Das liebe Geld!: Eigentumsverhältnisse in der deutschen Literatur 9783412502522, 9783412501457


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Das liebe Geld!: Eigentumsverhältnisse in der deutschen Literatur
 9783412502522, 9783412501457

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Jost Hermand

Das liebe Geld! Eigentumsverhältnisse in der deutschen Literatur

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Collage des Autors, Photograph Justin Court

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Sabine Jansen, Köln Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50145-7

Inhalt

Literarische Widerspiegelungen sozioökonomischer Prozesse vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart

Ein Abriß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der erste deutsche Kaufmannsroman

Rudolf von Ems’ Der guote Gêrhart (um 1220) . . . . . . . . . . . . . 30 Protestantisches Arbeitsethos

Jörg Wickrams Ein schönes und Evangelisch spiel von dem verlornen sun (1540), Der Jungen Knaben Spiegel (1554) und Eine warhafftige History von einem ungerahtnen Son (1554) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Eine Femina oeconomica Johann Jacob Christoffel von Grimmelshausens Ausführliche und wunderseltzame Lebensbeschreibung der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche (1670) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Ohne einträgliche Schuldverschreibungen kein ungestörtes Liebesglück

Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm (1767) . . . . . . . . 66 Eine Rotte von Narren mit roten Kappen

Goethes und Schillers martialische Xenien gegen die Gleichheitsforderungen der deutschen Jakobiner (1795–96) . . . . . . 75 Adliger Schloßherr und bürgerlicher Fabrikant

Karl Leberecht Immermanns Die Epigonen (1836) . . . . . . . . . . . 91 Wir sind endlich wer!

Bürgerliches Standesbewußtsein in Gustav Freytags Soll und Haben (1855) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Die selbstgefällige Großbourgeoisie der Gründerzeit

Theodor Fontanes Frau Jenny Treibel oder „Wo sich Herz zum Herzen find’t“ (1892) . . . . . . . . . . . . . . . . 123 5

Inhalt

Bürgerliche Sympathisanten und proletarische Widersacher der frühen Sozialdemokratie

Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) und Carl Fischers Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters (1903) . . . . . . . 139 Imperialistische Stimmungsmache vor 1914 Hurrapatrioten, Großindustrielle, Kulturmissionare . . . . . . . . . . 152 Von Grund auf anders? Georg Kaisers expressionistische Wandlungsdramen Die Koralle, Gas, Gas. Zweiter Teil, Hölle Weg Erde und Gats (1917–1925) . . . . . . . 170 Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise von 1929

Hans Falladas Kleiner Mann – was nun? (1932) . . . . . . . . . . . . . 185 „Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen“

Bertolt Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940) . . . . . . . 202 Erzwungener Sozialismus

Heiner Müllers Der Lohndrücker (1957) . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Im Schlaraffenland des westdeutschen Wirtschaftswunders

Martin Walsers Ehen in Philippsburg (1957) . . . . . . . . . . . . . . 235 Ihr da oben – wir da unten

Günter Wallraffs Industriereportagen (1963–1985) . . . . . . . . . . . . 249 Kapitalistische Zukunftsvisionen

Mathias Schebens Konzern 2003 (1977) . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Unerfüllte Hoffnungen

Volker Brauns Mein Eigentum (1990) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Von einem gesellschaftlichen „System“ in das andere

Christoph Heins Landnahme (2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Die Wettbewerbsgesellschaft der New Economy

Ernst-Wilhelm Händlers Wenn wir sterben (2002) . . . . . . . . . . . 305

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 6

Literarische Widerspiegelungen sozioökonomischer Prozesse vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart Ein Abriß

I Man sage nicht, die Germanistik hätte sich als akademische Disziplin über lange Zeiten hinweg stets auf die Deutung innerliterarischer Bezüge beschränkt. Das Gegenteil ist der Fall. Schon in ihren Anfängen hat sie weit über ihre Fachgrenzen hinausgegriffen und sich in den Dienst jener durch die Befreiungskriege von 1812 bis 1815 ausgelösten nationalbetonten Strömungen gestellt, die in der heroischen Dichtung des Hochmittelalters ein Vorbild für ihren eigenen Kampfesmut sahen. Und diese Impulse ließen auch in der Folgezeit keineswegs nach. Obwohl solche Tendenzen in der lang anhaltenden Metternichschen Restaurationsepoche bis 1848 immer wieder unterdrückt wurden, blieben sie dennoch erhalten, ja erweckten in manchen Germanisten das Gefühl, die Vertreter einer nationalen Führungswissenschaft zu sein, deren Wirken die deutsche Bourgeoisie inspirieren sollte, das Konzept der deutschen Kulturnation endlich in die politische Realität zu übersetzen. Als das 1871 geschah, war daher viel von jenen zwei Blütezeiten der deutschen Literatur, der Staufischen und der Weimarer Klassik, die Rede, denen das Zweite Reich sein identitätsstiftendes Fundament verdanke. Daher wurden in den folgenden zwei Jahrzehnten an allen deutschen Universitäten germanistische Institute errichtet, die sich vor allem der Erforschung dieser beiden Literaturen widmeten. Erst um die Jahrhundertwende kam es im Rahmen ästhetizistischer bzw. neuidealistischer Bemühungen auch zu innerliterarischen Deutungsversuchen, die sich vor allem mit stiltypologischen und genretheoretischen Fragen beschäftigten. Doch schon der Erste Weltkrieg gab den nationalistisch eingestellten Germanisten wieder einen Auftrieb, sich auf ihre deutschbetonten Ursprünge zu besinnen. Der damit verbundene Impuls blieb – trotz mancher Ausflüge ins Ideen- und Geistesgeschichtliche – in dieser Disziplin selbst in der Weimarer Republik 7

Literarische Widerspiegelungen sozioökonomischer Prozesse

dominierend und nahm dann im Dritten Reich geradezu triumphale Züge an, indem die jetzt als Deutschkunde ausgegebene Germanistik auch das bäuerliche Scholle- und Heimatbewußtsein und einen ins Imperiale tendierenden Arierkult in ihre Dienste stellte. Als dieses Reich im Mai 1945 schmählich unterging, war von all dem plötzlich keine Rede mehr. Was sich jetzt durchsetzte, war auch in der Germanistik die Ideologie des 1947 beginnenden Kalten Kriegs zwischen den USA und der UdSSR. Daher herrschte in der Sowjetischen Besatzungszone und dann der frühen DDR in diesem Fach erst einmal die Doktrin des historischen Materialismus sowie in den westlichen Besatzungszonen und dann der frühen BRD erst einmal die angeblich antidogmatische Doktrin jenes sich aus allen gesellschaftlichen Verpflichtungen heraushaltenden New Criticism vor, der sich in seiner Nichtideologie vorzüglich als ein ideologisches Kampfmittel gegen den auf eine sozioökonomische Änderung der bestehenden Eigentumsverhältnisse drängenden Sozialismus einsetzen ließ. Wie wir wissen, hielt diese starre Polarisierung bis gegen Ende der sechziger Jahre an und wurde darauf in der BRD von einem weitverzweigten Methodenpluralismus abgelöst, während die Germanistik in der DDR – trotz mancher sich verstärkenden Tendenzen ins Individualistische – mehrheitlich eher bei ihrer klassenbezogenen Sehweise im Rahmen des historischen Materialismus blieb. In der BRD kam es dagegen nach der lang anhaltenden Phase der sogenannten Werkimmanenten Interpretation nicht nur zum Einbruch linkskritischer Tendenzen im Sinne der Achtundsechziger Bewegung, sondern auch zu sozialhistorischen und feministischen Theorieansätzen sowie zu intertextuellen bzw. poststrukturalistischen Bemühungen im Gefolge des Postmodernismus, die erst in den ideologischen Auseinandersetzungen nach der Wiedervereinigung der beiden Deutschländer im Laufe der neunziger Jahre wieder in den Hintergrund traten. Im Zuge der in der Folgezeit einsetzenden Posthistoire-Stimmung führte das zu einer weitgehenden Reliterarisierung und damit Entflechtung der Germanistik aus allen angeblich außerliterarischen Bezügen. Wenn danach überhaupt noch politische Themen aufgegriffen wurden, dann meist im Hinblick auf die weiterhin virulent gebliebene Judenfrage im Sinne der vielfach ausgebliebenen Vergangenheitsbewältigung oder eine Beschäftigung mit jener DDR-Literatur, die sich nicht dem Diktat der SED gebeugt habe. Auf die eigenen Gesellschaftsverhältnisse im wiedervereinten Deutschland ging dagegen die Germanistik seit der letzten Jahrhundertwende kaum noch ein. Trotz der vielen wirtschaftlichen und ökologischen Krisensymptome blieb sie weitgehend in einem konformistischen Sinne systemimmanent, das heißt verhielt 8

Ein Abriß

sich „liberal“, indem sie sich vornehmlich mit den Privatproblemen der bürgerlichen Mittelschichten beschäftigte, während sie ihre Augen vor den Nöten der immer größer werdenden Unterschichten und der durch die Überindustrialisierung herbeigeführten Naturzerstörung mehr oder minder verschloß. Irgendwelchen interpsychologischen oder interkulturellen Fragen nachzugehen, schien ihr schon umfassend genug. Sich auch in die Bereiche der Volkswirtschaft, der Soziologie oder Ökologie vorzuwagen, die ein breitgestreutes fachliches Vorwissen voraussetzen, hielt sie dagegen für fachfremd und damit für unwissenschaftlich. Nun, solche Bedenken waren nicht aus der Luft gegriffen. Aber können wir ohne eine Berücksichtigung solcher Kenntnisse – selbst in der Germanistik – überhaupt noch zu sinnvollen Schlußfolgerungen kommen, falls wir weiterhin als gesellschaftsverpflichtete Wissenschaftler ernst genommen werden wollen? Ja, stellen wir uns durch ein Absehen von solchen Aspekten nicht notwendig als „Fachidioten“ bloß, was die Achtundsechziger schon damals ihren sich bewußt „unpolitisch“ gebenden Professoren, von denen viele frühere Nazifaschisten waren, vorgeworfen hatten? Schließlich leben wir schon längst nicht mehr in jener Wirtschaftswunderwelt der fünfziger und frühen sechziger Jahre, als Ludwig Erhard seinen Mitbürgern und Mitbürgerinnen einen „Wohlstand für alle“ versprach, sondern in einer Gesellschaft, in welcher der Gegensatz zwischen den Reichen und den Armen von Jahr zu Jahr immer größer wird, wo also das damals propagierte Konzept einer „Sozialpartnerschaft“ schon längst zur Farce geworden ist. Auch die Germanistik, die früher jedem ideologischen Umschwung nur allzu willfährig gefolgt ist, sollte sich daher in ihrer Mehrheit solchen Fragestellungen gegenüber nicht verschließen, statt alle gesellschaftlichen Probleme lediglich im Sinne der systemimmanenten Medienindustrie ins Individuelle irgendwelcher Human Interest Stories zu verharmlosen. In einer Gesellschaft, in der keine kommunitaristischen Vorstellungen mehr bestehen, sondern sich alles nur noch um Konsum und Egoismus dreht, dürfte sie nicht verzichten, wesentlich stärker als bisher auf die sozioökonomischen Voraussetzungen von Literatur, ja aller kulturellen, religiösen und politischen Phänomene einzugehen. Schließlich gibt es keine in sich geschlossenen Bereiche, wie uns die reaktionäre Systemtheorie weiszumachen versucht. Letztlich ist alles, wie bereits viele der großen Gesellschaftswissenschaftler, ob nun Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx, Werner Sombart, Max Weber, Joseph Alois Schumpeter, Jürgen Kuczynski und Hans-Ulrich Wehler, bewiesen haben, aufs Engste miteinander vernetzt und geht in seinen Überbauphänomenen weitgehend auf jene sozioökonomischen Vor9

Literarische Widerspiegelungen sozioökonomischer Prozesse

aussetzungen zurück, ohne die es überhaupt kein gesellschaftliches Zusammenleben geben würde. Man sage daher nicht, Literatur ließe sich auch ohne diese Einsicht in ihre materiellen Voraussetzungen interpretieren. Das behaupten lediglich jene Germanisten, die entweder blindlings den jeweiligen ideologischen Verschleierungsbemühungen der oberen Gesellschaftsschichten folgen oder sich – als die sozial Begünstigten innerhalb der heutigen Zweidrittelgesellschaften der hochindustrialisierten Länder – in ihrem individuellen Selbstbewußtsein bestärken wollen. Solche Haltungen bleiben ihren Fachvertretern, zumal die Gutwilligen unter ihnen weiterhin halbwegs reformistisch eingestellt sind, zwar unbenommen, aber sie verhindern dadurch lediglich, dem Fach Germanistik eine neue Relevanz zu verleihen, die auf einem gesellschaftsverpflichteten Engagement beruhen würde, das auch die immer dringlicher werdenden Probleme der Krisenanfälligkeit des sich globalisierenden Finanzkapitalismus und der sich daraus ergebenden Verarmung breiter Bevölkerungsschichten nicht aus dem Auge verlieren würde. Als Germanisten sollten sie deshalb auch die Literatur, dieses so oft als ein rein privates, das heißt subjektiv verstandenes Kulturprodukt befragen, inwieweit sich seine Autoren und Autorinnen trotz aller Ichbezogenheit bewußt waren, in ihren Werken ein Spiegelbild der jeweils herrschenden sozioökonomischen Verhältnisse gegeben zu haben. Jenseits aller poetologischen Erwägungen wäre es daher angebracht, stärker als bisher danach zu fragen, ob sie lediglich Mitläufer der jeweils herrschenden Besitz- und Machtverhältnisse waren, ohne sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen, ob sie die Fähigkeit besaßen, die jeweiligen Verschleierungstaktiken der regierenden Schichten zu durchschauen, oder ob sie ihnen mit gesellschaftlichen Alternativkonzepten entgegengetreten sind. Schließlich waren alle bisherigen Gesellschaftssysteme bei näherer Betrachtung, wenn man die in ihnen herrschenden Eigentumsverhältnisse und die sich daraus ergebenden sozialen Ungleichheiten ins Auge faßt, zutiefst ungerecht, ja ausbeuterisch. Weder in der Menschheitsgeschichte noch in der deutschen Geschichte hat es jemals irgendwelche „Goldenen Zeitalter“ gegeben. Es gab zwar zeitweilig einige Fortschritte in sozialer Hinsicht, ja sogar Ansätze zu besseren, gerechteren Gesellschaftsverhältnissen, aber letztlich änderten sie nichts an der grundsätzlichen Ungleichheit der in ihnen herrschenden Besitzverhältnisse. Und das ist – trotz aller Demokratieversprechen – bis heute so geblieben. Sich darüber keine Gedanken zu machen, wäre demnach ein zutiefst undemokratisches Verhalten. Und wer wollte sich schon einem solchen Vorwurf aussetzen?

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Ein Abriß

II In den anschließenden Einzelinterpretationen soll deshalb wenigstens auf einige Texte der deutschen Literatur eingegangen werden, deren Autoren sich – jenseits aller Egozentrik – in aller Offenheit mit den in ihrer Lebensspanne herrschenden Geld- und Eigentumsverhältnissen auseinandergesetzt haben. Was dabei im Vordergrund stehen soll, sind vor allem folgende Fragen: 1. welches war ihr soziales Herkommen und welche damit verbundenen Bildungsvoraussetzungen brachten sie mit, 2. wie klar erkannten sie die sozioökonomischen Spannungen ihrer Zeit und die sich daraus ergebenden ideologischen Beschwichtigungsversuche von seiten der Herrschenden, und 3. welche reformistische, gesellschaftskritische, rebellische oder utopisch-überspannte Haltung nahmen sie in den ständischen oder klassenbetonten Auseinandersetzungen ein, falls sie diese überhaupt erkannten und auf ihre materiell bedingten Ursachen zurückführten? Daß aus den Antworten auf derartige Fragen nicht immer ästhetisch qualitätsversprechende Merkmale abgeleitet werden können, liegt auf der Hand. Doch sollte es bei solchen Erkundungen lediglich darum gehen? Schließlich haben die Ergebnisse der sogenannten Trivialliteraturforschung die Einsichtigen unter uns längst eines Besseren belehrt. Unter gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive betrachtet, die sich von allem ästhetizistischen Getue oder gar einer parasitären Kunstschmuserei distanziert und sich vornehmlich für den sozialen Mehrwert von Literatur interessiert, ist letztlich alles „Literatur“, gleichviel mit welcher Finesse oder Nichtfinesse es geschrieben ist. Schließlich spiegelt sich in sämtlichen Literaturwerken die jeweils eingenommene Haltung gegenüber den sozialen Konflikten der in ihr dargestellten gesellschaftlichen Beziehungen wider, ob nun in selbstverliebter, idealistisch-verklärender, bewußt-verschleiernder, fortschrittsbetonter oder rebellisch-aufbegehrender Form. Und aus diesen Haltungen sollten auch ihre Qualitätsmerkmale abgeleitet werden. Es wäre daher grundsätzlich falsch, behaupten zu wollen, es gäbe auch eine unpolitische Literatur. Eine solche hat es nie gegeben und wird es auch in der Zukunft nicht geben. Man mag sich noch so dagegen sperren, es gibt nun einmal nichts, was in dieser oder auch irgendeiner anderen Weise sozialgeschichtlich undeterminiert wäre. Man mag eine solche Sehweise mit abschätziger Betonung „historisierend“ oder gar „vulgarisierend“ nennen, das ändert nichts an ihrem Wahrheitsgehalt. Wie hieß es doch in altbürgerlichen Zeiten: Vom Besitz, vom Eigentum, vom „lieben Geld“ spricht man nicht, man hat es einfach. Von solchen Dingen, erklärte man ebenso oft, sprechen nur die Armen, die nicht darüber verfügen. Reihen wir uns darum nicht unter die Besitzenden ein, sondern spre11

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chen wir ruhig über das „liebe Geld“ und fassen wir auch in der Literatur vor allem solche Autoren und Autorinnen ins Auge, die schon seit Jahrhunderten davon gesprochen haben. Entgegen allen transsozialen Sehweisen menschlicher Gesellschaftsverhältnisse, wie sie im Bereich idealistischer Denkweisen – ob nun in humanistischer oder existentialistischer Spielart – gang und gäbe sind, das heißt nie die materielle Basis mitbedenken, ohne die sie gar nicht vorstellbar wären, soll daher in den folgenden 20 Interpretationen stets die jeweilige Sicht auf die in diesen Epen, Romanen, Dramen oder Gedichten behandelten Geld- und Eigentumsverhältnisse herausgestellt werden, welche die entscheidende Grundlage aller in ihnen behandelten politischen, sozioökonomischen, religiösen, psychologischen und ästhetischen Fragen bildet. Statt weiterhin zu glauben, daß die großen Einzelnen die „Geschäftsführer des Weltgeistes“ sind oder daß bestimmte Entwicklungen durch das Auftauchen neuer, revolutionärer „Ideen“ in Gang gesetzt werden, wäre es wesentlich angebrachter, den sich in den letzten tausend Jahren in Euro­pa und damit auch in Deutschland abspielenden geschichtlichen Prozeß auf jene Entwicklung vom Feudalismus über den Handelskapitalismus zum Industriekapitalismus und schließlich Finanzkapitalismus ins Auge zu fassen, deren Auswirkungen meist mit vielverheißenden Begriffen wie Innovation, Progressivität oder Modernisierung umschrieben werden, die jedoch weitgehend unkonkret bleiben, da sie sich trotz aller Wandlungen in ihrem forcierten Erwerbsstreben stets an den die unteren Bevölkerungsschichten ausschließenden Macht- und Besitzverhältnissen orientierten und damit nie jene zuerst christlich gepredigte Brüderlichkeit und dann jene als liberal geltende Volksherrschaft verwirklichten, die sich als „demokratisch“ versteht.

III Wer sich mit der Frage beschäftigt, seit wann es in jenem Bereich, der sich erst das „Heilige Römische Reich“ und dann schlichtweg „Deutschland“ nannte, zu rechtlich festgelegten Eigentumsverhältnissen und der sich daraus ergebenden sozialen Ungleichheit gekommen ist, muß zwangsläufig bis ins frühe Mittelalter zurückgehen. Die damals herrschenden Besitzverhältnisse, die aus einer allmählichen Verschmelzung der spätantiken Latifundienwirtschaft mit germanischen, auf genossenschaftlichen Prinzipien aufgebauten Rechtsvorstellungen hervorgegangen waren, beruhten weitgehend auf einem feudalistischen Lehnssystem, dem drei königliche Gunstbeweise zugrunde lagen: der Landvergabe als Belohnung für bestimmte Dienstleistungen, der Landleihe aufgrund von Bittgesuchen 12

Ein Abriß

sowie der Landsiedelleihe zur Rodung von Waldgebieten. Während es sich in fränkischer Zeit bei diesen Lehnsvergaben noch um Großgrundherrschaften handelte, zerfielen diese Besitztümer um die Jahrtausendwende in immer kleinere Lehnseinheiten oder sogenannte Kleingrundherrschaften, die im Laufe der Zeit sogar erblich wurden, was zu einer zunehmenden Abschwächung der königlichen bzw. kaiserlichen Zentralgewalt führte.Neben den geistlichen Herren waren es vor allem die Ritter, die von diesem grundherrschaftlichen Wirtschaftssystem profitierten, da ihnen die für sie arbeitenden leibeigenen Bauern ein weitgehend arbeitsfreies Leben ermöglichten und sie sich demzufolge fast ausschließlich dem Kriegshandwerk, der Jagd und dem galanten Umgang mit gesellschaftlich höher gestellten Damen widmen konnten, während dieses System für die in ihrem Dienste stehenden Untergebenen nur „Mühe und Arbeit“ bedeutete. Da dieser Zustand in fast allen Schriften des Mittelalters stets als eine gottgewollte OrdoVorstellung charakterisiert wurde, findet sich in den ritterlichen Epen und Minneliedern aus dieser Zeit nicht die geringste Spur eines sozialen Erbarmens mit der in geradezu archaischer Abhängigkeit und Miserabilität lebenden Landbevölkerung, die weitgehend aus besitzlosen Fronbauern bestand. Dieser Zustand dauerte etwa bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts an, als es zu den ersten bedeutsamen Stadtgründungen kam. Obwohl sich auch danach die feudalrechtlichen Herrschaftsformen als äußerst zäh erwiesen, verwandelte sich dadurch der bis dahin bestehende Lehnsstaat allmählich in einen Ständestaat, in dem es neben den Fürsten, Rittern, geistlichen Herren sowie den unzähligen Bauern von nun an auch die schnell anwachsende Schicht der Bürger gab, in deren Bereich ein völlig neues Wirtschaftssystem entstand, das nicht mehr auf bäuerlichen Frondiensten, sondern auf einem relativ frei ausgeübten Gewerbeschaffen beruhte. An die Stelle der älteren, oft von Hungersnöten bedrohten Naturalienwirtschaft trat daher in diesem Bereich ein marktwirtschaftliches System, das nicht nur die städtischen Bewohner mit den gewünschten Konsumgütern belieferte, sondern zugleich einen lukrativen Fernhandel entstehen ließ, in dem sich eine bis dahin weitgehend unbekannte Ware-Geld-Zirkulation ausbreitete. Als daher im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert die wirtschaftliche Machtposition der sogenannten Freien Reichsstädte innerhalb des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation ständig größer wurde, kam es im Zuge des Humanismus und dann der durch Martin Luther ausgelösten reformatorischen Bestrebungen zu einer steigenden Aufwertung des bis dahin von der römisch-katholischen Kirche geringgeschätzten Kaufmannsstandes, dem der mit einträglichen 13

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Pfründen ausgestattete Klerus lange Zeit die Sünde des Wuchertums vorgeworfen hatte, weshalb seine Vertreter nie das ewige Seelenheil erringen würden. Doch sowohl die von den Humanisten geschätzte Selbsttätigkeit des Menschen im Sinne antiker Ethikvorstellungen als auch die von Luther verkündete Gnadenlehre, nach der auch dem reuigen Sünder der Weg ins Himmelreich stets offen stehe, machten es plötzlich möglich, der bis dahin von den oberen Ständen mit heuchlerischer Verlogenheit geringgeschätzten körperlichen sowie kaufmännischen Arbeit eine allen Menschen dienliche Nützlichkeit zuzusprechen, statt diese Formen des Menschseins weiterhin lediglich als Folgen eines sich aus der Erbsünde ergebenden Fluch Gottes hinzustellen. Große Teile der Literatur des 16. Jahrhunderts sind daher – einmal etwas vereinfacht gesehen – von einem humanistisch-protestantischen Arbeitsethos erfüllt, das sich in seiner Wendung ins Volkstümliche zusehends von der Welt der geistlichen und ritterlichen Herrenschichten abzusetzen versuchte. In ihr steht erstmals die Geschäfts- und Arbeitswelt des sich in seinem Standesbewußtsein bestärkenden Bürgertums im Vordergrund, das weder mit den angeblich von Gott eingesetzten Ständen des Adels und des Klerus noch mit den seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts gegen die sie zur Fronarbeit verdammenden OrdoVorstellungen rebellierenden Bauern sympathisierte, sondern sich vornehmlich auf die seinen Eigentums- und Arbeitsbedingungen entsprechenden Tugenden, wie handwerklichen Fleiß, humanistische Lernbegierde, kaufmännische Redlichkeit, moralische Sauberkeit und was es sonst noch an bürgerlichen Wertvorstellungen gibt, berief. Und damit entstand in der deutschen Literatur erstmals das Leitbild des Homo oeconomicus, mit dem das Zeitalter der sozialen und kulturellen Emanzipation des deutschen Bürgertums von seinen feudalistischen und klerikalen Fesseln beginnt. Viele Bürger der Freien Reichsstädte des 16. Jahrhunderts brachten es daher aufgrund der von ihnen befolgten Tugenden zu einem beträchtlichen Reichtum, so daß im Hinblick auf diesen Zeitraum manche Historiker, Soziologen und Volkswirtschaftler bereits von einer Phase des Frühkapitalismus gesprochen haben. Doch das dürfte etwas vorschnell geurteilt sein. Schließlich büßten die meisten Städte, als den Fürsten 1555 auf dem Augsburger Reichstag das alleinige Verfügungsrecht über die in ihren Territorien praktizierte Religionsausübung zugesprochen wurde, viel von ihren bisherigen Machtpositionen ein, ja wurden zum Teil bereits in die sie umgebenden, halbwegs autonomen Staaten oder Ländereien mediatisiert.

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Ein Abriß

Und damit verlor auch die Literatur ihren noch kurz zuvor ins Volkstümliche tendierenden und zugleich lehrhaft-erbaulichen Charakter. Stattdessen schloß sie sich immer stärker jenem Trend ins Höfische an, den man unter ästhetisierender Perspektive später gern als „Barockisierung“ hingestellt hat. Sozioökonomisch gesehen, manifestierte sich darin jedoch eher die von vielen Fürsten ausgehende merkantilistische, kameralistische und später auch physiokratische Warenproduktion, die im Rahmen einer landesherrlichen Zentralisierung nicht nur zu einer immer größeren Einflußnahme in wirtschaftlicher, sondern auch in kultureller Hinsicht führte, wofür unter anderem die seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts von mehreren mitteldeutschen Fürsten gegründeten Sprachgesellschaften bezeichnend sind, in denen weitgehend das Höfische dominierte. Daß dieser Prozeß nicht schon zu diesem Zeitpunkt eine Vorherrschaft des fürstlichen Absolutismus in allen Lebensbereichen bewirkte, hängt weitgehend mit den immer gewaltsamer werdenden Konflikten zwischen den protestantischen und katholischen Fürsten zusammen, die schließlich 1618 zum Dreißigjährigen Krieg führten, durch den das wirtschaftliche und kulturelle Leben in großen Teilen des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation fast völlig zum Erliegen kam.

IV Eine neue Situation entstand erst nach den im Jahr 1648 stattfindenden Westfälischen Friedensverhandlungen, bei denen sich die inzwischen autonom fühlenden Fürsten von der nur noch nominell als kaiserliche Dynastie angesehenen Habsburgern durchzusetzen verstanden. Von nun ab herrschte in fast allen deutschen Landesteilen jene Regierungsform vor, die sich – nach französischem Vorbild – als Absolutismus verstand, was dazu führte, daß sich sogar die bisher relativ selbständigen, noch mit vielen feudalistischen Sonderrechten ausgestatteten adligen Familien der jeweiligen Erbdynastie unterwerfen mußten bzw. in die höfische Verwaltung eingebunden wurden. Das gleiche gilt für die meisten deutschen Städte, die in der Folgezeit ihre reichsunmittelbare Sonderstellung verloren, ja zum Teil in Residenzen der in diesem Gebiet herrschenden Fürsten verwandelt wurden. Von Ausnahmen einmal abgesehen, führte das zu einer fortschreitenden Unmündigkeit der bürgerlichen Bevölkerungsschichten, die sich deshalb mehr und mehr aus dem politischen Getriebe herauszuhalten versuchten, zumal sie in wirtschaftlicher Hinsicht kaum mit den von den Höfen geförderten Manufakturen mithalten konnten und sich daher auch literarisch zumeist ins Pietistisch-Verinnerlichte oder Harmlos-Verspielte zurückzogen, was 15

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später als Empfindsamkeit oder Anakreontik charakterisiert wurde. Vom Rest der Gesellschaft, das heißt jenen 80 bis 90 Prozent der deutschen Bevölkerung, die nach wie vor vielerorts noch leibeigene, das heißt besitzlose Bauern waren und von ihren Dienstherren zum Teil unbarmherzig geknechtet und geschurigelt wurden, war dagegen in der literarischen oder publizistischen Öffentlichkeit selten oder nie die Rede. Und falls sie, wie in manchen Lustspielen, überhaupt erwähnt wurden, dann meist als dumme Tölpel, über die sich die oberen Gesellschaftsschichten lediglich arrogant belustigten. Eine Änderung in dieser Hinsicht trat erst ein, als gegen Mitte des 18. Jahrhunderts – im Gefolge der westeuropäischen Aufklärung – plötzlich auch diesseits des Rheins von bürgerlicher Freiheit oder gar sozialer Gleichheit die Rede war. Allerdings konnten solche Konzepte dort nur punktuell Fuß fassen und führten aufgrund der territorialen Zersplitterung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation in Hunderte von Einzelstaaten nicht zu einer breiteren, den gesamten Mittelstand ergreifenden Bewegung. Obendrein war die Stadtbevölkerung zu diesem Zeitpunkt wirtschaftlich noch viel zu schwach, um auf ein politisches Mitspracherecht pochen zu können. Einige ihrer aufgeklärten Vertreter setzten sich zwar in ihren gelehrten Journalen und literarischen Werken zum Teil für wohlgemeinte Reformvorschläge ein, indem sie nicht nur die Aufhebung der Zensur und sogar die „bürgerliche Verbesserung“ der Frauen und Juden verlangten, gingen aber wiederum nicht auf die Notlage der Bauernbevölkerung ein und blieben daher – trotz mancher kühn geäußerten Kritik an den absolutistischen Zuständen – zwangsläufig Einzelgänger. Ja, als im Jahr 1789 die Französische Revolution begann, die neben der bürgerlich ersehnten Liberté auch die soziale Égalité auf ihre Fahnen schrieb, gaben viele der deutschen Aufklärer aus Angst vor möglichen Forderungen der gesellschaftlichen Unterschichten ihre bisherigen Reformvorschläge wieder auf und begaben sich zur Sicherung ihrer Besitz- und Eigentumsverhältnisse lieber in den Schutz der lokal herrschenden Dynastien, wo sie dem Ideal einer ins Antikische erhobenen, zeitlosen „Klassik“ huldigen konnten, als sich irgendwelchen als „jakobinisch“ verschrieenen Hitzköpfen anzuschließen. Die bekanntesten Vertreter dieser Gesinnung waren Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller, die sich seitdem der Vorliebe aller humanistisch „gemäßigten“ Strömungen in Deutschland erfreuen. Die gleiche Haltung bezogen manche Sprecher der älteren Herrenschichten den in den Jahren 1812 bis 1815 ins Feld ziehenden Freiheitskämpfern gegenüber, die sie wegen ihrer ins Nationale tendierenden Gesinnung, welche von späteren Chauvinisten gern für ihre Zwecke ausgeschlach16

Ein Abriß

tet wurde, als verblendete Anhänger der gegen die standesherrlichen Rechte aufbegehrenden „Gleichmacher“ ablehnten. Wie wir wissen, siegten zwar die deutschen Befreiungskrieger mit Hilfe der Russen und Engländer über die französischen Besatzer, wurden aber 1815 auf dem Wiener Kongreß um die Früchte ihrer mühsam errungenen Erfolge betrogen, auf dem ihnen die deutschen Fürsten weder die erwünschte Freiheit noch die erhofften Gleichheitsbedingungen gewährten, sondern zur älteren Form eines einzelstaatlichen Absolutismus zurückkehrten, den sie in der von 1815 bis 1848 anhaltenden Metternichschen Restaurationsperiode mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln der Zensur, Bespitzelung oder Einkerkerung der von ihnen als „unliebsame Elemente“ disqualifizierten Unruhestifter, die weiterhin auf nationaldemokratische Reformen drangen, aufrechterhielten. Die Folge davon war, daß die Literatur dieser Ära einen weithin gedrückten Eindruck erweckt. Es gab zwar nach wie vor einige liberal gestimmte Außenseiter, die jedoch in hoffnungsloser Isolierung meist nur für einzelpersönliche Freiheitsrechte eintraten. Doch selbst das wurde von den Zensurbehörden kaum geduldet, worauf sich besonders exponierte Vertreter solcher Gesinnungen häufig gezwungen sahen, in die Schweiz oder nach Paris auszuweichen. Noch schärfer wurden jene bespitzelt oder verfolgt, die auch die weiterhin sprachlose Mehrheit der Bauernbevölkerung gegen ihre jeweiligen Landesherren aufzuhetzen versuchten. Doch selbst solche Versuche verliefen wegen der weiterhin bestehenden Unaufgeklärtheit dieser Bevölkerungsschicht, welche bis in die dreißiger und vierziger Jahre noch immer die überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung bildete, stets ergebnislos.

V Eine allmähliche Änderung dieser Verhältnisse trat erst ein, als ab 1835 im Zuge der in Westeuropa bereits auf vollen Touren laufenden industriellen Revolution auch in einigen deutschen Landesteilen, vor allem im Ruhrgebiet und in Sachsen, die ersten Fabriken errichtet wurden und zugleich der Eisenbahnbau einsetzte. Und das machte im Hinblick auf den Gleis- und Waggonbau eine bis dahin ungeahnte Steigerung der Gußeisenerzeugung erforderlich, die auch in anderen Ländern eine Ausweitung der industriellen Produktion bewirkt hatte. Diese Entwicklung führte zwar in den Jahren des sogenannten Vormärz zwischen 1840 und 1848 zu einem steigenden Selbstbewußtsein der bürgerlichen Oberschicht, die sich in den Jahren zuvor eher mit einer „biedermeierlichen“ Angepaßtheit begnügt hatte, was jedoch nicht ausreichte, um den im März 1848 einsetzenden 17

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revolutionären Umtrieben jenen Elan zu verleihen, der zu einem siegreichen Ende dieser Aufstände geführt hätte. Schließlich waren es nur die rebellisch gesinnten Liberalen sowie die kleinbürgerlichen Handwerker, die in diesem Jahr gegen die weiterhin absolutistisch regierenden Fürsten auf die Barrikaden stiegen, während sie wenig unternahmen, auch die städtischen Gesindeschichten sowie die bäuerliche Bevölkerung für ihre Ideale zu begeistern. Wie schon die bürgerlichen Aufklärer der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts forderten daher die aus diesen Aufständen hervorgegangenen Vertreter des Frankfurter Paulskirchenparlaments – im Gegensatz zu von ihnen kaum beachteten Sozialrevolutionären wie Karl Marx und Friedrich Engels, die sich 1848 bereits für eine Gesamtumwälzung der bestehenden Macht- und Besitzverhältnisse einsetzten – in ihren Resolutionen meist nur erweiterte Rechte für ihre Klasse, während sie die Frage der sozialen Ungleichheit weitgehend unerörtert ließen. Und auch die Gedichte, Kleinepen und Romanfragmente, die sich zu den Idealen der Achtundvierziger bekannten, haben fast alle diesen ins Bürgerlich-Verfreiheitlichende tendierenden Zug, ohne auf die konkreten Sorgen der ärmeren Bevölkerungsschichten einzugehen, von denen nicht ein Einziger im Paulskirchenparlament vertreten war, obwohl dort ständig vom „deutschen Volk“ oder der „deutschen Nation“ geredet wurde, um den eigenen, zum Teil recht selbstsüchtigen Anschauungen mehr Gewicht zu verleihen. Und als dieses „tolle Jahr“ vorüber war, wie es in konservativen Kreisen später gern hieß, stellte sich in der folgenden Nachmärzperiode selbst bei vielen bisher liberal eingestellten Bürgerlichen ein ideologischer Katzenjammer ein, der allen obrigkeitsfeindlichen Regungen von vornherein aus dem Wege ging und eine selbstgefällige Status-quo-Gesinnung an den Tag legte. Die literarischen Werke dieser Richtung hat man schon damals mit Begriffen wie „Poetischer Realismus“ oder „Bürgerlicher Realismus“ zu charakterisieren versucht, da sie in realpolitischer Hinsicht auf irgendwelche Hoffnungen auf ein endlich vereinigtes Deutschland sowie eine von der Bürgerklasse ausgehende Rechtsordnung, die sich an einer als „demokratisch“ verstandenen Verfassung orientieren würde, zusehends verzichteten. Dennoch gab es auch in diesem Zeitraum einige bürgerliche Literaten und Publizisten, die zwar ebenfalls realpolitisch eingestellt waren, aber nicht davon abließen, sich weiterhin für das Zustandekommen eines deutschen Einheitsstaates einzusetzen, in dem nicht mehr die winzige Schicht der Fürsten und der von ihnen eingesetzten Kabinette, sondern bürgerliche Parlamentsvertreter die Regierung übernehmen würden. Und zwar setzten sie dabei ihre Hoffnung – im Zuge 18

Ein Abriß

der in diesem Zeitraum entstehenden Nationalliberalen Bewegung – vor allem auf die wirtschaftliche Tüchtigkeit der deutschen Kaufmannsschichten sowie die sich rasch ausweitende Industrialisierung, die zwischen 1850 und 1870 zu einer fortschreitenden Verstädterung führte. Während bis dahin noch fast 60 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig waren, bestand gegen Ende dieser zwei Jahrzehnte die Mehrheit der in den deutschen Teilstaaten lebenden Menschen aus selbständigen Bürgern, städtischen Handwerkern und lohnabhängigen Arbeitern, woraus sich – soziodemographisch gesehen – eine völlig neue Situation ergab. Angesichts dieser gesellschaftlichen Umschichtung spielten sich die Nationalliberalen als Vertreter des bürgerlichen Mittelstands immer selbstbewußter als die eigentlich staatstragende Bevölkerungsschicht auf. Sie setzten dabei ihre politischen Hoffnungen vor allem auf den Deutschen Zollverein, den Norddeutschen Bund sowie den zu nationaler Überlegenheit heranwachsenden preußischen Staat und unterstützten deshalb sogar die von Bismarck aus realpolitischen Gründen gegen das Habsburger Reich und Frankreich entfesselten Kriege, von denen sie sich eine nationale Vereinigung aller deutschen Teilstaaten erhofften. Und als sich diese Erwartung 1871 im Spiegelsaal zu Versailles erfüllte, waren sie erst einmal hochbeglückt, mußten jedoch schon kurze Zeit später erkennen, daß sie der realpolitisch taktierende Bismarck nur benutzt hatte, um seine zur Übermacht Preußens führende deutschnationale Politik durchzusetzen, während ihm die bürgerliche, an einem wirtschaftlichen Aufschwung interessierte Haltung der Nationalliberalen letztlich fremd geblieben war. Ja, Bismarck trennte sich sogar 1878 offiziell von ihnen und stützte sich fortan im Reichstag fast ausschließlich auf die konservativ eingestellten Abgeordneten, die sich literarisch vor allem auf die Größe der deutschen Klassiker beriefen und in der Gegenwartsliteratur vor allem jene Dramen, Epen und Romane begrüßten, in denen von germanisch-deutscher Macht und Herrlichkeit die Rede war. Trotz der 1873 einsetzenden Wirtschaftskrise, die bis in die frühen neunziger Jahre andauerte, herrschte daher in der offiziellen Literatur dieser Ära eine weitgehend systemkonforme Stimmung, die selbst die meisten der älteren bürgerlichen Realisten nicht grundsätzlich in Frage stellten. Lediglich die Vertreter der 1885 einsetzenden naturalistischen Bewegung, die weitgehend mit den sozialen Forderungen der von Bismarck als „gemeingefährlich“ eingestuften Sozialdemokratischen Partei sympathisierten, versuchten gegen diesen Trend ins Chauvinistische oder zumindest Großsprecherische Sturm zu laufen, der letztlich direkt oder indirekt auf eine ideologische Unterstützung der herrschenden Kartellparteien aus Großagrariern, Großindustriellen und anderen Großbürgern hinauslief. 19

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Ja, einige Naturalisten konnten sogar um 1890 gewisse Erfolge erzielen, wurden aber schon wenige Jahre danach, als eine ökonomische Konjunkturperiode begann, die bis zum Ersten Weltkrieg anhielt und durch die das Deutsche Reich, wie es jetzt hieß, in der Weltrangliste der führenden Industrienationen – nach den USA – die zweite Stelle einnehmen konnte, von eher bürgerlichluxurierenden Bewegungen, wie dem Impressionismus und dem Jugendstil, als unzeitgemäß diffamiert. Allerdings bewirkte diese Entwicklung zugleich, daß sich anschließend eine Reihe bürgerlicher Soziologen und Volkswirtschaftler, wie Rudolf Hilferding, Werner Sombart und Max Weber, endlich ernsthaft mit der Frage auseinanderzusetzen begannen, auf welche Weise die kapitalistische Wirtschaftsordnung das gesamte politische, soziale und kulturelle Leben zu verändern begann – eine Frage, mit der sich bisher nur eine kleine Anzahl sozialistisch orientierter Autoren beschäftigt hatte. Plötzlich wurde allerorten gefragt, wie diese Ordnung eigentlich entstanden sei, welche Auswirkungen sie auf die älteren Eigentumsverhältnisse ausübe, wie sich dadurch die demographische Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung verändert habe, ob man sie als eine die älteren gesellschaftlichen Rangvorstellungen aufhebende Bewegung begrüßen solle, ob sie den politischen Durchsetzungswillen der bürgerlichen Klasse begünstige, ob sie die neu entstandene Arbeiterklasse einem System skrupelloser Ausbeutung unterwerfe und viele andere Fragen mehr. All diese Überlegungen führten zu einer weitgehenden Spaltung der damaligen Bourgeoisie in drei deutlich von einander getrennte Schichten. Die großbürgerlichen Unternehmerkreise schlossen sich mehrheitlich den kaisertreuen Großagrariern und Großadligen an und unterstützten eine auf die Gewinnung neuer Rohstoffquellen und Absatzmärkte hinzielende Außenpolitik, die mittelständischen Schichten gaben ihren Neid auf die Reichen zusehends auf und begnügten sich mit ihren relativ gesicherten Einkommensverhältnissen, während sich die Kleinbürger weitgehend von den systemkonformen Medien ins patriotisch Gesinnte abdrängen ließen. Ja, dieser Entwicklung setzte nicht einmal die immer stärker ins Revisionistische abdriftende SPD einen aktiven Widerstand entgegen, so daß es aufgrund der herrschenden imperialistischen Stimmungsmache im August 1914 zu einer von breiten Schichten der deutschen Bevölkerung gutgeheißenen Kriegsbegeisterung kam. Zugegeben, es gab sowohl unter den bürgerlichen Intellektuellen als auch unter den Sozialdemokraten kleinere Gruppen, die sich nicht von irgendwelchen geheuchelten oder idealistisch verblendeten Phrasen hinreißen ließen, in den mörderischen Schlachten an der Westfront lediglich einen Krieg der deutschen 20

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„Helden“ gegen die englischen und französischen „Händler“ zu sehen, sondern die erklärten, daß es sich dabei vornehmlich um einen kapitalistischen Raubkrieg imperialistischer Staaten untereinander handele. Doch solche Stimmen wurden ständig von massiven Annexions- und Durchhalteparolen übertönt, die bis zur letzten Minute auf einen deutschen Siegfrieden drängten. Auch die sogenannte Novemberrevolution von 1918 führte demzufolge nicht zu einem allgemeinen Stimmungsumbruch. Es gab zwar einige linke Aufstände, aber sie wurden von der SPD oder reaktionären Freikorpsverbänden mühelos unterdrückt. Und auch die expressionistischen Revolutionsdramen, die zum gleichen Zeitpunkt aufgeführt wurden, erwiesen sich als politisch ineffektiv, da ihnen meist ein ins Unbestimmte zielendes „Oh Mensch“-Pathos zugrunde lag, das sich in einzelpersönlichen Retterphantasien erschöpfte, statt die eigentlichen Schuldigen unter den Kriegstreibern und Kriegsgewinnlern an den Pranger zu stellen, um so die sogenannten breiten Massen für eine nichtkapitalistische und damit nichtimperialistische Politik zu gewinnen. Was folgte, war daher wie nach der Revolution von 1848 ein ideologischer Katzenjammer, diesmal nicht „Nachmärz“, sondern „Neue Sachlichkeit“ genannt. Dieser Haltung lag eine marktwirtschaftliche Status-quo-Gesinnung zugrunde, die zwar zu einer dramatischen Produktionssteigerung führte, durch die Deutschland wiederum die Nummer 2 in der Rangliste der führenden Industrienationen wurde, sich aber trotz aller „republikanischen“ Versprechungen an der sozialen Ungleichheit zwischen den Adligen, Unternehmern, Mittelständlern, kleinbürgerlichen Angestellten, Arbeitern und Bauern wenig änderte. Es war zwar Mitte der zwanziger Jahre selbst auf seiten der SPD viel von einer „Wirtschaftsdemokratie“ die Rede, aber der Hauptakzent blieb dabei stets auf dem Ökonomischen und nicht auf dem Sozialbetonten. Als es daher im Herbst 1929 zu einer schwerwiegenden Wirtschaftskrise kam, das heißt ein merklicher Produktionsrückgang und eine galoppierende Arbeitslosigkeit einsetzte, schloß sich die Mehrheit der weiterhin kapitalistisch ausgebeuteten Arbeiterschaft, die damals etwa 50 Prozent der Bevölkerung bildete, eher republikfeindlichen Parteien wie der KPD oder der NSDAP an, als weiterhin einen Staat zu verteidigen, der unter Demokratisierung vor allem eine fordistische Kommerzialisierung verstanden hatte. Während sich die bürgerlichen Literaten in dieser Situation weitgehend hilflos verhielten, das heißt eine sich „unpolitisch“ gebende Abwartehaltung bezogen, drangen linke wie auch rechte Autoren zwischen 1929 und 1932 immer stärker darauf, endlich auch auf die Nöte der Arbeiterklasse einzugehen, indem sie eine grundlegende Änderung der bestehenden Eigentumsverhältnisse befürworteten, 21

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denen sie die Hauptschuld an der sich verschärfenden ökonomischen Krisensituation gaben. Die Linken beriefen sich dabei meist auf die Sowjetunion als den damals einzigen Staat, wo es aufgrund der dort eingeführten sozialistischen Planwirtschaft weder selbständige Unternehmer noch arbeitslose Proletarier gebe, während die Rechten eher das Leitbild einer nationalen Volkswirtschaft errichteten und sich dabei sogar der taktisch gemeinten Unterstützung der Großindustriellen erfreuten, denen es vor allem darum ging, eine eventuelle „Bolschewisierung“ Deutschlands zu verhindern. Bekanntermaßen kam es bei dieser Auseinandersetzung wegen der finanziellen Übermacht der Rechten schließlich am 30. Januar 1933 zu der von den Unternehmerkreisen und den Großagrariern bewirkten Machtübergabe an Adolf Hitler, von dem sich die herrschenden Schichten eine endgültige Liquidierung aller linken Bestrebungen erhofften. Und das trat auch ein. Die KPD wurde von der von Hitler angeführten Koalition aus NSDAP und Deutschnationaler Volkspartei umgehend verboten und ein Wirtschaftssystem durchgesetzt, in dem zwar so emphatisch wie möglich das Konzept einer alle Klassenschranken beseitigenden „Volksgemeinschaft“ propagiert wurde, in welchem jedoch die Industriekapitäne nach wie vor eine ihren Profitinteressen dienliche Rolle spielen konnten. Dagegen zu opponieren war danach nur noch jenen Autoren möglich, die im Exil weiterhin an ihren sozialistischen Überzeugungen festzuhalten versuchten und den „Anstreicher“ Hitler als einen Demagogen hinstellten, der mit seinen nationalistischen und zugleich rassistischen Ideologievorstellungen die weiter bestehenden Klassengegensätze lediglich zu „übertünchen“ suche und sich dadurch als ein Lakai des kapitalistischen Wirtschaftssystems erweise. Allerdings mußten diese Autoren erleben, daß sich diese Taktik innerhalb des Dritten Reichs als äußerst erfolgreich erwies und die Mehrheit des deutschen Volkes dem von Hitler mit allen propagandistischen Mitteln beschworenen Weg zu einer wahren „Volksgemeinschaft“, in der es nur noch Arbeiter der Faust und Arbeiter der Stirn geben würde, nur allzu willig folgte.

VI Als dieser von vornherein auf einen imperialistischen Raubkrieg hindrängende Staat am 8. Mai 1945 – nach fünf mörderischen Kriegsjahren – endgültig unterging, glaubten viele der deutschen Widerstandskämpfer und Exilanten, daß ihnen die Siegermächte jetzt die Chance geben würden, ein wahrhaft demokratisches Deutschland zu errichten, in dem die früheren Eigentumsverhältnisse, die immer wieder zu imperialistischen Bestrebungen geführt hätten, in Befolgung 22

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der im Potsdamer Abkommen beschlossenen Dekartellisierungs- und Bodenreformmaßnahmen ein für alle Mal abgeschafft würden. Und es gab in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch durchaus Ansätze dazu. Doch sie blieben weitgehend unerfüllte Hoffnungen. Schließlich setzte bereits 1947/48 jener Kalte Krieg zwischen den USA und der UdSSR ein, der im Hinblick auf das ihnen unterstellte Restterritorium des Dritten Reichs nicht nur politische, sondern auch ökonomische Konsequenzen hatte. Die Vereinigten Staaten bemühten sich fortan, in ihrem Einflußbereich die von der SPD geforderte Planwirtschaft, mit der diese Partei die Machtstellung der älteren Unternehmerkreise ausschalten wollte, mit allen Mitteln zu verhindern und die westlichen Besatzungszonen in ein kapitalistisches Bollwerk gegen den östlichen Kommunismus umzuwandeln, während die Sowjetunion in ihrer Besatzungszone ein staatlich reguliertes Wirtschaftssystem in Form volkseigener Betriebe durchsetzte, von dem sie sich eine Überwindung der unterm Kapitalismus weiter bestehenden Klassengegensätze versprach. Und das führte im Spätherbst 1949 schließlich zur Teilung Deutschlands in zwei sich feindlich gegenüber stehende Staaten: der westlichen Bundesrepublik Deutschland und der östlichen Deutschen Demokratischen Republik, die sich in ihren Regierungserklärungen den jeweils durch den Kalten Krieg vorgegebenen Ideologien der USA und der UdSSR anschlossen, das heißt in dem einen Staat wurde der Antikommunismus und in dem anderen der Aufbau des Sozialismus propagiert. Da es in der BRD zu einer bruchlosen Weiterführung des marktwirtschaftlichen Systems kam und sie sich obendrein großzügiger Kreditzahlungen im Rahmen des sogenannten Marshall-Plans erfreute, herrschte in ihr – ökonomisch gesehen – eine äußerst günstige Ausgangsposition, die schnell zu einer steigenden Wohlstandsvermehrung führte. Die DDR hatte dagegen aufgrund der mühsamen Umstellung auf ein planwirtschaftliches System und zugleich der Reparationsleistungen an die Sowjetunion von vornherein eine wesentlich schwerere Ausgangsposition. Um überhaupt Fortschritte in ökonomischer Hinsicht zu erzielen, forderte sie daher ihre Autoren und Autorinnen auf, sich in ihren Werken vor allem um die Herausstellung „positiver Helden“ beim Aufbau des Sozialismus zu bemühen, während sie die Arbeiterschaft durch ein finanzielles Prämiensystem für erhöhte Normerfüllungen zu gewinnen suchte. Beide Bemühungen erwiesen sich – aufgrund antirussischer Ressentiments – zu Anfang nicht als besonders erfolgreich und stießen selbst bei den von der SED umworbenen Werktätigen vielfach auf Unwillen, nämlich als Arbeiter in einem Arbeiterstaat mehr malochen zu sollen als unter den früheren kapitalistischen

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Bedingungen, was zu einer verbreiteten Republikflucht und sogar zu Aufständen führte. In der frühen Bundesrepublik nahm dagegen alles seinen gewohnten kapitalistischen Verlauf. Die Unternehmer heimsten nach wie vor beträchtliche Gewinne ein, die sie zum Teil in die Modernisierung ihrer Betriebe investierten, was sich als so effektvoll erwies, daß die BRD gegen Ende der fünfziger Jahre zum wirtschaftlich stärksten Land Europas aufstieg und auch für die Arbeiter in der sogenannten Wirtschaftswunderwelt dieses Zeitraums ein beachtliches Stück vom großen Kuchen abfiel. Von den dort lebenden Autoren und Autorinnen fühlte sich daher bis weit in die sechziger Jahre hinein fast niemand bemüßigt, in seinen Dramen oder Romanen auch auf die zum Teil ins Kleinbürgertum aufsteigende Arbeiterklasse einzugehen, zumal die weiterhin anfallenden Drecksarbeiten ab 1955 zumeist von sogenannten Gast- oder Leiharbeitern aus anderen, wirtschaftlich weniger begünstigten Ländern Europas verrichtet wurden. Eine Änderung dieser Verhältnisse trat erst ein, als es in den Jahren 1966/67 zur ersten Wirtschaftskrise in der Bundesrepublik kam und die bis dahin herrschende Konsensusstimmung vorübergehend von einer politischen Polarisierung abgelöst wurde, die sowohl das Aufflackern linker als auch rechter Tendenzen begünstigte. Vor allem die der 1968 gegründeten DKP nahestehenden Intellektuellen, aber auch viele der studentischen Achtundsechziger forderten plötzlich in politischen Diskussionen sowie in der Literatur, nicht nur auf die Probleme der bürgerlichen Klasse, sondern auch auf die Lebensbedingungen der westdeutschen Arbeiterschaft einzugehen und sich dabei an den Dramen und Romanen des Naturalismus, des Bunds proletarisch-revolutionärer Schriftsteller der zwanziger Jahre sowie des in der DDR propagierten Bitterfelder Wegs zu orientieren. Um endlich auch authentische Einblicke in das Leben dieser bisher in der literarischen Öffentlichkeit kaum existierenden Bevölkerungsschicht zu gewinnen, kam es dabei sogar zur Gründung von Zirkeln schreibender Arbeiter, was im Rahmen sogenannter Werkkreise erfolgte. Doch diese Bemühungen versandeten schnell wieder, woran nicht nur die von der SPD-Regierung verhängten Radikalenerlasse und Berufsverbote linker Wissenschaftler schuld waren, sondern weil um 1970 erneut ein wirtschaftlicher Erholungstrend begann und daher die mit den gegebenen Verhältnissen weitgehend zufriedengestellte Arbeiterschaft derartigen Bemühungen kein ernsthaftes Interesse entgegenbrachte. Ja, im Zuge der in den frühen achtziger Jahren verstärkt einsetzenden antisozialistischen Propaganda und der damit verbundenen Abwendung von allen sozialkritischen, das heißt basisdemokratischen Fragestellungen 24

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propagierten viele systemimmanente Medien wiederum die schon in den fünfziger Jahren herrschende These von der „Sozialpartnerschaft“ zwischen den Unternehmerkreisen und der durch die zunehmende Automatisierung der industriellen Produktionsweisen zahlenmäßig abnehmenden Arbeiterklasse. Den vorläufigen Abschluß dieser Entwicklung bildete der im Jahr 1989 erfolgte Zusammenbruch des Ostblocks und der sich daraus ergebende Untergang der DDR, was dazu führte, daß dadurch mit einem Schlag alle bisherigen Alternativkonzepte zum kapitalistischen Wirtschaftssystem ihren zwischendurch immer wieder aufgeflackerten Glanz verloren und den meisten Menschen nur noch die durch nichts gehemmte Freie Marktwirtschaft als die einzig mögliche Gesellschaftsform erschien.

VII Seitdem war in der offiziellen Öffentlichkeit des am 3. Oktober 1990 wiedervereinigten Deutschlands von irgendwelchen Arbeiterproblemen kaum noch die Rede. Selbst viele der ehemaligen DDR-Schriftsteller und -Schriftstellerinnen zogen es danach vor, nicht mehr den sozialistischen „Weg vom Ich zum Wir“ zu propagieren, sondern sich wie ihre westlichen Kollegen und Kolleginnen wieder den Problemen ihres eigenen verbürgerlichten Ichs zuzuwenden. Während rings um sie herum in den sogenannten Neuen Bundesländern alle volkseigenen Fabrikanlagen stillgelegt wurden, eine bis dahin für unmöglich gehaltene Arbeitslosigkeit anbrach und Hunderttausende von Ostlern in die BRD abwanderten, fühlten sie sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – plötzlich sprachlos geworden. All das Neue, die vielen Gründerexistenzbüros, die Möglichkeit von Banken vielversprechende Kredite zu erhalten, die Hektik des kapitalistischen Wettbewerbs, der Verlust der beruflichen Abgesichertheit und die steigenden Mietpreise, verstörten sie erst einmal zutiefst und lösten bei vielen nur schwer zu unterdrückende Nostalgiegefühle aus. Und doch – verführt von den westlichen Freiheitsversprechungen und den sich schnell mit lange entbehrten Konsumgütern füllenden Warenhäusern und Läden – entschlossen sich die Dagebliebenen dennoch, lieber die CDU oder die SPD als die PDS oder später Die Linken zu wählen, wodurch sich auch hier der von den Meinungsträgerschichten des wiedervereinigten Deutschlands propagierte „Sozialfrieden“, das heißt eine weitgehende Verwestlichung, durchsetzte. Allerdings hatte dieser von vielen Westdeutschen, aber auch von großen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung zu Anfang der neunziger Jahre begeistert begrüßte Triumph des Kapitalismus über den Staatssozialismus in der DDR 25

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nicht nur die von breiten Schichten der Bevölkerung erhofften Folgen. Schließlich kam es in der Zeit danach sowohl in den von Helmut Kohl mit vollmundiger Emphase anvisierten „blühenden Landschaften“ jenseits der Elbe, in denen jetzt statt des angestrebten Kommunismus ein sich zaghaft entwickelnder Konsumismus herrschte, als auch in den Ländern der ehemaligen Bundesrepublik zu einer Reihe systemimmanenter Krisensymptome, die selbst mit noch so erfolgversprechenden Wohlstandsparolen nicht aus der Welt zu schaffen waren. Zugegeben, die neue Bundesrepublik blieb auch in der Folgezeit die stärkste Industriemacht Europas, geriet aber im Rahmen der Wettbewerbswirtschaft der sich rapide globalisierenden New Economy zusehends stärker in den Sog der internationalen Finanzmärkte, deren ständig wiederkehrende Krisen auch sie zu spüren bekam. Plötzlich waren es nicht mehr die Initiativen besonders geschäftstüchtiger Unternehmer, sondern die Börsenkurse und die Kreditvergaben der großen Banken, welche den entscheidenden Einfluß auf die erhofften Profitsteigerungen der sich weltweit verflechtenden Monopolkonzerne hatten. Dadurch wurde die Eigentumsfrage selbst für die in diesen Trusts oder Banken beschäftigten Menschen, die sich nicht mehr wie früher irgendwelchen eigenmächtig handelnden Unternehmern, sondern weitgehend einer anonym bleibenden Schicht von Managern gegenüber sahen, immer „undurchschaubarer“, wie es jetzt gern hieß, um im Bereich des Unkonkreten zu bleiben. Und wo es dennoch zu negativen Reaktionen auf diese Entwicklung kam, versuchten die systemimmanenten Medien die zunehmende Intransparenz dadurch zu verharmlosen oder gar zu beschönigen, indem sie derartige Prozesse als eine fortschreitende Verfreiheitlichung hinstellten, welche allen Beschäftigten eine größere berufliche Flexibilität ermöglichten, nämlich nicht mehr irgendwelchen tyrannisch auftretenden Unternehmern gegenüberzustehen, sondern einem Team gleichgestellter Angestellter anzugehören, in dem nur noch das Leistungsprinzip herrsche. Und diese Haltung spiegelt sich sogar in einigen literarischen Werken der Nachwendezeit wider, in denen es vornehmlich um die Probleme der Managerschicht geht, während von den kleinen Angestellten oder Arbeitern kaum noch die Rede ist. Damit scheint in der steilen Erfolgskurve der Freien Marktwirtschaft ein Zustand erreicht zu sein, der sich kaum noch als „Demokratie“, nämlich „Volksherrschaft“, charakterisieren läßt. Während sich die Bürger der Aufklärung des 18. Jahrhunderts von einem solchen Wirtschaftssystem noch in erster Linie eine Abschaffung der älteren gesellschaftlichen Rang- und Eigentumsvorstellungen feudalistischer oder absolutistischer Herrschaftssysteme und damit eine allen 26

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Bevölkerungsschichten zukommende Wohlstandsvermehrung versprachen, ja selbst die deutschen Nationalliberalen des 19. Jahrhunderts in der Redlichkeit der bürgerlichen Kaufleute noch eine dem gesamten Staat nützliche Tätigkeit sahen, haben danach die Bankherren und Börsenspekulanten dieses System in den letzten Jahrzehnten aus einer Plutokratie in eine Finanzoligarchie verwandelt, in der in allen politischen, sozialen und kulturellen Bereichen nur noch das „liebe Geld“, und zwar in immer hektischer werdenden Umlaufzyklen, die entscheidende Rolle spielt. Welche bedrohlichen Folgen all das haben könnte, läßt sich schon heute mit einiger Sicherheit vorhersehen. Da wäre erst einmal die nur noch auf Profitsteigerung bedachte Überindustrialisierung, bei der nicht mehr der Gebrauchswert, sondern nur noch die gewinnvermehrende Funktion der erzeugten Produkte im Vordergrund steht. Und das wird zu einer Massenproduktion führen, die nicht nur zyklisch wiederkehrenden Wirtschaftskrisen ausgesetzt ist, sondern auch weitreichende ökologische Gefahrenmomente in sich birgt, die sich in den anbahnenden Klimaveränderungen und dem Verlust nachhaltiger Landwirtschaftsgebiete schon heute bemerkbar machen. Außerdem wird durch die zunehmende Automatisierung der industriellen Herstellungsverfahren und die gleichzeitig zunehmende Bevölkerungszahl die sogenannte Reservearmee der Arbeitslosen sowie nur noch Teilbeschäftigten ständig zunehmen und somit den wenigen Stinkreichen eine unübersehbare Fülle von Habenichtsen gegenüber stehen. Vor allem seit den neunziger Jahren ist im Zuge der New Economy der Unterschied zwischen den höchsten und niedrigsten Einkommensklassen in Deutschland immer größer geworden. Man kann daher die BRD durchaus als eins der reichsten Armenhäuser der Welt bezeichnen. Dafür sprechen unter anderem folgende Fakten. Während das Monatseinkommen der Vorsitzenden der DAXAktiengesellschaften durchschnittlich 400.000 Euro beträgt, müssen 75 Prozent aller Einwohner mit einem monatlichen Nettoeinkommen von rund 2.000 Euro auskommen. Ja, die Vermögensverteilung ist sogar noch ungleicher als die Einkommensstaffelung. So besitzen 10 Prozent aller Erwachsenen über 60 Prozent des Gesamtvermögens, während den unteren 80 Prozent der Bevölkerung weniger als 20 Prozent des Gesamtvermögens gehört – ganz zu schweigen von den vielen Armen, Teilzeitbeschäftigten, Hartz IV-Empfängern oder Obdachlosen, die überhaupt keine finanziellen Rücklagen ihr eigen nennen können. Angesichts dieser Verhältnisse fragt man sich: Wo haben sich eigentlich Gegenkräfte zu dieser Entwicklung zu Wort gemeldet, die weiterhin an das Ideal einer 27

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wohlfunktionierenden, das heißt sozial gerechten Demokratie glauben und nach wie vor hoffen, diesem scheinbar unaufhaltsamen Prozeß Einhalt gebieten zu können? Nun, es gibt sie schon, aber ihre Stimmen verhallen aufgrund ihrer Randständigkeit weitgehend im Leeren, ohne ein Echo in den von den führenden Meinungsträgerschichten beeinflußten Massenmedien zu finden. Daher seien an dieser Stelle wenigstens einige von ihnen aufgezählt. So wiesen etwa Herbert Schui und Eckart Spoo schon 1996 in ihrem Buch Geld ist genug da. Reichtum in Deutschland nachdrücklich darauf hin, daß in der Bundesrepublik die Sozialpolitik immer stärker der Sicherung des Industriestandortes BRD untergeordnet werde, was einerseits zu Milliardengewinnen der Banken und Versicherungen, der Chemie- und Energiekonzerne, andererseits zu einer Kürzung der bisherigen Sozialleistungen und somit zu einer Entsolidarisierung und der sich daraus ergebenden Entdemokratisierung geführt habe. Ein Jahr später riefen die gleichen Autoren am 9. Januar in ihrem Erfurter Programm, und zwar unter Berufung auf den Artikel 14.2 des Grundgesetzes „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohlergehen der Allgemeinheit dienen“, alle mit ihnen Gleichgesinnten auf, sich für eine gerechtere Verteilung der Einkommen und Güter, für Steuerehrlichkeit und für eine Überwindung der Arbeitslosigkeit einzusetzen, das heißt einer Regierung zur Macht zu verhelfen, die das „Vertrauen der Bevölkerung in ihre Demokratie“ stützen würde. Und es gelang ihnen sogar, dafür als Erstunterzeichner dieses Manifests unter anderem Elmar Altvater, Frank Castorf, Günter Grass, Max von der Grün, Stefan Heym, Walter Jens, Peter von Oertzen, Ulrich Plenzdorf, Erika Runge, Dorothee Sölle und Gerhard Zwerenz zu gewinnen. Doch auch dieser Protest verhallte weitgehend im Leeren. Erst nach der im Jahr 2008 einsetzenden Wirtschaftskrise vermehrten sich derartige Warnungen wieder. Dafür spricht nicht nur Jutta Ditfurths Manifest Zeit des Zorns. Warum wir uns vom Kapitalismus befreien müssen von 2012, sondern auch Hans-Ulrich Wehlers Buch Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland von 2013, die beide höchst kritisch auf die exzessive Hierarchisierung innerhalb der deutschen Bevölkerung hinwiesen, die als Folgeerscheinung des „habgierigen, blindwütigen Turbokapitalismus“ nicht nur zu einer sozialen Ungerechtigkeit, sondern zugleich zu einer Zunahme ökologischer Risiken geführt habe. Trotz aller mediengesteuerten Propaganda für einen „pluralistischen, individualisierenden Lebensstil“ dominiere daher in diesem Lande, schrieben sie, eine sich weiterhin verschärfende Klassenstruktur, das heißt ein rasantes Anwachsen der Spitzeneinkommen, eine Schrumpfung des Mittelstandes sowie eine Zunahme 28

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der Armen und Ärmsten, was Wehler als eine „krasse Verletzung der allerseits beschworenen Gerechtigkeitsvorstellungen“ bezeichnete, durch die das Wort „Demokratie“ zu einer nichtssagenden Phrase geworden sei. Solche Stimmen in allen Ehren! Doch wo formieren sich eigentlich irgendwelche, auf größere Schichten der Bevölkerung einwirkende Gruppen oder Parteien, die derartige Appelle unterstützen würden? Nun, es gibt neuerdings die Occupy-Bewegung, die mit auf soziale Gleichheit drängenden Parolen vor den Toren der Deutschen Bank in Frankfurt Demonstrationen abhielt. Aber hat das bisher zu einem Umdenken innerhalb breiter Bevölkerungsschichten geführt? Kaum. Selbst die meisten Arbeiter hoffen – trotz der energischen Gegenwehr der Industrieverbände – weiterhin lediglich auf Tarifverhandlungen, von denen sie sich eine Besserung ihrer finanziellen Situation versprechen, ohne bei derartigen Gesprächen auf eine radikale Umverteilung der bestehenden Vermögensverhältnisse zu bestehen. Und auch das sogenannte Prekariat der Teilzeitbeschäftigten verzichtet weitgehend auf irgendwelche sozialpolitischen Forderungen, die zu einer Änderung der gegenwärtig herrschenden Vermögens- und Eigentumsverhältnisse führen könnten. Sogar in der deutschen Gegenwartsliteratur gibt es kaum Werke, die in dieser Hinsicht neue Alternativvorstellungen enthalten. Ja, wer als randständiger Intellektueller dennoch „konkrete Utopien“ zu entwerfen versucht, wird meist als Doomsday-Philosoph oder gar Apokalyptiker abgetan. Doch damit entlarven sich derartige Beschöniger der heutigen Situation lediglich als uneinsichtige Betonköpfe. Denn, „Wenn es so bleibt, wie es ist“, wie manche Sprecher auf dem linkskritischen Flügel der grünen Bewegung bereits in den achtziger Jahren gesagt haben, „bleibt es nicht.“

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Der erste deutsche Kaufmannsroman Rudolf von Ems’ Der guote Gêrhart (um 1220)

I Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Von einer Wertschätzung des Geldes kann in Deutschland vor dem frühen 11. Jahrhundert noch kaum die Rede sein. Es gab zwar schon einige Städte, in denen sich eine winzige Schicht gewerbe- und handeltreibender Bürger durch die Einführung des Münzwesens aus dem bis dahin herrschenden feudalistischen Fronsystem zu befreien versuchten, aber auf die Gesamtheit der sozioökonomischen Verhältnisse hatte das noch keinen merklichen Einfluß. Was damals zählte, war weiterhin der auf einer Naturalienwirtschaft beruhende Landbesitz der Herzöge, Bischöfe, Äbte, Grafen und Mitglieder des niederen Adels – und nicht das Geld. Diese Schichten und die in ihrem Dienst stehenden Ministerialen lebten fast ausschließlich von jenen Abgaben, die ihnen die leibeigenen Bauern und andere Fronbauern sowie die in ihren Diensten stehenden Handwerker, die insgesamt fast 95 Prozent der Bevölkerung bildeten, in Form des Zehnten oder anderen Tributen regelmäßig zur Verfügung stellen mußten. Aufgrund dieser geradezu archaischen Gesellschaftsordnung, die rein auf den Prinzipien von Herrschaft und Dienst beruhte, wurden nicht nur von den geistlichen, sondern auch von den weltlichen Oberschichten allen Vorstellungen, die mit körperlicher Arbeit oder dem allmählich aufkommenden Geldwesen zusammenhingen, noch kein besonderer Wert zugesprochen. Und zwar lassen sich dabei zwei Haltungen unterscheiden. In den Schriften der höfischen oder ritterlichen Kreise wurde sowohl die Welt der fronenden Bauern als auch die der entstehenden Kaufmannsschichten einfach verschwiegen. Hier galt als „arebeit“ allein die Aventiure, das Turnier oder der Minnedienst, während die körperliche Arbeit von vornherein als erniedrigend empfunden wurde. Von jedem Ritter wurden daher lediglich irgendwelche Bestätigungsabenteuer, aber keine handwerklichen Fähigkeiten, ja nicht einmal das Schreiben und Lesen verlangt, sondern im Sinne der Artus-Epen vornehmlich hochgemute Taten erwartet, in denen er sich als Beschützer edler Damen, als Kämpfer gegen die das Christentum 30

Rudolf von Ems’ Der guote Gêrhart (um 1220)

bedrohenden Heiden oder als Überwinder tierähnlicher Fabelwesen erweist. Von Fronbauern oder Handelsherren, die dieser Gesellschaftsschicht ihren Lebensunterhalt ermöglichten, ist dagegen in den ritterlichen Epen des Hochmittelalters selten oder nie die Rede. In ihnen stehen die Parcivals, die Ereks und die Tristans im Mittelpunkt, aber nicht irgendwelche sich mühsam abplackende Bauern, unentwegt emsige Handwerker oder auf finanziellen Gewinn bedachte Fernhandelskaufleute. Soviel zur Taktik der Ependichter des 11. und 12. Jahrhunderts, dem Problem der gesellschaftlichen Ungleichheit durch das Verschweigen der Mehrheit der damaligen Bevölkerung einfach aus dem Wege zu gehen. Doch wie verhielten sich eigentlich die geistlichen Herren, von denen man eher ein christliches Bruderschaftsdenken erwarten würde, dem Problem der krassen sozialen Ungleichheit zwischen der kleinen Anzahl der Herrschenden und der überwältigenden Mehrheit der von ihnen ausgebeuteten Bauern und Handwerker gegenüber? Während sich die weltlichen Herren, wie gesagt, bemühten, die niederen Schichten in ihren Schriften einfach zu übersehen, bedienten sich die geistlichen Herren zur Rechtfertigung ihres gesellschaftlich bevorzugten Standes fast durchgehend der theologischen Lehrmeinung, die körperliche Arbeit als einen sich aus dem Sündenfall Adams und Evas ergebenden Fluch hinzustellen, mit dem Gott die unbotmäßigen Menschen auf alle Ewigkeit bestraft habe.1 So heißt es etwa in der Milstäter Genesis aus der Zeit um 1130: „der vluoch muoz ubir dich gan, du viel unsaelich man. / swaz du hinnfur gizzest, vil harte du daz erantest, / du muost mit arbeiten dinen lip leiten.“2 Der einzige Trost, den die Kirche den armen Bauern und Handwerkern spendete, lag darin, wie es in der späteren Sekundärliteratur heißt, „daß vor Gott alle Menschen gleich seien und daß einst nach dem Tod Reiche wie Arme, Mächtige und Machtlose auf derselben Stufe vor dem Thron des Weltenrichters stehen würden. Allerdings – bis es soweit war, hatte jeder, dem das Los der Arbeit zugefallen war, seinem Herrn treu und eifrig zu dienen, selbst wenn dieser ein übler Herr sein sollte. Einzig und allein durch Dienen vermochten die Angehörigen der niederen Schichten sich das Himmelreich erwerben.“3 Eine ähnliche Haltung bezogen die geistlichen Würdenträger bis gegen Anfang des 13. Jahrhunderts, ja zum Teil noch weit darüber hinaus, den städtischen Handelstreibenden gegenüber, die sie gern an jene Stelle in Jesus Sirach 31,5 erinnerten, wo es heißt: „Wer Geld liebhat, der bleibt nicht ohne Sünde; und wer Gewinn sucht, der wird mit ihm zugrunde gehen.“4 Solche Leute erschienen ihnen lediglich als Gauner oder Halsabschneider, die nur auf ihren eigenen 31

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Nutzen bedacht seien, indem sie im Rahmen der allmählich aufkommenden Geldwirtschaft durch ihren eigennützigen Wuchergeist die ältere Naturalienwirtschaft zu untergraben versuchten, statt sich weiterhin in jene gottgefällige Sozietät einzuordnen, in der es innerhalb der unteren Bevölkerungsschichten noch keine von der körperlichen Arbeit Befreiten und damit keine als eigenmächtig auftretende Menschen gegeben habe, die sich nicht an die von der Kirche propagierten Ordo-Vorstellungen gehalten hätten. Mit derartigen Lehren, die letztlich gegen die im Neuen Testament verkündete Gleichheit aller Menschen verstießen, verwickelte sich der Klerus zwangsläufig in eine Fülle theologischer Widersprüche. Daher sah er sich gezwungen, seine Schäflein immer wieder mit der kompensatorisch gemeinten Verheißung zu trösten, daß nach dem Jüngsten Gericht die Letzten sicher die Ersten seien, die in das Himmelreich eingehen würden. Es gab sogar einige Priester, die von den gottgefälligen „pauperes Christi“ sprachen, welche sich durch die demütige Akzeptanz ihrer ärmlichen Lebensbedingungen, ja bewußten Abkehr von jeglicher weltlichen Hoffart, nach ihrem Tode einmal der besonderen Gunst Gottes erfreuen würden. Manche solcher als vorbildlich hingestellten „pauperes“ wurden von den kirchlichen Würdenträgern sogar zu Heiligen erhoben. Kurzum: Während die höfische Literatur des Hochmittelalters das mühselige Leben der unteren Bevölkerungsschichten einfach verschwieg, herrschte in den geistlichen Schriften dieser Ära weitgehend die Tendenz, die unfreie körperliche Arbeit der Bauern und Handwerker als eine notwendige Folge der Erbsünde hinzustellen und das geschäftige Tun der frühbürgerlichen Handels- und Gewerbetreibenden als ein dem Teufel verschworenes Wucherwesen zu diffamieren, das diesen Schichten das ewige Seelenheil verwehren würde.

II Ein allmählicher Wandel in dieser Hinsicht setzte erst in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts ein, als in mehreren Städten entlang des Rheins und der Donau, wie in Köln, Mainz, Straßburg, Worms und Ulm, aber auch anderswo, wie in Freiburg, Nürnberg und Regensburg, von den dort residierenden Bischöfen und Burggrafen den ortsansässigen Bürgern, das heißt den „burgære“ oder „borgere“, die in den meisten Urkunden dieser Zeit als „civis“, „burgensis“ oder „urbanis“ auftauchen, immer mehr Rechte in der Stadtverwaltung eingeräumt wurden. Eine wichtige Rolle bei dieser Auflockerung des hochmittelalterlichen Lehnsoder Ordo-Systems spielte dabei die kleine Gruppe jener Familien, die als vermögende Fernhandelsleute oder „meliores“ innerhalb dieser Schichten das zuse32

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hends selbstbewußter auftretende Patriziat bildete.5 Neben den reichen Handelsherren gehörten dazu auch die „milites“, wie die in der städtischen Verwaltung tätigen adligen Ministerialen hießen. Da sich diese beiden Bevölkerungsgruppen im Laufe der Zeit allmählich vermischten, führte das in diesen Schichten zu einer immer stärkeren Angleichung ritterlicher und kaufmännischer Rang- und Mentalitätsbefindlichkeiten, was eine merkliche Abschwächung der älteren höfischen und geistlichen Ordo-Vorstellungen, das heißt der angeblich von Gott hierarchisch eingerichteten Gesellschaftsordnung bewirkte. Und so kam es, daß in manchen Bischofsstädten die Fernhandelsherren, welche nicht nur die Adligen und Kleriker mit den von ihnen begehrten Luxusgütern, wie kostbaren Stoffen, Pelzen, Gewürzen usw., belieferten,6 sondern auch den städtischen Markt mit weniger wertvollen Gütern, wie Wolle, Tuch, Getreide und Metallwaren, versorgten, ihren Reichtum ständig vermehrten und zugleich versuchten, sich neben den älteren adligen und klerikalen Oberschichten als eine neue politische Führungsmacht durchzusetzen. Ein gutes Beispiel dafür bietet die Stadt Köln im ausgehenden 11. Jahrhundert, wo es unter der Führung der im Fernhandel tätigen bürgerlichen Oberschicht schon im Jahr 1074 zum ersten Aufstand gegen den erzbischöflichen Stadtherrn kam, mit dem die rebellischen „burgære“ ein Mitspracherecht im Rahmen der bischöflichen Stadtregierung erzwingen wollten.7 Dieser Versuch scheiterte zwar, machte aber deutlich, wie stark bereits der Emanzipationswille der sich als „frei“, das heißt nicht mehr in die bisherigen Dienstverhältnisse eingebundenen Bürger war, weist jedoch in seinem Scheitern zugleich darauf hin, wie unüberwindbar selbst zu diesem Zeitpunkt, als die relativ kleine Schicht der bürgerlichen Geldbesitzer bereits mit den adligen Landbesitzern zu konkurrieren begann, sowohl der hochmittelalterliche Ordo-Gedanke als auch die militärische und politische Übermacht des Adels und des Klerus in diesen Jahren immer noch waren. Doch, dennoch, trotz alledem war durch den allmählich einsetzenden Übergang von der Naturalien- zur Geldwirtschaft ein sozioökonomischer Prozeß in Gang gekommen, der das ältere Standesgefüge, das nur Herrschende und Dienende kannte, zusehends in Frage stellte. Und das führte zwangsläufig zu folgender, sich auf den ersten Blick widersprechender Entwicklung. Die Adligen und die Kleriker verachteten zwar weiterhin die ihnen als Wucherer erscheinenden „Pfeffersäcke“ unter den bürgerlichen Großkopfeten, mußten aber dieser Schicht aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stärke in größeren Städten wie Köln immer mehr Rechte einräumen, während umgekehrt die Patrizier innerhalb der bürgerlichen Schicht das durch ihren immer größer werdenden Geldbesitz ermög33

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lichte politische Mitspracherecht durch den Erwerb der Ritterwürde sowie den Ankauf landadliger Besitztümer außerhalb der Städte zu legitimieren versuchten. Im Hinblick auf die Stadt Köln traf das vor allem auf den Fernhandelskaufmann Gerhardus zu, der nicht nur der reichste der dortigen Handelsherren war, sondern zugleich das Amt des Zoll- und Münzmeisters bekleidete und sich obendrein seinem Erzbischof als Kreditgeber nützlich erwies.8 Ja, dieser Gerhardus scheint einer der vermögendsten Kaufleute im gesamten damaligen deutschsprachigen Hoheitsbereich gewesen zu sein, der sich trotz mancher Verunglimpfungen von seiten der Kirche und des Adels, die ihn als Gerhardus Immoderatus bzw. Gêrhart Unmâze diffamierten, ein beträchtliches Ansehen verschaffte. Dieser Großkaufmann war gegen Ende seines Lebens so berühmt, daß er auch außerhalb Kölns zu den prominentesten Männern des späten 12. Jahrhunderts gerechnet wurde. Als daher ein süddeutscher Ministeriale aus der Gegend von Konstanz namens Rudolf von Ems um 1220 sein erstes Versepos unter dem Titel Der guote Gêrhart verfaßte, in dem er nicht mehr – wie in der Literatur der Jahrzehnte zuvor – einen Ritter, sondern einen reichen Kaufmann namens Gêrhart zur Hauptfigur erkor, konnte er sicher sein, daß er der damaligen „gelehrten“ Welt keinen unbekannten Helden vorstellte. Was ihn zu dieser Wahl bewegte, welche scheinbar gegen alle Regeln der höfischen Epik verstieß, hat der späteren Forschung, die gegen Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte,9 viele Rätsel aufgegeben, zu deren Entschlüsselung erst einige Studien der letzten Jahrzehnte die nötigen Hinweise geliefert haben.

III Trotz der seit der deutschen Romantik einsetzenden Wertschätzung der mittelalterlichen Literatur hat man den Werken von Rudolf von Ems bis weit in das 20. Jahrhundert hinein kaum ein nachdrückliches Interesse entgegengebracht. Was lange Zeit – neben dem Nibelungenlied und den Minneliedern dieses Zeitraums – im Vordergrund stand, waren fast ausschließlich die im späten 12. Jahrhundert entstandenen Epen Hartmanns von Aue, Wolframs von Eschenbach und Gottfrieds von Straßburg, die als unüberbietbare Zeugnisse einer ritterlichen Hochkultur galten, welche an ethischer Gesinnung und formaler Vollkommenheit kaum zu überbieten seien. Sie wurden daher im Rahmen der altgermanistischen Forschung über Jahrzehnte hinaus als Ausdruck jener „Staufischen Klassik“ gewürdigt, durch den die deutsche Dichtung erstmals einen weltliterarischen Rang erhalten habe. Ja, Wilhelm Scherer stellte sie bekanntlich nach 1871 mit gründerzeitlicher Emphase als Werke einer „Blütezeit“ hin, die sich nur mit den 34

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bedeutendsten Dichtungen der Goethe-Zeit, das heißt den Werken der zweiten deutschen Klassik vergleichen ließen.10 Alles, was anschließend im 13. und 14. Jahrhundert – nach der glorreichen Ära Kaiser Barbarossas – geschrieben sei, wurde dementsprechend in der Folgezeit wegen seiner Abkehr von den höfischen Tugenden des hochmittelalterlichen Rittertums und seiner Hinwendung zu einer größeren Realistik sowie seiner eher historiographischen Orientierung als „epigonal“ abgewertet.11 Den Dichtungen von Rudolf von Ems, dessen Hauptwerke zwischen 1220 und 1254 entstanden, hat daher die ältere Germanistik, der es vornehmlich auf die Herausstellung nationaler Größe sowie ästhetischer Vollkommenheit ankam, wegen ihrer als unritterlich und undichterisch geltenden Gesinnung lange Zeit kaum Beachtung geschenkt. Erst nach der Ära des Nazifaschismus, als das Auftrumpfen mit der ritterlichen Gesinnung der ersten sogenannten „Blütezeit“ und dem damit verbundenen Deutschheitsgefühl plötzlich in Verruf geriet, begann man sich zusehends etwas genauer mit seinen Werken zu beschäftigen. Obwohl dabei auch poetologische Aspekte keineswegs vernachlässigt wurden, begannen sich manche liberal gesinnte Germanisten in zunehmenden Maße für die sozioökonomische Komponente in den Werken dieses Dichters zu interessieren, welche in den Epen und Minneliedern der sogenannten „Staufischen Klassik“ meist gar nicht oder nur am Rande behandelt werde. In den kurz zuvor entstandenen Dichtungen sei es fast ausschließlich, wie man jetzt schrieb, um die „geschlossene Gesellschaft“ der Fürsten sowie ihrer Ritter und Ministerialen gegangen, während bei ihm auch das auf ein politisches Mitspracherecht pochende Bürgertum eine bis dahin kaum wahrgenommene Rolle spiele. Einer der ersten, der diesen Aspekt etwas genauer ins Auge faßte, war 1950 der Neugermanist Friedrich Sengle, der den Guoten Gêrhart von Rudolf von Ems unter soziologischer Perspektive als eine von den höfischen Epen der vorausgegangenen Ära deutlich abgehobene „Patrizierdichtung“ interpretierte.12 Im Gegensatz zu den sich damals vom Nazifaschismus abwendenden genretheoretischen, existentialistischen oder religiösen Deutungsweisen literarischer Werke, die sich in der folgenden Adenauerschen Restaurationsperiode geradezu flächendeckend auszubreiten begannen,13 ging es Sengle unter sozialhistorischer Perspektive vor allem darum, dieses Werk als den ersten deutschen „Roman“ zu deuten, dessen Protagonist an jenen Gêrhart Unmâze gemahne, der als Kölner Fernhandelskaufmann während der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in dieser Stadt als ein zum Ritterstand gehörender Patrizier politisch und wirtschaftlich eine mitbestimmende Rolle gespielt habe.14 Sengle interpretierte deshalb 35

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den Guoten Gêrhart vornehmlich als eine „höfische Patrizierdichtung“, für die es in der damaligen Literatur keine maßgeblichen Vorbilder gebe.15 Als Belege dafür stützte er sich auf eine Reihe wirtschaftspolitischer Schriften, die schon vor ihm nachdrücklich darauf hingewiesen hätten,16 daß Köln zu damaliger Zeit eine der wichtigsten Handelsmetropolen innerhalb Deutschlands gewesen sei. Zu Schiff und zu Land habe in dieser Stadt bereits in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, wofür es genug Urkunden gebe, ein reger Güteraustausch mit England, den Ostseebereichen, ja selbst den Mittelmeergegenden bestanden, was sich in den Reiseerzählungen des Guoten Gêrhart nur allzu deutlich widerspiegele.17 Diese Patrizier, führte er aus, hätten ihren Reichtum weder einem angestammten Grundbesitz noch einem ortsgebundenen Gewerbe, sondern fast ausschließlich einem weitverzweigten, fast Gesamteuropa umspannenden Fernhandel verdankt und seien dadurch, wie auch der Protagonist des Guoten Gêrhart von Rudolf von Ems, ständig mit ihren Warenladungen auf Reisen gewesen, was ihnen nicht nur ein großes Geldvermögen, sondern auch eine allgemeine Bekanntheit verschafft habe. Eine derart soziologische Deutung dieses Werks blieb jedoch im eher konservativ gestimmten Klima der frühen westdeutschen Germanistik nicht unwidersprochen. Sowohl Xenja von Ertzdorff als auch Helmut Brackert setzten sich demzufolge 1967 bzw. 1968 in ihren Studien zu Rudolf von Ems von einer vornehmlich den materialistisch konkreten Aspekten des Guoten Gêrhart gewidmeten Interpretation ab.18 Eine erneute Betonung der klassenspezifischen Bedeutsamkeit dieses Werks läßt sich erst nach der sogenannten Achtundsechziger Bewegung beobachten. Dafür sprechen vor allem das Buch Der „ritterliche“ Kaufmann. Literatursoziologische Studien zu Rudolf von Ems’ „Der guote Gêrhart“ von Werner Wunderlich, das 1975 erschien, wie auch das nach der „Wende“ von 1989 im Jahr 1993 erschienene Buch Kaiser, Kaufmann und die Macht des Geldes. Gerhard Unmaze von Köln als Finanzier der Reichspolitik und der „Gute Gerhard“ des Rudolf von Ems von Sonja Zöller, die sich im Gefolge des in diesen Jahrzehnten ständig steigenden Interesses an geldwirtschaftlichen Problemen wesentlich stärker als bisher mit den ökonomisch höchst konkreten Aspekten des Guoten Gêrhart beschäftigten. Da dieses Interesse auch das Hauptanliegen des vorliegenden Buches ist, soll im folgenden – in Anlehnung an die Studien von Sengle, Wunderlich und Zöller – nochmals ein weiterer Deutungsversuch des Guoten Gêrhart unternommen werden, der sich bemüht, eher die soziologischen und wirtschaftspolitischen als

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die religiösen, historiographischen und formalästhetischen Aspekte dieses Werks herauszustellen.

