214, 219, 222–223, 241 Folter 48, 208, 232, 245 Forderung, unendliche 238 Formalismus (der Ethik) 208- 210, 212 fragilitas (s. Gebrechlichkeit) 82 Freiheit 11, 16, 25–27, 38–39, 42–48, 58– 69, 70, 73, 78, 80, 89–90, 92–93, 95– 101, 109–110, 113–124, 127, 140–141, 145, 148, 152, 155, 163, 166, 169–178, 180–181, 183, 196, 211, 214–221, 223, 227, 229, 231, 238 Freundschaft 203, 205, 213 Freundschaft, falsche 11, 178, 180, 208, 213, 245 Funktionalisierung des Bösen 20, 25–26 Fürsorge 201, 203–209 Gabe (des Symbols) 219 Gebot, göttliches 238 Gebrechlichkeit (des Willens) 79 Gefühl 137, 181, 190–194, 198–199, 209– 210 Gefühl, moralisches (s. Achtung) 76, 210 Gefühl, ontologisches 193, 198 Gelten (s. Anerkennung) 195–198 Geltung 33, 61, 103, 108–109, 123–124, 234–235 Gemüt 89, 191, 194–198 Gerechtigkeit 201–205, 207, 210 Gerechtigkeitssinn 202, 204, 210 Gesetzlosigkeit 72, 86 Gesinnung 32, 34–35, 37, 63–68, 74, 76, 84, 96, 100–101, 106–108, 116 Gewalt (s. Erscheinungsformen des Bösen) 87, 204, 207–211, 213, 241, 243, 245 Gewissen 217, 237 Gleichheit 72, 203–205 Glück 175, 189, 192–193, 196–199, 207 Glückseligkeit 89, 189, 193–195 Goldene Regel 208–209 Grausamkeit 28, 48, 87, 180, 240–241 Grausamkeit, ungereizte 11, 86–88, 133, 178, 245 Grund, subjektiver G. des Handelns 64– 69, 76, 95
Grundgüter (primary goods) 132, 205, 241 Grundhaltung, moralische 9–10, 34, 38, 39, 62, 64–66, 68–69, 81, 88, 96–97, 123, 125, 127, 130, 133, 228, 230, 233– 234, 236–237, 239 Grundübel (basic evils) 132 Gutes, moralisch 11, 16–17, 20–27, 33– 37, 40–48, 63–64, 68, 79, 92, 116–123, 126, 201, 225–227, 242 Gutes, uneingeschränkt 33, 47, 66, 206– 207 Haben (s. Besitz) 195, 199, 208 Habsucht (s. Leidenschaften) 89, 194, 198, 223 Handeln aus letzter Selbstverantwortung 160 Handlung 9, 19, 26, 30–38, 54–56, 63–69, 73, 75, 77, 79, 81, 83, 91–92, 95–96, 103, 106–107, 120, 127, 129, 132, 134, 174, 188, 193, 201–202, 204, 208, 210, 212, 225–226, 233–234, 236–237 Handlung, mit Bewusstsein gesetzwidrige 54, 56, 63, 68–69, 93, 107–108, 127, 228 Handlungstheorie 171 Hang zum Bösen 11, 56, 60, 65, 70, 78– 84, 88, 90–102, 105, 107, 109–113, 118, 122–125, 129–130, 162, 166, 182, 184, 191, 222–223, 241 Hass 34 Hass auf das Gesetz 217, 236, 237 Heiliges 141 Hermeneutik 136–137, 139–142, 144, 147–148, 151, 155–167, 172, 177, 214– 215, 219 Hermeneutik, wiederherstellende 164 Herrschaft 194, 204 Herrschsucht (s. Leidenschaften) 89, 194, 198, 213, 223 Herz 137, 190–197, 216 Herz, böses 81, 95–98, 100, 108, 125 Heuchelei 111, 124, 217, 220, 223, 234, 244 Hochmut (s. Laster) 88 Hybris 217
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Das moralisch Böse https://doi.org/10.5771/9783495996997 .