IV Beginnen wir mit dem geographischen Rahmen dieses Romans, den vor allem Sonja Zöller genauestens lokalisiert hat.19 Im Mittelpunkt des Ganzen steht die Stadt Köln, die seit dem 11. Jahrhundert zu den größten und bedeutendsten Städten Deutschlands gehörte. Köln war damals ein wichtiger Knotenpunkt jener Ost-West-Handelsroute, durch den die Pelzwaren aus Rußland und dem Baltikum in den Westen kamen,20 unterhielt einen beträchtlichen Warenaustausch mit England und war zugleich einer der Ausläufer der von China über die arabische Welt führenden Seidenstraße. Zu den wohlhabendsten Großkaufleuten dieser Stadt gehörten daher vornehmlich die Pelz- und Tuchhändler. Auch der besagte Gêrhart Unmâze scheint sein Hauptvermögen nicht nur durch den Englandhandel, sondern auch durch den Verkauf von Pelz- und Seidenwaren erworben zu haben. Das gleiche gilt für die Hauptfigur des Guoten Gêrhart von Rudolf von Ems, dessen Protagonist ebenfalls einen einträglichen Handel mit Pelz- und Seidenwaren treibt. Doch nicht nur das. Sein Gêrhart beteiligt sich zugleich an dem seit der Zeit der Kreuzzüge aufblühenden Mittelmeerhandel, indem er mit seinen Schiffen bis nach Marroch (Marokko) segelt, um in der dortigen Stadt Castelgunt gewinneinbringende Geschäfte abzuwickeln. Von der Stadt Köln, dem Ausgangspunkt all dieser Handelsbeziehungen, erfahren wir im Guoten Gêrhart vor allem folgendes. Als Stadtherr von Köln fungiert in den ausführlichen Schilderungen des Hauptteils dieses Werks noch immer der Erzbischof, der nicht nur das geistliche, sondern auch das weltliche Oberhaupt dieser Stadt war. Ihm unterstanden als Stadtherrn sowohl die Domherren und alle anderen Kleriker als auch die ritterlichen Dienstherren und Ministerialen sowie sämtliche freien Bürger und deren Gesinde. Allerdings waren diese Schichten, wie man nach den immer noch herrschenden Ordo-Vorstellungen annehmen könnte, nicht mehr so klar voneinander geschieden wie noch 100 oder 200 Jahre zuvor.21 So galten zwar alle unter dem Klerus und dem Adel stehenden Bevölkerungsschichten gleichermaßen als »burgære“ oder „borgere“. Dennoch nahmen die reichen Handelsherren, wie der guote Gêrhart, als Vertreter des sogenannten Meloriats einen mit den adligen Ministerialen gleichgestellten gesellschaftlichen Rang ein, ja besaßen sogar im städtischen Rat ein gewichtiges Mitspracherecht, das den niedrig gestellten Bürgern, die weitgehend

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schlecht verdienende Handwerker oder kleine Gewerbetreibende waren, nicht eingeräumt wurde.22 Doch nun zu der Gestalt des guoten Gêrhart selber. Er ist ein Angehöriger jener Kölner Kaufmannsgilde, die sich „genôzschaft“ nannte,23 das heißt zu der lediglich die vermögenden Handelsherren gehörten. Als gutem Kaufmann geht es ihm in erster Linie um „gelt“, „gewin“, „lôn“, „wehsel“, „phand“ und „kouf“,24 also nicht vornehmlich um „êre“ oder „hohen muot“ wie in den ritterlichen Epen seiner Vorgänger, sondern durchaus um profiteinträgliche Geschäftsaktionen. Als reicher Handelsherr gehört er zum Verband jener „meliores“, der sich als „richerzeche“, also als „Genossenschaft der Reichen“, wie Helmut Brackert diesen Begriff übersetzte, verstand.25 Das Bedeutsame an dieser Gestalt ist, daß sie – wie im geistlichen oder weiterhin höfisch eingestellten Schrifttum dieser Ära – weder verschwiegen noch verteufelt wird. Im Gegenteil, der guote Gêrhart bewährt sich in allen Episoden wie auch längeren Schilderungen dieses Werks als ein höchst achtenswerter Vertreter seines Standes, dem nichts Übles nachgesagt werden kann. Er gehört nicht zu jenen hausierenden Kleinhändlern oder von Markt zu Markt ziehenden Krämern und Hökern, denen viele der damaligen Autoren wegen ihres „wucherischen“ Verhaltens höchst kritisch gegenüber standen,26 sondern ist ein von allen Zeitgenossen hochgeachteter Fernhandelskaufmann, dem keine geschäftliche Unmoral vorgeworfen wird, sondern der aufgrund seines „ehrlich“ erworbenen Reichtums – im Gegensatz zu jenem Gêrhart, der, wie kurz zuvor, von manchen ortsansässigen Klerikern und Adligen mit diffamierender Absicht als Gerhardus Immoderatus oder Gêrhart Unmâze hingestellt wurde – innerhalb des Kölner Bistums, ja weit darüber hinaus ein hohes Ansehen genießt. Für seine „edele“ Gesinnung werden im Guoten Gêrhart besonders folgende Beispiele angeführt. Zu Anfang des Romans gehört dazu vor allem der großzügige Loskauf der sich auf kostbare Seidenstickereien verstehenden norwegischen Prinzessin Êrêne und ihres ritterlichen Gefolges, die in die Gefangenschaft des marokkanischen Burggrafen von Castelgunt geraten waren. Ebenso nobel verhält er sich, als er die Nachricht von der Gefangennahme jenes englischen Königssohns erhält, der bei seiner Rückkehr vom dritten Kreuzzug, wie Richard Löwenherz, durch Leopold von Österreich in Wien eingekerkert wurde und für den der guote Gêrhart die Freikaufsumme von 50.000 Mark Silber vorstreckt.27 Danach begleitet er diesen Königssohn, der in Rudolfs Guoten Gêrhart „Willehalm der junge“ heißt, auf seiner Rückfahrt von Köln nach London. Obwohl ihm „hêrschaft“ und „geburt“ fehlen, wird Gêrhart dort aufgrund seiner uneigennützigen 38

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Helferrolle die englische Königskrone angetragen, die er jedoch in bürgerlicher Bescheidenheit ablehnt und nach Köln zurückkehrt. Durch alle diese Taten zeichnet sich der guote Gêrhart als ein Kaufmann aus, dem es nicht nur um das Gewinnstreben geht, sondern der eine moralische Haltung an den Tag legt, die vornehmlich im Zeichen der „humilitas“, das heißt des Gebots der religiösen Demut vor den von Gott eingesetzten Standesvorstellungen steht. Er neigt – trotz seines immensen Reichtums – nicht zu jener „superbia“ wie der in der Rahmenhandlung auftretende Kaiser Otto, ja verzichtet sogar großmütig auf irgendwelche Zinsen für die von ihm vorgestreckten Geldzahlungen. Stattdessen ist er in seiner Geschäfts- und Lebenswelt, so gut er es vermag, stets auf ein sinnvolles Maßhalten bedacht,28 um nicht gegen die von der Kirche gepredigten Moralgebote zu verstoßen. Daher gerät er in seinem Gewinnstreben fast nie in irgendwelche ihn bedrängende Gewissenskonflikte. Selbst bei guten Geschäften geht es ihm keineswegs um einen übermäßigen Profit. Stets ist er darauf aus, sich als großmütig zu erweisen, um nicht die kanonischen Gebote gegen das „luprum turpe“, den Wucher, zu verletzen, der von vielen Vertretern der damaligen Geistlichkeit aufs strengste verworfen wurde. Wie wir den zeitgenössischen Schriften und Urkunden entnehmen können, galt schließlich, wie gesagt, jeder auf Gewinn bedachte Handelsgeist in den Augen des damaligen Klerus noch bis weit in das 14. Jahrhundert hinein weitgehend als Teufelswerk.29 Deshalb war den meisten Geldhändlern lange Zeit nicht erlaubt, am Abendmahl teilzunehmen.30 Gêrhart versucht demzufolge, stets als der „Guote“, ja fast als maßstabsetzende Vorbildfigur für alle Großkaufleute aufzutreten. Diese Einstellung bewegt ihn nicht nur zu der besagten zweimaligen Zahlung großmütig gewährter Lösegelder, sondern motiviert auch seine Einstellung den unteren Bevölkerungsschichten gegenüber, die er mit üppigen „almuosen“ unterstützt, um so den ärmeren Bürgern in Köln keinen Anlaß zu geben, ihm „gir“, „unmâze“, „cleingedank“ oder „overstolz“ vorzuwerfen.31 Aus dem gleichen Grund erzieht er seinen Sohn, der ebenfalls Gêrhart heißt, sich in all jenen Tugenden auszuzeichnen, in denen „das Idealbild eines Kaufmanns mit den Tugenden des Christentums korrespondiert oder ihnen zumindest nicht zuwiderläuft“.32

V All das beweist einerseits die noch immer prekäre Rolle der bürgerlichen Kaufmannsschicht im frühen 13. Jahrhundert, belegt aber andererseits zugleich die zunehmende Bedeutsamkeit dieses Standes, die im Guoten Gêrhart von Rudolf 39

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von Ems in der Gestalt eines Kölner Fernhändlers zum ersten Mal in einer würdevollen Versdichtung vorgestellt wurde. So gesehen, hat das Ganze durchaus einen als vorbildlich gemeinten Charakter, allerdings ohne daß damit eine anmaßliche oder gar rebellische Haltung verbunden würde. Dahinter steht noch kein bürgerlicher „Wille zur Macht“, der von einem gesellschaftlichen Aufstiegsbedürfnis angetrieben wird, also aufgrund eines kaufmännisch erworbenen Vermögens eine soziale Gleichstellung oder gar politische Vormachtstellung anzustreben versucht, sondern das Bemühen, eher den ständig erhobenen Vorwurf der Wucherei und aller damit verbundenen kaufmännischen Untugenden von sich abzuwehren. Mit anderen Worten: In diesem Werk wird die mittelalterliche Ordo-Vorstellung, nach dem jeder Stand die ihm von Gott und seinen geistlichen und weltlichen Stellvertretern auf Erden zugewiesene Stellung, sein sogenanntes „ambet“, respektieren solle, noch durchaus gutgeheißen. Demzufolge ist Der guote Gêrhart von Rudolf von Ems nicht nur ein Kaufmannsroman, in dem die Oberschicht der sich allmählich herausbildenden Bürgerklasse zum ersten Mal eine literarische Würdigung erfährt, wo es also um einen Vorläufer der handelskapitalistischen Wirtschaftsweise geht, sondern bleibt in vielen seiner Erzählstränge weiterhin den hochmittelalterlichen Geboten des Christentums verpflichtet. Wie alle gläubigen Christen will sich auch Rudolfs guoter Gêrhart durch seine Demut und finanzielle Großmütigkeit letztlich vor allem die Gunst Gottes erhalten. Trotz seines unverkennbaren Gewinnstrebens fügt er sich umstandslos in die damals gesellschaftlich vorgegebenen Verhaltensnormen ein. Er bemüht sich zwar um die Eingliederung in die Schicht der Ministerialen, kleidet sich ausgesprochen höfisch und ist stolz darauf, daß sein Sohn nach einer feierlichen „Schwertleite“ in den Rang der Ritter aufsteigt, aber versucht sich sonst in all seinen Taten vornehmlich als ehrenwerter Bürger und zugleich als guter Christ auszuweisen. Dennoch spürt man in vielen Episoden dieses Werks, daß der Reichtum der Fernhandelsleute unter den Patriziern zwangsläufig einige gesellschaftliche Veränderungen mit sich brachte. Indem diese Schicht aufgrund des Übergangs von der Naturalien- zur Geldwirtschaft – im Gegensatz zu den landbesitzenden Bischöfen, Äbten, Burggrafen und anderen Adligen – in der städtischen Verwaltung immer mehr Einfluß gewann, wurden die Unterschiede zwischen ihr und den im Dienst des hohen Klerus und der Adligen stehenden Ministerialen zusehends geringer. Diese beiden Stände gingen daher in Köln, wo der Guote Gêrhart spielt, schon im späten 12. Jahrhundert, wie wir im Hinblick auf Gêrhart Unmâze

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wissen, immer stärker ineinander über, ja lassen sich selbst in manchen Urkunden aus dieser Zeit kaum noch unterscheiden. Zusammenfassend läßt sich demnach sagen: Wenn immer von literarischen Widerspiegelungen des im Spätmittelalter einsetzenden Fernhandels und der damit verbundenen Geldwirtschaft die Rede ist, muß mit aller Entschiedenheit auf dieses Werk hingewiesen werden. Wie keine andere Dichtung des frühen 13. Jahrhunderts erlaubt sie uns – trotz aller ins Legendenhafte tendierenden Überformung – einen erstaunlichen Einblick in jene Welt, die in der höfischen Dichtung des vorangegangenen Jahrhunderts noch keine Rolle spielte und von den geistlichen Autoren wegen der Aufrechterhaltung ihrer allein auf Landbesitz beruhenden Machtstellung bewußt als „sündhaft“, das heißt in ihrem monetarischen Gewinnstreben als unchristlich hingestellt wurde. So betrachtet, gehört Der guote Gêrhart von Rudolf von Ems – trotz seiner geistlichen Einkleidung – im Hinblick auf die Entstehung eines frühbürgerlichen Selbstbewußtseins zu den wenigen bahnbrechenden Werken dieser Ära. Das wird geradezu überdeutlich, wenn man es mit anderen weltlichen Werken aus der Zeit des frühen 13. Jahrhunderts vergleicht, in denen der „Gewinn als Lebensziel“, ja selbst die „Kreditvergabe von Christen an Christen“ nach wie vor schärfstens abgelehnt wurde.33 So wetterte der Autor der weitverbreiteten Spruchsammlung Freidanks Bescheidenheit, die ebenfalls um 1220 bis 1230 entstand, weiterhin geradezu unentwegt gegen die „richen“ unter den Kaufleuten, denen er als Moraldidaktiker vorhielt, daß Gott nur drei rechtmäßige Bevölkerungsklassen, nämlich Ritter, Pfaffen und Bauern, erschaffen habe, während die Kaufleute Geschöpfe des Teufels seien, die mit ihrem „wuocher“ nur „liute unde lant“ verschlingen wollten.34 Ihnen geschehe daher Recht, erklärte er, wenn ihre Körper nach dem Tode von den Würmern zerfressen würden und ihre Seelen in die Hölle kämen. Mit einer solchen Einstellung verglichen, wirkt Rudolf von Ems geradezu wie ein Vorläufer halbwegs humanistischer Gesinnungen. Schließlich ist der von ihm vertretene Kaufmannsgeist noch gemäßigt, noch wohltätig, noch voller Erbarmen mit den Notleidenden, während Freidank nach wie vor nur einem religiösen Fanatismus im Dienste der herkömmlichen Herrenkaste das Wort redete.

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Protestantisches Arbeitsethos Jörg Wickrams Ein schönes und Evangelisch spiel von dem verlornen sun (1540), Der Jungen Knaben Spiegel (1554) und Eine warhafftige History von einem ungerahtnen Son (1554)

I Aufgrund der Bevölkerungszunahme in den im Spätmittelalter mit vielen Privilegien ausgestatteten Städten nahm zwangsläufig auch das gesellschaftliche Selbstbewußtsein der dort lebenden Bürger zu. Und zwar gilt das vor allem für die entlang des Rheins befindlichen Bischofsstädte sowie für die im süddeutschen Raum von den Staufern gegründeten Freien Reichsstädte, in denen sich die Patrizier zu Gilden und die verschiedenen Handwerkerinnungen zu Zünften zusammenschlossen und eine einflußreiche Rolle in der städtischen Verwaltung zu spielen begannen. Während im späten Mittelalter lediglich die vermögenden Fernhandelskaufleute, welche den Adel und den hohen Klerus mit den von diesen Schichten begehrten Luxusgütern wie kostbaren Pelzen, Seidengeweben und exotischen Gewürzen belieferten, einen Einfluß auf die jeweiligen Stadtherren zu gewinnen suchten, waren es seit dem 14. und 15. Jahrhundert auch die sich durch den verstärkten Geldverkehr bereichernden Manufakturbesitzer, die im Bankwesen tätigen Kreditverleiher sowie die mit einer größeren Gesellenschar arbeitenden Handwerker, welche sich nicht mehr als willfährige Untertanen der verschiedenen Bischöfe und anderer Landesherren, sondern sich als Bürger zwar noch nicht mit dem Adel und dem Klerus als ebenbürtige Standesangehörige, aber ebensowenig als bloße Dienstleute der althergebrachten, quasi von Gott eingesetzten herrschenden Schichten empfanden. Im Hinblick auf die damalige Kaufmannsschaft führte das zwangsläufig zu einer steigenden Neubewertung dieses Standes. Während die Vertreter dieser Schicht – vor allem im geistlichen Schrifttum, aber auch in der gesellschaftlichen Realität – lange Zeit zumeist als zweifelhafte „Wucherer“ gegolten hatten, die aufgrund ihres allein auf materiellen Gewinn bedachten Geschäftsgebarens nach ihrem Tode sicher nicht ins Himmelreich, sondern in die Hölle kommen würden, setzte sich jetzt – im Zuge der sich allmählich ausbreitenden humanistischen 42

Jörg Wickrams Der Jungen Knaben Spiegel (1554)

Lehren und dann der lutherischen Gnadenvorstellung – in vielen Städten immer stärker die Überzeugung durch, sich durch eine redliche Gesinnung auch als Kaufmann das ewige Seelenheil erringen zu können. Im Gegensatz zur römischkatholischen Kirche, die weiterhin ihren Schäflein predigte, daß man sich wegen der alles menschliche Handeln belastenden Erbsünde nur durch reichliche Ablaßzahlungen oder Schenkungen an die Kirche, kurzum: durch sogenannte „gute Werke“ einen gesicherten Platz im Himmelreich erkaufen könne, um nicht den drohenden Höllenqualen ausgeliefert zu werden, verbreitete sich demnach seit dem frühen 16. Jahrhundert in den reformatorisch eingestellten Städten die Überzeugung, daß den Vertretern aller Stände, also auch den Kaufleuten, falls sie ihre Mitmenschen nicht übers Ohr hauen würden, ein ewiges Seelenheil zuteil werde.

II Literarisch gesehen, äußerte sich diese Gesinnung erstmals in dem 1509 in Augsburg anonym erschienenen Prosaroman Fortunatus.1 In ihm geht es um einen jungen Abenteurer, dem die Jungfrau Fortuna die Wahl zwischen folgenden ihn verlockenden Gaben stellt: „Weyssheit / Reichtumb / Sterke / Gesundt­ hait / Schöne / und langs leben.“2 Obwohl er den „Reichtumb“, statt die „Weyss­ heit“ wählt, wird Fortunatus dafür nicht bestraft. Anschließend bereist er – ohne besondere Beschwernisse erdulden zu müssen – als erfolgreicher Kaufmann die gesamte damals bekannte Welt und selbst der Tod bringt ihn nicht in seelische Bedrängnis. Sein durch glückliche Geschäfte erworbener Reichtum wird also vom Autor dieses Werks nicht mehr im Sinne der geistlichen Schriften des Hochmittelalters als erwucherter Gewinn, als „turpe lucrum“, sondern als „tzeitlich guot / eerliche nahrung und grosse hab“, wenn nicht gar als „kostlicher kauffmannsschatze“ hingestellt.3 Noch einen Schritt weiter in der Rettung des Kaufmannsstands vor dem ihm drohenden Fegefeuer – nun schon im Sinne der lutherischen Gnadenlehre – ging der Humanist Thomas Kirchmeyer oder Naogeorgus in seinem neulateinischen Drama Tragoedia alia nove Mercator, das er 1540 veröffentlichte. In ihm geht es zwar im Sinne der älteren Jedermann-Darstellungen nach wie vor um einen lediglich auf vermehrten Gewinn bedachten Handelsmann, der – nach dem Motto „Willst ein reicher Kaufmann, / musst gscheit, fleissig, gschmitzt sein auff Erden“ – selbst gewisse „Ränck“ nicht verabscheut, aber in der Stunde des Todes erkennt, daß ihm weder „Wallfahrt, Almosen, Fasten oder Ablass“,4 also die von der römisch-katholischen Kirche geforderten Gebote, sondern nur der Glaube 43

Protestantisches Arbeitsethos

an die Gnade Christi vor den ewigen Höllenqualen bewahren könne, worauf er als Seliger in den Himmel eingeht. Während also die vorreformatorische Kirche in ihren Schriften und Predigten die allzu geschäftstüchtigen Kaufleute noch wegen ihres als unlauter aufgefaßten Gewinnstrebens mit nicht ablassender Schärfe als unchristliche Gauner angeprangert hatte, verdammte zwar auch Naogeorgus, wie vor ihm selbst Luther in seinem Sermon von dem Wucher (1519), weiterhin einen allzu unredlichen Kaufmannsgeist, versagte aber den „armen Sündern“ dieses Standes, falls sie sich gegen Ende ihres Lebens als reumütig erweisen würden, keineswegs das ewige Heil, statt sie im Sinne der im Mittelalter herrschenden Vorstellungen geradewegs in die Hölle zu schicken. Damit blieb zwar die religiöse Komponente in der gesellschaftlichen Einschätzung dieses Standes durchaus erhalten, nahm aber die Form einer einzelpersönlichen Entscheidungsfrage an. Aufgrund derartiger Anschauungen prangerte also Naogeorgus nicht mehr den gesamten Kaufmannsstand, das heißt alle „Mercatores“, von vornherein als verwerflich an, sondern stellte die Frage von Gut und Böse im Bereich des menschlichen Handelns als eine „Sache der individuellen Moral und des Glaubens des Einzelnen“ hin und machte sie damit zu einer Gewissensfrage, statt sie im Sinne der römisch-katholischen Kirche vornehmlich unter religiöser Perspektive zu betrachten.5

III Wohl am besten läßt sich dieser Wandel in der literarischen Aufwertung des Kaufmannsstandes im frühen 16. Jahrhunderts anhand jener 26 Dramen und Dialoge verfolgen, in denen es um die von dem Evangelisten Lukas überlieferte Parabel „Vom verlorenen Sohn“ geht, die in diesem Zeitraum durch Luthers Übersetzung des Neuen Testatments schnell allgemein bekannt wurde.6 Nachdem Luther 1520 in seiner Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen erklärt hatte, daß auf dem Wege, „fromm“ zu werden und dadurch die Gnade Gottes zu erwerben, irgendwelche „guten Werke“ im Sinne der Papstkirche völlig wertlos seien,7 ja nachdem die kalvinistisch-reformierte Kirche sogar die Arbeit und die sich daraus ergebende Vermehrung des Besitzes als eine Pflicht zum größeren Ruhme Gottes hingestellt hatte, glaubten viele der damaligen Autoren in der Parabel „Vom verlorenen Sohn“ ein höchst instruktives Vehikel „für ihre Anschauungen von Arbeitseifer, wahrem Glauben, rechter Lebensart, sinnvoller Kindererziehung und ähnlichen Vorstellungen“ gefunden zu haben.8 Als besonders wichtig erschien ihnen dabei in ihren diesem Thema gewidmeten Fastnachts-, Oster-, Bürger- oder Schuldramen das pädagogische Interesse des Reformations44

Jörg Wickrams Der Jungen Knaben Spiegel (1554)

zeitalters,9 um so endlich über die äußerst restriktive Schulpolitik des mittelalterlichen Klerus hinauszukommen, in der es noch kaum irgendwelche innerweltlichen Verbesserungsvorstellungen gegeben hatte. Worum sich deshalb alle diese Dramatiker und später auch Erzähler im Sinne einer bürgerlichen Arbeitsethik bemühten, war der Versuch, „die Jugend vor den bitteren Erfahrungen des verlorenen Sohns zu bewahren beziehungsweise sie auf diese Weise vor dem Ungehorsam gegen ihre Eltern abzuschrecken und die Eltern zu der gehörigen Strenge ihren Kindern gegenüber anzuhalten“.10 Hierbei ging es diesen Autoren in ihren didaktischen Bearbeitungen der Parabel „Vom verlorenen Sohn“ vor allem um zwei ideologische Strategien. Die eine war die im Sinne Luthers herausgestellte religiöse Komponente, das heißt die alle Menschen bedrückende Angst vor dem Fegefeuer nicht im römischkatholischen Sinne durch sogenannte „gute Werke“ beschwichtigen zu wollen, sondern sich die endgültige Erlösung allein von einem durch nichts zu erschütternden Glauben an Gottes Gnade zu erhoffen. Die andere war die erzieherische Komponente, das heißt den allmählich immer selbstbewußter auftretenden bürgerlichen Schichten, vor allem den Handwerkern unter ihnen, mit pädagogischer Absicht klar zu machen, daß sie sich durch verstärkte Arbeitsamkeit und sparsames Haushalten eine ökonomisch abgesicherte Existenz verschaffen könnten und diese Einstellung auch ihren Kindern vermitteln sollten, was spätere Soziologen meist als eine Vorform der bürgerlichen Kapitalbildung im Stadium des sogenannten Frühkapitalismus beschrieben haben.11 Zu Anfang überwog bei den literarischen Bearbeitungen dieser Parabel meist die religiöse Komponente. In ihnen steht daher weniger die arbeitsame Haltung des älteren Sohnes als die lutherische Gnadenlehre im Vordergrund. Dafür spricht etwa die bereits 1523 von Michael Styfel, eines zum Protestantismus bekehrten Augustinermönchs, vorgenommene Bearbeitung dieser stofflichen Vorlage, bei der – wie erwartet – nicht der bürgerliche Fleiß, sondern die göttliche Gnade den letztendlich entscheidenden Ausschlag gibt.12 Ebenso bezeichnend für diese Einstellung ist das Fastnachtsspiel De Parabell vam verlorn szohn von Burkhard Waldis, das 1527 erstmals in Riga aufgeführt wurde. In ihm geht es darum, daß der jüngere Sohn zwar sein mütterliches Erbteil mit feilen Dirnen, köstlichen Gelagen und Falschspielern vergeudet, aber am Schluß – wegen seiner Reumütigkeit – wieder von seinem Vater „gnädig“ aufgenommen wird, während sich der ältere Sohn aus Verdruß über diesen Gnadenakt in eine mönchische Einsamkeit zurückzieht, um sich auf diese Weise einen gesicherten Platz im Himmel zu erwerben. Damit wollte Waldis den Bürgern seiner Stadt zeigen, daß sich die 45

Protestantisches Arbeitsethos

Liebe Gottes weder durch „gute Werke“ noch durch ein Einsiedlerleben erzwingen läßt, sondern nur durch Reue und Gnadenbeweise erlangt werden kann.13 Eine ähnliche Deutung dieser Parabel im Sinne des Luthertums unternahm Hans Sachs im Jahr 1556 in seiner Comedia Der verlorn son. Allerdings versah er dabei einige Stellen mit durchaus anderen Akzenten. Zu Anfang hielt sich Sachs erst einmal an den von Lukas überlieferten Ausspruch Jesu über den reumütigen jüngeren Sohn: „Also wird auch Freude im Himmel sein über ein Sünder, der Buße tut vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen!“14 Doch danach schilderte er recht ausführlich, wie sich der jüngere Sohn durch den Schmarotzer Wolff verführen läßt, als stolz auftretender „Junckherr“ die 500 Gulden seines mütterlichen Erbteils bedenkenlos zu verprassen, indem er sich ein Pferd anschafft, sich der Spielsucht hingibt, in teuren Wirtshäusern übernachtet und schließlich die raffgierige Kurtisane Dulceda mit kostbaren Geschenken überhäuft. Viel ausführlicher als bisher ist dabei höchst penibel von den jeweiligen Geldsummen die Rede, die er für alle diese seinem Stande nicht gemäßen Lustbarkeiten aufwendet. Der vorgegebenen Parabel entsprechend, kehrt er am Schluß als reumütiger Sünder zu seinem Vater zurück, der ihm alles verzeiht und ein Freudenfest ausrichten läßt, an dem – im Gegensatz zu Waldis – sogar sein älterer Bruder teilnimmt. Überhaupt spielt in diesem Stück der ältere Sohn eine wesentlich positivere Rolle als in manchen der früheren Stücke dieser Art. Vor allem zu Anfang, nachdem der Vater dem jüngeren Sohn mit höchst eindringlichen Worten vorgehalten hat, sich nicht mit „losen gsellen“ herumzutreiben, sondern statt dessen einen Sinn fürs „Haußhalten“ zu entwickeln,15 heißt es von ihm: „Der älter son ist schlicht und grecht, / Gantz arbeitsam, fleißig und achtsam, / Anhebig, örndlich, ernsthaft und Mänlich.“16 Allerdings wird im Epilog dieses Stücks die vorangegangene Lobpreisung der Arbeitsamkeit wieder durch die lutherische Verurteilung all jener „werckheiligen“ abgeschwächt, „die mit verdienst wöllen abkauffen / Gott sein Himel“, also „nur auf Werk trachten“ und „den büssenden Sünder verachten, / den Christus gnedig erlöst“.17 Trotz aller realistischen Details und mancher eher moralisch gemeinten Ermahnungen endet also Sachsens Parabel Vom verlorn son lediglich in einer Demonstration der grenzenlosen Gnade Gottes, statt zugleich ein bürgerliches Aufstiegsbedürfnis zu befriedigen, das ein ökonomisches Erwerbsstreben gutheißen würde. Schließlich war Hans Sachs in der Stadt Nürnberg, die zu seinen Lebzeiten von 42 ratsfähigen Patrizierfamilien regiert wurde,18 zwar wegen seiner lutherischen Traktate und seiner Meisterlieder ein angesehener Bürger, aber doch nur ein Handwerksmeister, das heißt hatte kein bedeutsames Sozialprestige, sondern 46

Jörg Wickrams Der Jungen Knaben Spiegel (1554)

gehörte zu jener bürgerlichen Mittelschicht, die sowohl von jeder Regierungsverantwortung ausgeschlossen war als auch keine Möglichkeit besaß, einen größeren Reichtum zu erwerben. Daher nahm er zur Welt des Geldes noch eine höchst ambivalente Haltung ein. Er sah zwar, daß ein sinnvoller Umgang mit Geld durchaus Freuden und Nutzen bereiten könne, verurteilte aber weiterhin all jene, die aufgrund ihres Vermögens einem luxuriösen Lebensstil frönen konnten. So betrachtet, war er – im Gegensatz zu einem reichen Patrizier wie Jakob Fugger in Augsburg, aber auch einigen Patriziern in seiner eigenen Stadt – noch kein Vertreter einer frühkapitalistischen Gesinnung, sondern blieb als Schuster durchaus bei seinem Leisten. Letztlich gehörte er immer noch zu jenen gläubigen Christen, die „wucher und betriegerey“ weiterhin aufs schärfste verdammten und den mittelständischen Schichten ins Gewissen zu reden suchten, sich ihren Lebensunterhalt vor allem durch Fleiß und Redlichkeit zu erwerben, statt einem rastlosen „Besitzstreben und dem damit verbundenen Konkurrenzdruck“ nachzugeben“.19

IV Doch nun zu den fast gleichzeitig erschienenen und sozioökonomisch besonders aufschlußreichen Bearbeitungen der Parabel „Vom verlorenen Sohn“ durch Jörg Wickram. Wickram verbrachte sein uns bekanntes Leben erst als Ratsdiener in Colmar und dann als Stadtschreiber in Burkheim, wo relativ ähnliche Städteordnungen wie in Nürnberg herrschten. Seinem Bürgerspiel Ein schönes und Evangelisch Spiel von dem verlornen sun (1540), seinem Roman Der Jungen Knaben Spiegel (1554) und seinem Dialog Eine warhafftige History von einem ungerahtnen Son (1554) waren, wie sich nachweisen läßt, eine wesentlich größere Wirkung beschieden als den Werken von Styfel, Waldis und Sachs. Das mag zum Teil damit zusammenhängen, weil der Hauptakzent dieser drei Werke vor allem auf der Forderung einer besseren Erziehung heranwachsender Knaben zu Fleiß und Redlichkeit liegt, während die religiöse Komponente zusehends in den Hintergrund tritt. Schon in dem Bürgerspiel Von dem verlornen sun geht es – im Gegensatz zu den älteren Bearbeitungen dieser Parabel – weniger um den väterlichen Gnadenakt als um die mangelhafte Erziehung und die sich daraus ergebende Arbeitsunwilligkeit des jüngeren Sohns, während der Erwerbstrieb des älteren Bruders in mehreren Monologen nachdrücklich hervorgehoben wird.20 Zugleich vermied Wickram, das Schlemmerleben des jüngeren Sohns als besonders vergnüglich darzustellen, während er dessen Elend als Schweinehirt relativ breit ausmalte, ja er ließ sogar die sonst üblichen Zechgelage und den Umgang mit 47

Protestantisches Arbeitsethos

ihn hofierenden Huren einfach weg. Überhaupt bettete er das Ganze viel stärker in ein „bürgerliches“ Milieu ein, was schon zu Anfang dadurch unterstrichen wird, indem der Vater in der obligaten Abschiedsszene dem jüngeren Sohn ausdrücklich rät, das ererbte Geld keineswegs zu verprassen, sondern es als guter Kaufmann durch geschickt eingefädelte Geschäfte eher zu vermehren. Noch stärker macht sich diese Tendenz ins Bürgerlich-Lehrhafte in Wickrams 14 Jahre später geschriebenem Roman Der Jungen Knaben Spiegel bemerkbar. In ihm verzichtete er weitgehend auf die ältere, zutiefst christlich gefärbte Parabelstruktur und ging wesentlich stärker auf die ständischen Unterschiede zwischen den beiden Hauptgestalten ein. Hier sind der Jüngere und der Ältere nicht wirklich Brüder, sondern lediglich Ziehbrüder. Der eine, genannt Wilbald, stammt von ritterlichen Eltern ab, hat also keine mit den neuen Wirtschaftsverhältnissen vertraute Erziehung genossen und bringt es daher zu nichts, ja wird schließlich – im Sinne der ins Weltliche abgewandelten Parabel „Vom verlorenen Sohn“ – zu einem in kümmerlichen Verhältnissen lebenden Schweinehirt. Fridbert, der ein Jahr ältere, aus bäuerlichen Verhältnissen stammende Ziehsohn der besagten Ritterfamilie, steigt dagegen aufgrund seiner Lernbegierde zum Akademiker auf und erfährt gegen Ende des Romans sogar die Ehre, zum Kanzler des preußischen Hochmeisterordens ernannt zu werden. Für die Tatsache, daß Wilbald verkommt, ist in diesem Roman, wie in den Dramen von Waldis und Sachs, nicht nur ein schmarotzender, loser Geselle, der ihn zu einem in Faulheit verbrachten Leben verführt, sondern auch die allzu nachsichtige Erziehung durch seine adlige Mutter schuld, der die neuen Arbeitsvorstellungen der Humanisten und Reformatoren noch fremd sind. Was allerdings auch Wickrams Roman noch fehlt, ist jene sich aus der Aufwertung des bürgerlichen Standes ergebende kaufmännische Gesinnung, die man im Zuge der sich allmählich verbessernden Vermögenslage dieser Schicht eigentlich erwarten würde. Man spürt nur allzu deutlich, daß kein Handelsmann oder Handwerker, sondern ein bürgerlicher Intellektueller diesen Roman geschrieben hat, dem es weniger um eine Vermögens- als um eine Wissenserweiterung ging, um so aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten die Gunst der jeweils Regierenden zu gewinnen. Was demzufolge Wickrams Knaben Spiegel noch abgeht, ist irgendeine Tendenz ins Aufmüpfige. Selbst die Adelskaste wird in ihm noch keineswegs kritisiert, sondern so dargestellt, wie sie sich seit dem frühen Mittelalter durchgesetzt hatte, nämlich als ständische Oberschicht, an deren Machtbefugnissen nicht zu rütteln ist. Daher steigt sogar Wilbald, der Rittersohn – nach

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Jörg Wickrams Der Jungen Knaben Spiegel (1554)

seinem selbstverschuldeten Elend als Schweinehirt – am Schluß des Ganzen wieder in den Adel auf und wird ein wohlangesehener Edelmann. Und doch hat das Ganze – mentalitätsmäßig gesehen – einen durchaus bürgerlichen Grundzug. Obwohl die Welt der Kaufleute überhaupt nicht in Erscheinung tritt, sind fast alle Figuren dieses Romans keineswegs auf eine adlige Prunkentfaltung, die sogenannte Hoffart, bedacht, sondern werden im Sinne der frühbürgerlichen Tugendlehren als durchaus fleißig und sparsam hingestellt.21 Selbst der alte Ritter Gottlieb, Wilbalds Vater, veranstaltet keine Turniere oder andere Festivitäten, sondern führt – sogar nach der Heirat mit einer reichen Witwe – ein relativ einfaches Leben. Im Sinne der damals vielgepriesenen Redlichkeit liegt selbst ihm nichts ferner als ein verschwenderischer Gebrauch seines Reichtums. Noch tugendhafter wird von Wickram selbstverständlich der vom Bauernsohn zum Kanzler des Hochmeisterordens aufsteigende Fridbert hingestellt. Er widmet sich in seiner Ausbildungszeit bei seinem ebenso puritanisch gesinnten Lehrer Felix ausschließlich seinem Studium, worauf ihm, wie gesagt, von der preußischen Regierung ein hohes Verwaltungsamt anvertraut wird. Und Wickram kommentiert diesen Vorgang mit folgenden Worten, in denen er vor allem den lobenswerten Arbeitseifer der aus den unteren Schichten stammenden Studenten herausstreicht: „Dann mir sehen dergleichen exempel noch viel zu unser zeit / das es auff allen universiteten / und hohen schulen ein gar gemeiner brauch ist / die armen studenten so durch almusen und stipendia erhalten / werden gewonlich Hochglerte menner / Doctores & Magistri.“22 Worum es also in Wickrams Der Jungen Knaben Spiegel letztlich geht, ist zwar auch die Erringung einer ökonomisch abgesicherten Existenz, wie sie am Beispiel Fridberts dargestellt wird, aber mindestens ebensosehr, wenn nicht noch nachdrücklicher der Erwerb von Bildungswerten, die man sich nur durch ein fleißiges Studium aneignen kann. Deshalb spielt in diesem Roman – bei allen Abstechern ins Abenteuerliche und damit Unterhaltsame – nicht die kaufmännische oder handwerkliche Geschäftstüchtigkeit, sondern die Forderung nach einer guten Erziehung die Hauptrolle. Manches klingt dabei, wie auch in Wickrams Erzählung Von guten und bösen Nachbaurn (1556), zum Teil an kalvinistische Grundsätze an,23 ohne allerdings dabei die wirtschaftlichen Aspekte dieser Glaubensrichtung allzu deutlich in den Vordergrund zu rücken. Und so bleibt das Ganze letztlich ein teils im adligen, teils im bürgerlichen Umfeld spielender Entwicklungsroman, in dem – trotz des durch die Lernbegier und den Fleiß ermöglichten gesellschaftlichen Aufstieg Fridberts – letztlich die älteren Standesgrenzen durchaus respektiert werden. 49

Protestantisches Arbeitsethos

Um richtig verstanden zu werden, gab Wickram kurz nach dem Erscheinen seines Romans Der Jungen Knaben Spiegel noch im gleichen Jahr eine Schrift unter dem Titel Eine warhafftige History von einem ungerahtnen son in einem Dialogum heraus, die sich wie eine nachträgliche Interpretation dieses Romans liest. In ihr erklärt Wickram in der Maske des gelehrten Humanisten Georgius seinem ihm willig zuhörenden Freund Casparus, daß der vom rechten Wege abgewichene Wilbald, „diß kneblin von schoner gestalt“ und „freundlicher geberd“,24 nur dadurch zu Schaden gekommen sei, weil ihn seine Großmutter von klein auf mit Liebe und Geschenken verwöhnt habe, um ihn „durch solche freundlichkeyt heymlich und leutselig“ zu machen,25 statt ihn zum Lernen anzuhalten und zu einer redlichen Gesinnung zu erziehen. Wenn ihm jemand mit einem „ungesaltzen wort“ Vorhaltungen gemacht habe, sei er darum als total verzogener Knabe stets ins Haus seiner Großmutter gelaufen. Selbst den Schulmeister habe diese Frau angehalten, mit „dem knaben nit so hart“ zu sein.26 Und so habe der Lehrer sogar bei mangelhaften Leistungen seines Schülers „nit alein aug, sondern alle beyde“ zugedrückt.27 Statt also weiter zu lernen, sei deshalb dieses „sönlein“ mit 18 Jahren einfach davongelaufen, um sich in der weiten Welt als Jungherr aufzuspielen. In den darauf folgenden Gesprächsabschnitten bezieht sich Georgius wie schon in Der Jungen Knaben Spiegel – trotz aller abenteuerlichen Ausschmückungen – abermals auf die Parabel „Vom verlorenen Sohn“, ja beruft sich ausdrücklich auf „Luce am 15“.28 Nach Wilbalds Lotterleben, erzählt er Casparus, hätten all die losen Gesellen diesen Großkotz schnöde verlassen und er sei gesellschaftlich immer tiefer gesunken. Doch dann habe er seine verschwenderische Unzüchtigkeit zutiefst bereut und sei wieder Graf geworden, wie es bezeichnenderweise heißt, und auch Fridbert – hier bereits mit der Hauptfigur im Wickrams Roman Goldfaden Lewfried gleichgestellt – habe eine Adelstochter geheiratet und darauf als „grosser herr“ eine „gantze Groffschafft“ regiert.29 Die Schuld an irgendwelchen Verfehlungen wird also auch in dieser Schrift vornehmlich auf eine schlechte Erziehung zurückgeführt. Vor allem der Affenliebe, mit welcher bestimmte Mütter und Großmütter ihre Söhne und Enkelkinder allzu verzärtelten, könne man – im Hinblick auf eine ökonomisch abgesicherte Lebensführung – gar nicht genug entschieden entgegentreten, wie es immer heißt. Und so erweist sich Wickrams Der Jungen Knaben Spiegel weniger als eine religiöse Erbauungsschrift als ein „Erziehungsroman“, worauf schon das Wort „Spiegel“ in diesem Werk verweist, das in vielen pädagogisch gemeinten Schriften dieser Zeit auftaucht.30 50

Jörg Wickrams Der Jungen Knaben Spiegel (1554)

V Summa summarum: Die 26 literarischen Bearbeitungen der biblisch vorgegebenen Parabel „Vom verlorenen Sohn“, die im 16. Jahrhundert verfaßt wurden,31 sind sich zwar einig in ihrer grundsätzlichen Verdammung der von der römischkatholischen Kirche empfohlenen Ablaßzahlungen und sogenannten „guten Werke“, mit denen man sich das ewige Seelenheil verschaffen könne, weisen aber in der Neueinschätzung eines „redlichen Lebens“ im Sinne reformatorischer oder humanistischer Gesinnungen zum Teil erheblich voneinander ab. Die meisten berufen sich hierbei auf die lutherische Gnadenlehre, nach der auch dem reumütigen Sünder, und mag er sich in seinen jungen Jahren auch noch so sehr einem nur auf Genuß und Eigennutz bedachten Lotterleben hingegeben haben, nach einem aufrichtigen Reuebekenntnis die Tür zum Himmelreich durchaus offen stehe. Allerdings vermischen sie das häufig mit Ermahnungen, derartige Verfehlungen von vornherein zu vermeiden und sich lieber von jung auf zu bemühen, als gute Bürger den gewinnbringenden Segen eines arbeitsreichen Lebens zu erkennen und sich nicht zur Faulheit oder gar zur Schuldenmacherei verleiten zu lassen. Im Sinne einer noch nicht auf übermäßige Kapitalakkumulation bedachten Haltung, zu der die Mehrheit der kleinen Kaufleute und Handwerksmeister durch die Beengtheit ihrer Verhältnisse ohnehin noch nicht fähig war, wird dabei gern die Forderung zur Sparsamkeit, wenn nicht gar Askese aufgestellt, um sich damit als neuer Stand von dem herkömmlichen Prunkbedürfnis der Adelsschichten abzusetzen. Dieselbe Funktion hatte in diesen Jahrzehnten die eher humanistische Forderung, sich als Bürger weniger durch ein übermäßiges Gewinnstreben als durch Bildungswerte auszuzeichnen und sich auf diese Weise eine geachtete Stellung in der städtischen oder fürstlichen Verwaltung zu verschaffen. Es fällt daher schwer, die meisten jener Werke, die sich in ihrem Handlungsgefüge auf die Parabel „Vom verlorenen Sohn“ zu stützen versuchten, bereits als Ausdruck einer frühkapitalistischen Gesinnung zu bezeichnen. Das trifft in der gesellschaftlichen Realität dieser Ära eher auf die Großkaufleute unter den städtischen Patriziern zu, zumal sich die mittelständischen Schichten aufgrund ihres relativ geringen Einkommens weiterhin an das Gebot der Bescheidenheit hielten. Während große Teile der Bauern zur gleichen Zeit in vielen Gebieten des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation mit Waffengewalt gegen die weiterbestehende Adelsherrschaft aufbegehrten, um sich von den sie erdrückenden Frondiensten zu befreien, und viele Adlige und Patrizier weiterhin einer sich aus ihren Prunk- und Lasterbedürfnissen ergebenden Verschwendungssucht frönten, 51

Protestantisches Arbeitsethos

begnügten sich also die meisten mittelständischen Bürger zu diesem Zeitpunkt noch mit einem mäßigen Wohlstand, den sie für ihre Lebenserwartungen durchaus ausreichend fanden. Sie wollten lieber nach wie vor im Sinne einer individuellen Leistungsorientierung redliche Bürger bleiben, als nach einer für sie immer noch unerreichbaren Vermehrung ihres Geldvermögens oder gar Änderung der herrschenden Macht- und Eigentumsverhältnisse zu streben.

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Eine Femina oeconomica Johann Jacob Christoffel von Grimmelshausens Ausführliche und wunderseltzame Lebensbeschreibung der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche (1670)

I Da sich der Protestantismus im Laufe der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wie ein Lauffeuer in immer weiteren Bereichen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, einschließlich der böhmischen und ungarischen Gebiete, verbreitete, was auf lokaler Ebene zu vielen Konflikten führte, sah sich Kaiser Karl V. schließlich 1555 auf dem Reichstag zu Augsburg genötigt, eine vorläufige Regelung der immer dringlicher werdenden konfessionellen Streitigkeiten anzustreben. Von nun an, hieß es in dem dort beschlossenen Edikt, sollten nicht mehr die breiten Bevölkerungsmassen, sondern – getreu dem Motto „Cuius regio, eius religio“ – die jeweiligen Landesherren der unzähligen Herzogtümer, Grafschaften, Bistümer oder Freien Reichsstädte bestimmen, welcher Konfession sich die Menschen in ihrem Herrschaftsbereich als der einzig gültigen anzuschließen hätten. Das führte zwar einerseits zu einer vorübergehenden Beruhigung der religiösen Auseinandersetzungen, aber andererseits zu einer zunehmenden Stärkung der landesherrlichen Machtbefugnisse, die in vielen Teilen Deutschlands den Auftakt zu der allmählichen Auflösung der älteren Lehnsvorstellungen feudalistischer Provenienz zu Gunsten einer eher absolutistischen Machtausübung bildete.1 Damit war zwar ein Prozeß in Gang gekommen, der in manchen Einzelstaaten zu einer besser organisierten Staatsvorstellung führte, aber wegen der weiter bestehenden Zersplitterung des Heiligen Römischen Reiches zugleich neue Gefahrenelemente enthielt. Schließlich kam es dadurch zwischen den verschiedenen Territorialherren aufgrund ihrer selbstsüchtigen Herrschafts- und Eigentumsbestrebungen ständig zu Streitigkeiten, bei denen sie sich sogar der Hilfe ausländischer Mächte bedienten, wodurch die ältere Reichsvorstellung zusehends verblaßte. Zugleich wirkte sich dieser Machtzuwachs der einzelnen Landesherren auch als Nachteil für die Bürger der im 15. und 16. Jahrhundert aufgeblühten 53

Eine Femina oeconomica

Freien Reichsstädte aus, da viele dieser Städte in der Folgezeit von den jeweiligen Landesherren mehr oder minder gewaltsam in ihren Machtbereich integriert wurden. Überhaupt kam es in vielen dieser immer eigenständiger auftretenden Staaten zu einer merklichen Zentralisierung der ökonomischen, juristischen und finanziellen Verhältnisse, was zu einer steigenden Bürokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche und damit selbst innerhalb des bisher relativ „freien“ Bürgertums zu einer fortschreitenden Selbstdisziplinierung führte. Demzufolge verloren viele der bisher als wichtige Handelszentren geltenden Städte ihre frühere Bedeutung, was nicht nur für den Niedergang der älteren Hansestädte im norddeutschen Bereich, sondern auch für manche der älteren Freien Reichsstädte im Süden Deutschlands gilt. Es war daher gerade der Machtzuwachs der verschiedenen Landesherren, der immer neue politische und wirtschaftliche Konfliktsituationen heraufbeschwor. Und zwar wurden dafür – rein vordergründig gesehen – meist religiöse Argumente ins Feld geführt. Dafür spricht bereits das 1557 gescheiterte Wormser Religionsgespräch, was Albrecht V. von Bayern dazu veranlaßte, zur Gegenreformation aufzurufen, um die von den Protestanten mediatisierten kirchlichen Besitztümer wieder seiner Machtbefugnis zu unterstellen. Um solchen Übergriffen von katholischer Seite Paroli zu bieten, kam es daher 1608 zur Gründung der Protestantischen Union, der sich neben Hessen und Brandenburg auch mehrere süddeutsche Fürsten sowie 17 Freie Reichsstädte anschlossen. Ihr trat 1609 die Katholische Liga unter Maximilian von Bayern entgegen, die vor allem von den süddeutschen Bischöfen und den katholisch gebliebenen Freien Reichsstädten unterstützt wurde. Und damit war bereits all das in Szene gesetzt, was kurze Zeit später zu jenen verheerenden Auseinandersetzungen zwischen 1618 und 1648 führte, die unter der Bezeichnung „Dreißigjähriger Krieg“ in die Geschichte eingegangen sind. Die Hauptleidtragenden dieses Krieges waren vor allem die auf dem flachen Lande relativ ungeschützt lebenden Bauern, die von den herumstreunenden Soldaten unbarmherzig ausgebeutet, wenn nicht gar niedergemetzelt wurden, während die Stadtbevölkerung hinter ihren Mauern und Schutzwällen zum Teil etwas glimpflicher davonkam. Obendrein fielen der in den dreißiger Jahren erneut einsetzenden Pestepidemie unzählige Menschen zum Opfer. Besonders in der Pfalz, in Württemberg, Thüringen, Sachsen, Mecklenburg und Pommern kamen während dieses Zeitraums aus diesen beiden Gründen mehr als 50 Prozent der Bevölkerung ums Leben. Doch auch das Elsaß, Lothringen, Schwaben, Bayern, Franken, Hessen und Brandenburg verloren rund 30 bis 50 Prozent 54

Johann Jacob Christoffel von Grimmelshausens Courasche (1670)

ihrer Bevölkerung.2 Insgesamt reduzierte sich damit – nach von Historikern angestellten Schätzungen – die Einwohnerzahl in den deutschsprachigen Gebieten Mitteleuropas wegen der vielen Kriegs- und Pestopfer, wie auch der durch religiöse Zwistigkeiten ausgelösten Judenpogrome und Hexenverbrennungen, von rund 15 bis 17 Millionen auf 10 bis 11 Millionen. Im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation bewirkten all diese Ereignisse einen drastischen Rückgang der bisher relativ stabilen Warenproduktion, die in manchen Branchen in den zwanziger und dreißiger Jahren fast völlig zum Erliegen kam. Vor allem der Fernhandel setzte weitgehend aus. Doch auch auf lokaler Ebene lebten die meisten Menschen auf Jahre hinaus von der Hand in den Mund, statt sich weiterhin um ein einträgliches Gewinnstreben zu bemühen und dann die Früchte ihres Fleißes zu genießen. Kurzum: Die ökonomische Notlage wurde so allgemein, daß jeder nur noch versuchte, in den ständig wechselnden Kriegsverläufen zwischen der protestantischen und katholischen Soldateska sowie den in Deutschland einfallenden Truppen der Franzosen, Spanier, Schweden, Dänen, Kroaten und Wallonen mit heiler Haut davonzukommen.

II Doch nun zu der in diesem Buch behandelten Fragestellung: Wie reagierte eigentlich die Literatur dieses Zeitalters auf die geradezu katastrophalen ökonomischen Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges? Im Gegensatz zum 16. Jahrhundert, als neben den neulateinisch schreibenden Humanisten die meisten Autoren, wie Hans Sachs, Sebastian Brant, Jörg Wickram, Nikodemus Frischlin und Georg Rollenhagen, noch aus dem Stadtschreiber- oder Handwerkerstand kamen und sich in ihren bewußt volkstümlich gehaltenen Fastnachtsspielen, Meisterliedern, Volksbüchern und lehrhaften Erzählungen an ein ihrer Klasse entsprechendes Publikum wandten,3 gehörten fast alle Dichter des 17. Jahrhunderts dem Gelehrtenstand an, dessen Vertreter auf eine Gymnasial- und Universitätsbildung zurückblicken konnten und sich in ihrem Berufsleben als „Geistliche, Richter, Lateinlehrer, Hochschullehrer oder fürstliche und städtische Beamte“ auszuzeichnen versuchten.4 Statt weiterhin eine bewußt volkstümliche Schreibweise anzustreben, liefen ihre literarischen Bemühungen eher darauf hinaus, sich wegen der steigenden Bedeutung der Höfe von dem sogenannten „Pöbel“ abzusetzen und sich lediglich den höheren Formen der Dichtung zuzuwenden. Dafür spricht schon das 1624 erschienene Buch von der Deutschen Poeterey von Martin Opitz, in dem er sich in aller Entschiedenheit von der eher ins 55

Eine Femina oeconomica

Populistische tendierenden Literatur des 16. Jahrhunderts absetzte und in Anlehnung an die im gleichen Zeitraum im höfischen Bereich entstehenden Deutschen Sprachgesellschaften für wesentlich verfeinerte Dichtungsformen eintrat.5 Opitz, wie auch Johann Rist, Philipp Zesen und Siegmund Birken, waren daher stolz darauf, von ihren jeweiligen Landesherren als Dichterfürsten angesehen oder gar in den Adelsstand erhoben zu werden.6 Sie bedienten sich deshalb, wie auch die auf sie folgenden sogenannten Barock-Dichter der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, fast ausschließlich geistlicher, klassizistischer oder heroisch-galanter Dichtungsformen und gingen in ihren hochgestochenen Versen allen ins Volkstümliche oder gar Grobianische tendierenden literarischen Gattungen von vornherein aus dem Wege. Selbst wenn sich diese Dichter gewissen Prosaformen, ob nun dem Roman oder der kürzeren Erzählung, zuwandten, bevorzugten sie dabei, wie Daniel Casper von Lohenstein, eine betont gelehrsame, heroisierende oder mythologischangereicherte Stilhaltung, während sie einen ins Unterhaltsame tendierenden Erzählstil lieber jenen von ihnen als bloße Schreiberlinge verachteten Autoren überließen, die sich an die aus dem Spanischen ins Deutsche übersetzten PikaroRomane hielten und dabei aus Furcht, als ungelehrt zu erscheinen, ihre Werke meist ohne Namensnennung oder unter Pseudonymen herausgaben. Während also in England, Frankreich, Italien und Spanien in diesem Zeitraum bereits eine Fülle bedeutsamer Romane erschien, war die deutsche Romanproduktion in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch relativ gering und wuchs erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs allmählich an,7 wobei es sich allerdings vornehmlich um heroisch-galante Romane im höfischen Geschmack handelt, in denen auf die politischen oder sozioökonomischen Zustände der Zeit des Dreißigjährigen Krieges oder der Jahrzehnte danach meist nur in allegorisch verschlüsselter Form angespielt wird und obendrein eine unverkennbare Huldigung an die absolutistischen Regierungsformen der jeweiligen Landesherren herrscht. Eine eher „realistisch“ zu nennende Schilderung der in diesem Jahrhundert herrschenden Verhältnisse findet sich daher lediglich in einigen Werken des sogenannten niederen Romans, der zwar in Anlehnung an die ins Deutsche übersetzten spanischen Pikaro-Erzählungen häufig ins Groteske oder lediglich Unterhaltsame tendierte, doch in seiner Figurengestaltung und Handlungsführung zum Teil höchst konkret auf die Nöte der unteren Bevölkerungsschichten einging, statt wie manche protestantischen Gedichte dieses Zeitraums lediglich religiöse Lamentationen über die verheerenden Folgen des Dreißigjährigen Krieges im allgemeinen anzustimmen. Bei weitem der wichtigste Autor innerhalb 56

Johann Jacob Christoffel von Grimmelshausens Courasche (1670)

dieses Genres, dem später wegen seiner erzählerischen Begabung und zugleich realistischen Darstellungsweise ein weltliterarischer Rang zuerkannt wurde, war Johann Jacob Christoffel von Grimmelshausen – eine Auszeichnung, die selbst lange Zeit angesehenen Barock-Dichtern wie Andreas Gryphius und Daniel Casper von Lohenstein nicht zuteil wurde. Auf seine Romane soll daher im Folgenden – im Hinblick auf die in ihnen widergespiegelten sozioökonomischen Verhältnisse in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts – etwas näher eingegangen werden.

III Um mit zwei Hinweisen zu beginnen: Grimmelshausen war weder ein Gelehrter noch wurde er von ihm wohlwollenden Fürsten in den Adelsstand erhoben. Er besuchte zwar als Junge von 1627 bis 1633 die Lateinschule in Gelnhausen, wo sein Vater als Arzt tätig war, wurde aber im folgenden Jahr – inmitten der Wirren des Dreißigjährigen Krieges – als Dreizehnjähriger von marodierenden Kroaten der spanischen Armee nach Hersfeld und anschließend nach Kassel entführt. Danach nahm er vermutlich als Troßbube an der Einnahme von Magdeburg und der Schlacht von Wittstock teil. Kurz darauf diente er in einem Regiment des Grafen Götz, schlug sich dann als Musketier durch und erhielt schließlich 1644 eine Stelle als Regimentsschreiber bei dem in Offenburg stationierten Truppenkontingent des kaiserlichen Obristen Hans Reinhard von Schauenburg, die er bis 1648, also bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges, innehatte. In der Folgezeit war er als Schaffner für die Schauenburger in Gaisbach tätig und stand obendrein der Weinschänke „Zum silbernen Löwen“ vor. Ab 1662 betätigte er sich als Verwalter auf den Gütern des Straßburger Arztes Johann Küeffer in Ullenburg, zog jedoch 1665 wieder nach Gaisbach zurück, wo er erneut eine Gastwirtschaft übernahm. Erst danach, bereits 45 Jahre alt, begann er sich als Haupt einer elfköpfigen Familie auch als Schriftsteller zu betätigen, um sein relativ schmales Einkommen aufzubessern. Als Stoffanregungen dienten ihm dabei – neben den allgemein bekannten biblischen Geschichten – vornehmlich jene verheerenden Verhältnisse, die er in der zweiten Hälfte des Dreißigjährigen Krieges am eigenen Leib miterlebt hatte. Und das waren nicht wenige. So hatte er selber mitansehen müssen, wie man die armen Bauern geschunden und umgebracht hatte, wie es der wilden Soldateska nur aufs Brandstiften, Vergewaltigen und Plündern angekommen war, das heißt wie unchristlich dieser Krieg trotz aller religiösen Beteuerungen geführt wurde. Mit anderen Worten: Er war in all diesen Jahren zu einem „Realisten“ 57

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abgehärtet worden, der von irgendwelchen großen Worten oder gar Heilserwartungen nicht viel hielt. Was ihn jetzt, im Rückblick auf diese Jahre interessierte, waren daher wesentlich konkretere Dinge: vor allem das bloße Überleben, das in solchen Zeiten nur durch die ständige Flucht vor dem Feind oder durch betrügerisch erworbene Geldsummen möglich war, mit denen man sich notfalls von seinen Widersachern freikaufen konnte. All das hatte seinen Blick dafür geschärft, in allen Lebenslagen so realistisch wie nur möglich zu denken, statt sich von irgendwelchen religiösen oder auch idealistischen Hirngespinsten blenden zu lassen, hinter denen sich – genauer betrachtet – in den meisten Fällen lediglich höchst konkrete Besitz- und Machtansprüche verbargen. Aber wie ließ sich eine solche Sicht auf eine nur von materieller Habgier regierte Welt literarisch umsetzen? Den skrupellos Herrschenden unter den Fürsten und Bischöfen wie in den reformatorisch gesinnten Schriften des 16. Jahrhunderts noch einmal die Ideale einer redlich gesinnten Arbeitsethik entgegenzuhalten, war angesichts der allgemein verrohten Zustände des Krieges illusorisch geworden. Die Gestalt des sogar in seinem Gewinnstreben „anständig“ bleibenden Kaufmanns oder Handwerkers spielt daher selbst in der anspruchsvollen Literatur des 17. Jahrhundert fast keine Rolle mehr. In ihr gibt es lediglich eigenmächtige Herrscher und weitgehend besitzlose Untertanen. Die Gebildeten, die in ihr auftreten, versuchen nach den Wirren der Kriegszeit meist in der fürstlichen Verwaltung unterzukommen oder sogar die Rolle des „Redlichen Mannes am Hofe“ zu spielen, der den über ihm stehenden Herrscher in den jeweils auf der Tagesordnung stehenden politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen berät. In Anlehnung an diesen Trend stellte daher Grimmelshausen, der, wie gesagt, mehrere Jahre bei den Schauenburgern als Verwalter und Berater tätig war, 1666 in seinem ersten längeren Roman, der Histori vom Keuschen Joseph, seinen Protagonisten vor allem als einen versierten Homo oeconomicus dar, der sich im Dienst des Pharao in Ägypten als ein höchst erfolgreicher Wirtschaftsminister, ja geradezu als ein marktwirtschaftlich orientierter Manager bewährt.8 Unter Bezugnahme auf die Parabel von den sieben mageren und den sieben fetten Jahren wird in diesem Roman recht ausführlich geschildert, wie geschickt Joseph auf den Wandel der sozioökonomischen Verhältnisse reagiert, indem er nicht nur in den Marktmechanismus von Angebot und Nachfrage zu Gunsten eines gleichbleibenden Warenangebots einzugreifen versucht, sondern auch durch eine bessere Verteilung der Bauerngüter die landwirtschaftlichen Erträge steigert. Ja, als Grimmelshausen diesen Roman 1670 in einer zweiten Auflage heraus58

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brachte, erweiterte er ihn sogar noch um jene Denck und leswürdige LebensErzehlung, in der es um einen Kaufmann, namens Musai, geht, der als gewiefter Schaffner dem amtierenden Joseph im Hinblick auf dessen ökonomische Vorsorgemaßnahmen eine Reihe nützlicher Vorschläge unterbreitet. Als guter Kaufmann schlägt Musai dabei nicht nur vor, irgendwelche Kriege zu vermeiden, bei denen so viele Unschuldige ums Leben kämen, sondern rät seinem Herrn, stattdessen lieber umfangreiche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, wie den Bau von Pyramiden, ins Auge zu fassen, um so eine drohende Beschäftigungslosigkeit und Unruhe im Lande zu vermeiden. Doch angesichts der im Dreißigjährigen Krieg erlebten Gräueltaten erschien Grimmelshausen ein solcher Roman – wegen seiner Zeitenthobenheit und seines durch die biblische Geschichte vorgegebenen Happy Ends – wohl doch zu harmlos. Daher entschloß er sich, nach der ersten Fassung seines Keuschen Joseph schon ein Jahr später seinen kurz danach geschriebenen Roman Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch herauszubringen, in dem es fast ausschließlich um die chaotischen Jahre jener aus den Fugen geratenen Welt des Dreißigjährigen Krieges geht. Selbst der lautere Simplicissimus gerät in ihnen immer wieder in verhängnisvolle, ja zum Teil selbstverschuldete Situationen, in denen er sich sowohl als Täter als auch als Opfer erweist, was ihn gegen Ende seines Lebens bewegt, sich von der als zutiefst verderblich empfundenen Welt in ein entsagungsvolles Eremitendasein zurückzuziehen. Auf „anständige“ Weise läßt sich in den von Grimmelshausen geschilderten Kriegsverhältnissen offenbar nicht leben. Vor allem Geld ist in derartigen Zeiten nur durch eine betrügerische oder menschlich erniedrigende Weise zu erwerben. So verdient etwa Simplicissimus in Paris 200 Pistolen, indem er lüsternen Damen bei der Befriedigung ihrer hitzigen Begierden hilft, während er in einer späteren Episode als großsprecherisch auftretender Quacksalber die dummen Bauern mit angeblichen Wundermitteln schröpft, was sich für kurze Zeit als finanziell recht erfolgreich erweist. Doch letztlich geht es in diesem Roman nicht primär um Geschäftliches. Beide der erwähnten Episoden dienen lediglich dazu, die durch die Gräuel des Krieges verursachte allgemeine Hinfälligkeit aller bisher als tugendsam hingestellten Werte zu demonstrieren, denen sich Simplicissimus schließlich als frommer Einsiedler so weit weg wie nur möglich, nämlich auf eine Insel östlich von Madagaskar, entzieht.

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IV Wesentlich ausführlicher ist dagegen Grimmelshausen in jenem viel kürzeren, aber dafür um so eindringlicher auf die mühsamen Erwerbsmöglichkeiten in den verwirrten Zeitläuften des Dreißigjährigen Krieges spielenden Roman eingegangen, den er im Jahr 1670 herausbrachte und der folgenden, seinen Inhalt bereits ausführlich erläuternden Titel trägt: Trutz Simplex: Oder Ausführliche und wunderseltzame Lebensbeschreibung Der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche / Wie sie anfangs eine Rittmeisterin / hernach eine Hauptmännin / ferner eine Leutenantin / bald eine Marcketenterin / und letztlich eine Ziegeunerin abgegeben / Meisterlich agiret, / und ausbündig vorgestellt: Eben so lustig / annehmlich und nutzlich zu betrachten / als Simplicissimus selbst. Alles miteinander von der Courasche eigner Person dem weit und breitbekannten Simplicissimo zum Verdruß und Widerwillen dem Autori in die Feder dictirt, der sich dießmal nennet Philearchus Grossus von Trommenheim / von Griffsberg. Seine Protagonistin heißt eigentlich Lebuschka und ist, wie sie erst später erfährt, das uneheliche Kind des böhmischen Grafen von Thurn und einer seiner vielen Dienerinnen. Allein auf sich gestellt, gibt sie sich anfangs als Knabe, namens Janco, aus und wird als Dreizehnjährige von einem Rittmeister als Kammerdiener angestellt. Als ein junger Offizier, der zu Recht vermutet, daß sie eigentlich ein junges Mädchen ist, sie sexuell bedrängt, indem er ihr an die zwischen ihren Schenkeln verborgene „Courasche“ greift, wohin sonst, wie es heißt, „noch keines Manns-Menschen Hände kommen seyn“,9 offenbart sie sich ihrem Dienstherren und bittet ihn, ihre Ehre zu beschützen. Von ihren Reizen angetan, heiratet sie dieser umgehend, stirbt jedoch schon kurz danach, worauf sie als Erbin nicht nur „schöne Pferdt / Gewehr und Kleyder“, sondern auch ein „schön Stück Gelt“ ihr eigen nennen kann (35). Mit all diesen Gütern ausgestattet, führt sie danach nicht nur ein „verruchtes Gottloses Leben“, um sich weiter zu bereichern, sondern auch, um ihre „bisher bezwungenen Begierden einmal schiessen zu lassen“ (39). Ihr erstes Opfer ist ein Graf, der ihr für ihre Gunstbezeugungen sowohl ein kostbares Kleid als auch 100 Dukaten vermacht. Der nächste ist ein Ambassador, welcher ihr schon nach der ersten Nacht „60 Pistolen zu verdienen gabe“ (40). Und „nach diesem“, heißt es weiter, „kamen auch andere / und zwar keine die nicht tapfer spendieren konnten / dann was arm war / oder wenigst nicht gar reich und hoch / das mochte entweder draussen bleiben / oder sich mit meiner Wirthin Töchtern behelffen“ (40). Indem also ihre „Mühle gleichsamb nie leer stunde“, gelingt es Lebuschka, wie sie selbstgefällig erklärt, „in Monats-Frist 1.000 ducaten in specie“ zusammenzubringen, 60

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„ohne das / jenige / was nur an Kleinodien / Ringen / Ketten / Armbändern / Sammet / Seiden und Leinen Gezeug (mit Strümpfen und Handschuhen dorffte wohl keiner aufziehen) auch an Victualien, Wein und andern Sachen verehrt wurde“ (40). „Also gedachte ich mir meine Jugend fürderhin zu nutz zu machen“, heißt es darauf, „und es müste mich noch auf diese stund reuen, / wann ich weniger gethan hätte« (40). Als sie darauf in Verruf gerät, verläßt sie einfach den Ort, in dem sie sich bis dahin aufgehalten hat, und begibt sich nach Prag, um nach weiteren Freiern Ausschau zu halten. Ihr erstes Zielobjekt ist dort ein Hauptmann, den sie mit ihren Tränen erweicht, sie unverzüglich zu ehelichen. Mit ihm nimmt sie als schneidig kämpfende Soldatin an mehreren Raubzügen teil, bei denen sie soviel Beute macht, daß sie ihr Vermögen ständig vergrößert und einen Gutteil davon in einer „vornehmen Stadt“ verwahren läßt (45). Als ihr Hauptmann bei Wißlach ums Leben kommt, wählt sie unter ihren Dutzend Liebhabern einen jungen italienischen Leutnant zum dritten Ehemann, mit dem sie „in der Pfaltz copulirt“ wird, der sie mit „Hunds-Demut“ verehrt und sich sogar von ihr verprügeln läßt (47). Als dieser sie darauf verläßt, schließt sie sich erneut einem ins Feld ziehenden Regiment an, wo sie bei einem der unvermeidlichen Scharmützel nicht nur einem feindlichen Soldaten den Kopf abhaut, sondern auch so reiche Beute macht, daß ihr der amtierende Obrist dafür 200 Reichstaler aushändigt, die sie mit dem Geld, was sie sonst „erschnappt und verdienet hatte“, abermals in einer „Namhaften Stadt verwahrt“ (53). Als ihre die Männer verführende Schönheit allmählich zu verblühen beginnt, schraubt Courasche, wie sie jetzt allgemein genannt wird, ihre finanziellen Erwartungen etwas zurück. Schließlich ist sie inzwischen reich genug geworden, um sich „einen Knecht / einen Jungen / eine Magd / sechs schöne Pferd (darunter das eine 100 Ducaten wehrt gewesen) samt einem wolgespickten Wagen“ leisten zu können, ja läßt einen Teil ihres Geldes „per Wexel“ nach Prag überweisen (59). Doch selbst danach hat sie noch immer „ohne Kleyder und Geschmuck 3000 Reichsthaler bahr beyeinander“ und kann daher für eine Weile ohne „schändlichen Gewinn“ leben (60). Als jedoch ein stattlicher Hauptmann um ihre Hand anhält, geht sie eine weitere Ehe ein, wobei sie sich allerdings ausbedingt, daß dabei ihr Vermögen keinen Schaden erleide. Bei einem Feldzug gegen die Dänen machen darauf beide reiche Beute, so daß Courasche weitere 1000 Gulden per Wechsel nach Prag schicken kann. Aber auch dieser Mann kommt in einer der nächsten Schlachten ums Leben.

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Danach ist ihr Fortuna nicht mehr so hold wie zuvor. Sie verliert nicht nur einen neuen adligen Liebhaber, sondern wird sogar von herumstreunenden Soldaten rücksichtslos niedergeschlagen und überlebt diese Attacke nur, weil ihr ein mutiger Musketier in letzter Minute zu Hilfe kommt. Darauf entschließt sich Courasche, um nicht weiterhin als willfährige Buhlerin eingeschätzt zu werden, ihren Lebensunterhalt fortan als Marketenderin zu verdienen, indem sie sich mit ihrem Wagen den zu neuen Raub- und Feldzügen ausrückenden Truppen anschließt, und stellt den besagten Musketier als ihren Diener an, ja räumt ihm – trotz seines niederen Standes – sogar das Eherecht ein. Allerdings bedingt sie sich aus, daß sie dabei keineswegs auf das „Ober-Commando / sonderlich über das Gelt“ verzichten wolle (88). Und dieser Musketier, genannt Spring-ins-felt, stimmt dem auch zu. Die Geschäftstüchtigkeit beider, wobei zwischen ehrlichen und betrügerischen Handlungen meist kaum zu unterscheiden ist, bewährt sich so gut, daß Courasche bei einem Italienfeldzug „beynahe alle Monat einen Wexel von 1.000 Cronen nach Prag zu übermachen hatte“ (93). Ob „rechtmässig erbeuthet / geraubet / oder gestohlen“, heißt es in diesem Zusammenhang, alles wird von ihr in Geld umgesetzt und vermehrt so ihre „Prosperität“ (99). Wegen der allgemeinen „Gottlosigkeit der Welt“ fühlt sie bei all diesen Aktionen keinerlei Gewissensbisse, sondern nimmt felsenfest an, lediglich wie alle anderen Menschen zu handeln (104). Die einzige Furcht, die sie von Zeit zu Zeit überfällt, besteht darin, daß ihr „gelthauffen“ abnehmen könne (105). Ja, schließlich geht es ihr als Marketenderin so gut, daß sie erneut weitere „Wexel nach Prag und anderswohin in Teutsche Reichs-Städte“ überweisen kann (115). Als Spring-ins-felt darauf faul und übermütig zu werden beginnt, findet sie ihn mit 100 Ducaten ab und zieht allein weiter. Nachdem Courasche Italien abgegrast hat, begibt sie sich nach Böhmen und erwirbt dort mit ihrem Vermögen mehrere Güter, büßt jedoch schon kurze Zeit später durch Einquartierungen und kriegerische Aktionen einen großen Teil ihrer Habe ein. Ja, danach wird sie sogar wegen ihres weiterhin unzüchtigen Lebens von ihren Gütern vertrieben, wofür sie jedoch nicht ihren Lebensstil, sondern lediglich die ihr durch den Krieg aufgezwungenen Verhaltensweisen verantwortlich macht. Um überhaupt weiterleben zu können, schachert sie darauf mit Tabak und Branntwein, was ihr wiederum 200 Gulden einträgt. Doch dann bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich einer Zigeunerhorde anzuschließen und einen ihrer Anführer zu heiraten. Mit dieser Horde durchstreift sie – stets auf neue „Schelmenstücke und Diebsgriffe“ bedacht – anschließend „gleichsam alle Winkel Europae“ und beteuert am Schluß selbstgerecht, „daß man ein gantz 62

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rieß Papier haben müste / wann man solche alle miteinander beschreiben wollte“ (149).

V Wie läßt sich eine solche ohne die geringsten Schuldgefühle oder moralischen Skrupel erzählte Geschichte interpretieren? Grimmelshausen hat zwar seinen Lesern dazu im ersten Kapitel dieses als „Traktätlein“ bezeichneten Romans sowie in der angehängten „Zugab des Autors“ einige Hinweise an die Hand gegeben, die jedoch die Vieldeutigkeit dieses so unverblümt vorgetragenen Lebensberichts eher verstärken als vermindern. Dort heißt es, daß von der „Huren-Lieb“ der Courasche „nichts anders zu gewarten“ war „als allerhand Unreinigkeit / Schand / Spott / Armuth und Elend“ sowie ein „böß Gewissen“ (150) und daß dadurch ein solches Leben sicher nicht dem „künfftigen Zorn Gottes“ entrinnen werde (19). Schließlich habe sie selbst gegen Ende ihres Lebens keinerlei Reue über ihre vielen Missetaten empfunden und müsse deshalb wegen ihrer unverzeihlichen Sünden „abgestrafft“ werden (22). Aufgrund dieser Bemerkungen ließe sich also das Ganze – in einem religiösen Sinne – durchaus als negatives Exempel eines verfehlten, das heißt vom gottgefälligen Pfade der Tugend abgewichenen Lebens deuten. Doch dem widerspricht nicht nur der teils aufsässige, teils genußvolle Ichton dieser Erzählung, der keineswegs nur das Lasterhafte, sondern auch die nicht zu leugnende Ichverliebtheit dieser couragierten Frau unterstreicht. Und diesen Zwiespalt, ja diese Vieldeutigkeit haben fast alle späteren Interpreten von Grimmelshausen Courasche durchaus erkannt. Allerdings ließen sie sich dabei von höchst verschiedenen Gesichtspunkten leiten. Irgendwelche rein geistlich ausgerichteten Interpretationen sind, wie erwartet, in jüngster Zeit immer seltener geworden. Heutzutage wird die Vielschichtigkeit dieser Erzählung meist folgendermaßen gedeutet: 1. indem man vor allem ihre Polyperspektivität akzentuiert, die keinerlei Rückschlüsse auf irgendwelche ideologischen Eindeutigkeiten erlaube,10 2. indem man weitreichende Genreerkundungen anstellt,11 3. indem man unter feministischer Sicht zugleich den unverkennbar „starken“ Charakter dieser Frau betont,12 4. indem man neben der ins Allegorische tendierenden Stilhaltung auch den „frühbürgerlichen“ Grundzug des Ganzen herausstreicht,13 5. indem man in dem Ganzen ein Bekenntnis zu einem anarchistischen Sichausleben sieht,14 oder 6. indem man sich bemüht, auch die dieser Erzählung zugrunde liegenden standesbedingten Verhältnisse ins Auge zu fassen.15 Zweifellos haben alle diese interpretatorischen Herangehensweisen ihre Berechtigung, können 63

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jedoch im Rahmen der in diesem Buch angestellten Fragestellungen nicht näher behandelt werden. Statt dessen soll im Folgenden lieber ein kurzer, wenn auch genauerer Blick auf die in Grimmelshausens Courasche dargestellten Geld- und Wirtschaftsverhältnisse geworfen werden, auf die bisher nur wenige eingegangen sind.16 Lassen wir also alle religiösen, poetologischen, feministischen, frühbürgerlichen, anarchistischen oder standesbedingten Erwägungen einmal beiseite und beschränken wir uns auf die Frage, mit welcher Realistik die rein materiellen Aspekte in dieser Erzählung herausgestellt werden. Was dabei sofort ins Auge sticht, ist die simple Tatsache, daß, wie schon im Simplicissimus, von irgendeinem frühbürgerlichen Arbeitsethos und der damit verbundenen kaufmännischen Redlichkeit nirgends die Rede ist. Schließlich spielt sich das Ganze in einem alle menschlichen Werte in Frage stellenden mörderischen Kriegsgeschehen ab, wo – um des bloßen Überlebens willen – jeder nur auf seinen Eigennutz bedacht ist. In fast allen Kapiteln hören wir, welch räuberischer Charakter diesem Krieg zugrunde liegt, wie wehrlose Bauern umgebracht werden, wie die rohe Soldateska Frauen vergewaltigt, wie ganze Dörfer in Flammen aufgehen, wie alle Menschen nur auf Beute aus sind usw. Wie soll sich da eine junge, elternlose Frau, wie Lebuschka, anders behaupten können, indem sie entweder irgendwelche heiratswilligen Offiziere verführt, um sich von diesen gegen die sie rücksichtslos bedrängenden Soldaten beschützen zu lassen, oder, falls sie solche Beschützer nicht findet, sich ihren Lebensunterhalt durch Hurerei, Beutemachen, Stehlen oder Betrügen zu verschaffen? Die Möglichkeit eines ehrbaren Broterwerbs scheint es in der von Grimmelshausen geschilderten Welt des Dreißigjährigen Krieges, die durchaus den uns bekannten Tatsachen entspricht, für eine junge, alleinstehende Frau überhaupt nicht zu geben.17 So gesehen, ist sie eine Femina oeconomica, die in dieser Kriegszeit lediglich das tut, was damals viele brotlos gewordene Menschen taten, um nicht zu verhungern oder ermordet zu werden: sie wird skrupellos. Wie jede gerissene Kauffrau versucht sie außerdem, das durch Hurerei oder Betrug erworbene Geld, ob nun in Form von Ducaten, Cronen, Pistolen, Gulden oder Reichstalern, irgendwo anzulegen, da sie darin ihre einzige Chance sieht, in Zeiten äußerster Not auf ein Sparguthaben zurückgreifen zu können. Und als ihr selbst das nicht gelingt und zugleich ihre verführerischen Reize verblassen, ja sich sogar das Herumziehen mit dem Marketenderinnenwagen nicht mehr lohnt, schließt sie sich einer Zigeunerhorde an, die weitgehend vom Rauben und Stehlen lebt. Aber was hätte sie sonst machen sollen: sich als hilflose Bauernmagd notzüchtigen, wenn nicht 64

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gar umbringen zu lassen oder als fromme Einsiedlerin ebenfalls vergewaltigt oder ermordet zu werden? Andere Möglichkeiten eröffnen sich ihr in den von Grimmelshausen geschilderten Verhältnissen gar nicht. In derartigen Zeiten, wo alles im Zeichen der Maxime „Homo homini lupus“ steht, herrschen keine bürgerlichen Moralvorstellungen. In ihnen regiert allein das rohe Kriegsgeschehen. Selbst ihre in Prag und Wien hinterlegten Kapitalien erweisen sich daher nicht als beständig, sondern gehen im Strudel der Ereignisse ebenso verloren wie alles andere. Statt also als alte Frau von den Zinsen ihres Vermögens leben zu können, muß sie nach dem Verlust all dieser Gelder weiterhin von beutegierigen Raubzügen leben. Trotz aller religiösen Verbrämung erweist sich daher Grimmelshausens Courasche als eins der wenigen realhistorischen Werke dieser Ära, das in seiner materialistischen Sehweise kaum zu überbieten ist. Hier herrscht – inmitten einer durch die alles verheerenden Kriegsverhältnisse ins Verrohte ausgearteten Welt – ein Zustand, dem mit irgendwelchen religiösen Tröstungen oder Versprechen nicht beizukommen ist. In einer Zeit wie dieser erweisen sich selbst Geld und Landbesitz nicht als Garanten eines ökonomisch abgesicherten Lebens, sondern werden, wie alles andere, vom Strom der kriegerischen Ereignisse einfach verschlungen. Was dem Einzelnen demnach in solchen Verhältnissen übrigbleibt, ist einzig und allein ein rücksichtsloser „Eigennutz“, würde Grimmelshausen sagen, der zwar unter religiöser Perspektive gesehen höchst verwerflich, aber unter existenzbedingter geradezu zwangsläufig wirkt. So betrachtet, ist die Geschichte der Courasche keine Beichte, sondern lediglich ein den materialistischen Voraussetzungen dieser Zeit entsprechender Lebensbericht, an dem es nicht viel zu deuteln gibt.

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Ohne einträgliche Schuldverschreibungen kein ungestörtes Liebesglück Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm (1767)

I Als in der westdeutschen Germanistik noch die formalästhetischen Gattungsbestimmungen eine wichtige Rolle spielten, ging es bei der Interpretation von Lessings Minna von Barnhelm häufig nur darum, dieses Stück – wegen seines aktuellen Zeitbezugs und seiner realistischen Menschengestaltung – als einen völlig neuartigen Dramentyp innerhalb der Komödienliteratur des 18. Jahrhunderts zu charakterisieren.1 Dies sei keine Posse, keine Harlekinade, keine Comédie larmoyante mehr, hieß es immer wieder, sondern ein „ernstes Lustspiel“, ja fast eine „Tragikomödie“, bei der es weder in erster Linie um ans Alberne grenzende Slapstick-Effekte noch um eine mit Lachen untermischte Rührung gehe. Allerdings mußten einige Literaturwissenschaftler bei ihren genretheoretischen Interpretationen dieses Dramas durchaus zugeben, daß es in manchen Szenen dieses Stücks auch an althergebrachten komödiantischen Topoi und Handlungsmotivationen – wie unerwarteten Briefen, sorgfältig eingefädelten Intrigen, einem radebrechenden Ausländer, mehrfacher Schuldenmacherei, einem am Schluß als gütigem Deus ex machina auftretenden Oheim sowie dem zu erwartenden glücklichen Ausgang des Ganzen – keineswegs fehle.2 Auch die Dramatis personae dieses Stücks wirken, wenn man genauer hinsieht, nicht absolut neu. Da es sich nicht um ein bürgerliches Lustspiel handelt, sondern sich das Ganze im Adelsmilieu abspielt, werden in diesem Drama, wo man aus Standesgründen nicht auf Bedienstete verzichten konnte, der weiblichen Hauptfigur, dem Fräulein von Barnhelm, eine Kammerjungfer und der männlichen Hauptfigur, dem Major von Tellheim, ein Diener sowie ein ehemaliger Wachtmeister beigeordnet, was durchaus den damaligen Klassenverhältnissen entsprach. Zugleich erlaubte diese Zweiteilung dem Autor die Möglichkeit, neben den sich ernsthaft, das heißt standesgemäß verhaltenden Hauptpersonen, in der eher ungezwungenen Welt der Bediensteten den Nachdruck auf die komischen Effekte zu legen. 66

Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm (1767)

Nun gut, all das ist in seiner Handlungsführung, Charakterdarstellung und Sprachgebung zweifellos brillant, ja übertrifft sowohl in den ernsten als auch in den komischen Partien geradezu alles, was in der bis dahin nicht besonders eindrucksvollen Reihe an deutschen Komödien üblich war. Zwar hatte es schon früher in diesem Genre häufig Herren und Diener, Adelsfräulein und Kammerjungfern gegeben, aber meist in einer so klischeehaften Typisierung, daß man fast glaubte, immer wieder dasselbe Stück gesehen oder gelesen zu haben. Damit verglichen, ist die Figurenzeichnung in Lessings Minna von Barnhelm, obwohl sie sich zum Teil derselben gesellschaftlichen Konstellationen bedient, die schon für viele Lustspiele der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts charakteristisch ist, durchaus originell, wenn nicht einzigartig. Ja, ebenso originell, wenn nicht noch einzigartiger sind die vielen Bezugnahmen auf die aktuelle historische Situation, in der sich dieses Stück abspielt, nämlich der Zeit kurz nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges, auf die so realistisch und zugleich so kritisch, wie in keinem anderen Drama dieser Ära, hingewiesen wird. Werfen wir daher erst einmal einen kurzen Blick auf die damit verbundenen Aspekte, bevor wir auf die Geld- und Eigentumsverhältnisse eingehen, die sich daraus ergeben.