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Sachregister Idealismus 145, 153–154, 157, 159, 232– 233, 235 Identität, personale 177, 199, 230–231 Identität, narrative 202 Ideologie 232–235 Imagination 214, 222 Immoralität, Formen der 128, 130–131 Imperativ, kategorischer 67, 207, 210 impuritas (s. Unlauterkeit) 82 incarnation 167 Indifferenz, moralische 63, 66–67, 126, 128, 130 Indifferenzfreiheit 46, 113–114, 116–117, 119, 123, 140, 229, 231 Institution 38, 88, 195, 201, 204–205, 213, 226, 230 Intention 33, 191–192, 245 Intentionalität 145, 153, 187, 189, 192, 215, 244 Interpretation (Auslegung) 158–160, 178, 202, 214, 244 Irrtum 186, 227 Judentum 217 Kategorien 202 Klugheit 74, 89–90, 134, 202 Kognitivismus und Nonkognitivismus 128 Konflikt, innerer 193, 222 Konstitution, transzendentale 151–152, 154, 186, 194, 197 Konzentrationslager 48, 180 Körper 145, 167, 172, 188 Krieg 86, 88 Kritische Philosophie 147, 165, 219–220 Kunst 195, 225 Laster (s. Erscheinungsformen des Bösen) 20, 60, 67, 72–73, 76–78, 85–92, 118, 125, 127, 230, 236–237, 245 Laster der Natur (Rohigkeit) und der Kultur 72, 77, 86, 88 Latitudinarier, 66, 67 Leben, gutes (gelungenes) 200–205, 208, 210, 212, 221, 230–231, 245 Lebensform 26, 226, 229–230, 243 Legalität 34, 63, 68, 79, 106
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Leiblichkeit 143, 145, 153–154 Leiden 134, 185, 236–237, 243 Leidenschaften (s. Erscheinungsformen des Bösen, Ehrsucht, Habsucht, Herrschsucht) 60, 89–90, 127, 137– 139, 141, 155, 159, 162, 171, 174–199, 213, 219, 221–223, 230, 238, 241, 244 Letztbegründung 157, 159 Literatur 19, 29, 104, 134–135, 141, 179– 180, 225, 228, 232, 236, 240, 244 Lüge (s. Laster) 29, 77, 88, 101–102, 105, 113, 123, 245 Lust 134, 193–195, 198–199 Macht 36, 191, 194–199, 204–205, 208, 210, 213 Makel (s. Symbolik des Bösen) 215–218 malum 19, 29, 31 Mangel (s. privatio) 17, 19–21, 23, 25, 41, 46, 67, 118, 218, 227 Maßlosigkeit 179 Maßstäbe der Vortrefflichkeit (standards of excellence) 202 Maxime 11, 54, 61, 63–69, 75–76, 80–83, 89, 91, 96–100, 103, 107, 111–115, 119–123, 125, 127, 183, 206, 208, 223, 231 Maxime, oberste gesetzwidrige 64, 67–69, 79, 81, 91–95, 100, 111, 114, 121, 125, 221, 223, 228–229 Menschheit (Gattung) 45, 52, 61, 64, 66, 69–70, 80–87, 91, 94, 97, 102, 105, 112, 212 Metaphysik 19, 21–22, 24, 26, 59, 239 Methode, phänomenologische (s. Reduktion) 151, 155, 178 Mischwesen 186, 197 Moderne 19, 26, 45, 116, 127, 134–135, 180, 183, 219, 240, 242 Monolog und Dialog 207, 210 moral sense 210 Moralität 11, 34, 44, 60–61, 63, 67–73, 76–79, 84, 89, 96, 99–100, 103, 105, 106–113, 117, 121–122, 125–127, 129– 130, 133–135, 207, 209, 229–230, 233, 237–238, 240–241 Mord 89, 208, 232, 234–235, 238, 243– 245
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Hans-Jörg Ehni
https://doi.org/10.5771/9783495996997 .