II Nach seinem Studium in Leipzig lebte Lessing in den fünfziger Jahren als freier Schriftsteller und Journalist weitgehend in Berlin und arbeitete dort unter anderem für die Vossische Zeitung und die Berlinische privilegierte Zeitung. Als 1756 der Siebenjährige Krieg begann, war er erst in sein Heimatland Sachsen zurückgekehrt und hatte dann versucht, sich seinen Lebensunterhalt erneut als Literaturkritiker in Berlin zu verschaffen. Als ihm dies nicht gelang, sah er sich schließlich gezwungen, von 1760 bis 1765 eine Stelle als Gouvernementssekretär beim preußischen General Bogislaw Friedrich von Tauentzien in Breslau anzunehmen, was ihm tiefe Einblicke in die friedrizianische Kriegsführung ermöglichte. 3 Allerdings huldigte er dabei keineswegs einer „fritzischen“ Gesinnung. Weder die patriotische Vaterlandsliebe, wie sie damals Johann Georg Zimmermann in seiner Schrift Von dem Nationalstolze (1758) sowie Thomas Abbt in seinem Buch Vom Tode fürs Vaterland (1761) propagierten, noch die preußische Verklärung Friedrich II., des „Einzigen“, wie man ihn gern nannte, durch Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Friedrich Nicolai und Karl Ramler, sagten ihm zu. „Die Liebe des Vaterlandes scheint mir eine heroische Schwachheit, die ich recht gern entbehre“, schrieb er dementsprechend am 14. Februar 1759 an Gleim. Ja, im 5. Brief seiner im gleichen Jahr herauskommenden Briefe, die neueste Literatur 67

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betreffend bekannte sich Lessing ausdrücklich zu den Plänen jenes Abts von St. Pierre, der eine „proportionierliche Herabsetzung der Kriegsheere aller europäischen Staaten“ vorgeschlagen hatte. Lessing atmete daher 1763, als es – nach sieben schrecklichen Kriegsjahren – endlich zu einem Friedensschluß zwischen Preußen und Österreich kam, erlöst auf.4 Aber man muß noch wesentlich mehr über die damals in Preußen herrschenden politischen und sozioökonomischen Verhältnisse wissen, wenn man sich auf eine interpretationsbereite Lektüre seiner Komödie Minna von Barnhelm einläßt, an der Lessing im Jahr 1763 zu arbeiten begann und die 1767 erstmals im Druck erschien. Sie ist nämlich in vielem ein ausgesprochenes Zeitstück, wenn nicht gar das erste deutsche Lustspiel, das eine Fülle gegenwartsnaher Themen „auf die Bühne brachte“.5 Und zwar läßt sich dabei die antifritzische Tendenz des Ganzen keineswegs übersehen. Schließlich geht es in diesem Stück um einen hohen Offizier, der als Kompaniechef eines sogenannten Freibattaillons nach Kriegsende plötzlich unehrenhaft aus der preußischen Armee ausgestoßen und auf die Straße geworfen wird, weil er den verarmten Sachsen, die unfähig waren, den in ihr Land eingedrungenen Preußen die nötigen Kontributionen zu zahlen, das dafür erforderliche Geld – gegen einige Wechsel – aus eigenen Mitteln vorgeschossen hatte. Jeder nur halbwegs zeitgeschichtlich informierte Leser oder Zuschauer dieses Stücks wurde im Hinblick auf derartige Szenen zwangsläufig an jenen Major Friedrich von Dyherrn erinnert, der seinem König mehrfach von irgendwelchen überhöhten Kontributionen abgeraten hatte, welche die ohnehin schon gedemütigten Sachsen an die preußischen Kriegskassen zahlen mußten. Ja, manche von ihnen entsannen sich sicher ebenso gut an den Berliner Unternehmer Johann Ernst Gotzkowsky, der den Leipziger Bürgern bei den ihnen auferlegten Kontributionen mit von ihm ausgestellten Wechseln unter die Arme gegriffen hatte und dann in der preußischen Finanzkrise von 1763 bankrott gegangen war. Doch nicht allein das. Die gleichen Leser und Zuschauer waren zu diesem Zeitpunkt noch bestens mit den in der friedrizianischen Armee herrschenden Verhältnissen – wie der unbarmherzigen Disziplinierung der Soldaten, der aristokratischen Sozialordnung innerhalb der einzelnen Truppenteile, dem Heiratsverbot für Offiziere sowie der mangelnden Versorgung für invalide Soldaten – vertraut, worauf in Lessings Minna von Barnhelm an mehreren Stellen angespielt wird.6 Ja, sein Major Tellheim spiegelt in manchem sogar Lessings eigene Einstellung dem preußischen Staat gegenüber wider. Er stammt nämlich aus Kurland, ist 68

Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm (1767)

also wie Lessing kein gebürtiger Preuße, sondern hat in diesem Land lediglich nach einer ihm gemäßen Anstellung gesucht und will daher nach seinem Rausschmiß aus der preußischen Armee nicht wieder, wie Shakespeares „Mohr von Venedig“, Offizier in einem ihm fremd gebliebenen Lande werden (199). Da es auch Lessing in den frühen sechziger Jahren wegen der besagten Finanzkrise nicht gelang,7 in Berlin eine ihm entsprechende Anstellung zu finden, verließ er schließlich, wie sein Tellheim, Preußen und nannte es im Jahr 1769 in einem Brief an Friedrich Nicolai voller Erbitterung „das sklavischste Land Europas“. Doch solche Äußerungen wurden in deutschnational gesinnten Kreisen später gern ignoriert. Was sich stattdessen im Hinblick auf Lessings Preußenbild durchsetze, war eher die gegenteilige Meinung. So wurde er etwa nach der von Bismarck im Jahr 1871 erzwungenen Reichsgründung von dem damals hochangesehenen Berliner Germanisten Erich Schmidt gerade wegen seiner Minna von Barnhelm als ein besonders guter Preuße hingestellt – einem Urteil, dem damals lediglich der Sozialdemokrat Franz Mehring in seinem Buch Die Lessing-Legende (1893) mit scharfen Worten entgegen trat.

III Doch zurück zu dem Stück selber und den in ihm zentral herausgestellten finanziellen Schwierigkeiten, die sich für den edelmütigen Tellheim nach seiner unehrenhaften Verabschiedung aus der preußischen Armee ergeben haben und die von Lessing mit aller nur wünschenswerten Realistik geschildert werden. Schon im ersten Aufzug dieses Stücks geht es fast ausschließlich um die Finanznöte des in seiner Ehre tief gekränkten Tellheim. Da er die Berliner Hotelkosten nicht bezahlen kann, wird er von einem auf das nötige Kleingeld erpichten und zugleich wie ein preußischer Polizeispion wirkenden Wirt kurzerhand in ein kümmerliches Nebengelaß umquartiert. Doch Tellheim bleibt trotz dieser gegen seinen Stand verstoßenden Erniedrigung weiterhin ein Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle. Als ihm die Witwe eines früheren Offiziersfreundes, dem er einst Geld geliehen hatte, eine kleine Rückzahlung anbietet, lehnt er – angesichts der Notlage, in der sich diese Dame befindet – eine solche Offerte selbstverständlich ab. Auch als ihm sein früherer Wachtmeister, der gutmütig polternde Werner, 100 spanische Goldmünzen zur „Aufbewahrung“ übergeben will, schlägt Tellheim diese als Hilfe gedachte Geste aus. Ja, er will sogar seinen Diener, den braven Just, entlassen, da er ihm kein Salär mehr zahlen kann, was jedoch dieser, anhänglich wie er ist, empört ablehnt. Um nicht in der Gosse zu landen, bittet Tellheim schließlich den treublickenden Just, das einzige ihm noch verbliebene Kleinod, 69

Ohne einträgliche Schuldverschreibungen kein ungestörtes Liebesglück

seinen Verlobungsring, zu versetzen, um wenigstens noch eine Weile in der ihm vom Wirt eingeräumten Notunterkunft bleiben zu können, da er immer noch hofft, daß er für seine im Krieg geleisteten Dienste den ihm zustehenden Lohn bekommen werde. Doch weder Friedrich II. noch die sächsischen Stände, denen er während der im Kriege erfolgten Besetzung Sachsens durch preußische Truppen das erforderliche Kontributionsgeld vorgeschossen hatte, reagieren. So viel zum ersten Aufzug dieses Stücks, in dem es lediglich um die Tellheim mißmutig stimmenden Geldangelegenheiten geht. Doch daraus ergibt sich geradezu zwangsläufig alles Weitere. Im zweiten Akt erfahren wir, daß sich seine Verlobte, das Fräulein Minna von Barnhelm, mitsamt ihrer Kammerjungfer Franziska, aus Sachsen kommend, in dem gleichen Hotel einquartiert hat, in dem auch Tellheim wohnt, um endlich – nach den vielen Kriegswirren – ihren Bräutigam wiederzufinden, den sie für einen Mann mit dem „rechtschaffenden Herz und Edelmut“ hält.8 Und wie es in Lustspielen vor sich geht, erfährt sie auch gleich nach ihrer Ankunft, daß sich der von ihr gesuchte Tellheim ganz in ihrer Nähe befindet. Doch als sie ihm endlich gegenübersteht, ist sie bestürzt, nicht dem verliebten, glücklichen Mann von damals zu begegnen, den sie am liebsten gleich an ihr Herz gedrückt hätte, sondern einen Mann, der ihr ausweicht und verbittert erklärt, daß er ihrer als „verabschiedeter, an seiner Ehre gekränkter“, am Arm verwundeter und zum „Bettler“ gewordener Mann nicht mehr würdig sei (161). Was nun? Im dritten Aufzug geschieht darauf Folgendes. Alle von Tellheims früheren Bediensteten – der Kutscher, der Läufer, der Jäger und der Kammerdiener – haben inzwischen, weil er nicht mehr bezahlen kann, das Weite gesucht. Nur Just und Werner halten noch zu ihm. Ja, Werner, der sein kleines Landgütchen verkauft hat, will ihm sogar hundert Louisdor und hundert Dukaten leihen. Aber Tellheim will kein Schuldner eines seiner früheren Untergebenen werden. „Du brauchst dieses Geld selber“, erklärt er ihm uneigennützig, um einmal „mehr als Wachtmeister zu werden; dich auf einer Bahn weiterzubringen, auf der, ohne Geld, auch der würdigste zurückbleiben kann“ (176). Selbst auf Minna will Tellheim weiterhin verzichten. Doch diese gibt nicht nach. Nachdem sie erkannt hat, daß es dem edelmütigen Tellheim vor allem um die Wiederherstellung seiner von ihm als höchsten Wert eingeschätzten „Ehre“ geht und er ihr sogar einen dementsprechenden Absagebrief geschickt hat, erklärt sie lediglich: „Eines Fehlers wegen entsagt man keinem Manne“ (182). Und so bleibt der weitere Verlauf dieses „ernsten Lustspiels“ nach wie vor offen.

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Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm (1767)

Um diesen über alle Maßen großherzigen Mann nicht endgültig zu verlieren, entschließt sich das Fräulein von Barnhelm darauf im vierten Aufzug zu folgender Intrige. Sie entscheidet sich kurzentschlossen, sich als eine enterbte und dadurch in finanzielle Schwierigkeiten geratene Baronesse auszugeben, um so an Tellheims Edelmut zu appellieren. „Der Mann“, sagt sie zu sich selbst, „der mich mit allen Reichtümern verweigert, wird mich der ganzen Welt streitig machen, sobald er hört, daß ich unglücklich und verlassen bin“ (184). Doch bevor sie Tellheim von ihrer angeblichen finanziellen Notlage erzählt, weist sie ihn darauf hin, daß er gar kein armer Mann sei, sondern ihr Oheim, der Graf von Bruchsall, bald in Berlin eintreffen werde, um ihm jene zweitausend Dukaten, die er damals den sächsischen „Ständen so großmütig vorgeschossen“ habe, zurückzuerstatten (197). Doch selbst das genügt Tellheim nicht. Er will auch seine „Belohnung“ vom preußischen König erhalten und wieder als „ehrenwerter“ Offizier angesehen werden (201). Ohne die Erfüllung dieser beiden Bedingungen, erklärt er trotzig, sei er weiterhin unwürdig, eine Ehe mit ihr einzugehen. Erst darauf läßt Minna den immer noch niedergedrückten Tellheim durch Franziska wissen, daß sie ihr Oheim „enterbt“ habe, „weil sie keinen Mann von seiner Hand annehmen wollte“ (203). Als Tellheim das hört, will er sich sofort, wie sie erwartet hatte, reumütig zu ihren Füßen werfen und sie anflehen, ihm zu verzeihen. Doch die endgültige Lösung der immer noch weiterschwelenden Konflikte geschieht erst im fünften Aufzug. Entschlossen, die angeblich verarmte Minna zu heiraten, erklärt Tellheim jetzt sogar, „wieder Dienste zu nehmen“, ja alles zu versuchen, um der „unglücklichen“ Minna ein würdiges Leben zu verschaffen (205). Er glaubt mit einem Mal, daß sie der besagte Oheim nur deshalb verstoßen habe, weil sie sich in einen Preußen verliebt hat. „Durch mich, Minna“, beteuert er ihr plötzlich schuldbewußt, „verlieren sie Freunde und Anverwandte, Vermögen und Vaterland“ (211). Überwältigt von „Mitleid“ bestürmt er Minna darauf, um sie von der Ernsthaftigkeit seiner Sinneswandlung zu überzeugen, mit folgender Tirade: „Welche Dienste wird man mir verweigern? Und müßte ich sie unter dem entferntesten Himmel suchen: folgen Sie mir, liebste Minna; es soll uns an nichts fehlen« (211). Ja, Tellheim ist im Überschwang dieser Sinneswandlung sogar bereit, das ihm von Werner angebotene Geld anzunehmen. Doch bevor Minna antworten kann, überbringt ihm plötzlich ein preußischer Feldjäger einen Brief des Königs, in dem ihm versichert wird, daß die Staatskasse für alle seine Kosten, Vorschüsse und Rechnungen, die ihm im Kriege entstanden

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Ohne einträgliche Schuldverschreibungen kein ungestörtes Liebesglück

seien, aufkommen werde. Ja, ihm wird sogar erneut eine Offiziersstelle in der preußischen Armee angeboten. Doch all das rührt Minna nicht im geringsten. Sie will keinen nur an seine „Ehre“ denkenden Mann. Selbst als ihr Tellheim versichert, kein Oberster in der preußischen Armee werden zu wollen, da ihm ein Leben „im Dienste der Großen“ plötzlich als „gefährlich“, wenn nicht gar „erniedrigend“ erscheint, bleibt sie obstinat. Darauf erklärt er ihr, er wolle lieber stattdessen irgendwo „in der ganzen weiten bewohnbaren Welt den stillsten, heitersten, lachendsten Winkel“ suchen, „dem zum Paradiese nichts fehlt als ein glückliches Paar“ (214). Doch so hochfliegende Pläne lehnt Minna, die wesentlich realistischer Denkende, erst einmal ab und beteuert ihm freimütig, daß sie die Geschichte mit der „Enterbung“ nur „erdichtet“ habe, um ihn zu prüfen (221). Erstaunlicherweise nimmt ihr das Tellheim keineswegs übel. Und so wird aus den beiden doch noch ein glückliches Paar, wie sich das für ein Lustspiel des 18. Jahrhunderts gehört. Ja, zuguterletzt trifft sogar noch der Graf von Bruchsall ein, der Tellheim das von ihm damals den sächsischen Ständen vorgeschossene Geld zurückerstattet – und alles schwimmt in Seligkeit.

IV Kein Zweifel, fast alles an diesem Stück wirkt wohlüberlegt, literarisch brillant, bis ins letzte Detail realistisch, durchgehend friedensbetont und in manchen Zügen sogar feministisch: also im besten Sinne „aufklärerisch“. An einem derartigen Meisterwerk herumzumäkeln wäre daher fast blasphemisch. Und doch sollte man sich von all diesen unleugbaren Vorzügen, die in der Geschichte der deutschen Komödie nicht gerade häufig anzutreffen sind, nicht von vornherein blenden lassen. Nun gut, zwei edle Menschen, die sich lieben, kriegen sich am Schluß. Das erfreut jeden, der stets darauf hofft, daß sich – trotz aller Erniedrigung, aller Bosheit, aller Intrigen – gegen Ende doch eine humane Lösung finden läßt. Jedenfalls empfanden das die meisten Aufklärer des 18. Jahrhunderts als ein moralisches Postulat. Deshalb schworen sie den älteren Tragödienkonzepten weitgehend ab und schrieben lieber Schauspiele oder sogenannte ernste Komödien, in denen die Menschen – im Gegensatz zu den Trauerspielen des barocken Theaters – nicht mehr einem unerbittlichen Fatum unterliegen oder nur durch die Clemenza irgendwelcher großmütigen Herrschergestalten gerettet werden. Tellheims Schicksal nimmt daher keinen verhängnisvollen Verlauf, das heißt führt in den „Wirren der Welt“ nicht zu Verbannung oder Selbstmord, sondern

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Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm (1767)

wird von Minna, einem „klugen Frauenzimmer“, wie solche Gestalten im 18. Jahrhundert hießen, zu einem guten Ende geführt. Und zwar gelingt ihr das – im Gegensatz zu vielen anderen, eher ins Sentimentale abgleitenden Dramenheldinnen dieser Jahre – nicht durch hysterisch wirkende Worttiraden, vorgetäuschte Ohnmachten oder zur Schau gestellte Tränenergüsse. Dazu hat sie viel zu viel Contenance, wie man um 1760 gesagt hätte. Sie bringt nicht einmal, wie das vorher in der anakreontisch gestimmten Literatur üblich war, ihren erotischen Liebreiz ins Spiel. Kurzum: Sie fleht nicht, sie weint nicht, sie flirtet nicht, sie tändelt nicht. Sie kleidet sich nicht einmal besonders aufreizend. Kurzum: sie bleibt in allen Szenen das hochadlige Fräulein von Barnhelm, das genau weiß, wie sie sich als Nichte eines Grafen zu verhalten hat. Mit einem beträchtlichen Standesbewußtsein will sie nur einen Mann heiraten, der ihrer „würdig“ ist. Und dieser Mann ist für sie Tellheim, den sie – ohne ihn vorher gesehen zu haben – bereits zu lieben begann, weil er sich in der Affäre der sächsischen „Kontributionen“ als ein wahrer Ehrenmann verhalten habe. Das klingt alles recht überzeugend und scheint eine große „Menschlichkeit“ zu beweisen. Liebe aus Hochachtung vor dem Edelmut eines anderen, wer hätte dagegen etwas einzuwenden – wenn dabei nicht ständig das „liebe Geld“ ins Spiel käme. Denn es macht ja den „Realismus“ dieses Stücks aus, daß es selbst bei den hier dargestellten Liebesbeziehungen nicht allein oder vorwiegend um letztlich unerklärliche Gefühlsaufwallungen geht, sondern daß dabei auch ganz andere Faktoren eine mitbestimmende Rolle spielen. Und zwar gilt das im besonderen für die in diesem Stück dargestellte Adelswelt, innerhalb derer sowohl bei öffentlichen als auch bei privaten Entscheidungen und Verhaltensweisen nicht nur das Standesbewußtsein, das heißt anspruchsvolle Umgangsformen und Ehrbegriffe, sondern auch die Vermögensverhältnisse von ausschlaggebender Bedeutung waren. Erst nachdem Tellheims Ehre wiederhergestellt ist, erst nachdem er über reichlich Taler, Dukaten und Louisdors verfügt, also erst nachdem er sich wieder als ein von allen Menschen hochgeschätzter Adliger fühlt, kann er davon träumen, sich mit seiner Minna in den „stillsten, heitersten, lachendsten Winkel der Welt“ zurückzuziehen, um sich dort mit ihr wie im „Paradiese“ zu fühlen (214). Man sollte daher fragen: Wer konnte sich in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts solche Träume überhaupt leisten? Genau besehen, an sich nur ein Adliger mit einem beträchtlichen Eigenvermögen oder eine Braut mit einer ebenso beträchtlichen Mitgift. Und das trifft sowohl auf den Major von Tellheim als auch auf das Fräulein von Barnhelm zu.

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Dieses Stück treibt also keine Propaganda für eine rein „menschliche Existenz“ wie manchmal behauptet wurde,9 sondern bleibt durchaus realistisch, indem es derartige Träume nur einem mit einem ausreichenden Vermögen versehenen Adligen erlaubt. In ihm geht es nicht in aufklärerischer Abstraktion um irgendwelche sich als „Weltbürger“ ausgebende Idealmenschen. Hier herrschen von Anfang bis Ende die harten Gesetze der jeweiligen Vermögensverhältnisse, denen ein klar nachgezeichneter klassenbedingter Charakter zugrunde liegt. Statt ins Allgemein-Menschliche und damit Unkonkrete auszuschweifen und so den Boden unter den Füßen zu verlieren, vergaß Lessing in keiner Szene dieses Stücks, seine Figuren in Wort und Tat als Vertreter ihres jeweiligen Standes zu charakterisieren. Und ihr Stand bestimmt auch ihr Verhältnis zum Geld.10 Fast alle Entscheidungen hängen in diesem Stück davon ab, wer es hat und wer es nicht hat. Und das große Geld besaßen in der Welt des 18. Jahrhunderts nun einmal nur die Adligen und einige Großkaufleute. Daß aus den jeweiligen Geldverhältnissen ein Klassenkonflikt zwischen den Wohlausgestatteten und den Minderbemittelten entstehen könnte, wird in diesem Stück noch nicht in Erwägung gezogen. In ihm geht es weder um die Propagierung einer weltbürgerlichen Gesinnung noch um den Übergang vom absolutistischen zum kapitalistischen Zeitalter, wie von Vertretern der linken Welle um 1970 manchmal behauptet wurde,11 sondern ausschließlich um die Darstellung einer Adelswelt, in der zwar gewisse Ehrbegriffe für vorübergehende Verwicklungen sorgen, die sich aber noch nicht von den unteren Bevölkerungsschichten bedroht fühlt. Das glaubte sie erst, als 1789 in Paris die Französischen Revolution begann.

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Eine Rotte von Narren mit roten Kappen Goethes und Schillers martialische Xenien gegen die Gleichheitsforderungen der deutschen Jakobiner (1795–96)

I Goethes Rezeption in Deutschland war anfänglich höchst kontrovers und ging erst im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als man eine nationale Identifikationsfigur brauchte, allmählich in eine Verkultung über, die nach 1871 im Bild des „Klassikers“ Goethe kulminierte. Während Goethe vorher im demokratisch-liberalen Lager weitgehend als ein „Fürstenknecht“ galt und die Literatur der Goethe-Zeit entweder als Ausdruck einer konservativen „Kunstperiode“ oder als Aufschwung aus „der platten Misere in die überschwängliche Misere“ abgekanzelt wurde, stieg Goethe – neben seinem angeblichen „Freund“ Schiller – in wilhelminischer Zeit zu einem nicht mehr kritisierbaren „Olympier“ auf, der in seinen Werken das kulturelle Fundament zur politischen Reichsgründung von 1871 gelegt habe.1 Selbst in der Weimarer Republik stellte man ihn weiterhin als eine geradezu überlebensgroße Figur hin, an der es – als dem Jupiter der deutschen Literatur – überhaupt nichts zu problematisieren gebe. Und dieses Bild Goethes hielt sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bis ins Dritte Reich, ja wirkte im Nachkriegsdeutschland noch lange darüber hinaus. Nach der Katastrophe des Hitler-Regimes wurde Goethe dort sowohl von Konservativen wie Friedrich Meinecke als auch von national eingestellten Sozialisten wie Johannes R. Becher nochmals unhinterfragt als eine betont idealisierte Identifikationsfigur auf den Podest gehoben und dabei zugleich die heilende Wirkung seines Humanismus für das „beschädigte“ deutsche Nationalbewußtsein herausgestrichen. Gegenstimmen zu dieser allgemeinen Goethe-Verkultung waren hingegen äußerst selten. In der DDR gehörte dazu einerseits ein Autor wie Bertolt Brecht, der die von Walter Ulbricht ausgegebene „Vollstrecker“-These, nämlich daß der Sozialismus letztendlich eine Realisierung goethezeitlicher Wunschvorstellungen sei, entschieden ablehnte, ja sogar ein goethekritisches Stück in „chimesischer“ Verkleidung plante, andererseits eine Gruppe kenntnisreicher Jakobinerforscher und -forscherinnen wie Heinrich Scheel, Gerhard 75

Eine Rotte von Narren mit roten Kappen

Steiner und Hedwig Voegt, die zwar nicht Goethe kritisierten, aber durch ihre positive Sicht der deutschen Jakobiner das ins Humanistische verklärte Bild Goethes indirekt in Frage stellten. Erst Mitte der sechziger Jahre machte sich in Westdeutschland – weitgehend angeregt durch ehemalige Exilanten sowie die von der SPD ausgehenden „Demokratisierungs“-Forderungen – eine allmähliche Wendung von den klassischromantischen zu den eher liberalen, wenn nicht gar revolutionären Traditionen in der deutschen Geschichte und Literatur seit dem späten 18. Jahrhundert bemerkbar. Und dabei gerieten – neben den Jungdeutschen, Vormärzlern, Naturalisten sowie den Vertretern der linken Materialästhetik der Weimarer Republik – auch die deutschen Jakobiner wieder ins Blickfeld der historischen und literaturwissenschaftlichen Forschung. Ja, im Zuge der sogenannten Achtundsechziger Bewegung wurden solche Bemühungen zusehends zahlreicher und führten schließlich im Rahmen sozial- und kulturhistorischer Studien zu einer immer eindringlicheren Beschäftigung mit Phänomenen wie der Mainzer Republik von 1793 sowie einzelnen Jakobinern wie Georg Forster, Adolf Freiherr Knigge und Georg Friedrich Rebmann. Daraus ergab sich eine fortschreitende Polarisierung der westlichen Germanistik in konservative Klassik-Verehrer sowie linksliberale Literaturwissenschaftler, welche sich – trotz ihrer Wertschätzung einzelner Werke Goethes und Schillers – nicht beirren ließen, auch den „höfischen“ und damit antirevolutionären Charakter der Weimarer Klassik herauszustreichen, wie das 1970 auf der Tagung „Die Klassik-Legende“ in MadisonWisconsin geschah.2 Während die Goethe- und Schiller-Verehrer in Ost und West in Abwehr solcher Tendenzen die Existenz eines deutschen Jakobinismus entweder schlechthin in Frage stellten oder als radikal-idealistisch ablehnten, um so weiterhin an „ihren“ Klassikern keine Abstriche machen zu müssen, setzte sich dennoch im gleichen Zeitraum bei einigen sozialhistorisch eingestellten Literaturwissenschaftlern allmählich eine dialektisierende Optik durch, die im Hinblick auf Goethes und Schillers Verhältnis zur Französischen Revolution sowie den damit verbundenen Auswirkungen auf die deutschen Intellektuellen im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts eine eher abwägende Haltung bezogen, welche 1989 – im Rahmen der Jahrhundertfeiern der Französischen Revolution – zu einer offenen Kritik der reaktionären Eigentumsvorstellungen Goethes und seiner sich daraus ergebenden Ablehnung der deutschen Jakobiner bzw. Illuminaten führte. Auch 1999 – anläßlich der Zweihundertfünfzigjahrfeiern von Goethes Geburt – kam es nochmals zu heftig aufflackernden Affekten gegen Goethes Handlungsweise 76

Goethes und Schillers martialische Xenien

im Rahmen seiner ministeriellen Tätigkeit im Weimar der neunziger Jahre. Dafür sprechen Schriften wie Wolfgang Rothes Der politische Goethe. Dichter und Staatsdiener im deutschen Spätabsolutismus (1998), W. Daniel Wilsons Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar (1999) sowie der Forschungsbericht Sichtung und Klarheit (1999) von Jörg Drews, in dem er Goethe eine „fatale Erscheinung“ nannte, da von ihm „eine nachhaltige Behinderung bei der Entwicklung Deutschlands zu einem bürgerlich-republikanischen Selbstbewußtsein“ ausgegangen sei.3 Im Zentrum dieser Auseinandersetzungen standen dabei fast immer Goethes kritische Reaktionen auf die tumultuarischen Ereignisse in den Anfangsjahren der Französischen Revolution sowie das Übergreifen der durch sie ausgelösten Freiheits- und Gleichheitsparolen auf Deutschland, die ihm wie eine nicht zu unterschätzende Gefährdung der bestehenden Macht- und Eigentumsverhältnisse erschienen seien. Im Gegensatz zu konservativen Goethe-Forschern, die dabei Goethes „besonnene“ Haltung herausstrichen, mit der er sich in humanistischreformerischer Absicht allen ins angeblich Unsinnig-Gewalttätige tendierenden Aktivitäten zur Wehr gesetzt habe, kritisierten die Liberalen auch in den Jahren danach weiterhin seine nur allzu offensichtlichen Verstöße gegen viele der heutzutage als demokratisch geltenden „Menschenrechte“, das heißt den von Goethe gutgeheißenen „Weimarer Soldatenhandel, den Zwang streikender Bauern zum Frondienst sowie die Einschüchterung, Bespitzelung und Unterdrückung von Meinungsfreiheit“, mit der er vor allem Studenten und Professoren oder auch intellektuelle Gemeinschaften und Geheimgesellschaften unter Druck gesetzt habe.4 Schiller, der manche dieser Maßnahmen ebenfalls guthieß, wurde dagegen in solchen Untersuchungen meist verschont.

II Während zu Goethes und Schillers grundsätzlicher Einschätzung der Französischen Revolution und ihrer Auswirkungen auf die deutsche Situation der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts bereits eine geradezu unübersehbare Sekundärliteratur existiert,5 sind ihre konkreten Stellungnahmen zu den die bestehenden Eigentumsverhältnisse gefährdenden Gleichheitsforderungen der deutschen Jakobiner bisher selten ausführlich behandelt worden, zumal die deutschsprachige Jakobinerforschung meist relativ eng auf ihren eigenen Gegenstand bezogen blieb und sich kaum mit der Beurteilung der deutschen Jakobiner durch andere der damaligen Schriftsteller beschäftigt hat. Selbst bei Walter Grab, der überragenden Forscherpersönlichkeit auf diesem Gebiet, taucht in seiner sich durch 77

Eine Rotte von Narren mit roten Kappen

drei Jahrzehnte hinziehenden Auseinandersetzung mit diesen Problemen das Dioskurenpaar Goethe und Schiller, wie überhaupt das Phänomen der sogenannten Weimarer Klassik nur am Rande auf.6 Daher soll auf dieses Thema im Folgenden etwas näher eingegangen werden. Wie jede historische Fragestellung hat auch dieser Problemkreis eine nicht zu übersehende Vorgeschichte. Genauer betrachtet, redet man von den Jakobinern erst seit 1789, als eine der revolutionärsten Gruppen in Paris ihr Hauptquartier in dem ehemaligen Kloster Sankt Jakob aufschlug und 1793–94 unter der Führung von Maximilien Robespierre – nach einem vorübergehenden Sieg über die eher gemäßigten Girondisten – die Führung im Nationalkonvent übernahm. Ebenso bekannt ist die Tatsache, daß es bereits vor dem Beginn der Französischen Revolution sowohl in Paris als auch in verschiedenen deutschen Staaten einige Radikalaufklärer gab, deren politische Zielsetzungen denen der späteren Jakobiner durchaus ähnlich waren und die demzufolge bereits in den achtziger Jahren im Sinne der späteren Freiheits- und Gleichheitsparolen konspiratorische Aktivitäten entwickelten, welche die an der Aufrechterhaltung der bestehenden Macht- und Eigentumsverhältnisse interessierten Schichten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gewaltsam zu unterdrücken suchten. In Deutschland gehörten zu derartigen Aufrührern vor allem die Mitglieder des 1776 aus den Freimaurerlogen hervorgegangenen Illuminatenordens, dessen Begründer der Ingolstädter Professor für Kirchenrecht und praktische Philosophie Adam Weishaupt war, der sich im „finsteren Bayern“ als Gegner des 1773 verbotenen, aber dennoch im Geheimen weiterwirkenden Jesuitenordens verstand und als Fernziel seiner Tätigkeit die Abschaffung jeglicher fürstlichen Willkür und Gewalt ins Auge faßte. Dieser Orden fand unter den deutschen Aufklärern auch außerhalb Bayerns, darunter in Weimar und Jena, schnell Anhänger. Einige der deutschen Fürsten im mitteldeutschen Bereich, die sich bemühten, möglichst „aufgeklärt“ zu erscheinen, um damit die liberalen Intellektuellen „zu vereinnahmen und für oppositionelle Zwecke unschädlich zu machen“, gingen daher in den frühen achtziger Jahren, wie schon vorher mit den Freimaurern, sogar ein vorübergehendes Bündnis mit den Illuminaten ein.7 So traten 1783 in Weimar sowohl der Herzog Carl August als auch sein Geheimrat Goethe dem dortigen Illuminatenorden bei, um diesen in ihrem Sinne zu beeinflussen oder zumindest überwachen zu können. Doch wegen der grundsätzlichen Unterschiede zwischen den Zielsetzungen der herrschaftlichen Mitglieder und dem Rest des Ordens mußte es hierbei schnell zu Spannungen kommen, worauf Carl August und Goethe wieder aus dieser logenhaft anmutenden Gesellschaft austraten und 78

Goethes und Schillers martialische Xenien

Goethe sein im Geiste der Illuminaten entworfenes Epos Die Geheimnisse als Fragment liegen ließ. Er und Carl August sahen sich in ihren Skrupeln sicher bestätigt, als ein Jahr später der Illuminatenorden in Bayern als revolutionäre Geheimgesellschaft verboten wurde.8 Ja, in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, als sich viele Jenaer Studenten die Ideale dieses Ordens zu eigen machten und zugleich mit der Deutschen Union unter Karl Friedrich Bahrdt zu sympathisieren begannen, der 1787 in seiner Schrift Die Pressefreiheit und deren Grenzen erklärt hatte: „Wehe dem Fürsten, der die Aufklärung unterdrückt, welche durch freies Denken und Urteilen überhaupt erst möglich wird!“,9 versuchten Carl August und Goethe ihre frühere Mitgliedschaft im Illuminatenorden möglichst zu vertuschen10 und begannen Anfang 1789, scharf gegen die Ausbreitung solcher Gesellschaften unter den Jenaer Studenten vorzugehen. Als dann im Sommer 1789 die Nachricht vom Beginn der Französischen Revolution Weimar erreichte, befürchteten Carl August und Goethe noch stärker als zuvor, daß jede Unterstützung von Radikalaufklärern auch für die deutschen Verhältnisse gefährliche Auswirkungen haben könne, worauf sie sich von ihren bisherigen, angeblich „benevolenten“ Maßnahmen immer weiter distanzierten. Im Gegensatz zu vielen liberalen deutschen Intellektuellen, die zu diesem Zeitpunkt noch durchaus mit den Freiheits- und Gleichheitsparolen der Französischen Revolution liebäugelten, bezog Goethe – in enger Fühlungsnahme mit seinem Herzog und anderen Mitgliedern des Weimarer Hofes wie Christian Gottlob Voigt, dem eigentlichen Premierminister und schärfsten Jakobinerhasser des Staates Sachsen-Weimar-Eisenach – von Anfang an eine äußerst kritische Haltung den Ereignissen in Paris gegenüber.11 Während er bis dahin, wie gesagt, mit einigen Ansichten der Freimaurer, ja sogar der Illuminaten zum Teil sympathisiert hatte, sah er nach 1789 selbst in wohlgesonnenen Reformern zusehends wilde, unsinnige Aufrührer, wenn nicht gar blindwütige „Jakobiner“. Noch kritischer wurde Goethes Einstellung zur Französischen Revolution in den Jahren 1792 und 1793, als die Machtstellung der französischen Jakobiner in Paris immer größer wurde und auch in Deutschland der Revolutionsenthusiasmus mancher liberalen Intellektuellen selbst auf Teile des Bürgertums und der Bauern überzugreifen begann. So sah man 1792, als die französischen Truppen das benachbarte Frankfurt besetzten, auf den Straßen von Weimar zum ersten Mal Bürger mit dreifarbigen Kokarden an den Mützen herumlaufen, die in den Augen der Loyalisten als die „Ohnebehosten“ galten. Ja, in Jena kam es aufgrund der auch von Goethe befürworteten Verbote der dortigen Geheimgesellschaften zu erheblichen Studentenkrawallen, die sich auf Drängen einiger 79

Eine Rotte von Narren mit roten Kappen

Professoren nur durch einen verstärkten Militäreinsatz herzoglicher Truppen, das heißt eine „Demonstration von überlegener Gewalt“, wie Goethe am 14. Juli 1792 erklärte, unterdrücken ließen.12 Anschließend begleitete Goethe im Herbst dieses Jahres seinen Herzog Carl August, der ein Regiment preußischer Truppen innerhalb der Koalitionsarmee gegen die französische Republik anführte, sogar nach Frankreich, wo beide den Sieg der Franzosen bei der Kanonade von Valmy miterlebten, den Goethe später in seiner Schrift Die Kampagne in Frankreich als autobiographisches Fragment beschrieb. Kurze Zeit später, genauer am 27. Dezember 1792, bat Carl August seinen Freund Goethe, doch in einem konservativen Sinne auf Weimarer Liberale wie Johann Gottfried Herder, Karl Ludwig Knebel und Christoph Martin Wieland einzuwirken, um sie endlich zur Räson zu bringen. Ja, Carl August erfaßte in diesen Wochen und Monaten ein „wahrer Ekel“ vor den Franzosen, bei denen – ähnlich wie bei den „Juden“ – „jede Spur eines moralischen Gefühls ausgelöscht“ sei, wie er am 13. Januar 1793 Goethe gegenüber erklärte.13 Aufgrund dieser zwei Erfahrungen: der Siege der französischen Volksmiliz über die deutschen Söldnerheere sowie der Unruhen im Weimarschen Herzogtum, verfaßte Goethe im Winter 1792 auf 1793 seine Antirevolutionsfarce Der Bürgergeneral, in der sich ein deutscher „Jakobiner“, mit dem bezeichnenden Namen Schnaps, mit dreifarbiger Kokarde, phrygischer Freiheitsmütze und französischer Nationaluniform als Anführer einer lokalen Revolte aufzuspielen versucht, bei der es – ohne Rücksicht auf die bestehenden Eigentumsrechte – darum gehen soll, mit „Flinten und Pistolen“ von einem „Edelhof“ Besitz zu ergreifen.14 Schnaps wird jedoch von dem ortsansässigen Baron mühelos als egoistischer Aufschneider, Trunkenbold und Langfinger entlarvt. Und mit absolutistischer „Benevolenz“ erklärt dieser Baron am Schluß, daß sich dort, wo es „weise“ Fürsten gebe, sicher keine „Parteien“ mit „aufrührerischen Gesinnungen“ verbreiten würden, worauf in diesem Dorf – wie erwartet – wieder Ruhe und Ordnung einkehren.15 Als im Januar 1793 in Paris Ludwig XVI. hingerichtet wurde und es in den französisch besetzten Rheinlanden zur Eröffnung des Rheinischen Nationalkonvents in Mainz und damit zur ersten Republik im Heiligen Römischen Reich kam, schlug selbst bei vielen deutschen Liberalen, die bisher mit den Idealen der Französischen Revolution sympathisiert hatten, die Stimmung plötzlich um. Für Reformen, die ihre persönlichen Interessen unterstützt hätten, waren viele gewesen, aber sowohl einen Königsmord als auch die Errichtung einer Volksherrschaft auf deutschem Boden, welche der bisherigen Vorstellung einer von oben gelenkten Staatsgewalt jedwede Rechtfertigung entzogen hätten, lehnten fast alle ab. 80

Goethes und Schillers martialische Xenien

Jetzt, wo sogar Herder und Wieland von ihrer „französelnden“ Gesinnung abrückten, war es daher für Goethe ein Leichtes, seine antijakobinische Gesinnung in aller Offenheit zu demonstrieren. So arbeitete er im April 1793 an seinem antirevolutionären Tierepos Reineke Fuchs, zu dem ihn offenbar Carl August angeregt hatte, und ließ einen Monat später im Weimarer Hoftheater den Bürgergeneral aufführen. Auch sein Stück Die Aufgeregten aus der gleichen Zeit richtet sich gegen den aufmüpfigen Geist dieser Jahre.16 Im Gegensatz zur bäuerlichen Szenerie im Bürgergeneral spielt sich hier die etwas differenziertere Handlung unter Bürgerlichen ab, die jedoch am Schluß ebenfalls durch eine Adlige, die vorgibt, in Paris die revolutionären „ Scheußlichkeiten“ der dortigen Eigentumsräuber mit eigenen Augen angesehen zu haben, mit benevolenter Attitüde eines Besseren belehrt werden – worauf sich wieder der Status quo einstellt. Genau besehen läßt sich fast alles, was Goethe in diesen Wochen und Monaten zu Papier brachte, nur als antijakobinische Propaganda verstehen. Darin folgte er aufs Getreueste seinem Herzog, der am 24. März 1793 in einem „weitläufigen Glaubensbekenntnis“ all jene „Herren Skribenten“ anprangerte, die keine andere Absicht hätten, als den „Besitzern die Hosen auszuziehen, um die Unbehosten damit zu bekleiden“, wie er sich mit einem Seitenhieb auf die französischen Sansculotten ausdrückte. Vor allem Georg Forster und Leute seines „Gelichters“ attackierte Carl August dafür, daß sie viele Menschen zu „Handlungen der schwärzesten Undankbarkeit und der sinnlosesten Unternehmungen“, sprich: der Gründung der Mainzer Republik, verleitet hätten.17 Und Goethe, als treuer Diener seines Herrn, schloß sich demzufolge im Frühjahr 1793 Carl August selbstverständlich an, um mit ihm an der konterrevolutionären Belagerung von Mainz teilzunehmen. Nach wiederholter Beschießung durch die Koalitionstruppen, die Teile der alten Stadt einäscherte, kapitulierten die Mainzer Jakobiner, darunter Georg Forster, am 23. Juli 1793 und verließen größtenteils die Stadt in Richtung Paris, was sowohl Carl August als auch Goethe mit Genugtuung quittierten. Alle Meldungen, die Goethe im Herbst und Frühwinter 1793 aus Paris erhielt – ob nun über die Septembermorde, den Sieg der jakobinischen Truppen über die Aufständischen in Lyon, die Hinrichtung Marie Antoinettes, die drakonischen Maßnahmen Robespierres sowie die Massenhinrichtungen in Nantes – bestätigten ihn lediglich in seiner Überzeugung, daß die Ausbreitung des Jakobinismus auch in anderen Ländern notwendigerweise zur „Herrschaft der Besitzlosen“ führen müsse. Um dieser Gesinnung auch literarisch Ausdruck zu verleihen, schrieb Goethe in der Folgezeit seinen Aufsatz Literarischer Sansculottismus sowie 81

Eine Rotte von Narren mit roten Kappen

seine Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in denen er sich in aller Entschiedenheit für eine Beibehaltung der „legitimen“, das heißt feudalabsolutistischen Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse in Deutschland einsetzte, um sich somit irgendwelchen aus dem gesellschaftlichen Untergrund herkommenden Freiheits- und Gleichheitsparolen entgegenzustemmen. Da er sich bei diesen Bemühungen als Schriftsteller in Weimar relativ einsam fühlte, begann er im Jahr 1794 nach ihm ideologisch gleichgesinnten Autoren Ausschau zu halten, mit denen sich auf literarischem Gebiet ein Schutzwall gegen jene radikalaufklärerischen oder gar jakobinischen Tendenzen errichten ließ, wie sie sich damals unter anderem in den Schriften von Carl Friedrich Bahrdt, Gottfried August Bürger, Joachim Heinrich Campe, Karl Friedrich Cramer, Georg Forster, Carl Ignaz Geiger, Franz Hebenstreit, Adolf Freiherr Knigge, Adam Lux, Andreas Georg Friedrich Rebmann, Johann Friedrich Reichardt, Eulogius Schneider, Friedrich Wilhelm von Schütz und Heinrich Würzer manifestierten.

III Und einen solchen Bundesgenossen fand Goethe 1794 in Friedrich Schiller, der nach rebellischen Jugendwerken, wie Die Räuber (1781) und Kabale und Liebe (1784), ja sogar noch dem Don Carlos (1787), seit 1790 zusehends irgendwelchen aufmüpfigen Ideen aus dem Wege gegangen war und sich – aus Abscheu gegen die „elenden Schinderknechte“ der Jakobiner – in den Bereich der ästhetischen Reflexion zurückgezogen hatte, was sowohl seine Schrift gegen den rebellischen „Volksdichter“ Bürger als auch seine 1793 durch ein Stipendium des Erbprinzen Christian Friedrich von Augustenburg ermöglichten Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen belegen, in denen er sich scharf von den „rohen gesetzlosen Trieben“ der „niederen und zahlreichen Klassen“ absetzte.18 Während Goethe in der Zeit zwischen Juli 1787 und Januar 1789, als Schiller erstmals in Weimar wohnte, den Dichter der „abscheulichen“ Räuber geflissentlich gemieden hatte, und Schiller noch am 2. Februar 1789, kurz nach seiner Berufung zum außerordentlichen Professor nach Jena, an seinen Freund Christian Gottfried Körner geschrieben hatte, daß ihn der Umgang mit „diesem Menschen, diesem Goethe“, diesem „Egoisten in ungewöhnlichem Grade“ zutiefst „unglücklich machen würde“, entschieden sich die beiden aufgrund ihrer immer schärfer werdenden antijakobinischen Überzeugungen im Sommer 1794 zu einem taktisch kalkulierten Gesinnungsbund. Um dieser antirevolutionären Haltung, die in erster Linie gegen die „Auswirkungen der Französischen Revolution in Deutschland“ gerichtet war,19 auch auf den Seiten einer neuen Zeitschrift Ausdruck zu 82

Goethes und Schillers martialische Xenien

geben, erklärte sich Goethe bereit, an den von Schiller gegründeten Horen mitzuarbeiten, die sich an überzeitlichen, das heißt ins „Klassische“ erhobenen Normen orientieren sollte, um so – nach den radikaldemokratischen „Exaltationen“ der Jahre zwischen 1790 und 1794 – zur Beruhigung der politischen Situation beizutragen. Beiden, Goethe und Schiller, kam dieses Zweckbündnis sehr gelegen. Goethe, der nach seiner Rückkehr aus Italien die Leitung des Weimarer Hoftheaters übernommen hatte, fand in Schiller sowohl einen Dramatiker, der den Spielplan der Weimarer Bühne mit „klassischen“ Stücken bereichern würde, als auch einen Gesprächspartner, mit dem er sich ausführlich über ästhetische Fragen unterhalten konnte, nachdem er sich – in den Anfangsjahren der Französischen Revolution – von eher „liberal“ denkenden Weimarer Autoren wie Herder und Wieland etwas entfremdet hatte. Schiller hingegen – nach seiner Wendung in die Gefilde einer zeitenthobenen „Klassik“ – sah in dem von ihm bisher erbittert gehaßten „Hochwohlgeborenen Geheimrat“ Goethe plötzlich einen einflußreichen, prestigeverheißenden Bundesgenossen, der zu den engsten Freunden des Herzogs Carl August gehörte. Wenn also für ihn, der sich zu diesem Zeitpunkt vehement von den rebellisch gesinnten Werken seiner Frühzeit zu distanzieren versuchte und sich bemühte, den Weg ins Idealistisch-Höhere einzuschlagen, ein politischer Bundesgenosse für seinen eigenen Kurs in Frage kam, so konnte das in seinem Umkreis nur Goethe sein. Mit wem sollte er zu diesem Zeitpunkt sonst sympathisieren? Etwa mit Jenaer Frühromantikern wie Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Friedrich Schlegel oder mit seinen jakobinisch gesinnten Studenten, die auf den Straßen von Jena sein Räuberlied Ein freies Leben führen wir sangen? Wie stark bei dieser Bündnisbereitschaft – trotz aller Bekenntnisse zum „Ästhetischen“ – die ideologische Komponente im Vordergrund stand, belegen vor allem die von Goethe und Schiller zu Anfang des Jahres 1796 verfaßten rund 900 Xenien, mit denen sie als selbsterwählte oberste Kunstrichter nicht nur allen pedantisch-trivialen, sondern auch allen politisch-aufmüpfigen Tendenzen in der durch die Auswirkungen der Französischen Revolution höchst erregten literarischen Welt in Deutschland entgegenzutreten versuchten.20 Einen ersten Anlaß dazu bot die äußerst kritische Rezeption der Horen von seiten der eher „aufklärerisch“ gesinnten bürgerlich-liberalen Rezensenten. Dafür spricht bereits der empörte Brief, den Goethe am 28. Oktober 1795 an Schiller schrieb, in dem er ihn ermunterte, am Ende seines nächsten Musen-Almanachs ein „kurzes Gedicht“ über alle dem „klassischen Programm“ Widerstrebenden einzuschalten. 83

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Am 23. Dezember wurde Goethe sogar noch schärfer im Ton und forderte Schiller auf, sich bei diesem Gedicht gegen alle „Uneinsichtigen“ der Form martialischer Xenien zu bedienen. Darauf verfaßten Goethe und Schiller – teils einzeln, teils zusammen – in der ersten Hälfte des Jahres 1796, wie gesagt, etwa 900 kritische Distichen, von denen Schiller für seinen Musen-Almanach für das Jahr 1797, der im Oktober 1796 erschien, rund 500 auswählte. Dieser Xenien-Almanach, wie er bald hieß, war ein solches „Spectaculum“, daß von ihm – bereits kurz nach seinem Erscheinen – zwei Nachauflagen gedruckt werden mußten. „Alle Welt“ war empört über den „Macht- und Beherrschungsanspruch“, welchen Goethe und Schiller mit ihm auf politischem und literarischem Gebiet erhoben.21 Ja, einige der direkt oder indirekt Angegriffenen reagierten sofort mit Gegenschriften auf diese Provokation, die Titel wie Fragmente aus den Gerichtsakten der Hölle über die Xenien zum Besten eines Feldlazaretts für Gelehrte, Gegengeschenke an die Sudelköche von Weimar und Jena, Die Ochiade oder freundschaftliche Unterhaltungen der Herren Schiller und Goethe mit einigen ihrer Herren Kollegen sowie Literarische Spießruten oder die hochadligen und berüchtigten Xenien trugen. Was in all diesen Schriften zum Ausdruck kam, war ein berechtigter Zorn über die aristokratisch-schnöde Form, mit der Goethe und Schiller, die sich in ihrer Frühzeit mit Werken wie Die Leiden des jungen Werthers und Kabale und Liebe deutlich zur bürgerlich-emanzipatorischen Bewegung bekannt hatten, plötzlich einen prononciert „aristokratischen“, ja „hochadligen“ Standpunkt einnahmen. Manche sahen in diesem Xenien-Almanach fast ein poetisches Gegenstück zum Sieg der Gironde über die Jakobiner oder zum Auftreten jenes Bonaparte, der sich im gleichen Zeitraum immer stärker zum „Bändiger der Französischen Revolution“ und schließlich zum Alleinherrscher des französischen Staates entwickelte.22 Einmal etwas verkürzt gesprochen, entschlossen sich Goethe und Schiller für diesen Federkrieg gegen alle von ihnen als pöbelhaft, liberal, aufmüpfig oder französelnd empfundene Gleichmacher, weil sie für das „klassische“, sprich: hochgestochene Literaturkonzept ihrer Horen nicht genug Zustimmende fanden. Den ihnen Widerstrebenden traten sie hierbei mit einer Gesinnung entgegen, die auf dem Paradox einer sich aufgeklärt gebenden, aber zutiefst feudalistisch eingestellten Hofkultur beruhte, welche sich zu ihrer ästhetischen Rechtfertigung einer neoklassizistischen Drapierung bediente. Das Höfische oder zumindest Aristokratische dieser Haltung kommt schon in der für diese Gedichte gewählten Form zum Ausdruck. Als selbsternannte „Klassiker“ bedienten sich Goethe und Schiller dabei jener antikisierenden Distichen, die meist mit dem römischen 84

Goethes und Schillers martialische Xenien

Epigrammatiker Marcus Valerius Martialis assoziiert wurden. Hier fanden sie jene „martialische“ Schärfe, jene Geschliffenheit, jene Kälte, die zu ihrer herrischaburteilenden Absicht am besten paßte. Fast alle, die sie sich vornahmen, kanzelten sie mit der gleichen Rücksichtslosigkeit ab, das heißt warfen ihnen ressentimentgeladene Uneinsichtigkeit, nackte Profitgier oder politische Labilität vor. Auf den Einwand, warum er so scharf vorgegangen sei, antworte Goethe später in seinen Zahmen Xenien: „Höflich mit dem Pack? / Mit Seide näht man keinen groben Sack.“23 Am kritischsten äußerten sich Goethe und Schiller über jene Autoren, die ihnen nicht den genügenden Weihrauch entgegenbrachten. Und das waren neben den Herausgebern und Beiträgern der seit dem Beginn der Aufklärung entstandenen literarisch-gelehrten Journale vor allem jene angeblich verblendeten „Gleichheitsschwärmer“, die sich Mitte der neunziger Jahre noch immer für die Ideen der Französischen Revolution begeisterten, statt einzusehen, wie Goethe und Schiller in Übereinstimmung mit dem Weimarer Hof meinten, daß es sich hierbei weitgehend um eine „räuberische“ Bewegung handele, die – ohne Rücksicht auf die bestehenden Eigentumsrechte – den Adligen lediglich ihre Besitztümer abzujagen versuche. Im Hinblick auf die letztere Gruppe waren daher ihre Urteile geradezu gnadenlos. In den sie betreffenden Distichen wurden keine Invektiven oder Injurien gespart, um „diese Leute“ so vernichtend wie nur möglich niederzusäbeln. Zugegeben, auch manche der eher gemäßigt auftretenden Zeitschriftenherausgeber, wie Friedrich Nicolai, wurden von ihnen voller Häme als „bornierte Köpfe“ (59),24 „Geschwindschreiber“ (330) oder „Schmierer“ (48) abgetan, denen es vor allem darum gehe, „aufregende“ Thesen zu verbreiten und damit auf der Leipziger Messe ihren Schnitt zu machen. Doch wenn es nur das gewesen wäre! Ihre Hauptgegner sahen Goethe und Schiller in den deutschen Jakobinern. Am schärfsten nahmen sie sich dabei Johann Friedrich Reichardt, einen Berliner Komponisten sowie Freund Herders und Jean Pauls, vor, der sich Anfang der neunziger Jahre als Reiseschriftsteller und Zeitschriftenherausgeber für die Verbreitung der Ideen der Französischen Revolution eingesetzt hatte, um das bereits durch Nicolai liberal gestimmte bürgerliche Publikum in rebellische Gleichheits- und Freiheitsfreunde zu verwandeln. Seine beiden Journale, die unter den anspruchsvollen Titeln Frankreich bzw. Deutschland erschienen, wurden daher von Goethe und Schiller als die politische und sozioökonomische Realität der deutschen Kleinstaaterei, die keine Änderung der herrschenden Macht- und Eigentumsverhältnisse erlaube, außer Acht lassende „papierne“ 85

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Phantasmagorien disqualifiziert (208). Was sie Reichardt vor allem verübelten, war das Faktum, daß er sich aus einem relativ angepaßten Höfling geradezu über Nacht in einen wilden Sansculotten gewandelt habe. Und das empfanden sie als „Undank“ seinen bisherigen Gönnern gegenüber. Dementsprechend erklärten sie im Xenion 216: „Erst habt ihr die Großen beschmaust, nun wollt ihr sie stürzen; / Hat man Schmarotzer doch nie dankbar dem Wirte gesehn.“ Doch wer war hier eigentlich der tatsächliche Schmarotzer: der reaktionäre König Friedrich Wilhelm II. von Preußen, der sich an den Kompositionen seines Hofkapellmeisters lediglich delektierte, oder der unentwegt komponierende Reichardt, der sie ihm vorspielte? Und wie fühlte sich Goethe selbst in seiner Rolle als „Höfling“? War nicht auch er einer der von ihm angegriffenen „Schmarotzer“? Es läßt sich daher schwerlich leugnen, daß Goethe seine Xenien auch für das Auge jenes Herzogs schrieb, in dessen Diensten er seit 1775 stand und der ihm 1792 das stattliche Haus am Frauenplan geschenkt hatte. Ein ehemaliger „Höfling“ wie Reichardt, der zu den „Revolutionären“ übergegangen war, verunsicherte Goethe daher wesentlich mehr als der „redliche“ Nicolai, der bei seinem aufklärerischen Leisten geblieben war. Wie in allen Sansculotten sahen darum Goethe und Schiller in einem Mann wie Reichardt von vornherein einen nichtswürdigen „Hund“. „Meine Wahrheit“, lassen sie ihn sagen, „besteht im Bellen, besonders wenn irgend / Wohlgekleidet ein Mann auf der Straße sich zeigt“ (210). In der gleichen Tonlage heißt es im Xenion 211: „Ein echter / Demokratischer Spitz klafft nach dem seidenem Strumpf.“ Noch deutlicher hätten Goethe und Schiller ihrem ressentimentgeladenen aristokratischen Hochmut kaum freie Zügel lassen können. Doch es war nicht nur der Jakobiner Reichardt, den sie angriffen. Auch andere deutsche Patrioten und Patriotinnen wie Joachim Heinrich Campe, Therese Huber sowie Carl Friedrich Cramer wurden in den sie betreffenden Xenien mit gleicher Schärfe als treulose Schwätzer abgekanzelt, die sich außerhalb der bestehenden Gesellschaft gestellt hätten. „Sag“, heißt es an einer Stelle, „wo steht in Deutschland der Sansculott? In der Mitte; / Unten und oben besitzt jeglicher, was ihm behagt“ (233). Vor allem die Sucht nach neuen „Verfassungen“ (232) oder gar sozioökonomischen „Umwälzungen“ (219) lehnten Goethe und Schiller strikt ab. Statt dessen traten sie den deutschen Jakobinern im Sinne des „benevolenten“ Absolutismus mit der den herrschenden Status quo rechtfertigenden Maxime entgegen: „Jedem Besitzer das Seine, und jedem Regierer den Rechtssinn! / Das ist zu wünschen, doch ihr, beides verschafft ihr uns nicht“ (234).

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Selbst der edelmütige Mainzer Jakobiner Georg Forster, dem Goethe sogar noch am 25. Juni 1792 brieflich für die Übersendung des zweiten Teils der Ansichten vom Niederrhein seinen Dank ausgesprochen hatte, wurde in den Xenien ebenso unbarmherzig angegriffen wie alle anderen angeblich verblendeten „Gleichheitsschwärmer“. Wie scharf sich Goethe nach dessen Beteiligung an der Mainzer Republik von Forster abwandte, geht aus einem seiner Briefe an Samuel Thomas Soemmering vom 13. Februar 1794 hervor, in dem er den Tod des kurz zuvor in Paris verstorbenen Forster als eine verdiente Buße für dessen politische „Irrtümer“ hinstellte.25 Ja, zwei Jahre später schickte Goethe dem tragisch gescheiterten Forster sogar noch drei böswillige Xenien nach, in denen er ihn als einen „rasenden Tor“ hinstellte, der erst in „unglücklicher Eilfertigkeit“ Liberté und Égalité verkündet habe und jetzt als ein innerlich zerrissener Enragé in der Hölle – voller Wut über seine politischen Verfehlungen – sicher seine dreifarbige Kokarde „zerzause“.26 Bei vielen dieser Angriffe bedienten sich Goethe und Schiller gern jener völkerpsychlogischen Klischees, nach denen die Deutschen brave Bildungsbürger und die Franzosen verantwortungslose Aufrührer seien. Alle auf eine Abschaffung der bisherigen Besitzverhältnisse drängenden Parolen stellten sie deshalb von vornherein als fremdländische „Kontrebande“, mit anderen Worten: als „französisches Gut“ hin (3), dessen Anziehungskraft selbst diesseits des Rheins einige kurzsichtige Intellektuelle betört habe. Dies seien jene Männer, deren aufrührerische Reden auch in Deutschland eine Rotte von Narren mit „roten Kappen“ verführt hätten (217), mit „großspurigen Phrasen“ (233) als „Maulverbrecher“ oder „Schreckensmänner“ aufzutreten, über die jedoch jeder wackere Bürger nur „lachen“ könne (215). All das spricht letztlich für sich selbst. Mit Xenien dieser Art griffen Goethe und Schiller nicht nur ihre literarischen Nebenbuhler an, sondern verteidigten zugleich handfeste, sich auf die bestehenden Eigentumsrechte berufende Klassenpositionen. So heißt es etwa im Xenion 60 mit herrischem Ton über die „Bedientenpflicht“ der Lakaien: „Rein zuerst sei das Haus, in welchem die Königin einzieht, / Frisch dann die Stuben gefegt / Dafür, ihr Herren, seid ihr da.“ Dem weiblichen Gesinde gelten folgende Zeilen: „Auf den Sessel der Frau pflanze die Magd sich nicht hin“ (61). Wer es wagen sollte, sich gegen solche die älteren politischen und sozioökonomischen Zustände verteidigenden Maximen aufzulehnen, prangerten sie daher von vornherein als einen alle bisherigen Standesgrenzen mißachtenden Gleichheitsapostel an, der im Sinne einer verwerflichen Sklavenmoral nur darum an den Pöbel appelliere, um sich selber zum Herren 87

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aufzuschwingen. Leider gebe es genug naive Schwärmer, heißt es an anderen Stellen, die solche ideologischen Hochstapeleien nicht durchschauten, da sie à la Rousseau von der ursprünglichen Güte in der Seele eines jeden Menschen überzeugt seien (32). Davon könne jedoch keine Rede sein. Gutsein, verkünden die Xenien mit einem fast an Thomas Hobbes gemahnenden Pessimismus, ergebe sich nicht aus der Natur des Menschen, sondern nur aus der Befolgung der von den Herrschenden festgelegten Gesetze. Im Sinne der herkömmlichen dynastischen Verhältnisse heißt es demzufolge noch in Goethes nach der Jahrhundertwende verfaßten Zahmen Xenien: „Wo die Macht ist, / Ist doch auch das Recht zu sein.“27 Ja, dort wird Goethes Abneigung gegen „Popularisches“ sogar noch massiver.28 Dafür sprechen Zeilen wie: „Mir ist das Volk zur Last, / Meint es doch dies und das, / Weil es die Fürsten haßt, / Denkt es, es wäre was.“29 Gelobt werden hier wiederum nur jene Vertreter der unteren Klassen, die sich zu der empfehlenswerten Einsicht durchgerungen hätten: „Wir leben ohne Neid und Haß, / Begehren nicht des anderen Titel.“30 Was darum Goethe und Schiller in ihren Xenien von 1796 den Deutschen anrieten, war vor allem die Parole: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“. Statt sich in die größere Politik einzumischen, die ein Privileg der Fürsten und der von ihnen ernannten Minister sei, heißt es mehrfach, solle der Bürger allen „Parteigeist“ stets von sich weisen (94) und sich lieber auf eine „ruhige Bildung“ beschränken (93). Als weltanschauliche Zielvorstellungen boten hierbei Goethe und Schiller ihren Landsleuten vor allem bewußt entpolitisierte Konzepte wie Gelehrsamkeit und individuelle Menschlichkeit an. Dementsprechend heißt es unter der Überschrift Deutscher Nationalcharakter: „Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens; / Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus“ (96). Worin allerdings diese Freiheit bestehen sollte, darüber schwiegen sich die beiden Xenisten wohlweislich aus. Aus dem Gesamtzusammenhang geht jedoch deutlich genug hervor, daß damit die Freiheit jener Bürger gemeint war, die sich in ihren geistigen Bestrebungen von vornherein auf den Bereich der Kultur beschränken würden. Und dieses kulturelle Bildungsbemühen sahen sie vor allem in einer verstärkten Hinwendung zu den überzeitlichen Normen der Antike. So heißt es etwa in dem Distichon Deutscher Genius in den gleichzeitig entstandenen Tabulae votivae geradezu apodiktisch: „Ringe, Deutscher, nach römischer Kraft, nach griechischer Schönheit, / Beides gelang dir, doch nie glückte der gallische Sprung.“31

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IV Kommen wir zu einigen Folgerungen. Statt eine politische Solidarität mit den bürgerlichen Aufklärern und Jakobinern anzustreben, zogen sich Goethe und Schiller in Winter 1795 auf 1796 mit ihren Xenien in eine „machtgeschützte Innerlichkeit“ zurück, der eine unverhohlene Übereinstimmung mit den herrschenden Macht- und Eigentumsverhältnissen zugrunde lag, die sie mit einer ideologischästhetischen Verklärung der Antike zu verschleiern suchten. Aufgrund dieser Haltung, die etwas unleugbar Aristokratisches hat, manövrierten sich Goethe und Schiller zusehends in eine politische und künstlerische Abseitslage hinein. Die kleinbürgerlichen Leserschichten, die wegen ihrer Unbildung lediglich empfindsame Romane oder handlungsreiche Ritter- und Räubergeschichten verschlangen, nahmen ihre Schriften ohnehin nicht wahr, während sich die jakobinisch gesinnten Rebellen und dann die ins Religiöse abdriftenden Frühromantiker zusehends von ihnen abwandten. Was ihnen blieb, waren demnach nur die bürgerlichen Liberalen, und die hatten sie mit ihren Xenien so schockiert, daß sie auch unter ihnen zeitweilig keine große Anhängerschaft fanden. Selbst den meisten Vertretern dieser Schichten erschien die von Goethe und Schiller eingenommene Pose reichlich elitär, wenn nicht gar hybrid. Schließlich hätten diese beiden ihre „Klassik“-Konzepte, wie sie erklärten, nur darum entwickeln können, weil ihnen der Weimarer Hof eine von allen äußeren Bedrängnissen abgeschirmte Intellektuellenexistenz ermögliche, die fast der von Paradiesvögeln gleichkomme. Fast alles, was Goethe und Schiller in den folgenden Jahren schrieben, mißfiel daher ihren liberal denkenden Zeitgenossen. Umso zufriedener waren hingegen die Vertreter der altständischen Ordnung mit ihren Xenien und den kurz darauffolgenden Publikationen. Zugegeben, viele dieser Schriften wirken heutzutage geradezu läppisch. Dennoch sollte man ihre konterrevolutionäre Wirkung auf die nachfolgenden Generationen nicht unterschätzen. Das gilt vor allem für jene zwei Werke, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zu den meistzitierten Lieblingen der „gebildeten“ Schichten des Bürgertums aufstiegen: Goethes Kleinepos Hermann und Dorothea und Schillers Gedicht Das Lied von der Glocke. Diese Sonderrolle spielten sie vor allem deshalb, weil sich beide in aller Offenheit gegen die Parolen der Französischen Revolution wandten, in denen die sich allmählich ökonomisch „saturierende“ Bourgeoisie, wie bisher der Adel, eine Bedrohung ihrer Besitzideologie sah. Besonders beliebt waren daher in diesem Umkreis die Schlußzeilen von Hermann und Dorothea, wo es heißt: „Desto fester sei, bei der allgemeinen Erschüttrung, / Dorothea, der Bund! Wir wollen halten und dauern, / Fest uns halten und fest an der schönen Güter Besitztum. / Denn der Mensch, 89

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der zu schwankender Zeit auch schwankend gesinnt ist, / Der vermehret das Übel, und breitet es weiter und weiter; / Aber wer fest in dem Sinne beharrt, der bildet die Welt sich. / Nicht dem Deutschen geziemt es, die fürchterliche Bewegung / Fortzuleiten, und auch zu wanken hierhin und dorthin. / Dies ist unser! so laß uns sagen und so es behaupten!“32 Noch unmißverständlicher drückte sich Schiller in seinem Lied von der Glocke aus, in dem sich die oft zitierten Zeilen finden: „Freiheit und Gleichheit! hört man es schallen, / Der ruh’ge Bürger greift zur Wehr, / Die Straßen füllen sich, die Hallen, / Und Würgerbanden ziehn umher; / Da werden Weiber zu Hyänen / Und treiben mit Entsetzten Scherz, / Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen / Zerreißen sie des Feindes Herz. / Nichts Heiliges ist mehr, es lösen / Sich alle Bande frommer Scheu, / Der Gute räumt den Platz dem Bösen, / Und alle Laster walten frei.“ Und dann folgen sogar noch die Zeilen: „Wenn sich die Völker selbst befrei’n, / Da kann die Wohlfahrt nicht gedeih’n.“33 Um wieviel verehrenswerter ständen Goethe und Schiller da, wenn sie zu diesem Zeitpunkt in ihren Werken die Partei der damaligen Gleichheitsfreunde ergriffen hätten! Daß sie es nicht getan haben, läßt sich unter moralischen Gesichtspunkten schwerlich verteidigen. Aber man sollte auch Folgendes bedenken. Nach 1793/94, das heißt nach der Liquidierung der Mainzer Republik und dem Zusammenbruch der Pariser Jakobinerherrschaft weiterhin an revolutionären Parolen festzuhalten hätte – einmal ganz konkret gesehen – in Deutschland wenig in Bewegung gesetzt. Manche der von Goethe und Schiller publizierten Xenien und der auf sie folgenden Werke verraten daher in ihrer politischen „Mäßigung“ durchaus eine realistische Einsicht in die politischen und sozioökonomischen Entwicklungszustände, die in Deutschland – aufgrund der herrschenden Kleinstaaterei – noch nicht jenes Stadium erreicht hatten, aus dem sich zwangsläufig eine Revolution ergeben hätte. Das sei den Verfassern dieser Distichen – wohl oder übel – zugute gehalten. Aber mußten sie dabei wirklich über all jene Radikalaufklärer oder Jakobiner herfallen, die zumindest im ideellen Bereich weiterhin an gesellschaftlichen Veränderungsvorstellungen festzuhalten versuchten? War das kein Verrat an ihrer eigenen Klassenherkunft, durch den sich die durch Carl August in den Adelstand erhobenen zwei Weimarer Dioskuren als ehemalige Bürger zu Handlangern des feudalabsolutistischen Systems erniedrigten? Deshalb sollte man ihre Xenien wie auch viele ihrer angeblich „klassischen“ Werke aus diesen Jahren stets mit einer Sehweise lesen, die deutlich zwischen den infamen und den einsichtsvollen Aspekten der in ihnen vertretenen Anschauungen zu unterscheiden weiß.34 90

Adliger Schloßherr und bürgerlicher Fabrikant Karl Leberecht Immermanns Die Epigonen (1836)

I Nach der Völkerschlacht von Leipzig (1813) und dann noch einmal nach der Schlacht von Waterloo (1814) sowie der darauffolgenden Verbannung Napoleons nach Sankt Helena hofften viele der deutschen Befreiungskrieger und der mit ihnen sympathisierenden bürgerlichen Liberalen, daß es im Zuge der daraus resultierenden nationalen Hochstimmung zur Gründung eines auf demokratischen Vorstellungen beruhenden deutschen Einheitsstaates kommen würde. Statt die Regierungsgewalt allein den Fürsten zu überlassen, wie es in manchen ihrer Schriften hieß, erwarteten sie, daß man endlich auch dem lange Zeit unterdrückten Volk ein politisches Mitbestimmungsrecht einräumen würde. Doch diese Hoffnung erwies sich nur allzu schnell als eine Illusion.1 Schließlich entschieden sich schon die 1815 auf dem Wiener Kongreß versammelten Fürsten sowohl gegen die Idee eines deutschen Einheitsstaats als auch gegen die Einführung irgendwelcher auf dem Volksrecht beruhender Verfassungen, um sich nicht in ihren älteren, noch aus dem Zeitalter des Absolutismus stammenden Machtvollkommenheiten einschränken zu lassen. Dementsprechend groß war die Enttäuschung unter all jenen, die wie der Freiherr vom Stein, Ernst Moritz Arndt, die Jahnschen Turner und die Lützower Jäger auf eine grundsätzliche „Wende“ in der deutschen Politik gehofft hatten. Ja, manche konnten es anfangs kaum glauben, welches infame Spiel die deutschen Fürsten in den drei vorangegangenen Jahren mit ihnen getrieben hatten, in denen diese Potentaten ihren „Völkern“ nicht nur persönliche Freiheitsrechte, sondern auch demokratisch eingerichtete Verfassungen versprochen hatten, um sie mit solchen Parolen gegen den „niederträchtigen Landräuber“ Napoleon zu mobilisieren. Nach der Schlußsitzung des Wiener Kongresses mußten diese bisher Gutgläubigen und nunmehr Enttäuschten plötzlich erkennen, daß derartige Versprechen nur taktisch gemeinte Manöver waren, mit deren Hilfe die Fürsten lediglich ihre verlorengegangenen Gebiete zurückerobern wollten, und anschlie91

Adliger Schloßherr und bürgerlicher Fabrikant

ßend keineswegs gezögert hatten, wieder genauso absolutistisch zu regieren wie zuvor. Viele jener Freischärler, die 1813 mit überspannten Erwartungen zu den Waffen geeilt waren, zogen sich daher nach 1815 weitgehend in irgendwelche Schmollwinkel zurück, um sich nicht weiterhin als Nationalisten oder jakobinisch gesinnte Demokraten verdächtig zu machen. Es gab jedoch auch andere, die sich dieser Entwicklung widersetzten und glaubten, daß es möglich sei, gegen die von Fürst Metternich auf dem Wiener Kongreß beschlossene Restaurationspolitik mit geheimen Versammlungen, Verschwörungstaktiken oder die Zensur umgehenden Pamphleten zu opponieren. Und das löste innerhalb des Deutschen Bundes eine Reihe innenpolitischer Konflikte aus, welche in den folgenden drei Jahrzehnten nicht aufhören sollten und schließlich – nach immer neuen Unmutsäußerungen – zur Märzrevolution von 1848 führten. Die erste Gruppe, die gegen die Metternichschen Restaurationspolitik aufbegehrte, war die 1815 gegründete Deutsche Burschenschaft, die jedoch schon durch die 1819 erlassenen Karlsbader Beschlüsse rückhaltlos unterdrückt wurde. Danach waren es die Philhellenen, welche mit ihren Parolen Teile der bürgerlichen Jugend für den Befreiungskampf der Griechen gegen die Türken und damit für ihre eigenen Freiheitsvorstellungen zu begeistern versuchten. Nach der Französischen Julirevolution von 1830 machten vor allem die sogenannten Jungdeutschen mit ihren liberalen Anschauungen von sich reden, deren Publikationen jedoch bereits 1835 durch den von den Fürsten eingerichteten Deutschen Bundestag in Frankfurt verboten wurden. Eine wirkliche Chance, sich innenpolitisch durchzusetzen, hatten daher in den zwanziger und dreißiger Jahren weder die nationalistisch gesinnten Burschenschafter noch die mit bürgerlich-liberalen Forderungen auftretenden Bevölkerungsschichten, zumal die Mehrheit der in den 39 Teilstaaten lebenden Deutschen von diesen Bemühungen kaum Notiz nahm. Schließlich war der deutschsprachige Raum in diesen Jahrzehnten noch weitgehend ein Agrarland, in dem zwei Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig waren und daher von den bürgerlichen Freiheitsbestrebungen kaum etwas wahrnahmen. Und selbst in den größeren Städten kam es aufgrund der äußerst langsam voranschreitenden Industrialisierung, die sich erst nach 1835 etwas beschleunigte, noch nicht zu einem Erstarken eines bürgerlichen Selbstbewußtseins, das auf eine Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gedrängt hätte. Und wo sich dennoch aufmüpfige Stimmen zu Wort meldeten, wurden sie sofort durch Interventionsmaßnahmen des reaktionär eingestellten Frankfurter Bundestags oder der örtlichen Polizeikommissare unterdrückt.

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Karl Leberecht Immermanns Die Epigonen (1836)

Demzufolge war die Lage der wenigen Liberalen, die trotz dieser Verhältnisse gegen die Obrigkeiten aufzubegehren versuchten, von vornherein prekär. Manche konnten ihre Werke nur in der Schweiz publizieren, andere, wie Ludwig Börne und Heinrich Heine, wichen nach Paris aus, wo sich nach der Julirevolution von 1830 unter dem Bürgerkönig Louis-Philippe ein relativ liberales Klima zu entwickeln begann. Wieder andere, die von vornherein radikaler auftraten, wurden entweder eingekerkert oder von Land zu Land gehetzt – und gaben schließlich ihre rebellischen Anschauungen auf. Die Stimmung, die sich daraufhin unter vielen weiterhin „liberal“ gesinnten bürgerlichen Intellektuellen verbreitete, war demzufolge – wegen ihrer hoffnungslosen Vereinzelung – entweder eine der Resignation oder eine, welche schon damals mit dem Begriff „weltschmerzlerisch“ charakterisiert wurde. Allerdings gab es in diesen drei Jahrzehnten unter den deutschen Intellektuellen – neben den von den Regierungen geförderten Konservativen und deren Mitläufern – auch einige, die ihren Widerwillen über die herrschenden Zustände wenigstens in unmutig klingenden Reden oder Schriften Ausdruck verliehen, die sich weder als entschieden reaktionär noch als entschieden liberal bezeichnen lassen, sondern – ohne allzu große Hoffnungen auf eine bessere Zukunft – eine unentschiedene Position zwischen diesen beiden Lagern bezogen.

II Die literarischen Werke zwischen 1815 und 1848 auf einen durchgehenden Nenner zu bringen, ist daher geradezu unmöglich. Da gab es weiterhin Spätromantiker, die der alten Kaiserherrlichkeit nachtrauerten, da gab es Gebrauchsschriftsteller, die das unpolitisch eingestellte Bürgertum mit Ritterromanen und Damenalmanachnovellen belieferten, da gab es mit der Metternischen Restauration sympathisierende Autoren, die in ihren Werken nach wie vor die feudalistischen Vorrechte der älteren Adelsschichten verklärten, da gab es klerikal eingestellte Schriftsteller, die den segensvollen Einfluß der Kirche auf die noch immer unmündige Bauernbevölkerung herausstrichen, da gab es rührselige Schicksalsdramatiker, die selbst persönliche Leiderfahrungen auf die Einwirkung übermenschlicher Mächte zurückführten, aber da gab es auch einige Außenseiter, die all das als bewußte Volksverdummung zu entlarven suchten oder wenigstens eine halbwegs kritische Haltung demgegenüber bezogen. Dennoch hat man früher, als innerhalb der Literaturwissenschaft die sogenannten Periodisierungsfragen noch eine große Rolle spielten, immer wieder versucht, all diese verschiedenartigen Strömungen auf einen gemeinsamen Nen93

Adliger Schloßherr und bürgerlicher Fabrikant

ner zu bringen. Im liberalen Lager herrschte dabei, wie zu erwarten, lange Zeit – unter Nichtachtung der Mehrheit der konservativ bzw. reaktionär eingestellten Autoren – die Tendenz vor, den gesamten Zeitraum unter dem Begriff „Vormärz“ zu subsumieren. Das entsprach dem fortschrittlichen Geist all jener, die trotz aller politischen Rückschläge immer wieder für eine durchgreifende Demokratisierung Deutschlands einzutreten versuchten, wozu vor allem die Liberalen des wilhelminischen Zeitalters, die linksorientierten Autoren der Weimarer Republik, die westdeutschen Achtundsechziger und die marxistisch eingestellten Literaturwissenschaftler der DDR gehörten.2 Unter den eher konservativ Eingestellten, welche die Achtundvierziger Revolution im Nachhinein gern als „tollwütig“ abqualifizierten, verbreitete sich dagegen bei den Kaisertreuen um 1900, während der NS-Zeit sowie der Adenauerschen Restaurationsperiode eher die Tendenz, ob nun aus antirevolutionärer Gesinnung oder im Hinblick auf die Mehrheit der in diesen Jahren erschienenen Werke, die Literatur dieser Ära lieber als „biedermeierlich“ zu bezeichnen.3 Von solchen Periodisierungen hat man – aufgrund der weithin herrschenden Entideologisierung von Literatur – inzwischen zusehends Abstand genommen. Wie auf vielen Gebieten dominieren heute im Hinblick auf die Literatur dieses Zeitraums eher individualpsychologische, genrespezifische oder formalästhetische Interpretationsweisen, was sich sowohl positiv als auch negativ auswirkte. So war es sicher falsch, angesichts der vielfältigen Strömungen in der Literatur zwischen 1815 und 1848 lediglich zwischen Fortschritt und Reaktion zu unterscheiden und hierfür Epochenbezeichnungen wie „Vormärz“ und „Biedermeier“ zu verwenden. So grobschlächtig sollte man in Zukunft nicht mehr verfahren. Dafür sind die Dramen, Romane und Gedichte dieser Ära in ihrer ideologischen Grundhaltung einfach zu verschiedenartig. Es gab in diesen Jahrzehnten nicht nur Eduard Mörike, Adalbert Stifter und Franz Grillparzer, aber auch nicht nur Heinrich Heine und Georg Büchner. Es wäre daher angebracht, die in diesem Zeitraum entstandenen Werke lieber unter historisierender Perspektive als literarische Produkte der Metternichschen Restaurationsepoche zu charakterisieren, auf deren Unterdrückungsmaßnahmen sie entweder rebellisch, bürgerlich-liberal, konservativ, reaktionär oder realistisch-abwägend reagierten. Und zwar sollte man dabei, gleichviel ob nun kritisch oder affirmativ, stets auch die sozioökonomischen Grundlagen der von ihnen dargestellten gesellschaftlichen Verhaltensweisen mitbedenken. Schließlich waren diese damals noch weitgehend „unterentwickelt“, wie man heute sagen würde. Daß die Fürsten diesen Zustand so lange wie möglich aufrechtzuerhalten suchten, läßt sich wohl 94

Karl Leberecht Immermanns Die Epigonen (1836)

kaum in Zweifel ziehen. Sie sorgten dafür, daß es weiterhin viele Zollschranken, uneinheitliche Münz- und Maßsysteme und kein gemeinsames Postwesen gab, wodurch das ökonomische Erstarken des gewerbetreibenden Bürgertums, in dem sie durchaus eine sie bedrohende Gefahr sahen, kaum Fortschritte machte. Solche Aspekte kritisch herauszustellen erschien daher vielen ihrer staatlich angestellten Zensoren mindestens ebenso verdächtig wie die liberale Forderung nach einer größeren Pressefreiheit. Demzufolge scheuten viele Autoren in den zwanziger Jahren noch weitgehend davor zurück, in ihren Werken auf irgendwelche Gewerbe- oder Eigentumsverhältnisse einzugehen. Erst in den frühen dreißiger Jahren, als es plötzlich zu Fabrikgründungen kam, gab es in einigen Gesellschaftsromanen vereinzelte Hinweise darauf, daß die auch in Deutschland beginnende Industrialisierung zu einer Gefährdung oder zumindest Einschränkung der feudalistischen Vorherrschaft des Adels führen könne. Die Liberalen begrüßten selbstverständlich diesen sich anbahnenden Prozeß, während die Konservativen eher eine entschiedene Aufrechterhaltung der althergebrachten Situation von „Schloß und Dorf“ befürworteten. Einer der ersten, der diesen in den mittdreißiger Jahren einsetzenden Prozeß literarisch darzustellen versuchte, war der gemäßigt-liberale Autor Karl Leberecht Immermann, der zwar in seinem 1836 erschienenen Roman Die Epigonen einen allmählich verarmenden adligen Schloßbesitzer mit einem bürgerlichen Fabrikanten konfrontierte, aber dabei noch nicht jene Position bezog, wie sie zwanzig Jahre später Gustav Freytag in seinem auf einem bürgerlichen Selbstbewußtsein beruhenden Roman Soll und Haben einnahm, sondern zwischen diesen beiden Zentralfiguren einen bürgerlichen Einzelgänger positionierte, dem noch die Einsicht fehlt, welchem von diesen beiden gesellschaftlich repräsentativen Gestalten die Zukunft gehört. Das wirkt zwar nicht besonders progressiv, aber in mancher Hinsicht durchaus realistisch, da zu diesem Zeitpunkt die bürgerliche Klasse noch keineswegs stark genug war, um die Herrschaft der Fürsten sowie der mit ihr verbundenen Adelsschicht in Frage zu stellen oder gar kurzerhand abzuschütteln.

III Beginnen wir bei der Behandlung der Eigentumsverhältnisse in diesem Roman mit der Frage: aufgrund welcher Erfahrungen kam eigentlich Karl Leberecht Immermann zu einer derartigen Einstellung, die sich schwer auf einen ideologisch klar zu definierenden Nenner bringen läßt? Aus gutbürgerlicher Familie stammend, hatte er erst das Pädagogium Unser Lieben Frauen in Magdeburg besucht 95

Adliger Schloßherr und bürgerlicher Fabrikant

und dann an der Universität Halle Jura studiert.4 1815 nahm er als Freiwilliger am Krieg gegen Napoleon teil und studierte danach wieder in Halle weiter. Als es in der dortigen Burschenschaft zu einer fanatischen Überspitzung nationalistischer Forderungen kam, wandte er sich 1817 in seiner Schrift Ein Wort zur Beherzigung gegen derartige Tendenzen, worauf einige enragierte Burschenschafter diese Publikation beim Wartburgfest mit anderen von ihnen als reaktionär empfundenen Büchern ins Feuer warf. Anschließend durchlief Immermann als vortragender Auditeur, Kriminalrichter und schließlich Landgerichtsrat in Münster, Magdeburg und Düsseldorf die von ihm angestrebte juristische Laufbahn. Ab 1817 verfaßte er zugleich literarische Texte, darunter vor allem Tragödien und Lustspiele. Wegen seiner Schrift Ein Wort zur Beherzigung nahm der ebenfalls von dem burschenschaftlichen Haß auf Franzosen und Juden enttäuschte Heinrich Heine 1826 sogar einige Gedichte Immermanns in den zweiten Band seiner Reisebilder auf, die wegen ihrer polemischen Partien die sogenannte HeinePlaten-Fehde auslösten. In seinen Dramen, die sich weitgehend als ins Poetische erhobene Historienstücke charakterisieren lassen, ließ sich Immermann sowohl von Shakespeare als auch von Goethe und Schiller anregen, sparte jedoch in manchen Äußerungen ihrer „tragischen Narren“ keineswegs an kritischen Anspielungen auf den „unidealistischen“ Grundzug der zwanziger Jahre,5 die teils fast nihilistische oder zumindest weltschmerzlerische Züge haben. Schon in ihnen, wie in dem Trauerspiel König Periander und sein Haus (1822), geht es darum, daß eine ins idealistisch Hochgemute ausschweifende Einbildungskraft der rauhen Welt der Wirklichkeit nicht standzuhalten vermag. Damit tut sich bereits jener Zwiespalt auf, den auch andere liberal eingestellte Autoren dieser Jahre als den Grundzug der herrschenden Verhältnisse empfanden, also das, was Heine zur gleichen Zeit immer wieder mit dem Begriff „Zerrissenheit“ zu umschreiben versuchte. Auch in einigen von Immermanns Lustspielen, wie in der Komödie Die Schule der Frommen (1829), geht es häufig um jene, die in einer Welt ohne wirkliche Fortschrittsideen zwischen den ihnen jeweils opportun erscheinenden Ideologien haltlos hin- und herschwanken. Wesentlich satirischer wirkt dagegen Immermanns Kleinepos Tulifäntchen (1830), in dem er vor allem jene karikierte, die stets von einem vielversprechenden Ideal träumen, das sich jedoch nie verwirklichen läßt. Dennoch wirkt hier manches „konkreter“ als in seinen Tragödien oder Lustspielen. In ihm wird trotz aller grotesken Übertreibungen nicht nur die absterbende Welt des Adels, sondern zugleich die gerade erst zaghaft einsetzende Industrialisierung kritisch beleuch96

Karl Leberecht Immermanns Die Epigonen (1836)

tet, wobei Immermann nicht allein auf den romantischen Automatenspuk zurückgriff, sondern zugleich das ihm gespenstisch erscheinende Dampfmaschinenwesen parodierte, das ihn erstmals in der Maschinenfabrik des Magdeburger Großkaufmanns Johann Gottlieb Nathasius erschreckt hatte.6 Doch eine derartige Kritik war in einem Kleinepos – da er nicht die dichterische Kraft besaß, wie sie Heine in seinem Wintermärchen (1844) aufbrachte – nicht zu leisten. Um bereits den Widerspruch zwischen dem noch feudalistisch gestimmten Adel und der bürgerlichen Fabrikbesitzerkaste herausarbeiten zu können, dazu waren wesentlich konkretere Erfahrungen nötig, wie sie Immermann erst kurz darauf in Düsseldorf, also am Rande der sich in der Rhein-Ruhr-Gegend entwickelnden Industriegegend machte. Erst bei Aufenthalten in Elberfeld und Wuppertal ging ihm auf, wie das dort entstehende Fabrikwesen nicht nur die sozialen Gegensätze zwischen Adel und Bürgertum, sondern auch die bisherigen Eigentumsverhältnisse sich drastisch zu verändern begannen. Wie Immermann diesen von ihm wahrgenommenen Wandel, den viele andere noch gar nicht erkannten, literarisch darzustellen versuchte, belegt am besten sein Roman Die Epigonen von 1836, der vier Jahre vor seinem Tod erschien und ein beredtes Zeugnis dafür ablegt, wie sich ein ins Hochliterarische strebender Dichter wie Immermann dennoch bemühte, in einem zeitdiagnostischen Roman, obwohl dieser in manchen Partien noch an goethezeitliche oder romantische Vorbilder gemahnt, auch auf die innenpolitischen und sozioökonomischen Vorgänge, die sich damals in Deutschland anbahnten, mehr oder minder realistisch einzugehen. Und er tat das – entsprechend seiner gemäßigt-liberalen Anschauungen – ohne irgendwelche utopischen Vorscheinhoffnungen, indem er sowohl den alteingesessenen Adel als auch die bürgerlichen Industriellen zwar kritisierte, aber ihnen aufgrund mangelnder Alternativen noch keine in die Zukunft weisende Gesinnung entgegensetzte.