Sachregister Motivation 9, 20, 36, 68, 71, 73, 87, 92, 95–96, 109, 124, 128–130, 134, 145, 167, 184, 207, 220, 225, 231–240, 243– 244 Mythos 25, 62, 137, 151, 158, 186, 210, 214, 215, 219, 245 Mythos vom reinen Bösen 36 Natur des Menschen 11–12, 50–64, 66, 68, 70, 77–80, 83–85, 88, 91–92, 95, 99–100, 106–107, 109–110, 112, 115– 116, 125, 136, 174–176, 182–184, 196, 198, 222, 237, 240, 241–244 Naturkausalität 63–64, 87, 103, 145, 152 Negativität (des Bösen, s. Schlechtes, ohne Einschränkung) 10, 20, 23–25, 28, 30, 32–44, 46–48, 63, 67, 71, 90, 112, 114, 125–127, 132, 147, 164, 175, 177, 216, 223, 225–228 negligence, moral (moralische Fahrlässigkeit) 128, 129 Neid (s. Laster) 72, 75, 87–88 Neigung 89, 98, 111, 115, 129, 134–135, 206–208, 222, 232–233, 237–243 Nichts 180, 195–196, 216 Nihilismus 19, 135 Noema und Noesis 153–154, 171 Nonkognitivismus 128, 131 Norm 170–171, 196, 200–201, 205, 208– 211, 230 Objekt 151, 172, 186–189, 194 Ontologie 144, 147–149 Ontologisierung des Bösen 20 Paradoxie des Schuldbewusstseins 136– 137, 173, 180, 184, 218 Passivität 110, 160, 173, 176, 214–221, 223 Pathetik des Elends 175, 177–178, 185– 186, 188, 190, 197 Pathologisierung des Bösen 25 peccatum originarium (s. Erbsünde) 82 Person 9, 19, 28, 30, 32–34, 37–39, 45, 47, 63–65, 69, 73, 75, 80, 89, 96, 108, 113, 120–121, 129, 132–133, 150, 174, 177, 189–199, 204–208, 212–213, 225–226, 238, 240
Persönlichkeit (s. Entwicklung der Persönlichkeit) 26, 34, 36, 71, 73–74, 76, 88, 93, 99, 104, 106, 108, 110–113, 116, 119, 122, 190, 196, 199, 213, 218, 221– 222, 229–230 Perspektivität 187–189, 192, 194, 197 Pessimismus 62, 78–83 Pflicht 60, 63, 74, 77, 79, 87–89, 98, 105, 107, 109, 124, 171, 198, 200, 205–206, 234–235 Phänomenologie 137, 139, 142–147, 153, 155–175, 184, 244 Phänomenologie der Grausamkeit 245 Phänomenologie des Willens 151–153, 169, 174–175 Phänomenologie, idealistische Deutung der P. 146, 151–152, 154–156, 158, 160, 166 Pharisäer 217, 238 pleonexia 195 Poetik des Willens 142, 144, 147, 149, 179 Pogrom 245 Poros und Penia 186 Positivierung des Bösen 20 Positivität (s. Schemata der Passivität) 218, 223 Prädestinationslehre 45–46 principe d’intelligibilité 154, 159, 180 Prinzip, moralisches (Grundsatz, moralischer) 34, 39–40, 60, 64, 108–109, 111, 116, 126–128, 131, 133–135, 158– 159, 174, 177, 183, 197, 199, 212, 233– 237, 240–241, 244 privatio (s. Mangel) 19–20 Problem der nicht-reduktiven Sichtweise des Bösen 40, 48–49, 63–64, 114–124 Psychoanalyse 160, 214, 219 Psychopath 26, 130 Rassismus 134, 232, 235 Rationalität 43, 48, 73, 89, 103, 229, 231, 239, 244 Rechtfertigung 19, 21, 35, 243, 245 Reduktion, phänomenologische 143–144, 151–153 Reflexion 72, 98, 137, 139, 142–143, 146, 155, 157, 166, 170, 178, 187, 190–191, 197, 201, 214–215, 219
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Das moralisch Böse https://doi.org/10.5771/9783495996997 .
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Sachregister Reflexion, transzendentale 137, 173, 174, 178, 186–187, 197 Reflexionsphilosophie 143, 147 Regel 63, 75, 210 Relativismus 19, 39, 41, 43, 46–48, 116, 226 Religion 18, 26, 29, 56, 149 Rhetorik des Elends 175, 177, 185–186 Rigorismus 61, 67, 130 Sadismus 36, 134, 232–243 Schaden 9, 28, 30, 35–36, 39, 132–133, 236 Schadenfreude (s. Laster) 72, 88 Schemata der Passivität (s. servum arbitrium) 218, 223, 245 Schematismus 197, 218 Schicksal 189, 197 Schlechtes, ohne Einschränkung (s. Negativität) 10–11, 33, 35–37, 40, 42–48, 104, 123, 127, 221, 223, 226 Schmerz 28–29, 132, 150, 236 Schuld 33–34, 96–97, 136, 141, 147–149, 154, 157–158, 160, 175–176, 185–186, 190, 196, 214–219 Schuldbekenntnis 136, 157, 160, 164, 172–176, 186, 214–215 Schuldbewusstsein 157–158, 160 Selbst 141, 194–196, 201–204, 207, 212– 213, 233, 238 Selbstachtung 207–208, 212 Selbstbewusstsein 159–160, 174, 187– 188, 190–191, 195, 214–216, 233 Selbsterkenntnis 73, 94–113, 123, 184, 222–223 Selbstinteresse, aufgeklärtes 229–230 Selbstliebe (s. Egoismus) 11, 72, 75, 81, 83–84, 87, 93, 95, 98–99, 109, 113, 122–127, 133–134 ,188–189, 203, 221, 228, 230–233, 236, 240–241 Selbstmord 77, 88 Selbstschätzung 195, 201–203, 205, 207– 208, 210, 212–213, 230, 233 Selbstsetzung des Cogito 146 Selbsttäuschung (s. Verblendung) 84, 96, 100–101, 107, 109, 113, 124, 155, 223, 228–229, 234, 237
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servum arbitrium (unfreier Wille, s. Sklaverei, selbstverschuldete S. des Willens) 138–139, 175, 178, 182–183, 217–218 Sichtweise, nicht-reduktive S. des Bösen 40–41, 44, 53, 112–124 Sichtweise, reduktive S. des Bösen 43, 48, 227 Sinnlichkeit 87, 92, 93, 111, 121, 124, 126, 190, 222, 237, 239–241 Sittengesetz (moralisches Gesetz) 54, 61– 81, 89–110, 116, 118–119, 122–124, 130, 171, 175, 182, 184, 190, 196, 198, 201, 206, 208, 211, 221, 228, 231, 239 Skeptizismus, moralischer 19 Sklaverei, selbstverschuldete S. des Willens 138, 179, 181–182, 196, 214–220 Sollen (moralisches) 61, 63, 171, 184, 197–198, 223 Sorge 72–73, 192–194 Soziobiologie 242 Spontaneität 115, 169, 204 Strafe (s. Symbolik des Bösen) 217 Streben 36, 164, 186, 189, 194, 195, 196, 203, 213 Strenge und Tiefe (in der Philosophie) 144 Stufen des Hangs zum Bösen (s. Hang zum Bösen, Gebrechlichkeit, Unlauterkeit, Bösartigkeit) 60, 79, 82–84, 94– 114, 123, 129–130 Subjekt 151, 186, 189 Subjektivismus 19 Subjektivität 105–106, 121, 143, 159– 161, 172, 183 Sünde (s. Symbolik des Bösen) 26, 82, 215–217 Symbol 136–137, 158–159, 167, 196, 214–217, 219–220 Symbolik des Bösen 12, 137, 142, 156– 158, 160, 166, 175–179, 196, 214–223, 238, 244 Sympathie 32, 210, 214 Synthesis 186, 189, 197, 199 System 59, 119, 143–144, 164, 177 Tat, intelligible 65, 80–84, 91, 94, 98–99, 110
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Hans-Jörg Ehni
https://doi.org/10.5771/9783495996997 .
Sachregister Tätigkeit (menschliche, s. Ergon) 189, 193, 195, 199 Teleologie 12, 71–72, 77, 141, 150, 164, 170, 197–214, 221, 223, 230, 243 Theorie, nicht-reduktive T. des Bösen 10, 12, 38, 50, 104, 113, 124–125, 131, 138, 140, 219, 221, 223, 225–229, 243 Thymos 191 Todsünden 88 Tragödie 217 transzendental 54–55, 85, 137, 146, 148, 151–159, 165, 167–168, 172–174, 178, 186–189, 197 Transzendentalphilosophie 163, 166 Transzendenz 142, 149 Transzendenz, feindliche 184, 201, 217, 238 Triebfeder 67, 71–76, 79, 90, 93, 95, 98, 103, 115, 121, 231 Übel 19, 31, 36, 63, 175, 186 Umkehrung der Werte 45 Unbewusstes 154, 166 Unendlichkeit 192 Unendlichkeit, schlechte 179, 199 Unfreiwilligkeit 96, 217 Universalität 46, 109, 200, 205–210, 212 Unlauterkeit 79, 83–84, 91, 95–99, 101– 102, 107, 109, 112, 124 Unmäßigkeit 88 Unreines 216 Unschuld 36, 111, 141, 162, 176, 184, 194, 199, 211, 222–223, 237, 240 Unvollkommenheit 20–21, 45 Unzurechenbarkeit 107, 114, 117, 129 Ursprung des Bösen 10–11, 23, 25–27, 38, 56, 87–90, 125, 129, 134, 166, 173–174, 176, 181, 183, 196, 222, 237, 241 Urteil, moralisches 32–33, 37, 39, 104, 131, 207, 246 Utilitarismus 14, 208 Variation, imaginative 154, 159, 246 Verallgemeinerbarkeit 67, 74–76, 93, 103, 119–120, 123, 207, 210, 212 Verantwortung 33–34, 50, 66, 80, 90, 96, 110–113, 124, 126, 160, 172, 186, 217