IV Nach einer ersten, oberflächlichen Lektüre könnte man Immermanns Roman Die Epigonen, den er in den zwanziger Jahren angefangen hatte, dessen Schlußpartien er jedoch erst nach 1830 niederschrieb, für einen Bildungs- und Entwicklungsroman im Gefolge von Goethes Wilhelm Meister halten, der so viele Autoren des 19. Jahrhunderts zu derartigen Romanen angeregt hat. Sein Pro­ tagonist ist der junge Hermann, der – mit „bedeutenden Wechseln und Kreditbriefen“ ausgestattet7 – in der Frühzeit der Metternichschen Restaurationsepoche die deutschen Lande durchstreift und dabei sowohl hochadlige als auch bildungs97

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bürgerliche und frühkapitalistische Bevölkerungsschichten kennenlernt, die ihn teils anziehen, teils abstoßen, was zu einem ständigen Ortswechsel führt. Deshalb bleibt er letztlich ein zielloser Wanderer, was auch durch die gegen Ende des Romans vollzogene Verlobung mit der lange ersehnten Cornelie nicht aufgehoben wird. So gesehen, findet in dem Ganzen weder eine Entwicklung, noch ein durchgehender Bildungsprozeß statt. Hermanns Funktion in dem reichlich verwickelten Erzählgefüge besteht lediglich darin, die Handlung im Gang zu halten und durch den unablässigen Ortswechsel möglichst viele Schauplätze sowie klassenmäßig unterschiedliche Bevölkerungsschichten darstellen zu können. Während in Goethes Wilhelm Meister die adlige Turmgesellschaft dem jungen Wilhelm hilft, den rechten Lebenspfad einzuschlagen, bleibt Hermannn bis zum Schluß unverändert, das heißt ein an allem zweifelnder, unschlüssiger junger Mann, der keinerlei Ideale hat und letztlich nur an sich selber denkt. Warum sich Hermann nicht zu einer zielbewußten Weltanschauung durchringen kann, sondern ein relativ uninteressanter Antiheld bleibt, wird nirgends ausführlich erklärt, ja nicht einmal angedeutet. Wir erfahren lediglich, daß er als „Siebzehnjähriger in den Befreiungskrieg gezogen“ ist und danach „als Zwanzigjähriger“ mit anderen Burschenschaftern reaktionäre Bücher verbrannt hat (31). Doch all das scheint ihn weniger begeistert als desillusioniert zu haben. Jedenfalls verhält er sich danach den Vertretern derartiger Anschauungen äußerst renitent gegenüber. Er will sich nicht noch einmal für irgendwelche Ideale engagieren, sondern richtet, wie wir hören, „seine Aufmerksamkeit nur noch auf sich selbst“ (29). Und zwar wird das vor allem an folgenden drei Episoden illustriert. In der ersten begegnet er einem jungen Philhellenen, der ihn mit hochtrabenden Worten auffordert, mit ihm nach Griechenland zu ziehen, um dort „ein gesunkenes Volk aus den Fesseln der Knechtschaft zu erlösen“ und „den edlen Herzen eine Freistatt zu erobern, wohin sie sich vor der Zwingherrschaft verrotteter Kerkermeister retten können“ (10). Ihm entgegnet Hermann lediglich, daß er in „unsrer mit Dünsten geschwängerten Atmosphäre“ den Entschluß gefaßt habe, sich nicht noch einmal zu engagieren, ja sich überhaupt nichts mehr zu wünschen oder zu verlangen (11). Als er später denselben Philhellenen wiedertrifft, ist aus diesem idealistischen Schwärmer inzwischen ein pflichtgetreuer Polizeikommissarius geworden, der sich mit einem verspießerten Familienglück begnügt, worin Hermann lediglich eine nachträgliche Bestätigung seiner unengagierten Haltung sieht. Bei der zweiten Episode handelt es sich um die Begegnung mit einer Schar von Anhängern der inzwischen verbotenen Burschenschaft, die sich als „Schlacht98

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opfer des Despotismus“ empfinden und sich heimlich an einem entlegenen Ort treffen (325), um weiterhin ungehemmt ihren radikalen Vorstellungen zu frönen. Sie hoffen noch immer, die „Enkel Hermanns, vor denen Roms Legionen zitterten“, endlich aus ihrer „unseligen Zerrissenheit, aus dem jammervollen Schlafe der Schmach, in den sie versunken sind, emporzurütteln“. „Nein“, erklärt einer ihrer Anführer, „Teuts Volk kann nicht untergehen, in dem so viel Milde und Kraft sich paart. Sind wir nicht die einzigen, die in ihren uralten Sitten unvermischt bleiben? O, wenn ich daran denke, so wird mir groß zumute!“ (326). Als sich jedoch einige Polizisten nähern, machen sich die ach so hochgemuten Burschenschafter schleunigst aus dem Staube und Hermann versichert bei einem anschließenden Verhör, daß er mit diesen seltsamen Burschen nichts zu schaffen habe. Die gleiche Haltung bezieht Hermann der mysteriösen Gestalt jenes Medon gegenüber, der sich zwar von dem geheimen Bundeswesen der Burschenschafter ebenso scharf distanziert wie er, aber in den „öffentlichen Einrichtungen Deutschlands“ ebenfalls einen Hemmschuh zu „einer schönen, freien, großen Entwicklung“ sieht und behauptet, daß der „Weg zu einer Erneuerung unseres Lebens nur durch das Labyrinth einer vollkommenen Anarchie“, das heißt einer „Zersetzung aller moralischen Bande“ gehen könne (529). Doch auch davon will Hermann nichts wissen, da er hierin, wie sein Freund Wilhelmi, der in manchem ein Sprachrohr seines Autors ist, wiederum nur eine der vielen ideologischen Verblendungen innerhalb des herrschenden Zeitgeistes erblickt. Ihm erscheint es sinnvoller, alle „großen Ideen von Menschenwohl und Volksbefreiung“ endlich aufzugeben (321). Ob nun der Philhellene, die Burschenschafter oder der Anarchist Medon: in all diesen Figuren sieht Hermann lediglich Schwärmer oder Radikalinskis, die immer noch nicht begriffen hätten, wie unzeitgemäß ihre Ideen letztlich seien. Statt weiterhin – in einer nachrevolutionären Epoche – den rebellischen Geist der Befreiungskriege aufrechtzuerhalten und damit zu Epigonen nicht mehr zu realisierender Wunschvorstellungen zu werden, zieht sich Hermann – abgesichert durch seine finanzielle Unabhängigkeit – lieber immer stärker auf sich selbst zurück. So gelesen, könnte man diesen Roman fast als den literarischen Ausdruck eines parasitären Opportunismus charakterisieren, der sich kaum noch zu lesen lohnt. Doch das wäre ungerecht. Schließlich gibt es keinen anderen deutschen Roman aus dem Zeitraum zwischen 1820 und 1835, in dem nicht allein die Figur des Protagonisten im Vordergrund steht, sondern zugleich die damals herrschenden innenpolitischen und sozioökonomischen Verhältnisse so „reali99

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stisch“ dargestellt werden wie in Immermanns Die Epigonen. Und das macht dieses Werk im Hinblick auf die in ihm dargestellten Macht- und Eigentumsverhältnisse wesentlich bemerkenswerter als viele andere, eher spätromantische oder biedermeierliche Romane dieser Ära, in denen lediglich poetische Wunschwelten beschrieben werden. Letztlich geht es in ihm nicht in erster Linie um den Werdegang Hermanns, sondern um die literarische Widerspiegelung der unübersehbaren Gegensätze zwischen der Welt eines hochadligen Schloßbesitzers und der Welt eines bürgerlichen Fabrikanten. Und wo findet man eine derart konkrete Darstellung der sich verändernden Eigentumsverhältnisse zu diesem Zeitpunkt sonst?

V Beginnen wir mit Immermanns Darstellung des Adels. In seinem Zentrum steht ein nicht auf ein bestimmtes Fürstentum festgelegter Herzog, dessen höchst aufwendiger Lebensstil „meistenteils auf Repräsentation“ bedacht ist (28). Er gibt sich seinen Untertanen zwar wohlwollend, aber zugleich herablassend gegenüber. Als der höchste Standesherr in dieser Region, womit offenbar das Bergische Land gemeint ist, ist er stolz auf sein prächtiges Schloß und hat sich nach der auf dem Wiener Kongreß beschlossenen Rückkehr zu absolutistischen Zuständen sogar eine Leibwache zugelegt, wodurch sein weitläufiger Besitz fast wie „ein kleiner Militärstaat“ wirkt (145). Ihm zur Seite steht eine „edle“ Herzogin, die für ihren Gemahl – anläßlich eines seiner Geburtstage – ein ritterliches Turnier mit dem althergebrachten Lanzenstechen arrangiert, um damit an die älteren „kräftigen Zeiten“ zu erinnern (225). Schließlich geht des Herzogs Geschlecht in genealogischer Folge bis auf „die Zeiten Karls des Großen“ zurück (263). Und das Turnier und die sich daran anschließenden Festspiele erweisen sich auch als ein großer Erfolg. Vierhundert Adlige aus der ganzen Gegend stellen sich ein und werden im „großen Ahnensaal“ festlich bewirtet (275). Doch dann kommt es, wie es unter den veränderten wirtschaftlichen Zuständen kommen muß. Ein so pompöser Lebensstil bringt die standesbewußte Herzogsfamilie, die sich an ihre „unzeitgemäß gewordenen Privilegien anklammert“,8 zwangsläufig in finanzielle Schwierigkeiten. Während der Großvater des Herzogs noch als Vertreter der Aufklärung des 18. Jahrhunderts nichts unversucht ließ, seine „Grundstücke zu verbessern“ sowie durch „Ankäufe abzurunden“ und dadurch ein „beträchtliches“ Geldkapital hinterlassen konnte, hatte schon der Vater des jetzt regierenden Herzogs sein Leben lieber in den „Sammelpunkten der eleganten Welt“ verbracht und eine „zahlreiche Nachkommenschaft“ illegi100

Karl Leberecht Immermanns Die Epigonen (1836)

timer Kinder in die Welt gesetzt (558). Ja, selbst der jüngere Bruder des Herzogs, Graf Julius, hatte demselben Lebensstil gefrönt und dadurch alle seine Besitztümer verloren. Verglichen damit, wirkt der jetzige Herzog fast ehrenwert, obwohl auch er nicht auf einen prunkvollen, ihm standesgemäß erscheinenden Lebensstil verzichten kann. Und das wird ihm schließlich zum Verhängnis. Er verschuldet sich und wird immer stärker von einem der ersten Fabrikanten dieser Gegend bedrängt, ihm sein Schloß und alle anderen seiner Liegenschaften zu verkaufen. Dieser Fabrikant, ein Oheim Hermanns, hat obendrein, um seine Besitzgier zu befriedigen, herausbekommen, daß es in der Ahnenfolge des Herzogs einige Unrechtmäßigkeiten gibt, die er vor Gericht gegen ihn ins Feld führt. Er will jedoch den Herzog gnädiglich bis zu dessen Tode in seinem Schloß weiterwohnen lassen. Da jedoch der Herzog diesen Vorschlag als unehrenhaft empfindet, nimmt er sich kurzerhand das Leben. Damit stirbt dieses altangesessene Geschlecht endgültig aus und der bürgerliche Fabrikant erweist sich als der Nutznießer der sich inzwischen gewandelten Eigentumsverhältnisse, bei denen nicht mehr der altadlige Landbesitz, sondern der bürgerliche Geldbesitz den entscheidenden Ausschlag gibt. Doch nun zu dem als ebenso wichtig dargestellten Oheim, der ausdrücklich als „Millionär“ bezeichnet wird, vor dem sich schon „Fürsten tief gebeugt“ hätten (67). Er ist ein Mann, dem nicht die standesgemäße Repräsentation, sondern die wohlflorierenden Geschäfte das Wichtigste im Leben sind. Den Grundstock zu seinem Vermögen hatte er bereits während der Zeit der Befreiungskriege erworben und in den folgenden zwei Jahrzehnten eine Glasfabrik, eine Brau- und Brennerei, eine Porzellanmanufaktur und eine Textilfabrik gegründet. Danach war er sogar ins Bergwerkgeschäft eingestiegen. Daß er sich anschließend auch die Besitztümer der in dieser Gegend ansässigen Adligen aneignen will, empfindet er nicht als einen bösartigen Akt, sondern fühlt sich dabei durchaus als ein Mann der neuen Zeit, in der die Anstandsregeln des Ancien regime keine Geltung mehr haben. „Es ist endlich einmal Zeit, daß eine bessere Ordnung in der Welt gestiftet wird“, erklärt er seinem Neffen Hermann, „das Herz blutet einem, wenn man sieht, wie sehr die Adligen mit dem Ihrigen wirtschaften. Weil sie nie etwas zu erringen brauchten, so denken sie auch nicht an das Vermehren, kaum an das Bewahren“ (271). Ja, er läßt sich danach sogar zu einer wahren Haßorgie gegen die auf ihre älteren Privilegien pochende Adelsschicht hinreißen. „Bewehrt mit seiner Waffe, dem Gelde“, will er von nun an einen „kaltblütigen Krieg“ gegen diese zum Untergang bestimmte Gesellschaftsschicht führen.9 Geradezu ingrimmig stößt er deshalb die Worte heraus: „Du weißt es nicht, denn du bist noch 101

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zu jung, wie uns andere dieses bevorzugte Geschlecht drückte, peinigte, verdrängte, wie es sein Gift in das Innerste unsrer Häuser spritzte! Es ist noch gar nicht lange her, daß wir nur mit dem Beisatze: Bürgercanaille, genannt wurden. Wir Mitteleute haben ein unbeschreiblich kurzes Gedächtnis für unsre Kränkungen, und halten alle Gefahr der Wiederkehr für entlegen, obwohl schon manchmal Zeichen dahin deuten, daß man an tausend Ecken und Orten versucht, die Zeit der Junker, ihrer gnädigen Öhme und Basen zurückzuführen. Was mich betrifft, ich will mich wenigstens an meinem Platze bestreben, die alten Feudaltürme und Burgverließe zu sprengen“ (272). Das klingt zweifellos radikal, entspringt aber nur einer einmaligen Gefühls­ aufwallung. Schließlich hat auch der zum Fabrikbesitzer aufgestiegene Oheim zum Teil durchaus „gutmütige“ Züge.10 So verhält er sich den verschiedenen Direktoren seiner Fabriken keineswegs autoritär gegenüber, sondern nimmt – nun schon gealtert – an ihren geschäftlichen Beratungen, die einmal in der Woche stattfinden, lediglich wie ein großväterlich gesinnter Aufsichtsratsvorsitzender teil. Auch seine Garnspinner, Weber, Bleicher, Glasbläser, Töpfer, Vergolder und Sägeschmiede, die eher den älteren Handwerkern als den späteren Fabrikarbeitern ähneln, sehen in ihm weniger einen herrschaftsbetonten Boss als einen wohltätigen Patriarchen. Ja, die zweiten und dritten Söhne der Bauern dieser Gegend verehren ihn geradezu, da sie durch ihn eine relativ gutbezahlte Anstellung in seinen Betrieben gefunden haben. Doch auch die Schattenseiten des neuen Fabrikwesens werden von Immermann keineswegs verschwiegen. Vor allem Hermann sieht, daß es bei den monoton ablaufenden Produktionsvorgängen in den Fabriken seines Oheims nur noch um die „mathematische Berechnung menschlicher Kraft“ geht (420), daß in ihnen jeder Sinn für Schönheit zu verschwinden droht, daß die Arbeiter – im Gegensatz zu denen, die dem Ackerbau „treugeblieben“ sind (421) – an ihrer Gesundheit Schaden nehmen und daß sie zugleich im Umgang miteinander ständig brutaler werden. Und so erweist sich gegen Ende des Romans das neu entstandene Fabrikwesen nicht nur segensstiftend, indem es sich anschickt, endlich die Vorrechte der altadligen Landbesitzerklasse zu beseitigen und der sich vermehrenden Bevölkerung neue Arbeitsmöglichkeiten zu beschaffen, sondern auch bedrohlich, weil es sich nicht nur als naturwidrig, sondern auch als inhuman erweist.11 Diese Form der Dialektik erkannt zu haben, sollte man dem Autor der Epigonen immerhin zugute halten.12 Welche Synthese sich aus kommerzieller Geschäftstüchtigkeit und verbesserten Wohlstandsbedingungen ergeben könnte, 102

Karl Leberecht Immermanns Die Epigonen (1836)

wird allerdings noch nicht anvisiert. Ja, Wilhelmi spricht sich in einem der letzten Gespräche mit Hermann sogar gegen eine derartige Wunschvorstellung aus. Nach seiner Meinung, wie er ausdrücklich erklärt, sollten die Fabriken wieder „eingehen“ und die Ländereien, auf denen sie stehen, erneut dem „Ackerbau zurückgegeben werden“. Und dieser Meinung stimmt auch Hermann zu, indem er abschließend erklärt: „Jene Anstalten, künstliche Bedürfnisse künstlich zu befriedigen, erscheinen mir geradezu verderblich schlecht. Die Erde gehört dem Pfluge, der fleißigen, einfach arbeitenden Hand. Mit Sturmeseile eilt die Gegenwart einem trockenen Mechanismus zu, wir können den Lauf nicht hemmen, sind aber nicht zu schelten, wenn wir für uns und die Unsrigen ein grünes Plätzchen abzäunen, und eine Insel so lange wie möglich gegen den Sturz der vorbeirauschenden industriellen Wogen befestigen“ (650). Im Hinblick auf diese Erklärung könnte man also das Ganze – etwas lapidar formuliert – als einen „jungdeutsch gefärbten Zeitroman“ bezeichnen, dem ein „biedermeierlicher Schluß angeheftet“ ist.13

VI Wer am Ende dieses Romans einen Vorschein auf bessere Verhältnisse erwartet hatte, wird also enttäuscht. Der ältere Adel scheint zwar endgültig abzutreten, aber an seine Stelle tritt keine neue segensverheißende Bevölkerungsschicht, sondern wiederum eine in sich gespaltene Gesellschaft, diesmal nicht die von Adligen und Bürgern, sondern die von Industriellen und Arbeitern, die zwar noch patriarchalische Züge hat, aber dennoch den Keim neuer Klassengegensätze in sich birgt. Als Ausweg aus dieser Situation bietet Immermann den mit diesen Verhältnissen Unzufriedenen lediglich den Rückzug in eine grüne Idylle oder ein gemütsbetontes Familienleben an. Die gleiche Einstellung dem rastlos voranschreitenden Maschinen- und Fabrikwesen gegenüber findet sich auch in seinem darauffolgenden Münchhausen-Roman, der 1838/39 herauskam, ja wurde hier sogar noch eindeutiger akzentuiert.14 In ihr legte er seiner Satire auf die untergehende Adelswelt, wie schon in seinem Tulifäntchen und seinen Epigonen, keinerlei Zügel an, stellte ihr aber nicht das sich dem Fabrikwesen zuwendende Bürgertum, sondern in den breit ausgemalten Oberhof-Partien lediglich das Gegenbild eines gesunden, arbeitssamen Bauerntums entgegen, das in seiner zeitlosen Urtümlichkeit noch nicht von den verderblichen Folgen der einsetzenden Industrialisierung angekränkelt ist. Wie sich Immermann, der im Jahr 1840 vierundvierzigjährig starb, in den darauf einsetzenden politischen Wirren der Vormärzzeit verhalten hätte, läßt 103

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sich nicht vorhersagen. Doch eins kann man mit einiger Sicherheit vermuten: Den immer radikaler werdenden Anschauungen eines Heinrich Heine, Georg Herwegh, Ferdinand Freiligrath, Georg Weerth und Ernst Adolf Willkomm,15 geschweige denn denen eines Karl Marx und Friedrich Engels, hätte er höchstwahrscheinlich keinen Beifall gezollt, sondern wäre – wie zuvor – eher ein gemäßigt-liberaler Bürger geblieben. Was dennoch im Rückblick auf seinen Roman Die Epigonen durchaus beachtlich bleibt, ist seine in den zwanziger und dreißiger Jahren noch höchst seltene Auseinandersetzung mit den sozioökonomischen Grundlagen der gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihm wie kaum einem anderen als die wichtigsten, wenn nicht allesbestimmenden Faktoren innerhalb der sich verändernden Vermögens- und Eigentumsverhältnisse erschienen waren.

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Wir sind endlich wer! Bürgerliches Standesbewußtsein in Gustav Freytags Soll und Haben (1855)

I Da das Frankfurter Paulskirchenparlament, das aus der Märzrevolution von 1848 hervorgegangen war, bei den breiten Massen der Bevölkerung keine wirksame Unterstützung erfuhr, bedurfte es von seiten der weiterhin herrschenden Fürstenclique keiner großen Mühe, die Hoffnungen auf einen deutschen Einheitsstaat schon im Laufe des Jahres 1849 wieder gnadenlos zu unterdrücken.1 Fast alle, die sich an exponierter Stelle für derartige Erwartungen eingesetzt hatten, wurden von den jeweiligen Polizeiorganen entweder umgehend verhört, ausgewiesen, vor Kriegsgerichte gestellt, hingerichtet oder zumindest jahrelang überwacht. Viele von ihnen flohen daher in die Schweiz, nach England oder in die Vereinigten Staaten, wodurch die einzelnen deutschen Staaten einen Großteil ihrer demokratisch gesinnten Rebellen verloren. Angesichts dieser Situation trat innerhalb der restlichen bürgerlichen Schichten eine Spaltung in zwei Lager ein. Die einen gaben ihre bis dahin gehegte Hoffnung auf eine bessere Zukunft auf und ließen sich, wie Richard Wagner in seiner Tristan und Isolde-Oper (1865), von Arthur Schopenhauers Pessimismus verführen, sich weltentsagenden NirwanaStimmungen hinzugeben. Die anderen schraubten ihre nationalpolitischen Hoffnungen weitgehend zurück und lasen lieber ideologisch unverbindliche Gesellschaftsromane oder blätterten in der 1853 von Ernst Keil gegründeten Gartenlaube, die aufgrund ihres „überparteilichen Charakters“ schnell das beliebteste Familienblatt innerhalb der bürgerlichen Schichten wurde. Dadurch erfolgte sowohl auf politischer als auch auf kultureller Ebene eine weitgehende Regression ins Nachmärzliche, die auf alle revolutionären Antriebe verzichtete. Was den Liberalen innerhalb der bürgerlichen Klasse unter diesen Umständen übrig blieb, war – neben dem besagten Rückzug ins Private – lediglich eine stärkere Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen Interessen, für welche die aristokratische Oberschicht aufgrund ihrer feudalistisch-landjunkerlichen Gesinnung ohnehin wenig Verständnis aufbrachte. Wegen dieser Einstellung 105

Wir sind endlich wer!

kam es in weiten Teilen der einzelnen deutschen Bundesstaaten nach 1850 zur ersten industriellen Revolution in Deutschland, die fast ausschließlich vom gehobenen Bürgertum ausging, das sich – nach dem Scheitern seiner staatspolitischen Hoffnungen – wenigstens in dieser Hinsicht gewisse gesellschaftliche Aufstiegschancen versprach. Im Zuge dieser Entwicklung entstanden überall größere Fabrikanlagen, was zu einer rapiden Steigerung der Bergbau-, Eisen- und Maschinenindustrie führte und zugleich eine erhebliche Ausweitung des Banken-, Versicherungs-, Verkehrs- und Nachrichtenwesens mit sich brachte, wodurch – im Gegensatz zur bisherigen landwirtschaftlichen Struktur der einzelnen deutschen Bundesstaaten – die freie Lohnarbeit für immer breitere Bevölkerungsschichten zur maßgeblichen Erwerbsform wurde. Daß sich daraus auch politische Folgerungen ergeben würden, war geradezu unausweichlich. Denn durch diese sozioökonomischen Modernisierungsschübe, wie man das später nannte, die in der Metternichschen Restaurationsperiode – trotz der Bemühungen des Sozialökonomen Friedrich List – bis weit in die vierziger Jahre hinein noch eine untergeordnete Rolle gespielt hatten, wurde das Bürgertum auch in nationaler Hinsicht immer stärker zum Antriebsfaktor der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Vor allem durch den forciert vorangetriebenen Eisenbahnbau, aber auch die steigende Verflechtung der einzelnen Industriezweige veränderte sich der in 39 politisch autonome Territorien unterteilte Deutsche Staatenbund in einen allmählich zusammenwachsenden Wirtschaftsraum, was den sich finanziell bereichernden Schichten des gehobenen und mittleren Bürgertums nicht nur ein gesteigertes Selbstbewußtsein, sondern auch ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl verlieh. Demzufolge gingen von dieser Schicht zusehends nationalgesinnte Impulse aus, die von der älteren, noch immer einzelstaatlich denkenden Feudalklasse kaum noch einzudämmen waren. Allerdings nahmen weite Teile des gehobenen Bürgertums ihre sich daraus ergebende politische Bedeutsamkeit anfangs noch kaum wahr, sondern begnügten sich erst einmal mit der Erweiterung ihrer wirtschaftlichen Machtpositionen und überließen die administrative Führungsrolle nach wie vor der adligen Führungsschicht. Dafür spricht unter anderem, daß Gustav Freytag, der erfolgreichste Autor dieser Ära, seinen 1855 veröffentlichen Roman Soll und Haben zwar das bürgerlich-fleißbetonte Motto „Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit“ voranstellte, ihn aber auf den folgenden zwei Seiten „ehrfurchtsvoll“ seinem „ritterlichen Herrn“, dem Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha, widmete. Und auch der Erzählverlauf dieses Werks entspricht weitgehend derselben Einstellung. 106

Gustav Freytags Soll und Haben (1855)

Während es in ihm dem bürgerlichen Handlungsgehilfen Anton Wohlfart gelingt, durch seinen ausgeprägten Geschäftssinn zum Teilhaber eines großen Handelshauses aufzusteigen, kann der Freiherr Oskar von Rothsattel – noch unerfahren in den neuen Wirtschaftspraktiken – nur durch einen als Deus ex machina auftretenden adligen Geschäftsmann, der in den USA ein beträchtliches Vermögen geerbt hatte, vor dem drohenden Bankrott gerettet werden, bleibt aber dennoch ein angesehener Edelmann in der von Freytag mit allen Stilmitteln des nachmärzlichen „Realismus“ dargestellten schlesisch-polnischen Region. Damit wurde zwar gezeigt, wie sich Deutschland in den vierziger und fünfziger Jahren zu einem kapitalistisch ausgerichteten Wirtschaftsraum zu entwickeln begann, in der das bürgerliche Arbeitsethos sowie der Geldbesitz eine nicht mehr zu übersehende Rolle spielten, aber der Adel weiterhin seine bisherige Machtstellung beibehielt.

II Beginnen wir bei unserer etwas genaueren Auseinandersetzung mit diesem Roman mit folgenden Fragen: Wo hatte sich Freytag seine Bildung angeeignet, wie war sein Verhältnis zur Achtundvierziger Revolution, welche Kenntnisse besaß er auf sozioökonomischem Gebiet, wie ernst waren ihm die Forderungen des bürgerlichen Realismus in der Literatur und was hatte ihn Mitte der fünfziger Jahre veranlaßt, ein derart programmatisches Buch zu schreiben, in dem er sich zu jener ideologischen Richtung bekannte, die kurz darauf von der Nationalliberalen Partei vertreten wurde? Aufgewachsen als Sohn eines Arztes im schlesischen Kreuzburg studierte Freytag in Breslau Philologie und Kulturgeschichte, wo er 1838 promovierte und bis 1847 als Privatdozent tätig war. Danach siedelte er nach Leipzig über, wurde freier Schriftsteller und gab ab 1848 mit Julian Schmidt die Zeitschrift Die Grenzboten heraus, die schnell zu einem der einflußreichsten Blätter des gemäßigt-liberalen deutschen Bürgertums wurde. Als er in ihr begann, auch politisch kritische Artikel, wie über die Niederschlagung des schlesischen Weber­ aufstands von 1844, zu schreiben, erließ die preußische Regierung einen Haftbefehl gegen ihn, dessen Konsequenzen er lediglich entging, weil ihm der nationalliberal gesinnte Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha Asyl gewährte und ihm 1854 sogar den Hofratstitel verlieh. Trotz der Gefahr, die preußischen Behörden erneut zu verstimmen, trat Freytag darauf, wie seine nationalliberal eingestellten Freunde, immer wieder für eine größere Pressefreiheit ein und

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forderte zugleich die Schaffung eines deutschen Einheitsstaates, in dem die einzelnen Fürsten auf ihre bisherigen Sonderrechte verzichten sollten.2 Als er daher seinen Roman Soll und Haben zu schreiben begann, versuchte er diesem Werk den Charakter eines wahren „Volksbuchs“ zu geben, mit dem er nicht nur die Intellektuellen, sondern auch die Handels- und Gewerbetreibenden innerhalb des Bürgertums zu erreichen suchte, um diesen Schichten – nach der gescheiterten Achtundvierziger Revolution und der danach einsetzenden Zeitmode des Pessimismus – erneut Mut zu machen, sich auf ihre wirtschaftliche Stärke zu besinnen, statt sich willenlos der reaktionären Adelskaste zu unterwerfen. Gerade diese Schichten, hoffte er, sollten endlich erkennen, daß es nur mit ihrer Hilfe zu einer verstärkten nationalliberalen Gesinnung und damit zu einem Zusammenschluß aller deutschen Staaten kommen könne. Und die Entwicklung der folgenden Jahre schien ihm völlig Recht zu geben, da sich auch Otto von Bismarck, der preußische Premierminister, aus realpolitischen Gründen zu diesem Kurs durchrang und sich dabei vorübergehend sowohl im preußischen Landtag als auch im Parlament des Norddeutschen Bunds auf die Mithilfe der Nationalliberalen Partei stützte.

III Doch zurück zu Freytags Roman Soll und Haben und der ihm zugrunde liegenden nationalliberalen Kaufmannsideologie. Getreu seinem Motto „Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit“ gehören die positiven Handlungsträger dieses Werks fast ausschließlich jener bürgerlich-arbeitsamen Bevölkerungsschicht an, die man damals den „gesunden Mittelstand“ nannte. Sie sind allesamt Kaufleute, die tagein, tagaus an nichts anderes denken, als ihren geschäftlichen Verpflichtungen nachzugehen. Im Mittelpunkt steht dabei die Firma T. O. Schröter, die vor allem mit Kolonialwaren, also Baumwolle, Tabak, Kaffee, Gewürzen und ähnlichem handelt und eine Fülle von Kontoristen, Sekretären, Buchhaltern, Kassierern, Magazinern, Hausknechten und Aufladern beschäftigt, die sich ihrem Prinzipal nur allzu willig unterwerfen. „Jeder unter uns“, erklärt Wohlfart an einer Stelle, „verrichtet seine Arbeit“ in einer spezifisch „deutschen Weise. Keinem von uns fällt ein zu denken, so und so viel Taler erhalte ich von der Firma, folglich ist mir die Firma so und so viel wert. Was etwa gewonnen wird durch die Arbeit, bei der wir geholfen, das erfreut auch uns und erfüllt uns mit Stolz.“3 Das von Freytag beschworene „Volk“ sind also vornehmlich die selbstzufriedenen Kaufleute, während von der sich gleichzeitig abspielenden Industrialisierung und 108

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damit der Entstehung einer unzufriedenen, ja teilweise aufmüpfigen Arbeiterklasse nirgends die Rede ist. Schon dadurch erweist sich von Anfang an, daß dem Ganzen eine spezifisch mittelständische Gesinnung zugrunde liegt, die sich von allem abzusetzen versucht, was sie – aufgrund ihres Arbeitsethos – als unproduktiv, nichtstuerisch, wenn nicht gar luxurierend oder parasitär empfindet. Und das sind im Rahmen einer solchen Sehweise, die sich noch nicht mit den Zuständen innerhalb der Arbeiterklasse auseinandersetzt, vor allem die lediglich ihren Wechselgeschäften nachgehenden Handelsjuden sowie jene Adligen, die ausschließlich von den Einnahmen ihrer ererbten Landgüter leben, ohne selber einen Finger zu krümmen. Soviel zur sozialideologischen Grundlage des Ganzen. Die eigentliche Handlung wird dadurch in Gang gesetzt, daß ein junger Mann, namens Anton Wohlfart, der nach dem Abitur seinen Vater verloren hat, die kleine Stadt Ostrau verläßt und sich nach Breslau begibt, um dort im Geschäft von T. O. Schröter als Kommis angestellt zu werden. Darauf widmet sich Wohlfart mit Leib und Seele fast nur seiner kaufmännischen Arbeit und erringt so das Wohlwollen seines Prinzipals, der ihn zusehends mit verantwortungsvolleren Aufgaben betreut und schließlich zum Kontoristen macht. Und so geht alles seinen handelskapitalistischen Gang, ja Anton, der „pflichtgetreueste Korrespondent seines Kontors“, wie es heißt (I, 269), genießt es geradezu, in einem Geschäft tätig zu sein, wo das „Geld unaufhörlich“ in Bewegung ist (I, 63). Da es jedoch auch „Steine des Anstoßes geben muß, über die jeder Wanderer stolpern muß“, wie es in Goethes Wilhelm Meister heißt,4 läßt sich Wohlfart von dem vorübergehend bei Schröter arbeitenden Fritz von Fink verführen, in adliger Gesellschaft an einem Tanzkränzchen teilzunehmen, wo ihn Fink, ohne daß Wohlfart davon weiß, als den illegitimen Sohn eines reichen russischen Edelmanns eingeführt hat. Als Wohlfart von dieser Schwindelei erfährt, bereut er seinen Fehltritt, worauf ihm Schröter verzeiht und sogar für Wohlfarts Schulden aufkommt. Als sich jedoch Wohlfart entschließt, seine Anstellung bei Schröter aufzugeben, um dem Freiherrn von Rothsattel, der durch finanzielle Machenschaften sein Rittergut zu verlieren droht, als geschäftstüchtiger Berater zur Seite zu stehen, erklärt ihm Schröter erbittert: „Glauben Sie mir, einem großen Teil dieser Herren, welche an ihren alten Familienerinnerungen leiden, ist nicht zu helfen. Wer von Haus aus den Anspruch an das Leben macht, zu genießen und seiner Vorfahren wegen eine besondere Stellung einzunehmen, der wird häufig nicht die volle Kraft behalten, sich eine solche Stellung zu verdienen. Sehr viele unserer alten angesessenen Familien sind dem Untergange verfallen, und es wird 109

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kein Unglück für den Staat sein, wenn sie untergehen. Ihre Familienerinnerungen machen sie hochmütig ohne Berechtigung, beschränken ihren Gesichtskreis, verwirren ihr Urteil“ (I, 560). Als sich Wohlfart daraufhin bemüht, dennoch ein gutes Wort für den in Not geratenen Freiherrn von Rothsattel einzulegen, erklärt ihm Schröter noch entschiedener, daß ein sinnvolles Leben nur dann möglich sei, wenn es auf einer arbeitsamen Tüchtigkeit beruhe. „Wo diese Kraft aufhört, ob in der Familie oder im einzelnen“, sagt er abschließend, „da soll auch das Vermögen aufhören, das Geld soll frei dahin rollen in andere Hände, und die Pflugschar soll übergehen in eine andere Hand, welche sie besser zu führen weiß. Und die Familie, welche im Genusse erschlafft, soll wieder heruntersinken auf den Grund des Volkslebens, um frisch aufsteigender Kraft Raum zu machen. Jeden, der auf Kosten der freien Bewegung anderer für sich und seine Nachkommen ein ewiges Privilegium sucht, betrachte ich als einen Gegner der gesunden Entwicklung unseres Staates. Und wenn ein solcher Mann in diesem Bestreben sich zugrunde richtet, so werde ich zwar ohne Schadenfreude zusehen, aber ich werde sagen, daß ihm sein Recht geschehen, weil er gegen den großen Grundsatz unseres Lebens gesündigt hat“ (I, 561). Doch Wohlfart, zumal er auch Rothsattels Tochter, die schöne Lenore, wiedersehen möchte, läßt sich selbst von diesen Erklärungen nicht abhalten, der vom finanziellen Niedergang bedrohten Adelsfamilie der Rothsattels seine Hilfe anzubieten. Obwohl ihm Schröter mit den Worten „Die Toten sollen ihre Toten begraben“ ins Gewissen redet (I, 564) und ihn obendrein durch das Angebot, ihm Prokura zu verleihen und somit sein Stellvertreter in der Firma zu werden, zum Bleiben zu bewegen versucht, gibt Wohlfart schließlich seine Anstellung bei Schröter auf und will, so gut er kann, ein verantwortungsbewußter Kontorist auf dem Landgut der Rothsattels werden. Und das läßt sich anfangs auch relativ gut an, bis Wohlfart erkennt, daß er als Bürgerlicher letztlich ein Fremder in dieser Gesellschaftsschicht bleibt. Der Freiherr behandelt ihn wie einen Domestiken und die kokette Lenore läßt deutlich genug durchblicken, daß sie nie unter ihrem Stande heiraten werde. Darauf kehrt Wohlfart nach Breslau zurück und erklärt seinem ehemaligen Prinzipal reumütig, daß er sich – nach all seinen Fehlentscheidungen – jetzt irgendwo in der Welt um eine solide bürgerliche Kaufmannsanstellung bewerben wolle. Doch Schröter, überzeugt, daß sich Wohlfart selbst unter den „Schwachen und Schlechten“ der Adelskaste die „stolze Reinheit seiner kaufmännischen Ehre“ bewahrt habe (I, 314), beschwört den Reumütigen, wieder für ihn zu arbeiten, ja sogar seine Schwester Sabine zu heiraten und somit sein Kompagnon zu wer110

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den. Und so endet das Ganze – nach der offenkundigen Verblendung Wohlfarts, vom Adel als gleichberechtigt anerkannt zu werden – mit einem spezifisch bürgerlichen Happy End. Wohlfart steigt in das Schrötersche Geschäft ein und wird zugleich ein mit wohlabgesicherten Vermögenswerten ausgestatteter Familienvater. Noch klarer hätte Freytag den ideologischen Zielpunkt des Ganzen kaum herausstellen können: Die höchsten Werte und damit die entscheidenden Tugenden im menschlichen Leben sind im Rahmen der von ihm dargestellten gesellschaftlichen Verhältnisse letztendlich der unermüdliche Arbeitswille und die geschäftliche Redlichkeit jener Kaufmannsschichten, ohne welche ein vernünftig aufgebautes Staatswesen keine solide wirtschaftspolitische Basis hätte. Um diese Haltung seinen Lesern so drastisch wie nur möglich vor Augen zu führen, stellt Freytag in diesem Roman der Welt des bürgerlichen, sprich: nationalliberalen Geschäftslebens drei Kontrastgruppen gegenüber, denen es an diesen von ihm immer wieder beschworenen Tugenden fehlt: die Adligen, die Juden und die Polen.

IV Beginnen wir mit Freytags Darstellung der Adelswelt, die in dem Romanganzen einen breiten Raum einnimmt. Neben dem eher als schlagfertigen Witzling auftretenden Baron Fritz von Fink, dem, wie gesagt, ein reicher Onkel in Amerika ein beträchtliches Vermögen hinterlassen hat, handelt es sich dabei fast ausschließlich um die Familie der Rothsattels, die anfangs auf einem stattlichen Rittergut lebt. Ihr Oberhaupt ist der als standesbewußter Rittmeister gezeichnete Oskar von Rothsattel, der als Feudalherr älteren Schlages unbekümmert in den Tag hinein lebt und das Geschäftliche seinem ihm hörigen Gutsverwalter überläßt. Er ist stolz darauf, daß seine Familie, in der „niemals Mißheiraten vorgekommen seien“, zu den ältesten Adelsfamilien dieser Gegend gehört. Deshalb ist er höchst erfreut, als er von einem preußischen Prinzen wegen seiner „musterhaften Gentilität“ als Erinnerung an die Ritter des Mittelalters einen Malteserorden erhält (I, 330). Um sich derartiger Ehrungen würdig zu erweisen, legt er großen Wert darauf, sein Schloß so ansehnlich wie nur möglich auszustatten, die es umgebenden Parkanlagen ständig pflegen zu lassen und sich prächtige Reitpferde zu halten. All das hofft er, später seinem zum Offizier ausgebildeten Sohn Eugen zu vermachen und zugleich dafür zu sorgen, daß seine Tochter Lenore einen „ehrenhaften“ Adligen heiraten wird. Um seiner gesellschaftlichen Stellung noch einen zusätzlichen Glanz zu verleihen, stattet er seine Frau und Tochter mit kostbaren Juwelen und feinsten Spitzenkleidern aus, was ihnen 111

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helfen soll, bei den städtischen Soireen und Bällen mit standesgemäßem Glanz auftreten zu können. Ob er sich all das in einer Zeit, wo an die Stelle der älteren, allein auf Landbesitz gegründeten Adelsprivilegien zusehends der auf Handel und Gewerbe beruhende Kapitalbesitz getreten ist, finanziell überhaupt leisten kann, kommt ihm anfangs überhaupt nicht in den Sinn. Er ist daher baß erstaunt, ja geradezu erzürnt, als er eines Tages erfährt, weit über seine Verhältnisse gelebt zu haben und zahlungsunfähig geworden zu sein. Anfangs rät ihm ein zu Hilfe gezogener jüdischer Geschäftsmann, namens Hirsch Ehrenthal, sich von der „Landschaft“, einem „großen Kreditinstitut der Rittergutsbesitzer, welches Kapitalien zur ersten Hypothek auf Rittergüter auslieh“ (I, 331), einige Pfandbriefe ausstellen zu lassen. Das erscheint ihm noch am standesgemäßesten. Doch dann, bedingt durch seinen anspruchsvollen Lebensstil, häufen sich die Schulden erneut. Unfähig, seine Lage wirklich zu erkennen, gerät er darauf immer stärker in die Schlingen des ihn umgarnenden Ehrenthal, der ihn – den aus lauter Borniertheit Untüchtigen und daher Nichtsahnenden – beschwatzt, sich auf einige betrügerische Geschäfte einzulassen. Ja, er läßt sich in seiner finanziellen Notlage sogar bereden, ein Landgut in den preußisch-polnischen Gebieten zu erwerben und dort eine Zuckerrübenfabrik errichten zu lassen. Doch selbst die bringt ihm, der keinerlei Geschäftssinn besitzt, nicht die erwarteten Einnahmen ein, um weiterhin seinen gewohnten Lebensstil aufrechtzuerhalten. Selbst als seine Frau ihren „ganzen Schmuck und alles Silber“ verpfändet, erweist sich das lediglich als ein kleiner Tropfen auf den heißen Stein. Sogar die Hypothek, die Pfandbriefe, die Wechsel: nichts kann den drohenden Untergang aufhalten, was schließlich dazu führt, daß das ursprünglich so prächtig ausgestattete Schloß in andere Hände übergeht. Darauf entschließt sich Rothsattel, dem nur noch das polnische Landgut geblieben ist, zur Pistole zu greifen und sich als adliger „Ehrenmann“ kurzerhand das Leben zu nehmen. Doch selbst das gelingt ihm nicht. Statt sich eine Kugel durch den Kopf zu schießen, verletzt er lediglich seine Augen und erblindet. Von da an sitzt er nur noch trübsinnig herum, empfindet den ihm helfenwollenden Wohlfart lediglich als lästigen Vormund und ist obendrein zutiefst erschüttert über den frühen Tod seines einzigen Sohns, der ein ebenso altadliger Rittergutsbesitzer werden sollte wie er. Doch vor der letzten Konsequenz, nämlich den Adel einfach untergehen zu lassen, schreckte Freytag dann gegen Ende doch zurück. Der mit einem stattlichen Vermögen aus dem kapitalistisch-korrupten Amerika zurückkehrende Baron Fink taucht plötzlich wieder auf und erweist 112

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sich als ein großzügiger Retter, indem er Teile seines Geldes in das verrottete polnische Landgut steckt und obendrein die schöne Lenore heiratet, die den guten Wohlfart zwar äußerst sympathisch, aber nicht standesgemäß empfand. Trotz dieser unvorhergesehenen Happy-End-Lösung gegen Schluß des Romans bleibt dennoch die von Freytag beabsichtigte Kontrastwirkung zwischen dem Adel und dem Bürgertum deutlich, wenn nicht gar überdeutlich genug. In der Welt des Rothsattels dominiert lediglich eine kritisch gesehene „Oberfläche adliger Eleganz und Selbstdarstellung“, der kaum irgendwelche „inneren Werte“ entsprechen. In ihr ist alles auf „Außenwirkung und Selbstdarstellung“ abgestellt. Dieser sich herrschaftlich gebende Oberklasse geht es vornehmlich um „Repräsentation als Dokumentation der eigenen Standeszugehörigkeit“.5 Ihr Leben spielt sich deshalb hauptsächlich in prächtigen Schlössern und Ballsälen ab, womit diese Kaste ihre Zugehörigkeit zur führenden Gesellschaftsschicht herausstellen will. In diesen Kreisen zählen allein der Familienstammbaum und die Großtaten der Vorfahren. Sie berufen sich demzufolge wie eh und je fast ausschließlich auf ihre altadlige Herkunft, die sich durch nichts anderes als ihr blaues Blut zu legitimieren sucht. In den bürgerlichen Kaufleuten sehen daher die Vertreter dieser Schicht – mit der für ihren Stand üblichen Herablassung – lediglich aufs Geld bedachte „Pfeffersäcke“ (I, 374). In bewußtem Kontrast dazu stattete Freytag die von den Adligen verachteten „Pfeffersäcke“ mit allen Tugenden einer redlichen Kaufmannsgesinnung aus, die nicht nur ihr persönliches Wohlergehen, sondern auch das Leben aller arbeitsamen Menschen im Auge hat. Der auf seinen bürgerlichen Geschäftssinn stolze Schröter wie auch der reumütig aus der Adelswelt zurückkehrende Wohlfart bekennen sich deshalb stets zu wirtschaftsliberalen Grundsätzen, die der gesunden Entwicklung „des gesamten Staatslebens“ dienen sollen (I, 314). Ihnen geht es nicht um ererbtes „Standesbewußtsein, Eitelkeit und das Bedürfnis nach einem repräsentativen Lebensstil“, sondern um leistungsbezogenen Fleiß und Vermehrung des allgemeinen Wohlstands.6 Wie schon Adam Smith in seiner Enquiry on the Nature and Causes of the Wealth of Nations von 1776 legte darum Freytag den Hauptakzent noch nicht auf eine rücksichtslose Aufsteigermentalität, sondern erhoffte sich von einem pflichtbetonten Leistungswillen noch eine Produktivität, die dem Wohl des gesamten Staates zugute kommen würde, was letztlich weniger auf ein „kapitalistisches Konkurrenzprinzip“ als auf ein „organisches Gesellschaftsideal“ hinausläuft, das noch durchaus „aufklärerische“ Züge enthält.7 Auch in anderen seiner Schriften hat sich Freytag als überzeugter Nationalliberaler stets adelskritisch geäußert. Ob in den Grenzboten, aber auch sonst, immer 113

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wieder ist er in den fünfziger und sechziger Jahren dafür eingetreten, daß sich ein gesundes Staatsleben in Deutschland erst dann entwickeln könne, wenn im Hinblick auf die Schaffung eines deutschen Einheitsstaates das wirtschaftlich erstarkende Bürgertum endlich als maßgeblicher Machtfaktor anerkannt würde. Dementsprechend beteiligte er sich 1859 aktiv an der Gründung des Deutschen Nationalvereins in Eisenach. Aus demselben Grund sprach er sich mehrfach gegen die Verleihung von Adelstiteln an Bürgerliche aus und lehnte eine derartige Standeserhöhung, als sie ihm selber angetragen wurde, strikt ab.8 Kein Wunder daher, daß Freytag nach 1871, als sich Bismarck, der bis dahin aus realpolitischen Gründen mit den immer zahlreicher werdenden Nationalliberalen paktiert hatte, wieder dem konservativen Lager zuwandte, von diesem Kanzler nichts mehr hören wollte.9 Das von Bismarck gegründete Zweite Deutsche Kaiserreich erschien ihm viel zu adelsbetont, ja geradezu von feudalaristokratischen Vorstellungen beherrscht, was seinem Konzept eines „gesunden Volkslebens“ zutiefst widersprach.

V Eine ähnlich kritische, wenn auch ebenso differenzierende Sicht wie dem Adel gegenüber herrscht in Freytags Soll und Haben im Hinblick auf die schlesischen Juden, deren Darstellung in diesem Roman einen ebenso breiten Raum einnimmt. Auch ihnen gegenüber auf sie ließ sich Freytag nicht von vornherein zu negativen Pauschalurteilen, ob nun religiöser oder rassistischer Art, verleiten, sondern setzte seine literarische Sonde fast ausschließlich an den von ihren Kaufleuten geübten Geschäftspraktiken an, die lediglich einer rücksichtslosen Selbstbereicherung dienen sollen. Am weitesten hat es in diesem Roman bereits Hirsch Ehrenthal gebracht, der ein stattliches Haus besitzt und sich – trotz seiner noch jiddisch klingenden Aussprache und Wortstellungen – den Anschein eines halbwegs assimilierten deutschen Geschäftsmannes zu geben versucht, aber letztlich dennoch ein niedrig gesinnter Wucherer bleibt. Da er jedoch nach außen hin als ein wohlgesonnener und versierter Makler auftritt, vertraut ihm anfangs sogar der in Not geratene Freiherr von Rothsattel und läßt sich von ihm zu vielversprechenden Hypotheken und anderen finanziellen Transaktionen überreden, bis er einsehen muß, daß dieser angebliche „Ehrenmann“ lediglich ein auf seinen eigenen Gewinn bedachter Geldschleicher ist. Als wesentlich ungünstiger charakterisierte dagegen Freytag jenen Schmeie Tinkeles, einen ostjüdischen Händler, der sich noch nicht assimiliert hat, sondern weiterhin seinen Kaftan trägt und nicht auf seine Peijeslöckchen verzichten kann. 114

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Im Gegensatz zu Ehrenthal strebt er keineswegs nach gesellschaftlicher Anerkennung. Er betreibt seine betrügerischen Geschäfte so unauffällig wie nur möglich. Ihm geht es nur darum, sich – wie viele seiner Glaubensgenossen – eine bescheidene Lebensexistenz zu verschaffen, um so die Mißgunst seiner nichtjüdischen Mitbürger zu vermeiden. Noch stärker versucht Veitel Itzig, der mieseste Vertreter dieser jüdischen Händlergruppe, im Hintergrund zu bleiben, der von einem gewissen Hippus in die gewinnversprechenden Tricks im Umgang mit in finanzielle Bedrängnis geratenen adligen Rittergutsbesitzern sowie deren Anwälten oder Kreditinstituten eingeweiht wird. Er, der aus kleinsten Verhältnissen stammt, will nichts anderes, als sich mit legalen oder illegalen Mitteln so schnell wie möglich bereichern. Er beginnt seine kaufmännische Laufbahn als Gebrauchswarenhausierer und wird danach Agent von Pferdehändlern. Anschließend nimmt er Verbindungen mit Geldverleihern auf und wird schließlich selber zum Kreditverleiher, wobei er das „ungewöhnliche Zartgefühl“ besaß, wie es ironischerweise heißt, „nie mehr als fünfzig vom Hundert zu nehmen“. Dabei hatte er die „Tugend“, wie wir an der gleichen Stelle lesen, „nie zu ermüden“, freute sich über „jeden eroberten Taler“ und „schüttelte jedes rauhe Wort – und er mußte oft welche hören – ab, wie der Pudel seine Schläge“. „Er gönnte sich keine Stunde des Genusses“, schreibt Freytag darauf, „seine einzige Erquickung war, an den Fingern die Geschäfte abzuzählen, welche er gerade im Gange hatte, und seinen Gewinn zu berechnen“ (I, 117). Durch alle diese Machenschaften schachert Veitel Itzig schließlich so viel Geld zusammen, daß er glaubt, sich durch eine Reihe betrügerischer Wechselgeschäfte das verschuldete Rittergut der Rothsattels unter den Nagel reißen zu können. Statt weiterhin „Geld gegen hohe Zinsen zu leihen“, mit „Aktien zu spekulieren“ oder sich in das „Woll- und Getreidegeschäft“ einzumischen, durch die sein „geliebtes Kapital in Gefahr“ geraten könne, entschließt er sich, durch einen geschickten finanziellen Coup mit einem Schlag selber Rittergutsbesitzer, ja ein steinreicher Nabob oder Krösus zu werden (I, 323), um endlich „die zu beherrschen, die früher auf ihn, den verachteten Judenjungen, herabgesehen hatten“.10 Kurz bevor ihm das gelingt, befürchtet er jedoch, daß Hippus seine von ihm bereits eingeleiteten betrügerischen Wechselgeschäfte aufdecken könnte. Er ermordet daher seinen ihm bis dahin wohlgesinnten Mentor und kommt bei der Flucht vor der Polizei, die ihm bereits auf den Fersen ist, selber ums Leben. Doch wie es im Reich des Adels den relativ positiv gezeichneten Baron Fritz von Fink gibt, verzichtete Freytag keineswegs darauf, diesem durchweg negativ 115

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gezeichneten Schacherjuden auch einen „guten“ Juden gegenüberzustellen, der in Geldangelegenheiten völlig unbewandert ist und sich als Privatgelehrter in die Welt seiner Bücher zurückzieht, wobei er sich sowohl im Bereich der persischen als auch der arabischen Literatur beachtliche Kenntnisse erwirbt. Es handelt sich dabei um jenen Bernhard Ehrenthal, dem sein Vater – voller Liebe und Anhänglichkeit – erlaubt, sich eine umfangreiche Büchersammlung anzulegen und in aller Bequemlichkeit seinen Studien nachzugehen. Trotzdem durchschaut Bernhard, daß sein Vater die Rothsattels – gewollt oder ungewollt – in große finanzielle Schwierigkeiten gebracht hat. Ja, er versucht sogar, seinen Vater von solchen Geschäften abzuhalten. Obendrein weiß er, Wohlfarts menschliche Qualitäten, obwohl dieser lediglich ein Kaufmann und kein Gelehrter ist, durchaus zu schätzen und knüpft deshalb eine enge Freundschaft mit ihm an. Doch bevor es Bernhard gelingt, seinen weiterhin schachernden Vater zu bewegen, ein „ehrlicher“ Kaufmann zu werden, erkrankt er plötzlich und stirbt schließlich, worauf sich sein Vater vom Geschäftsleben zurückzieht, sein assimiliertes Gebaren aufgibt und wieder zum orthodoxen Juden wird. Wie weithin bekannt, hat diese Darstellung der schlesischen Juden eine heftige Debatte ausgelöst. Während Freytags Adelskritik heute kaum noch Anstoß erregt, ja längst als überfällig gilt, gibt es im Hinblick auf die in Soll und Haben dargestellten Juden bis in die jüngste Vergangenheit noch immer zum Teil höchst erregte, ja verbitterte Auseinandersetzungen. Einmal etwas vereinfacht gesprochen, kann man dabei zwischen zwei ideologisch ausgerichteten Lagern unterscheiden. Die einen versuchen, Freytags Einstellung den Juden gegenüber – unter strikt historisierender Perspektive – aus seiner nationalliberalen Gesinnung abzuleiten und damit zu relativieren oder gar zu rechtfertigen.11 Als Sprecher einer dem deutschen Bürgertum Mut zusprechenden Haltung, lesen wir bei ihnen, habe sich Freytag in diesem Roman bemüht, all das als verwerflich hinzustellen, was einem gesellschaftlichen Aufstieg und zugleich politischen Machtgewinn dieser Klasse im Wege stehen könnte. Und das seien vor allem die an feudalistischen Vorstellungen festhaltenden Adelsschichten sowie das lediglich auf persönliche Bereicherung ausgerichtete Geschäftsgebaren der Juden gewesen, die sich nicht als Teil der fleißigen und zugleich national eingestellten deutschen Kaufmannsschicht empfunden hätten. Was diese Autoren deshalb an Freytags Judendarstellung vor allem herausstrichen, waren lediglich jene finanzpolitischen Aspekte, in denen Freytag – während der Periode der nachmärzlichen Reaktion – eine Gefahr für den bürgerlichen Nationalliberalismus gesehen habe.12

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Selbst bei manchen deutsch-jüdischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts finden sich solche, einen grundsätzlichen Judenhaß Freytags relativierende Äußerungen. Und zwar führten sie dabei nicht nur Freytags prosemitische Aufsätze, wie beispielsweise seinen 1869 publizierten Angriff auf Richard Wagners Schrift Über das Judentum in der Musik, sondern auch seine judenfreundliche Haltung im Berliner Antisemitismusstreit der siebziger Jahre sowie in seiner Schrift Eine Pfingstbetrachtung (1893) ins Feld, ja wiesen sogar darauf hin, daß Freytag in dritter Ehe mit einer Jüdin verheiratet war. Doch nicht genug damit. Selbst sein Roman Soll und Haben wurde von vielen deutsch-jüdischen Intellektuellen immer wieder positiv herausgestrichen. Sowohl Walter Grab als auch Gershom Scholem erklärten, daß man ihnen zur Bar Mitzwa diesen Roman mit der Ermahnung in die Hand gedrückt habe: „Werd kein Schacherjud, werd ein Gelehrter.“13 Und auch Hans Mayer betonte immer wieder, daß nicht Soll und Haben, sondern Wilhelm Raabes Der Hungerpastor (1864) der perfideste Roman der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts sei, da dort ein jüdischer Intellektueller als mieser Charakter hingestellt werde, während Freytag, was ihm hoch anzurechnen sei, dem Schacherjuden Veitel Itzig in der Gestalt Bernhard Ehrenthals einen vorbildlichen jüdischen Gelehrten gegenüber gestellt habe.14 Was sich jedoch in den letzten Jahrzehnten im Hinblick auf die Judendarstellung Freytags durchgesetzt hat, ist eher jene Haltung, die – nach den horrenden Verbrechen der Nazifaschisten – auch diesen Roman für die spätere Vernichtung der europäischen Juden verantwortlich zu machen versucht.15 Und zwar wies man dabei immer wieder darauf hin, daß es selbst in Preußen – trotz der im März 1812 von Karl August von Hardenberg verkündeten Judenemanzipation – schon kurz darauf immer wieder zu antisemitischen Ausschreitungen gekommen sei.16 Vor allem national gesinnte Autoren wie Ernst Moritz Arndt, romantische Schwärmer wie Clemens Brentano oder Burschenschafter wie Jakob Friedrich Fries und Christian Friedrich Rühs hätten damals aus ihrem Judenhaß kein Hehl gemacht, ja im Jahr 1819 sei der kleinbürgerliche „Pöbel“ bei den sogenannten Hepp-Hepp-Krawallen in seinem Unmut gegenüber diesen „Fremdlingen“ sogar zu Gewalttätigkeiten übergegangen. Nicht minder gehässig habe dann in den dreißiger Jahren der Ludwig-Jahn-Anhänger Wolfgang Menzel die angeblich jüdisch „verseuchte“ Literatenclique der von Ludwig Börne und Heinrich Heine beeinflußten Jungdeutschen angegriffen. Und so sei das Wort „Jude“ im öffentlichen Diskurs zusehends zu einem diffamierenden Schimpfwort geworden.17 Aufgrund derartiger Rückschläge innerhalb der sich allmählich anbahnenden Judenemanzipation wird neuerdings auch Freytag, wie gesagt, in diese antisemi117

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tische Ahnenkette einbezogen und häufig als Kronzeuge einer präfaschistischen Gesinnung hingestellt, wobei man sich neben seiner Kritik an dem lediglich auf seinen finanziellen Gewinn bedachten Pressejuden Schmock in seinem Lustspiel Die Journalisten von 1852 vor allem auf die Judendarstellung in seinem Roman Soll und Haben beruft. Im Gegensatz zu jenen Literaturwissenschaftlern oder Historikern, die derartige Charakterisierungen aus Freytags nationalliberaler Gesinnung oder seinem Bedürfnis, möglichst klare Kontraste zwischen einem gerechtfertigten und einem ungerechtfertigten Geschäftsgebaren herauszustellen, abzuleiten versuchen, geht es diesen Kritikern eher darum, die präfaschistische Komponente dieser beiden Werke zu betonen. Ja, manche sprechen im Hinblick auf die Gegenüberstellung von Deutschen und Juden in Freytags frühen Werken geradezu von einem „manichäischen Grundmuster“ von „Guten und Bösen“, das als unüberwindbar hingestellt werde.18 Um der historischen Gerechtigkeit willen sollte man jedoch derartigen Urteilen Freytags Bemühen entgegenhalten, als ein nationalliberaler „Realist“ bei der Schilderung der jüdischen Händler in Breslau, die sich in einer ihnen weitgehend feindlich gesinnten gesellschaftlichen Umwelt mit allen ihnen zur Verfügung stehenden finanziellen Machenschaften zu bereichern versuchten, durchaus wahrheitsgetreu und nicht nur ideologisch vorgegangen zu sein. Als sich diese Verhältnisse änderten und den sich assimilierenden Juden immer mehr Rechte eingeräumt wurden, ja sie sich in überwältigender Mehrheit ebenfalls zu nationalliberalen Anschauungen bekannten, nahm Freytag, wie wir wissen, bekanntlich eine zusehends judenfreundliche Haltung ein. So schrieb er etwa 1869 in seiner Replik auf Richard Wagners Pamphlet Über das Judentum in der Musik höchst entschieden: „Wir halten gegenwärtig einen ernsten Angriff auf das jüdische Wesen unter uns nach keiner Richtung für zeitgemäß, nicht in Politik, nicht in Gesellschaft, nicht in Wissenschaft und Kunst, denn auf allen Gebieten sind unsere Mitbürger israelitischen Glaubens werte Bundesgenossen nach guten Zielen, auf keinem Gebiete sind sie vorzugsweise Vertreter einer Richtung, welche wir für gemeinschädlich halten müssen.“19 Als es nach der Bismarckschen Reichsgründung von 1871 in den siebziger und achtziger Jahren – im Zuge chauvinistischer Hochgefühle – von seiten Hermann Ahlwardts, Eugen Dührings, Wilhelm Marrs, Adolf Stöckers, Heinrich von Treitschkes und Konsorten zu vehementen Angriffen auf die in Deutschland lebenden Juden kam,20 die sich in vieler Hinsicht durchaus als präfaschistisch charakterisieren lassen, wurde Freytags Einstellung zur sogenannten Judenfrage sogar noch positiver. Er knüpfte in diesem Zeitraum nicht nur freundschaftliche 118

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Beziehungen zu Juden, wie den nationalliberalen Parteiführern Ludwig Bamberger und Eduard Lasker, dem Schriftsteller Karl Emil Franzos und dem Literaturkritiker Gustav Karpeles an, sondern raffte sich 1893 in dem kurz vor seinem Tod geschriebenen Essay Eine Pfingstbetrachtung zu einem entschiedenen Verteidiger des deutschen Judentums auf, in dem er mit aufgeklärt-antirassistischer Emphase diese Bevölkerungsgruppe ausdrücklich als „unsere Volksgenossen“ bezeichnete.21 Und derartige Äußerungen haben nicht nur manche seiner nichtjüdischen Interpreten, sondern, wie gesagt, auch viele der vor 1933 in Deutschland lebenden jüdischen Intellektuellen – im Gegensatz zu den gründerzeitlichen Chauvinisten, den Präfaschisten der Weimarer Republik und den späteren Nazis, die Freytag vor allem wegen seiner ausschließlich negativ gezeichneten VeitelItzig-Figur als einen der Ihren betrachteten – wohlwollend herausgestrichen und dabei immer wieder auf seine äußerst positive Charakterisierung des sich ganz seinen wissenschaftlichen Studien hingebenden Bernhard Ehrenthal hingewiesen. Und diese Haltung behielten später sogar noch einige Exilanten und manche Vertreter der Achtundsechziger Bewegung bei. Erst seit den achtziger Jahren, als die Holocaust-Debatte und dann der Einfluß Daniel Goldhagens in der breiten Öffentlichkeit der Bundesrepublik immer dominanter wurde,22 sind solche Stimmen allmählich seltener geworden.

VI Während Freytag in seiner Adels- und Judenkritik relativ differenziert verfuhr, wirkt seine Darstellung der Polen eindeutig negativ. In dieser Hinsicht gibt es in Soll und Haben keine für das deutsche Volksganze positiv zu bewertenden Figuren. Allerdings ließ er sich auch hierbei weder von religiösen noch von imperialistischen Anschauungen blenden, sondern beschränkte sich in seiner Kritik hauptsächlich auf die zurückgebliebenen landwirtschaftlich-ökonomischen Verhältnisse, die damals in den polnischen Gebieten Westpreußens herrschten, welche er – wie viele Deutsche im 19. Jahrhundert – voller Geringschätzung als „polnische Wirtschaft“ abqualifizierte.23 Zum ersten Mal erfahren wir von solchen Zuständen im dritten Buch seines Romans, als es in Westpreußen und Galizien zu Aufständen der unter ärmlichsten Verhältnissen lebenden polnischen Landbevölkerung gegen die deutsche Herrenklasse kommt. Da hierbei auch eine Warenkolonne der Schröterschen Handelsfirma in Gefahr gerät, von Insurgenten ausgeplündert zu werden, brechen Schröter und Wohlfart sofort auf, um das Schlimmste zu verhüten. Vom politischen Anlaß dieses Aufstands, mit dem offenbar auf das Jahr 1830 angespielt 119

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wird, ist dagegen nirgends die Rede. „Wir sind Männer des Friedens“, erklärt der Geschäftsmann Schröter, „und wollen nur unser Eigentum zurückhaben“ (I, 382). Was er den Polen vor allem vorwirft, ist – seiner Meinung nach – lediglich die unübersehbare Tatsache, daß es in ihren Gebieten fast ausschließlich schmarotzerhaft dahinlebende Landadlige und leibeigene Bauern gebe. Was ihnen fehle, sei der redliche, hart arbeitende Mittelstand und damit der eigentliche Träger eines florierenden Staatswesens. Selbst das, was man dort Städte nenne, erklärt er, sei „nur ein Schattenbild von den unsern“, da sogar die dort lebende Bevölkerung nichts von dem hätte, „was bei uns das arbeitsame Bürgertum zum ersten Stande des Staates mache“. Und er folgert daraus als standesbewußter Vertreter der deutschen Kaufmannsklasse, daß erst durch das Prinzip der „freien Arbeit das Leben der Völker groß und sicher und dauerhaft“ werde (I, 383), weshalb die polnischen Gebiete, in denen es nur eine privilegierte Herrenschicht und leibeigene Landarbeiter gebe, keine positiven Entwicklungschancen hätten. Sich auf die ältere Parole „Nach Ostland wollen wir reiten“ oder den späteren „Drang nach Osten“ zu berufen, liegt dagegen Schröter noch fern. Ihm geht es nur darum, seine Warenladungen ohne irgendwelche finanziellen Einbußen nach Breslau zurückzubringen. Und das gelingt ihm auch, da die aufständischen Polen nicht organisiert genug sind, um ihren Aufstand zu einem siegreichen Ende zu führen. Das zweite Mal geht Freytag auf den miserablen Zustand der „polnischen Wirtschaft“ ein, als Wohlfart die Geschäftsführung des in den dortigen Gebieten liegenden Landguts der Rothsattels übernimmt. Als guter deutscher Kaufmann setzt er alles daran, den heruntergekommenen Zustand dieses Guts, das sich wegen der arbeitsunwilligen polnischen Landarbeiter als wenig ertragreich erweist, in einen deutschen Musterbetrieb umzuwandeln. Doch schon kurz darauf kommt es abermals zu Aufständen der dort lebenden Landbevölkerung. Es gelingt zwar den Deutschen, diese niederzuschlagen, doch Wohlfart sieht ein, daß er unter den adligen Rothsattels und den keine Arbeitslust empfindenden Polen ein Fremder geblieben ist und kehrt reumütig nach Breslau zurück. Er will lieber unter deutschen Bürgern leben, als seine Tage in einer Gesellschaft verbringen, die lediglich aus Adligen und Landarbeitern besteht, unter denen kein mittelständischer Kaufmannsgeist herrscht, den er, wie sein Prinzipal Schröter, als die Grundlage eines gesunden Volkslebens und dem sich daraus ergebenden Staatsbewußtseins empfindet, wie in diesem Roman immer wieder betont wird. Daß den Polen all das abgeht, empfindet Wohlfart durchaus als einen bedenklichen Mangel, ja als Merkmal einer arbeitsscheuen, wenn nicht gar „schwäche120

Gustav Freytags Soll und Haben (1855)

ren Rasse“ (II, 155), wie es an einer Stelle fatalerweise heißt, wo sein Selbstbewußtsein als fleißiger „deutscher Bürger“ plötzlich unvermittelt ins Chauvinistische umschlägt. Mit solchen Menschen will er in Zukunft nichts mehr zu tun haben. Ihm erscheint nur das als erstrebenswert, was sich durch einen unermüdlichen Arbeitseifer erringen läßt. Im Gegensatz zu allen Schlawinern, Nassauern und anderen Tagedieben bemüht sich deshalb Wohlfart tagein, tagaus stets darum, sich als ein „redlicher Kaufmann“ auszuweisen, der neben seinem persönlichen Wohl zugleich das Wohl aller fleißigen und national gesinnten Deutschen im Auge behält.

VII Noch deutlicher hätte Freytag die Grundtendenz dieses Romans kaum herausstreichen können. Worauf er – nach der gescheiterten Achtundvierziger Revolution – als Nationalliberaler seine Hoffnung setzte, war ein immer stärker werdendes bürgerliches Standesbewußtsein, das sich, wie gesagt, sowohl von den luxurierenden adligen Schichten als auch vom rücksichtslosen Aufsteigerdrang der aus dem Osten eingewanderten Juden und der noch immer in vorbürgerlichen Zuständen lebenden Polen abzusetzen versuchte. Wie viele seiner Gesinnungsfreunde erkannte er, welche entscheidende Rolle dabei die sich zusehends verstärkende Geldwirtschaft spielen würde, in der er die Grundlage eines sogenannten gesunden Staatswesens sah. Damit gab er zwar als Realpolitiker manche Ideale der vormärzlichen Demokraten auf, hoffte aber weiterhin, den deutschen Mittelstand anzuspornen, sich wenigstens auf wirtschaftlichem Gebiet als jene aufsteigende Klasse zu empfinden, der eines „schönen Tages“, wie es in vielen der älteren Utopien heißt, eine führende oder zumindest mitbestimmende Rolle innerhalb eines zu schaffenden deutschen Einheitsstaates zufallen würde. Und welchen Erfolg er mit diesen Ansichten hatte, beweist, wie verbreitet diese Gesinnung innerhalb der damaligen mittelständischen Schichten war. Selbst ein eher konservativ eingestellter Autor wie Theodor Fontane schrieb daher kurz nach dem Erscheinen von Freytags Soll und Haben im Hinblick auf diesen Roman: „Das Bürgertum ist die sicherste Stütze jeden Staates und der eigentliche Träger aller Kultur und allen Fortschritts.“24 Daß es nach der Bismarckschen Reichsgründung von 1871 ganz anders kommen sollte, konnte Freytag 1855 noch nicht vorhersehen. Wer nach diesem Zeitpunkt die führende Rolle im deutschen Staate spielte, war wiederum die altadlige Oberschicht, die es jetzt nicht mehr unter ihrer Würde hielt, sich mit den immer reicher werdenden Großindustriellen zu einer kartellartigen Interes121

Wir sind endlich wer!

sensgemeinschaft zusammenzuschließen. Und dadurch geriet der auf einem mittelständischen Selbstbewußtsein gegründete, sich noch relativ aufgeklärt dünkende Geschäftsgeist der Nachmärzära seit den neunziger Jahren immer stärker in den Sog jener imperialistischen Stimmungsmache, die im Zuge einer rapide voranschreitenden Industrialisierung vornehmlich an neuen Rohstoffquellen und Absatzmärkten interessiert war, was dann – mehr oder minder zwangsläufig – zum Ersten Weltkrieg führte.

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Die selbstgefällige Großbourgeoisie der Gründerzeit Theodor Fontanes Frau Jenny Treibel oder „Wo sich Herz zum Herzen find’t“ (1892)

I Als 1871 im Spiegelsaal von Versailles das Zweite Deutsche Kaiserreich gegründet wurde, schien für die Mehrheit der bürgerlichen Nationalliberalen ein lange gehegter Wunschtraum endlich in Erfüllung zu gehen. Aus dem in über 30 Königreiche, Fürstentümer und Freie Reichstädte zersplitterten Reststaaten des 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reichs war unter der Führung Preußens ein Nationalstaat geworden, in dem sich alle Menschen in erster Linie als gleichberechtigte „Deutsche“ und nicht mehr als lokalpatriotisch gestimmte Untertanen ihrer bisherigen Monarchen zu fühlen brauchten. Doch dieser Traum erwies sich nur allzu schnell als eine Illusion.1 Es gab zwar wieder ein Deutsches Reich, ja es hatte sogar eine auf Parlamentsbeschlüssen beruhende Verfassung, aber die bisherige Fürsten- und Adelskaste blieb, wie sich bald herausstellen sollte, in innen- und außenpolitischer Hinsicht auch weiterhin die zentrale Führungsschicht. Nicht die Vorsitzenden der Nationalliberalen Partei, sondern Kaiser Wilhelm I. und sein Reichskanzler Otto von Bismarck erwiesen sich als die „Helden der ersten Stunde“, denen im Siegestaumel der frühen siebziger Jahre von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung eine geradezu byzantinische Verehrung entgegengebracht wurde. Und das führte dazu, daß sich selbst viele Vertreter der Nationalliberalen Partei zusehends von ihren älteren, betont bürgerlich-progressiv eingestellten Anschauungen abwandten und schließlich im Jahr 1878, als sich der sie bis dahin aus realpolitischen Gründen favorisierende Bismarck von ihnen distanzierte, zu den Kaisertreuen überliefen. Es gab zwar auch danach noch einige kleinere Fortschritts- und Freisinnsparteien, die nach wie vor auf eine verstärkte „Demokratisierung“ Deutschlands drangen, aber sie spielten bei den innenpolitischen Auseinandersetzungen der Folgezeit keine entscheidende Rolle mehr.

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Die selbstgefällige Großbourgeoisie der Gründerzeit

Dadurch erfolgte – wie schon nach der gescheiterten Achtundvierziger Revolution – unter den bisher republikanisch gestimmten bürgerlichen Mittelschichten ein abermaliger Stimmungsumschwung. ßWie damals gaben die meisten Vertreter dieser Klasse ihre früheren politischen Ambitionen weitgehend auf und versuchten ihren gesellschaftlichen Durchsetzungswillen lieber auf wirtschaftlichem Gebiet zu befriedigen. Allerdings läßt sich dabei ein gravierender Unterschied beobachten. Während dem nachmärzlichen Bürgertum noch ein für viele Mitglieder dieser Bevölkerungsschicht bezeichnendes Standesbewußtsein zugrunde lag, das sich auf Tugenden wie Redlichkeit und Arbeitseifer berufen hatte, setzte jetzt – im Zuge der seit den späten sechziger Jahren immer hektischer angekurbelten Industriellen Revolution – innerhalb dieser Schichten eine Spaltung in eine selbstgefällige, ja sich protzenhaft gebende Großbourgeoisie sowie ein eher mittelständisches Bürgertum ein, das nach wie vor an den altgewohnten Tugenden und Bildungsvorstellungen der vorangegangenen Jahrzehnte festzuhalten versuchte und einen deutlichen Widerwillen gegen das anmaßliche Repräsentationsgebaren der mit den Adelsschichten sympathisierenden neureichen „Raffkes“ unter den Industriekapitänen und großen Handelsherren entwickelte. Daß es zu dieser immer krasser werdenden Aufspaltung des Bürgertums kam, hatte vor allem folgende Gründe. Das hing nicht nur mit der gesteigerten Industrialisierung Deutschlands zusammen, sondern wurde zugleich durch jene fünf Milliarden Goldfrancs befördert, welche die Franzosen 1871 als Reparationen an das neugegründete Reich zahlen mußten, was ein kapitalistisches Spekulationsfieber auslöste, das schon damals als „Gründerrausch“ bezeichnet wurde.2 In allen Gegenden Deutschlands schossen plötzlich Hunderte von Aktiengesellschaften aus dem Boden, die sich die Erschließung von Bergwerken sowie die Anlage von Werften, Eisenbahnverbindungen und Schifffahrtsgesellschaften zur Aufgabe machten. Bereits bestehende Industriekomplexe, wie Krupp und Borsig, entwickelten sich geradezu über Nacht in einflußreiche Konzerne. In denselben Jahren wurden die ersten Großbanken gegründet: 1871 die Deutsche Bank und 1875 die Reichsbank. Die Industrieproduktion wuchs demzufolge in den siebziger Jahren um 47 Prozent an. Nur noch das Geld, die Arbeitskraft und die massenhaft hergestellten Konsumgüter schienen plötzlich im alltäglichen Leben den entscheidenden Ausschlag zu geben, was dazu führte, daß sich die Unternehmereinkommen in wenigen Jahren verdoppelten, ja schließlich verdreifachten. Durch diesen Wirtschaftsboom verwandelte sich das Zweite Kaiserreich zusehends aus einem Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung bis zum Anfang 124

Theodor Fontanes Frau Jenny Treibel (1892)

der siebziger Jahre noch aus Bauern und Handwerkern bestand, in einen Industriestaat, in dem bereits um 1890 54,8 Prozent zur Schicht der Industriearbeiter und Angestellten gehörten. Zugleich setzte eine dramatische Bevölkerungsvermehrung ein. Während in Deutschland im Jahr 1873 41,6 Millionen Menschen lebten, waren es 1895 bereits 52 Millionen geworden. Aus vielen Kleinstädten wurden dadurch plötzlich Großstädte, in denen die schnell anwachsende Schicht der Industriearbeiter auf ein Leben in menschenunwürdigen Mietskasernen angewiesen war, während sich die neureichen Industriellen schloßartig wirkende Villen errichten ließen. Besonders Berlin, die Hauptstadt dieses Reichs, welche bisher – außer den Residenzgebäuden der Hohenzollern – einen eher kleinstädtischen Charakter hatte, wuchs in diesen Jahren zu einer Industrie- und Handelsmetropole an, die sich fast mit London oder Paris vergleichen ließ.3 Auch hier – nicht nur im Ruhrgebiet oder in Sachsen – entstand eine Fabrik nach der anderen, die das Gesamtbild dieser Stadt drastisch veränderten. Auch hier gab es mit einem Mal neben protzig wirkenden Villen sich schnell vergrößernde Arbeiterviertel, wo in kümmerlich ausgestatteten Räumen oft bis acht Personen hausen mußten. Auch hier erfolgte – trotz der vielen, an „alle Deutschen“ appellierenden Sedan-Feiern und der immer wieder herausgestellten Reichsherrlichkeit – neben den gewaltigen Kapitalakkumulationen eine gnadenlose Ausbeutung der diesen Boom ermöglichenden, oft 10 bis 11 Stunden pro Tag malochenden Arbeiterschaft. Als die 1875 gegründete Sozialistische Arbeiterpartei gegen diese unwürdigen Arbeitsbedingungen zu opponieren versuchte, setzte Bismarck 1878 im Reichstag jenes Gesetz gegen die „gemeingefährlichen“ Bestrebungen jener angeblich rein materialistisch eingestellten „vaterlandslosen Gesellen“ durch, mit dem er das weitere Anwachsen dieser Partei aufzuhalten versuchte. Doch trotz vieler Verhaftungen, Gefängnisstrafen und einer weitgehenden Unterdrückung aller der mit dieser Partei sympathisierenden Schriften gelang ihm das nur halbwegs. Und so standen sich 1890, dem Jahr, in dem Bismarck zurücktreten mußte, zwei politische Machtblöcke gegenüber: einerseits das meinungsbildende Kartell aller konservativen Parteien, andererseits die Sozialdemokratische Partei, die inzwischen zur stärksten Fraktion im Reichstag angewachsen war. Aber selbst nach der im gleichen Jahr erfolgten Aufhebung der sogenannten Sozialistengesetze kam es nicht zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Machtblöcken. Da Anfang der neunziger Jahre ein erneuter wirtschaftlicher Boom einsetzte, der bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs anhielt, gab sich die SPD – obwohl die Zahl ihrer Anhänger weiter anstieg – im Zuge revisionistischer 125

Die selbstgefällige Großbourgeoisie der Gründerzeit

Anschauungen fortan zusehends damit zufrieden, daß von dem großen Kuchen der industriellen Produktion auch ein gehöriges Stück für die Arbeiterschaft abfallen würde. Daher blieb die Situation der Großindustriellen nach wie vor ungefährdet. Ja, ihre Machtposition vergrößerte sich sogar von Jahr zu Jahr. Demzufolge statteten sie ihre Villen immer prunkvoller aus, erst im historisierend überladenen Stil der Gründerzeit4 und dann ab 1895 in dem als neumodisch geltenden Dekor der sogenannten Stilkunst-Ära. Ob nun in der einen oder der anderen Richtung: in beiden manifestierte sich ein Aufstiegswillen, mit dem sie erst den alteingesessenen Adel einzuholen und dann zu überholen gedachten. Zugleich wollte sich die gründerzeitliche sowie die auf sie folgende wilhelminische Großbourgeoisie damit so scharf wie möglich von dem gesellschaftlich zurückgebliebenen Kleinbürgertum, geschweige denn der numerisch anwachsenden Arbeiterklasse absetzen, welche diese Schicht – vor allem aufgrund der revisionistischen Strömungen innerhalb der SPD – als nicht mehr besitzgefährdend empfand. Deshalb hielt sie es keineswegs für nötig, ihren Reichtum zu verbergen, sondern stellte ihn in ungehemmter Arroganz zur Schau.

II Die zentralen Figuren dieser Gesellschaftsklasse waren jene, die man damals als Parvenüs bezeichnete.5 Ob im Trubel der Berliner Börse oder auf der Promenade in Ostende: überall traten diese Leute mit einer Attitüde auf, als wollten sie sagen: „Was kostet die Welt?“ Sie spekulierten, fädelten Intrigen ein, streuten ruinöse Gerüchte aus, stiegen über die Nacken ihrer Mitbewerber hinweg, ja schritten über Leichen – um nur ja den „Anschluß nach oben“ nicht zu verpassen. Bisherige bürgerliche Konventionen galten in ihren Augen plötzlich als lächerliche Relikte einer biedermeierlichen oder nachmärzlichen Vergangenheit. In ihren Kreisen hieß es einfach à la Bismarck: „Macht geht vor Recht!“ Man schubste darum die anderen beiseite, drängte sich in den Vordergrund, benahm sich so aufdringlich wie nur möglich, um aus der „breiten Masse“ herauszuragen und von den Oberen bemerkt zu werden. Daher war diesen Parvenüs nichts peinlicher, als an ihre „niedere“ Herkunft erinnert zu werden. Verwandte aus der Provinz wurden von ihnen nur in Hinterzimmern empfangen, ältere Verpflichtungen mit einer Geldsumme abgefunden. Und doch blieb im Benehmen dieser Parvenüs stets ein Rest an Unsicherheit. Was ihnen fehlte, waren die feinen, unauffälligen Verhaltensweisen der älteren Ausbeuterklassen. Obwohl sich manche der neuen Börsianer von verarmten 126

Theodor Fontanes Frau Jenny Treibel (1892)

Adligen Unterricht in standesgemäßen Manieren geben ließen, schimmerte bei ihnen in unbedachten Momenten nur allzu leicht der ressentimentgeladene „Kleinbürger“ durch. Indem sie ständig auftrumpften, ständig mit ihrem Vermögen prunkten, bewiesen sie letztlich, daß sie nicht zu den wahren Vornehmen, sondern nur zu den Emporkömmlingen gehörten. Das gleiche Minderwertigkeitsgefühl äußerte sich in der Kleidung dieser Kreise. In ihr dominierte meist das Aufgedonnerte, Bombastische, Prätentiöse. Die Männer traten stets mit Zylinder und Galafrack auf, während sich ihre Frauen mit allem, was als „gut und teuer“ galt, ausstaffierten: ob nun Brokat, Samt, Seide, Musselin oder Taft. Dazu kamen Brüsseler Spitzen, Brillantagraffen, künstliche Blumen und Pfauenfedern auf den Hüten, als wollten diese Frauen mit allen Mitteln die Kreditwürdigkeit ihrer Männer unter Beweis stellen. Ja, was fast noch peinlicher wirkte: wenn sich solche Leute auf der Straße oder bei Empfängen trafen, redeten sie unentwegt darüber, wieviel dieser Staat wert sei, wie man seinen Konkurrenten beim Ankauf dieser Ausstattungsstücke übers Ohr gehauen habe – und worüber Parvenüs so sprechen, wenn sie untereinander sind und sich gegenseitig auf die unvornehmste Weise mit ihrer Aufsteigermentalität beeindrucken wollen. Obendrein protzten diese Kreise, wie alle Geschmacklosen, dauernd mit ihrem „guten Geschmack“. Sie tranken daher nur englischen Port, „wenn er lange gelagert hat“, oder aßen nur Konfitüren, falls sie von Kranzler stammten. Andere bildeten sich plötzlich ein, Seezunge von Steinbutt unterscheiden zu können, sowie lachten darüber, wenn jemand Hummer statt Lobster sagte, was sie selbstverständlich für falsch hielten. Fast noch schlimmer äußerte sich diese Protzerei, wenn man an den Wohnungsstil dieser Kreise denkt. Fast alle dieser Leute wohnten in der Beletage oder zumindest im Hochparterre. Als noch standesgemäßer galten jene Villen in Berlin-W., die sowohl einen Herrschafts- als auch einen Dienstboteneingang hatten. Schließlich konnte „man“ nicht mehr in der Mauer- oder Mohrenstraße wohnen, wenn Baron Hinz und Kommerzienrat Kunz bereits eine Villa im Tiergartenviertel besaßen. Also leistete „man“ sich auch eine Villa dort und bot dabei all jene Tapezierer- und Stukkateurkünste auf, durch die selbst die einfachsten Wohnzimmer den Charakter feudaler Prunkräume bekamen. Das Wichtigste bei dieser „Fürstlichkeit frei Haus“ war wie bei der Kleidung das Teure, Kostümierte, Aufgedonnerte. Aus Angst vor der Schlichtheit füllte man selbst die letzte Ecke mit Prunk, ob nun mit anerkannten Wertstücken oder bloßem Kitsch war diesen Leuten relativ gleichgültig. Wenn es nur glänzte, nur teuer wirkte, nur beeindruckte: dann galt selbst das Kitschige als legitim. 127

Die selbstgefällige Großbourgeoisie der Gründerzeit

Solche gründerzeitlichen Villen waren daher geradezu Orgien an Dekoration. Nachdem man durch das herrschaftliche Bronzegitter hereinspaziert war, den Springbrunnen und einige Statuetten im Vorgarten bewundert hatte, stieg man eine majestätische Steintreppe hinauf und wurde schließlich von eilfertigen Bediensteten aus der Garderobe direkt in die vordere Zimmerflucht geleitet. Diese Räume hatten den Charakter reiner Schauräume, in denen man nicht wohnte, sondern die man nur vorzeigte. Wie Antiquitätenläden waren die meisten mit allem vollgestopft, was im Sinne der modischen Makart-Interieurs irgendwie museal oder kostbar wirkte: mit altdeutschen Schränken, gotischen Tischen, Louis-Quinze-Fauteuils, Ritterrüstungen, Arrangements von Pfauenfedern, Palmwedeln, ausgestopften Vögeln, Jagdtrophäen, orientalischen Teppichen, Meißener Porzellan, Zinnhumpen, Nippesfiguren, Rokkokospiegeln und ledergebundenen Klassikerausgaben. Entscheidend an diesen Räumen war nicht die einzelne Kostbarkeit, sondern der dekorative Gesamteindruck. Selbst die Wahl der Mittel war oft skrupellos. So verwandte man neben echten Materialien auch viel Talmi, viel Imitation: das heißt Messing statt Gold, Pappe statt Leder, Gips statt Marmor, Papiermaché statt Rosenholz. Die Hauptsache war, daß alles glänzte, alles marmoriert, alles satiniert und gemasert wirkte, kurzum: alles beeindruckte. Die Höhepunkte dieser Parvenügesellschaft bildeten stets die jeweiligen Bälle, Diners, Hochzeitsfeierlichkeiten und andere Festivitäten, welche in diesen Räumen abgehalten wurden. Auch hierbei ging es rein standesgemäß zu. Eingeladen wurden nur jene, die zu den „besten Häusern“ der gründerzeitlichen Schickeria gehörten. Die meisten derartiger Parvenüs füllten daher bei solchen Gelegenheiten ihre Salons vor allem mit Offizieren, Kommerzienräten, Damen vom Hofe, bekannten Opernsängern sowie jenem legendär gewordenen Renommierbaron, der dem Ganzen erst die höhere Weihe verlieh. Doch nicht nur die soziale Stellung der Geladenen war bei solchen Empfängen ausschlaggebend. Als ebenso wichtig galt die genau durchdachte Tischordnung, die Fülle der aufgestellten Blumenbouquets, das neue Festkleid der Hausherrin sowie die Anzahl der Gänge beim Diner, die bei besonderen Anlässen bis auf acht oder zehn erhöht wurde. Wer seinen Ruf als Ehrenmann nicht verscherzen wollte, durfte bei solchen Gelegenheiten an nichts sparen. Überall mußten kalte Büfetts und Kübel mit eisgekühlten Sektflaschen herumstehen, ganz zu schweigen von den opulenten Zigarrenkisten und Batterien von Likörflaschen, den Cattleyablüten in den Silbervasen sowie den edelsteinbesetzten Messerbänkchen, die oft ein ganzes Vermögen wert waren. Doch auch sonst ließ man sich solche Empfänge etwas 128

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kosten: zusätzliches Küchenpersonal wurde angeheuert und auf der Treppe ein paar begrüßende Lohndiener aufgestellt. Jedermann wußte, daß dieser Prunk nur angemaßt, nur geliehen, nur gemietet war. Doch der Schein war wichtiger als die Realität. Denn nur mit solchen Empfängen konnte man sich jenes gesellschaftliche Renommee verschaffen, das auf diesem „Olymp des Geldes“ als das höchste Wertkriterium galt. Daher machte man lieber Schulden, als es an irgend­ etwas fehlen zu lassen – und erwartete selbstverständlich, daß sich die Geladenen mit dem gleichen Aufwand revanchieren würden. Den Auftakt derartiger Feste bildeten meist einige „künstlerische“ Darbietungen: ein paar Klavierstücke sowie eine machtvoll hingeschmetterte WagnerArie. Man erlaubte sich eben auch ein paar „Ideale“, so wie man auch ins Opernhaus ging, weil man dort eine Loge besaß und in den Pausen im Foyer gesehen werden wollte. Doch nach diesen ästhetischen Hors d’oeuvres begann erst das Eigentliche: das Dinieren, Flirten und Geschäftemachen. Was jetzt dominierte, waren die Börsenwitze, das Austerngeschlürfe und das fade Kokettieren. Jetzt perlte der Sekt, jetzt blitzten die Diamanten, jetzt ging man an die Spieltische und versuchte sein Glück im Roulett oder Bakkarat. Das lange Zeit Entbehrte: ob nun gutes Essen, feine Weine, elegante Damen, die Zigarren, der Spieltisch sowie erfolgversprechende Geschäftsunterhandlungen, alles war plötzlich da. Selbst die bisher Linkischen fühlten sich plötzlich rauschhaft begeistert, das heißt wollten nicht mehr hinter den Vertretern der älteren Oberschichten zurückstehen und begannen wie diese, ebenfalls nur in den Kategorien von oben und unten, von Thron und Schemel, von Herren- und Sklavenmoral zu denken,

III Wie reagierten eigentlich jene Schriftsteller der achtziger und frühen neunziger Jahre, die diese Parvenügesinnung nicht teilten und sich in ihren Werken weiterhin der Stilmittel des bürgerlichen Realismus der Nachmärzära bedienten, auf diese Entwicklung ins Schwülstige und historistisch Überladene? Um es so lapidar wie nur möglich zu formulieren: Es waren ihrer nicht viele. Die meisten anspruchsvollen Autoren dieser Jahre ließen sich mit stolzgeschwellter Brust von hurrapatriotischen Gefühlen hinreißen und verfaßten Geschichtsromane, Epen, Dramen, Balladen oder Novellen, in denen sie, wie Felix Dahn, Georg Ebers, Wilhelm Jordan, Viktor Scheffel oder Ernst von Wildenbruch, entweder ruhmreiche Episoden der germanischen Vorzeit oder der späteren deutschen Geschichte beschworen oder sich zu lyrischen Ergüssen hinreißen ließen, die in auf äußerlichen Prunk bedachten Goldschnittbänden erschienen. Zugegeben: es gab unter 129

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ihnen auch einige bemerkenswerte Erzähler wie Paul Heyse oder Conrad Ferdinand Meyer, die mit ihren kunstvoll geschriebenen Novellen vornehmlich das ältere Bildungsbürgertum anzusprechen versuchten. Doch aufs Große und Ganze gesehen, ist die literarische Ausbeute dieser Ära relativ unbedeutend und wurde bereits in den späten achtziger Jahren, als sich die jungen, mit der Sozialdemokratie sympathisierenden Naturalisten zu Wort meldeten, in aller Schärfe als hohlklingendes Pathos oder falsche Gefühligkeit abgelehnt. Doch zurück zu den wenigen „Realisten“ dieser Ära, die sich in ihren zeitnahen Romanen um eine größere Glaubwürdigkeit bemühten. Wie gesagt, sie wichen nicht ins Heroisierende, Pathetisch-Aufgedonnerte, Tragisch-Ergreifende oder Emotional-Schwülstige aus, das in den meisten Werken der siebziger und frühen achtziger Jahre dominiert, sondern begnügten sich eher damit, die Alltäglichkeit des gründerzeitlichen Lebens und die sich in ihr abspiegelnden gesellschaftlichen Konflikte zu schildern, weshalb ihre Werke weniger von den Vertretern der neureichen Parvenügesellschaft als von den eher mittelständischen Schichten gelesen wurden. Greifen wir dafür als ein Beispiel den sogenannten „Berliner Roman“ heraus, wie er sich seit den frühen siebziger Jahren als ein bemerkenswertes, aber lange Zeit unterschätztes Genre entwickelte.6 Schließlich war Berlin die Hauptstadt des neuen Reiches geworden und rückte deshalb immer stärker in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Der erste, der diesen Begriff verwandte, war Julius Rosenberg, der 1879 seinen Roman Die Grandidiers im Untertitel ausdrücklich als „Berliner Roman“ bezeichnete, worauf eine beachtliche Reihe derartiger Romane folgte, so daß Max Kretzer bereits 1885 einen Aufsatz unter dem Titel Zur Entwicklung und Charakteristik des „Berliner Romans“ schreiben konnte,7 ja der zeitweilig sogar als eine „Modeerscheinung der achtziger Jahre“ galt.8 In all diesen Romanen – zu denen vor allem die Leberecht Hühnchen-Serie (1882–1890) von Heinrich Seidel, die Familie Buchholz-Romane (1884–1886) von Julius Stinde, Berlin W (1886–1890) von Fritz Mauth­ner, Der Zug nach dem Westen (1886) von Paul Lindau, Meister Timpe (1888) von Max Kretzer, Die Kinder der Exzellenz (1888) von Ernst von Wolzogen und last but not least L›Adultera (1882), Cécilie (1887), Irrungen, Wirrungen (1888), Stine (1890) sowie Frau Jenny Treibel oder „Wo sich Herz zum Herzen find’t“ (1892) von Theodor Fontane gehören – geht es in erster Linie um das Phänomen jener sozialen Mobilität, welche durch die rapide Industrialisierung und die damit verbundene gesellschaftliche Umschichtung der Berliner Bevölkerung ausgelöst wurde. Während Kretzer dabei in frühnaturalistischer Manier auch äußerst kritische Töne 130

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anklingen ließ, konstatierte die Mehrheit dieser Autoren die sich daraus ergebenden Veränderungen eher unter realistisch-gelassener oder humoristischer Perspektive als zwangsläufige Gegebenheiten, ohne ihnen irgendwelche Alternativen entgegenzustellen. Selbst die Parvenüs innerhalb der gründerzeitlichen Gesellschaft wurden in ihnen, wie später in Kretzers Der Mann ohne Gewissen (1905), nicht als verdammenswerte Unmenschen charakterisiert, sondern lediglich so geschildert, wie sie nun einmal waren, das heißt als Villenbesitzer im Berliner Tiergartenviertel, wo sie sich einem zwar leicht ironisch gesehenen, aber letztlich wohlverdienten Genuß- und Repräsentationsleben hingaben. Während also die neureichen Schichten zumeist heuchlerisch vorgaben, daß nur die goethezeitlichen „Klassiker“, die gründerzeitlichen Geschichtsdramen und Geschichtsromane sowie irgendwelche lyrischen Ergüsse wahrhaft „poetisch“ seien, und die Unterschichten eher die unzähligen Kolportageromane verschlangen, von denen die Berliner Verleger „alljährlich gegen hundert“ herausbrachten,9 wandten sich die Autoren des Berliner Romans vor allem an die mittelständischen Leser und Leserinnen, die nach der Bismarckschen Reichsgründung ihre vormärzlichen, ja selbst ihre nationalliberalen Anschauungen weitgehend aufgegeben hatten und sich eher als randständige Beobachter der neuen Situation empfanden. Und das erwies sich nicht als besonders prestigeverheißend. Vor allem die neureichen Schichten, die zwar in ihren Herrenzimmern auch mit Lederrücken versehene Klassikerausgaben aufstellten, aber sonst kaum literarische Ambitionen entwickelten, blickten auf solche Autoren eher geringschätzig herab. Selbst der weitaus bedeutendste Autor derartiger Romane, nämlich Theodor Fontane, bezeichnete daher 1891 die „gesellschaftliche Stellung“ von Schriftstellern dieser Art als ausgesprochen „miserabel“.10 Dennoch ließ selbst er nicht nach, an diesem Genre festzuhalten, das ihm wegen seiner Gegenwartsnähe wesentlich relevanter erschien als all der aufgedonnerte Historienschwulst sowie die übertriebene Gefühlsseligkeit der sogenannten Goldschnittlyrik, die er als unzeitgemäß ablehnte – und schrieb 1892 seinen Roman Frau Jenny Treibel oder „Wo Herz sich zum Herzen find’t“, den man als einen Roman der „mittleren Linie“ bezeichnen könnte, mit dem er sich sowohl von den ins Heroische übersteigerten Geschichtsromanen als auch den gängigen Kolportageromanen distanzierte und – nach seinem Roman L’Adultera von 1882 – der gründerzeitlichen Parvenügesellschaft nochmals einen kritischem Spiegel vorhielt.