Verbindlichkeit 63, 90, 92, 108–109, 117, 126, 149, 184 Verblendung 94, 97, 100, 109, 111–113, 155, 176, 179, 186, 216–217, 220, 223, 228–229, 231 Verbrechen 18, 28, 127, 226, 235, 244 Vererbung 53, 64, 105 Verfehlung 26, 136, 149, 175, 184, 186, 198–214, 217–218 Verführung 218, 220, 222 Verharmlosung des Bösen 18–19, 22–25, 36, 40, 49, 225, 234 Verkehrung (s. Begriffsbestimmung des Bösen) 11, 77, 79, 81, 85, 92–101, 104– 105, 108–109, 122–125, 127, 130–135, 162, 176, 184, 197, 199, 218, 221–223, 228, 230–235, 239, 240, 241, 243–244 Verleumdung (s. Laster) 87–88 Vermittlung 185–186, 189, 191, 193–194, 197–198 Vermögen (s. Macht) 195, 199 Vernachlässigung des Bösen 14–18 Vernunft, böse (boshafte) 10, 22–27, 31, 35–36, 41, 43, 93, 102–103, 108, 125, 231, 136, 237, 239 Vernunft, praktische 11, 16, 27, 42, 44, 48, 58–60, 69, 72–77, 82, 87, 91–93, 103– 104, 113–119, 123–134, 126, 160, 168, 170, 181, 191, 206, 222, 227, 229–230, 239, 241 Vernünfteln 105 Vernunftwesen, endliches 169–170 Verpflichtung 150, 170–171, 184, 206– 207 Verstehen 157–158 Verurteilung, moralische 33, 37, 39, 41 104, 135 Vitalismus 239 vitiositas (s. Bösartigkeit) 82 Völlerei 72 Wahn 195–196, 216, 230 Wahrnehmung 151–152, 168, 187, 190, 192 weakness, moral (s. Willensschwäche) 128 Weltanschauung, moralische 161, 164, 172–173, 178–179, 185, 196, 215, 217, 221
A
Das moralisch Böse https://doi.org/10.5771/9783495996997 .
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Sachregister Wende, kopernikanische 153, 168 Wert 41, 45, 72, 101, 150, 171, 184, 188, 197, 199, 201, 209–213, 226–227 wickedness, perverse (bösartige Verkehrtheit, s. Bösartigkeit) 128 Wille 27, 64–68, 76–77, 79, 81, 88–89, 91, 94, 96, 100, 106, 115–116, 120–121, 145–154, 168–174, 176, 181, 211, 219, 237–238, 241, 244 Wille, böser 10, 12, 22, 26, 34–37, 52, 64, 81, 89, 93, 95–100, 107–108, 111, 113, 122–128, 131–132, 136, 139, 158–162, 164, 166, 174–175, 178–184, 196–199, 218–219, 221–223, 228–231, 233, 235, 237, 239–240, 243–244 Wille, guter 106, 132, 206–207 Wille, teuflischer (s. Böses um des Bösen willen) 11, 39, 93, 102–105, 108, 124– 125, 131, 134–135, 140, 218, 221, 228– 229, 231–241, 243–244, 246 Willensakte 149–150, 152–154, 171, 185 Willensfreiheit 97, 120–121, 181 Willensschwäche (s. Gebrechlichkeit) 15, 79, 83–84, 91, 95–99, 109, 111, 124, 126, 128–129, 132, 227, 237, 244 Willentliches und Unwillentliches 144– 145, 149–150, 152–154, 164, 167–170 , 172, 181, 185
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Willkür 63, 70–71, 74, 76, 90, 93, 104, 115–116, 120 Willkürfreiheit 120–122 Wirklichkeit des Bösen (s. Erscheinungsformen des Bösen) 23–25, 56, 59, 61, 69–70, 72, 79–80, 83–93, 111, 133, 136–138, 162, 168, 174, 176, 178–180, 187, 196, 214, 240 Wollust 72, 77, 88 Zerbrechlichkeit (der menschlichen Existenz) 186, 190–191, 196 Zerstörung 86, 103, 230, 235, 239, 245 Zirkel, hermeneutischer 167, 202, 220 Zorn 28, 30, 32–34 Zugehörigkeit 157, 192–194 Zurechenbarkeit 10–11, 34–38, 40–44, 48, 54, 58–59, 64, 66, 68–69, 73, 78–80, 83–84, 90–92, 99–100, 103–104, 107, 110–118, 120, 123, 125, 132, 174, 225– 228 Zurechnung 33, 73, 116, 216–217 Zwang 42, 45, 111, 129, 200, 205–206, 208, 211 Zweck 33–34, 70–73, 75, 77, 89, 93, 132, 189, 226, 236, 245 Zweck an sich selbst 71, 73, 189–190, 198, 206–207, 212, 221–222 Zweckrationalität 39, 73, 123 Zweckwidriges, schlechthin 223
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Hans-Jörg Ehni
https://doi.org/10.5771/9783495996997 .