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Die selbstgefällige Großbourgeoisie der Gründerzeit

IV Was bewegte eigentlich Fontane zu einer derart „realistischen“ Analyse der Berliner Großbourgeosie, die sich weder gradlinig aus seinem sozialen Herkommen noch aus seinem Bildungsgang herleiten läßt? Aus einer in Preußen einheimisch gewordenen Hugenottenfamilie stammend, besuchte er erst das Neuruppiner Gymnasium und dann ab 1833 eine Berliner Gewerbeschule, worauf er 1840 Apothekerlehrling wurde. Während seiner Tätigkeit als Apotheker führte ihn 1844 Bernhard von Lepel in jenen von Moritz Saphir gegründeten Dichterkreis ein, der sich „Tunnel über der Spree“ nannte. 1849 gab Fontane den Apothekerberuf auf und erhielt eine Anstellung als Dietär in einem preußischen Ministerium. Darauf ging er 1852 als Berichterstatter der preußischen Centralstelle für Preßangelegenheiten nach England, wo er bis 1859 blieb. Von 1860 bis 1870 war er Redakteur des sich mit England befassenden Teils der erzkonservativen Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung in Berlin und nahm zugleich als Kriegsberichterstatter an den Feldzügen von 1864, 1866 und 1870/71 teil. Nach 1870 schrieb er vor allem Theaterkritiken für die Vossische Zeitung in Berlin, bis er sich 1876 entschied, seinen Lebensunterhalt als freier Schriftsteller zu verdienen. All das wirkt wie eine politisch und gesellschaftlich angepaßte Laufbahn eines aus dem Kleinbürgertum aufsteigenden Journalisten, Kriegsberichterstatters und Theaterkritikers, läßt also noch keine gesellschaftskritische Haltung erkennen. Erst in den siebziger Jahren wandte sich Fontane, bereits 50 Jahre alt – unter dem Einfluß von Willibald Alexis und Walter Scott – der Form des Romans zu. Und zwar bevorzugte er dabei das Genre des aller Pathetik aus dem Wege gehenden Berliner Romans und beschränkte sich weitgehend auf Liebes- und Eheprobleme, Milieubeschreibungen sowie innergesellschaftliche Konflikten, kurzum: jene Motive und Darstellungsmittel, die schon in der Literatur des bürgerlichen Realismus der Nachmärzära gang und gäbe waren, wobei er sich bemühte, alles so zu schildern, als sei es „nach der Natur gezeichnet“, wie es in der späteren Sekundärliteratur gern heißt.11

V Doch wenden wir uns endlich dem hier ins Auge gefaßten Roman selber zu. Wie tiefgründig wird eigentlich die in Frau Jenny Treibel oder „Wo sich Herz zum Herzen find’t“ dargestellte gründerzeitliche Parvenügesellschaft analysiert? Bleibt die beabsichtigte Kritik lediglich an der Oberfläche haften oder legt sie auch die in diesem Roman geschilderten Eigentumsverhältnisse bloß? Ja, finden sich in 132

Theodor Fontanes Frau Jenny Treibel (1892)

diesem Roman zugleich irgendwelche Alternativvorstellungen zu der durchgehend ironisierten Gesellschaftsschicht des neureichen Fabrikantenmilieus? Oder gibt sich Fontane in ihm lediglich als realitätsverhafteter Beobachter der von ihm mit äußerster Akribie dargestellten Gesellschaftsschicht, deren Vertreter zwar ständig in allen Gefühlsbeziehungen, vor allem in der Liebe, von der Untrüglichkeit ihres Herzens sprechen, während sie selbst in dieser Hinsicht letztlich nur das „liebe Geld“ im Auge behalten? Im Zentrum dieses Romans stehen der Kommerzienrat Treibel und seine Frau Jenny, die es sich leisten können, in einer reich ausgestatteten Villa zu wohnen, wo es von Dienern und Servierfräulein nur so wimmelt.12 Er ist ein typischer „Aufsteiger“ der Gründerzeit, sie die Tochter eines kleinen Gemüsehändlers, die in ihrer Mädchenzeit nicht der Stimme ihres Herzens gefolgt ist und einen sie verehrenden Oberlehrer, namens Willibald Schmidt, geheiratet hat, sondern sich geschmeichelt fühlte, von dem Industriellen Treibel umworben zu werden und dann an seiner Seite die Rolle einer wohlhabenden Frau Kommerzienrätin zu spielen. Das sieht auf den ersten Blick wie einer jener Liebesromane aus, die im 19. Jahrhundert zu den beliebtesten Modegenres gehörten. Ein armes, aber liebreizendes Mädchen heiratet einen Märchenprinzen, ob nun einen Grafen oder einen Fabrikanten, womit man in sogenannten Romance Novels allen lesehungrigen, aber vom Leben enttäuschten Frauen die nötigen Ersatzbefriedigungen zu bieten versuchte. Doch davon ist Fontanes Frau Jenny Treibel weit entfernt. Statt in der gängigen Aschenbrödel-Nachfolge ins Märchenhafte überzugehen, herrscht in ihm eine bewußt desillusionierende Nüchternheit. Fontane ging es nicht darum, seine Leserinnen in irgendwelche Wunschwelten zu entführen. Als genau beobachtender Realist blieb er stets so nah an der zeitgenössischen Wirklichkeit wie nur möglich. Im Gegensatz zu den Romanen von Eugenie Marlitt und ähnlichen Erfolgsautorinnen gibt es bei ihm keine märchenhaft anmutenden Happy-End-Schlüsse mehr. Während dort die Liebe noch als Himmelsmacht dargestellte wurde, die alle Klassengegensätze und die damit verbundenen Eigentumsverhältnisse überwindet, ist bereits sein Untertitel „Wo sich Herz zum Herzen find’t“ höchst ironisch gemeint. Denn in seinem Roman wird ja gerade gezeigt, daß in den von ihm geschilderten Verhältnissen selbst in der Liebe nur das gesellschaftliche Rangbewußtsein und das „liebe Geld“ vorherrschen. Als unbestechlicher Realist hielt sich dabei Fontane auch in Frau Jenny Treibel weitgehend an ihm wohlvertraute Personen und Lokalitäten. Besonders wichtig war ihm hierbei der Berliner Kommerzienrat Carl Justus Heckmann, der Grün133

Die selbstgefällige Großbourgeoisie der Gründerzeit

der und Inhaber eines großen Kupfer und Messingwalzwerks, dessen Vermögen auf fünf bis acht Millionen geschätzt wurde und der sich in den siebziger Jahren, wie auch die Treibels, eine stattliche Villa erbauen ließ.13 Auch er war ein „ganz auf den Erfolg gestellter Kommerzienrat mit einer energischen Frau und zwei schwächlichen Söhnen, von denen es besonders dem Jüngeren an der Kraft zu selbstständigem Handeln gebrach“, wie es bei Hans-Friedrich Rosenfeld heißt.14 Doch auch Hugo Kunheim, der Besitzer einer Berliner Chemiefabrik, die das von Treibel hergestellte und vertriebene Berliner Blau fabrizierte, scheint als Vorbild gedient zu haben.15 Ja , selbst für Jenny Treibel hat man ein solches Vorbild gefunden, nämlich die Tochter eines kleinen Gemüsewarenhändlers, namens Päpken, die schon als junges Mädchen – im Gefolge der in der Gründerzeit aufkommenden Modesucht – einen Sinn für „das Feine“ entwickelt habe.16 Und auch für andere Figuren dieses Romans glaubt man solche in der Wirklichkeit vorgegebenen Anregungen entdeckt zu haben.17 Ebenso authentisch sind alle der in diesem Roman geschilderten Örtlichkeiten, ob nun die Straßenzüge, die Wohngebiete oder die erwähnten Seen und Restaurants. Nichts ist erfunden. Alles stimmt geradezu haargenau mit dem im Roman Dargestellten überein.18 Doch wie wird all das in einen spannungsreichen Roman überführt? Schon im ersten Kapitel, in dem die zur Frau Kommerzienrat aufgestiegene Jenny Treibel, die Tochter eines kleinen Materialwarenhändlers, ihrem Jugendfreund, dem Studienprofessor Willibald Schmidt, einen Höflichkeitsbesuch abstattet, ahnen wir bereits, woraus sich die folgenden Konflikte ergeben werden. Denn an den dort stattfindenden Gesprächen nimmt auch Corinna, die Tochter Schmidts, teil, die im Gegensatz zu ihrem mittelständisch gesinnten Vater einen nur schwer zu unterdrückenden Hang für „Wohlleben und hübsche Gesellschaften“ entwickelt hat, was sie im Sinne der herrschenden Parvenümentalität als zeitgemäß und damit „modern“ empfindet.19 Sie ist daher mit dem bescheidenen Lebensstil ihres Vaters höchst unzufrieden und beteuert trotzig: „Er unterschätzt alles Äußerliche, Besitz und Geld, und überhaupt alles, was schmückt und schön macht“, worauf sie die neureiche Jenny Treibel mit heuchlerischer Besorgtheit ermahnt: „Nein, Corinna, sage das nicht. Er sieht das Leben von der richtigen Seite an; er weiß, daß Geld eine Last ist und daß das Glück ganz woanders liegt“ (11). Als Frau Treibel gegangen ist, erklärt der inzwischen „altersweise“ gewordene Schmidt seiner Tochter: „Ja, als wir jung waren, da lebte man noch von der Phantasie und Dichtung.“ Doch das scheint die „Frau Kommerzienrätin“, wie er hinzufügt, inzwischen vergessen zu haben. Jetzt sei sie ein „Musterstück von 134

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einer Bourgeoise“ geworden, die sich aufgrund ihres Reichtums alles, sogar einige „Ideale“, leisten könne (15). Das zweite Kapitel spielt in der Villa des Kommerzienrats Treibel, der, „als nach dem 70er Kriege die Milliarden ins Land kamen und die Gründeranschauungen selbst die nüchternsten Köpfe zu beherrschen anfingen“, eine Fabrik für Blaulaugensalz errichtet hatte und zugleich aus der Alten Jakobstraße in eine bessere Wohngegend umgezogen war, wo er sich eine „modische Villa mit parkartigem Hintergarten“ erbauen ließ (16). Zum Kommerzienrat hat es Treibel zu Anfang des Romans schon geschafft. Doch das genügt seinem Ehrgeiz noch nicht. Am liebsten würde er jetzt für irgendeine jener Kartellparteien, welche sowohl die Interessen des Adels als auch des Großbürgertums vertritt, im Wahlkreis Teupitz-Zossen Reichstagsabgeordneter werden, um so den Sozialdemokraten „Singer oder irgendeinen Andern von der Couleur zur Seite zu schieben“ (19). Zur Förderung seiner Ambitionen veranstaltet er daher ein opulentes Diner, zu dem er alle einlädt, von denen er sich ein gesteigertes Prestige verspricht: mehrere Fabrikanten, einen angesehenen Offizier, einen berühmten Opernsänger, einen englischen Geschäftspartner, ja sogar zwei adlige Hofdamen, denen er beteuert, kein „Fortschrittler“, sondern ein „Konservativer“ zu sein, da das „besser zu ihm passe“ (33). Trotz gewisser Vorurteile gegen die immer noch mit „mittelalterlichem“ Standesdünkel behaftete Aristokratie erklärt er nachdrücklich, daß „wir Bürger“ dennoch „die Königsfahne mit ihr gemeinsam haben“ (47), um nicht als ein demokratisch gesinnter Mann der neuen Zeit zu gelten. Und alle seine Gäste, die sich zu den gleichen „Idealen“ bekennen, stimmen dem zu. Ja, seine Frau Jenny – mit einem „Brokatkleid“ und „Brillantohrringen“ ausgestattet – singt am Schluß ein alle rührendes Lied, das in die angeblich standesübergreifenden Zeilen mündet: „Ach, nur das, nur das ist Leben, / Wo sich Herz zum Herzen find’t“ (55), als ob nicht das liebe Geld, sondern das „Höhere“ im Leben von Wichtigkeit sei. Im Gegensatz zu den Treibels geht es in der Schmidtschen Welt eher bescheiden und bieder zu. Hier herrscht nicht das Prinzip der gesellschaftlichen Repräsentation, sondern ein auf Bildung beruhendes Gemütsbedürfnis. Hier werden keine aufwendigen Diners gegeben, sondern lediglich von Zeit zu Zeit einige Herrenabende abgehalten. Hier trifft sich eine Lehrerrunde, die sich voller Einsicht in ihre Unzeitgemäßheit nicht à la Gottfried Keller „Das Fähnlein der sieben Aufrechten“, sondern im Anklang an einige griechische Philosophen „Die sieben Waisen“ nennt. Aufgrund dieser Lebenseinstellung möchte der alte Schmidt seine Tochter Corinna am liebsten mit dem jungen Archäologen Marcell Wed135

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derkopp verheiraten, der genauso denkt wie er, das heißt die gesellschaftlichen Verhältnisse „nicht ändern will“, und zwar selbst dann nicht, „wenn er es könnte“, wie er ausdrücklich betont (61). Doch Schmidts Tochter widersetzt sich dem. Sie will raus aus den „kleinen Verhältnissen“. Sie will „modern“ sein (89). Sie will unbedingt „in einer Villa wohnen und einen Landauer“ haben (61). Sie faßt daher, ohne die gesellschaftlichen Unterschiede wirklich ernst zu nehmen, lieber Leopold Treibel, den jüngsten, etwas schüchternen Sohn Jennys, als möglichen Heiratskandidaten ins Auge. Aber daraus könne nie etwas werden, erklärt ihr ihr Vater, da die Vertreter dieser Gesellschaftsschicht zwar vorgäben, liberal und gefühlvoll zu sein, sich jedoch stets dann, wenn sie „Farbe bekennen“ müßten, eiskalt gegen eine finanziell unbemittelte Schwiegertochter entscheiden würden. In diesen Kreisen ist das „Geld Triumph und weiter nichts“, sind daher seine letzten Worte (92). Doch Corinna läßt sich nicht davon abbringen, sich weiterhin um Leopold Treibel zu bemühen und zwingt ihn sogar, sich bei einer gemeinsamen Landpartie nach Halensee heimlich mit ihr zu verloben. Als Leopolds Mutter davon hört, verbietet sie ihrem Sohn sofort jeden weiteren Umgang mit Corinna. Er schickt ihr zwar weiterhin verliebte Briefe zu, ist aber nicht Manns genug, sich gegen seine Mutter durchzusetzen. Demzufolge gibt Corinna schließlich ihre Hoffnung auf ein gesellschaftliches Avancement auf. Nachdem ihr der alte Schmidt ihren „Schritt vom Wege“ verziehen hat (212), heiratet sie schließlich den gebildeten, wenn auch bürgerlich-biederen Marcell, während Jenny für ihren Sohn Leopold eine Konvenienzehe mit einer steinreichen, wenn auch farblosen Hamburgerin, namens Hildegard Munk, arrangiert. Das sind zwar zwei Eheschließungen, aber keine wirklichen Happy-End-Lösungen. Ja, um den resignierenden Ton des Ganzen noch zu unterstreichen, erklärt der alte Schmidt am Schluß: „Für mich persönlich steht es fest, Natur ist Sittlichkeit und überhaupt die Hauptsache. Geld ist Unsinn, Wissenschaft ist Unsinn. Alles ist Unsinn. Professor auch“ (223).

VI Welche Folgerungen soll man daraus ziehen? So eindeutig letztlich jene großbürgerliche Lebensform kritisiert wird, in der „alles nach ‚Besitz und Geld‘ berechnet wird“, die Schmidtsche Lebensweise, die dem entgegengesetzt wird, bildet keine „echte Alternative“ dazu.20 Die Orientierung der „Sieben Waisen“ auf die sogenannten „wirklichen Ideale“, auf das „Klassische“, wirkt letztlich wie ein nur „defensiv zu bewahrendes Inseldasein“.21 Lediglich die „kleinen Verhält136

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nisse“ zu verklären, statt das Leitbild einer besseren Gesellschaft anzuvisieren, haben deshalb kritische Leser stets unbefriedigend gefunden. Genau besehen, gleicht Fontane in dieser Hinsicht jenen älteren „Realisten“, die wie Adolph Menzel das neupreußische Großbürgertum ebenso abstoßend fanden wie er,22 aber dem Neuen, wie es sich in der Sozialdemokratie manifestierte, gleichfalls zweifelnd gegenüberstanden. Der alte Schmidt behauptet zwar einmal seiner Tochter gegenüber: „Corinna, wenn ich nicht Professor wäre, würd’ ich am Ende Sozialdemokrat“ (189). Aber das bleibt eine einmalige Unmutserklärung, aus der er keine Konsequenzen zieht. Und auch Fontane selber, der sich 1890 – nach dem Sturz Bismarcks und der Aufhebung der Sozialistengesetze – mehrfach für das „Neue“ aussprach, ja sogar die Dramen des frühen Gerhart Hauptmann und die Romane Émile Zolas lobte, blieb in dieser Hinsicht weiterhin unschlüssig. Dafür spricht, daß er drei Jahre nach dem Erscheinen von Frau Jenny Treibel am 23. Februar 1895 an Friedrich Stephany schrieb, daß mit der Sozialdemokratie zwar die „Möglichkeit einer Änderung“ der sozialen Verhältnisse gegeben sei – aber „freilich auch zum Schlimmeren“, wie er einschränkend hinzufügte. Was demzufolge nach der Lektüre dieses Romans als entscheidender Eindruck haften bleibt, ist zwar das Gefühl, eine äußerst differenzierte, subtil formulierte und mit vielen ironisierenden Glanzlichtern versehene kritische Darstellung der gründerzeitlichen Gesellschafts- und Besitzverhältnisse gelesen zu haben, in der jedoch letztendlich ein resignierender Relativismus aller Werte herrscht, der keinen Vorschein auf eine Veränderung oder gar Verbesserung der dargestellten Zustände erlaubt. Kein Wunder daher, daß Fontanes Frau Jenny Treibel von den systemimmanenten Rezensenten der neunziger Jahre durchweg gelobt wurde und bis 1899 weitere vier Auflagen erlebte. Was man dabei besonders hervorhob, war, daß dieser Roman „trotz aller satirischen Gesellschaftskritik einen insgesamt humorvoll-akkommodierenden Ton anschlage“.23 Immer wieder wurde mit abwiegelnder Tendenz die „Schalkheit, leise Ironie, der gutmütige Spott und die versöhnlerische Menschenliebe“ des Ganzen herausgestrichen.24 In ihm habe Fontane die „schwüle Sumpfluft, die uns in ‚Stine‘ und ‚Irrungen, Wirrungen‘ umwehte“ verlassen, wie man ausdrücklich betonte, und sich „positiv“ gegeben.25 Ja, einige lobten sogar, daß in diesem Roman nicht die Aggressivität, sprich: der sozialistische Ungeist des „Naturalismus“, sondern eine gemütsbetonte Altersweisheit vorherrsche.26 Andere begrüßten es, daß in ihm – im Gegensatz zur „tollen Welt der Moderne“ – noch einmal die vom Aussterben bedrohte altberliner Art beschworen werde.27 Statt sich auf das Neue einzulassen, heißt es an einer Stelle abschließend, warte Fontane „bedächtig, die Pfeife im Munde, bis 137

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die Tollheit sich überschlägt, und verrichte nach wie vor den alten Göttern die stille Andacht“.28 Nun, so harmlos war das Ganze sicher nicht gedacht. Doch es mußte zwangsläufig so wirken. Schließlich schlug zu diesem Zeitpunkt die Literatur des Naturalismus bereits ganz andere, wesentlich kritischere Töne an, ja trat zum Teil dem skrupellosen Besitzstreben der oberen Gesellschaftsschichten bereits mit sozialistisch klingenden Forderungen entgegen. Sie stieß daher bei den gleichen wilhelminisch gesinnten Rezensenten sofort auf heftigen Widerstand und wurde auf literarischem Gebiet schon nach wenigen Jahren von all jenen sezessionistischen Richtungen, wie dem Impressionismus, dem Jugendstil und dem Symbolismus, verdrängt, in denen im Gefolge der wirtschaftlichen Hochkonjunktur, die Mitte der neunziger Jahre einsetzte, von der Eigentumsfrage und den sich daraus ergebenden sozialen Konflikten kaum noch die Rede war.29

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Bürgerliche Sympathisanten und proletarische Widersacher der frühen Sozialdemokratie Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) und Carl Fischers Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters (1903)

I Gab es denn in den achtziger und frühen neunziger Jahren – außer Theodor Fontane – keine anderen Autoren, welche sich die Protzeneitelkeit der neureichen Oberschicht der Gründerzeit zur Zielscheibe ihrer Kritik wählten? Sympathisierte denn niemand unter den jüngeren Literaten mit der gewaltsam unterdrückten Arbeiterklasse, die sich 1875 auf dem Gothaer Parteitag durch den Zusammenschluß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei unter August Bebel und Wilhelm Liebknecht mit dem von Ferdinand Lassalle gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein eine sich rebellisch gebende Interessensvertretung geschaffen hatte? Zugegeben: es gab solche Autoren durchaus, aber sie hatten in der bismarkisch und dann wilhelminisch gestimmten Öffentlichkeit einen schweren Stand. Schließlich wurden ihre Schriften – vor allem nach den 1878 erlassenen Gesetzen gegen die „gemeingefährlichen“ Bestrebungen der als „vaterlandslose Gesellen“ gebranntmarkten Sozialisten sowohl von den scharf durchgreifenden Polizeiorganen als auch von der systemimmanenten Presse entweder an den Rand gedrängt oder schlichtweg verboten. Dennoch ließen sich einige der jüngeren Schriftsteller durch solche Maßnahmen nicht entmutigen, auch ihren ins Sozialistische oder Anarchistische tendierenden Anschauungen in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. Allerdings beschränkten sie sich anfangs als gute Bildungsbürger eher darauf, den ins Klassizistische, Pseudoheroische oder Schwülstig-Überladene auswuchernden Stil der offiziellen Hofkultur der frühen Gründerzeit sowie die ins Kitschige abgleitenden Erscheinungsformen der gleichzeitig entstehenden Salon- oder Parvenükultur zu karikieren,1 statt wie die Sozialdemokraten vor allem die „Soziale Frage“ auf die Tagesordnung zu setzen. Daß aus dieser ästhetischen Frontstellung all139

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mählich eine Entscheidung für den Sozialismus wurde, erfolgte erst gegen Ende der achtziger Jahre. Aus dem literarischen Konventikelwesen der antigründerzeitlichen Rebellen entstand so eine literarische Strömung, die sich im Anschluß an die linksliberalen Tendenzen der Vormärz-Autoren erst „Das jüngste Deutschland“ nannte und dann unter Berufung auf die gesellschaftskritischen Partien in den Romanen Émile Zolas das Schlagwort „Naturalismus“ auf ihre Fahnen schrieb. Allerdings darf man sich hierbei keine geschlossene Gruppe oder gar literarische Phalanx vorstellen. Da fast alle diese Autoren aus dem Kleinbürgertum oder dem bürgerlichen Mittelstand stammten, legten sie durchaus Wert darauf, auch als Einzelpersönlichkeiten und nicht nur als Parteigänger der SPD eingeschätzt zu werden. So schrieb etwa der sozialdemokratisch orientierte Bruno Wille 1890 im Nachwort seiner Gedichtsammlung Einsiedler und Genosse: „Nennt man mich aber Naturalist, Atheist, Demokrat, Sozialist oder Anarchist, so lasse ich mir das gefallen; jedoch mit der Bemerkung, daß ich keineswegs dulde, von irgendeinem Parteibegriff vergewaltigt zu werden, und daß daher nicht jede Folgerung aus jenen Begriffen für mich gelten darf.“2 Zu einer ähnlichen Einstellung bekannte sich 1887 Hermann Conradi in seinem Roman Phrasen, dessen bürgerlicher Protagonist sich im Verlauf der jeweiligen Gegebenheiten als aufmüpfiger „Proletarier des Geistes“, als „Ausnahme-Natur“ im Sinne Nietzsches oder als rücksichtsloser „Schrankenzerbrecher“ sozialistischer Prägung bezeichnet.3 Ja, an einer Stelle behauptet er sogar von sich und seinen ebenso rebellisch gesinnten Freunden: „Wir verabscheuen Krupp – den Kapitalismus, der alle Ethik ans Kreuz schlägt – den kapitalistischen Kollektivismus – den Polizeispieß und die beamt­ liche Bevormundung.“4 Aber daraus zieht er lediglich die Folgerung, in der das noch Unausgegorene seiner antikapitalistischen Gesinnung zum Ausdruck kommt: „Ich bin Individualist – also Egoist ärgster Sorte – und darum vielleicht – Sozialist. Das heißt: Sozialist der Zukunft – besser der Überzukunft.“5 Die ideologische Aufbruchsgesinnung dieser Art hat man später gern als „die anarchistisch-messianische Revolte der Jungen“ charakterisiert.6 Für die eben erst der Schule Entronnenen war der Sozialismus häufig nur ein Mittel der Selbstbefreiung, ein revolutionäres, aber verschwommenes Fernziel, das fast einen religiösen Anstrich hatte. Viele Vertreter dieser Richtung spürten zwar, daß sich damit etwas Unerhörtes anbahnte, waren jedoch innerlich viel zu unruhig und ästhetisch viel zu modernistisch eingestellt, um daraus die entscheidenden ideologischen Konsequenzen zu ziehen. Und so blieben sie trotz ihres messianischen Fiebers weiterhin „Bürger“, da sie im Rahmen einer bildungsbetonten Hoch140

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kultur großgeworden waren und demzufolge den Weg von der individuellen Selbstrealisierung zur politischen Aktion übersahen. Das Gedankengut dieser frondeurhaft eingestellten Anarchisten enthielt darum anfangs kaum spezifisch sozialistische Züge und äußerte sich vornehmlich als ein Sturmlauf gegen Konvention und Autorität, ohne daß damit eine pro-proletarische Einstellung verbunden war. So schrieb etwa der junge Wilhelm Hegeler im Jahr 1900 im Rückblick auf diese Phase seiner Entwicklung: „Ich bekam einen genügenden Wechsel, um der Sorge für das tägliche Brot enthoben zu sein. Und ich fragte mich immer, mit welchem Recht war ich vor den anderen bevorzugt? Mit welchem Recht konnte ich in anständigen Restaurants speisen, mich gut anziehen, Theater besuchen? Das Gefühl des Unrechts wurde so stark in mir, daß mir die Bissen im Halse schwollen, und ich mich vor jedem zerlumpten Bettler wegen meines reinen Hemdes schämte. Ich trug mich während dieser Zeit mit dem Plan, ein Handwerk zu ergreifen: Schreinerei. Vorerst zog ich aus dem Studentenviertel fort, aß in Proletarierkneipen, trieb mich ruhelos umher, denn auf meine juristische Karriere hatte ich endgültig verzichtet. Abends besuchte ich Volksversammlungen und sozialistische Klubs. Ich lernte hier viele Menschen kennen, ohne daß mir einer näher trat. Die meisten waren zielbewußte Sozialdemokraten. Sie imponierten mir, aber ihre gesunde Einseitigkeit war nichts für meine Verworrenheit. Sie waren fertige Menschen, bei mir war aber alles im Fluß.“7 Das Ergebnis dieser „Verworrenheit“ war daher meist ein Sozialismus utopischer Prägung, dem eine bürgerlich-intellektuelle Außenseiterposition zugrunde lag. Statt auf eine gesellschaftlich konkrete Verwirklichung wohldurchdachter Theorien zu drängen, blieben viele dieser „Jungen“ häufig im Ideologisch-Unverbindlichen befangen oder steigerten sich ins Messianische hinein. Ja, manche empfanden ihren „Sprung ins Neue“ fast wie ein „Weltpfingsten“, wie es in einigen Lyriksammlungen dieser Gruppe heißt. Wohl das beste Beispiel für solche idealistischen Überschwänge ist der Roman Der neue Gott (1890) von Hans Land, in dem ein junger Graf, der sich von dem streng konservativen Ehrenkodex seiner Eltern abgestoßen fühlt, in einem Zustand religiöser Verzückung seinen Namen unter einen sozialdemokratischen Aufruf setzt, von dem er sich eine Totalumwälzung der bestehenden Verhältnisse erhofft. Von Menschen wie ihm heißt es an einer Stelle: „Der neue Gott – das große Mitleid – sucht eine neue Welt zu schaffen. Die Besten und Einsichtsvollsten macht er zu Träumern. Sie flüchten mit ihren Gedanken in das Fabelreich des Ideals; der sozialistische Staat ist das zauberische Trugbild, zu dem sie emporstarren wie der schmachtende Wüstenwanderer zur Fata morgana.“8 Nach mancherlei ideolo141

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gischen Hirngespinsten wieder nüchtern geworden, charakterisierte daher der ehemalige Naturalist Arthur Eloesser diesen idealistisch überspannten Sozialismus nach der Jahrhundertwende in seinem Essay Fünfundzwanzig Jahre mit ironischer Distanzierung folgendermaßen: „Wir waren damals alle Radikale, unerbittliche Realisten und unvergleichliche Utopisten. Wir glaubten bei Marx zu sein, und wir hielten in Wirklichkeit bei Rousseau. Wir trugen Kalabreser und Knotenstock und ließen den Havelock wehen, der nicht gefüttert sein durfte, solange Menschen froren. Wenn wir am Morgen auseinandergingen, war die Welt immer ein Stück weiter.“9

II Um diese „Bürgerlichkeit“ nicht zu unterschlagen, deren Parteinahme für den alle bisher geltenden Macht- und Eigentumsverhältnisse in Frage stellenden Sozialismus weitgehend aus der Sympathie mit dem zeitweilig „Verbotenen“ erwuchs und in den neunziger Jahren wieder schnell abebbte, sollte man im Bereich der naturalistischen Literatur sorgfältig zwischen verantwortungsbewußten Sozialisten und bloßen À-la-mode-Humanitariern unterscheiden, wie sie in jeder „rebellisch“ eingestellten Literaturphase zu finden sind. Schließlich gab es auch unter den Naturalisten zahlreiche Mitläufer oder sogenannte Salonsozialisten, die in dieser Richtung lediglich eine sensationsträchtige Phase der allgemeinen Literaturentwicklung sahen und sie in ihrem Sinne auszuschlachten versuchten. Zu ihnen gehörte vor allem ein Autor wie Hermann Sudermann, der 1889 in seinem Drama Die Ehre zwar die plötzlich viel diskutierte soziale Frage aufgriff, aber sie – nach effektvollen Konfrontationen zwischen arm und reich – durch eine unvorhersehbare Vermögensverschiebung löste, wodurch er dem bürgerlichen Publikum, wie der Sozialdemokrat Franz Mehring schrieb, genau das zumutete, „was es sich gerade noch bieten ließ“.10 Im Hinblick auf die soziale Frage etwas ernster zu nehmen ist dagegen jene Gruppe unter den jungen Naturalisten, welche sich im Anschluß an Émile Zola und dessen Méthode naturaliste für eine geradezu minutiöse Wiedergabe der gesellschaftlichen Wirklichkeit entschied, um damit von vornherein allen Ausflüchten ins Idealistisch-Verbrämte aus dem Wege zu gehen. Ihr Hauptvertreter war Arno Holz, der in seinen frühen Erzählungen und seinem Drama Familie Selicke (1890) in enger Zusammenarbeit mit Johannes Schlaf eine Form des Konsequenten Naturalismus entwickelte, mit der er eine nicht zu überbietende Milieuechtheit und zugleich eine phonographische Wiedergabe der im alltäglichen Umgang verwendeten Soziolekte anzustreben versuchte. Damit vermied 142

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er zwar jede gründerzeitliche Tendenz ins Unrealistische, schwächte aber zugleich – selbst bei der Darstellung der sogenannten „dunklen Seiten“ des Lebens – die den geschilderten Verhältnissen zugrunde liegenden sozioökonomischen Konflikte weitgehend ins Zustandshafte und somit Unveränderliche ab. Er blieb daher lediglich ein Anreger für jene Autoren, die den von ihm entwickelten Detailrealismus sowie den möglichst exakt wiedergegebenen Sprachgebrauch der verschiedenen Gesellschaftsschichten mit jenen Fragestellungen verbanden, die sich aus der forcierten Industrialisierung Deutschlands seit den späten sechziger Jahren, dem gewaltig anschwellenden Reichtum der davon profitierenden Großbourgeoisie sowie der nur mühsam zu unterdrückenden Arbeiterklasse und der für sie eintretenden Sozialdemokraten ergeben hatten. Es war daher nicht Arno Holz, sondern der junge Gerhart Hauptmann, der mit seinem 1889 aufgeführten Drama Vor Sonnenaufgang dem wahrhaft konsequenten, weil sowohl milieuverpflichteten als auch sozialdemokratisch orientierten Naturalismus zum Durchbruch verhalf.

III Schon dieses Drama, das Hauptmann erst Der Sämann und dann Vor Sonnenaufgang nannte, wirkt nicht wie das Werk eines messianisch-begeisterten Neunzehnjährigen, sondern wie das eines Autors, der seine idealistischen Jugendträume bereits zu Grabe getragen hat und aufgrund dieser Enttäuschungen zu einer vertiefteren ideologischen Einsicht gereift ist. Von den ins Monumentale tendierenden Bestrebungen seiner in Rom verbrachten Bildhauerzeit, die noch ganz im Zeichen des in der Gründerzeit vorherrschenden historistisch ausgerichteten Stilwillens standen, wie auch den Ansätzen zu einem gewaltig ausladenden Geschichtsdrama unter dem Titel Germanen und Römer (1882) ist in diesem Stück nichts mehr zu spüren. Durch die Übersiedlung nach Berlin, die Bekanntschaft mit dem naturalistischen Autorenkreis in Friedrichshagen sowie der Lektüre der frühen Werke von Holz und Schlaf war Hauptmann – nach seinem Bemühen um ein großes Versepos, das ihn noch 1885 beschäftigt hatte – endlich zu der Einsicht gereift, sich in seiner literarischen Arbeit lieber auf die Darstellung zeitnaher Konfliktsituationen, und zwar in naturalistischer Milieuechtheit, zu konzentrieren. Der Protagonist seines Dramas Vor Sonnenaufgang ist daher bezeichnenderweise ein Mann, der wie sein Autor die Phase des Himmelstürmenden bereits hinter sich hat und jene gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit ins Auge faßt, die sich aus den veränderten Besitzverhältnissen während der Gründerzeit ergeben haben. 143

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Es handelt sich dabei um den Sozialreformer Loth, den eine längere, aus politischen Gründen verhängte Gefängnisstrafe aus dem Bereich des jugendlichen Idealismus auf den Boden der nüchternen Tatsächlichkeit zurückgebracht hat. Nach einer „weltpfingstlichen“ Rebellenphase ist er inzwischen zu der Einsicht gereift, daß die Lehren des französischen Sozialreformers Etienne Cabet, des Anführers der Ikarier, denen er sich anfangs verschworen hatte, zu stark mit pseudoreligiösen Anschauungen durchsetzt waren und daher notwendigerweise scheitern mußten. Aufgrund dieser Erfahrungen ist er danach ein sich mit statistischen Erhebungen beschäftigender Nationalökonom geworden, der die wirtschaftlichen Ursachen der herrschenden sozialen Mißstände aufzuspüren versucht. Ob er sich inzwischen der SPD angeschlossen hat, geht aus dem Stück nicht eindeutig hervor. Dennoch ist seine ideologische Einstellung, wie die des hinter ihm stehenden Autors, politisch wesentlich entschiedener als die anarchistische „Kühnheit“ eines Hermann Conradi oder der mitleidstriefende Messianismus eines Hans Land. Warum sich Loth zu dieser Haltung durchgerungen hat, erklärt er der ihm neugierig zuhörenden Helene gegen Ende des zweiten Akts folgendermaßen: „Mein Kampf ist ein Kampf um das Glück aller; sollte ich glücklich sein, so müßten es erst alle anderen Menschen um mich herum sein; ich müßte um mich herum weder Krankheit noch Armut, weder Knechtschaft noch Gemeinheit sehen. Ich könnte mich sozusagen nur als Letzter an die Tafel setzen.“ Den Anlaß zu dieser Einstellung führt er vor allem auf die grundsätzliche „Verkehrtheit unserer Verhältnisse“ zurück. „Es ist zum Beispiel verkehrt“, erklärt er Helene, „wenn der im Schweiße seines Angesichts Arbeitende hungert und der Faule im Überflusse leben darf. Es ist verkehrt, den Mord im Frieden zu bestrafen und den Mord im Kriege zu belohnen. Es ist verkehrt, den Henker zu verachten und selbst, wie es die Soldaten tun, mit einem Menschenabschlachtungs-Instrument, wie es der Degen oder der Säbel ist, an der Seite stolz herumzulaufen. Den Henker, der das mit dem Beile täte, würde man zweifelsohne steinigen. Verkehrt ist es dann, die Religion Christi, diese Religion der Duldung, Vergebung und Liebe, als Staatsreligion zu haben und dabei ganze Völker zu vollendeten Menschenschlächtern heranzubilden. Dies sind nur einige unter Millionen, müssen Sie bedenken. Es kostet Mühe, sich durch alle diese Verkehrtheiten durchzuringen; man muß früh anfangen.“11 Was Loth deshalb – neben dem hurrapatriotischen Militarismus der BismarckÄra – zutiefst verachtet, ist die Protzerei der neureichen Vertreter der gründerzeitlichen Parvenügesellschaft. Als besonders abstoßend in dieser Hinsicht erschei144

Gerhart Hauptmann und Carl Fischer

nen ihm jene oberschlesischen Bauerngutsbesitzer, die während der siebziger Jahre durch den Verkauf ihrer Ländereien an Bergwerksgesellschaften plötzlich zu Geld gekommen waren und das auf die unvornehmste Weise zur Schau stellten. In Vor Sonnenaufgang sind das vor allem die Krauses und sein Freund Hoffmann, ein ehemals armer Ingenieur, der eine der Töchter dieser Familie geheiratet hat, um ebenfalls an diesem Geldsegen teilzuhaben. Im Gegensatz dazu will Loth fortan sein ganzes Leben der Verbesserung der Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse widmen. Um sich darin nicht beirren zu lassen, verzichtet er sogar auf ein mögliches Liebesglück mit Helene, die er als Mensch des wissenschaftlichen Zeitalters – nach einem längeren Gespräch mit einem Arzt – als die Tochter der alkoholverfallenen Krauses als „erbuntüchtig“ ablehnt und sich entscheidet, weiterhin nur noch für die Armen und Entrechteten zu „kämpfen“.12 Allerdings erfährt man von seiner Parteiarbeit fast nichts. Und auch die Bergarbeiter, für die er sich einsetzen will, erscheinen, wenn sie in früher Stunde zu den Gruben eilen, nur als Schatten hinter den Fensterscheiben. Dennoch hatte Hauptmann mit diesem Stück einen Maßstab aufgerichtet, neben dem die meisten anderen naturalistischen Werke dieser Art plötzlich unbedeutend erschienen. Ja, er verschaffte sich als bürgerlicher Sympathisant der Arbeiterklasse danach mit Stücken wie dem Revolutionsdrama Die Weber (1892) und der Diebeskömödie Der Biberpelz (1893) bei vielen Sozialdemokraten ein relativ hohes Ansehen. Die wilhelminische Presse sowie das von ihr beeinflußte Theaterpublikum reagierten dagegen – erwartungsgemäß – auf diese Stücke weitgehend negativ. Ja, ein Stück wie Vor Sonnenaufgang konnte im Jahr 1889, also ein Jahr vor der Aufhebung der Gesetze gegen die „gemeingefährlichen“ Bestrebungen der Sozialdemokraten, nur an einer Berliner Privatbühne und nicht in einem staatlichen Theater inszeniert werden. Erst Die Weber wurden 1892 im Deutschen Theater in Berlin aufgeführt, worauf Kaiser Wilhelm II. ostentativ seine Loge kündigte. Doch selbst manche Mitglieder der SPD-Parteileitung verhielten sich der Mehrheit der naturalistischen Werke recht zögerlich gegenüber, da in ihnen – außer in den Werken des frühen Gerhart Hauptmann – meist eine bürgerlich-opportunistische oder abwiegelnde Perspektive vorherrsche, die ihnen als marxistisch geschulte Dialektiker politisch unzumutbar erschien.

IV Die entscheidende Auseinandersetzung von seiten der SPD-Führung mit dem Naturalismus fand 1896 auf dem Sieblebener Parteitag statt.13 Was dort dieser Literatur vorgeworfen wurde, war erst einmal ihr Hang zum Amoralischen. In 145

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ihr herrsche, betonten einige Genossen immer wieder, eine deutliche Vorliebe für das Destillenmilieu, das bohemehafte Sichausleben, die Trunksüchtigkeit und eine sich daraus ergebende vulgäre Sexualität, kurzum: eine Darstellung des Niedrigen um des Niedrigen willen. Damit versuche man zwar die wohlsituierte Großbourgeoisie zu schockieren, verstoße aber zugleich gegen die moralisch „sauberen“ Anschauungen weiter Schichten der Arbeiterklasse. Besonders scharf wandten sich manche Sozialdemokraten gegen jenen Hans Land, dem vorgeworfen wurde, in seinem Roman Der neue Gott (1890) einem religiös gefärbten Messianismus gehuldigt zu haben, statt sich vornehmlich mit den sozioökonomischen Mißständen innerhalb der bestehenden Besitz- und Gesellschaftsverhältnisse auseinanderzusetzen und die sich daraus ergebenden politischen Konsequenzen zu ziehen. All das führte zu einer lebhaften Debatte, die sich vor allem in Beiträgen zur Neuen Zeit, der Gleichheit und in Franz Mehrings Volksbühne niederschlug, auf welche einige Naturalisten in der Freien Bühne für modernes Leben und der Zeitschrift Die Gesellschaft antworteten. Doch neben diesen aktuellen Auseinandersetzungen wurden dabei auf seiten der SPD auch eine Reihe grundsätzlicher Fragen über das Verhältnis bürgerlicher Autoren zur Arbeiterschaft sowie über die Funktion von Literatur im bevorstehenden Klassenkampf schlechthin aufgeworfen. Während Gustav Landauer, Wilhelm Liebknecht und Robert Schweichel dabei die Meinung vertraten, daß in Zeiten des Kampfes keine echte Kunst entstehen könne und daher den Naturalismus in Bausch und Bogen verwarfen, ließ Franz Mehring anfangs einige Werke dieser Richtung, vor allem die Dramen Gerhart Hauptmanns, durchaus gelten, bezog aber dann fast die gleiche Haltung und bezeichnete die sich ausbreitende „moderne“ Kunst ebenfalls als ein Symptom des Niedergangs der bürgerlichen Klasse, welche für die einer besseren Zukunft zugewandte Arbeiterschaft keine erzieherische oder bildungsbetonte Bedeutung habe. Eine Alternative zum Naturalismus und zur „Moderne“ sah er fortan nur noch in der Aneignung des klassischen Erbes des aufsteigenden Bürgertums von 1750 bis 1848, also von Lessing über Schiller zu Heine, während sich in der darauffolgenden bürgerlichen Literatur nur noch der Niedergang dieser Klasse manifestiere. Eine neue bedeutsame Kunst, erklärte Mehring hierauf in aller Entschiedenheit, könne sich deshalb – aufgrund der weiterbestehenden Unbildung des Proletariats – vorerst noch nicht entwickeln und werde erst nach dem Sieg der Arbeiterklasse entstehen. Und da Mehring in der Folgezeit von vielen Sozialdemokraten als der wichtigste Sprecher in derartigen Fragestellungen angesehen wurde, setzte sich im Rahmen der SPD immer stärker die Überzeugung durch, sich auf kul146

Gerhart Hauptmann und Carl Fischer

turellem Sektor vornehmlich an die Werke des goethezeitlichen Humanismus zu halten – was dazu führte, daß diese Partei nach dem Zusammenbruch des Zweiten Deutschen Kaiserreichs den aus der Novemberrevolution von 1918 hervorgegangenen Staat sinnfälligerweise in Weimar gründete.

V Das Ergebnis dieser Einstellung war, daß die SPD schon in den späten neunziger Jahren sowohl der Literatur des Naturalismus als auch irgendwelchen aus dem Proletariat hervorgehenden Schriften kaum noch Beachtung schenkte. Und so flaute die eine Richtung ab, während die andere keinerlei Förderung erfuhr. Einer der wenigen, der sich um die Jahrhundertwende für von Arbeitern verfaßte Schriften einsetzte, war Paul Göhre, dessen 1891 erschienene Dokumentation Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche im Rahmen der naturalistischen Bewegung ein beträchtliches Aufsehen erregt hatte.14 Und zwar hatte er in ihr als protestantischer Pfarrer die These vertreten, daß die Arbeiter auch „Menschen“ seien, was zu damaliger Zeit noch fast als revolutionär galt.15 Doch die ideologische Grundtendenz dieser Studie war eher konservativ. Die Not des vierten Standes, so eindringlich sie Göhre auch zu schildern versuchte, wurde in ihr nicht als ökonomisches Problem, sondern weitgehend als eine Frage der Bildung und Religion behandelt. Um die Arbeiter nicht ganz an die „wilde, heidnische Sozialdemokratie“ zu verlieren, drang Göhre in dieser Schrift auf eine konsequente Veredlung und Christianisierung des Proletariats, das in den Banden einer verderblich „materialistischen Weltanschauung“ dahinsieche.16 In Anlehnung an die Innere Mission, die Evangelischen Arbeitervereine und die Christlich-soziale Partei Adolf Stöckers trat Göhre daher für eine „soziale Reformpartei der kleinen Leute“ ein, um so das Christentum wieder mit einem sozialen Verantwortungsbewußtsein zu erfüllen, statt sich lediglich mit der Formel „Thron und Altar“ zu begnügen.17 Um dieser Gesinnung auch einen äußeren Rahmen zu geben, gründete er 1896 mit Friedrich Naumann den Nationalsozialen Verein und schloß sich wenige Jahre später, nachdem er sein Pfarramt aufgegeben hatte, dem revisionistischen Flügel der Sozialdemokratischen Partei an. Im Zuge dieser Wandlungen interessierte sich Göhre immer stärker für Lebensbeschreibungen von Fabrikarbeitern, um so seinen „Mitbürgern“ ins Gewissen zu reden, sich endlich auch mit den Daseinsverhältnissen solcher Menschen zu befassen. Teile einer ersten Autobiographie dieser Art gab er 1903 ohne Namensangabe unter dem Titel Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters her147

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aus. In seinem Vorwort charakterisierte Göhre den Autor dieses Buchs als einen Arbeiter alten Schlags, das heißt als einen Mann des anonymen Volks, der überhaupt noch kein Bewußtsein seiner eigenen Klasse oder seiner eigenen Individualität besitze. Ein solcher Arbeiter sei daher nur wertvoll durch das, was er als „naiver Mensch“ zu sagen habe. Aus diesem Grund ließ Göhre fast alle „Räsonnements“ des Autors, der Carl Fischer heiße, wie wir auf Seite 11 seines Vorworts beiläufig erfahren, einfach als atypisch weg.18 Über ihre eigene Situation zu reflektieren könnten, wie Göhre schrieb, schließlich nur jene Mitglieder der höheren Stände, die eine ausgeprägte „Individualität“ besäßen.19 Gehen wir nach all dieser arroganten Überheblichkeit endlich auf Fischers Denkwürdigkeiten und Erinnerungen selber ein, denen Göhre zwei Jahre später noch weitere Abschnitte aus dem ihm übersandten Manuskript folgen ließ. Geboren wurde dieser Mann 1841 in Grünberg in Sachsen als Sohn eines kleinen Bäckermeisters. Nachdem er seine Gesellenprüfung in diesem Handwerk abgelegt hatte, begab er sich 1861 auf die Walze und verdingte sich zeitweilig als Chausseearbeiter. 1866 wurde er vorübergehend als Bettler ins Gefängnis geworfen. Danach arbeitete er unter viehischen Bedingungen beim Brücken- und Tunnelbau sowie in einer Kiesbaggerei. Anschließend ließ er sich – im Zuge der verstärkten Industrialisierung – von einem Stahlwerk in Osnabrück anheuern, wo er 16 Jahre blieb, erst als Arbeiter in einer Kiesgrube, dann am Brennofen und schließlich bei den Steineformern. Als ihm das körperlich zu anstrengend wurde, nahm er 1885 eine Stellung in der Abkocherei einer Eisenbahnwerkstätte an, wo er sich zum ersten Mal in seinem Leben einen heizbaren Raum zum Alleinbewohnen leisten konnte. Darauf stand er die nächsten 15 Jahre tagein, tagaus an einem großen Flaschenzug, um verschmutzte Maschinenteile in die Ätzlauge zu hieven und dann abzukochen. Doch als er die 60 erreichte, wurde ihm auch diese Arbeit zu schwer. Er kündigte und erhielt mit 61 Jahren sein erstes Abgangszeugnis. Ohne irgendein Invalidengeld zu bekommen, zog er 1901 zu armen Verwandten nach Jeßnitz im Anhaltischen, bestellte dort einen kleinen Acker und schrieb zwischendurch seine Selbstbiographie. Als Vorbild diente ihm dabei Göhres Abhandlung Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche, die er offensichtlich bereits in den neunziger Jahren erworben hatte. Als Fischer die Niederschrift seiner Erlebnisse für druckreif hielt, schickte er sie an Göhre, obwohl er inzwischen entsetzt erfahren hatte, daß dieser Mann ein Sozialdemokrat geworden sei. Und zwar ging es ihm hauptsächlich um das Honorar, mit dem er den Lebensunterhalt seiner älteren Schwester sichern wollte. Beim Erscheinen des ersten Bandes erlebte er noch die Genugtuung, daß ihm der Bürgermei148

Gerhart Hauptmann und Carl Fischer

ster von Jeßnitz, der ihn bisher als Heimatfremden angesehen hatte, endlich eine offizielle „Aufenthaltsgenehmigung“ ausstellte.20 Wann Carl Fischer gestorben ist, läßt sich nicht mehr ermitteln. Doch diese dürren Fakten besagen natürlich noch wenig. Ein solches Schicksal haben Hunderttausende deutscher Arbeiter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehabt. Das Entscheidende ist lediglich die Art und Weise, mit der Fischer seinen Lebenslauf in Worte zu bannen versuchte. Und zwar tat er das so akkurat und plastisch wie nur möglich. Daß sich das nicht mit „Naivität“ erreichen läßt, steht wohl außer Zweifel. Wer so prägnant zu schildern versteht wie er, muß schon über ein hohes Maß an Bewußtheit seiner eigenen Lage verfügen. Es wirkt daher geradezu absurd, diese Bücher, wie Göhre oder der „völkisch“ eingestellte Verleger Eugen Diederichs, der diese Bände herausbrachte, als „anonym“ zu bezeichnen. Fischer war sich durchaus bewußt, daß er als „kleiner Mann“ aus ärmsten Verhältnissen gegen ein ganzes System antreten mußte, um sich überhaupt am Leben zu erhalten. Ein „Herdenmensch“ hätte sich in seiner Lage einfach treiben lassen und wie die überwältigende Mehrheit seiner Leidensgenossen nicht zum Federhalter, sondern zur Flasche gegriffen. Doch diesen Mann drängte es nach einer Auseinandersetzung mit den immer klarer erkannten Mächten der religiösen, sozialen und politischen Unterdrückung, die alles daran setzten, ihn im Stand der „Unmündigkeit“ zu halten. Demzufolge ist die unbestechlich nüchterne Art, mit der er die sich kapitalistisch industrialisierende Obrigkeitswelt schildert, bereits so provozierend, daß es kaum irgendwelcher sozialistisch ausgerichteten „Räsonnements“ bedarf. Dafür wenigstens einige kurze Hinweise. Schon als kleiner Junge sah er sich ständig einem von ihm als unbarmherzig empfundenen „System“ gegenüber. Unablässig wurde er von seinem Vater verprügelt. Selbst im Konfirmandenunterricht lag neben der Bibel stets ein Rohrstock. Und auch in der Schule bekam er als armer Junge die meisten Schläge, während die anderen Jungen, „deren Eltern wohlhabend waren“, wesentlich besser behandelt wurden.21 Als er sich endlich auf die Wanderschaft begab, glaubte er dieser Hölle entronnen zu sein. Doch wohin er sich auch wandte, wartete schon das „System“ auf ihn. Überall wurde er angerüffelt oder ins Kittchen geworfen. Überall mußte er sich einer Paßkontrolle unterziehen. Überall wurde er als Arbeitsloser kurzerhand abgeschoben. Nicht minder autoritär verhielten sich die Werkmeister in den Fabriken ihm gegenüber. Als Lohn für die Arbeit, die er von morgens 6 bis abends 7 leisten mußte, erhielt er oft nur wenige Groschen und mußte seine Schlafgelegenheit meist mit zwei anderen Arbeitern teilen. Und so wurden seine Arme mit 149

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den Jahren immer steifer. Entlassen wurde er, wie gesagt, aus dieser Sklaverei erst mit 60 Jahren, als ihm seine Knochen letztendlich den Dienst versagten. Und doch erreichte dieser Mann im Laufe seines Lebens eine beträchtliche Bewußtseinshöhe, die ihn schließlich befähigte, ein so umfangreiches Memoirenwerk niederzuschreiben. Allerdings beschränkte er sich selbst an jenen Stellen, wo man erregte Exkurse über die Not der Arbeiterklasse oder ähnliche Probleme erwartet, stets auf die bloßen Fakten. Politisches wird daher fast nirgends erwähnt. Auch die soziale Frage wird nur sehr allgemein behandelt und wenn, dann meist in einem fatalistischen Sinne. Immer wieder ist nur von der zu leistenden Arbeit die Rede. Erst gegen Ende des Ganzen kommt Fischer allmählich die Ahnung einer gerechteren sozialen Ordnung, und zwar in jenen Jahren nach 1871, als unter primitivsten Arbeitsbedingungen und bei sich kaum erhöhenden Reallöhnen der Grundstein zu jener Wirtschaftsmacht gelegt wurde, durch die Deutschland schon zwei Jahrzehnte später als imperialistische Großmacht auftreten konnte. Wohl das denkwürdigste Dokument dieses allmählichen Mündigwerdens ist jener Prolog, den Fischer dem Ganzen vorangestellt hat, den jedoch Göhre erst im zweiten Band zu bringen wagte. In ihm stellte er sich in altfränkischer Manier als der „deutsche Michel“, der „Rechte“, der „letzte Richter“, der „kranke Mann“, der „alte Schäfer Thomas“, der „Mann im Monde“ sowie der „neue Volkshauptmann“ vor, den man bisher zum Schweigen verurteilt habe.22 Seine politischen und sozialen Weisheiten kleidete er dementsprechend in bauernschlaue Kalauer ein, die jedoch gerade in ihrer Simplizität so provozierend wirken, daß selbst im Hinblick auf sie von „Naivität“ keine Rede sein kann. Wie könnte er sonst von den ihm nicht geheuerlich vorkommenden „deutschen Sozialisten“ sprechen oder den müden Parlamentariern mit dem „Generalstreik“ drohen?23 Ebenso verstörend sind seine Bemerkungen über den „Zukunftsstaat“ oder die „Zentralleitung der zukünftigen Gesellschaft“.24 All das wurde von Göhre natürlich bewußt übersehen. Woran er sich hielt, war lediglich der Schlußabschnitt dieses Prologs, in dem Fischer das gesamte Volk aufrief, endlich zum letzten Gericht „vor dem Herrn zu erscheinen“.25 Doch selbst solche Formeln sind nicht unbedingt religiös. Man denke an Frühsozialisten wie Moses Heß oder Wilhelm Weitling, deren Schriften ständig mit christlichen Einsprengseln durchzogen sind.26 Der Gesamteindruck dieser Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters ist daher alles andere als der einer „volkhaften“ Anonymität. Daß Fischer nirgends zu einer Totalemanzipation vordringt, darüber besteht kein Zweifel. 150

Gerhart Hauptmann und Carl Fischer

Aber das ist bei seiner Herkunft sowie den von ihm geschilderten Arbeitsverhältnissen auch kaum zu erwarten. Es bleibt daher vieles in der Schwebe, was bei späteren Arbeiterautobiographien, deren Autoren meist überzeugte Sozialdemokraten waren, wesentlich deutlicher ausgesprochen wird. Andererseits ist das gerade ein Vorzug dieser Bände. Während Werke wie die Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters (1905) von Moritz William Bromme oder der Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters (1909) von Wenzel Holek, die ebenfalls von Paul Göhre herausgegeben wurden, aufgrund ihrer parteipolitischen Grundeinstellung im Sinne der SPD von vornherein den Eindruck des Tendenziösen erwecken,27 hat man bei Fischer stets das Gefühl des Authentischen. Bei ihm kann man sich nicht herausreden, daß sein Buch aus einem bestimmten Ressentiment entstanden wäre. Er greift nicht zu den Mitteln einer sozialistisch agitierenden Rhetorik, um seine Leser ideologisch zu beeinflussen. Doch gerade darum wirken seine Berichte über die herrschenden Besitz- und Arbeitsverhältnisse so überzeugend. Was er bietet, ist keine Parteiliteratur, sondern die nackte Wahrheit: geschildert von jemandem, der die ausbeuterischen Zustände so darstellt, wie er sie am eigenen Leibe erlebt hat. Statt ein ideologisch eingefärbtes Bild zu liefern, beschränkt sich Fischer auf die Parteilichkeit der Objektivität. Daß seine Beschreibungen der kapitalistischen Arbeitswelt so erschütternd wirken, wird dem Leser nicht eingeredet, sondern liegt im Wesen der Sache selbst begründet. Daher bewahrheitet sich auch in diesem Werk, daß im Rahmen von auf dem Prinzip der Ausbeutung beruhenden Klassengesellschaften jeder echte „Realismus“ notwendig ins Kritische tendiert. Doch ein solcher Objektivismus, der weitgehend auf irgendwelche Räsonnements verzichtet, ja sogar streckenweise gegen den Sozialismus polemisiert, war den damaligen Sozialdemokraten und den späteren Marxisten nicht „links“ genug. Und auch die Vertreter des anderen Extrems, die Geschmäckler und Ästheten der Jahrhundertwende, legten ein solches Buch, in dem es nach „Pöbel“ riecht, selbstverständlich von vornherein beiseite, um sich nicht in ihrer ausbeuterischen Genußmentalität beirren zu lassen. Kein Wunder also, daß dieses Buch sowohl bei den Linken als auch den Rechten bis heute relativ unbekannt geblieben ist

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Imperialistische Stimmungsmache vor 1914 Hurrapatrioten, Großindustrielle, Kulturmissionare

I In den meisten Büchern und Aufsätzen, die in letzter Zeit über den Ersten Weltkrieg erschienen sind, geht es immer wieder um dieselbe Frage: Wer waren eigentlich die Hauptschuldigen an dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie es gern heißt? Waren es wirklich nur „die Deutschen“, wie die westlichen Siegermächte 1919 im Friedensvertrag von Versailles behauptet hatten? Oder waren es nicht auch „die Franzosen“, „die Engländer“ oder „die Russen“, bei denen einige Neuhistoriker die gleichen kriegslüsternen Bestrebungen in den Jahren vor 1914 nachzuweisen versuchten? Wie wir wissen, hat es in dieser Hinsicht viele Auseinandersetzungen gegeben. Doch ist es in diesem Fall überhaupt sinnvoll, von einer Schuld ganzer Nationen zu sprechen? Schließlich waren alle diese Länder damals noch demographisch zerspaltene Klassengesellschaften, in denen die einzelnen Bevölkerungsschichten recht verschiedene gesellschaftspolitische Vorstellungen hatten und noch nicht in jenen formalen Demokratien lebten, wo sich durch die Social-Engineering-Praktiken der späteren Massenmedien ein diffuses Allgemeingefühl entwickelt hatte. Soziodemographisch gesehen, gab es damals in Deutschland noch Fürsten, Adlige, Großbürger, Kleinbürger, Handwerker, Bauern, bäuerliches Gesinde und Proletarier, unter denen es zwar manchmal zu politischen Zweckbündnissen kam, die sich aber ansonsten höchst kritisch, wenn nicht gar feindlich gegenüberstanden. Im Hinblick auf derartige Verhältnisse von einer „Nation“ zu sprechen wäre demnach höchst problematisch. Und dennoch, so beschämend es auch klingt, wie kam es eigentlich dazu, daß sich 1914 alle diese Schichten fast ausnahmslos dazu verführen ließen, sich für einen Krieg zu begeistern, der weder ein gerechtfertigter Verteidigungskrieg war noch von dem sich die unteren Klassen irgendeinen Nutzen für ihr eigenes Wohlergehen versprachen? Womit wir wieder bei der anfangs gestellten Schuldfrage wären. Wer waren denn jene, die sich davon einen gewinnbringenden Vorteil erhofften und wie gelang es ihnen, in den Jahren vor 1914 eine höchst

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disparate Klassengesellschaft in eine ihnen nur allzu willig folgende „Volksgemeinschaft“ umzuwandeln? Bei der Beantwortung dieser Fragen haben bisher stets drei Sehweisen dominiert: 1. eine diplomatiehistorische, welche für die deutsche Schuld am Ersten Weltkrieg vor allem die großspurigen Machenschaften Kaiser Wilhelm II. und seiner ihm folgenden Ministerriege verantwortlich gemacht hat, 2. eine, welche dabei eher die wirtschaftlichen Führungskräfte ins Auge faßte, die den ihre Interessen vertretenden Parteien die nötigen Wahlhilfen zur Verfügung stellten und zugleich einen maßgeblichen Einfluß auf die jeweiligen Industriezeitungen und Vereinsblätter auszuüben versuchten, sowie 3. eine, welche auch die literatur- und mentalitätsgeschichtlichen Aspekte dieses Zeitraums berücksichtigte. Zugegeben, jede dieser drei Sehweisen ist durchaus berechtigt. Man sollte sie nur nicht ins Eindimensionale verabsolutieren. Schließlich hat erst das komplizierte Mit-, In- und Gegeneinander dieser drei Faktoren zur jener „Kriegsbegeisterung“ geführt, die in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 ihren nie wieder überbotenen Höhepunkt erreichte – und die Adolf Hitler später gern als die einzige deutsche Revolution, nämlich den Aufbruch in eine genuine „Volkwerdung“ bezeichnet hat.

II Beginnen wir bei unserem Blick auf jene diesen fatalen Enthusiasmus antreibenden Impulse, die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg von diplomatischer Ebene, das heißt von Kaiser Wilhelm II. sowie seinen Ministern und Heerführern ausgingen. Im Gegensatz zum Reichskanzler Otto von Bismarck, der in den siebziger und achtziger Jahren auf der Grundlage realpolitischer Bündnissysteme noch dem Prinzip einer vorläufigen „Saturiertheit“ gehuldigt hatte, um das 1871 von ihm gegründete Zweite Kaiserreich nicht durch außenpolitische Verwicklungen zu gefährden, schlug Wilhelm II., nachdem er 1890 den ihn großväterlich bevormundenden Bismarck entlassen hatte, mit jugendlicher Unbekümmertheit einen betont „Neuen Kurs“ ein, mit dem er Deutschland, wie er hoffte, endlich den ihm sowohl politisch als auch wirtschaftlich zustehenden „Platz an der Sonne“ verschaffen wollte. Während Bismarcks Denken noch weitgehend in einer kontinentaleuropäischen bzw. rußlandfreundlichen Perspektive verankert war, weshalb er sich allen kolonialpolitischen Vorstößen relativ zögerlich gegenüber verhalten hatte, sah der junge Kaiser mit neupreußischer Großmannssucht von vornherein über Deutschlands Grenzen hinaus. Statt sich – hinter Frankreich, England und Rußland – mit einer zweit- oder gar drittrangigen Stellung zu 153

Imperialistische Stimmungsmache vor 1914

begnügen, schwebte ihm ein deutsches Reich vor, das in der zukünftigen Weltpolitik – neben den bereits bestehenden Großmächten – eine ebenso einflußreiche Rolle spielen würde. Für diesen Drang ins Imperialistische sprechen folgende, weitgehend von ihm intendierte Aktionen. 1890, kurz nach der Entlassung Bismarcks, erklärte er sowohl das heutige Tansania als auch das heutige Namibia zu deutschen Schutzgebieten. 1893 verlangte er vom deutschen Reichstag eine beträchtliche Heeresverstärkung. 1896 sandte er ein die englische Regierung verstimmendes Glückwunschtelegramm an den Burenpräsidenten Ohm Krüger. 1897 beauftragte er Alfred von Tirpitz mit dem Bau einer angriffsbereiten Kriegsflotte, stellte die chinesische Stadt Kiautschou unter deutsche Oberhoheit und ließ den ersten Hottentotten-Aufstand in Deutsch-Südwestafrika niederschlagen. 1899 gliederte er in der Südsee die Karolinen, Marianen und Palau in das deutsche Kolonialreich ein und befürwortete den Bau der Bagdadbahn. 1900 sandte er deutsche Truppen nach China, um den sogenannten Boxer-Aufstand zu beenden. 1904 wurden aufgrund seiner Anordnungen große Teile der Hottentotten und Hereros ausgerottet. 1905 führte sein ungeschicktes Verhalten zur ersten Marokko-Krise. 1906 befahl er die Unterdrückung des Madschi-Madschi-Aufstands in DeutschOstafrika und den Bau des ersten U-Boots der deutschen Kriegsmarine. 1908 ordnete er eine weitere Modernisierung der deutschen Kriegsflotte an. 1911 kam es im Rahmen der zweiten Marokko-Krise zur Entsendung des deutschen Kanonenboots „Panther“ nach Agadir. 1913 verlangte er eine erneute Verstärkung der deutschen Armee sowie die Entsendung einer deutschen Militärmission nach Konstantinopel. Am 1. August 1914 erklärte er schließlich den Krieg gegen Rußland und zwei Tage später den Krieg gegen Frankreich. Alle diese Ereignisse sind von deutschen sowie nichtdeutschen Neuhistorikern hundertmal beschrieben worden und brauchen hier nicht noch einmal erläutert zu werden. Was dabei allerdings meist dominierte und auch weiterhin häufig vorherrscht, ist eine vorwiegend diplomatiehistorische Sehweise. Immer wieder liest man, welcher Kaiser, Zar, König, Premier- oder Außenminister mit wem unterhandelt hat, wer irgendwelche Bündnisse geschlossen oder aufgesagt hat, wo derartige Verhandlungen stattgefunden haben und ähnliches mehr. Die Fülle der Akten und Dokumente, die dabei zitiert wird, ist zwar beachtlich und zum Teil auch höchst instruktiv. Doch sagt sie wirklich alles über die durch sie ausgelösten Ereignisse aus? Zugegeben, Kaiser, Zaren, Könige, Premier- und Außenminister waren damals noch einflußreicher als heute. Aber wurden von ihnen wirklich alle Geschicke gelenkt? Eine solche Sehweise, vor allem wenn sie zur 154

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allein maßgeblichen erklärt wird, bleibt letztlich recht vordergründig. Schließlich waren diese Gestalten, selbst der deutsche Kaiser, der russische Zar und der Wiener k. und k. Herrscher nicht alleinbestimmend. Geschichte ist nicht nur die Geschichte „großer Männer“, wie es damals im Hinblick auf einen Ausspruch des Bismarck-Verehrers Heinrich von Treitschke gern hieß. Daher wäre es sinnlos, die sogenannte Kriegsschuldfrage allein aus den Entscheidungen irgendwelcher gekrönten Häupter oder ihrer Satrapen abzuleiten. Und es genügt auch nicht, wie das jüngst in dem Bestseller Die Schlafwandler von Christopher Clark und ähnlichen Publikationen geschehen ist,1 den Kriegsbeginn vornehmlich auf diplomatische Fehlentscheidungen zurückzuführen. Europa ist 1914 in den Ersten Weltkrieg nicht „hineingeschlittert“, wie David Lloyd George später erklärt hat, weil sich einige Herrscher und ihre Minister zu übereilten Aktionen verleiten ließen. So „personalisiert“ lassen sich derartige politische Großereignisse nicht erklären. Dahinter stehen meist wesentlich konkretere sozioökonomische wie auch kulturelle und mentalitätsgeschichtliche Prozesse, die solche Entscheidungen mitbestimmen und welche damals zugleich höchst geschickt propagandistisch umgesetzt wurden.2 Das soll nicht heißen, daß sich die kaiserliche Außenpolitik in dem Zeitraum zwischen 1890 und 1914, so forsch sie sich auch gab, als unwirksam erwiesen hätte. Wenn sie auch kaum außenpolitische Erfolge verbuchen konnte, die durch sie bewirkte Militarisierung Deutschlands – verbunden mit dem ständigen Absingen von Liedern wie Heil Dir im Siegerkranz und Es braust ein Ruf wie Donnerhall – hatte schon eine bedeutsame Auswirkung, indem sie ein Gefühl der ideologischen Verbitterung bewirkte, nämlich trotz aller Vorstöße nach Afrika, China und in die Südsee den koloniebildenden Vorsprung der anderen europäischen Großmächte nicht mehr einholen zu können, da es zu diesem Zeitpunkt kaum noch weiße Flecken auf den Landkarten der nichteuropäischen Länder gab. Verglichen mit England, Frankreich und Rußland, ja selbst mit Belgien, Holland, Italien, Portugal oder Spanien war Deutschland eben eine „verspätete Nation“,3 die in das Zeitalter des Hochimperialismus eintrat, als dieses – jedenfalls im Hinblick auf den Erwerb neuer Kolonien – bereits abgeschlossen war. Und das erzeugte in den politisch und wirtschaftlich führenden Schichten dieses Reichs, wie gesagt, die höchst gefährliche Stimmung einer nur mühsam unterdrückten Frustrierung, bei der Aufteilung des großen Kuchens zu spät zu Tische gekommen zu sein.

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Imperialistische Stimmungsmache vor 1914

III Und diese Stimmung verstärkte sich in spätwilhelminischer Zeit geradezu von Jahr zu Jahr, zumal es in Deutschland zwischen 1895 und 1914 zu einer wirtschaftlichen Konjunktur ohnegleichen kam,4 die gern als Rechtfertigung der offen geäußerten Großmannsansprüche herangezogen wurde. Während zu Beginn der Bismarck-Ära das von ihm gegründete Reich – jedenfalls im Vergleich mit England und Frankreich – noch ein industriell weithin unterentwickeltes Land war, wie man heute sagen würde, wuchs die deutsche Wirtschaft nach 1871 und dann noch einmal nach 1895 so stark an, daß das Zweite Kaiserreich im Jahr 1913 in der Weltrangliste der führenden Industriestaaten – hinter den USA – den zweiten Platz einnehmen konnte. Und die dadurch entfesselten Ambitionen waren auf außenpolitischer Ebene sicher wesentlich nachdrücklicher als die relativ dilettantischen Erfolgsbemühungen Kaiser Wilhelm II. und seiner Kanzler. Schließlich drängten die deutschen Großindustriellen – wegen der ständig steigenden Gütererzeugung – in diesen Jahrzehnten immer stärker darauf, Deutschland neue Rohstoffquellen und neue Absatzgebiete zu verschaffen. Daher begrüßten profitgierige Industriekapitäne wie Emil Kirdorf, Hugo Stinnes, August Thyssen und viele andere jeden Vorstoß ins Imperialistische so unverblümt, wie es in ihrer Macht stand, selbst wenn es dadurch zu Konflikten mit anderen europäischen Staaten kommen würde. Diesen Aspekt im Rahmen der Kriegsschulddebatte wesentlich stärker herausgestellt zu haben als all jene Neuhistoriker, die sich unter personalisierender Perspektive vornehmlich mit den diplomatischen Machenschaften der führenden Herrscherhäuser auseinandergesetzt haben, ist weitgehend das Verdienst jener linksorientierten Politiker und Geschichtswissenschaftler, die dabei stets die Lehren des historischen Materialismus im Auge behielten – allen voran Lenin mit seiner Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus von 1916, auf die dann in Zustimmung oder Auseinandersetzung nicht minder „materialistisch“ fundierte Publikationen von Nikolai Bucharin, Rudolf Hilferding, Karl Kautsky, Rosa Luxemburg und ähnlich gesinnter Autoren folgten. Schon die reaktionären Nationalisten der Weimarer Republik und dann die noch rabiater auftretenden Nazifaschisten, denen es um eine erneute Verstärkung imperialistischer Tendenzen ging, haben derartige Anschauungen selbstverständlich radikal unterdrückt. Nach 1945 wurden sie lediglich in der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR wieder aufgegriffen,5 während sich in der BRD – im Zuge der Adenauerschen Restaurationsperiode der fünfziger Jahre – im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg wiederum die „personalisierende“ 156

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Sicht durchsetzte,6 um nur ja keine Kapitalismuskritik aufkommen zu lassen. Es war daher das große Verdienst Fritz Fischers, mit seinen Büchern Griff nach der Weltmacht (1961) sowie Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914 (1969) auch vor einer scharfen Kritik an den Expansionsgelüsten der spätwilhelminischen Großindustriellen nicht zurückzuschrecken,7 statt lediglich Kaiser Wilhelm II., Theobald von Bethmann Hollweg, Alfred von Tirpitz und Konsorten für diesen Krieg verantwortlich zu machen. Und das trug ihm in der Wirtschaftswunderwelt der ehemaligen Bundesrepublik viele Feinde ein. Die hochtönenden, wenn auch weitgehend erfolglosen „Platz an der Sonne“-Proklamationen Wilhelm II. zu kritisieren, hatten damals sogar manche konservativen Neuhistoriker gewagt, zumal dieser inzwischen selbst im Popularbewußtsein fast zu einer Witzfigur geworden war.8 Aber die heilige Kuh des Kapitalismus für eine eventuelle Kriegsschuld der Deutschen verantwortlich zu machen, erschien vielen unter ihnen geradezu als ein blasphemischer Akt. Galt nicht damals – im Hinblick auf die Erhardsche Wirtschaftspolitik – das marktwirtschaftliche System der „Freien Welt“, das man so vehement wie nur möglich gegen den „bösen Osten“ mit all seinen sozialistischen Planungskonzepten auszuspielen versuchte, als der einzig mögliche Weg zu einer als „liberal“ ausgegebenen Wohlstandssteigerung, die sich nur im Rahmen eines kapitalistisch orientierten Wirtschaftssystems erreichen lasse? Nun gut, nichts gegen eine wohlverstandene „Liberalität“! Doch wie „liberal“ war das wilhelminische Großbürgertum eigentlich? War ihm nicht nach der gescheiterten Achtundvierziger Revolution durch das Neupreußentum der Bismarck-Ära schon längst der aufrechte Gang der alten Nationalliberalen ausgetrieben worden? Hatte es sich nicht schon in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts damit abgefunden, eher wirtschaftstüchtig als adelskritisch aufzutreten? Und konnte nicht dadurch ein Roman wie Gustav Freytags Soll und Haben (1855), in dem sich das deutsche Bürgertum vornehmlich seiner Geschäftstüchtigkeit widmet und das politische Bestimmungsrecht dem Adel überläßt, zum Bestseller der gesamten Nachmärz-Ära werden? Die ehemals hoffnungsvoll gegründete Nationalliberale Partei löste sich daher unter Bismarcks Fuchtel in den späten siebziger Jahren allmählich auf und überließ das Feld weitgehend jenen rechten Gruppierungen im deutschen Reichstag, in denen neben den altadligen und großagrarischen Schichten die neureichen Industriekapitäne einen immer größeren Einfluß bekamen. All das spricht nicht dafür, daß sich die kapitalistische Industrialisierung Deutschlands, die zwischen der Gründerzeit der siebziger Jahre und dem Ersten 157

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Weltkrieg ihren ersten Höhepunkt erlebte, in Deutschland besonders liberal oder gar demokratisch ausgewirkt hätte. Im Gegenzug zur Entstehung der damals noch halbwegs marxistisch gesinnten Arbeiterschaft, die sich in der Partei der Sozialdemokraten ein politisches Sprachrohr zu verschaffen suchte, begünstigte diese Entwicklung eher die fatale Neigung der Großindustriellen, sich voll und ganz dem imperialistischen Kurs des Kaisers und der von ihm eingesetzten Regierungen anzuschließen, um so – im Zuge der gewaltig angekurbelten wirtschaftlichen Konjunktur – eine Profitakkumulation zu erreichen, mit der sie ihre Machtstellung ständig zu vergrößern hofften.9 Ihnen ging es nicht mehr um die Errichtung einer Deutschen Demokratischen Republik, wie noch dem linken Flügel des Bürgertums während der Achtundvierziger Revolution, sondern um eine Allianz von Krone und Kapital, von der sie sich ökonomisch wesentlich mehr versprachen als von irgendwelchen „demokratischen“ Experimenten, die sie der unwägbaren Kontrolle gewisser arbeiterfreundlicher Parteien unterstellt hätte. Sie fühlten sich wohl unter ihrem Kaiser, der ihnen in der Villa Hügel in Essen sogar seine Aufwartung machte und sich ständig gegen die auch von ihnen gehaßten „vaterlandslosen Gesellen“ unter den Sozialdemokraten ausließ. Eine Republik, dachten sie, würde ihnen nur Nachteile, aber keine Vorteile bieten. Also blieben sie kaisertreu, wie man damals sagte, ja vermieden den Umgang mit dem „Pöbel“, ja sogar mit dem finanziell weniger gutgestellten bürgerlichen Mittelstand, sowie dem, was man in jenen Zeiten noch als Kleinbürgertum bezeichnete. „Was soll da Liberalismus, ist nicht genehm, / Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“, hätte ein sozialkritischer Autor schon damals dichten können. Aber gab es um die Jahrhundertwende solche Autoren überhaupt noch? Oder hatten sich die meisten unter ihnen – nach der kurzen Phase des sogenannten Naturalismus während der Zeit der Gesetze gegen die „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, als es in den Künsten vereinzelt zu einer proletarischen Milieuschilderung, ja sogar zu Protesten gegen die kapitalistische Ausbeutung gekommen war – nicht schon in den neunziger Jahren wieder in die ästhetischen Innenräume eines luxurierenden Impressionismus, Jugendstils und Symbolismus zurückgezogen, um sich somit wenigstens künstlerisch von der Welt der geldgierigen „Raffkes“, der neupreußischen Protzeneitelkeit sowie der immer noch ärmlich dahinlebenden „Arweder“ abzusetzen?10 Ja, wie verhielten sich überhaupt die bürgerlichen Mittelschichten dem ständigen Säbelrasseln sowie der rapiden Industrialisierung gegenüber? Paßten sie sich wirklich alle dem Trend zur neupreußischen Militarisierung an, wie das Heinrich Mann mit der 158

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Figur seines Diederich Heßling in dem Roman Der Untertan (1914) auf einen für diese Gesellschaftsschicht bezeichnenden Nenner gebracht hat? Oder wurden ihre Großverdiener lediglich profitgierige Schlemmernaturen, wie das der gleiche Heinrich Mann in seinem Roman Im Schlaraffenland (1900) darzustellen versuchte? Keineswegs. In Wirklichkeit war die ideologische wie auch die sich daraus ergebende literarische und kulturelle Einstellung des mittelständischen Bürgertums der wilhelminischen Ära wesentlich facettenreicher. Schließlich gab es in dieser gesellschaftlichen Schicht neben vielen Ja-Sagern oder gedankenlosen Mitläufern auch einige Einsichtsvolle, die durchaus die gefährlichen, zum Krieg führenden Konsequenzen der chauvinistischen Hochstimmung dieser Jahre erkannten. Aber ihre Stimmen wurden weitgehend von jenen Publizisten oder Schriftstellern übertönt, denen man bisher in diesem Zusammenhang nur selten die gebührende Beachtung geschenkt hat. Gehen wir also im Folgenden ruhig etwas nachdrücklicher auf die Frage ein: Wie verhielt sich denn der bürgerliche Mittelstand, der um 1900 zum Hauptträger der philosophischen und kulturtheoretischen Entwicklung geworden war, jenem wilhelminischen Imperialismus gegenüber, wie ihn die Kaiserclique und die besitzgierigen Großindustriellen anzufachen versuchten? Nahm er ihn gar nicht wahr, stellte er sich ihm entgegen, befürwortete er ihn oder bemühte er sich sogar, ihn politisch zu überbieten?

IV Da sowohl die deutsche als auch die internationale Neuhistorikerzunft diesen Aspekten wesentlich weniger Beachtung geschenkt hat als den diplomatiegeschichtlichen oder wirtschaftswissenschaftlichen Gesichtspunkten, sei ihnen anschließend eine etwas ausführlichere Aufmerksamkeit gewidmet, um so gegen Ende zu einem etwas ausgewogeneren Urteil über die deutsche Schuld am Ersten Weltkrieg zu gelangen. Im Hinblick auf die vier möglichen Reaktionen innerhalb der wilhelminischen Bourgeoisie auf die damaligen imperialistischen Bemühungen läßt sich – etwas vereinfacht gesprochen – Folgendes sagen. Selbstverständlich gab es eine numerisch beträchtliche Schicht, die diese Tendenzen gar nicht wahrzunehmen versuchte. Dazu gehörten vor allem jene gebildeten Mittelständler, die aufgrund ihres dünkelhaften Ästhetizismus alles Tagespolitische von vornherein „degoutant“ fanden und sich demzufolge in jenen Bereich zurückzogen, den Thomas Mann später mit dem Begriff der „machtgeschützten Innerlichkeit“ umschrieben hat. Auf sie soll darum in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden. Das gleiche gilt für jene Gruppen, die sich im Gefolge 159

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von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Bertha von Suttner gegen Ende des Zweiten Kaiserreichs den immer rabiater werdenden imperialistischen Bestrebungen entgegenzustellen bemühten. Sie waren jedoch – trotz nicht genug zu lobender Anstrengungen – viel zu klein, um gesellschaftspolitisch effektiv zu werden. Schließlich standen den 10.000 Mitgliedern der Deutschen Friedensgesellschaft im Jahr 1914 etwa 3.250.000 Mitglieder der nationalistisch-militaristischen Verbände gegenüber.11 Eine wesentlich größere Bevölkerungsschicht, wenn nicht gar die überwältigende Mehrheit der Mittelständler ließ sich dagegen von den weitgehend imperialistisch gestimmten Feiern, Reden, Paraden und systemimmanenten Zeitungsartikeln einfach mitreißen, in Kaiser und Reich die höchsten Autoritäten zu sehen sowie die mit dieser Ideologie verbundene Gesinnung als die ihre zu empfinden. Wie in allen Regimen, ob nun autoritären oder demokratischen, am zahlreichsten waren deshalb auch in der Ära des Wilhelminismus die Mitläufer, die Ja-Sager, die Angepaßten, die jede gesellschaftskritische Äußerung, um sich nicht in ihren sozioökonomischen Status-quo-Vorstellungen beirren zu lassen, sofort als ungehörig, wenn nicht gar als „nestbeschmutzend“ empfanden. In diesen Schichten herrschte demzufolge in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg fast durchgehend eine hurrapatriotische Bejahung der imperialistischen Politik Wilhelm II., weshalb sie die Verstärkung der Armee, den Ausbau der Kriegsmarine sowie die mögliche Eroberung neuer Kolonien in Afrika und Asien durchaus begrüßten. Hier rasselte man mit deutschbetontem Übermut ständig mit dem Säbel, stimmte hohenzollernfromme Lieder an und blickte zugleich voller Hochmut auf die 1870/71 gedemütigten, ja als dekadent empfundenen Franzosen herunter. Da jedoch diese chauvinistischen Gefühlsentladungen nicht zu greifbaren Erfolgen führten und das Zweite Kaiserreich trotz seiner militärischen und wirtschaftlichen Stärke, mit der es alle anderen Länder Europas übertraf, dennoch ein koloniearmes, in Mitteleuropa eingezwängtes Land blieb, traten im gleichen Zeitraum auch einige von grandiosen Überbietungsentwürfen besessene Führernaturen und Verbände auf, die mehr, wesentlich mehr wollten als eine Verstärkung der bereits im Bismarck-Reich vorgegebenen Tendenzen ins Chauvinistische. Sie drangen deshalb immer stärker darauf, in dem neugegründeten Reich nicht nur ein zentraleuropäisches Staatsgebilde zu sehen, sondern sich endlich darum zu bemühen, ihm eine seiner Größe und Bedeutung entsprechende politische und ökonomische Weltmachtstellung zu verleihen.

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Die Traktate, Manifeste, Dramen und Romane dieser Richtung, welche sich gern als „Völkische Opposition“ ausgab, waren schon in den neunziger Jahren geradezu Legion.12 Zu ihren wichtigsten Wegbereitern gehörten anfänglich die sogenannten Sozialdarwinisten, die im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs des neuen Reichs immer nachdrücklicher erklärten, daß das biologische, sprich: wirtschaftliche Recht der Stärkeren vor allem darin bestehe, nicht nur die Schwachen im eigenen Lande, sprich: das Proletariat, sondern auch die biologisch minderwertigen Bevölkerungsschichten anderer Länder zu unterdrücken oder gar auszurotten, um so die „würdevollen“ Vertreter der Menschheit vor einem Absinken ins Dekadente und damit Unheroische zu bewahren, wie es etwa in dem 1895 erschienenen Traktat Von Darwin zu Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik von Alexander Tille heißt.13 Er und andere Sozialdarwinisten, ob nun Otto Ammon, Alfred Ploetz oder Wilhelm Schallmeyer, setzten sich deshalb schon zu diesem Zeitpunkt für „deutschstärkende“ Konzepte wie Eugenik, Rassenhygiene, Aufartung, ja selbst Euthanasie ein, statt jenem von der SPD vertretenen sozialistisch-libertären „Glücksutilitarismus“, das heißt einer friedlichen „Völkerverbrüderung“ zu huldigen, die lediglich zu einer Schwächung der nationalbewußten Instinkte führen würde.14 Doch es waren nicht nur die Vertreter des Sozialdarwinismus, die sich als Völkische Opposition zur wilhelminischen Reichspolitik aufspielten, die ihnen zu zahm, zu gemäßigt, zu „saturiert“ erschien, um dem Deutschen Reich – aufgrund seiner ökonomischen Großleistungen – endlich die ihm zustehende Weltmachtstellung zuzusichern. Zugleich entstanden bereits in den neunziger Jahren und dann um die Jahrhundertwende eine Fülle betont völkisch-imperialistischer Organisationen wie der Deutsche Flottenverein, der Deutschnationale Flottenverein, der Verein der Deutschen im Ausland, die Deutsche Kolonialgesellschaft, der Deutsche Kriegerbund, der Wehrkraft-Verein, der Deutsche OstmarkenVerein, der Bund der Landwirte, der Centralverband deutscher Industrieller, der Reichsdeutsche Mittelstandsverband, der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband, der Reichshammerbund, der Deutschbund unter Friedrich Lange sowie der Alldeutsche Verband unter Heinrich Claß, Ernst Hasse, Alfred Hugenberg, Emil Kirdorf und Carl Peters, die teils kaisertreue, teils völkisch-oppositionelle Anschauungen vertraten. Doch die militante, auf Landerwerb und Kapitalakkumulation bedachte Komponente war bei fast allen dieser Vereinigungen die gleiche. So erklärte etwa der Deutschbund, daß es ihm zwar vor allem um das „Deutsche“ schlechthin gehe, er aber „für diesen Zweck auch den Krieg nicht

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scheue“, da er im Krieg „eine heilige Pflicht und ein höchstes Opfer“ für das Wohl unseres Volkes sehe.15 Wohl die aggressivste Gesinnung innerhalb dieser Organisationen herrschte im Alldeutschen Verband,16 zu dessen Gründungsmitgliedern der Kolonialpolitiker Carl Peters, der geopolitisch eingestellte „Lebensraum“-Theoretiker Friedrich Ratzel, der Ansiedlungskommissar in der Provinz Posen und spätere Vorstand des Direktoriums der Krupp-Werke Alfred Hugenberg sowie der Generaldirektor der Gelsenkirchener Bergwerks-AG, des größten Kohlenbergbauunternehmens Europas, Emil Kirdorf gehörten. Sein Hauptziel war eine aggressive Annexionspolitik, die sich weniger volksbetonte als wirtschaftspolitische Ziele setzte und in dem auch von Alexander Tille vertretenen Konzept gipfelte, daß die zukünftige deutsche Politik zur Eroberung neuer überseeischer Rohstoffgebiete und Absatzmärkte sowie neuer Siedlungsräume in Osteuropa bereit sein müsse.17 Die Vertreter dieser Richtung schreckten demzufolge nicht davor zurück, den alten Slogan „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ aus dem Bereich des Geistigen zusehends in den Bereich des Geopolitischen zu übertragen und jede humanistisch-liberale Anwandlung sofort als ein Zeichen völkischer Schwäche auszulegen. Sie sahen daher im Wilhelminischen Reich nur ein Zwischen- oder Interimsreich, auf das in nicht allzu ferner Zukunft ein neues, alle ihre Hoffnungen einlösendes Drittes Reich folgen müsse, in dem das deutsche Volk endlich die Chance erhalten würde, sich aufgrund seiner angestammten Kraft und Herrlichkeit zur führenden politischen und wirtschaftlichen Weltmacht aufzuschwingen. Als die Haupthindernisse auf diesem Weg betrachteten die Führer dieses Verbands einerseits die altstämmige Fürstenclique und die mit ihr liierte Landjunkerelite, durch welche die deutsche Politik immer wieder in höchst traditionelle, kontinentaleuropäische Bahnen zurückgelenkt werde, andererseits jene „vaterlandslosen Gesellen“ unter den Sozialdemokraten, die wegen ihrer anarchischen Aufmüpfigkeit, ihres hochverräterischen Internationalismus, ihrer minderwertigen Rassevoraussetzungen sowie ihrer alle bisherigen Eigentumsverhältnisse in Frage stellenden sozialistische Forderungen eine nicht zu unterschätzende Gefahr für den „gesunden Mittelstand“ und die von ihm erhoffte Vormachtstellung der Deutschen darstellten.18

V Doch es waren nicht nur die Kaisertreuen sowie die Vertreter der Völkischen Opposition, die dementsprechende Anschauungen vertraten, auch im Rahmen der sogenannten kulturellen Elite kam es in diesem Zeitraum immer wieder zu 162

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ähnlich gearteten Bekenntnissen. Allerdings gab man sich in diesem Bereich wesentlich vornehmer. Hier versuchte man solchen Anschauungen eher einen betont geistigen, pseudoreligiösen, kulturphilosophischen, kurz: ins Idealische erhobenen Anstrich zu geben, anstatt sie wirtschaftspolitisch zu rechtfertigen. Und aus solchen Bemühungen entwickelte sich schließlich in den späten neunziger Jahren jene neuromantisch-konservative Richtung, die sich als „Fortschrittliche Reaktion“ verstand,19 in der später sowohl die Vertreter der „Konservativen Revolution“ als auch viele Präfaschisten der zwanziger Jahre eine ebenso wichtige Grundlage ihrer eigenen Gedankengebäude sahen wie in den Parolen des Alldeutschen Verbands oder anderen Schriften der Völkischen Opposition. Statt sich schamlos in den Dienst der kapitalstarken Kreise zu stellen, huldigten die meisten Vertreter dieser Richtung, unter denen sich viele idealistisch verblendete Schriftsteller befanden, weniger einer nackten Besitzgier und einem ebenso unverhüllten Herrschaftswillen als Wertvorstellungen wie Geistigkeit, Glauben und gesamtgesellschaftliche Bindung, um so eine Stärkung der innerdeutschen „Wesenszüge“ zu befördern, wobei sie meist weltanschauliche Konzepte vertraten, welche sie als Ausdruck spezifisch mittelständischer Intelligenzanschauungen empfanden. Als ihre fünf Hauptschlagworte verwandten sie hierbei gern Maximen wie „Idealismus statt Materialismus“, „Kultur statt Zivilisation“, „Religio statt Liberatio“, „Volk statt Masse“ oder „Nationale Eigenart statt Völkerchaos“. Noch am harmlosesten äußerte sich dieser Drang ins „Wesensbetonte“ in jenen Traktaten oder auch literarischen Werken, in denen um 1900 dem herrschenden Materialismus im Zuge neokantianischer oder neofichteanischer Anschauungen ein neuer Idealismus oder gar Wertaktivismus entgegengesetzt wurde. Allerdings trat dabei meist eine deutliche Nationalisierung des älteren deutschen Idealismus ein, indem ihre Vertreter der angeblichen „Oberflächlichkeit“ der Franzosen eine nicht näher begründete deutsche „Tiefe“ entgegenhielten. In solchen Schriften wie auch in all jenen, die sich mit missionarischem Pathos auf die Maxime „Kultur statt Zivilisation“ beriefen, war zwar nicht von einem Kolonialimperium, aber doch von einem „Deutschen Weltreich des Geistes“ die Rede, mit dem keine andere Nation konkurrieren könne. Ähnliches trifft auf jene Gruppen zu, welche das Motto „Religio statt Liberatio“ auf ihre Fahnen schrieben, die in ihren lyrischen Ergüssen oder romanhaften Erbauungsschriften der liberalistischen Veräußerlichung innerhalb der westlichen Demokratien gern die althergebrachte deutsche Neigung zu mystischer Wesensschau oder artgemäßer Glaubensgewißheit entgegensetzten, wobei sie entweder eine 163

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„Eindeutschung des Christentums“ propagierten oder im Rahmen synkretistischneureligiöser Bünde, Kreise und Orden, wie dem Werdandi-Bund, dem MitgartBund, dem Vortrupp, dem Sankt-Georgs-Bund, dem Sera-Kreis, dem Wälsungen-Orden, der Deutschen Erneuerungsgemeinde, dem Deutschen Skaldenorden oder den Nordungen, im Zuge der von ihnen angestrebten Remythisierung nicht zögerten, auch spezifisch chauvinistische Konzepte in ihre Religionsvorstellungen einzubeziehen. Das gleiche gilt für all jene Gruppen, die sich hierbei auf die Formel „Volk statt Masse“ beriefen. Sie legten den Hauptakzent ihrer Ideologie meist auf einen nationalen Gesamtwillen, das heißt stellten den Dienst am Staat wesentlich höher als die Interessen der Einzelnen oder auch gewisser gesellschaftlicher Kasten. Wie manche Vertreter der Völkischen Opposition gingen dabei ihre Anhänger in ihren deutschbetonten Hoffnungen ebenfalls häufig über das wilhelminische Zwischenreich hinaus und faßten eine nationale Höherartung ins Auge, die sich eindeutig gegen den Sozialismus, das pöbelhafte Großstadtwesen und die Hie­ rarchie der römisch-katholischen Kirche wandte, welche sie als antideutsche Ausprägungen der „roten, grauen und schwarzen Internationale“ anprangerten. Derartige Ideologiegebilde kulminierten letztlich in einem nationalen Gemeinschaftsdenken, dem selbst in vielen literarischen Werken eine geradezu religiöse Hingabe an einen „Zwingherrn zum Deutschtum“ zugrunde lag. An Beispielen dafür ist zwischen 1900 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs kein Mangel. Nicht nur betont reaktionäre Publizisten wie Arthur Moeller van den Bruck und Oswald Spengler, auch geistidealistische Romanschriftsteller, wie Max Haushofer in Planetenfeuer (1899), Hermann Burte in Wiltfeber (1912), Heinrich Teut in Neudeutschland (1913), Friedrich Lienhard in Der Spielmann (1913), Hanns Ludwig Rosegger in Der Golfstrom (1913) und Ernst Wachler in Osning (1914), bekannten sich damals in ihren Werken zu mit „faustischen“ Kräften begabten Führernaturen, die das deutsche Volk aus den Niederungen einer kleinmütigen Gesinnung wieder zu neuen, noch ungeahnten Höhen emporführen würden.20 Wie die Vertreter des Alldeutschen Verbands oder die Tat-Autoren unter Ernst Horneffer trat selbst der sich ursprünglich als einsamer Ästhet ausgebende Stefan George nach 1900 für solche Vorstellungen ein. So schrieben etwa seine Anhänger Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters 1912 in dem von ihnen herausgegebenen Jahrbuch für die geistige Bewegung – durchaus im „herrischen“ Ton der damaligen Alldeutschen – im Hinblick auf ihn: „Der herrscher tut not! Darum nehmen wir nicht von der menschheit, sondern nur vom Manne gebot und bild“, um sich damit in aller Schärfe von den „flach rationalistischen tendenzen“ 164

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innerhalb der Frauenbewegung, der unkriegerischen Haltung der Sozialdemokraten wie überhaupt von allen „feigen knechten der humanität“ abzusetzen, die lediglich zu einer ins Plebejische tendierenden „artverschlechterung“ beigetragen hätten.21 Ebenso folgenreiche Manifestationen erlebten derartige Anschauungen bei jenen hochgestochenen Führernaturen der Fortschrittlichen Reaktion, die ihrer Ideologie – im Sinne einer ariogermanischen Erwähltheitsgesinnung – das Motto „Rasse statt Völkerchaos“ zugrunde legten.22 Obwohl sich dabei mehrere Richtungen unterscheiden lassen, stimmten diese Gruppen in ihren Endzielen, nämlich der Zurückdrängung der angeblich rassisch minderwertigen TschandalaIdeologie der Sozialdemokraten sowie der aggressiven Befürwortung germanischer Landnahmekonzepte, weltanschaulich weitgehend überein. Das gilt nicht nur für die Gobineau- oder Chamberlain-Anhänger, welche in sämtlichen staatlichen oder kulturellen Leistungen lediglich das Werk arischer Herrenschichten erblickten, während sie bei allen niederen Rassen allein die Neigung zu einem alles nivellierenden „Völkerchaos“, einer „Cloaca gentium“, konstatierten, sondern auch für Germanenschwärmer wie Willibald Hentschel, Jörg Lanz von Liebenfels, Guido von List, Joseph Ludwig Reimer, Wilhelm Schwaner und Ludwig Wilser, die in den bürgerlichen Edelmenschen unter den Deutschen, als den letzten Nachkommen der urzeitlichen Arier oder Armanen, jene Bevölkerungsschicht sahen, die von der Vorsehung zur Weltherrschaft berufen sei, um die Menschheit vor einer völligen „Bastardisierung“ und damit Entartung ins Untermenschliche zu bewahren. Ja, manche von ihnen vertraten schon damals die Forderung, arische Lebensbornkolonien anzulegen, die sich ausschließlich der Aufzucht einer rassenstarken Nachkommenschaft widmen würden, aus denen sich im Laufe der Zeit eine „neue völkische Oberschicht“ bilden werde.23 Am aggressivsten gebärdete sich dabei jener von einem Konsortium vermögender Großindustrieller und Hochadliger unterstützte Jörg Lanz von Liebenfels, der 1906 in seiner Theozoologie oder die Kunde von den Sodoms-Äfflingen und dem Götter-Elektron schrieb: „Wir wollen unser Schwert geschliffen und unsere Kriegsleier gestimmt halten, wenn’s losgeht zur Wiedereroberung der Welt. Was warten wir noch? Überall ist Menschenmangel, während wir auf kleiner deutscher Erde verhungern vor Menschenüberfluß. Der Erdball war und ist Germaniens Kolonie! Jedem wackeren deutschen Soldaten ein Bauernhof, jedem Offizier ein Rittergut! Ich möchte sehen, ob wir da nicht alles niederwerfen würden. Bisher haben nur die Romanen und Slawen gegen uns geschürt. Nun aber beginnen auch wir zu schüren, bis die Funken aus den Schloten deutscher Schlachtschiffe 165

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stieben und die Feuerstrahlen aus deutschen Geschützen zucken. Noch einmal über die Alpen, noch einmal nach Ost und West auf uralten Väter-Kriegspfaden und Ordnung gemacht unter der zänkischen Udumubande.“24 Während in den Bereichen „Idealismus statt Materialismus“, „Kultur statt Zivilisation“ und „Religio statt Liberatio“ der mittelständische Durchsetzungsdrang noch zum Teil ins Geistaristokratische tendierte, brach also in den Bereichen „Volk statt Masse“ und „Rasse statt Völkerchaos“ selbst im Umkreis der Fortschrittlichen Reaktion häufig der gleiche ungezügelte Haß auf die von der Sozialdemokratie erfaßten Arbeitermassen sowie der gleiche Drang ins Imperialistische durch, der auch die sozialdarwinistisch-alldeutsch orientierten Gruppen der Völkischen Opposition motiviert hatte. Auf diesem Sektor gingen deshalb diese beiden Richtungen in den Jahren vor 1914 immer stärker ineinander über, wodurch sie schließlich in vielen, wenn auch nicht allen ihrer Schriften eine ideologische Einheitsfront bildeten, die trotz mancher hochtönenden Religionsund Kulturkonzepte nicht über den präfaschistisch-aggressiven Charakter ihrer kapitalistischen Annexionsbestrebungen hinwegtäuschen können.

VI Ihren ersten Höhepunkt erreichte diese imperialistische Stimmungsmache, bei der man kaum noch zwischen einem neupreußischen Säbelrasseln bzw. chauvinistischen, sozialdarwinistischen, völkisch-oppositionellen, fortschrittlich-reaktionären und rassistischen Spielarten unterscheiden kann, im Jahr 1912. Das hing zum Teil damit zusammen, daß in diesem Jahr die Sozialdemokraten zum ersten Mal als stärkste Partei in den Reichstag einziehen konnten. Der damit verbundene Linksruck versetzte allen rechts der SPD stehenden Parteien einen solchen Schock,25 daß sie im Ankampf gegen diese als friedliebend geltenden „vaterlandslosen Gesellen“ ihre imperialistisch-kriegslüsternen Parolen noch weiter verstärkten, um so – wie Bismarck in dem von ihm 1870 provozierten Feldzug gegen Frankreich – durch einen neuen Krieg einen alle Bevölkerungsschichten erfassenden nationalen Gesamtwillen zu erzwingen. Dafür zwei Beispiele. So wurde von den sozialdarwinistisch eingestellten Kreisen jetzt die „Pflicht zum Krieg“ als eine geradezu biologische Notwendigkeit hingestellt, was Friedrich von Bernhardi 1912 in seinem vielbeachteten Buch Deutschland und der nächste Krieg – im Sinne des oft beschworenen „Kampfs ums Dasein“, in dem sich die Stärkeren stets als die Sieger erwiesen hätten – in die Formel „Weltmacht oder Untergang“ kleidete.26 In dasselbe Horn stieß der Vorsitzende des Alldeutschen Verbands Heinrich Claß, der im gleichen Jahr in 166

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seinem Manifest Wenn ich Kaiser wär’ einen verschärften Antisozialismus sowie einen weltwirtschaftlich orientierten Imperialismus als die beiden Hauptziele der deutschen Politik bezeichnete. Dementsprechend wehrte er sich einerseits gegen die „unterminierenden Tendenzen“ der SPD, welche zu einer bedenklichen Abschwächung der deutschen Industrie führen könne, und forderte andererseits eine aggressive „Ausdehnung nach Südosten“ sowie die Eroberung neuer Kolonien, um den Deutschen endlich genug „Land zur Ansiedlung“ zu verschaffen. Doch um eine solche Politik zu betreiben, die sich einzig und allein zu „völkischen Zielen“ bekenne, wie er schrieb, müsse man erst die bestehenden Parlamente, ja vielleicht sogar den Kaiser abschaffen und nach einem wahrhaft deutsch-nationalen „Führer“ Ausschau halten, der nichts anderes wolle, als das deutsche Volk so groß und stark zu machen, daß es zur führenden Weltmacht aufsteigen könne.27 All das führte im Jahr 1913 bei jenen Festveranstaltungen, die am 15. Juni anläßlich der 25. Wiederkehr des Regierungsantritts Wilhelm II. und dann noch einmal am 18. Oktober bei den in größtem Maßstab aufgezogenen Zentenarfeiern der Völkerschlacht von Leipzig stattfanden, zu wahren Orgien imperialistisch angeheizter Gefühlsentladungen. Bei beiden Anlässen wurde häufig das Arndtsche Vaterlandslied von 1812 angestimmt, das mit der Zeile „Der Gott der Eisen wachsen ließ“ beginnt und dann in die Strophe mündet: „Wir wollen heute Mann für Mann / Mit Blut das Eisen röten, / Mit Henkersblut, Franzosenblut – / O süßer Tag der Rache! / Das klingt allen Deutschen gut, / Das ist die große Sache.“28 Aufgrund dieser patriotischen Hochstimmung war es für die Reichsregierung im Jahr 1913 ein Leichtes, im Reichstag einen Wehrbeitrag von 1,05 Milliarden Mark durchzusetzen, der alle Jahresausgaben auf diesem Gebiet seit 1871 bei weitem übertraf, um so für jeden eintretenden „Notfall“, wie es beschönigend hieß, bis auf die Zähne gewappnet zu sein und sich damit dem „rühmlichen Vorbild unserer Väter“ würdig zu erweisen. Und der Propagandaeffekt all dieser Maßnahmen, ob nun der Feiern zum 25. Regierungsjubiläums Wilhelm II. oder zur 100. Wiederkehr der Völkerschlacht von Leipzig sowie der Verstärkung der deutschen Armee, hatte durchaus die gewünschte Wirkung. Überall war plötzlich von den Deutschen als einer großen „Schicksals- und Opfergemeinschaft“ die Rede, wie es 1913 in einer Weiheschrift des deutschen Patriotenbundes hieß, in der sich jeder einem höheren Willen unterzuordnen habe.29 Als darum in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 der Krieg tatsächlich begann, kam es zu deutschnationalen Gefühlsentladungen, die selbst jene von 1813 und 1871 noch überboten. Die Mehrheit der Deutschen sah in diesem 167

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Ereignis ein geradezu erwartetes, wenn nicht gar erwünschtes Signal zu einem Aufbruch ins Heldische oder sie zumindest zu einem nationalen Tataktivismus Anfeuernde. Nicht nur die reichspatriotisch gesinnten Kreise der monarchisch eingestellten Adelskaste, der nationalgesinnten Bourgeoisie und der Völkischen Opposition, sondern auch viele Wissenschaftler und Künstler sowie große Teile des Kleinbürgertums und der Arbeiterklasse ließen sich von dem in der system­ immanenten Presse hochgejubelten „Augustwunder“ einfach mitreißen. Nur so läßt sich erklären, daß auf den Straßen von Berlin Zehntausende den Choral Nun danket alle Gott anstimmten, als Wilhelm II. die Parole ausgab „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Vom Strom eines „einheitlichen Volksbewußtseins“ ergriffen, wie es hieß, hatten die meisten das Gefühl, daß dieser so gläubig, so idealistisch begonnene Krieg zur Beseitigung all jener ichsüchtigen, liberalistischen und materialistischen Ideen der von der Französischen Revolution von 1789 in die Welt gesetzten „Irrlehren“ und damit zu einem Sieg von Wertvorstellungen wie Gemeinschaftlichkeit, Opferbereitschaft und Kulturbewußtsein führen müsse.

VII Alles Weitere ergab sich daraus fast von selbst. In den folgenden Monaten entblödeten sich selbst bedeutende deutsche Schriftsteller und Geisteswissenschaftler keineswegs, diesen Krieg als „Deutschlands europäische Sendung“, als „Mobilmachung der Seelen“, als „Deutschlands Weltberuf“, als Krieg „der Helden gegen die Krämer und Händler“, als „Gotteskampf“, als „Dahinschmelzen der kleinen Egoitäten“, als Wandlung aus einem bloßen Zweckverband in ein „Sacrum imperium“ hinzustellen,30 ohne zu erkennen, daß dieser angebliche Kreuzzug des deutschen Geistes gegen den materialistischen Ungeist des „Westens“ letztlich ein imperialistisch motivierter Raubkrieg war, den die wilhelminischen Führungsschichten sowie die hinter ihnen stehenden Großindustriellen und Wehrvereine im Herbst 1914 höchst bewußt vom Zaun gebrochen hatten, um dem deutschen Reich endlich die von ihnen erhoffte Machtposition in Europa, wenn nicht gar in der Welt zu verschaffen. Schon kurz nach Kriegsbeginn entwarfen darum diese Kreise, wie etwa die Alldeutschen, die in den von kulturmissionarischen Vorstellungen verblendeten Geistaristokraten lediglich „nützliche Idioten“ sahen, weitausgreifende Annexionspläne, wobei sie nicht nur auf dem europäischen Kontinent, sondern auch in Übersee eine Reihe von Gebieten ins Auge faßten, die nach dem Sieg der sogenannten Mittelmächte – also Deutschlands, der Habsburger Monarchie und des Osmanischen Reichs – Teile eines 168

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erweiterten deutschen Imperiums, ja eines schon damals anvisierten Groß- oder gar Größtdeutschlands werden sollten. Doch damit verlassen wir bereits die hier angeschnittene Fragestellung, ob oder inwieweit die imperialistische Stimmungsmache, die im Zweiten Kaiserreich zu Beginn der neunziger Jahre einsetzte, geradezu zwangsläufig zum Ersten Weltkrieg geführt habe. Nach einer genaueren Überprüfung aller verfügbaren Fakten ist man versucht, diese Frage mit einem klaren „Ja“ zu beantworten. Wenn man jedoch die gesamteuropäische Situation während der beiden Jahrzehnte vor 1914 ins Auge faßt, sollte man sich vielleicht eher mit einem vorsichtig abwägenden „Jein“ begnügen. Schließlich herrschte in diesem Zeitraum in fast allen europäischen Staaten ein propagandistisch aufgebauschter Imperialismus, der sich in einer rücksichtslosen Machtpolitik äußerte. Auch die Führungsschichten anderer Länder glaubten sich damals aufgrund des technologischen Vorsprungs der weißen Rasse durchaus berechtigt, sich große Teile Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und der Südsee mit Heeresgewalt aneignen zu können. Großbritannien hatte um 1900 bereits 23 Prozent der Weltbevölkerung seiner Macht unterstellt. Frankreichs Kolonien waren 95 mal größer als Frankreich selber. Selbst kleinere Länder wie Belgien, Holland, Italien und Portugal verfügten über große Kolonialterritorien in Afrika und Asien. Nur Deutschland – obwohl es die stärkste Wirtschaftsmacht unter den europäischen Staaten war – war bei dieser Aufteilung der Erde etwas zu spät gekommen und konnte demzufolge nur noch Restgebiete in Afrika und der Südsee ergattern. Daher war in diesem Land, wie gesagt, der Druck, sich neue Siedlungsgebiete, Rohstoffquellen und Absatzmärkte zu verschaffen, weitaus am stärksten. So gesehen, war nicht Deutschland allein am Ersten Weltkrieg schuldig. Die eigentliche Schuld war eher systemimmanent und geht letztlich auf jenen „Imperialismus“ zurück, der sich geradezu zwangsläufig aus der kapitalistisch durchgeführten Industrialisierung und all ihrer Folgeerscheinungen ergab. Zu fragen bliebe nur noch, ob sich daran in der Folgezeit viel geändert hat. Die Ausbeutung großer Teile der sogenannten Dritten Welt wird zwar heute eher mit postkolonialen oder angeblich globalisierenden Schlagwörtern verschleiert, aber die dahinter stehenden wirtschaftlichen und finanzpolitischen Interessen sind letztlich die gleichen geblieben. Und solange diese nicht gezügelt werden, wird es auch weiterhin Kriege geben, bei denen, wie schon im Ersten Weltkrieg, die wirtschaftlichen Interessen nach wie vor mit propagandistisch aufgebauschten Ideologiekonzepten verschleiert werden.31

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Von Grund auf anders? Georg Kaisers expressionistische Wandlungsdramen Die Koralle, Gas, Gas. Zweiter Teil, Hölle Weg Erde und Gats (1917–1925)

I Als der von Kaiser Wilhelm II. mit Unterstützung seiner Ministerriege, der ostelbischen Junker, der hohen Militärs, der Großindustriellen und der vielen chauvinistisch gestimmten Kriegervereine und Wehrverbände im August 1914 so siegessicher begonnene Erste Weltkrieg in den Jahren 1916/17 an der Westfront allmählich ins Stocken geriet, flaute die anfänglich chauvinistisch aufgeputschte Hochstimmung innerhalb breiter Schichten der deutschen Bevölkerung allmählich ab. Mehr und mehr Väter und Söhne verbluteten auf den Schlachtfeldern in Frankreich, die Lebensmittel wurden knapper, die Schaufenster der Läden und Warenhäuser entleerten sich, eine allgemeine Geldentwertung trat ein und zugleich sah man auf den Straßen immer häufiger aus Kriegslazaretten entlassene, zu Krüppeln verstümmelte ehemalige Soldaten. Obwohl die Regierung und die Oberste Heeresleitung – weiterhin auf einen gewinneinträglichen Siegfrieden hoffend – geradezu alles taten, ihrem „Volk“ mit strammen Durchhalteparolen und Aufrufen zu Kriegsanleihen eine patriotische Gesinnung einzubleuen, kam es schließlich unter jenen Schichten, die in diesem Krieg nichts zu gewinnen, aber viel, wenn nicht alles zu verlieren hatten, zu offen geäußerten Unmutserklärungen sowie lokalen Streikbewegungen. Vor allem die Karl-Liebknecht-Anhänger unter den „vaterlandslosen Gesellen“ der Sozialdemokraten sahen zusehends ein, daß es bei diesem Krieg nicht um eine Auseinandersetzung zwischen „Händlern und Helden“ ging, wie Werner Sombart 1914 großspurig verkündet hatte,1 sondern es sich um einen Raubkrieg imperialistischer Staaten untereinander handelte, in dem die unteren Bevölkerungsschichten lediglich das Schlachtvieh der herrschenden Klasse bildeten. Als deshalb die Bolschewiki unter Lenin 1917 im Gefolge der von ihnen in Gang gesetzten Russischen Oktoberrevolution die kriegführenden Regierungen zu einer allgemeinen Waffenniederlegung aufforderten, sahen viele Vertreter dieser

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Georg Kaisers expressionistische Wandlungsdramen

Schichten darin erstmals einen hoffungsvollen Schimmer, daß das sinnlose Morden und Getötetwerden endlich aufhören würde. Durch derartige Appelle aufgeschreckt, ließen die regierungstreuen Kräfte, die ihre imperialistischen Annexionshoffnungen keineswegs aufgaben, selbst im letzten Kriegsjahr nicht nach, durch die im März 1918 gegründete Deutsche Vaterlandspartei die sogenannten breiten Massen weiterhin mit zweckoptimistischen Parolen in ihren Bann zu ziehen. Doch das erwies sich seit dem Sommer 1918 als immer aussichtsloser. Nicht nur unter den Soldaten nahm der Widerwillen gegen diesen mörderisch durchgeführten Krieg ständig zu, sogar hinter der Front sahen mehr und mehr Menschen ein, wie verlogen die von der system­ immanenten Presse vertretenen Durchhalteparolen waren. Und so kam es schließlich im November 1918 in Deutschland zu einer Revolution, die das mörderische Kriegstreiben endlich beenden wollte. Was darauf folgte, ist allgemein bekannt. Der Kaiser dankte ab, die Truppen fluteten in das ehemalige Deutsche Reich zurück, allerorten bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte, Friedrich Ebert, der Vorsitzende der Mehrheitssozialdemokraten, rief die Deutsche Demokratische Republik aus, Karl Liebknecht, der Vorsitzende der Unabhängigen Sozialdemokraten, forderte die Gründung einer Deutschen Sozialistischen Republik, ja es wurde sogar eine Kommunistische Partei Deutschlands gegründet, die sich auf die revolutionär gestimmten Gruppen unter den Arbeiter- und Soldatenräten zu stützen versuchte. Trotz aller wirtschaftlichen Misere flackerte damit sowohl in Teilen der Unterschichten als auch bei manchen bürgerlichen Intellektuellen ein Hoffnungsschimmer auf, daß es nach dem autoritären wilhelminischen Reich endlich zu einer Umwälzung ins Liberale, Demokratische oder gar Sozialistische kommen würde. Demzufolge erschienen plötzlich überall Manifeste und Utopien, die diesen Vorgang beschleunigen wollten, jedoch weitgehend im Leeren verhallten, da diese Revolution in erster Linie aus einer Revolte kriegsmüder Soldaten hervorgegangen war, die nach vier Kriegsjahren endlich wieder zu ihren Familien zurückkehren wollten. Und auch bei den kleinbürgerlichen und mittelständischen Schichten, die vornehmlich auf Ruhe und Ordnung bedacht waren, stießen allzu radikale Umsturzvorstellungen weitgehend auf Widerstand. Daher fanden Anfang 1919 weder der Berliner Spartakus-Aufstand noch die Münchner Räterepublik, die lediglich von den Unabhängigen Sozialdemokraten bzw. den Kommunisten unterstützt wurden, eine wirksame Hilfe von seiten der sogenannten breiten Massen. Das Ergebnis der Novemberrevolution war deshalb zwar eine aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene Republik, in der jedoch eine Koalition aus antirevo171

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lutionär gestimmten Mehrheitssozialdemokraten und bürgerlichen Liberalen das Sagen hatte, die an den politischen und sozioökonomischen Verhältnissen, das heißt der Herrschaft der älteren Besitz- und Verwaltungsschichten, wenig änderte. Ja, viele Bürger sahen in der Mehrheit der Sozialdemokraten, welche mit Unterstützung reaktionärer Freikorps eine „Bolschewisierung“ Deutschlands verhindert hätten, im Gegensatz zur wilhelminischen Ära keine verabscheuenswürdigen „vaterlandslosen Gesellen“ mehr, sondern eher verantwortungsbewußte Bewahrer der älteren Gesellschaftszustände, denen sogar der bisher konservativ gesinnte Thomas Mann 1922 in seiner Rede Von deutscher Republik seine Aufwartung machte.

II Dennoch versuchten einige jüngere Schriftsteller, Theaterleute und Maler, diese ins Abwiegelnde tendierende Entwicklung durch eine Fülle revolutionär herausgeschleuderter Werke aufzuhalten. Die meisten unter ihnen verstanden sich als „expressionistische“ Aktivisten, die bereits seit 1917 – trotz aller von den Militärbehörden verfügten Zensur- und Unterdrückungsmaßnahmen – gegen das sinnlose Sterben an der Westfront aufbegehrt hatten und in der Novemberrevolution endlich eine Chance sahen, sich in aller Offenheit zu ihren pazifistischen Anschauungen zu bekennen. Daher nahmen einige von ihnen sogar Kontakte zu den revoltierenden Soldaten auf, gingen in politische Versammlungen, verteilten Flugblätter oder stellten ihre Gemälde auf Straßen und in Bahnhöfen aus. Ja, manche bemühten sich allen Ernstes, ihre bisherigen bohemienhaften Cliquen und Konventikel durch straff geführte Organisationen zu ersetzen, um endlich eine Einheitsfront aller Kriegsgegner, aller Aufbruchsbereiten, wenn nicht gar aller konsequenten „Weltveränderer“ auf die Beine zu stellen.2 Anfangs orientierten sie sich dabei vor allem an den Arbeiter- und Soldatenräten. So wurde beispielsweise gegen Ende 1918 in Berlin ein Politischer Rat geistiger Arbeiter gegründet, der weitgehend aus expressionistisch eingestellten Intellektuellen und Schriftstellern bestand. Eine Reihe von Malern, Architekten und Kunstkritikern schlossen sich kurz darauf zum Arbeitsrat für Kunst zusammen, der für eine enge „Verbindung mit den Führern der Unabhängigen Sozialdemokraten und Kommunisten“ eintrat und den „Bau eines sozialistischen Staats“, in dem es keine kriegslüsternen Großindustriellen mehr geben würde, ins Auge faßte, wie der Bauhaus-Gründer Walter Gropius erklärte.3 Ähnliche Äußerungen finden sich in dem Manifest An alle Künstler, das die Berliner 172

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Novembergruppe 1919 herausbrachte, in dem alle radikal gesinnten Künstler aufgefordert wurden, ihre Kräfte fortan vornehmlich in den Dienst des sogenannten „gemeinen Volkes“ zu stellen, das heißt Kulturhäuser für das Proletariat zu errichten, um so die verhängnisvolle Trennung von Arbeitern und Intellektuellen zu überwinden. Ähnliche oder gleichgestimmte Forderungen finden sich in manchen literarischen Blättern dieser Zeit, wie Der Gegner, Menschen, Die Erde, Das Tribunal oder Der Revolutionär, die zwischen November 1918 und Herbst 1919 gegründet wurden und aus ihrer rebellischen Erregung kein Hehl machten. In ihnen wurde das Kriegsende meist als Akt einer spontanen Massenbewegung, ein Aufbruch ins Paradies des Sozialismus oder eine mit den Augen Rosa Luxemburgs gesehene Volkserhebung hingestellt, was immer wieder zu ins Utopische ausschweifenden Gefühlsentladungen führte, die in ihrer geistigen Radikalität, aber zugleich ihrem unkonkreten Phrasenschwall kaum zu überbieten waren. Fast in allen dieser Proklamationen spürt man, daß der Deutschen Novemberrevolution – im Gegensatz zu Französischen Revolution von 1789 sowie der Russischen Revolution von 1917 – keine längere ideologische Vorbereitungszeit vorausgegangen war, sondern daß sie wie ein unerwartetes Gewitter empfunden wurde, in das man sich so lautstark wie nur möglich einzumischen versuchte, ohne zu erkennen, wie idealistisch verstiegen die meisten solcher expressionistischen Überschwangserklärungen waren, mit denen weder die kriegsmüden Soldaten noch die ausgepowerten Arbeitermassen etwas anfangen konnten. Trotz allen guten Willens verhallte daher die Mehrzahl der expressionistischen Werke im Leeren. Nichts gegen die pazifistische oder sozialistische Gesinnung, die ihnen zugrunde lag! Aber sie wurde zumeist durch ein „Oh Mensch“-Pathos übertönt, welches so weit ins Utopisch-Allgemeinmenschliche auswaberte, daß es jeden Bezug zu den politischen und sozioökonomischen Voraussetzungen der damals herrschenden Verhältnisse verlor. Immer wieder war in derartigen Aufrufen nur vom Krieg an sich, von Unfreiheit schlechthin, von Unterdrückung im allgemeinen die Rede, denen man Idealvorstellungen wie Gewaltlosigkeit, Menschheitsverbrüderung, Umsturzverlangen oder ähnlich klingende Idealkonzepte entgegensetzte, statt endlich jene wilhelminischen Führungsschichten so unbarmherzig und zugleich so realistisch wie nur möglich an den Pranger zu stellen, welche wegen ihrer imperialistischen Unersättlichkeit zu den Hauptschuldigen des eben beendeten Kriegs gehörten. Im Gegensatz zu den rechtsradikalen Gruppen, die bereits zu diesem Zeitpunkt mit ihrer Dolchstoß-Legende vor allem die Sozis und Juden für die Niederlage 173

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Deutschlands in dem so siegreich begonnenen Ersten Weltkrieg verantwortlich machten, hätten die Expressionisten viel stärker herausstellen sollen, wie planmäßig die deutschen Militärs, die Großindustriellen und Großagrarier sowie die Kriegervereine, die Deutsche Kolonialgesellschaft, der Deutsche OstmarkenVerein, der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein, der Wehrverein, der Deutschbund und vor allem der Alldeutsche Verband mit ihren weitreichenden Annexionsgelüsten die Herbeiführung des Ersten Weltkriegs betrieben hatten.4 Von Theobald von Bethmann Hollweg, Heinrich Claß, Alfred Hugenberg, Emil Kirdorf, Hugo Stinnes, August Thyssen, Alfred von Tirpitz und Konsorten ist daher in ihren Revolutionsaufrufen selten oder nie die Rede. Statt sich mit den Folgen der rapiden Industrialisierung Deutschlands zwischen 1871 und 1914 auseinanderzusetzen, durch die dieses Reich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zur zweitstärksten Industriemacht der Welt – nach den USA – aufgestiegen war und dadurch einen gewaltigen Drang nach neuen Rohstoffquellen und Absatzmärkten sowie den damit verbundenen Weltherrschaftsplänen entwickelt hatte, griffen die meisten Expressionisten – ohne irgendwelche ideologischen Differenzierungen – lediglich den Staat als solchen an und verfehlten demzufolge, gegen die Grundübel der auch in Deutschland herrschenden kapitalistischen Eigentumsverhältnisse sowie ihrer finanzpolitischen und imperialistischen Auswirkungen einzutreten. Einer der wenigen Autoren dieser Richtung, der in seinen Dramen zwischen 1917 und 1925 auch auf diese Probleme einzugehen versuchte, war Georg Kaiser. Doch kam er dabei zu konkreteren Lösungen als die meisten seiner Gesinnungsgenossen? Oder blieb auch er ein „Geistiger“, ein Utopiker, ein unverbindlicher Menschheitsschwärmer im Hinblick auf die damit aufgeworfenen Probleme? Dieser Frage soll im Folgenden etwas näher nachgegangen werden.

III Georg Kaiser war gegen Kriegsende – im Gegensatz zu vielen jüngeren expressionistischen Dramatikern – kein Unbekannter im deutschen Theaterbetrieb mehr. Schon mit seinen Dramen Die jüdische Witwe (1911) und Die Bürger von Calais (1912) hatte er einiges Aufsehen erregt, das durch sein Stück Von morgens bis mitternachts, ebenfalls von 1912, sogar noch überboten wurde. Wie in so vielen frühexpressionistischen Dramen war es ihm jedoch selbst in letzterem Stück noch vornehmlich um die exzessive Selbstrealisierung des bürgerlichen Ichs gegangen, das sich aus den Einengungen des herkömmlichen Berufs- und Familienlebens zu befreien versucht, während die gesamtgesellschaftliche Situa174

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tion noch außerhalb der angestrebten Kritik an den geschilderten Vorgängen geblieben war. Erst die 1916/17 durch das mörderische Kriegstreiben einsetzenden Erschütterungen hatten Kaiser bewegt, auch die sozioökonomischen Grundlagen der seit der Gründerzeit in Deutschland herrschenden Verhältnisse ins Auge zu fassen und sein Publikum in Form expressionistischer Wandlungsdramen zu einer grundsätzlichen Veränderung der staatlichen und damit wirtschaftspolitischen Zustände aufzurufen.5 Unter weitgehender Nichtbeachtung der bisherigen individualpsychologischen, sprich: bürgerlichen Charakterzeichnung erschienen ihm dafür am besten sogenannte „Denkfiguren“ geeignet, die er als Ideenträger bestimmter Thesen auf die Bühne stellte, denen es nicht mehr um die private Selbstrealisierung geht, sondern die mit aufreizenden Parolen die Gesamtgesellschaft von Grund auf zu verändern suchen. „Es gibt nur eine Vision“, schrieb er jetzt, „die von der Erneuerung des Menschen schlechthin.“6 Und als die geeignetste Plattform für derartige weltverändernden Aufrufe erschien ihm dafür, wie für viele Expressionisten, das Theater.7 Das erste Stück dieser Art ist sein Drama Die Koralle, das er 1917 verfaßte und das im Oktober desselben Jahres seine Uraufführung in Frankfurt erlebte. In ihm griff er erstmals die entscheidende soziale Frage, kurz: den Gegensatz von arm und reich, auf. Die Zentralfigur dieses Stücks ist ein skrupelloser Entrepreneur, der sich – aus ärmlichen Verhältnissen stammend – zum Milliardär hochgearbeitet hat. Um sich den Anstrich der Großmütigkeit zu geben, läßt dieser Mann jeden Donnerstag Almosen an sogenannte Minderbemittelte, ob nun alte Arbeiter, Witwen oder Prostituierte, verteilen, die ihm dafür dankbar sind und ihm ein gutes Gewissen verleihen, kein eigennütziger Schmarotzer zu sein. Erst als ihn an einem dieser Donnerstage ein unbekannter Herr in Grau zwingen will, eine Erklärung zu unterschreiben, „die Bereicherung des einzelnen für die unerhörteste Schmach anzusehen“ und eine verstärkte „Brüderlichkeit“ von ihm verlangt,8 fühlt er sich irritiert und verteidigt sich mit dem Argument, daß er sich – nach seiner in gedrückten Verhältnissen verbrachten Kindheit – noch immer auf der Flucht vor der Armut befinde und daher nicht auf seinen immensen Reichtum verzichten könne. Der zweite Akt spielt auf dem Deck einer elegant ausgestatteten Motorjacht, wo der Milliardär eine sich dem Luxus ergebene Auszeit genießt. Da taucht plötzlich sein Sohn auf, der aus grundsätzlicher Abneigung gegen den als Parvenü auftretenden Vater ein kümmerlich bezahlter Heizer auf einem Kohlendampfer geworden ist. Ohne Rücksicht auf irgendwelche Abwehrgesten konfrontiert ihn 175

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dieser mit den höllischen Qualen jener ausgepowerten Menschen, die auf allen Schiffen Tag für Tag vor glühenden Öfen schuften müssen und dabei sogar den Tod nicht fürchten dürfen. Ja, gegen Ende dieser Szene wird sogar einer dieser Heizer als Leiche aufs Oberdeck gebracht, was ein allgemeines Entsetzen auslöst. Im dritten Akt kommt es dann zu der erwarteten „Wandlung“. In einem der Betriebe des Milliardärs erfolgt plötzlich eine Brandkatastrophe, durch die viele Arbeiter getötet werden. Der Sohn weist anschließend seinen Vater mit eindringlichen Worten auf den unübersehbaren Widerspruch hin, daß seine „unbeschränkte Mildtätigkeit“ letztlich nur durch eine „rücksichtslose Ausbeutung“ möglich sei.9 Und auch die Tochter des Milliardärs wendet sich von ihrem Vater ab und will Krankenpflegerin werden. Darauf kehrt der Milliardär in sich, erschießt seinen Sekretär, der – im Gegensatz zu ihm – eine glückliche, wohlbehütete Jugend gehabt hat, und gibt sich als der Ermordete aus, indem er sich dessen mit einer Koralle geschmückten Ring an den Finger steckt. Die beiden letzten Akte spielen in einem Untersuchungsgefängnis. Hier erfährt der Milliardär, daß sein Sohn und seine Tochter auf den väterlichen Reichtum verzichtet haben und sich sozial engagieren wollen. Kurz vor seiner Hinrichtung besucht ihn noch einmal der Herr in Grau, der inzwischen selber reich und überheblich geworden ist. Doch das veranlaßt den früheren Milliardär ebenso wenig zur Reue wie die bewegenden Worte seines Sohns, der sich fortan nur noch für die Verbesserung der Menschheit einsetzen will. Die Moral der Geschichte besteht also fast ausschließlich darin, daß der Milliardär durch seinen gesellschaftlichen Aufstieg vor allem seine schreckliche, ihn erniedrigende Kindheit vergessen wollte. Trotz aller sozialkritischen Äußerungen dominiert daher in diesem Drama letztlich das Psychologische und nicht das Gesellschaftskritische. Der Milliardär versucht lediglich vor seiner in Armut verbrachten Kindheit zu „fliehen“, wie es immer wieder heißt. Statt die kapitalistische Wirtschaftsordnung – wie später in Bertolt Brechts Drama Die heilige Johanna der Schlachthöfe (1932) – als eine unbarmherzige Wettbewerbsgesellschaft darzustellen, die selbst wohlmeinende Großindustrielle zu einem skrupellosen Verhalten zwingt, um nicht selber unterzugehen, bleibt Kaisers Drama Die Koralle letztlich eine Individualtragödie, bei der es nicht um die Grundübel der kapitalistischen Eigentums- und Profitgesellschaft geht, sondern wo – recht traditionell – weiterhin die familiäre Situation den entscheidenden Ausschlag gibt. Daher erwies sich dieses Stück auf den staatlichen und städtischen Bühnen, die lediglich von einem gutbürgerlichen Publikum frequentiert wurden, als durchaus erfolgreich, da man es dort weitge176

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hend als ein „psychologisches Kriminaldrama“ spielte, in dem sich der Autor, um die Zuschauer und Zuschauerinnen nicht allzu sehr zu schockieren, mit einem „spielerischen Herumfingern an Problemen“ begnügt habe.10

IV Im folgenden Jahr – mitten in den letzten Kriegswirren – schrieb Kaiser darauf sein Stück Gas, dessen Handlung unmittelbar an Die Koralle anschließt. In ihm hat der Milliardärssohn zwar die väterlichen Betriebe, die vor allem Gas für die kriegsnotwendigen Munitionsfabriken produzieren, übernommen, will aber „nicht reicher sein als alle anderen“.11 Er beschließt daher, seine Rolle als Kapitaleigner aufzugeben und alle Arbeiter fortan am erwirtschafteten Gewinn zu beteiligen. Da erfolgt plötzlich eine gewaltige Explosion, durch die Tausende von Menschen verbrennen und die Fabriken zu „Staubhaufen gepulvert“ werden.12 Aus Angst, brotlos zu werden, fordern danach jene Arbeiter, welche diese Katastrophen überlebt haben, eine sofortige Wiederaufnahme der Gasproduktion.13 Der Milliardärssohn beschwört sie jedoch, statt sich den Gefahren weiterer Explosionen auszusetzen, lieber „Siedler auf grünem Grund“ zu werden, wo sie keine stumpfsinnige und zugleich gefahrdrohende Fabrikarbeit mehr zu leisten hätten, sondern wieder wahre, sich selbstversorgende „Menschen“ werden könnten. Doch von solchen Vorschlägen wollen die Arbeiter nichts hören. Als der Milliardärssohn daraufhin den verantwortlichen Ingenieur kündigen will und die übriggebliebenen Fabriken stillzulegen beschließt, verhalten sich die Arbeiter noch aufsässiger. In der nächsten Szene treten plötzlich fünf schwarzgekleidete Regierungsvertreter auf und fordern die sofortige Wiederaufnahme der Gasproduktion, da sonst die kriegsnotwendige Rüstungsindustrie zum Erliegen kommen würde. Den Höhepunkt des Ganzen bildet anschließend eine große Arbeiterversammlung, auf welcher der Milliardärssohn den ihm unwillig Zuhörenden noch einmal sein Siedlungskonzept vorstellt, ja sie mit ekstatisch herausgeschrieenen Parolen beschwört, sich zu einer neuen, völlig andersgearteten Form des Menschseins durchzuringen, wovon jedoch die Arbeitermassen wiederum nichts hören wollen, sondern lieber dem Ingenieur zujubeln, der ihnen die altvertrauten Arbeitsplätze in der Gasproduktion verspricht. Als sich der Milliardärssohn dieser Entscheidung entgegenzustellen versucht, lassen die Regierungsvertreter das gesamte Fabrikgelände von Soldaten besetzen, um „aufgrund der Gefährdung der Landesverteidigung die Herstellung von Gas unter Staatsregie zu betreiben“.14 Dem Milliardärssohn bleibt demnach nichts anderes übrig, als mit dem üblichen 177

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expressionistischen „Oh Mensch“-Pathos zu stammeln: „Wo ist der Mensch? Wann tritt er auf – und ruft sich mit Namen: – Mensch? Wann begreift er sich? – Muß er nicht ankommen – morgen und morgen – und in stündlicher Frist?!“15 Erschüttert von diesem Aufschrei, sinkt darauf seine Tochter aufs Knie und versucht ihn mit dem Bekenntnis zu trösten: „Ich will ihn gebären!“16 Auf eine vereinfachende Formel gebracht, wirkt so das Ganze beim ersten Durchlesen wie eins der üblichen von Ernst Toller oder Ludwig Rubiner verfaßten expressionistischen Antikriegsdramen. Und doch enthält es zugleich mehr, wesentlich mehr als diese Stücke. In rastloser, ja geradezu atemberaubender Überstürzung geht es in diesem Drama zugleich um eine Fülle anderer Fragestellungen: die Gefahren einer technologisch avancierten Industrialisierung, die wachsende Machtstellung führender Erfinder und Ingenieure sowie die staatlichen Eingriffe in das Wirtschaftsleben mit Hilfe militärischer Einsatzgruppen. Darin äußert sich zweifellos eine antikapitalistische Tendenz. Doch was wird diesem höchst kritisch gesehenen System letztlich entgegengesetzt? Zu Anfang ist es erst einmal die bereits von Marx befürwortete „Freie Assoziation der freien Produzenten“. Da jedoch diese Möglichkeit, die zugleich an das damals aufkommende Rätemodell erinnert, am systemimmanenten Widerwillen der Arbeiter scheitert, bleibt dem Milliardärssohn – nach der verheerenden Gasexplosion am Ende des ersten Akts – nichts anderes übrig, als nach dem Strohhalm anderer Utopien zu greifen. Als die radikalste Form einer neuen Lebensordnung erscheint ihm plötzlich der Verzicht auf alle sich als gefährlich erweisenden technologischen „Fortschritte“, der nur durch eine Rückkehr zu bäuerlichen Zuständen zu erreichen sei. Denn nur so könnten, wie er hofft, aus geknechteten, ständig den Mißständen des Fabrikwesens ausgesetzten Lohnarbeitern wieder wirkliche „Menschen“ werden. So gesehen, geht es in diesem Drama nicht um eine konkrete Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem und seiner ausbeuterischen Eigentumsverhältnisse schlechthin, die sich im Sinne einer dialektischen Aneignung ins Sozialistische überführen ließen, sondern eher um eine halb rousseauistische, halb expressionistische Menschheitsumwandlung, deren utopischer Vorschein letztlich im Bereich subjektiver und damit unrealistischer Wunschvorstellungen bleibt.17 Schließlich ist es nur der Milliardärssohn, der – wie in vielen expressionistischen Dramen – solche Anschauungen vertritt und daher wie ein Priester ohne Gemeinde, ja fast wie ein hoffnungslos vereinzelter Messias wirkt. Nichts gegen den aufrührerischen Charakter des Ganzen, der in seinen Antikriegsparolen durchaus ins Schwarze trifft, aber in seinen Utopiekonzepten reichlich unbestimmt 178

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bleibt. Wenn sein Appell an die Arbeiter, „Siedler auf grünem Grund“ zu werden, wie in der Schrift Das grüne Manifest (1919) von Leberecht Migge wenigstens ökologisch gemeint wäre,18 könnte man ihn notfalls noch ernst nehmen. Darauf deutet jedoch in den anfeuernden Reden des Milliardärssohns nichts hin. Immer wieder wird lediglich à la Gustav Landauer, mit dem Kaiser damals in einem regen Briefwechsel stand,19 nur die Heraufkunft „neuer Menschen“ beschworen, während von einer naturerhaltenden Schonung der sogenannten Mit- oder Umwelt nirgends die Rede ist. Ja, als seine Tochter am Ende geradezu madonnenhaft erklärt, daß sie den „neuen Menschen“ gebären wolle, wirkt das geradezu blasphemisch. Die bürgerlichen Rezensenten reagierten daher auf dieses Drama, das am 28. November 1918 uraufgeführt wurde, ebenso verwirrt wie auf die zu diesem Zeitpunkt stattfindenden politischen Ereignisse. Sie, die schon die Handlung seines Stücks Die Koralle wegen ihrer „unklaren Symbolik“ als ein „kaltes, spielerisches Herumfingern an Problemen“ charakterisiert hatten,20 lehnten daher auch dieses Drama fast durchgehend als „überstilisiert“, „konstruiert“ oder „ins Hysterische verzerrt“ ab. Ja, manche schreckten selbst vor Urteilen wie „veredelte Rummeldramatik“, „Vereinfältigung“ oder „Gebumms“ nicht zurück. Einer schrieb sogar unverhohlen mit antirevolutionärer Tendenz: „Wir sind der erhabenen Aufrufe solcher Art furchtbar müde“ und bekannte sich weiterhin zu einer durch nichts zu erschütternden Status-quo-Gesinnung.21 Doch durch derartige Kritiken ließ sich Kaiser – zumal sich sein Gas-Drama wegen seiner explosiven Knalleffekte als ein großer Theatererfolg erwies – nicht beirren. Bereits wenige Monate nach der Uraufführung dieses Stücks begann er mit der Niederschrift eines sich an dieses Drama anschließenden Stücks, das er Gas. Zweiter Teil nannte, und welches im Oktober 1920 seine Premiere erlebte.

V Auch hierbei handelt es sich um ein Drama, in dem Kaiser nochmals auf die Industrie- und Kriegsthematik zurückgriff. Seine Handlung spielt sich wiederum in der gleichen Fabrikhalle wie in dem vorangegangenen Stück ab, wo sogenannte Blaufiguren unter der Leitung eines Großingenieurs jenes Gas herstellen, mit dem man den Vormarsch der anrückenden Gelbfiguren aufhalten will. Wiederum versucht der Gegenspieler des Ingenieurs, der Enkel des ursprünglichen Milliardärs, welcher sich als Milliardärsarbeiter ausgibt, die gnadenlos schuftenden Lohnarbeiter zur Produktionseinstellung aufzurufen, wobei er diesmal bei der Masse der Werktätigen durchaus auf Zustimmung stößt. Im zweiten Akt ruft 179

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der Milliardärsarbeiter abermals zur Arbeitsniederlegung auf, um ein weiteres Massenmorden zu verhindern. Und die ihm Zuhörenden stimmen ihm wiederum zu. Doch bevor ein allgemeiner Streik einsetzt, dringen bereits die feindlichen Gelbfiguren in die Fabrikhalle ein und fordern die erneute Aufnahme der Produktion, welcher der Großingenieur und die Arbeiter auch Folge leisten. Im dritten und letzten Akt erfahren wir dann, daß es unter der Leitung der Gelbfiguren nicht nur zu einer Steigerung der Gasproduktion kommt, sondern in dem gleichen Werk auch ein höchst gefährliches Giftgas hergestellt wird. Darauf fordert der Milliardärsarbeiter alle anwesenden Arbeiter auf, sich den Anordnungen der Gelbfiguren zu widersetzen und ein eigenes Reich „neugeborener Menschen“ zu errichten. Doch bevor sich die Arbeiter dazu entschließen können, setzen plötzlich gewaltige Explosionen ein, was im Sinne eines „Dies irae“ zum Einsturz der weiträumigen Fabrikhallen und zum Tod aller dort Arbeitenden führt.22 Die Reaktion auf dieses Stück von seiten der bürgerlichen Rezensenten war wiederum relativ kritisch. Die meisten fanden, daß die Fabel wie ein „bloßgelegtes Skelett“ wirke, daß die auftretenden Figuren keine wahrhaftigen „Menschen“, sondern lediglich Denkspieler seien, und daß sie die Sprache an „preziöse Telegraphencodes“ erinnere. Einer der besonders gehässigen Kritiker bezeichnete es sogar wegen seiner kubistisch-expressionistischen Reduzierung ins Essentielle als „das magerste Drama der Weltliteratur“.23 Doch auch davon ließ sich Kaiser nicht beirren, zumal ihn seine expressionistischen Gesinnungsfreunde – trotz der apokalyptischen Schlußszene dieses Dramas – weiterhin als richtungsweisend empfanden. Und auch der sensationslüsterne Teil des Publikums fand durchaus Gefallen an diesem kolportagehaft angelegten Stück. Demzufolge ließ Kaiser nicht nach, in rascher Folge weitere „welterschütternde“ Thesenstücke dieser Art zu schreiben. Eins davon ist das Drama Hölle Weg Erde, das ebenfalls 1919 entstand.

VI Was in den beiden Gas-Dramen noch relativ klare Konturen hatte, wirkt in diesem Stück eher wie ein wildes Gestammel. In einer Welt, in der einerseits ein übermächtiger Luxus, andererseits das nackteste Elend herrscht, stachelt hier ein ins Expressionistische gesteigerter Rebell, der sich als „Spazierer“ ausgibt, die Armen und Entrechteten dieser Erde – vor allem die unschuldig verurteilten Strafgefangenen und notleidenden Prostituierten unter ihnen – mit dem anfeuernden Ruf „Euer Blut braust – denn ihr seid die Erde!!“ auf, mit ihm ins 180

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„Grenzenlose“ aufzubrechen, um dort eine „neue Schöpfung“ aufzubauen.24 Doch sein Protest gegen die Verkehrtheit der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, der im ersten Akt noch relativ nachvollziehbar war, geht gegen Ende des Ganzen schließlich in überlaut herausgeschrieenen Wortkaskaden unter, deren Sinnträchtigkeit höchst zweifelhaft wirkt. Wieder ist es nur der vereinzelte Rebell, der mit führerhafter Gebärde die wankelmütigen Massen für seine weltverändernden, ja weltumstürzenden Vorstellungen zu begeistern versucht, ohne dabei mit irgendwelchen realisierbaren politischen oder sozioökonomischen Leitkonzepten aufwarten zu können. Die meisten der weiterhin auf „Ruhe und Ordnung“ bedachten Kritiker warfen daher Kaiser vor, auch in diesem Stück wiederum ins „Predigerhafte“, „Apodiktische“, „Unglaubhafte“, wenn nicht gar sinnlos „Utopische“ abgeglitten zu sein. Besonders die „menschheitsbeglückenden“ Züge fanden sie geradezu geschmacklos. Sie wollten auf der Bühne – nach alter Tradition – weiterhin psychologisch differenziertere Gestalten, aber keine leblosen „Tendenzautomaten“ sehen.25 Daß es in diesem Stück auch um eine Kritik an der sozialen Ungerechtigkeit der herrschenden Gesellschaftsverhältnisse geht, verschwiegen sie dagegen lieber, weil das gegen die ideologische Ausrichtung ihrer Verlagsredaktionen verstoßen hätte oder weil sie ohnehin konservativ eingestellt waren.

VII Zu einem weiteren Drama, das in einer Menschheitserlösung gipfeln sollte, raffte sich Kaiser nur noch einmal auf. Dabei handelt es sich um das 1924/25 geschriebene, aber bisher weithin übersehene Stück Gats. In ihm geht es um einen empfängnisverhütenden Stoff, genannt Gats, der die Welt „vor dem Untergang durch drohende Überbevölkerung“ bewahren soll, wie es in einer Anzeige des Gustav Kiepenheuer Verlags hieß. Sein Protagonist ist der über riesige Latifundien verfügende Kapitän einer Siedlungsunion, der „die Überzähligen aus allen Regionen der Welt“ zu einer Art Binnenkolonisation aufgerufen hat, mit ihm in noch unbesiedelte Gegenden aufzubrechen, um so jene absehbaren Katastrophen zu verhindern, die sich aus der steigenden Bevölkerungsdichte und der sich daraus ergebenden Arbeitslosigkeit ergeben könnten.26 Zu Anfang sind von der Idee, neues Siedlungsland zu erschließen und die Öde des Großstadtlebens hinter sich zu lassen, alle der an diesem Projekt Beteiligten begeistert. Der von ihnen als neuer „Heiland“ verehrte Kapitän erklärt demzufolge geradezu überschwänglich: „Schon atmen die alten Reiche, die sich von Menschen lichten,

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freier – hier zielt der Blick der Auswanderer nach neuer Siedlung hoffnungsvoll. Die Liebe spannt sich wieder von Mensch zu Mensch!“27 Im zweiten Akt, nachdem die Siedler aus aller Welt einen begeisterten Hymnus auf ihr zukünftiges Leben angestimmt haben, kommen jedoch dem Kapitän Zweifel an diesem großgeplanten Unternehmen, da er inzwischen in irgendeinem Urwald bei in „paradiesischer Einfachheit“ lebenden Indiostämmen ein geheimnisvolles Mittel entdeckt hat,28 mit dem man die menschliche Zeugungsfähigkeit wesentlich vermindern oder gänzlich unmöglich machen könne. Die Anwendung dieses Mittels erscheint ihm plötzlich im Hinblick auf die drohende Überbevölkerung der Erde wesentlich sinnvoller als die Abholzung noch bestehender tropischer Regenwälder. Als er daraufhin den Siedlermassen den Zugang zu den Waldrodungsgebieten versperren will, kommt es zu einem allgemeinen Tumult, den die im Dienste der staatlichen Kontroller stehenden Soldaten dadurch zu unterdrücken suchen, indem sie einfach wahllos in die hoffnungsvoll herbeigeströmten Siedlungswilligen eine Salve nach der anderen abfeuern, bis fast alle der dort Versammelten tot am Boden liegen. In der Schlußszene begegnen wir noch einmal dem Kapitän und seiner Sekretärin, die das vorangegangene Massaker seltsamerweise überlebt haben. Er liest verbittert in einer Zeitung, daß alle Regierungen der Welt inzwischen die zeugungsverhindernde Droge Gats unter Androhung der Todesstrafe verboten haben. Darauf wird er zum Zyniker, der in Zukunft lieber Geschäfte mit „Hosenträgern“ machen will, da ihm das Weltgeschehen, wo es aufgrund der Überbevölkerung und der sich daraus ergebenden Kämpfe um die Besitzverhältnisse zwangsläufig zu Mord und Totschlag kommen werde, ohnehin sinnlos erscheint. Nur seine Sekretärin hält noch zu ihm. Doch selbst sie reißt sich von ihm los, als er ihr, die unbedingt schwanger werden möchte, gesteht, daß er ihr sein gebärverhinderndes Wundermittel Gats eingeflößt hat. Um dem Ganzen einen dramatischen Schlußakzent zu geben, ruft daraufhin die Sekretärin in einem Wutanfall die Polizei, die ihn kurzerhand abführt. Als er anschließend die Straße betritt, wird er von dem aufgebrachten Mob in einem Akt von Lynchjustiz auf der Stelle umgebracht. So viel dazu. Obwohl es sich bei diesem Stück nochmals um ein expressionistisches Wandlungsdrama handelt, merkt man dem Ganzen bereits an, wie stark hier das Utopische bereits seinen hoffnungsvollen Vorscheincharakter verloren hat. Es geht zwar immer noch um einen anfänglich zur Heilandsfigur ausstaffierten Einzelnen, der von Weltveränderungsvorschlägen besessen ist und wie in vielen expressionistischen Dramen die ihm folgenden Massen für seine Ideen zu 182

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begeistern versucht, aber der Schluß des Ganzen wirkt weder messianisch noch apokalyptisch. In ihm macht sich bereits – bei genauerem Zusehen – jene nach 1923 eingetretene Neue Sachlichkeit bemerkbar, die sich lieber auf den vielzitierten „Boden der Tatsachen“ stellte, als sich weiterhin irgendwelchen utopischen Hoffnungen auf eine grundlegende Wandlung der Gesamtgesellschaft im Sinne einer allgemeinen Menschheitsbeglückung hinzugeben.29

VIII So gesehen, sind Kaisers expressionistische Wandlungsdramen, die er zwischen 1917 und 1925 verfaßte, zwar in ihren literarischen Stilmitteln zum Teil nicht uninteressant, spiegeln aber zugleich die ideologische Kurzschlüssigkeit, ja Verwirrung jener bürgerlichen Intelligenzschicht wider, die sich von der Novemberrevolution einfach mitreißen ließ, ohne daraus irgendwelche realpolitischen bzw. sozioökonomischen Konsequenzen zu ziehen. Georg Lukács hat daher 1934 im Rückblick auf diese Bewegung zu Recht von „Größe und Verfall des Expressionismus“ gesprochen, indem er sowohl auf ihre rebellische „Bekenntnisstimmung“ als auch auf ihre „scheinrevolutionäre“ Maßlosigkeit hinwies.30 Daß sich viele Expressionisten überhaupt zu einer derartigen Aufbruchsgesinnung, wenn nicht gar zu einem „Wandel von Grund auf“ bekannten, sollte ihnen daher nicht vergessen werden. Ja, Kaiser verfuhr hierbei in mancher Hinsicht sogar entschiedener als manche seiner Gesinnungsgenossen. Schließlich ging es ihm nicht nur um eine Antikriegspropaganda, sondern zugleich um jene Probleme, die sich aus der fortschreitenden Überindustrialisierung wie auch Überbevölkerung ergeben könnten, in denen er bedrohliche Gefahrenmomente für den weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte sah. Allerdings blieb er dabei weitgehend bei plakathaft vereinfachten Lösungsversuchen, statt sich genauer mit den ins Imperialistische tendierenden Konsequenzen der kapitalistischen Produktionsweise auseinanderzusetzen. Immer wieder dreht es sich in den hier behandelten Wandlungsdramen nur um die allzu augenfälligen fatalen Auswirkungen dieses „Systems“, ohne daß dabei irgendwelche konkreten Alternativvorstellungen ins Auge gefaßt würden. Aber wer tat das damals schon, von einigen linken Sozialdemokraten und Vertretern der KPD einmal abgesehen? Aufgrund dieser ideologischen Unklarheit verebbte deshalb die expressionistische Welle in den Jahren 1923/24 ebenso schnell, wie sie entstanden war. Ja, während der sogenannten „Phase der relativen Stabilisierung“ der mittzwanziger Jahre schworen fast alle bürgerlichen Intellektuellen, ohne sich groß Gedanken über die bestehenden Eigentumsverhältnisse zu machen, wieder bedenkenlos 183

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auf den angeblichen Segen einer fortschreitenden Modernisierung der industriellen Produktion, die in wenigen Jahren so stark anwuchs, daß Deutschland im Jahr 1929 abermals den zweiten Platz in der Rangliste der führenden Industrienationen der Welt einnehmen konnte.

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Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise von 1929 Hans Falladas Kleiner Mann – was nun? (1932)

I Außer einigen marxistisch orientierten Wirtschaftstheoretikern hätte in Deutschland fast niemand geglaubt, daß es nach der Periode der sogenannten Relativen Stabilisierung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse in der Mitte der Weimarer Republik plötzlich nach dem Schwarzen Freitag im Oktober des Jahres 1929 auch in diesem wirtschaftlich wohlflorierenden Land zu einem katastrophalen Zusammenbruch des gesamten Industrie- und Bankensystems kommen würde. Sah nicht nach dem Ende der Hyperinflation im Jahr 1923 alles so aus, als ob in Deutschland jetzt eine Zeit ungehemmter Wohlstandssteigerung anbrechen würde? War nicht die deutsche Industrie durch die Einführung modernster Produktionsbedingungen und Marketingstrategien erneut so exporttüchtig geworden, daß Deutschland im Jahr 1929, wie schon in der Vorkriegszeit, in der Rangliste der führenden Industrienationen wieder den zweiten Platz einnehmen konnte? Und hatte nicht damit der allerseits gerühmte Fordismus endgültig über den von allen bürgerlich-liberalen Theoretikern als obsolet bezeichneten Marxismus gesiegt, dessen Theorie eines zwangsläufig wiederkehrenden Zyklenverlauf als endgültig widerlegt galt? Doch dann geschah plötzlich das Unerwartete. Durch eine hektisch angekurbelte Investitionspolitik und die dadurch rapide anschwellende Überproduktion der kapitalistisch strukturierten Wirtschaft in den Jahren zuvor kam es am 24. Oktober 1929 in den Vereinigten Staaten plötzlich zu einem Börsencrash, der sich schnell weltweit auswirkte. Neben den USA wurde vor allem Deutschland von dieser Krise betroffen. Die ausländischen Investoren zogen ihre Gelder ab, die Industrieproduktion ging um 41,8 Prozent zurück, die Ausfuhrquoten verringerten sich zwischen 1929 und 1932 von 13,48 Millionen Reichsmark auf 5,73 Millionen Reichsmark, die Profite der Großindustrie nahmen ab, viele Kleinunternehmer machten Bankrott, die öffentlichen Bauvorhaben wurden eingestellt usw. usw.1 Der zwischen 1930 und 1932 amtierende Reichskanzler 185

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Heinrich Brüning versuchte zwar durch eine Reihe von Sparmaßnahmen, wie der Kürzung der öffentlichen Gehälter und anderer Notverordnungen, dieser Krise Herr zu werden, verschärfte aber dadurch lediglich ihren fatalen Verlauf. Die am schlimmsten davon Betroffenen waren die Arbeiter und kleinen Angestellten. Schließlich stieg die Zahl der Arbeitslosen, die im September 1929 „nur“ 1,4 Millionen betragen hatte, in denen die Großindustriellen lediglich eine lohndrückende, das heißt ihre Gewinne in die Höhe treibende „Reservearmee“ gesehen hatten, bereits im Februar 1930 auf 3,5 Millionen an, ja überschritt gegen Ende dieses Jahres erstmals die 5-Millionen-Grenze. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung im Februar 1932, als den 12 Millionen Beschäftigten 6,12 Millionen Arbeitslose gegenüberstanden, wozu noch die schlechtbezahlten Kurzarbeiter und kleinen Angestellten kamen, die sich mit immer geringeren Löhnen und Gehältern zufriedengeben mußten. Besonders hilflos in dieser Situation verhielten sich die kleinen Angestellten. Während sich viele Arbeiter ab 1930 entweder der Kommunistischen Partei Deutschlands oder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei anschlossen, was bei den folgenden Wahlen zu einem immer größeren Stimmenanteil dieser beiden Parteien führte, sah sich diese Bevölkerungsschicht von keiner der in der späten Weimarer Republik bestehenden Parteien vertreten. Sie verstand sich nicht als Teil der wohlsituierten Bourgeoisie, wollte aber auch nicht mit den sozial unter ihnen stehenden Arbeitern verwechselt werden, weshalb sie sich entweder aus der Politik heraushielt oder sich willenlos irgendwelchen massenmedial verbreiteten Parolen anschloß. Da ihre Zahl im Laufe der Modernisierungspraktiken in der Mitte der Weimarer Republik unverhältnismäßig schnell angewachsen war, sollte man keineswegs darauf verzichten, gerade in ihr, die sich weitgehend als unideologisch verstand, eine wichtige Mitläuferschicht vieler der darauffolgenden totalitären wie auch formaldemokratischen Regime zu sehen. Da, wie gesagt, fast niemand diese Krise vorhergesehen hatte, waren sowohl die politischen als auch die literarischen Reaktionen auf ihre Auswirkungen zu Anfang recht unbeholfen. Die bürgerlichen Parteien und die mit ihnen sympathisierenden Autoren verhielten sich erst einmal abwiegelnd, indem sie auf die Wirkung wohlgemeinter Reformen vertrauten und sich davon eine bessere Zukunft erhofften. Die Nazifaschisten, die sich bisher als Gegner der kapitalistischen „Zinsknechtschaft“ ausgegeben hatten, schwenkten nach der Ausschaltung des linken Strasser-Flügels und des von Emil Kirdorf im September 1931 arrangierten Treffens zwischen Hitler und 30 bis 40 Rhein-Ruhr-Industriekapi186

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tänen ebenfalls auf einen Reformkurs ein, indem sie den Arbeitslosen – nach einem Sieg ihrer Partei – eine Fülle durchgreifender Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und damit eine weitgehende Wohlstandssteigerung versprachen. Lediglich die KPD versuchte die in Not geratenen „breiten Massen“ durch eine radikale Kapitalismuskritik für sich zu gewinnen. Nicht nur ihre Hauptsprecher, auch mit ihnen sympathisierende Schriftsteller, wie Johannes R. Becher, Bertolt Brecht und die Autoren des Bunds proletarisch-revolutionärer Schriftsteller beschworen daher das Proletariat, so energisch wie möglich für die Durchsetzung des Sozialismus einzutreten und sich hierbei die Sowjetunion zum Vorbild zu nehmen, wofür Brechts Drama Die Mutter (1931) das beste Beispiel wäre. Sowohl die nazifaschistischen als auch die kommunistischen Wahlstrategien erwiesen sich in dieser Situation durchaus erfolgreich. Allerdings erzielte die NSDAP, für die sich nicht nur Teile der unzufriedenen Arbeiter und Bauern, sondern auch der überwiegende Teil des Bürgerblocks engagierte, bei den zwischen 1930 und 1932 anstehenden Wahlen wesentlich größere Erfolge als die lediglich die klassenbewußten Arbeiter ansprechende KPD. Schließlich saß der Schock des Spartakus-Aufstands und der Münchner Roten Räterepublik den „guten Bürgern“ immer noch in den Knochen. Daher drangen die Großagrarier und Großindustriellen schließlich darauf, der NSDAP am 30. Januar 1933 die Macht zu übergeben, um so Deutschland, wie es hieß, vor einer möglichen „Bolschewisierung“ zu bewahren. Und Hitler tat danach geradezu alles, diese Politik in die Tat umzusetzen, indem er die Kommunisten mit einer Grausamkeit aus dem politischen Leben ausschaltete, wie es sie in der deutschen Geschichte bis dahin noch nicht gegeben hatte. Doch welche Haltung nahm eigentlich, um auf unsere anfangs gestellte Frage zurückzukommen, die Angestelltenklasse zu all diesen Ereignissen an? Lief sie zu den Nazifaschisten oder zu den Kommunisten über? Vertraute sie in eine mögliche Stabilisierung der deutschen Wirtschaft, sympathisierte sie mit gewissen von der Regierung verordneten Reformmaßnahmen oder begann sie nach 1929 mit sozialistischen Anschauungen zu sympathisieren? Aufgrund vieler Augenzeugenberichte wie auch literarischer Darstellungen ihrer sozialen und ökonomischen Lage verhielt sie sich in den Jahren zwischen 1930 und 1933 relativ unentschieden. Eingeklemmt zwischen Bürgertum und Proletariat, nahm sie die eingetretenen Verhältnisse anfangs weitgehend willenlos hin und versuchte sich, so gut es ging, damit abzufinden. Viele ihrer Vertreter erkannten zwar ihre „geistige Obdachlosigkeit“, das heißt lebten „ohne eine Lehre, zu der sie aufblic-

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ken konnten“, 2 was dazu führte, daß sie diesen Zustand entweder als unveränderbar akzeptierten oder den jeweils Herrschenden willenlos hinterherliefen. Wohl keiner hat diese Haltung besser beschrieben als Hans Fallada in seinem 1932 erschienenen Roman Kleiner Mann – was nun?, der in seiner politischen Hilflosigkeit genau das widerspiegelte, was nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch große Teile der politisch verunsicherten bürgerlichen Mittelschicht zu diesem Zeitpunkt empfanden. In ihm war jemand so genau wie möglich auf jene alltäglichen Geldsorgen eingegangen, die damals fast alle Vertreter dieser beiden Klassen bewegten, ohne dabei irgendwelche „radikalen“ Änderungsvorschläge zu machen, das heißt hatte die eingetretenen Verhältnisse lediglich unter allgemein-menschlichen Aspekten dargestellt, statt sich betont „ideologisch“ zu geben. Und das sprach die Mehrheit dieser zwar sozial verunsicherten, aber sich weiterhin als unpolitisch verstehenden Bevölkerungsschichten durchaus an.

II Schon kurz nach seinem Erscheinen im Juni 1932 beim Berliner Rowohlt Verlag erlebte demzufolge Hans Falladas Roman Kleiner Mann – was nun? eine Auflage nach der anderen, wurde in fünfzig Provinzzeitungen nachgedruckt, in zwanzig Sprachen übersetzt, zweimal verfilmt und in 753 lokalen und überregionalen Journalen und Zeitschriften mehr oder minder ausführlich rezensiert.3 Von den ihm vorangegangenen Romanen der Weimarer Republik konnte lediglich Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues von 1929 eine ähnliche Erfolgsbilanz aufweisen.4 Kurzum: Falladas Roman erwies sich als einer der publikumswirksamsten Bestseller der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, der selbst in der Nazizeit, der DDR, der ehemaligen BRD und dann im wiedervereinigten Deutschland immer wieder neu aufgelegt wurde. Gehen wir, um diesen phänomenalen Erfolg zu verstehen, erst einmal auf seine Erzählweise und seine Handlungsstruktur ein. Wie in vielen derartigen Bestsellern werden in diesem Roman alle Ausflüge ins Theoretisierende, Programmatische oder gar Parteipolitische sorgfältig vermieden. Alles, was in ihm geschieht, beschränkt sich fast ausschließlich auf eine „realistisch“ dargestellte Alltäglichkeit, die bis ins letzte Detail durchaus glaubhaft, ja geradezu hautnah wirkt. Im Gegensatz zu Alfred Döblins zwischen spätexpressionistischer und neusachlicher Erzählweise hin- und herpendelndem Roman Berlin Alexanderplatz von 1929, mit dem er – wegen der angeblichen Ähnlichkeit der beiden Hauptfiguren – gern verglichen worden ist,5 wird in ihm nichts ins Poetische, Allegorisierende oder gar Mythische überhöht, sondern, wie in Erich Kästners Fabian 188

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von 1931, das gesamte Geschehen so wirklichkeitsgetreu wie nur möglich wiedergegeben. Und zwar griff Fallada hierbei, wie sich leicht nachweisen läßt,6 immer wieder auf eigene Erlebnisse oder Erfahrungsbereiche zurück, um nicht der Versuchung zu erliegen, ins Literarisierende auszuweichen. Seine Hauptfiguren, der Buchhalter und Verkäufer Johannes Pinneberg sowie sein treu zu ihm stehendes „Lämmchen“ Emma Mörschel, sind zwar fiktive Gestalten, aber zugleich ins Romanhafte abgewandelte Selbstdarstellungen Falladas und jener Anne Issel, seiner „Suse“, die er 1929 geheiratet hatte und mit der er während der Niederschrift dieses Romans die einzigen mit sich selbst zufriedenen Jahre seines Lebens verbrachte, das ansonsten – seit früher Jugend bis zu seinem Tode – fast durchgehend im Zeichen von Selbstmordabsichten, Alkoholismus, Drogenmißbrauch, Nikotinsucht, Haftstrafen und Klinikaufenthalten stand. In dieser Hinsicht ist Falladas Kleiner Mann – was nun? durchaus ein weitgehend autobiographisches Dokument jener Jahre zwischen 1929 und 1932, in denen Fallada mit der Arbeiterin Suse und dem 1930 geborenen Sohn Ulrich, seinem „Murkel“, die ersten Familienfreuden erlebte und zugleich – ohne allzu großen Morphiumverzehr – relativ ungestört schreiben konnte.7 Trotz aller wirtschaftlichen Not, erklärte er zehn Jahre später in seinen Erinnerungen Heute bei uns zu Haus, waren wir in dieser Zeit „unendlich glücklich“.8 Dennoch ist dieses Buch selbstverständlich mehr, ja viel mehr als ein Dokument jener nur kurz anhaltenden Glücksphase in Falladas Leben. Obwohl auch er, wie sein Pinneberg, lange Jahre hindurch als Hilfsarbeiter bei einer Kartoffelanbaugesellschaft, als Gutsrendant, Adressenschreiber, Annoncenwerber sowie als schlecht bezahlter Buchhalter seinen Unterhalt verdient hatte, also das in Kleiner Mann – was nun? geschilderte Milieu aus dem Effeff kannte, ist Pinneberg keineswegs mit seinem Autor identisch. Fallada selber war kein geborener Kleinbürger, sondern stammte aus einer großbürgerlich-wilhelminischen Familie, hatte eine vorzügliche Gymnasialbildung hinter sich und bereits drei Romane, nämlich Der junge Goedeschal (1920), Anton und Gerda (1923) und Bauern, Bonzen und Bomben (1931), veröffentlicht, bevor er an die Niederschrift des Romans Kleiner Mann – was nun? ging, war also ein anspruchsvoller, hochgebildeter Intellektueller. Pinneberg ist dagegen lediglich ein dümmlicher, wenn auch sympathisch wirkender, kleiner Angestellter vom Lande, der in einem mecklenburgischen Kaff plötzlich seinen Buchhalter-Job verliert und danach versucht, mit seinem Lämmchen und dem kleinen Murkel in der Großstadt Berlin eine relativ abgesicherte Existenz als Verkäufer in einem Herrenkonfektionsgeschäft zu finden. Und das gelingt ihm anfangs durchaus, bis er – wegen 189

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der sich rapide verschlechternden Wirtschaftslage – auch dort gekündigt wird, wodurch er als Arbeitsloser schließlich ins Proletariat absinkt und froh sein muß, wenigstens in einer weit abgelegenen Laubenkolonie Berlins eine halbwegs bewohnbare Zufluchtsstätte zu finden. So gesehen, entspricht Pinneberg durchaus jenem literarisch nachgezeichneten „gesellschaftlichen Typus in realistisch wiedergegebenen Situationen“, wie ihn die marxistisch orientierte Ästhetik seit dem von Friedrich Engels erstmals formulierten und sich später zum Teil dogmatisch verhärtenden Diktum immer wieder gefordert hat.9 Er ist nicht irgendein x-beliebiger Angestellter, sondern der Angestellte der späten, in die Krise geratenen Weimarer Republik schlechthin, welcher sich mit Frau und Kind – trotz der Unmöglichkeit einer Abtreibung, der herrschenden Arbeitslosigkeit und all der anderen Widrigkeiten der Jahre nach der am 24. Oktober 1929 ausgelösten Weltwirtschaftskrise – über Wasser zu halten versucht. Dennoch könnte man sich fragen: Ist aufgrund all dieser prototypisch dargestellten Situationen und Verhaltensweisen Falladas Kleiner Mann – was nun? wirklich der Roman, welcher den besten Einblick in die Gefühlslage und die wirtschaftlichen Nöte all jener kleinen Angestellten gibt, die damals aus dem ihnen vertrauten Gleis geworfen wurden? Ist er tatsächlich das Werk, in dem diese Krise analysiert und auf den Punkt gebracht wird? Zeigt er deutlich genug, wie das Deutschland der Weimarer Republik plötzlich durch Finanzierungsprobleme, Produktionshemmungen sowie über sechs Millionen Arbeitslose an den Rand des Abgrunds geraten war,10 oder werden in ihm lediglich die Folgen dieser Rezession aufgezeigt, ohne auf ihre Ursachen einzugehen? Ja, wird in diesem Roman irgendein in die Zukunft weisendes wirtschaftspolitisches Postulat aufgerichtet, welche Mittel man aufbieten müßte, um diese Krise zu überwinden? Kurzum: Gibt es in ihm eine, wenn auch noch so schwach erkennbare programmatische Ausrichtung oder gar einen Lösungsvorschlag, wie man dieser Misere begegnen könne? Genau betrachtet: nein. Nirgends wird angedeutet, wie sich die von dem Kleinbürger Pinneberg als überindividuelles „Verhängnis“ empfundene sozioökonomische Notlage „aufheben“ ließe. Daß führende Funktionäre der Kommunistischen Partei, wie Alfred Kurella und F. C. Weiskopf, damals den deutschen Arbeitern die Sowjetunion als Modell eines „Staats ohne Arbeitslose“ empfahlen,11 daß die Nazifaschisten in ihrer Wahlpropaganda dem gesamten deutschen Volk ein glorreich heraufziehendes Drittes Reich versprachen, in dem es wieder genug „Brot und Arbeit“ geben würde, oder daß die Hugenbergsche Deutschnationale 190

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Volkspartei mit chauvinistisch klingenden Parolen die Gunst der Wähler zu erringen suchte, interessiert Falladas Pinneberg nicht im geringsten. Er will zwar einmal, als es ihm finanziell besonders „dreckig“ geht, die KPD wählen,12 läßt es aber dann doch, weil ihm das zu „radikal“ erscheint. Letztlich bleibt er von Anfang bis Ende – ganz schlicht und rührend – der kleine apolitische Mann, der nur an das Überleben seiner selbst, seines Lämmchen und des kleinen Murkel denkt. So gesehen, ist er genau jener typische „Angestellte“ ohne jede politische Orientierung, wie ihn Siegfried Kracauer 1930 in seinem Buch Die Angestellten, das Fallada zweifellos kannte, charakterisiert hatte. Im Gegensatz zum Bürgertum und zum Proletariat der Weimarer Republik fühlte sich diese, durch die rapide Modernisierung der Industrie und das beträchtlich ausgeweitete Marketingsystem immer größer gewordene Bevölkerungsschicht, wie gesagt, nicht als eine besondere „Klasse“, sondern eher als ein soziologisch noch nicht definiertes Konglomerat von zusammenhangslos nebeneinander existierenden Individuen, in dem es – im Unterschied zum bürgerlichen Mittelstand und zur Arbeiterschaft – noch keine politisch gefärbten Zugehörigkeitsgefühle gab. Die kleinbürgerlichen Angestellten hatten zwar auch eine Gewerkschaft, die DAG, die Deutsche Angestelltengewerkschaft, aber darüber machten sich die Arbeiter dieser Jahre, wie der Sozialdemokrat Mörschel, Lämmchens Vater, der den DAG-Männern vorwirft, keine „Solidarität“ zu haben, lediglich lustig (21). Über dessen sarkastische Ausfälle ist zwar der kleinbürgerliche Buchhalter Pinneberg empört, muß aber dann am eigenen Leibe erfahren, daß ihm diese Organisation in einer besonders brenzligen finanziellen Notlage keineswegs weiterhelfen kann (98). Wie der ihm verwandte Protagonist in dem ebenfalls 1932 bei Rowohlt erschienenen Roman Union der festen Hand von Erik Reger,13 wo es um die 1929 einsetzende wirtschaftliche Notlage der Stahlarbeiter in den Krupp-Werken geht, bleibt ihm daher am Schluß nur der hilflose Rückzug auf das eigene Ich und das treu zu ihm stehende Lämmchen übrig. Doch gerade die ideologische Unentschiedenheit Pinnebergs verschaffte diesem Roman den immensen Erfolg. Zugegeben, auch die präfaschistischen Kriegsromane eines Werner Beumelburg, Edwin Erich Dwinger, Franz Schauwecker und Joseph Magnus Wehner, die zum gleichen Zeitpunkt erschienen, hatten relativ hohe Auflagen, ja selbst die vom Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller herausgegebenen Roten Eine-Mark-Romane eines Willi Bredel, Hans Marchwitza und Klaus Neukrantz fanden ihre Käufer.14 Aber keins dieser Werke erfreute sich im Jahr 1932 einer so großen Beliebtheit wie Falladas Kleiner Mann – 191

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was nun? Und das hing sicher auch damit zusammen, weil ihm kein parteipolitisches Programm zugrunde lag, sondern sich all jene mittelständischen und kleinbürgerlichen Leserschichten, die – gewohntermaßen – von einem Roman eher ein individuell nachgezeichnetes Schicksal als ein hochideologisiertes Manifest erwarteten, rückhaltlos mit seinem Protagonisten und seinem Lämmchen identifizieren konnten. Es war daher gerade die parteipolitisch nicht eingeengte Offenheit dieses Werks, die sich als verkaufspsychologisch besonders wirksam, das heißt „publikumsnah“ erwies. Vor allem politisch weitgehend uninteressierte Frauen der gesellschaftlichen Unterschichten glaubten in Falladas Lämmchen eine geradezu vorbildliche Identifikationsfigur entdeckt zu haben, während sich die eher ambitionierteren Kleinbürgerinnen lieber die selbstbewußte Protagonistin in Irmgard Keuns Roman Gilgi. Eine von uns von 1931 zum Vorbild erkoren.

III Doch wie reagierten eigentlich im Jahr 1932, als die sozioökonomische Situation immer brenzliger wurde, die partei-, standes- oder klassengebundenen Rezensenten auf diesem Roman?15 Etwas vereinfacht gesprochen, lassen sich hierbei etwa sechs relativ deutlich erkennbare Haltungen unterscheiden: eine linke, eine nazifaschistische, eine bürgerlich-liberale, eine kirchliche, eine frauenorientierte sowie eine die Angestelltengewerkschaften unterstützende, die aus ihrer ideologischen Einstellung kein Hehl machten. Die sozialistisch eingestellte Presse verhielt sich diesem Roman anfangs recht kritisch gegenüber. Weder das in ihm geschilderte gesellschaftliche Milieu noch die literarische Verarbeitung der in ihm aufgeworfenen Probleme entsprachen ihren kulturpolitischen Anforderungen. Besonders die links von den Sozialdemokraten stehenden Parteien, vor allem die KPD, erwarteten in der wirtschaftlichen Notsituation von 1932 von einem solchen Roman eine klar herausgestellte Thematisierung des Klassenkampfes sowie einen sich mit dem Proletariat identifizierenden Protagonisten, um dem Ganzen einen in die innenpolitischen Konflikte „eingreifenden“, das heißt agitatorischen und damit gesellschaftsverändernden Charakter zu geben.16 Obwohl von alledem in Kleiner Mann – was nun? keine Rede ist, werteten die Rezensenten in den Blättern derartiger Parteien Falladas Roman dennoch weitgehend positiv, indem sie einerseits seinen unleugbaren „Realismus“ hervorhoben, andererseits seine antikapitalistischen Züge, wie die in ihm dargestellte „skrupellose Profitwirtschaft“ und das „beutegierige Quotensystem“ innerhalb der Marketingstrategien, herausstrichen,17 um so die

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Masse der diesen Roman verschlingenden Leserschichten in ihrem Sinne beeinflussen zu können. In den rechtsgerichteten Blättern, die sich ebenfalls Falladas Erfolg zu Nutze machen wollten, überwog dagegen eher das Bemühen, ihn so nachdrücklich wie möglich in das von ihnen angestrebte „völkische“ Literaturschaffen einzubinden. Obwohl es in diesem Lager auch Kritiker, wie Hanns Johst und Will Vesper, gab, die diesen Roman wegen seiner psychologischen und damit ins Apolitische abgleitenden Grundhaltung scharf verurteilten, ließen jedoch die meisten präfaschistisch eingestellten Rezensenten im Jahr 1932 mehrfach durchblicken, daß sie von Fallada – wegen seiner volksverbundenen Darstellungsweise – schon in naher Zukunft ein ideologisches Einschwenken auf ihre Parteilinie erwarteten. Ja, manche Vertreter dieser Richtung sahen in Pinneberg – aufgrund seines Durchhaltewillens – bereits einen vertrauenswerten, nicht umzubringenden „Kerl“,18 auf den man in Zukunft durchaus bauen könne. Die meisten Rezensionen von Falladas Kleiner Mann – was nun? erschienen jedoch in Tageszeitungen, die damals eher als „überparteilich“ galten. Auch ihre Besprechungen fielen fast durchweg wohlwollend aus. Besonders gelobt wurden in ihnen „die Alltäglichkeit und Durchschnittlichkeit des dargestellten Geschehens sowie die Wirklichkeitsnähe der Schilderungen“.19 Einen nachdrücklichen Akzent legten dabei viele auf die emotionale Betroffenheit, die dieser Roman bei seinen Lesern und Leserinnen auslöse. Darin äußere sich, wie es hieß, die ungewöhnliche Kraft des Autors, ja des „Dichters“ Fallada, seinen Gestalten ein Leben einzuhauchen, das ihnen trotz ihrer Hilflosigkeit eine unwiderstehliche Anziehungskraft gebe, die sich direkt auf den Leser übertrage, wie Arno Schirokauer am 10. Juni 1932 in der Leipziger Zeitung schrieb. Erwin Topf, der Rezensent des Berliner Tageblatts, hob zwar kurz darauf am 5. Juli in seiner Besprechung auch die gesellschaftskritischen Züge dieses Romans hervor, ging aber dann ebenfalls allen politischen Folgerungen, die sich aus der herrschenden Wirtschaftskrise ergeben hatten, aus dem Wege. Wie fast alle bürgerlich-liberalen Rezensenten beurteilte er Pinnebergs Arbeitslosigkeit nicht als systemimmanent, sondern als selbstverschuldet und daher nicht allgemeingültig für die gegenwärtig herrschende Situation. Nicht im „Stehkragenproletarier“ Pinneberg sah er die wichtigste Figur dieses Romans, sondern in Lämmchen, die den weiblichen Lesern sicher ein „Lächeln unter Tränen“ abnötigen würde. Ernst Heilbronn behauptete sogar zum gleichen Zeitpunkt in der Zeitschrift Die Literatur unter dem betont feuilletonistisch klingenden Titel Roman der Powreteh, daß Lämmchens „Sauberkeit“ jene Kraft sei, mit der man alle „sozialen Widerstände“ 193

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überwinden könne. Fast das gleiche schrieb Kurt Pinthus am 8. August im AchtUhr-Abendblatt, welcher ebenfalls den Selbstbehauptungswillen Lämmchens, der in dieser zerstörerischen Welt etwas Vorbildliches habe, in den Mittelpunkt seiner Besprechung rückte. Und so lief auch seine Besprechung – mit derselben ideologisch abwiegelnden Tendenz – letztlich darauf hinaus, daß man dem bedauerlichen Verlauf der sozioökonomischen Verhältnisse, wie er nun einmal seit 1929 eingetreten sei, nur mit einer „resigniert-apolitischen“ Haltung überstehen könne. Ja, ein anonym bleibender Rezensent schrieb im Juli 1932 in dem Blatt Die literarische Welt: „Hans und Lämmchen! Um dieser beiden Gerechten wird Sodom noch gerettet!“ Etwas kritischer äußerte sich innerhalb dieser Gruppe lediglich am 11. August Karl Breitinger in der Frankfurter Zeitung, der Fallada dafür rügte, durch die vielen Lämmchen- und Murkel-Episoden dem Ganzen einen Zug ins Idyllisierende gegeben zu haben, wodurch dieser Roman letztlich einen antiaufklärerischen Effekt habe. Auch Herbert Jhering kritisierte am 24. November im Berliner Börsen-Courier vor allem den unzeitgemäßen Optimismus dieses Romans, dem eine eskapistische Haltung zugrunde liege, anstatt das anvisierte kleinbürgerliche Lesepublikum über die tatsächlichen Ursachen der wirtschaftlichen Misere aufzuklären und ihm einen Ausweg aus seiner prekären Situation zu bieten. Worin dieser bestehen könne, deutete allerdings auch er nicht an. Doch derart kritische Stimmen innerhalb der sich als „überparteilich“ ausgebenden, sprich: mittelständischen Presse blieben die Ausnahmen. Die meisten anderen bürgerlich-liberalen Rezensenten begnügten sich fast durchgehend mit feuilletonistisch unverbindlichen Statements, indem sie lediglich die „anständige Gesinnung“ Pinnebergs herausstellten, der trotz aller Demütigungen stets „rechtschaffen“ bleibe, was in den meisten Fällen auf die Befürwortung jener resignierenden Haltung hinauslief, den herrschenden Verhältnissen lediglich mit moralischen Wertvorstellungen entgegenzutreten, statt sich gegen die Brüningschen Notverordnungen sowie andere hilflose Erlasse dieser Jahre mit einer zielgerichteten und zugleich kämpferischen Haltung aufzulehnen. Besonders die UllsteinBlätter unterstützten derartig ausweichende Gesinnungen. So hieß es etwa in der Berliner Morgenpost am 31. Juli über Falladas Kleiner Mann – was nun? mit bewußt klassenverschleiernder Tendenz, als seien mit diesem Verkäufer alle Deutschen gemeint: „Dieses ist unsere Geschichte! Wir sind alle der kleine Mann.“ Und daraus folgerte der anonym bleibende Rezensent, daß es heute vor allem darum gehe, die „Zähne zusammenzubeißen“ und somit dem gern herbeizitierten „unabweislichen Schicksal“ zu trotzen. Ja, selbst Carl Zuckmayer 194

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schloß sich am 7. August in der Vossischen Zeitung diesem Chor zustimmender Kritiker an und schrieb, daß sogar in heutiger Zeit, wo alles nur noch um Finanzprobleme zu gehen scheine, „die Liebe, die Tapferkeit und die Herzenswärme zweier Menschen stärker sei als ihre Not“. In diesem Roman triumphiere etwas, erklärte er, was sich weder durch „Tod, Pestilenz, Krieg und Weltwirtschaft zerstampfen noch durch Rohheit und Kälte ausbrennen“ lasse, weshalb er ebenfalls darauf verzichtete, auf die Möglichkeit irgendwelcher überindividuellen oder gar parteipolitischen Auswege hinzuweisen. Das gleiche taten die damals noch einflußreichen kirchlichen Presseorgane. Auch sie enthielten sich jeder konkret formulierten Kritik an den durch die seit 1929 grassierende Weltwirtschaftskrise ausgelösten, ins Chaotische tendierenden politischen und sozioökonomischen Verhältnisse. Wie die Ullstein-Blätter und die meisten anderen sogenannten bürgerlichen Zeitungen sahen auch sie im Rückzug Pinnebergs ins Private, ja Idyllische die einzige Möglichkeit, „ein kleiner, aber sauberer Mann zu bleiben“,20 während sie jede Form eines politischen Aktionismus ausdrücklich verwarfen. Fast der gleiche Tenor herrschte in den konservativen Frauenblättern dieses Zeitraums, in denen das mütterlich tapfere Lämmchen – im Gegensatz zu all jenen Schriften, die bis dahin das liberal gemeinte Bild der „Neuen Frau“ beschworen hatten – fast durchgehend als maßstabsetzend, wenn nicht gar vorbildlich herausgestrichen wurde, weil diese so herzerwärmend dargestellte Frau ihre moralische „Stärke“ nicht emanzipatorisch verstehe, sondern lediglich „zur Unterstützung des schwachen Pinneberg“ einzusetzen versuche.21 Und zwar beriefen sich derartige Blätter dabei gern auf jene Stelle in Falladas Roman, wo Lämmchen den vorübergehend verzweifelten Pinneberg mit folgenden Worten zu trösten versucht: „Nein, Jungchen, es wird schon werden. Ich glaub immer, es kann uns gar nicht schlecht gehen. Warum denn eigentlich? Fleißig sind wir, sparsam sind wir, schlechte Menschen sind wir auch nicht – warum sollte es uns da eigentlich schlecht gehen? Das hat doch gar keinen Sinn!“ (75). Nur die Publikationen der Angestellten-Gewerkschaften lehnten den Roman Kleiner Mann – was nun? durch die Bank ab. Was sie mit kleinbürgerlichem Ressentiment kritisierten, waren vor allem die abfälligen Bemerkungen Falladas über die Funktionslosigkeit der damaligen Organisationen dieser Art, worüber sich sowohl der Gewerkschaftsbund der Angestellten, der Deutsche Handelsgehilfen-Verband, der Allgemeine Freie Angestelltenbund als auch der Zentralverband der Angestellten erregten, denen es in erster Linie um die Aufrechterhaltung ihres kleinbürgerlichen Standesbewußtseins ging und die daher diesen Roman 195

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wegen seiner in einer Laubenkolonie spielenden Schlußabschnitte als einen „Vorstoß in Richtung Proletarisierung“ verwarfen.22 Ja, einige Rezensenten dieser Blätter stellten eine derartige Haltung geradezu als ein „Manko an Loyalität gegenüber den eigenen Standesgenossen“ hin.23 Summa summarum: Im Hinblick auf die in diesem Roman dargestellten Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise nach 1929 gab es zwar im damaligen Pressewesen auch einige linkskritische Stimmen, die sich dennoch – trotz mancher ideologischer Vorbehalte gegen diesen Roman – von der Drastik der in ihm geschilderten Verhältnisse und seiner enormen Breitenwirkung einen gesellschaftsverändernden Impuls versprachen. Dagegen sah die Mehrheit der Rezensenten aus dem bürgerlich-liberalen, kirchlichen und antifeministisch eingestellten Lager in der Betonung der Rechtschaffenheit und moralischen Anständigkeit Pinnebergs und seines Lämmchens lediglich eine ideologische Rechtfertigung jener altbewährten mittelständischen Wertvorstellungen, die sie als gesellschaftsstabilisierend verstanden und dementsprechend begrüßten. Das Fazit, das Patricia Fritsch 1995 in ihrer umfangreichen Studie über die zeitgenössische Rezeption dieses Romans zog, lautete daher zu Recht, daß Falladas Kleiner Mann – was nun? im Jahr 1932 – wegen seiner Reduzierung auf den privaten Bereich und zugleich seiner Betonung kleinbürgerlicher Moralvorstellungen – eher gesellschaftserhaltend als gesellschaftskritisch gewirkt habe.24 Den gleichen Eindruck erhält man, wenn man einige jener zahllosen Leserzuschriften heranzieht, die Fallada in diesem Jahr erhielt, die meist einen Zug ins Trostbedürftige, wenn nicht gar Sentimentale haben. „Das ist das wundersame, herrliche Leben“, schrieb ihm eine Leserin trotz aller Angst vor der unmittelbaren Zukunft, „wie es in Millionen und Abermillionen Geschöpfen lebt – jauchzt, weint – das ist das wundersame Menschenherz. Ach es wäre so schön, wenn immer noch etwas Sonne leuchtete über unseren Kindern. Nur daß nicht das Grau über ihnen zusammenschlage.“25 Im Brief einer anderen Leserin an ihn hieß es: „Es ist bewundernswert, wie Sie die Atmosphäre getroffen haben. Erschütternd, wie allmählich die grau-graue Elendsstimmung in das Dasein dieser beiden Menschen, einfacher Alltagsmenschen, trat. Es lag bei ihnen aber immer noch ein Schimmer über dem Ganzen – und die Grenze des Verbitternden, das schließlich den Leser nicht abstößt, weil er sich letzten Endes auch nicht zu helfen weiß, haben Sie hier so gut innegehalten.“26 Ja, ein weiterer Leser gab Fallada den wohlmeinenden Rat, auf dem Buchumschlag der sicher bald erscheinenden Neuauflagen folgenden Text abzudrucken: „In diesem Buch hat ein Mensch und Dichter geschildert, wie man trotz Arbeitslosigkeit seine Menschen196

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würde bewahren kann. Ein Zeitdokument von erschütternder Wirklichkeitsnähe, zugleich aber Halt und Freude für jeden, der sich nicht unterkriegen lassen will.“27

IV Doch nun zu der Frage, wie verhielten sich eigentlich die Nazifaschisten, die am 30. Januar 1933 mit Unterstützung der Großindustriellen, des gehobenen Mittelstands, der ideologisch verwirrten Kleinbürger und selbst Teilen der Arbeiterklasse auf höchst legalem Wege an die Macht kamen, diesem Roman gegenüber? Da er sich als ein Massenerfolg erwiesen hatte und keinerlei linkskritisch pointierte Passagen enthielt, duldeten sie ihn. Fallada mußte zwar in den ab 1933 erscheinenden Auflagen den als rabaukenhaft gezeichneten SA-Mann Lauterbach, den er zuvor als einen „Feind der Juden, welschen Reparationen, Sozis und der KPD“ charakterisiert hatte (64), in einen Fußballer abwandeln, doch sonst fanden die NS-Behörden nichts ideologisch Anstößiges in Falladas Kleiner Mann – was nun?, ja begrüßten höchstwahrscheinlich sogar seine gesellschaftsstabilisierende Grundhaltung. Außerdem galten in der systemkonformen Presse der Frühphase des Dritten Reichs die in diesem Roman geschilderten Mißstände bereits durch den angeblich das gesamte deutsche Volk ergreifenden Elan der neuen Aufbauprogramme als endgültig „überwunden“. An ihre Stelle, hieß es, sei jetzt ein von allen Bevölkerungsschichten – den Arbeitern der Stirn und den Arbeitern der Faust – befürworteter „Gemeinschaftsgeist“ getreten, aus dem sich nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich eine wesentlich verbesserte Gesamtlage ergeben habe. Und Fallada – menschlich labil und allen Radikalismen abhold – paßte sich dem von der Mehrheit der damaligen deutschen Bevölkerung akzeptierten braunen Zeitgeist mehr oder minder an und publizierte während des Dritten Reiches insgesamt 14 weitere Bücher. Selbst sein äußerst gesellschaftskritischer Roman Wolf unter Wölfen, in dem er die Misere der Inflationsjahre der frühen Weimarer Republik beschrieb, konnte daher 1936 – ohne daß sein Autor irgendwelche Zugeständnisse an die Nazifaschisten gemacht hatte – relativ ungehindert die staatliche Zensur passieren. Schließlich galten in den Augen der NS-Funktionäre derart „schlimme Zeiten“ zu diesem Zeitpunkt als längst überholt, ja konnten sogar als erwünschtes Negativbild zu der inzwischen erreichten Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs und der damit erreichten Vollbeschäftigung hingestellt werden.

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Eine Änderung in dieser Hinsicht trat erst in der auf den Zusammenbruch des Dritten Reichs folgenden Nachkriegszeit ein. Seine widerspruchsvolle Haltung unterm Nazifaschismus bereuend, ließ sich Fallada im Herbst 1945 von den Vertretern der sowjetischen Besatzungsbehörde sogar überreden, das Amt des Bürgermeisters im mecklenburgischen Feldberg zu übernehmen. Doch sein durch zuviel Drogengenuß immer bedenklicher werdender Gesundheitszustand zwang ihn schließlich, eine Heilanstalt in Ostberlin aufzusuchen. Dort versuchte ihn der Moskau-Rückkehrer und Präsident des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands Johannes R. Becher zu bewegen, Beiträge für die von den Sowjets herausgegebene Tägliche Rundschau zu verfassen – was Fallada auch tat. Obendrein schrieb er im Oktober 1946 in einer Ostberliner Klinik noch in wenigen Wochen den antifaschistischen Roman Jeder stirbt für sich allein und erlag anschließend am 5. Februar 1947 in einem Pankower Krankenhaus einem Schwächeanfall. In einem Nachruf auf ihn schrieb Becher wenige Tage später: „Seine Liebe galt dem einfachen Leben und den kleinen Leuten. Daß das einfache Leben oft höchst kompliziert war und was an Großem in diesen kleinen Leuten träumte, das schilderte er uns meisterhaft. Er kannte sich in dem Leben dieser kleinen Leute aus wie kaum einer, und wahrheitsgetreu reflektierte er ihre Stimmungen.“28 Und diese positiv gestimmten Worte über Fallada wirkten in der Sowjetischen Besatzungszone und dann der frühen DDR durchaus weiter, wie unter anderem Essays über Fallada von Heinz Rein, Lilly Becher, Max Schröder, Sabine Brandt und Wolfgang Joho belegen.29 Allerdings hob man dabei, wie schon in dem Aufsatz Das Schicksal eines deutschen Schriftstellers von Tamara Motyljowa, der bereits 1948 in der Zeitschrift Sowjetliteratur erschienen war,30 neben der lobenswert herausgestrichenen „realistischen“ Darstellungsweise Falladas sowie seiner Kritik an den sozialen und wirtschaftlichen Ausartungen des Kapitalismus, zugleich immer stärker hervor, daß er in seinem Roman Kleiner Mann – was nun? die Frage nach einer „wahren humanistischen Gesellschaftsordnung“, wie man sie in der DDR anstrebe, zu Gunsten einer „selbstgewählten isolierten Innerlichkeit“ ungebührlich vernachlässigt habe.31 In der ehemaligen Bundesrepublik war dagegen in den fünfziger und sechziger Jahren das kulturpolitische Interesse an diesem Roman wesentlich geringer. Im Zeichen des sogenannten Wirtschaftswunders der Adenauerschen Restaurationsperiode war hier auf politökonomischer Ebene fast nur von industriellen Zuwachsraten und der damit verbundenen Vollbeschäftigung die Rede, was zu den später nie wieder erreichten Wahlerfolgen der CDU/CSU führte, die 1957 198

Hans Falladas Kleiner Mann – was nun? (1932)

bei den Bundestagswahlen – trotz vehementer Proteste gegen ihre Wiederbewaffnungspolitik – sogar die absolute Mehrheit der Wähler hinter sich vereinigen konnte. Nun gut, Falladas Roman Kleiner Mann – was nun? verkaufte sich hier, wie so mancher frühere Bestseller, auch in diesen Jahren weiterhin gut, ja kam in den Jahren zwischen 1950 und 1975 noch einmal in über 500.000 Exemplaren auf den Markt.32 Aber eine Diskussion der darin behandelten gesellschaftlichen Verhältnisse blieb aus. Nicht nur die traditionellen Klassik-Verehrer sowie die Snobs der lediglich an modernistischer Literatur interessierten Germanisten ließen diesen Roman links liegen, auch die Publizisten der systemkonformen Presseorgane gingen ihm – wenn man von der 1963 erschienenen RowohltMonographie von Jürgen Manthey33 einmal absieht – aus dem Wege. Wer dachte jetzt noch an Wirtschaftskrisen und die durch sie ausgelöste Arbeitslosigkeit, wo es scheinbar unentwegt aufwärtszugehen schien? Ja, wer wollte sich – im Zeichen der ausbleibenden Vergangenheitsbewältigung – in der frühen BRD weiterhin an die „üblen Jahre“ der späten Weimarer Republik und dann des Naziterrors erinnern, wo doch alles auf ein durch nichts zu unterbrechendes wirtschaftliches Wachstum hindeutete, das Ludwig Erhard, der „Mister Wirtschaftswunder“, in seinem Buch Wohlstand für alle (1957) in so verlockenden Farben ausgemalt hatte? Selbst die sogenannte Achtundsechziger Bewegung bzw. die Außerparlamentarische Opposition, die nach der ersten Wirtschaftskrise um 1966/67 auftrat, änderte daran nicht viel. Zugegeben, sie führte zwar zeitweilig zum Wiederaufleben linkskritischer Tendenzen, die sich jedoch – im Gegensatz zu den Aktivitäten einiger basisdemokratischer Gruppen – eher antifaschistisch, maoistisch oder DDR-interessiert als wirtschaftspolitisch und damit antikapitalistisch äußerten. Schließlich verbesserte sich die ökonomische Situation schon um 1970 wieder so schnell, daß sich in der ehemaligen BRD kaum noch jemand Sorge um seinen Arbeitsplatz zu machen brauchte. Daher nahmen selbst in diesen Jahren weder die westdeutsche Germanistik, von einigen zwischen 1975 und 1978 erschienenen sozialhistorisch interessierten Schriften und Editionen einmal abgesehen,34 noch die westdeutsche Publizistik von Hans Fallada kaum noch Notiz. Das änderte sich erst, als 2008 jene weltweite Wirtschaftskrise einsetzte, deren Auswirkungen in vielen Ländern bis heute nicht überwunden sind. Dafür – im Hinblick auf Fallada – wenigstens drei Beispiele. So erschien etwa in Italien, wo sich die Arbeitslosigkeit besonders stark bemerkbar machte, in diesem Jahr eine 199

Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise von 1929

von der dortigen Presse als sensationell empfundene neue Übersetzung von Falladas Kleiner Mann – was nun?, die der bekannte Soziologe Ralf Dahrendorf in der Zeitung La Repubblica in einem ausführlichen Essay würdigte, in dem er die geradezu brisante Relevanz dieses Romans für die heutige Situation herausstrich. In der BRD kam es zu einer neuen Auseinandersetzung mit Fallada einerseits durch ein ihm im Jahr 2010 gewidmetes Audiobuch, das noch im gleichen Jahr vom Deutschlandfunk ausgestrahlt wurde, andererseits durch eine im Jahr 2013 erfolgte Dramatisierung seines Romans Wolf unter Wölfen im Deutschen Theater in Berlin. Das sind durchaus Aufmerksamkeit erregende Zeichen. Aber sie müssen auch ideologisch gedeutet und begriffen werden. Schließlich wiederholen sich geschichtliche Vorgänge nie in der gleichen Weise. Was sich wiederholt, sind lediglich die in Zyklen verlaufenden Rhythmen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, nicht die dadurch ausgelösten politischen, sozialen und kulturellen Begleitumstände, die höchst verschieden sein können. So wirkte sich etwa die Weltwirtschaftskrise nach dem Crash der New Yorker Börse im Oktober 1929 im Deutschland der Weimarer Republik geradezu katastrophal aus und führte zu einem schlagartig anwachsenden Potential rechtspopulistischer Gruppierungen und die sie mit den nötigen Wahlhilfen unterstützenden Großindustriellen, die – angesichts der immer aggressiver auftretenden KPD – schließlich den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg darauf drängten, einen nazifaschistisch auftretenden Populisten wie Adolf Hitler die Macht zu übergeben, um so eine sie bedrohende „Bolschewisierung“ Deutschlands zu verhindern. Derartige Befürchtungen erwiesen sich dagegen in der nach 1989 wiedervereinigten BRD – trotz der im Jahr 2008 wiederum durch die Vereinigten Staaten verursachten Weltwirtschaftskrise – als weitgehend unbegründet. Das wirtschaftliche Potential dieses Staats war durch die äußerst günstigen Exportbedingungen weiterhin ungebrochen, die Arbeitslosigkeit blieb im Vergleich zu anderen westoder südeuropäischen Ländern relativ niedrig und die rechtsradikalen Kräfte hatten daher – wegen der anhaltenden Wohlstandsgesinnung innerhalb der Mehrheit der mittelständischen Bevölkerungsschichten – kaum eine Chance, jene Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden, die ihnen einen Einzug in den Bundestag garantiert hätte. Die darauf folgende sozioökonomische Situation in der BRD glich deshalb – falls solche Vergleiche überhaupt sinnvoll sind – eher der halbwegs liberalen Prosperitätsphase in der Weimarer Republik in den Jahren zwischen 1923 und 1929, als eine Reihe Rechts-der-Mitte-Koalitionen am Ruder war. 200

Hans Falladas Kleiner Mann – was nun? (1932)

Und darum ist Falladas Roman Kleiner Mann – was nun? zwar ein historisch interessantes und zugleich äußerst lebendig geschriebenes Dokument aus jenen wirtschaftlich katastrophalen Jahren zwischen 1929 und 1932 geblieben, sollte aber keineswegs identifikatorisch gelesen werden. Die in ihm geschilderten Zustände – ob nun die Produktionsstockungen, die Absatzschwierigkeiten und die Arbeitslosigkeit der späten Weimarer Republik – mögen sich, wie gesagt, im Rahmen der zyklisch verlaufenden Struktur des marktwirtschaftlichen Systems zwar wiederholen, werden aber andere Formen annehmen und soziopolitisch andere Auswirkungen haben. Dennoch ist dieser Roman immer noch wichtig, wenn auch in einem negativen Sinne. Er könnte all jene Leser und Leserinnen, die ihn nicht nur auf eine halb erheiternde, halb sentimental-traurige Weise konsumieren, sondern die auch die sich aus der Haltung Pinnebergs und seines Lämmchens ergebenden politischen Konsequenzen bedenken, davor warnen, in wirtschaftlichen Notlagen die gleichen Konsequenzen wie diese beiden Figuren zu ziehen. Schließlich genügt es nicht nur, einfach wie Pinneberg aufzustöhnen: „Manchmal möchte man platzen vor Wut, daß alles so eingerichtet ist in der Welt“ (196). Und es reicht auch nicht aus, inmitten der wirtschaftlichen Misere eine „anständige“ Gesinnung zu behalten und sich allein an seinen Partner zu klammern, kurzum: sich wie Pinneberg damit zu trösten, daß ihn sein liebes Lämmchen am Schluß, nachdem ihn die Polizei wegen seines verdreckten Anzugs als möglichen Verbrecher vom Bürgersteig gestoßen hat und er keinen „Menschen mehr ansehen will“, mit folgenden Worten zu begütigen sucht: „Aber mich kannst du doch ansehen! Immer und immer! Du bist doch bei mir, wir sind doch beisammen“ (353). Daß solche Zeilen im Jahr 1932 vielen Lesern und Leserinnen einen seelischen Halt gegeben haben, sollte uns ideologisch verstören. Schließlich gibt es in sozioökonomischen Krisen keine individualpsychologischen Lösungen. Da helfen nur solidarische Zusammenschlüsse sowie aus ihnen hervorgehende politische Abwehr- und Umgestaltungsstrategien, um so endlich jene Finanzoligarchie oder jenen Corporate Liberalism, wie man in den USA sagt, zu überwinden, die aufgrund ihres ungehemmten Gewinnstrebens keinerlei Rücksicht auf die von ihnen ausgebeutete „breite Masse“ nehmen und die von ihnen propagierte Freie Marktwirtschaft dennoch weiterhin als Demokratie, das heißt als Volksherrschaft ausgeben.35

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„Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen“ Bertolt Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940)

I Im Gegensatz zu den bürgerlichen Schriftstellern unter den deutschen Exilanten erkannte Brecht nach der von den deutschen Großindustriellen und Großagrariern am 30. Januar 1933 in die Wege geleiteten Machtübergabe an Adolf Hitler, daß man den Nazifaschisten nicht allein mit idealistisch überspannten Kulturkonzepten entgegentreten könne. Ihm erschien es wesentlich wichtiger, lieber so kraß wie möglich auf die in ihrem Reich weiterbestehenden sozioökonomischen Gegensätze hinzuweisen, denen – trotz aller heuchlerischen „Volksgemeinschafts“Konzepte – noch immer die bisherigen kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und die damit verbundenen Ausbeutungspraktiken zugrunde lägen. Dafür spricht schon sein Stück Die Rundköpfe und die Spitzköpfe, an dem er in den Jahren 1933/34 arbeitete, dessen Hauptthema die faschistische Verschleierung der Klassenfrage ist, die von den in diesem Drama auftretenden Iberin-Leuten im Hinblick auf die ihnen unterstehenden Tschuchen und Tschichen in eine Rassenfrage umgefälscht wird. Er sah in diesen Jahren in Hitler vornehmlich einen mit demagogisch aufgebauschten Parolen operierenden „Anstreicher“,1 der mit gleisnerischen Parolen die noch immer bestehenden Klassengegensätze zu „übertünchen“ versuche. Als ebenso heuchlerisch brandmarkte er jenen Joseph Goeb­ bels, der sich ständig bemühe, zwischen einem „schaffenden“ und einem „raffenden“ Kapital zu unterscheiden, um die angeblich nur um das Volkswohl besorgten deutschen Industriellen von den allein auf ihren eigenen Gewinn bedachten jüdischen Börsenmaklern abzusetzen. Als daher im Ankampf gegen den Nazifaschismus im Juni 1935 unter dem Motto „Zur Rettung der Kultur“ in Paris die erste große Exilkonferenz stattfand, trat Brecht den dort versammelten bürgerlichen Liberalen, von denen er viele als ahnungslose Tuis empfand,2 mit der Forderung „Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen“ entgegen,3 um damit in aller Schärfe den zutiefst monopol- oder staatskapitalistischen Charakter des Dritten Reichs bloß202

Bertolt Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940)

zustellen, dessen Hauptziel in einer imperialistischen Machtausweitung bestehe. Ihm ging es zu diesem Zeitpunkt nicht in erster Linie um eine Rettung der ach so bedrohten Kultur, sondern um die Durchsetzung einer sozialistisch ausgerichteten Einheitsfront, die sich als stark genug erweisen würde, sowohl den räuberischen Expansionsgelüsten und den damit verbundenen Weltherrschaftsvorstellungen der NS-Führer als auch denen der deutschen Großindustriellen entgegenzutreten. Und an dieser Gesinnung hielt Brecht auch in den folgenden Jahren, als sich im Zuge der einsetzenden Volksfrontpolitik eine Allianz zwischen den bürgerlichen Liberalen und den Linken unter den Exilanten anbahnte, die sogar von der Sowjetunion unterstützt wurde, lange Zeit unerbittlich fest. Obwohl er nur mit „Worten“ gegen den Nazifaschismus ankämpfen konnte, hoffte er wenigstens durch die inhaltliche Tendenz seiner Dramen, Romane, Gedichte und Essays so scharf wie möglich auf den grundsätzlichen Unterschied zwischen einer mittelständisch-liberalen und einer sozialistischen Gesinnung hinzuweisen, die man auch unter den Bedingungen des Exils nicht vergessen dürfe, statt sich mit wohlgemeinten, aber unwirksamen Gemeinplätzen zu begnügen, denen keine gesellschaftlich verändernde Absicht zugrunde liege. Dafür spricht nicht nur sein Dreigroschenroman (1934) sowie sein Drama Der gute Mensch von Sezuan (1938), sondern selbst sein eher komödiantisch angelegtes Volksstück Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940), das bisher selten unter dieser Perspektive betrachtet worden ist, in dem es nicht nur um die bereits von Diderot und Hegel herausgestellte Herr-Diener-Konstellation,4 sondern ebenso eindeutig um die alles überschattende Eigentumsfrage sowie die Verlogenheit der nazifaschistischen Volksgemeinschaftsparolen geht.

II Sehen wir uns unter dieser Perspektive dieses Stück einmal etwas genauer an. Schon die Tatsache, daß es von betont bürgerlich eingestellten Kritikern gern als ein absolut unideologisches und daher unsozialistisches Stück hingestellt wurde und sich daher in der Frühphase des Kalten Krieges auf den westlichen Bühnen einer besonderen Beliebtheit erfreute, sollte uns zu denken geben. Im Puntila/Matti glaubten diese Kreise eine „wahre Dichtung“ entdeckt zu haben, wo sich nicht der Theoretiker, sondern der Menschengestalter Brecht, der Gerhart-Hauptmann-Brecht, der Biberpelz-Brecht durchgesetzt habe. Mit dem Puntila sei ihm eine „vollsaftige Figur“ gelungen, hörte man damals immer wieder, deren ungebärdige Vitalität den sozialkritischen Aspekt des Ganzen 203

„Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen“

völlig in den Hintergrund dränge. So behauptete etwa Martin Esslin, daß Brecht hier gegen seine eigenen Doktrinen verstoßen habe, in dem er nicht mit dem Unterdrückten, dem Knecht Matti, sondern dem Ausbeuter, dem Herrn Puntila, sympathisiere, „who steals the play“.5 Franz Hubert Crumbach meinte, daß es in diesem Stück, wo alles auf „Spaß“ angelegt sei, eigentlich gar „keinen Konflikt“ gebe. Das Ganze erschien ihm wie ein „Kunstwerk“, dessen agitatorischer Charakter recht „ungeschickt und wie nachträglich hineingeflickt“ wirke.6 Marianne Kesting erklärte im Hinblick auf den Puntila/Matti: „Der politische Gehalt ist denkbar gering und wird vom Komischen überspielt.“7 Frederic Ewen drängte das Politische so stark in den Hintergrund, daß seine Interpretation dieses Stücks schließlich beim „theater of absurdity“ landete.8 Andere fanden es geradezu gemein, daß Matti seinen Herrn am Schluß des Stücks schnöde verlasse, anstatt ihm weiterhin in seinen „nüchternen“ Stunden den nötigen Trost zu spenden. „Wir zürnen Matti“, schrieb Crumbach empört, „wenn er sich am Ende aus dem Staub macht. Gegen den tatsächlichen Verlauf der Fabel setzen wir die Überzeugung, daß zwischen einem solchen Herrn und einem solchen Gesinde ein modus vivendi zu finden sein müsse.“9 Kurzum: die westliche Meinung bestand weitgehend darin, daß Brecht in diesem Drama seiner dichterischen Phantasie einfach freien Lauf gelassen habe, ohne sich groß um irgendwelche weltanschaulichen oder gar politischen Probleme zu kümmern.10 Und in diesem Sinne wurde das Ganze damals auch aufgeführt, jedenfalls im Bereich der NATO-Pakt-Länder. Man machte es sich leicht und spielte den Puntila/Matti wie einen Nestroy, ein derbes Volksstück oder – bestenfalls – einen mit Klamauk versehenen Biberpelz. So hieß es 1965 bei einer Aufführung dieses Stücks im Westberliner Schiller-Theater, daß niemandem aufgegangen sei, daß der angeheiterte Puntila auch einen „schlechten Charakter“ habe. Ja, Matti habe mit seiner „gutmütig sonoren Stimme“ immer anzusagen versucht, daß „alles nicht so ernst sei, man spiele eben ein bißchen“.11 Ähnliches las man 1966 von einer Kölner Inszenierung. „Puntila ist ein Volksstück“, hieß es hier, „dessen Lehrstückcharakter und dessen etwas künstlich hineingeflickte, klassenkämpferische Tendenz – hie kapitalistischer Herr, hie proletarischer Knecht – von der poetischen Kraft des Menschengestalters Brecht überwunden werde.“12 Die gleiche Konstellation herrschte offenbar bei einer Düsseldorfer Aufführung vom Jahr 1969, wo man die „soziale Dialektik“ zwischen Puntila und Matti einfach „in hochgetrimmter Heiterkeit ertrinken ließ“.13 Wenn das zufällig herausgegriffene Einzelfälle wären, könnte man über solche Interpretationen oder Aufführungen schweigend hinwegsehen. Doch man spürt 204

Bertolt Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940)

die Absicht und ist folgerichtig verstimmt. Immer wieder wurde der vom „Allgemein-Menschlichen“ ergriffene Brecht gegen den Theoretiker des epischen oder besser dialektischen Theaters ausgespielt, um seine Stücke zu entideologisieren und damit ins „Poetische“ abzuschieben. Bei anderen Stücken, wie der Mutter Courage oder dem Galilei, haben selbst im Westen eher „kritisch“ eingestellte Kritiker solche Tendenzen ins Verharmlosende schon damals zurückgewiesen. Doch im Hinblick auf den Puntila/Matti glaubte man, daß er letztlich „unproblematisch“ sei, weshalb man dieses Stück meist harmloser spielte und in seiner komödiantischen Art in das gehobene Unterhaltungsgenre einreihte. Wirkten nicht seine Figuren, als stammten sie aus einer abgegriffenen „Mär aus alten Zeiten“: Ein reicher Großgrundbesitzer mit seiner schönen Tochter, der einen seiner Wälder verkaufen will, um ihr eine stattliche Mitgift geben zu können – und daneben ein treuer Knecht, der ihm in allen Lebenslagen, besonders im Zustand der Trunkenheit, wieder auf die Beine hilft und ihn erst am Schluß verläßt, weil er Puntilas Anfälle von Nüchternheit nicht länger ertragen kann? Und außerdem: Nannte sich nicht dieses Werk als einziges abendfüllendes Brecht-Drama ein „Volksstück“, schien also von vornherein aufs Populäre oder Primitive abgestimmt zu sein? Spielten nicht im Puntila/Matti, wie in vielen herkömmlichen Volksstücken, Erotik, Alkohol und familiäre Streitigkeiten eine besonders große Rolle? Wurde nicht auch hier ständig geflucht, gesoffen und herumgebrüllt, um dem Ganzen etwas Saftiges, Kerniges, Derb-Originelles zu geben? Manche sagten daher kurzentschlossen: „Was soll hier Sozialismus? Ist nicht bequem. / Nur wer im Suffe lebt, lebt angenehm!“ Schließlich schien in diesem Werk allein das Elementare, die zügellose Triebsphäre des „natürlichen“ Menschen vorzuherrschen. Also ließ man bei einer solchen Komödie das angestrengte Theoretisieren lieber weg. War dies nicht im besten Sinn ein kulinarisches Theaterstück, wo man die unterhaltenden Gags und Lazzi auf der Stelle konsumieren konnte, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen? Schließlich schien dieser Puntila im Grunde seines Herzens ein prächtiger Kerl zu sein, der jede Kreatur an sein großes Herz zu ziehen versucht, wenn ihn der allesverklärende Aquavit-Rausch überkommt.

III Doch war dieses Drama wirklich nur ein Lustspiel fürs „Volk“, also für Leute mit beschränkter Intelligenz, die sich nur amüsieren wollen? Oder gingen hier nicht auch viel kompliziertere Dinge vor sich? Wirkt nicht die ständige Gespal205

„Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen“

tenheit Puntilas wie ein dialektischer Prozeß, der auf den Gesamtwiderspruch der hier geschilderten Gesellschaft hindeuten soll? Und wie konnte überhaupt Brecht, falls er je ein guter Sozialist gewesen ist, dieses Stück herablassend als „Volksstück“ bezeichnen, als dichte er hier quasi in Hemdsärmeln, um auch den geistig Minderbemittelten einmal einen Spaß zu bereiten? War nicht der Begriff „Volk“ für einen linken Theoretiker einer der höchsten Begriffe schlechthin, den man nur mit der nötigen Reverenz aussprechen darf? All das sollte von vornherein davor warnen, im Puntila/Matti lediglich eine zweitklassige Volkskomödie zu sehen. Ich finde, dieses Drama gehört zu den besten Stücken Brechts überhaupt, das heißt zu jener Reihe von Meisterwerken von der Mutter Courage bis zum Kaukasischen Kreidekreis, die er in dem Zeitraum zwischen 1938 und 1944 verfaßte. Der Puntila/Matti entstand 1940. Was Brecht in diesen Jahren anstrebte, war eine immer stärkere Integrierung von „Volkstümlichkeit und Realismus“, wie einer seiner wichtigsten Aufsätze von 1938 heißt. Diese Absicht läßt sich nur verstehen, wenn man sie vor dem Hintergrund der damals herrschenden dogmatischen Verhärtung des Sozialistischen Realismus interpretiert, durch die auch Brechts „hochbewußte, distanzierende Ästhetik“ in den Verdacht des Formalismus und der Volksferne geraten war.14 Wenn er also den Puntila/Matti als „Volksstück“ bezeichnete, so war das einerseits der Versuch, solchen Angriffen die Spitze abzubrechen, andererseits wollte er damit den sogenannten „Murxisten“ eine deutliche Lehre erteilen, wie ein wirklicher „Realismus“ auszusehen habe. Wonach er strebte, war also weder das im stalinistischen noch im nazifaschistischen Sinne „Volkstümliche“ oder „Tümliche“, wie er es gern abschätzig nannte, sondern etwas, was alle Schichten des Volkes anspricht und nicht nur den „niederen“ Klassen ein billiges Amüsement gewährt. So betrachtet, war die Bezeichnung „Volksstück“ für Brecht in diesen Jahren eher etwas, hinter dem sich eine seiner höchsten Ambitionen verbirgt. Er schrieb dazu in seinen Anmerkungen zum Volksstück, die im gleichen Jahr wie der Puntila/ Matti entstanden: „Das Volksstück ist für gewöhnlich krudes und anspruchsloses Theater, und die gelehrte Ästhetik schweigt es tot oder behandelt es herablassend. Im letzteren Fall wünscht sie es nicht anders, als es ist, so wie gewisse Regime sich ihr Volk wünschen: krud und anspruchslos. Da gibt es derbe Späße gemischt mit Rührseligkeiten, da ist hanebüchene Moral und billige Sexualität. Die Bösen werden bestraft, und die Guten geheiratet, die Fleißigen machen eine Erbschaft, und die Faulen haben das Nachsehen. Die Technik der Volksstückschreiber ist ziemlich international und ändert sich beinahe nie. Das Volksstück 206

Bertolt Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940)

war eine lange verachtete und der Routine überlassene Gattung. Es ist an der Zeit, ihr das hohe Ziel zu stecken, zu dem ihre Benennung diese Gattung eigentlich von vornherein verpflichtet!“15 Das hohe Ziel ist also unverkennbar da. Brecht griff hier nicht in die „Rumpelkammer des ‚Ewig-Komischen‘“, wie es in dem Band Theaterarbeit heißt, sondern arbeitete bewußt mit „erhabenen“ Shakespeare-Anklängen, echter schauspielerischer „Artistik“ und einem Vortragsstil, als würden alle Worte wie auf „goldenen Tellern“ gereicht.16 Es geht also nicht um Tümliches, sondern um die Veredlung eines als unliterarisch geltenden Genres, was Brecht auch im Bereich der Kalendergeschichten und des Bänkelsangs versucht hat, um so der Esoterik bewußt „modernistischer“ Dichtungen entgegenzuarbeiten. Daher machte er auch hier einen eigenen Gegenentwurf zu einer bisher als niedrig verschrieenen Gattung, um ihr jene Bedeutsamkeit zu verleihen, die nicht nur dem legendären „Mann von der Straße“, sondern auch dem intellektuell Anspruchsvollen etwas bietet.

IV Die erste Anregung zu diesem Stück erhielt Brecht im Herbst 1940, als er mit seiner Familie und Margarete Steffin auf dem Gut Marlebäck der finnischen Dichterin Hella Wuolijoki weilte. Brecht scheint ihr in dieser Zeit von seiner Arbeit am Guten Menschen von Sezuan erzählt zu haben, worauf sie ihm ihr Filmskript Die Sägespäneprinzessin vorlas, in dem es ebenfalls um das Problem einer gespaltenen Persönlichkeit geht.17 Als Brecht dieses Skript, das noch unverfilmt war, als „recht interessant“ bezeichnete, schlug sie ihm vor, das Ganze in ein Drama umzuschreiben und sich dann gemeinsam mit ihr an einem Wettbewerb für Volksstücke zu beteiligen Die Fabel dieser Sägespäneprinzessin verläuft folgendermaßen: 1. Akt: Puntila säuft mit anderen Honoratioren auf Kurgela und macht in beschwipstem Zustand den Vorschlag, der strengen Tante Hanna, die ihn immer wieder zu zähmen versucht, mit dem gesamten Gesinde ein Ständchen zu bringen. Doch die anderen lehnen entrüstet ab, und Tante Hanna und Tochter Eva verstecken schnell die restlichen Flaschen. Danach macht der Schofför Kalle, der eigentlich ein verkleideter Dr. Vuorinen ist, Eva den Hof. 2. Akt: Puntila erzählt von seiner Fahrt zum ungesetzlichen Schnaps und seiner Verlobung mit den fünf Bräuten. „Im Suff sind wir alle Brüder“, behauptet er, worauf ihn Kalle mit den Worten umarmt: „Ich habe einen guten Herrn.“ Anschließend verteilt Puntila Hundertmarkscheine. Als die fünf Bräute eintreffen, ist er zu Tode erschrocken und 207

„Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen“

bittet Kalle, ihm aus der Patsche zu helfen. Kalle verlangt dafür Eva zur Braut, was ihm sofort zugestanden wird. 3. Akt: Kalle versucht Eva zu entführen und schwärmt von einem romantischen Armeleuteleben in einer kleinen Stube. Als Puntila wieder nüchtern wird, entläßt er Kalle kurzentschlossen. Kalle gibt sich daraufhin als Dr. Vuorinen zu erkennen, und das Ganze schließt mit einer Doppelverlobung zwischen Puntila und Hanna sowie Vuorinen und Eva. Aufgrund dieser Vorlage begann Brecht am 2. August 1940 mit seiner eigenen Version des Puntila, wie man seinem Arbeitsjournal entnehmen kann. Im Gegensatz zu Hella Wuolijoki, die an eine „leichte Komödie“ oder „Farce“ gedacht hatte, mit der sie das Publikum „in erster Linie amüsieren wollte“, scheute Brecht nicht davor zurück, sowohl die „psychologisierenden Gespräche“ und die „konventionelle dramatische Technik“ als auch die falschen „Tümlichkeiten“ der Vorlage einfach „niederzureißen“.18 Doch trotz aller Änderungen scheint er sich bei seinem ersten Entwurf noch stark an die Figur des Puntila gehalten zu haben, was sein Arbeitstitel Die zwei Seelen des Herrn Puntila beweist.19 Eine so einseitige Perspektive verstieß jedoch gegen Brechts Gesellschaftsbild. Er tilgte daher alles „Dionysische“, mit dem Hella Wuolijoki ihren „Bacchus von Häme“ ausgestattet hatte,20 und verschärfte dafür die materialistischen Aspekte. Dazu paßt, daß er die intrigante Hanna und den verkleideten Dr. Vuorinen einfach wegließ, um dafür als zentralen Gegenspieler den proletarischen Matti in die Handlung einführen zu können. Und zwar griff er für diese Figur auf den von ihm stets bewunderten „Schwejk-Ton“ zurück, um so dem „Puntila-Ton“ einen wirksamen Kontrast zu verleihen.21 Ebenso wichtig für die weitere Ausgestaltung des Gegensatzes zwischen Herr und Knecht scheinen der Film City Lights (1931) von Charlie Chaplin und der Roman Jakob und sein Herr (1796) von Denis Diderot gewesen zu sein. Eine weitere Anregung für das Herr-Diener-Verhältnis empfing Brecht auf einem Gesindemarkt, den er in der Nähe Marlebäcks besuchte und dessen Eindrücke er in der vierten Szene verarbeitete. Durch diese Änderungen scheint der Aufbau des Ganzen arg ins Wanken geraten zu sein. Brecht griff daher als geschickter Theaterpraktiker kurzerhand auf eine bereits bestehende Volkskomödie zurück, in der sich alle diese Handlungselemente bequem unterbringen ließen und die zugleich eine ideale Basis für eine konsequente Umfunktionierung bot. Deshalb steckt nicht nur in der Dreigroschenoper und der Heiligen Johanna der Schlachthöfe, sondern auch im Puntila/Matti ein geschickt getarnter und doch sehr offensichtlicher Gegenentwurf. Aber an welche Volkskomödie mag Brecht dabei gedacht haben? Nach meiner Meinung kann dieses Modell nur Carl Zuckmayers Der fröhliche Weinberg 208

Bertolt Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940)

(1925) gewesen sein, der zu den erfolgreichsten Dramen der zwanziger Jahre gehörte und mit dem Brecht bis ins Detail vertraut war. Schließlich handelt es sich im Fröhlichen Weinberg ebenfalls um einen reichen Gutsbesitzer, nämlich den vermögenden Winzer Gunderloch am Rhein, der einen halben Weinberg verkaufen will, um seiner Tochter eine stattliche Mitgift geben zu können. Auch er strebt ins „Höhere“ und möchte sein Klärchen mit einem arroganten Couleurstudenten, dem albernen Knuzius, verheiraten, während sie, wie die Eva in Brechts Puntila/Matti, lieber einen Prachtkerl aus dem Volke haben möchte. Beide, der finnische Attaché und der deutsche Studentenfatzke, sind reine Mitgiftjäger und werden von ihren Schwiegervätern als schwächlich oder „nicht Manns genug“ bezeichnet.22 Sowohl Klärchen als auch Eva versuchen sich der drohenden Verkuppelung in letzter Minute durch eine überstürzte Abreise zu entziehen. Doch fast noch wichtiger ist die verhinderte Verlobungsfeier, die in beiden Stücken im Mittelpunkt steht und in ein allgemeines Besäufnis ausartet. So weit scheint alles identisch zu sein.23 Doch dann kommt der Schluß, wo der Fröhliche Weinberg und der Puntila/ Matti plötzlich weit voneinander abweichen. Bei Zuckmayer herrscht das übliche Komödien-Happy-End: Knuzius landet auf dem Misthaufen, das gute Klärchen bekommt ihren Rheinschiffer und selbst für den alten Gunderloch fällt noch ein prächtiges Weibsbild ab – und alles schwimmt in eitel Harmonie und Seligkeit. Nicht der Auseinanderfall einer Familie, ja fast der gesamten Gesellschaft, wie bei Brecht, steht am Ende, sondern eine geradezu märchenhaft zustande gekommene Doppelverlobung, die ein Fotograf der „Neuen Sachlichkeit“ sofort aufs Bild zu bannen versucht. Während es also in dem einen Stück ständig um klar herausgestellte Klassengegensätze geht, werden in dem anderen nur momentane Unstimmigkeiten behandelt, die sich mit etwas gutem Willen aus der Welt schaffen lassen. Der arme Matti weiß ganz genau, in welche Schwierigkeiten er durch eine Heirat mit der verwöhnten Eva geraten würde. Daher schlägt er sie lieber aus. Bei dem Zuckmayerschen Brautpaar scheint dagegen Geld überhaupt keine Rolle zu spielen. Sein Klärchen verzichtet freiwillig auf ihre Mitgift und wird mit liebevollem Augenaufschlag ein „Schiffermädche“. „In eme Schlepphäusche aufm Rhein fahre“, sagt sie gerührt, „das hab ich mir immer gewünscht.“ Worauf der gute Jochen seinem Schwiegervater erklärt: „Mitgift, Erbschaft un Familiegut, das hat sich überlebt, das brauche wir heut nit mehr! Mir komme von unne ruff und schaffes selber!“24 Dieselbe Gegensätzlichkeit äußert sich in beiden Stücken in ihrem Verhältnis zu den angeblich allen Menschen zugänglichen Schönheiten der Natur. Während 209

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bei Zuckmayer der Reiche und der Arme beim Anblick der in der Morgensonne dampfenden Weinberge in einen fast gleichlautenden Wonnejubel ausbrechen, antwortet Matti auf die Frage seines Herrn, ob ihm nicht „das Herz aufgehe“, wenn er die herrlichen finnischen Wälder betrachte, mit säuerlich verzogener Miene: „Das Herz geht mir auf, wenn ich Ihre Wälder seh, Herr Puntila!“25 Was bei Brecht also im Gegensatz zu Wuolijoki und Zuckmayer fehlt, ist sowohl das Krude als auch jedes romantisierende Versöhnlertum. Er ließ sich in seiner unbürgerlichen Art nicht von dem gängigen Klischee blenden, daß die Liebe eine alle klassenbedingten Gegensätze überwindende „Himmelsmacht“ sei, wie das selbst Zuckmayer passierte, sondern strich die unterschiedlichen Besitzverhältnisse und die sich daraus ergebenden sozialen Verhaltensweisen so klar wie möglich heraus. Und dadurch gelang es ihm, das ältere „Volksstück“, das gegen Schluß meist ins Sentimentale ausartet, im Sinne seiner materialistischen Anschauungen endlich vom Kopf auf die Füße zu stellen und ihm damit einen gesellschaftskritischen, das heißt die hergebrachten Geld- und Eigentumsverhältnisse in Frage stellenden Charakter zu verleihen. Als daher Hella Wuolijoki seine Bearbeitung ihrer Sägespäneprinzessin zum ersten Mal vorgelegt bekam, war sie „sehr erschrocken“, wie Brecht in sein Arbeitsjournal schrieb.26 Sie hatte sich das Ganze wesentlich „dramatischer“ und „lustiger“ vorgestellt, also mehr im Sinne einer naturalistischen Milieukomödie à la Zuckmayer. Doch Brecht scheint sie schnell für seine Intentionen gewonnen zu haben, worauf sie seine Bearbeitung im Januar 1941 unter dem Titel Der Gutsherr Iso-Heikkila und sein Knecht Kalle ins Finnische übertrug. In dieser Form ist dann der „SägespänePuntila“ 1946 in Helsinki im Druck erschienen. Einen Preis hat er allerdings nie erhalten.

V Unzufrieden und experimentierfreudig, wie Brecht nun einmal war, ging er schon 1941 und dann noch einmal im amerikanischen Exil an eine Zweit- und Drittbearbeitung seines Puntila/Matti heran, um das sogenannte „Volksstück“ endgültig aus den Fesseln der älteren Ästhetik zu befreien. Und das gelang ihm auch, indem er die verfremdenden Züge weiterhin verstärkte und zugleich die Dialektik zwischen Herr und Knecht immer schärfer herauspräparierte, um diesem Stück dieselbe materialistische Aussagekraft wie dem Guten Menschen von Sezuan oder der Mutter Courage zu geben. Auch sein Puntila/Matti ist daher so widerspruchsvoll, so facettenreich, so satirisch und zugleich so genüßlich, wie man sich das von Brecht nur wünschen kann. Für die Deutung der beiden Hauptge210

Bertolt Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940)

stalten gilt es dabei vor allem zwei Aspekte im Auge zu behalten: die Dialektik zwischen dem guten und dem bösen Puntila sowie die Dialektik zwischen Puntila dem Herrn und Matti dem Knecht. Was soll eigentlich der ständige Wechsel von Suff und Nüchternheit, dem Puntila von Szene zu Szene unterworfen wird? Ist dies nur ein komödiantischer Gag? Als solcher wäre er weder besonders originell noch besonders komisch, obwohl hier auch die bloßen Lacher durchaus auf ihre Kosten kommen, ja manche dieser Besäufnisszenen zum Besten gehören, was die Geschichte des deutschen Lustspiels aufzuweisen hat. Man denke an die große Anfangsszene, wo Puntila alle anderen unter den Tisch trinkt und darauf selbstvergessen auf dem Aquavitmeer wandelt. Das gleiche gilt für die Verlobungszene mit all ihrer beschwipsten Heiterkeit. Allerdings artet diese Komik nie zum Selbstzweck aus. Denn in all diesen Szenen geht es zugleich um den sehr ernst aufgefaßten Gegensatz zwischen echter und falscher Menschlichkeit. Wie der dicke Millionär in Chaplins City Lights, der dem guten Charlie erst seine Geldbörse schenkt und dann die Polizei rufen läßt, wird auch Puntila ständig hin- und hergerissen zwischen seiner nur im Suff zum Durchbruch kommenden „Gutherzigkeit“ sowie seiner gesellschaftlichen Rolle als tyrannischer Gutsbesitzer, die ihm bei jedem Anfall von Nüchternheit wieder zum Bewußtsein kommt. Brecht unterscheidet sich in dieser Hinsicht grundsätzlich von vielen anderen linksorientierten Autoren, indem er die Besitzenden, die Großagrarier, die Kapitalisten nicht als böse Schreckbilder auftreten läßt, sondern lediglich ihre Rollenhaltungen beschreibt. Alle diese Figuren sind für ihn nicht im moralischen Sinne gut oder böse, sondern handeln in bestimmten Situationen lediglich rücksichtslos, ja brutal, weil sie die herrschenden Eigentumsverhältnisse zu solchen Untaten verpflichten, die an sich ihrem ursprünglichen Gutsein im Sinne Rousseaus zutiefst widersprechen. Puntila ist daher kein böser Kapitalist, der lediglich aus Gier und Habsucht handelt, sondern ein von seiner natürlichen Güte entfremdeter Mensch, der durch seine Rolle als Großgrundbesitzer zu einem herrischen und ausbeuterischen Gebaren gezwungen wird, ohne das er sich als Estatium possessor im erbitterten Konkurrenzkampf des kapitalistischen Systems gar nicht behaupten könnte. Sein eigentliches Wesen kommt daher nur im Zustand des Außersichselbstseins zum Durchbruch, das heißt im Suff. Nur dann spricht er von der Verbrüderung aller Menschen und möchte die armen Knechtlein zu Mitbesitzern seiner Wiesen und Wälder machen, als sei die konkrete gesellschaftliche Situation völlig außer Kurs gesetzt. Doch wehe, wenn er aus diesem Zustand erwacht! Dann ist er wieder der Großgrundbesitzer, der 211

„Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen“

jeden anschnauzt, nur nach seiner Arbeitskraft beurteilt, übers Ohr zu hauen versucht und von brüderlicher Vertrautheit mit seinen Knechten nichts mehr wissen will. Brecht weist damit auf die gleiche Einsicht hin, die schon seiner Heiligen Johanna der Schlachthöfe zugrunde liegt: Im Rahmen deutlich markierter Klassengesellschaften handele der Einzelne stets kastenmäßig determiniert und unterdrücke seine ursprünglich „guten“ Regungen zugunsten des ökonomischen Kalküls. Im Guten Menschen von Sezuan, den Brecht fast gleichzeitig mit dem Puntila/Matti schrieb, wird diese Spaltung in naturgegebene Güte und gesellschaftliche Konkurrenzhaltung in der Doppelfigur Shen Te/Shui Ta in den Mittelpunkt eines ganzen Stücks gestellt. Doch schon in Mann ist Mann, den Sieben Todsünden und dem Galilei finden sich Vorstufen zu solchen „Split Characters“.27 Es gibt Brecht-Interpreten, die diesen Konflikt als notwendig „tragisch“ bezeichnet haben.28 Eine solche Sicht erscheint mir jedoch im Hinblick auf Puntila fehl am Platze. Schließlich handelt es sich bei ihm weder um den psychologischen Kampf zwischen „Herzensgüte und teuflischer Kälte“, von dem Franz Hubert Crumbach spricht,29 noch um den Konflikt jener berühmten „zwei Seelen, ach in meiner Brust“, welcher die goethezeitlichen Idealisten so tragisch erschütterte. Genau besehen, wirkt Puntilas Gespaltenheit eher wie ein theatralischer Trick, der in seiner Komik zugleich zur Problematisierung dieser Figur beitragen sollte. „Die beiden Puntilas verfremden sich wechselseitig“, schrieb Paul Rilla dementsprechend, „der Betrunkene den Nüchternen, der Nüchterne den Betrunkenen.“30 Fritz Martini behauptete ähnliches: „Puntila produziert in sich selbst den V-Effekt, indem seine beiden Wesenshälften grell aufeinander hinweisen und sich gegenseitig der Kritik unterziehen.“31 Kein Wunder also, daß Puntilas Verbrüderungspathos vor dem Hintergrund der in aller Schärfe herausgestellten Eigentumsverhältnisse wie eine sentimentale Humanitätsduselei wirkt, während die scharf herausgestellten Eigentumsverhältnisse vor dem Hintergrund seines Verbrüderungspathos einen ausgesprochen brutalen und damit unmenschlichen Eindruck erwecken. Auf diese Weise hoffte Brecht, die Notwendigkeit der Änderung eines solchen Gesellschaftssystems ein für allemal bewiesen zu haben. Wenn man die Analyse dieser Dialektik einmal so weit getrieben hat, läßt sich ihr sogar noch ein weiterer Aspekt abgewinnen. Aufgrund dieser wechselseitigen Verfremdung wirken nämlich die hochtönenden Worte, die Puntila im Zustand des Berauschtseins von den Lippen fließen, nicht nur als Ausdruck seiner ursprünglichen Herzensgüte, die lediglich durch den gesellschaftlichen Rollen212

Bertolt Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940)

zwang ins Unbarmherzige entfremdet wird, sondern zugleich als bloßes Suffpalaver. Man soll hier also nicht nur lachen, sondern zugleich die Hohlheit solcher gleisnerischen Phrasen durchschauen, vor allem wenn sie von einem „Großkopfeten“ stammen. Man könnte daher mit der gleichen Berechtigung behaupten: Von Verbrüderung sprechen solche Leute nur im Rausch, im Dusel, wenn sie nicht mehr ganz bei Troste sind. So erklärte etwa Paul Dessau, daß gerade das „Sympathische“, das Puntila in seiner Besoffenheit ausstrahle, ihn für die anderen so gefährlich mache.32 Ähnlich argumentierten Ilja Fradkin, Alfred Bergstadt und Fritz Hennenberg, die darauf hinwiesen, daß die „Unmenschlichkeit des Ausbeuters“ auch hinter „äußerlicher Freundlichkeit“ nicht verschwinden könne, da diese nun einmal zum „Merkmal seiner Klasse“ gehöre.33 Deshalb empfinde Matti, der die wahre Nüchternheit besitze, wie sie schrieben, die sozialen Verbrüderungstendenzen des betrunkenen Puntila fast noch peinlicher als dessen barschen Kommandoton.34 Denn durch den „Clinch der Vertraulichkeit“, mit dem Puntila seinen „Gegner an seine trunkene Menschlichkeit fesselt“, wolle er diesen ja nur „schwächen“.35 Dafür spricht, daß Puntila, wie schon sein Vorgänger Mauler in der Heiligen Johanna, trotz seines zur Schau gestellten „weichen Herzens“ nie oder selten geschäftliche Mißerfolge hat. Wie ganz anders muß die arme Shen Te unter ihrer „Güte“ leiden! Bei einem reichen Herrn bleiben dagegen solche Allüren stets unverbindlich. Er kann sich alles leisten: ob nun Brutalität oder Güte. Leute wie er stehen in ihrem moralischen Verhalten – aufgrund der herrschenden Eigentumsverhältnisse – ohnehin von vornherein jenseits von Gut und Böse. Matti als erfahrener Praktiker will daher innerhalb solcher Zustände nicht Menschlichkeit, sondern Sachlichkeit. Ihm sind geregelte Arbeitsverhältnisse lieber als angeblich gutgemeinte Annäherungsversuche. Als man ihm diese verweigert, kehrt er am Schluß dem „guten“ Puntila einfach die kalte Schulter zu.36

VI Mit dieser radikalen Entlarvung aller klassenversöhnlerischen Beschwichtigungs­ tendenzen stellt sich im Hinblick auf Brechts Puntila/Matti zugleich die Frage einer antifaschistischen Nebenabsicht. Schließlich wurde dieses Werk im Jahr 1940 geschrieben, als das Hitler-Reich von Tag zu Tag immer bedrohlichere Ausmaße anzunehmen begann und selbst Finnland kein sicheres Exil mehr bot. Bewußt oder unbewußt muß daher auch diesem Stück eine kritische Haltung dem Nazifaschismus gegenüber zugrunde liegen. So hat Puntila, der selbstverständlich dem „Nationalen Schutzkorps“ angehört,37 durchaus manche Züge mit dem dicken und jovialen Hermann Göring, dem damaligen Reichsluftfahrts213

„Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen“

minister, gemein. Auch er ist ein äußerlich gutmütiger, leicht angetrunkener, prachtvoller Kerl, der selbst in seinen Herrscherallüren dem niederen Volk Vertrauen einflößt, weshalb solche Gestalten von weniger sympathischen Tyrannen gern als propagandistische Aushängeschilder verwandt werden.38 Eine ähnliche Rolle spielt der „gute, alte“ Dogsborough in Brechts kurz danach geschriebener Hitler-Historie Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (1941), der an den ehemaligen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg erinnert. Man sollte daher die Puntila-Figur auch einmal unter diesem Aspekt betrachten. Schließlich hat sein berauschtes Gerede von einer gemeinsamen Buchführung mit seinen Arbeitern einen deutlichen Anklang an die faschistische Parole „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“, mit der die Nationalsozialisten 1933 den Sozialdemokraten und Kommunisten den ideologischen Wind aus den Segeln zu nehmen hofften. Was Brecht von solchen Thesen hielt, beweist schon sein Lied von der Tünche sowie die ständig wiederkehrende Formulierung vom „Anstreicher Hitler“, der den tiefen Riß zwischen den Klassen mit seinem Lügenpinsel zuzukleistern versuche.39 Ja, in seinem antifaschistischen Lied vom Klassenfeind gebrauchte Brecht zwölfmal die Formel „Der Regen fließt immer nach unten“,40 die er zeitweilig auch als Untertitel seines Puntila/Matti verwenden wollte, um damit auf lapidarste Weise auf jenes althergebrachte Grundgesetz der sozialen Abstufung hinzuweisen, das man selbst nach 1933 nicht abgeschafft habe. Eine ähnliche Doppeldeutigkeit liegt Puntilas begeisterten Hymnen auf die Wälder, Flüsse, Berge und Wiesen des gesegneten Tavastlandes zugrunde, die in ihren „Blut-und-Boden“-Tendenzen durchaus nazifaschistische Anklänge haben. Vor allem die Hatelmabergszene ist nicht nur ein naiver Gesang auf die „Heimat“, sondern auch eine indirekte Entlarvung jener „faulen Mystik“, die im Dritten Reich mit Begriffen wie „Scholle“ und „Schönheit der deutschen Landschaft“ getrieben wurde. Schließlich ist es Puntila und nicht Matti, der die finnischen Wälder, deren Eigentümer er ist, als ein Nationalheiligtum bezeichnet, für das sich alle Menschen begeistern sollten. Brechts dialektische Sehweise schlägt selbst in dieser Hinsicht nach beiden Seiten aus, indem sie uns nicht nur die Besitzergreifung der Natur durch die Herrscherklasse, sondern zugleich die schamlose Ausschlachtung der noblen These einer allgemeinen Brüderschaft aller Menschen bewußt zu machen versucht. Dasselbe gilt für die ständig evidente Dialektik zwischen Puntila und Matti, die so konkret wie nur möglich dargestellt wird. In diesen beiden Figuren lediglich einen abstrakten „Bewußtseinszwilling“ zu sehen, anhand dessen sich „Brecht mit Brecht über Brecht“ und andere „unlösbare Probleme“ unterhält, wie Mar214

Bertolt Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940)

tin Walser behauptet hat, ist sicher abwegig.41 Walter Hinck erklärte dagegen klipp und klar, daß es sich im Puntila/Matti um ein „soziales Grundverhältnis“ handele, nämlich um das von den Nazifaschisten keineswegs aufgehobene Modell der „Ober- und Unterordnung“ oder „kurz der Klassentrennung“.42 Denn wo finde man, schrieb er, ein besseres Beispiel für eine gesellschaftlich bedingte Dialektik als im Verhältnis von Herr und Knecht? Beide seien unmittelbar auf einander bezogen: ohne Herr kein Knecht, ohne Knecht kein Herr. Doch ist eine solche Dialektik wirklich urbestimmt, fragte sich Brecht? Oder sollte man sie nicht endlich aufheben? Man kennt das alte Gerede von der notwendigen Funktion einer Elite, mit der die hergebrachten Eigentums- und Machtverhältnisse immer wieder verschleiert wurden. Brechts Matti, der sowohl an den Diderotschen Jakob als auch an den Hašekschen Schwejk sowie den Kalle der Flüchtlingsgespräche erinnert, zieht daher am Schluß die Konsequenz aus diesen Verhältnissen und kündigt seinem Herrn den Dienst. Obwohl kein selbstbewußter Klassenkämpfer, verwirft er alle angeblichen Gleichschaltungstendenzen, mit denen man lediglich das Konzept einer streng formierten Gesellschaft zu verschleiern suche. Wie er sich allerdings eine soziale Ordnung vorstellt, in der es keine Puntilas mehr gibt, wird in diesem Stück nicht ausgesprochen. In diesem Punkt gleicht er seinem älteren Bruder Jacques le fataliste, der sich den bestehenden Verhältnissen gegenüber ebenfalls zwar kritisch, aber nicht revolutionär verhält.

VII Bei einer solchen Wendung der Dinge fragt man sich unwillkürlich, wie ein solches Drama nach 1945 wohl im Osten aufgenommen wurde, wo man weniger die althergebrachten Fragen als die der Zukunft dienlichen Antworten schätzte. Offenbar hatte Brecht hier mit seinem Puntila/Matti ähnliche Probleme wie mit seiner Mutter Courage und seinem Lukullus, die man behördlicherweise viel zu wörtlich nahm, statt sich in ihre provozierende Dialektik einzulassen, die einen Großteil der Lösung dem Zuschauer überließ und sich nicht mit billigen Doktrinen begnügte. Wie wichtig Brecht gerade dieses Stück war, beweist die simple Tatsache, daß er es nach seiner Mutter Courage als das erste seiner Stücke 1948 in Zürich inszenieren ließ. Ja, ein Jahr später brachte er es umgehend mit dem von ihm gegründeten Berliner Ensemble im Deutschen Theater in Ostberlin heraus. Einem eher zweitrangigen Stück, wie der Simone Machard oder dem Schwejk im Zweiten Weltkrieg hätte er diese Ehre sicher nicht zuteil werden lassen.

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„Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen“

Im Gegensatz zur Zürcher Aufführung, wo Leonhard Steckel mit dem Charme der Trunkenheit den „dürren“ Programmatiker Matti einfach an die Wand spielte, griff der frischgebackene SBZ-Bewohner Brecht in Ostberlin zu wesentlich schärferen Mitteln, um nicht als harmloser Komödiendichter mißverstanden zu werden. Dabei sah er sich vor zwei Probleme gestellt: erstens der Figur des Puntila ein wesentlich abstoßenderes Profil zu geben, zweitens sich über die Frage des Großgrundbesitzes zu äußern, der ja in der SBZ bereits abgeschafft war. Beide Fragen löste er mit der ihm eigenen Schläue. Er machte zwar einige Konzessionen, aber doch nur so viele, um seine Anschauungen überhaupt unters Volk zu bringen. Daher spielte man in Ostberlin den Puntila nicht als einen „sympathischen Menschen mit einigen üblen Anwandlungen im Zustand der Nüchternheit“ wie in Zürich, sondern stellte ihn als einen „ekelhaft geformten Kahlkopf“ mit „verlebten und niedrig aussehenden Zügen“ dar, um auch jene zufriedenzustellen, die in jedem Kapitalisten oder Großgrundbesitzer von vornherein ein „Untier“ sahen. „Erst jetzt“, betonte er in dem Band Theaterarbeit, „wirkte sein Charme in der Trunkenheit gefährlich, wurden seine geselligen Annäherungen zu denen eines Krokodils.“43 Doch am Text und der Charakterisierung dieser Gestalt änderte er fast nichts, um sie in ihrer vollen Dialektik zu erhalten und weniger die moralische Depravierung als die Selbstentfremdung des Menschen von seiner ursprünglichen Güte in den Vordergrund zu rücken. Etwas schwieriger erwies sich das Problem des Großgrundbesitzes und die ihm zugrunde liegende Eigentumsfrage. Schließlich hatte man in der SBZ die bisherige Junkerkaste bereits enteignet und ihre Ländereien an arme Landarbeiter, Umsiedler oder Kleinbauern verteilt. War nicht daher ein solches Stück, das die Ausbeutungsmethoden eines selbstherrlichen Gutsbesitzers darstellt, zwischen Elbe und Oder bereits anachronistisch? Solche Fragen wurden wirklich gestellt, da es sich beim Berliner Ensemble um eine staatlich subventionierte Theatergruppe handelte, die einer sozialistischen Volkskultur die Wege ebnen sollte. Was war also an diesem Stück überhaupt noch aktuell? Auch auf diesen Vorwurf reagierte Brecht höchst geschickt, indem er das Ganze mit einem kurzen Prolog versah, der die dargestellten Vorgänge in die Vergangenheit entrückte. Und zwar hieß es hier wuchtig und verschmitzt zugleich: „Geehrtes Publikum, der Kampf ist hart / Doch lichtet sich bereits die Gegenwart / Nur ist nicht überm Berg, wer noch nicht lacht / Drum haben wir ein komisches Spiel gemacht / Wir zeigen nämlich heute abend hier / Euch ein gewisses vorzeitliches Tier / Estatium possessor, auf deutsch Gutsbesitzer genannt / Welches Tier als sehr verfressen und

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Bertolt Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940)

ganz unnützlich bekannt / Wo es noch existiert und sich hartnäckig hält / Eine arge Landplage darstellt!“44 Doch nicht genug damit. Brecht ließ auf dem Programmzettel obendrein folgende kurze Notiz abdrucken: „Es gibt eine liebenswerte Ungeduld, die auf dem Theater jeweils nur den letzten Stand der Dinge in der Wirklichkeit gestaltet haben will. Warum sich bei einem Gutsbesitzer aufhalten? Sind die Gutsbesitzer nicht vertrieben? Warum einen Proleten wie Matti zeigen? Gibt es nicht jetzt schon aktive Kämpfer? Warum kann der ‚Herr Puntila und sein Knecht Matti‘ dennoch als aktuell angesehen werden? Weil man nicht nur aus dem Kampf lernt, sondern auch aus der Geschichte der Kämpfe, weil die Ablagerungen überwundener Epochen in den Seelen der Menschen noch lange liegenbleiben.“45 Ja, um seinen parteiamtlichen Freunden das letzte Argument aus dem Mund zu nehmen, berief sich Brecht sogar noch auf Marx, der in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844) behauptet hatte: „Die Geschichte ist gründlich und macht viele Phasen durch, wenn sie eine alte Gestalt zu Grabe trägt. Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie. Die Götter Griechenlands, die schon einmal tragisch zu Tode verwundet waren im ‚Gefesselten Prometheus‘ des Aeschylos, mußten noch einmal komisch sterben in den Gesprächen Lucians. Warum dieser Gang der Geschichte? Damit die Menschen heiter von ihrer Vergangenheit scheiden.“46 Und dieses Zitat war allerdings klug gewählt. Denn in ihm steckt einer der wichtigsten Ansatzpunkte für Brechts gesamte Komödientheorie. Wie lange hatte man im Theater vornehmlich über jene typenhaft vereinfachten Situationen gelacht, die als „ewig unveränderlich“ galten! Ob in der Antike, im späten Mittelalter, im Barock oder im bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts: Immer wieder bediente man sich in den gängigen Lustspielen derselben menschlichallzumenschlichen und damit unhistorischen Verhaltensweisen, die meist aus einem abstrakten Geschlechterkampf oder einem ebenso abstrakten Kampf ums Dasein abgeleitet wurden. Bei Brecht sollte man dagegen vornehmlich über jene Zustände und Figuren lachen, die von der politischen und sozioökonomischen Entwicklung bereits überholt sind, das heißt deren Komik im geschichtlichen Anachronismus der in ihnen dargestellten Macht- und Eigentumsverhältnisse liegt. So gesehen, geht es im Puntila/Matti keineswegs um die herkömmliche HerrDiener-Komik aus der Mottenkiste des „Ewig-Allzumenschlichen“. Doch es ging Brecht in diesem Stück ebensowenig um ihr Gegenteil, wie es etwa – in bewußter Umkehrung der alten Ständeklausel – Gerhart Hauptmann in seinem Drama 217

„Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen“

Die Ratten (1911) versucht hatte, wo die Proletarierin Frau John mit dem veredelnden Hauch des „Tragischen“ ausgezeichnet wird, während der hochwohlgeborene Theaterdirektor Hassenreuter reichlich lächerlich wirkt. Das sah auf den ersten Blick recht „revolutionär“ aus, blieb aber letztlich im Bereich des Poetologischen befangen. Denn schließlich wäre die Aufhebung der Tragödie nicht ihre Umkehrung, sondern ihre Abschaffung gewesen,47 und zwar zugunsten eines kritischen Schauspiels jenseits von Tragödie und Komödie, in welchem die tragische oder komische Determiniertheit alles menschlichen Tuns durch den Willen nach Veränderung dieser scheinbar „urmenschlichen“ Gegebenheiten ersetzt wird. Erst in einem solchen Theater, glaubte Brecht, würde das Publikum lernen, von einer historisch überfälligen Gestalt Abschied zu nehmen und diesen Ablösungsprozeß mit der nötigen „Heiterkeit“ vollziehen. „Gehab dich wohl, Herr Puntila“, sagt daher der vernünftige und nie ins Vulgär-Lachhafte abgleitende Matti am Schluß geradezu programmatisch, „die Stund des Abschieds ist nun da.“48 Aber Brecht wußte schon damals nur allzu genau, daß dieses Abschiednehmen von den bisherigen Macht- und Eigentumsverhältnissen ein langwieriger Prozeß sein würde. Schließlich war es nicht einfach, etwas „komisch“ zu finden, was eben noch als höchst bedrohlich gegolten hatte. Denn wahrhaft lachen kann doch nur der, wer schon „überm Berg“ ist, wie es im Prolog zum Puntila/Matti heißt. Doch auf solche Lacher hatte es Brecht in erster Linie abgesehen. Schon 1940 träumte er bei der Abfassung dieses Stücks von einem Publikum, das die dialektischen Prozesse innerhalb des Gesellschaftslebens und damit auch das Abschiednehmen von archaischen Zuständen – aufgrund eines fortgeschrittenen Bewußtseins – als etwas Vergnügliches empfinden würde. Aber so weit war man 1949 in der SBZ noch nicht. Erst als die Puntila-Oper von Paul Dessau 1966 in der Ostberliner Staatsoper uraufgeführt wurde, konnte Werner Otto im Gefühl des bereits zurückgelegten Wegs schreiben: „Der Betrachter der Aufführung, der in einer sozialistischen Gesellschaft lebt, soll ein besonderes Vergnügen darin sehen, daß in diesem Stück von – bei ihm – schon überwundenen Zuständen berichtet wird.“49 Doch selbst die damalige DDR-Gesellschaft war immer noch eine Übergangsgesellschaft. Und so blieb sogar in diesem Staat das Auslachen der Vergangenheit und ihrer großen Herren noch einige Zeit auf der Tagesordnung – auch oder gerade in der Komödie.50

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Erzwungener Sozialismus Heiner Müllers Der Lohndrücker (1957)

I Als das Dritte Reich am 8. Mai 1945 endgültig kapitulierte, erwiesen sich all jene hoffnungsträchtigen Pläne, welche die Moskauer Exilgruppe, aber auch viele linksorientierte Exilpolitiker und -schriftsteller im westlichen Ausland im Hinblick auf ein „anderes, besseres Deutschland“ entworfen hatten, als illusionär.1 Schließlich waren sich die alliierten Siegermächte schon längst vorher einig geworden, Deutschland nach dem Krieg in vier Besatzungszonen aufzuteilen und diese ihren jeweiligen Militärbehörden zu unterstellen, um so zu verhindern, daß es in diesem Land erneut zum Durchbruch eines aggressiven, den Weltfrieden bedrohenden Nationalismus kommen würde. Selbst Stalin – enttäuscht darüber, daß es im Dritten Reich sogar von seiten der Arbeiterklasse zu keinem effektiven Widerstand gegen das NS-Regime gekommen war – hatte inzwischen seine Pläne für eine gesamtdeutsche Regelung der innenpolitischen Verhältnisse des von den Nazifaschisten hinterlassenen Restterritoriums dieses Reichs aufgegeben und der Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen zugestimmt, welche durch das am 2. August 1945 beschlossene Potsdamer Abkommen endgültig besiegelt wurde. Und auch Winston Churchill und Harry S. Truman waren wegen der horrenden Verbrechen der Nazifaschisten und ihrer Verbündeten keineswegs gesinnt, den Deutschen – selbst nach einer durchgreifenden Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Dekartellisierung und Bodenreform – sofort wieder die Chance einer staatlichen Neubildung zu geben. Aufgrund dieser Einstellung beschränkten sich die alliierten Siegermächte in den ersten zwei Nachkriegsjahren – noch in relativ gutem Einvernehmen miteinander – erst einmal darauf, in den ihnen unterstellten Besatzungszonen die im Potsdamer Abkommen beschlossenen Verfügungen durchzusetzen. Dazu gehörten vor allem die umgehend angeordneten Spruchkammerverfahren gegen ehemalige Mitglieder der NSDAP sowie die Zulassung älterer, aber auch neuer Parteien wie der Christlich-demokratischen Union (CDU), der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands (LDPD), der Sozialdemokratischen Partei 219

Erzwungener Sozialismus

Deutschlands (SPD) und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), die allerdings vorläufig erst auf lokaler Ebene tätig werden durften. Während die westlichen Besatzungsmächte dabei in erster Linie von einem Programm der Democratic Reeducation ausgingen, das vorwiegend politisch motiviert war, faßte die Sowjetunion – neben den Entnazifizierungsprozessen – bei der Umwandlung ihrer Besatzungszone, der sogenannten SBZ, aus einem naziverseuchten Unrechtsgebilde in ein „demokratisch“ ausgerichtetes Land auch die ökonomischen Voraussetzungen, die dem Dritten Reich zu seiner militärischen Stärke verholfen hatten, ins Auge. Und zwar geschah das zu Anfang auf zweierlei Weise: 1. durch die bereits am 30. Oktober 1945 von der Sowjetischen Militäradministration verfügte Demontage jener 200 Fabriken, die unmittelbar im Dienst der nazifaschistischen Rüstungsindustrie gestanden hatten, und 2. durch die am 5. Juni 1946 von der gleichen Militäradministration – im Rahmen sogenannter Reparationsleistungen – angeordnete Beschlagnahme besonders ertragreicher Industrieunternehmen, die als SAG-Betriebe in sowjetische Aktiengesellschaften umgewandelt wurden, welche erst nach der im Spätherbst 1949 erfolgten Gründung der DDR wieder unter deutsche Verwaltung gestellt wurden. Damit büßte die SBZ zwischen 1945 und 1949 etwa 40 Prozent ihrer Industriekapazität ein.2 Weil die UdSSR das Land war, das am meisten unter den barbarischen Auswirkungen des von den Nazifaschisten entfesselten Zweiten Weltkriegs gelitten hatte, fühlte sie sich zu diesem Zeitpunkt zu all diesen Anordnungen durchaus berechtigt. Um jedoch ihre Besatzungszone – wegen der einschneidenden Wirkung dieser Verfügungen – vor einem ökonomischen Chaos zu bewahren, entschloß sich die Sowjetische Militäradministration in denselben Jahren zu folgenden Maßnahmen. Zum einen versuchte sie, die innenpolitische Situation dadurch zu stabilisieren, indem sie darauf bestand, daß sich die numerisch überlegene SPD am 22. April 1946 mit der relativ kleinen KPD in ihrem Verwaltungsbereich zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zusammenschloß, die sie mit der Errichtung eines zentralen Verwaltungsapparats beauftragte. Zum anderen verfügte sie am 14. Juni 1947, eine Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) zu gründen, die alle noch bestehenden Industrieunternehmen in Volkseigene Betriebe (VEB) verwandeln sollte. Außerdem ordnete sie im Gefolge der im Potsdamer Abkommen beschlossenen Bodenreform an, daß jeder landwirtschaftliche Privatbesitz über 100 Hektar, das heißt jene zwei Drittel des Territoriums der SBZ, die bisher den Junkern und Großbauern gehört hatten, entschädigungslos enteignet und 550.000 Landarbeitern, Kleinbauern sowie Umsiedlern aus den an Polen abgetretenen Gebieten übergeben würden. 220

Heiner Müllers Der Lohndrücker (1957)

All das führte zwangsläufig zu drastischen Einschränkungen in der Konsumgüterversorgung der SBZ-Bevölkerung, die derartige Maßnahmen weder als Folgen der nazifaschistischen Verbrechen noch als dem Aufbau des Sozialismus dienliche Veränderungskonzepte, sondern als diktatorische Verfügungen der sowjetischen Militärbehörden empfand. Statt die Umwandlung privatwirtschaftlich arbeitender Fabriken in volkseigene Betriebe, die Bodenreform sowie die Einrichtung staatlicher HO-Läden als „demokratisierend“ oder gar „sozialistisch“ zu verstehen, sahen die meisten Ostdeutschen darin lediglich „undeutsche“, das heißt von den schon im Dritten Reich verhaßten Russen verfügte Zwangsmaßnahmen. Schließlich war dieser Wende ins Sozialistische keine innerdeutsche Revolution, sondern jenes Dritte Reich vorangegangen, für das die überwältigende Mehrheit der Deutschen im Zweiten Weltkrieg bis zur letzten Minute gekämpft und gearbeitet hatte. Selbst die ideologische Ernüchterung nach dem 8. Mai 1945 hatte bei vielen Ostdeutschen nicht dazu geführt, in den Russen, diesen „barbarischen Halbasiaten“, ihre Befreier zu sehen. Im Gegensatz zu den USAmerikanern, Briten und Franzosen, die im westlichen Trizonesien von den meisten der dort lebenden Deutschen als durchaus wesensverwandt empfunden wurden, galten die Russen in der SBZ eher als fremdartig, wenn nicht gar unzivilisiert. Während sich also die Westdeutschen von den dortigen Alliierten – wegen ihrer formaldemokratischen Freiheitsvorstellungen und der Befürwortung einer marktwirtschaftlichen Konsumgüterindustrie sowie der 1948 einsetzenden Marshall-Plan-Hilfe – geradezu gern, ja seit Mitte der fünfziger Jahre mit Wonne „amerikanisieren“ ließen, sahen die Ostdeutschen in den sowjetischen Russen – wegen der anfänglichen Demontagen und der darauf einsetzenden sozialistischen Planwirtschaft, von der sie sich eher Nachteile als Vorteile versprachen – von vornherein abzulehnende Eindringlinge. Die von den Sowjets durchgeführten Maßnahmen erschienen daher den meisten unter ihnen nicht als „Befreiung“, sondern vielmehr als „Diktatur“.

II Die SED-Führung, deren wichtigste Vertreter, wie Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck und Johannes R. Becher, aus dem Moskauer Exil zurückgekehrt waren, zu denen sich nur eine winzige Minderheit von aus nazifaschistischen Gefängnissen und Konzentrationslagern befreiten Altkommunisten bekannte, war daher von vornherein unbeliebt. Nicht nur die bürgerlichen Mittelschichten, auch große Teile der Arbeiterschaft, die sich während der Wirtschaftskrise der späten Weimarer Republik – aus Trotz oder Verdrossenheit den älteren Parteien gegenüber – 221

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nur allzu willig der SA und dann der NS-Arbeitsfront angeschlossen hatten, verhielten sich deshalb den von den Sowjets eingesetzten oder geförderten Mitgliedern des Politbüros bzw. des Zentralkomitees der SED höchst mißtrauisch gegenüber. Sie sahen – nach den Entbehrungen des Zweiten Weltkriegs – nicht in irgendwelchen dem Aufbau des Sozialismus befürworteten Maßnahmen, da diese mit vielen Opfern an die UdSSR verbunden waren, sondern eher in einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Konsumgütergesellschaft eine ihnen als zukunftsweisend erscheinende Zielvorstellung, zumal in den westlichen Besatzungszonen im Sommer 1948 eine der Durchsetzung der Freien Marktwirtschaft dienliche Währungsreform stattgefunden hatte, nach der sich die dortigen Läden und Warenhäuser wieder mit den seit langem entbehrten Konsumgütern zu füllen begannen. Die Folge davon war, daß sich Hundertausende ostdeutscher Mittelständler, aber auch viele der dortigen Facharbeiter entschlossen, ihren Wohnsitz in der SBZ aufzugeben und nach Westdeutschland umzuziehen, wovon sie sich höhere Gehälter, eine bessere Versorgung mit Konsumgütern und zugleich einen größeren Freiraum für ihre persönlichen Interessen versprachen. Um diesem Trend entgegenzusteuern, mußte daher die SED alles aufbieten, dieser für die SBZ verhängnisvollen Entwicklung Einhalt gebieten. Auf wirtschaftlichem Gebiet tat sie das, indem sie 1948 – im Rahmen eines Halbjahresplans und dann eines Zweijahresplans – Maßnahmen für eine gesteigerte Produktivität innerhalb der Energieerzeugung, der chemischen Industrie und des Schwermaschinenbaus einleitete, denen sie 1951 einen nach sowjetischem Muster entworfenen Fünfjahresplan folgen ließ, welchem die gleichen Absichten zugrunde lagen. Zugleich setzte sie im selben Zeitraum die Gründung von Produktionsgenossenschaften des Handwerks in Gang und begann kurz darauf mit der Kollektivisierung aller selbständigen Bauern, was in den fünfziger Jahren zur Einrichtung weiträumig ausgedehnter Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften, sogenannter LPGs, führte. Doch mit all diesen immer stärker sozialistisch ausgerichteten Maßnahmen konnte die SED die ständig zunehmende Abwanderung mittelständischer sowie proletarischer Arbeitskräfte nicht aufhalten, sondern verstimmte mit ihren forcierten Aufbauparolen die zurückgebliebenen Schichten lediglich, die weiterhin nach Westdeutschland hinüber schielten, wo der dortige Wirtschaftsminister Ludwig Erhard – im Sinne des American Dream – allen ihm vertrauenden Menschen einen „Wohlstand für alle“ versprach.3 Und so wurde die ökonomische Situation in der 1949 gegründeten DDR in den folgenden Jahren immer pre222

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kärer. Da sich die SED-Führung – angesichts der von der Sowjetunion vorgenommenen Reparationen, des eklatanten Rohstoffmangels und des Verlusts befähigter Arbeitskräfte – immer stärker mit einer wirtschaftlichen Notsituation konfrontiert sah, wurde sie schließlich zu einer kulturellen und zugleich ökonomischen Doppelstrategie gezwungen, mit der sie sowohl Teile der bürgerlichen Mittelschichten als auch die Mehrheit der Arbeiter und Genossenschaftsbauern für ihre Ziele zu gewinnen versuchte. Und zwar tat sie das folgendermaßen. Einerseits verstärkte sie unter dem von Johannes R. Becher ausgegebenen Motto, den „Weg zu der einen großen, gebildeten Nation“ einzuschlagen, alle Bemühungen, die DDR als jenen Teil Deutschlands hinzustellen, in dem eine wesentlich höhere Kultur als in der ebenfalls 1949 gegründeten westdeutschen Bundesrepublik (BRD) herrsche, wo sich unter dem Einfluß der US-amerikanischen Medienindustrie eine Schlager-, Boulevardkomödien- und B-Movie-Unkultur verbreite, durch die alle anspruchsvollen Kunstformen immer stärker von einer ins Triviale und damit Massenverdummende tendierenden „Verkitschung“ in den Hintergrund gedrängt würden.4 Andererseits beschwor sie alle Werktätigen in der DDR, sich durch einen größeren Arbeitseinsatz energischer als zuvor für die Durchsetzung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung zu engagieren, die sämtlichen der in diesem Staate lebenden Menschen zugute kommen würde. Ja, die SED versprach sogar allen, die sich dabei durch besondere Leistungen auszeichnen würden, nicht nur mit Nationalpreisen und Orden auszuzeichnen, sondern ihnen als „Helden der Arbeit“ außerdem hochdotierte Zusatzgehälter oder -löhne in Form sogenannter Prämien zukommen zu lassen. Doch selbst derartige Maßnahmen wurden nur von einer Minderheit der noch immer unter den „objektiven Schwierigkeiten“ der unmittelbaren Nachkriegszeit leidenden bürgerlichen und proletarischen Bevölkerungsschichten, die man mit solchen Versprechungen zu umwerben suchte, als erfolgversprechend begrüßt. Die Mehrheit der von der SED immer wieder mit schönfärberischen Parolen hingestellten „treuen Gefolgsleute“ ihrer Politik blieb nach wie vor unwillig und empfand die auf allen Transparenten, Wandzeitungen oder im Neuen Deutschland ausgegebenen sozialistischen Maximen bis weit in die fünfziger Jahre hinein als eine leicht zu durchschauende Zweckpropaganda, mit der man die allgemeine Misere lediglich zu verschleiern suche. Sie wünschte sich weiterhin, daß man in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht nur in West-, sondern auch in Ostdeutschland lieber den Weg zu einem Mehrparteiensystem mit marktwirtschaftlicher Grundorientierung eingeschlagen hätte. 223

Erzwungener Sozialismus

Angesichts des in der BRD aufblühenden Wirtschaftswunders setzte daher in den Arbeiterschichten der DDR eine weitverbreitete Unzufriedenheit, ja Frustrierung ein. Selbst das von der SED eingeführte Prämiensystem für erhöhte Arbeitsleistungen hatte demzufolge nicht die erwünschte Wirkung, sondern löste bei eher antisozialistisch eingestellten Bevölkerungsgruppen eine offen geäußerte Unmutsstimmung gegenüber jenen sogenannten „Helden der Arbeit“ aus, die sich aus innerer Überzeugung oder auch nur aus persönlichem Bereicherungsdrang für den von der SED propagierten „Aufbau des Sozialismus“ einzusetzen versuchten. Die SED sah sich deshalb im Mai 1953 gezwungen, um in allen Branchen der Industrie eine steigende Produktivität anzukurbeln, eine höhere Normenerfüllung zu fordern, mit der sie einen Zusammenbruch ihres auf zentralistischen Planungsprinzipien beruhenden Wirtschaftssystems zu verhindern suchte. Und das brachte den Kessel schließlich zum Platzen. Wie allgemein bekannt, kam es daraufhin am 17. Juni des gleichen Jahres in mehreren Städten der DDR zu Arbeiterunruhen, welche die von Walter Ulbricht und dem Politbüro der SED verfügten Normerhöhungen grundsätzlich ablehnten. Diese Aufstände wurden zwar von der Volkspolizei und zum Teil mit Hilfe sowjetischer Soldaten unterdrückt, führten aber keineswegs zu einer Beruhigung der innenpolitischen Situation. Der verbreitete Unwille blieb auch danach weiterhin bestehen, ja erhielt sogar trotz der Zurücknahme einiger Forderungen der SED im Jahr 1956 – nach der Verurteilung des Stalinismus auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der UdSSR – erneut die Gesamtsituation verunsichernde Antriebe. Von einer Lockerung der angespannten Lage konnte deshalb selbst in diesem Zeitraum, der später gern als eine „Tauwetter“-Phase hingestellt wurde, keine Rede sein. Noch immer war die zum „Aufbau des Sozialismus“ entschlossene Bevölkerungsschicht eine Minderheit, während die Mehrheit der DDR-Bevölkerung nach wie vor, wenn nicht noch begieriger jene im „Freien Westen“ liegende BRD beneidete, in der die Läden und Warenhäuser von allen nur denkbaren Konsumgütern nur so strotzten.

III Doch nun zu der Frage, wie verhielten sich eigentlich die ostdeutschen Schriftsteller innerhalb der unmittelbaren Nachkriegszeit in der SBZ und dann in den frühen fünfziger Jahren in der DDR all diesen Vorgängen gegenüber? Zu Anfang unterstützten viele von ihnen erst einmal die bereits im Sommer 1945 einsetzenden Bemühungen des in Berlin gegründeten Kulturbunds zur demokratischen 224

Heiner Müllers Der Lohndrücker (1957)

Erneuerung Deutschlands, der sich vor allem um eine konsequente Friedenssicherung im Rahmen überparteilicher Kultur- und Erziehungsvorstellungen einzusetzen versuchte. Eine nachdrückliche Stellungnahme zum „Aufbau des Sozialismus“ forderte die SED von den in der SBZ lebenden Autoren erst nach dem Beginn des von den Vereinigten Staaten ausgelösten Kalten Kriegs, das heißt im Winter 1947/48. Allerdings waren anfangs nur wenige in der SBZ lebende Schriftsteller, meist frühere kommunistisch orientierte Widerstandskämpfer oder Exilheimkehrer, gewillt, einer derartigen Parole umgehend Folge zu leisten.5 Viele Autoren wollten nach dem Nazifaschismus erst einmal ihre wiedergewonnene Freiheit genießen, bevor sie sich entschließen konnten, solchen Forderungen bedingungslos nachzukommen. Zudem hatten sich die politisch Engagierteren unter ihnen während der Weimarer Republik bisher lediglich jener Stilmittel bedient, mit denen sich am besten gegen den Kapitalismus bzw. den heraufziehenden Nazifaschismus zu Felde ziehen ließ. Und die erwiesen sich im Hinblick auf eine Literatur, welche vornehmlich dem „Aufbau des Sozialismus“ dienen sollte, als weitgehend unbrauchbar. Diejenigen unter den in der SBZ lebenden Schriftstellern, die es – meist auf Drängen der SED – dennoch versuchten, bedienten sich dabei vornehmlich relativ anspruchsloser Prosaformen, wie der Reportage, der Novelle oder des Kurzromans, die sich in ihrer Darstellungsweise entweder an die in den späten zwanziger Jahren von der damaligen Kommunistischen Partei propagierten proletarisch-revolutionären Stilmittel oder an die Literaturkonzepte des seit 1934 in der UdSSR entwickelten Sozialistischen Realismus hielten. Erste Beispiele dafür wären der Roman Tiefe Furchen (1949) von Otto Gotsche sowie die Reportage Fünfzig Tage (1950) von Willi Bredel, in denen vor allem die Rolle „positiver Helden“ hervorgehoben wurde, die sich voll und ganz zu der hinter ihnen stehenden SED bekennen. In den frühen fünfziger Jahren schlossen sich auch andere Autoren und Autorinnen, wie Stephan Hermlin, Hans Lorbeer, Dieter Noll und Anna Seghers, dem von der SED vorgegebenen Kurs an und wandten sich in ihren Werken zusehends den in der DDR herrschenden Wirtschafts- und Arbeitsverhältnissen zu.6 In den Parteizeitungen wurde dabei vor allem der Roman Menschen an unserer Seite (1951) von Eduard Claudius als besonders vorbildlich hingestellt, in dem die unter schwersten Bedingungen durchgeführte Reparatur des letzten betriebsfähigen Ringofens im VEB Siemens-Plania-Werk durch den Maurer Hans Garbe beschrieben wird, der sich dabei als bewundernswerter „Held der Arbeit“ erweist.

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Im Bereich des Dramas waren es vor allem Zeitstücke wie Golden fließt der Stahl von Karl Grünberg und Die ersten Schritte von Werner Kubsch, in denen es um ähnliche „Heldentaten“ geht und die beide 1950 uraufgeführt wurden. In ihnen stehen, wie bei Claudius, ebenfalls jene Aktivisten des Neuaufbaus im Zentrum, deren beispielhafte Aktionen die angestrebte Arbeiter- und Bauernmacht sowohl materiell als auch ideell zu festigen versuchen, indem sie westliche Sabotageakte verhindern, den Ablauf der Produktion beschleunigen sowie anderen Arbeitern ein sozialistisches Bewußtsein zu vermitteln suchen. Doch derartige Bemühungen im Rahmen industrieller Großbetriebe glaubhaft darzustellen erwies sich zum Teil als recht schwierig, da sich Prozesse wie Betriebsenteignungen und die sich daran anschließenden Überführungen in Volkseigentum, die manchmal Hunderte von Personen betrafen, schlecht anhand vereinzelter Dramatis personae darstellen ließen. Bei solchen Umsetzungen aus dem Massenhaften ins Individuelle – mögen auch die auftretenden positiven Helden noch so inspirierend oder gar anfeuernd wirken – blieb deshalb vieles etwas schablonenhaft. Wesentlich leichter und auch politisch effektiver ließen sich solche Umwandlungsprozesse auf bäuerlicher Ebene veranschaulichen. Während sich die Fabrikarbeiter – trotz aller Beteuerungen der SED, daß sie jetzt die Eigentümer der jeweiligen Werke oder Kombinate seien – weiterhin mehrheitlich als „Schräubchen im Getriebe“ sie weit übergreifender Arbeitsvorgänge empfanden, begrüßten viele der früheren Landarbeiter, Kleinbauern und Umsiedler die bereits am 3. September 1945 von der Sowjetischen Militäradministration angeordnete Bodenreform,7 welche ihnen den gesellschaftlichen Status selbstverantwortlicher Bauern verliehen hatte, durchaus als eine positive Errungenschaft der sich anbahnenden Sozialisierungsprozesse in der SBZ. Kein Wunder also, daß der „zahlenmäßige Anteil dieser Dramen im literarischen Gesamtschaffen der DDR in den frühen fünfziger Jahren größer ausfiel als der von Werken, deren Themen im städtisch-industriellen Bereich angesiedelt waren“.8 Eins der besten Beispiele derartiger Agrodramen, wie man sie später genannt hat,9 ist das Stück Katzgraben (1953) von Erwin Strittmatter, das selbst Brecht für eine Propagierung ins Sozialistische tendierender Maßnahmen für wesentlich effektiver hielt als irgendwelche Industriedramen.10 Und doch gibt es unter den jungen DDR-Schriftstellern gegen Mitte der fünfziger Jahre einen Autor, der aufgrund seines zutiefst glaubhaften Engagements für den von der SED propagierten Sozialismus keineswegs davor zurückschreckte, in seinen Erstlingswerken jenes für die frühe DDR entscheidende Problem zu 226

Heiner Müllers Der Lohndrücker (1957)

thematisieren versuchte, wie sich die dortige Arbeiterschaft, die sich mehrheitlich keineswegs als die gesellschaftliche Avantgarde des aufzubauenden Sozialismus empfand, für die Ziele seiner Partei gewinnen ließe, ohne dabei einer unwirksamen Schönfärberei zu huldigen. Ihm ging es vor allem darum, neben der Darstellung eines „positiven Helden“ zugleich auf die weiterbestehende Unwilligkeit jener Arbeiter hinzuweisen, die nach wie vor nicht bereit waren, den für den „Aufbau des Sozialismus“ nötigen Maßnahmen nachzukommen. Dieser Autor hieß Heiner Müller. Mit seinen beiden Stücken aus dem Jahr 1957 beginnt die Geschichte jener DDR-Dramatik, die sich in drastisch zugespitzter Form mit all den immer wiederkehrenden „objektiven Schwierigkeiten“ auseinanderzusetzen versuchte, die dem „Aufbau des Sozialismus“ weiterhin im Wege standen und viele Menschen, die sich zwar nach wie vor als Deutsche, aber als Deutsche zweiter, wenn nicht gar dritter Klasse fühlten, zum Verlassen dieses Staates veranlaßten.

IV Schon Müllers erstes Drama, das er in diesem Jahr anläßlich der 40. Wiederkehr der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ von 1917 in Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Hagen Stahl für die Ostberliner Volksbühne schrieb, spricht für seine entschiedene Parteinahme für die SED.11 Es trägt den Titel Zehn Tage, die die Welt erschütterten, wobei Müller und Stahl als Vorlage für dieses Drama die Reportage Ten Days That Shook the World von John Reed benutzten, die Lenin als die beste Darstellung der Russischen Oktoberrevolution bezeichnet hatte. An ihrer Identifikation mit den dargestellten Vorgängen ließen dabei die beiden jungen DDR-Autoren keinen Zweifel aufkommen. Auch in allen parteipolitischen Entscheidungsfragen betonten Müller und Stahl, daß sie auf Seiten der erbittert um die Durchsetzung des Sozialismus in der DDR kämpfenden SED und nicht auf Seiten irgendwelcher an älteren marktwirtschaftlichen Eigentumsverhältnissen und damit bürgerlich-liberalen Vorstellungen festhaltender Gesellschaftsschichten ständen. Das wird besonders deutlich in der vorletzten Szene dieses Stücks, in der Lenin alle „Kleingläubigen, Mutlosen und Zweifler“ unter den noch immer den Menschewiki hinterherlaufenden Bevölkerungsgruppen verflucht und die wahrhaft revolutionär eingestellten Bolschewiki auffordert, sich nicht von dem „Geschrei der direkten oder indirekten Komplizen der Bourgeoisie“ verschrecken zu lassen. „Wir denken nicht daran“, sind seine letzten Worte, „uns dem Ultimatum kleiner Intellektuellengruppen

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zu unterwerfen, die uns die Unsinnigkeit unserer revolutionären Aktionen vorzuhalten versuchen“.12 Das war als Zeitbezug im Jahr 1957, ohne den dieses Stück nicht zu verstehen ist, deutlich genug. Im Rückblick auf den 17. Juni 1953, den Ungarn-Aufstand im Herbst 1956 und die kritischen Thesen der Wolfgang-Harich-Gruppe bekannten sich Müller und Stahl in diesem Stück zu einer „Diktatur im Sinne Lenins“,13 die im Hinblick auf die Durchsetzung des Sozialismus weder irgendwelche Rücksichten auf angeblich pluralistisch denkende bürgerliche Schichten noch auf das weiterbestehende „falsche Bewußtsein“ innerhalb der unteren Klassen nehmen würde. Genau besehen, plädierte dieses Stück für einen verschärften Leninismus, der seine Hoffnung allein auf die revolutionäre Stimmung innerhalb der auf die Durchsetzung des Sozialismus drängenden Minderheit wahrhaft engagierter Kommunisten setzen würde. Da es dafür in Ostberlin kein größeres, revolutionär gestimmtes Publikum gab, mußte das Ganze schon nach wenigen Aufführungen wieder abgesetzt werden.14 Nachdem Müller für dieses Drama noch im selben Jahr den Anerkennungspreis des DDR-Kulturministeriums erhielt, konnten auch seine gleichzeitig geschriebenen Bühnentexte Der Lohndrücker, Die Korrektur und Klettwitzer Bericht gedruckt und aufgeführt werden. Alle drei gehören zum Genre der damals von der SED-Führung erwarteten Brigadenstücke.15 Besonders dem Klettwitzer Bericht ist das in seiner schönfärberischen Tendenz geradezu überdeutlich anzumerken. Im Lohndrücker und in der Korrektur handelt es sich dagegen – mit nicht verhüllter plebejischer Perspektive – vor allem um jene „objektiven Schwierigkeiten“ innerhalb der weiterhin mangelhaft funktionierenden Industrieproduktion, in deren Überwindung Müller zu diesem Zeitpunkt eine der Hauptaufgaben der SED-Führung sah. Setzen wir uns darum im Hinblick auf diese Fragestellung etwas genauer mit dem Stück Der Lohndrücker auseinander, in dem es fast ausschließlich um das Problem geht, ob die in der DDR lebenden Arbeiter bereits begriffen hätten, daß die Kombinate, Fabriken und größeren Werkstätten jetzt ihnen und nicht mehr den sie bisher ausbeutenden privatwirtschaftlichen Unternehmern gehören würden.

V In gedruckter Form erschien Der Lohndrücker erstmals im Sommer 1957 im 5. Heft der Zeitschrift Neue deutsche Literatur. Erstaufführungen fanden im folgenden Jahr im Städtischen Theater in Leipzig, im Studententheater der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst und am Ostberliner Maxim228

Heiner Müllers Der Lohndrücker (1957)

Gorki-Theater statt.16 Ja, 1961 wurde dieses Stück sogar vom Institut für Berufsausbildung/Lehrplankommission für Deutsche Sprache und Literatur in das Pflichtprogramm der Berufsausbildung für das 1. Lehrjahr aufgenommen, als so wichtig empfanden einige Funktionäre der Parteileitung dieses Drama.17 Auch als Müller seinen Lohndrücker 1974 im 1. Band seiner Geschichten aus der Produktion im Westberliner Rotbuch Verlag herausbrachte, war er, wie in seinem Stück Zehn Tage, die die Welt erschütterten, noch immer von der „Unbesiegbarkeit des revolutionären Marxismus“ überzeugt,18 ja bezeichnete die Durchsetzung des Sozialismus weiterhin als sein ideologisches „Endziel“.19 Und zwar unterstrich er das, was schon Brecht in seinen Programmheften für das Berliner Ensemble getan hatte, in dieser Ausgabe mit dokumentarischen Fotos von Traktoristen, Trümmerfrauen, Arbeiterbrigaden sowie jungen Menschen, die sich gegen Provokateure zur Wehr setzen, um so nachdrücklich wie möglich auf den proletarischrevolutionären Charakter dieses Werks hinzuweisen. Der Protagonist in Müllers Lohndrücker ist der Maurer Hans Garbe, der damals – neben Adolf Hennecke – wegen seiner alle Normen überbietenden Arbeitsleistungen als gleichwertiger Vertreter der in der UdSSR hochgerühmten „Stachanow-Arbeiter“ galt.20 Garbe war es nämlich im Winter 1949/50 gelungen, im VEB Siemens-Plania-Werk einen glühend heißen Ringofen mit schnell hochgezogenen Schamottsteinen vor dem Auseinanderfall zu bewahren und damit den Fortgang der Gesamtproduktion dieses Werks zu gewährleisten.21 Aufgrund der von ihm erbrachten Leistung wurde dort nicht nur der Zwei-Jahresplan pünktlich erfüllt, sondern auch eine Viertelmillion Ost-Mark eingespart. Außerdem hatte Garbe damals die erste Brigade in diesem Werk zusammengestellt und damit den von der Parteileitung angestrebten sozialistischen Wettbewerb eröffnet. Wegen seines vorbildlichen Aktivismus wurde er noch im gleichen Jahr von der SED als „Held der Arbeit“ ausgezeichnet und stieg demzufolge zu einer Modellfigur wahrhaft sozialistischer Gesinnung auf. Helen Fehervary schrieb daher 1971 im ersten Aufsatz über den Lohndrücker im Hinblick auf diesen vorbildlichen Stachanow-Arbeiter: „Wer also in den fünfziger Jahren in der DDR ein klassisches Beispiel für den revolutionären Durchbruch des Sozialismus brauchte, berief sich gern auf den ‚Fall Garbe‘. Ebenso symbolträchtig erschien vielen die mühsame, aber erfolgreiche Reparatur des Tag und Nacht weiterbrennenden Ringofens, die sich ausgezeichnet als ein Spiegelbild der allgemeinen Zeitsituation interpretieren ließ. Anstatt nämlich das Alte einfach niederzureißen und ganz von Neuem anzufangen, sah man sich nach dem Kriegsende in der SBZ erst einmal gezwungen, mit den vorhandenen 229

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Fabrikanlagen weiterzuarbeiten, um nach den verheerenden Bombenangriffen und Demontagen nicht völlig in vorindustrielle Zustände zurückzufallen. In dieser Situation spielten demnach das individuelle Bewußtsein und die persönliche Entscheidung noch eine höchst bedeutsame Rolle.“22 Einer der ersten, welcher, wie gesagt, diesen als Aktivistenleistung gewürdigten Einsatz des Ringofenmaurers Hans Garbe literarisch verarbeitet hatte, war 1951 der Altkommunist Eduard Claudius in seinem Roman Menschen an unserer Seite, der jedoch weitgehend im Reportagehaften steckenblieb. Auch Bertolt Brecht bemühte sich zwischen 1951 und 1954 mehrfach um ein Szenarium über den gleichen Fall, dem er den Titel Büsching gab, fürchtete aber, dabei ins allzu Schönfärberische zu geraten und gab deshalb diesen Plan wieder auf. Es war daher erst Heiner Müller, der in der DDR diesem Stoff in seinem Lohndrücker die für die damaligen politischen und sozioökonomischen Verhältnisse überzeugendste Form verlieh. Allerdings ging es ihm dabei nicht allein um den „positiven Helden“ Hans Garbe, sondern auch um jene Arbeiter, die sich – trotz aller Bemühungen von seiten der SED – von der angestrebten Durchsetzung des Sozialismus keinerlei persönliche Vorteile erhofften und daher auf alle ihnen abverlangten Arbeitsnormen höchst unwillig, ja widersetzlich reagierten. Und zwar spielt sich das in den kurzen, aber höchst prägnant formulierten Szenen dieses Stücks folgendermaßen ab.

VI In der Handlungsführung hielt sich Müller weitgehend an die bereits bekannten Tatsachen. Dem Maurer Garbe, bei ihm Balke genannt, der für seine Übererfüllung der geforderten Arbeitsnormen bereits von der Betriebsleitung eine Prämie erhalten hat, gelingt es, die zerrissenen Deckel eines glühenden Ringofens bei weiterlaufender Produktion zu reparieren, um so die vorgesehene industrielle Planerfüllung zu gewährleisten. Allerdings werden dabei alle „schönfärberischen“ Züge nachdrücklich vermieden. Balke erweist sich zwar als ein „positiver Held“ im Sinne der SED, verhält sich aber letztlich nur wie ein guter, gewissenhafter Maurer, der auch unter den Nazis durchaus seine Pflicht erfüllt hatte, ja nicht davon zurückgeschreckt war, einen damaligen kommunistisch gesinnten Saboteur zu denunzieren. Und durch diese Haltung, bei der man kaum zwischen Pflicht­ erfüllung und Lohnerwartung unterscheiden kann, gerät er zwangsläufig ins Kreuzfeuer der für eine beschleunigte Durchsetzung des Sozialismus eintretenden Parteifunktionäre und der ihnen nur widerwillig folgenden Arbeiter, die sich vom DDR-Sozialismus keinen ihre materielle Situation verbessernden Fortschritt 230

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versprechen und dieses System wegen seines Mangels an Fressalien sowie seiner sie zu einem übermäßigen Arbeitseinsatz verlockenden Prämienzahlungen als ausgesprochen arbeiterfeindlich empfinden. Daraus ergibt sich in diesem Stück folgende Figurenkonstellation. Da wären erst einmal die auf die Erfüllung der staatlichen Plananforderungen – koste es, was es wolle – drängenden Parteifunktionäre. Ihre Hauptvertreter sind der Fabrikdirektor, der Parteisekretär Schorn und der Betriebsgewerkschaftsleiter Schurek. Dem Direktor geht es in erster Linie um die Planerfüllung. „Wir stehen vor dem Nichts“, erklärt er seinem renitenten Buchhalter, „wir bauen ein zerstörtes Land auf. Das bedeutet: Produzieren, um jeden Preis produzieren“ (37). Er feuert daher die Arbeiter ständig an, nicht in der Kantine herumzusitzen, sondern die ihnen auferlegte Norm zu erfüllen. Das gleiche tut Schorn, der den Arbeitern in ebenso unmißverständlichen Worten klar zu machen versucht, daß sie jetzt nicht mehr wie früher für profithungrige Unternehmer, sondern für ihr eigenes Wohl zu arbeiten brauchten. Der Gewerkschaftsfunktionär Schurek wirkt dagegen eher wie ein den neuen Verhältnissen angepaßter Opportunist. Er behauptet gern, daß er neben der „Treue zur Arbeiterregierung“ auch ein „Herz für die Kollegen“ besitze.23 Noch phrasenhafter drückt sich jener Reporter aus, dem es bei seinen Fabrikbesuchen nur darum geht, anschließend in der Sonntagsbeilage seiner Zeitung von irgendwelchen wahren oder lediglich vorgetäuschten „Produktionserfolgen“ berichten zu können (38). Ebenso unvorteilhaft wirken in Müllers Darstellung die parteilosen Vertreter der bürgerlichen Schichten. Dazu gehören zum einen Kant und Trakehner, die beiden Ingenieure der betreffenden Fabrik, die das Angebot Balkes, den gerissenen Ofen bei weiterlaufender Produktion in drei Tagen reparieren zu wollen, als zu gefährlich und damit unverantwortlich ablehnen (48). Und dann wären da als gute Bürger noch jene zwei „Herren mit Aktentaschen“, die sich auf der Straße begegnen und sich zuflüstern, daß es höchstwahrscheinlich zum Krieg kommen werde, da sich „Amerika“ nicht leisten könne, den miserablen Zustand in den Ländern Osteuropas einfach teilnahmslos hinzunehmen (53). Ja, ein diesen „Herren“ hinterherlaufender kleiner Junge erklärt, daß die „Amis“ diesen Krieg höchstwahrscheinlich gewinnen werden, wie ihm sein Vater gesagt habe (53). Doch nun zu den vielen Arbeitern, die in diesem Stück auftreten und aus ihrer Unwilligkeit dem Sozialismus gegenüber kein Hehl machen. Noch am ehesten akzeptieren Bittner, Kolbe und Krüger die im Jahr 1949/50, in dem dieses Stück spielt, herrschenden Verhältnisse. Aber alle anderen, ob nun der Brillenträger, Geschke, Kalbshaxe, Karras, Lerka, Stettiner oder Zemke, die 231

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vorher zum größten Teil SA-Männer waren, empfinden es geradezu als einen Hohn, daß sich die DDR wegen ihrer die Arbeiter ausbeutenden Normerwartungen als ein „Arbeiterstaat“ ausgebe. Selbst ihnen erscheint Amerika als ein wesentlich besseres Land als die DDR, weil es dort „keinen Sozialismus“ gebe und jeder Arbeiter sein „eigenes Auto“ fahren könne (61). Den Maurer Balke, der das immer noch nicht eingesehen habe, betrachten sie daher – wegen seiner übermäßigen Normerfüllung, die mit Prämien belohnt werde – lediglich als einen Lohndrücker oder Arbeiterverräter. Sie versuchen deshalb alles, was ihn von der notwendigen Reparatur des gerissenen Ringofens abhalten könne: Sie stehlen ihm seine Jacke, sie schmeißen Steine in den Gaskanal, sie schlagen ihn auf offener Straße zusammen, um ihm ein für allemal einzubleuen, daß man den Forderungen der SED auf keinen Fall nachkommen dürfe. Statt mehr zu arbeiten, wollen sie lieber weniger arbeiten, um in Ruhe ihr Bierchen trinken zu können. Als Balke darauf beschließt, den Brillenträger und Lerka, die ihn von der vorgesehenen Reparatur abhalten wollen, anzuzeigen, erhalten beide hohe Gefängnisstrafen. Und das führt zwangsläufig dazu, daß ihn die meisten Arbeiter noch mehr hassen als zuvor. Eine Lösung dieses Konflikts bahnt sich erst in der letzten Szene dieses Stücks an, in der sich der vorher recht aufsässige Karras entscheidet, den von allen anderen Arbeitern allein gelassenen Balke bei seinem Reparaturvorhaben zu unterstützen. Ob diese Reparatur gelingt, wird danach nicht mehr thematisiert. Im Hinblick auf diese Szene schrieb daher Müller in der Rotbuch-Ausgabe seines Lohndrücker: „Das Stück versucht nicht, den Kampf zwischen Altem und Neuem, den der Stückeschreiber nicht entscheiden kann, als mit dem Sieg des Neuen vor dem letzten Vorhang abgeschlossen darzustellen; es versucht, ihn in das neue Publikum zu tragen, das ihn entscheidet.“24

VII Ob dieses „Neue“ wirklich siegen würde, erschien jedoch Müller in der Folgezeit immer zweifelhafter. Schließlich wurde ihm von seiten der SED schon nach den ersten Aufführungen dieses Stücks vorgehalten, daß er die „Werktätigen“ in der DDR viel zu negativ gezeichnet habe. Schon auf derartige Vorwürfe gefaßt, forderte daher Müller den Arbeiter Hans Garbe auf, ihn zu einer der üblichen Parteiversammlungen zu begleiten, wo er führenden SED-Mitgliedern Rede und Antwort stehen sollte, warum er in seinem Lohndrücker die Arbeiter nicht positiver dargestellt habe. Diesen Vorwürfen trat Müller damals mit dem Argument entgegen, daß er nun einmal kein Schönfärber, sondern ein Realist sei. Ja, Garbe 232

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erklärte den Müller Verhörenden noch ungeschminkter: „Was der Genosse Müller in diesem Stück dargestellt habe, sei keineswegs negativistisch.“ „In Wirklichkeit“, fügte er hinzu, „seien die Verhältnisse in vielen Fabriken der DDR noch viel schlimmer“.25 Doch zu einem wirklichen Eklat zwischen dem Realisten Müller und den allzu hoffnungsvoll argumentierenden SED-Größen kam es erst, als Müller nicht zögerte, seine Form der Realistik auch in seinem 1961 uraufgeführten Stück Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande beizubehalten, wo es um jene „objektiven Schwierigkeiten“ geht, die sich aus der Durchführung der Bodenreform in der DDR ergeben hatten. Da jedoch die Zweckoptimisten innerhalb der Partei, welche weiterhin eine schönfärberische Darstellung der in der DDR stattfindenden sozialistischen Umwandlungsprozesse für nötig hielten und von ihren Autoren keine konstruktive Kritik erwarteten, wurde Müller daraufhin aus dem ostdeutschen Schriftstellerverband ausgeschlossen und sah sich auf Jahre hinaus isoliert. Eine gewisse Lockerung in dieser Hinsicht bahnte sich erst an, als Erich Honecker 1971 die Regierung in der DDR übernahm und darauf eine allmähliche Liberalisierung, aber zugleich Verwestlichung der DDR einsetzte.26 Wegen der mangelhaften Konsumgüterversorgung führte das jedoch keineswegs zu einem Stimmungsumschwung innerhalb der sogenannten breiten Massen der DDR-Bevölkerung, die jetzt eher noch neidischer nach Westen schielten. Und so blieb der Kampf zwischen dem Neuen und dem Alten weiterhin unentschieden. Als daher Müller im Jahr 1988 seinen Lohndrücker im Ostberliner Deutschen Theater erstmals selber in Szene setzte, nahm er folgende gravierende Änderungen vor. Während er die erste Fassung dieses Stücks mit jener Szene beschlossen hatte, in der sich Balke und Karras – trotz aller widrigen Umstände – dennoch entschließen, jenen Ringofen zu reparieren, mit dem sich die von der Parteileitung geforderte Planerfüllung durchführen lasse, entschied er sich jetzt angesichts des gescheiterten Versuchs, die Mehrheit der Arbeiter für den Aufbau des Sozialismus zu gewinnen, diese Szene einfach wegzulassen.27 Statt dessen sahen die Zuschauer am Schluß lediglich, wie der Parteisekretär Schorn den widerstrebenden Balke so fest an sich zu drücken versucht, daß dieser fast erstickt. Und dann ging das Licht aus. Außerdem unterstrich Müller die symbolische Bedeutsamkeit solcher Szenen, indem er dabei im Hintergrund ein Bild von Goya einblenden ließ, auf dem sich zwei starrköpfige Bauern wechselseitig umzubringen versuchen. Schließlich ging es ihm in dieser Inszenierung vor allem darum, die verstörten Zuschauer daran zu erinnern, daß sich viele Arbeiter in der frühen DRR – noch immer 233

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unter dem Einfluß des Nazifaschismus – mit derselben verbohrten Vehemenz gegen den von der Sowjetunion importierten Sozialismus zur Wehr gesetzt hätten wie die spanischen Bauern zu Goyas Zeiten gegen die von einigen Mitgliedern der Königsfamilie und der französischen Besatzungsarmee propagierten Ideen der Aufklärung. Damit wollte er seinem Publikum zeigen, wie sehr er mit dieser Inszenierung auf jene Situation zwischen 1945 und 1949 anzuspielen versuchte, als Stalins Rote Armee und die Führungselite der SED den unwilligen Werktätigen in Ostdeutschland den sie „befreienden Sozialismus“ aufzwingen wollten und daran gescheitert seien. Das war ein trübes Fazit. Aber zu diesem Zeitpunkt war es Müller schon mehr als klar, daß selbst die Umwandlung der Eigentumsverhältnisse in der DDR nicht ausgereicht hatte, die in diesem Staate lebenden Menschen wegen der unzureichenden Konsumgüterversorgung von den Segnungen des Sozialismus zu überzeugen. Was diese Bevölkerung, die lediglich aufgrund ihrer postfaschistischen, postprotestantischen und postpreußischen Obrigkeitshaltung das SEDRegime 40 Jahre „geduldet“ hatte, jetzt wollte, war zwar die Beibehaltung einiger sozialistischer Errungenschaften, worunter sie vor allem die Vollbeschäftigung, die niedrigen Mieten, die zahlreichen Kindertagesstätten und die billigen Grundnahrungsmittel verstand, aber sie wollte zugleich an dem üppigen Warenangebot und der unterhaltsamen Medienkultur der BRD teilhaben. Und das führte schließlich am 9. November 1989 zu der seit langem erhofften Öffnung der Mauer zwischen Ost- und Westberlin. Als sich jedoch in den folgenden Monaten darauf – nach der Stilllegung aller VEB-Werke und der weitverbreiteten Arbeitslosigkeit – diese Erwartung nicht sofort erfüllte, klagten plötzlich viele der ehemaligen DDR-Bürger und -Bürgerinnen, die aufgrund der einsetzenden Verarmung mit der vielgepriesenen neuen Freiheit nicht viel anzufangen wußten: „Wir wollten Sozialismus und KaDeWe. Und was haben wir bekommen: Kapitalismus und Aldi.“ Angesichts dieser Situation hörte Müller nach der am 3. Oktober 1990 beschlossenen Wiedervereinigung Deutschlands auf, weiterhin Dramen zu schreiben, die sich für eine Durchsetzung des Sozialismus eingesetzt hätten und gab nur noch mißmutige Interviews über die inzwischen eingetretenen Zustände, in denen wiederum die altgewohnten Eigentumsverhältnisse eingetreten seien.

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Im Schlaraffenland des westdeutschen Wirtschaftswunders Martin Walsers Ehen in Philippsburg (1957)

I Wegen der zentralen Rolle, welche die Großindustrie bei der 1933 erfolgten Machtübergabe an die Nationalsozialisten und dann noch einmal bei der Unterstützung der darauffolgenden Kriegsvorbereitungen gespielt hatte, überwog kurz nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs unter den Vertretern einer antifaschistischen Gesinnung erst einmal eine unverhüllte antikapitalistische Stimmung. Doch das währte nicht lange, da sich die drei Westmächte schon gegen Ende 1947, als der Kalte Krieg gegen die Sowjetunion einsetzte, entschlossen, in den von ihnen besetzten Gebieten eine verstärkte Rekapitalisierung durchzuführen, um ihr Trizonesien in ein Bollwerk gegen den östlichen Kommunismus umzuwandeln. Der erste entscheidende Schritt dazu war die im Sommer 1948 vollzogene Währungsreform und der zum gleichen Zeitpunkt einsetzende Marshall-Plan, welche vor allem der Konsumgüterindustrie zugute kamen. Und das wurde von breiten Schichten der westdeutschen Bevölkerung – nach einer zehn Jahre andauernden Plan- und Zwangswirtschaft – nicht nur als Hoffnung auf einen steigenden Wohlstand, sondern auch als Durchbruch zu demokratischer Freiheit begrüßt. Als daher Ende 1949 die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde, ließen Konrad Adenauer, ihr erster Kanzler, und der von ihm ernannte Wirtschaftsminister Ludwig Erhard nicht nach, diesen Kurs mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu fördern.1 Demzufolge wurde 1950 nicht nur der bisherige Preisstopp aufgehoben, sondern auch eine Kleine Steuerreform verabschiedet, die allen Bundesbürgern mit hohem Einkommen großzügige Abschreibungsvergünstigungen und Steuerermäßigungen ermöglichte, um so die nötigen Investitionsanreize zu schaffen. Weitere Erleichterungen für die Großindustrie bewirkte die Bundesregierung durch jene Zugeständnisse, die sie im Rahmen des Petersberger Abkommens mit der Hohen Kommission der westlichen Besatzungsmächte aushandelte. Aufgrund dieser Vereinbarungen kam 235

Im Schlaraffenland des westdeutschen Wirtschaftswunders

es zur endgültigen Einstellung von Demontagen, zur Rückgabe der Montanindustriewerke an ihre früheren Besitzer, zur Aufhebung der bisherigen Produktionsbeschränkungen sowie zur Lockerung der 1945 im Potsdamer Abkommen beschlossenen Dekartellisierungsbestimmungen. Und so setzte schon im Jahr 1950 eine steigende Rückverflechtung der Eisen- und Stahlindustrien sowie eine Neuverflechtung der regionalen Banken im Rahmen großer, alle Bundesländer umfassender Banksysteme ein. Obendrein wurde dieser Rekapitalisierungsprozeß durch die 1951/52 erlassenen Exportförderungs-, Investitionshilfe- und Kapitalmarktgesetze angeheizt. Doch derartige Maßnahmen allein hätten sicher nicht genügt, die industrielle Produktion wieder auf Hochtouren zu bringen. Weitere Voraussetzungen dazu bildeten die durch die hohe Arbeitslosigkeit niedriggehaltenen Löhne, der ständige Zustrom hochqualifizierter Arbeitskräfte aus dem Osten Deutschlands sowie die durch den gewaltigen Nachholbedarf der Bevölkerung geradezu idealen Absatzbedingungen. All das führte zu einer stürmischen Kapitalakkumulation und zugleich gesteigerten Investitionen, so daß die industrielle Zuwachsrate im Jahr 1950 auf manchen Gebieten um fast 40 Prozent anstieg.2 Trotz der sich dadurch anbahnenden Wohlstandssteigerung nahmen nicht alle Westdeutschen diese Entwicklung widerstandslos hin. Vor allem die SPD unter Kurt Schumacher bestand weiterhin auf eine Überführung der sogenannten Schlüsselindustrien in Gemeineigentum und bezeichnete die von Adenauer und Erhard durchgesetzte angebliche „Soziale Marktwirtschaft“ als einen aufgelegten Schwindel. Der von ihnen befürwortete Kurs, erklärten viele Vertreter dieser Partei, beruhe letztlich auf einer „vierfachen Verbindung von Kapitalismus, Kartellen, Klerikalismus und Konservativismus“, mit der das an der Macht befindliche „extrem autoritäre Manager-Regime“ lediglich die profiteinträglichen Interessen der „Herren-Klasse“ vertrete und deshalb als „totalitär“ bezeichnet werden müsse.3 Doch Adenauer und Erhard ließen sich durch solche Parolen nicht beirren. Sie hatten das untrügliche Gefühl, daß sich die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung – im Vertrauen auf die steigenden Produktionsziffern – schließlich doch für eine kapitalistische Wohlstandspolitik und nicht für irgendwelche Planungskonzepte oder gar sozialistische Experimente entscheiden würde. Daher setzten sie den fortschreitenden Monopolisierungstendenzen innerhalb vieler Industriezweige keinerlei Hemmnisse entgegen und stellten alle Einsprüche im Hinblick auf die von ihnen befürworteten Maßnahmen als östliche Unterminierungsversuche hin. 236

Martin Walsers Ehen in Philippsburg (1957)

Und so ging in der Folgezeit alles seinen von den führenden Vertretern der CDU/CSU eingeleiteten kapitalistischen Gang. Daß sich ihre Politik als so wirksam erwies, hing nicht nur mit den festverwurzelten Obrigkeitsvorstellungen breiter Bevölkerungsschichten zusammen, die der Nazifaschimus erneut verstärkt hatte, sondern auch damit, daß sich die von Adenauer und Erhard durchgesetzte Wirtschaftspolitik als eine Success Story ersten Ranges erwies und somit ein gesellschaftliches und ideologisches Stimmungsklima schuf, in dem alle oppositionellen Vorbehalte, die sich weiterhin gegen eine Rekapitalisierung Westdeutschlands wandten, immer unglaubwürdiger wirkten. Selbst die SPD schwächte daher schon um 1952/53 ihre antikapitalistischen Parolen erheblich ab und bezeichnete sich zusehends als eine entideologisierte „Volkspartei“. Auf diese Weise entstand in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre schließlich jener wirtschaftswunderliche Konsensus, welcher der CDU/CSU, die 1949 bei der Gründung der Bundesrepublik nur mit einer Stimme Mehrheit an die Macht gekommen war, bei den Wahlen im Jahr 1957 zur absoluten Mehrheit im Bundestag verhalf, wodurch Adenauer und Erhard zu den populärsten Figuren aller vornehmlich auf einen steigenden Wohlstand bedachten Schichten wurden. Was den Erfolg dieser Partei begünstigte, war also weniger ihr christlicher Konservativismus als die enorme Steigerung der Konsumgüterproduktion sowie eine von ihr angekurbelte, vornehmlich auf massenwirksame Unterhaltung eingestellte Medien- und Tourismusindustrie, die allen sozialpolitischen Fragen wohlweislich aus dem Wege ging. Statt irgendwelche planwirtschaftlichen Leitbilder aufzurichten, erklärte Erhard damals, solle der Staat lediglich darauf sehen, „daß dem Bereicherungsdrang des Einzelnen so wenige Schranken wie nur möglich entgegengestellt“ würden.4 All jene, die von diesem steigenden Wohlstand profitierten, wiesen daher unter Berufung auf Adenauer und Erhard immer nachdrücklicher darauf hin, wieviel Geld sie plötzlich verdienten, wie das Warenangebot zunehme und wie die Freizeit immer länger werde, was ein tiefgehendes Einverständnis mit dem Status quo bewirkte. Demzufolge stößt man in diesen Jahren selten auf Statistiken, in denen auch die Kehrseite des sogenannten „Wirtschaftswunders“ manifest wird. Doch die wenigen, die es gibt, sprechen eine deutliche Sprache. So verfügten gegen Ende der fünfziger Jahre zwei Prozent der westdeutschen Bevölkerung über 50 Prozent des Produktivvermögens. Das gleiche gilt im Hinblick auf die Bodeneigentümer, von denen zwei Prozent mehr als ein Drittel der gesamten Wirtschaftsfläche besaßen. Es waren deshalb vor allem diese Schichten, welche es sich leisten konnten, durch finanzielle Zuwendungen nicht nur die 237

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Wahlfonds der Parteien, sondern auch die Institutionen der öffentlichen Meinungsbildung sowie die kapitalistischen Interessensvertretungen maßgeblich zu beeinflussen. Der Slogan vom „Wohlstand für alle“, den Erhard 1957 propagierte, wirkt darum bei näherem Hinsehen recht fadenscheinig. Genau betrachtet, gab es zwar in der frühen Bundesrepublik durchaus eine gewisse soziale Mobilität, aber keine durchgreifende Umstrukturierung der bestehenden Vermögens- und Eigentumsverhältnisse. So vergrößerte sich etwa der Gewinnanteil der Arbeitnehmer am erarbeiteten Mehrwert – trotz dramatisch ansteigender Löhne – von 59 Prozent im Jahr 1950 lediglich auf 60 Prozent im Jahr 1960, während die winzig kleine Schicht der Großverdiener – wie schon unterm Faschismus – geradezu astronomisch hohe Profite einstreichen konnte. Um in dieser Entwicklung einen gerechten und freiheitlichen Weg zu einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ zu sehen, wie es damals die systemkonforme Soziologie unter Helmut Schelsky versuchte, dazu bedurfte man schon zu diesem Zeitpunkt mehr als der ständigen Hinweise auf die steigenden Produktionsziffern. Deshalb trat der parteipolitischen Propaganda von Anfang an eine ebenso effektive, massenmedial gesteuerte ökonomische Propaganda des einmal eingeschlagenen Wegs zur Seite, ohne welche die CDU/CSU bei den Wahlen der späten fünfziger Jahre sicher nicht so große Erfolge erzielt hätte. Aus diesen Gründen kam es in diesen Jahren kaum zu größeren innenpolitischen Konflikten. Nicht einmal bei dem 1956 von der CDU/CSU eingeleiteten Verbot der gegen diese Entwicklung opponierenden KPD meldeten sich irgendwelche Gegenstimmen. Ja, sogar die zeitweilig heftige Reaktion auf die von den Vereinigten Staaten begrüßte Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht, der schließlich selbst die SPD zustimmte, verlief weitgehend im Sande. Und auch von der in der unmittelbaren Nachkriegszeit geforderten „Vergangenheitsbewältigung“ war in den späten fünfziger Jahren kaum noch die Rede. Viele fragten sich später: Gab es denn damals nicht wenigstens einige kritisch gestimmte Künstler oder Intellektuelle, die der verbreiteten Wirtschaftswundergesinnung entgegenzutreten versuchten? Es gab sie schon, aber sie zogen sich meist in eine Ohne-mich-Haltung zurück, welcher ein sich von allen gesellschaftlichen Verhältnissen distanzierender, sich als „abstrakt“ gebender Modernismus zugrunde lag, der sich ausdrücklich als unideologisch verstand und daher in seinem Nonkonformismus letztlich doch mit der angeblich durch nichts eingeengten Nicht­ ideologie der Regierungskreise übereinstimmte.

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Zugegeben, es meldeten sich ab Mitte der fünfziger Jahre auch einige kritische Einzelgänger unter den westdeutschen Künstlern und Intellektuellen zu Wort, die gegen den herrschenden Konsensus innerhalb der angeblich „sozialen“ Marktwirtschaft aufbegehrten. Aber sie wurden von den alles dominierenden Massenmedien, ob nun den Zeitungen, dem Rundfunk oder dem entstehenden Fernsehen, entweder kaum beachtet oder bewußt unterschlagen. Was in diesen Medien gelobt wurde, waren weitgehend jene Werke, die sich im Sinne der herrschenden Koalition von CDU/CSU und FDP systemkonform verhielten, das heißt sich privatistisch gaben oder ins Überzeitliche und damit Unrealistische auswichen. Sich als Kritiker solcher Tendenzen aufzuspielen, war demzufolge durchaus existenzgefährdend. Zu den wenigen, die es dennoch – außer Heinrich Böll und Wolfgang Koeppen – wagten, gehörte unter anderem der junge Martin Walser, der 1957 seinen ersten Roman unter dem Titel Ehen in Philippsburg publizierte, indem er nicht nur den luxurierenden Lebensstil der herrschenden Wirtschaftswundergesellschaft beschrieb, sondern zugleich ein Bild der steigenden Verfilzung von Politik, Wirtschaft und massenmedial gesteuerter Meinungsmanipulation entwarf.

II Warum Walser gerade diese beiden Aspekte der westdeutschen Wirtschaftswunderwelt zum Thema seines ersten Romans wählte, hängt zweifellos mit seinem frühen Werdegang zusammen. Nachdem er gegen Ende des Zweiten Weltkriegs noch als Siebzehnjähriger Soldat werden mußte, begann er 1946 – erst in Regensburg und dann in Tübingen – Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie zu studieren. Doch das allein genügte ihm nicht. Er wollte zugleich eine Laufbahn als Journalist, als zeitnaher Reporter, wenn nicht gar als anspruchsvoller Buchautor einschlagen.5 Die erste Chance, sich diesen Traum zu erfüllen, bot ihm der Stuttgarter Rundfunk, für den er ab 1949 als freier Mitarbeiter Reportagen, Kommentare und Hörspiele zu schreiben begann, die den Direktoren dieses Senders so zusagten, daß sie ihm eine feste Anstellung gewährten. Und Walser nahm dieses Angebot auch umgehend an, da er bereits 1950 geheiratet hatte und ein gesichertes Einkommen benötigte. Diese Anstellung ermöglichte ihm zugleich, 1951 in Tübingen bei dem Neugermanisten Friedrich Beißner mit einer Arbeit über Franz Kafka zu promovieren, um sich damit zu einer Form von Literatur zu bekennen, die in den Jahren des Nazifaschismus gewaltsam unterdrückt worden war.

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Beim Stuttgarter Rundfunk, der bald darauf in Süddeutscher Rundfunk umbenannt wurde, gehörte er mit Peter Adler, Franz Huber und Helmut Jedele zu jener Gruppe, die sich in ihrer Kritik am herrschenden „Konsum-, Wohlstands- und Wirtschaftswunderdenken“ als eine Clique „zorniger junger Männer“ verstand,6 das heißt sich nicht dem alles dominierenden „Zeitgeist“ unterwerfen wollte, sondern in ihren Sendereihen, wie Schicksale in dieser Zeit oder Zeichen der Zeit, auch aufmüpfige Töne anzuschlagen versuchte. Dafür spricht beispielsweise folgender Ausschnitt aus der 6. Folge der Sendereihe Zeichen der Zeit, dem Walser am 29. September 1952 den Titel Totale Information gab und worin er im Ankampf gegen die systemimmanente Gehirnwäsche innerhalb der führenden Medien erklärte: „Wer darf heute noch von sich behaupten, daß sein Denken noch sein Denken ist? Wer weiß noch, was sein Eigen ist und was in ihn hineingeleiert, hineingeträufelt wurde? Wer kann sich noch entziehen? Die Nachrichten-Gewitter brechen so anhaltend, so rasch auf uns herab, daß das Bewußtsein nicht mehr mitkommt, aber das Unterbewußtsein wird gleichgeschaltet, wird erzogen und geschult, so daß man sich nachher bei der Wahl, bei irgendeiner Entscheidung nur noch an dieses Unterbewußtsein wenden muß, um die Antwort zu bekommen, die man gern hört, die man durch die Nachrichtenmühle vorbereitet hat. So macht man Filmstars, Diktaturen, Volksentscheide, Industrie-Schlager und eventuell auch Kriege.“ Und die Stuttgarter Sendechefs ließen ihn trotz solcher Kommentare, die ihnen zwar wegen ihrer kritischen Tonlage gegen den Strich gingen, aber „interessant“ erschienen, durchaus gewähren. Ja, neben der Abfassung derartiger Kommentare und Reportagen beauftragten sie Walser zugleich mit der Hörspielproduktion und Hörspielregie. Außerdem wirkte er als Skriptwriter maßgeblich beim Aufbau der Fernsehproduktion des Süddeutschen Rundfunks mit und führte sogar Regie bei dem ersten dort hergestellten Fernsehfilm. Doch neben der Abfassung solcher Hörspiele und Fernsehfilme begann Walser zugleich zeitkritische Erzählungen zu schreiben, worauf er 1953 erstmals von Hans Werner Richter zu einem der alljährlich stattfindenden Treffen der Gruppe 47 eingeladen wurde, die ihm 1955 für seine Erzählung Templones Ende sogar einen Preis verlieh. All das ermunterte Walser schließlich, seine frühen Erzählungen 1955 unter dem Titel Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten als Buch herauszubringen. In diesen Erzählungen bemühte er sich zwar noch teilweise um einen ins Symbolische übergehenden Darstellungsstil à la Franz Kafka, stellte aber zugleich in durchaus realistisch-kritischer Weise auch die Schattenseiten der in 240

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der frühen Bundesrepublik herrschenden sozioökonomischen Ungleichheiten sowie die teilnahmslose Arroganz vieler sich als nonkonformistisch ausgebender Intellektuellen dar. So geht es etwa in der Kurzgeschichte Der kleine Krieg um einen kleinen Ladenbesitzer, der im Wettkampf mit einem modernen, das heißt kapitalaufwendigen Shop den Kürzeren zieht, während er in den Erzählungen Die letzte Matinee und Rückkehr eines Sammlers den existentialistisch gefärbten Pseudointellektualismus gewisser Schichten sowie ihre Nichtbeachtung der sozial Notleidenden kritisch unter die Lupe nahm. Und diese Haltung vertrat Walser auch auf den Tagungen der Gruppe 47, wo er seine Schreibkollegen aufforderte, sich nicht nur rückblickend mit dem „Krieg und seinen Begleiterscheinungen“ zu beschäftigen, sondern auch die Zustände der eigenen „Gegenwart zu thematisieren“.7 Im Einklang mit solchen Forderungen schrieb er darauf 1956 seinen Roman Ehen in Philippsburg, der ein Jahr später im Druck erschien und sich – trotz seiner kritischen Sicht der westdeutschen Wirtschaftswunderwelt – als so erfolgreich erwies, daß er danach als freier Schriftsteller leben konnte. Wie kam es eigentlich zu diesem Erfolg? Mußte nicht ein solches Buch bei den systemimmanenten Rezensenten notwendig Mißfallen erregen? Oder war es einfach zu „gut“ geschrieben, um es kurzerhand mit desavouierender Arroganz als unwichtig beiseite zu legen? Die Beantwortung derartiger Fragen bedarf zwangsläufig einer etwas längeren Ausführung.

III Aufgrund seiner ideologischen Einstellung sowie der konkreten Erfahrungen, die Walser während seiner mehrjährigen Tätigkeit beim Süddeutschen Rundfunk gemacht hatte, erwartet man von diesem Roman zwangsläufig eine kritische Darstellung der im westdeutschen Medienbetrieb herrschenden Wirtschaftswundermentalität und ihrer Auswirkungen auf die in ihr tätigen Manager sowie die sich ihnen anpassenden bzw. sich verweigernden Angestellten. Und diese Erwartung wird auch nicht enttäuscht. Schon auf den ersten Seiten erfahren wir, daß es in ihm um den beruflichen Werdegang eines jungen Journalisten namens Hans Beumann gehen soll, der Zeitungswissenschaft studiert hat und sich nach bestandenem Examen mit einem Empfehlungsschreiben seines Professors beim Philippsburger Tagblatt, womit höchstwahrscheinlich die Stuttgarter Nachrichten gemeint sind, um eine Anstellung bewerben will. Da ihm jedoch der dortige Chefredakteur Harry Büsgen, der als kaum erreichbarer Grandseigneur im 14. Stockwerk eines gerade fertig gewordenen „Riesenturms aus Stahl und Glas“ residiert,8 kein Interview gewährt, sucht Beumann anschließend seine frühere 241

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Studienkollegin Anne Volkmann auf, die sich als die Tochter eines steinreichen Industriellen entpuppt, in dessen Fabrik die modernsten Radio- und Fernsehgeräte hergestellt werden. Das sieht auf den ersten Blick wie der Anfang eines der herkömmlichen Bildungs- und Entwicklungsromane aus, denen man in der deutschen Literatur – bekanntermaßen – immer wieder begegnet. Beumann scheint zwar recht begabt zu sein, weiß aber noch nicht, „was er der Welt zuliebe tun könnte“ (13). Kurzum: Er muß erst berufliche und menschliche Erfahrungen machen, um daraus zu lernen und seinem Leben eine sinnvolle Zielrichtung zu geben. Wie in vielen Erstlingswerken junger Autoren wirkt das fast wie ein Rückgriff auf autobiographische Erlebnisse. Doch das erweist sich schnell als eine falsche Vermutung. Während Walser schon als junger Journalist dem damals herrschenden Medienbetrieb relativ kritisch gegenüber stand, wirkt sein Beumann von vornherein wie ein anpassungsbereiter Mitläufer, dem es lediglich darum geht, in der ihn umgebenden Wirtschaftswundergesellschaft eine möglichst einträgliche Anstellung zu finden. Und diese Chance wird ihm von Annes Vater, dem besagten steinreichen Industriellen Volkmann, auch geboten, der sofort erkennt, daß sich dieser junge, aufstiegsbeflissene Mann sicher bereit erklären würde, in seine Dienste zu treten und eine von ihm finanzierte Werbezeitschrift unter dem Titel programm press herauszugeben. Wie erwartet, sieht Beumann in diesem Angebot eine höchst willkommene Chance, endlich aus der Welt des provinziellen Kleinbürgertums, der er entstammt, in die höhere Sphäre der „feinen Leute“ aufzusteigen. Er überlegt zwar kurz, ob er nicht lieber den „Aufrechten“ spielen solle, glaubt aber, daß er damit doch niemanden nützen würde. „Ob nun die Industrie vom Übel oder nicht vom Übel war“, heißt es von ihm, konnte er ohnehin noch nicht „richtig beurteilen“. „Und wenn er abschlüge“, denkt er sich, „so wäre es für Herrn Volkmann sicher eine Kleinigkeit, für diesen Posten einen anderen zu finden“ (56). Also nimmt er an. Alles Weitere ergibt sich daraus mit geradezu vorhersehbarer Konsequenz. Beumann schreibt für die regelmäßig erscheinende programm press vor allem Artikel, in denen er eine mehr oder minder verschleierte oder auch offene Propaganda für die Geschäftsinteressen seines benevolenten Brotgebers treibt, ja läßt sich sogar gefallen, wenn dieser ihm nicht genehme Passagen kurzerhand streicht. Am liebsten schreibt er Artikel, „in denen er die Radio- und Fernsehprogramme kritisierte, die nicht dazu angetan waren, die Leute vom Kauf von Geräten zu reizen“, kurze Beiträge „über besondere technische Leistungen der Industrie“ oder Porträts führender „Konstrukteure und Wirtschaftsführer“, also 242

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über Männer, die scheinbar nur aus „Wagemut, Erfindungsgabe, seelischer Harmonie und menschlichem Verantwortungsgefühl bestanden“ (63). Volkmann ist daher durchaus zufrieden mit ihm und lädt ihn sogar zu einem im Garten seiner weiträumigen Villa stattfindenden aufwendigen Sommerfest ein, wo Beumann erstmals all den lokalen Größen aus Politik, Wirtschaft, Zeitungswesen und Kultur begegnet, ohne die in Philippsburg nichts zu laufen scheint. Er benimmt sich zwar anfangs noch etwas unbeholfen, da er erst lernen muß, welcher Dresscode bei solchen Anlässen herrscht, vor wem man sich verbeugen muß und mit welcher Nonchalance man sein Sektglas in der Hand zu halten hat, um nicht als Außenseiter zu gelten. Aber er ist anpassungsbereit genug, sich die in diesen Kreisen herrschenden Umgangsformen relativ schnell anzueignen. Aber viel mehr lernt er dabei eigentlich nicht, weil bei diesen Zusammenkünften nicht irgendwelche höheren Interessen, sondern lediglich die hinter allen gesellschaftlichen Verschleierungsformen stehenden geschäftlichen Machenschaften von Wichtigkeit sind. Beumanns Entwicklung, falls man davon überhaupt sprechen kann, gleicht daher eher einem Integrations- als einem Lernprozeß. Er sieht lediglich, wie sich die angeblich „feinen Leute“ benehmen, und versucht, es ihnen gleich zu tun. Er kleidet sich standesgemäß, bemüht sich, den in diesen Kreisen gebräuchlichen Konversationston anzueignen, legt seine anfängliche Schüchternheit ab, wird zusehends skrupelloser und gewinnt so die wohlwollende Gunst seines Auftragsgebers. Ja, Volkmann erlaubt ihm schließlich sogar, seine Tochter, die etwas knochige Anne, zu heiraten und veranstaltet ihm zu Ehren ein üppig ausgestattetes Verlobungsfest, zu dem er wiederum die gesamte Hautevolee der Philippsburger Oberschicht einlädt. Darauf akzeptieren ihn die Herren dieser Kreise als einen der Ihren und überreichen ihm den Schlüssel zu einer exklusiven Intimbar, wo sie sich mit ihren Geschäftspartnern treffen sowie sich anschließend in abgedunkelten Schlummerlogen mit dienstbereiten Girls vergnügen. Und Beumann erweist sich dieser Ehre am Schluß des Romans durchaus würdig, indem er einen proletarischen Eindringling in diese Bar kurzerhand zu Boden schlägt und danach mit einer der dortigen Bardamen die Nacht verbringt, um sich auch in dieser Hinsicht als einer der Lebemänner der „besseren Gesellschaft“ auszuweisen. Ja, nach der Hochzeit mit Anne wird er sich sicherlich, wie der angesehene Frauenarzt Dr. Benrath und der politisch ambitionierte Rechtsanwalt Dr. Alwin, deren Ehebrüche höchst ausführlich geschildert werden, eine oder mehrere Geliebte leisten.

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IV Wie reagierten eigentlich im Jahr 1957 oder kurz danach – mitten in der bundesrepublikanischen Wirtschaftswunderwelt – die bekannteren Rezensenten auf diesen höchst provokativen Roman? Wie zu erwarten, war in ihren Besprechungen von der in ihm geübten Kritik an den Profitinteressen der führenden Wirtschaftskreise und der auf sie eingestimmten Medienwelt fast nirgends die Rede.9 All das fand man offenbar zu heikel. Stattdessen beschränkten sich diese Rezensenten, falls sie diesen Roman wie Wolf Jobst Siedler nicht von vornherein als „klischeehaft“ ablehnten,10 lieber auf Fragen der Erzähltechnik, der Gattungszugehörigkeit, der Abhängigkeit von literarischen Vorbildern, der autobiographischen Komponente des Ganzen oder der satirischen Übersteigerung der dargestellten Verhältnisse. Ist dieser Roman wirklich ein Bildungs- und Entwicklungsroman, fragten sich manche? Hat sich in ihm Walser tatsächlich von seinem ursprünglichen Idol Kafka befreit oder nicht?11 Zerfällt nicht das Ganze in mehrere, nur mühsam miteinander verflochtene Teile, ist also kein wirklich durcherzählter Roman? Oder bedient sich Walser in ihm lediglich der satirischen Überspitzung, weil er seinen Lesern einen Spaß bereiten will? Den zutiefst kritischen Aspekt dieses Romans, nämlich die in ihm dargestellte Verfilzung von Politik, Industrie und Medienbetrieb, haben erst die Germanisten der siebziger und frühen achtziger Jahre herausgestellt. Einer der ersten war Klaus Pezold in seiner Walser-Monographie von 1971, der vor allem den an Heinrich Manns Roman Im Schlaraffenland (1900) gemahnenden kritischen Realismus des Ganzen herausstrich und zugleich ausführlich auf die in ihm geschilderten Klassenverhältnisse sowie die ideologischen Manipulationsbemühungen in der von Walser dargestellten Medienwelt hinwies.12 Ähnliche Deutungsversuche finden sich danach bei Renate Möhrmann,13 Anthony Waine,14 Gerald A. Fetz15 und Kurt Rathmann,16 die nicht nur auf die in diesem Roman kritisierte Parvenügesinnung, sondern auch auf die ebenso kritisch gesehene plutokratische Einheitsfront innerhalb der führenden Meinungsträgerschichten der angeblich wirtschaftswunderlich aufblühenden frühen Bundesrepublik eingingen, um damit zu einer besseren Einschätzung dieses Romans beizutragen. Und in diesem Sinne sollte Walsers Roman Ehen in Philippsburg auch heute noch gelesen werden. Mag auch die in ihm entlarvte Aufsteiger-, Emporkömmlings- oder Parvenümentalität, die in den fünfziger Jahren noch dominierend war, inzwischen weitgehend abgenommen haben, die systemimmanenten Tendenzen innerhalb der herrschenden Medienindustrie, die sich aller nur denkbaren Public-Relations-Techniken bedient, um die Mehrheit der Bevölkerung von 244

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den weiterhin bestehenden sozialen Ungleichheiten und den ihnen zugrunde liegenden Eigentumsverhältnissen abzulenken, sind nach wie vor die gleichen geblieben. Das so früh erkannt zu haben, ist ein nicht zu leugnendes Verdienst Walsers, welches es nachdrücklich anzuerkennen gilt. Gehen wir daher auf die Darstellung der von ihm kritisierten Verhältnisse, in denen die eigentliche Relevanz dieses Romans besteht, noch einmal etwas ausführlicher ein.

V Zugegeben, auch die Eheprobleme und die diversen Liebesaffären innerhalb der sich äußerst nonchalant gebenden Philippsburger Gesellschaftsschichten spielen in dem Ganzen eine wichtige Rolle und werden dementsprechend breit ausgemalt, was sicher im Hinblick auf den Erfolg dieses Romans eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt hat. Aber selbst in ihnen geht es nicht um sogenannte „allgemeinmenschliche“ Probleme. Sogar sie werden stets als Phänomene dargestellt, wie sie in dieser Form vorwiegend für vermögende und deshalb „freizügig“ eingestellte Kreise typisch sind. Dr. Benrath und Dr. Alwin sind keine mit Ödipus-Komplexen belasteten Triebtäter, sondern können sich ihre luxurierende Einstellung Frauen gegenüber nur leisten, weil sie über die genügenden Geldreserven verfügen. Daher werden sie wegen ihrer erotischen Affären von den anderen Männern ihrer Kaste nicht verachtet, sondern eher bewundert. Letztlich sind auch sie in erster Linie Mitglieder jener Gesellschaftsschicht, die sich an keinerlei moralische Restriktionen gebunden fühlt, sondern unter neoliberaler „Freiheit“ vor allem ein rücksichtsloses Durchsetzungsvermögen versteht. Und damit erweisen sich selbst sie als Vertreter jener Wirtschaftswunderwelt, in der sowohl im Liebesleben als auch im Geschäftsgebaren der führenden Industrie- und Medienkreise der gleiche, sich an keinerlei überlieferte Wertvorstellungen gebundene Auslebedrang herrscht. Es geht also in diesem Roman keineswegs um die Propagierung jener emanzipationsbetonten „Sexuellen Revolution“, die ein Jahrzehnt später einige Vertreter der Achtundsechziger Bewegung auf ihre Fahnen schrieben, sondern um die Kritik an jener sexuellen Ausbeutung, welche bereits vorher in allen feudalistischen oder großbürgerlichen Gesellschaften gang und gäbe war. Die Benraths und Alwins oder wie sie auch heißen mögen, sind keine die halbe Welt umarmenden Blumenkinder, sondern skrupellos auftretende „Herren“, die als Vertreter der neureichen Oberschichten lediglich die sexuellen Vorrechte der herrschenden Kaste innerhalb der älteren Klassengesellschaften beizubehalten versuchen. Und damit werden selbst die in diesem Roman geschilderten 245

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Geschlechterverhältnisse aufs engste auf die damals herrschenden Vermögensverhältnisse zurückgeführt. Unter dieser Perspektive betrachtet, spielen die sexuellen Eskapaden in Walsers Ehen in Philippsburg eine zwar wichtige, aber letztlich sekundäre Rolle. Die zentrale Figur des Ganzen ist der frühere Chefingenieur Volkmann, dem es nach dem Krieg gelungen war, aufgrund der „wirtschaftlichen Möglichkeiten der Nachkriegszeit“ sowie seiner „Sachkenntnis der Rundfunkgeräteindustrie“ eine wohlflorierende Fabrik aufzubauen (25). Und damit hatte er sich zugleich eine gesellschaftliche Geltung verschafft, die alle seiner Konkurrenten weit übertraf. Kurzum: Er nennt das größte Anwesen in Philippsburg sein Eigen, hält sich mehrere Diener und Servierfräulein, veranstaltet die wichtigsten Parties des Jahres und besitzt eine elegante Ehefrau, die sich aus Prestigegründen vor allem für Kunst interessiert, jedoch jeden „Realismus“ scharf ablehnt (30). In seiner Villa treffen sich deshalb fast ausschließlich jene Vertreter der Philippsburger Gesellschaft, die in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Medien eine entscheidende Rolle spielen. Hier werden – nach einem Sektfrühstück – gesellschaftliche Beziehungen angeknüpft und politische Karrieren eingefädelt. Hier betätigt man sich in seinem Standesbewußtsein. Hier tauscht man mit dem dazugehörigen Augenzwinkern die erwarteten Schmeicheleien aus. Ohne Umschweife: Hier verhält man sich ganz „entre nous“. Trotz dieses aufwendigen Lebensstils gibt sich Volkmann in seinen wenigen theoretischen Statements stets als wirtschaftswunderlicher Wohlstandsapostel aus. Wie die anderen „Herren“ der in Philippsburg herrschenden Oberschicht glaubt er, bereits in der besten aller nur denkbaren Welten zu leben. „Revolution, Klassenkampf und Menschheitsaufwallung“, erklärt er, das sei doch „19. Jahrhundert“ (55). Darüber sei man doch längst hinaus. Er hält daher Beumann an, in seiner programm press nur Artikel zu schreiben, die ein gesteigertes Leistungsund Anschaffungsbedürfnis bewirken würden. „Denn nur so“, erklärt er à la Ludwig Erhard, „könnten die Umsätze gesteigert, der allgemeine Wohlstand erhöht sowie die Arbeitslosigkeit und schlimmere politische Katastrophen verhindert werden“ (81). Und Beumann findet die darin zum Ausdruck kommende Gesinnung geradezu bewundernswert. Er hält es sogar für angebracht, daß Volkmann selbst auf die „Betriebsratswahlen, auf Kommunalpolitik, auf Parteibüros, auf Rundfunk und Zeitungsredaktionen“ einen beträchtlichen Einfluß ausübt, da er wie sein Chef glaubt, daß all das dem „geplanten Wohlstand“ zugute kommen würde (81). Ja, er nimmt sogar an, daß Volkmann mit seiner sozialdar-

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winistischen Parole „Alle gegen alle“ letztlich einen wohltätigen Zweck verfolge (81). Doch es ist nicht Volkmann allein, der solche neoliberalen Anschauungen vertritt. Fast alle der in seiner Villa verkehrenden Vertreter der Philippsburger Oberschicht geben vor, sich für das große Ganze nützlich zu machen. Ein gutes Beispiel ist dafür jener Dr. Alwin, der seine Besuche bei Volkmanns vor allem dazu benutzt, um für jene Christlich-sozial-liberale Partei Deutschlands (CSLPD) – eine satirische Anspielung auf die damals regierende Koalition von CDU/CSU und FDP – zu werben, zu deren Landesvorstand er gehört und in der, wie er glaubt, aufgrund der von ihr vertretenen Wohlstandsideologie sicher „alle Wähler“ die zu ihnen passende „Heimstatt“ finden würden (161). Er ist der typische „Emporkömmling“ dieser Jahre, dessen Mutter Garderobefrau am Philippsburger Staatstheater war, und der darauf hofft, es mit Unterstützung Volkmanns, des Zeitungszars Harry Büsgen, der Mitglieder des Rundfunkrats sowie seiner ehrgeizigen Frau, die eine geborene von Selow ist und deren Verwandte „in vielen Ämtern und in mächtigen Positionen der Wirtschaft“ sitzen (200), bis zum Bundestagsabgeordneten zu schaffen. Ein weiteres Beispiel für die zunehmende Verfilzung von Politik, Wirtschaft, Medien und Kultur ist jener Dr. ten Bergen, der Vorsitzende des Philippsburger Rundfunkrats, der sich für mehr Kultur in den Sendeprogrammen einsetzt und daher auf den Widerstand der eher an Unterhaltung und Werbung interessierten Geschäftsleute stößt. Als daher Beumann – kurz vor der anstehenden Wiederwahl ten Bergens – naiverweise einen halbwegs lobenden Artikel über diesen Mann schreibt, streicht ihm Volkmann alle diesbezüglichen Passagen. Und auch in der Philippsburger Presse erscheinen nur negative Kommentare über ten Bergen, der darauf nicht wiedergewählt wird. Der neue Intendant, ein gewisser Professor Mirkenrath von der dortigen Technischen Universität, erklärt deshalb in der von seinen Sponsoren lebhaft begrüßten Antrittsrede im Gegensatz zu seinem Vorgänger: „Der Rundfunk müsse zum Herzen sprechen und dürfe nicht dem Intellekt dienen. Mancher Verantwortliche sei darüber schon gestolpert. Nicht Intellekt, sondern Herz! Denn der Rundfunk sei die Sonne des Familienlebens der heutigen Zeit“ (113). Und das finden alle, die ihn gesponsert hatten, selbstverständlich höchst passend. Kurzum: Die Siegernaturen, die sich in der von Walser realistisch, wenn auch leicht satirisch überspitzt dargestellten Wirtschaftswunderwelt der mittfünfziger Jahre mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln des Reichtums und der Medienmanipulation für die Aufrechterhaltung der bestehenden Macht- und 247

Im Schlaraffenland des westdeutschen Wirtschaftswunders

Eigentumsverhältnisse einsetzen, sind die finanziell wohlgepolsterten Fabrikanten, geschickt taktierenden Zeitungschefs und Rundfunkintendanten, mit weitreichenden Beziehungen versehenen neoliberalen Politiker sowie die sich ihnen anpassenden Dienstleistungsjournalisten, die nur ihr eigenes Wohlergehen im Auge haben. Manche geben zwar vor, bei ihren geschäftlichen und politischen Machenschaften, wie gesagt, auch den steigenden Wohlstand der Gesamtgesellschaft befördern zu wollen. Aber das bleiben letztlich heuchlerische Phrasen. Der einzige, den dieser verlogene Wohlstandsrummel der neureichen Kreise zutiefst abstößt, ist in Walsers Roman jener Berthold Klaff, der ursprünglich wie Beumann ebenfalls Journalist werden wollte, aber dessen kritische Artikel von allen Zeitungsredaktionen abgelehnt wurden. Ja, er verliert als mürrischer Außenseiter sogar seine Stelle als Pförtner am Philippsburger Staatstheater, worauf er sich, nachdem ihn sogar seine Frau verlassen hat, voller Verbitterung über die herrschenden Zustände schließlich das Leben nimmt. Was er hinterläßt, sind lediglich einige unzusammenhängende Tagebuchblätter, in denen sich zwar eine Reihe politisch widersetzlicher Passagen finden, worin sich jedoch keine wirklich alternative Haltung zu den von ihm abgelehnten sozioökonomischen Zuständen zu erkennen gibt. Und so wirkt letztlich auch er nur wie ein Vertreter all jener ichbezogenen Intellektuellen, von denen man damals aufgrund ihrer nonkonformistischen Einstellung keine auf eine gesellschaftskritische Solidarität gerichteten Impulse erwarten konnte. Doch wo äußerte sich denn in den mittfünfziger Jahren irgendein effektiver Widerstand gegen die von Adenauer und Erhard rigoros durchgeführte Rekapitalisierung der frühen Bundesrepublik? Daß Walser in dieser Hinsicht keine ins Utopische ausschweifenden Gegenbilder aufrichtete, wirkt daher eher realistisch als resignierend. Doch das sollte man ihm nicht verübeln. Schließlich liegt auch den dystopisch wirkenden Partien dieses Romans durchaus ein Veränderungswille zugrunde, der allerdings noch keine konkreten Möglichkeiten zu irgendwelchen die gesellschaftliche Wirklichkeit umgestaltenden Aktivitäten erkennt. Daß Walser dazu später durchaus fähig war, beweisen seine politischen Stellungnahmen der sechziger Jahre, in denen er sich zuerst zu der mit dem Slogan „Mehr Demokratie wagen“ auftretenden SPD unter Willy Brandt und schließlich sogar zur antikapitalistischen Reportageliteratur der 1968 gegründeten DKP bekannte.

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Ihr da oben – wir da unten Günter Wallraffs Industriereportagen (1963–1985)

I Es wäre falsch oder zumindest eindimensional, die Frühzeit der westdeutschen Bundesrepublik lediglich als die „Adenauersche Restaurationsepoche“ zu bezeichnen. Das war sie zwar auch, wenn man – in politischer Hinsicht – an den betont antilinken Kurs ihrer Regierungsmehrheit aus CDU/CSU und FDP, ihren politischen Alleinvertretungsanspruch, die von ihr weiterhin als „Sowjetzone“ hingestellte DDR sowie ihre forcierten Aufrüstungsbemühungen denkt. Aber sie war zugleich – ökonomisch gesehen – eine fordistische Modernisierungsphase, in der es ihr gelang, alle anderen europäischen Staaten in ihrer Industrieproduktion zu überholen, wofür sich der viel strapazierte Begriff des westdeutschen „Wirtschaftswunders“ eingebürgert hat.1 Es waren daher weniger die sich zu einem nationalen Selbstbewußtsein bekennenden Parolen sowie die im Bereich des Ideologischen angefachten Kreuzzugsvorstellungen gegen den kommunistisch verseuchten „Osten“ als die sich ständig überbietenden Erfolgsmeldungen auf ökonomischen Gebiet, welche die westdeutschen Bürger und Bürgerinnen in ihrem Vertrauen in die von Konrad Adenauer und seinen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard angeführte Regierung bestärkten.2 Trotz mancher Proteste gegen die Wiederbewaffnung und vor allem gegen die von Adenauer vorgeschlagene atomare Ausrüstung der 1955 gegründeten Bundeswehr konnte daher die CDU zwei Jahre darauf bei den Bundestagswahlen eine später nie wieder eingeholte absolute Mehrheit im westdeutschen Bundestag erringen.3 Die Folge davon war, daß viele der von dieser ökonomischen Aufwärtsentwicklung beeindruckten Volkswirtschaftler, Soziologen, Historiker und Popularphilosophen Mitte der fünfziger Jahre immer wieder behaupteten, daß die westdeutsche, an der US-amerikanischen Consumer Society orientierte Wirtschaftswunder- oder Wohlstandsgesellschaft für die Bewohner dieses Staates nur Vorteile mit sich bringe, ohne noch auf irgendwelche sozialen Ungleichheiten einzugehen. So erklärte etwa im Herbst 1955 der damals hochangesehene Soziologe Arnold Gehlen: „Die Mittelausstattung der Bevölkerung ist im Durchschnitt 249

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so hoch wie noch zu keiner anderen Zeit der deutschen Geschichte. Wirtschaftlicher Wohlstand ist erstrebt und erreicht worden; es liegt kein Grund vor, ein Nachlassen der langfristigen Steigerung zu erwarten“.4 Mit gleicher Zuversicht behauptete Ludwig Erhard 1957 in seinem Buch Wohlstand für alle, daß in der von ihm initiierten Wirtschaftswundergesellschaft das bislang „für unumstößliche Gesetz von dem konjunkturzyklischen Ablauf des Geschehens“ endgültig obsolet geworden sei.5 Als den Hauptantriebsfaktor dieser positiven Entwicklung stellte er dabei die durch einen leistungsbetonten Wettbewerb angekurbelte industrielle Produktivität hin. Zugleich fand er es richtiger, „alle einer Volkswirtschaft zur Verfügung stehenden Energien auf die Mehrung des Ertrags auszurichten“, statt „sich in Kämpfen um die Distribution des Ertrags zu zermürben“. Die wirkliche „Demokratisierung“ der westdeutschen Gesellschaft habe sich, betonte er, im Rahmen jener kapitalistischen Marktwirtschaft vollzogen, durch die der „Kunde“ – aufgrund seiner unumschränkten „Konsumfreiheit“ – endlich wieder „König“ geworden sei. Und die Wähler hätten diese „Absage an ältere Klassenkampfparolen anläßlich der beiden letzten Bundestagswahlen“, wie er selbstgefällig behauptete, ja auch „in überzeugender Weise honoriert“. Daher sei es sinnlos, sich weiter an irgendwelche „veralteten“ Ideologien anzuklammern. Das solle man lieber den totalitären und damit in ökonomischer Hinsicht ineffektiven Staaten im Osten überlassen. Die Bundesrepublik, erklärte er, brauche keine staatstragende Ideologie. In ihr sollten lediglich dem „persönlichen Bereicherungsdrang des Einzelnen so wenige Schranken wie nur möglich entgegengesetzt werden“. Alle ins Positive drängenden Energien würden sich daraus von selbst ergeben.6 Ein erster Umschwung in politideologischer Hinsicht setzte in der BRD erst um 1960 ein, als sich die SPD – angesichts der in weiten Kreisen der westdeutschen Bevölkerung herrschenden Wohlstandsmentalität – von ihren älteren, noch immer klassenbetonten Parolen absetzte und sich als eine mehrheitlich orientierte Volkspartei ausgab, um so ihrer Partei bei den 1961 stattfindenden Bundestagswahlen zum Sieg zu verhelfen. Allerdings tat sie das – unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ – eher in politischer als in wirtschaftlicher Hinsicht. Während sich in der Nachkriegszeit ihr Vorsitzender Kurt Schumacher noch durchaus für planwirtschaftliche Konzepte eingesetzt hatte, bekannte sich jetzt auch sie voll und ganz zu den Maximen der von Erhard durchgesetzten marktwirtschaftlichen Prinzipien, das heißt versuchte die Gunst der Wähler vor allem dadurch zu gewinnen, indem sie vornehmlich gegen den halbwegs „autoritären“ Regierungsstil Adenauers zu Felde zog. Demzufolge erzielte sie zwar im 250

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Jahr 1961 einen Stimmenzuwachs, durch den die CDU/CSU ihre 1957 errungene absolute Mehrheit im Bundestag verlor, blieb aber weiterhin in der Opposition. Und daran änderte sich auch bei den folgenden Wahlen vier Jahre später nicht viel, als sich die CDU – nach dem altersbedingten Rücktritt Adenauers im Jahr 1963 – mit dem weiterhin höchst populären Ludwig Erhard um das Kanzleramt bewarb und wiederum erfolgreich blieb. Eine Chance, zum Koalitionspartner der CDU/CSU zu werden, ergab sich für die SPD erst dann, als es in den Jahren 1966/67 in der BRD zu einer erheblichen Wirtschaftskrise kam, was dazu führte, daß der bis dahin ständig neue ökonomische Erfolge versprechende Erhard zurücktreten mußte und der CDU-Chef Kurt Georg Kiesinger die Regierung übernahm, ja zur Stärkung seiner Position Willy Brandt die Vizekanzlerschaft anbot, die dieser aus realpolitischen Gründen auch annahm. Damit kam es zwar in der BRD nicht zu Veränderungen in der Eigentumsstruktur, aber sie verschafften der SPD eine zunehmende Sympathie bei den sogenannten breiten Massen, so daß sie nach den Wahlen von 1969 sogar unter Führung von Willy Brandt mit der sich ihnen verbündenden FDP die Regierungsgewalt übernehmen konnte.7

II Ein ähnlicher Kurswechsel erfolgte im Laufe der sechziger Jahre auch bei einer Reihe westdeutscher Schriftsteller und Publizisten. Während sich die meisten Vertreter dieser Berufsgruppe in den fünfziger Jahren – angesichts des von der Adenauer-Regierung propagierten Kalten Kriegs gegen alle nichtsystemimmanenten Ideologien – zu einem nonkonformistischen Konformismus bekannt hatten, bezogen jetzt einige von ihnen erstmals wieder eine bekennerische Haltung, indem sie sich aus Abneigung gegen den ihnen als „überlebt“ erscheinenden Adenauer in den anstehenden Bundestagswahlen für die SPD engagierten. Das belegt vor allem der 1961 beim Rowohlt Verlag von Martin Walser herausgegebene Sammelband Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung, in dem sich unter anderem Carl Amery, Axel Eggebrecht, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Siegfried Lenz, Erich Kuby und Paul Schallück in aller Offenheit für die von Willy Brandt angeführte SPD einsetzten. Das „Ja“ zu dieser Partei wirkte zwar bei manchen Autoren dieses Bandes noch nicht besonders enthusiastisch, da einigen von ihnen die SPD damals lediglich als das kleinere Übel erschien. Dennoch war die Fernwirkung derartiger Bekenntnisse in den westdeutschen Intellektuellenkreisen beträchtlich. Danach kam es endlich 251

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zu einer politisch oppositionellen Publizistik, die es in dieser Form vorher kaum gegeben hatte. Vor allem Blätter wie Der Spiegel, konkret, Argument und pardon, welche sich schon in den Wehrdienstdebatten der fünfziger Jahre gegen die CDU/ CSU-Politik engagiert hatten, drängten jetzt immer stärker auf einen Regierungswechsel. Allerdings ging es den meisten Vertretern dieser Richtung vornehmlich um innenpolitische Fragestellungen und Konfliktsituationen. So wurde in diesen Blättern immer wieder auf den undemokratischen Machtanspruch der herrschenden Regierung hingewiesen, der sich 1962 in besonders eklatanter Weise in der Spiegel-Affäre gezeigt habe, als – wegen einiger als „hochverräterisch“ angesehenen Äußerungen über die westdeutsche Rüstungsindustrie – mehrere Redakteure auf Anordnung von Franz Josef Strauß kurzerhand verhaftet worden seien. Daher erschienen nach diesem Zeitpunkt immer mehr Publikationen, wie Hans Werner Richters Bestandsaufnahme. Eine deutsche Bilanz (1963), Erich Kubys Franz Josef Strauß (1963) oder Horst Krügers Was ist heute links? Thesen und Theorien zu einer politischen Situation (1963), denen Richter im Wahljahr 1965 seinen Sammelband Plädoyer für eine neue Regierung hinterher schickte, in dem sich wiederum Autoren wie Carl Amery, Axel Eggebrecht, Günter Grass, Siegfried Lenz, aber auch Hubert Fichte, Erich Fried, Peter Härtling, Helmuth Heißenbüttel, Rolf Hochhuth, Walter Jens, Reinhard Lettau und Peter Weiss zu SPD-Politikern wie Willy Brandt, Fritz Erler, Gustav Heinemann, Karl Schiller, Carlo Schmid, Helmut Schmidt und Herbert Wehner bekannten. Obendrein engagierten sich viele dieser Autoren im Rahmen der in diesem Jahr anstehenden Wahl für die SPD, indem sie Reden hielten oder bei Aufrufen Formulierungshilfe leisteten. Allerdings taten sie das weiterhin, von Rolf Hochhuth einmal abgesehen, der auch in aller Schärfe auf das Problem der sozialen Ungleichheit in der BRD einging,8 meist unter der Parole „Mehr Demokratie wagen“, während sie sich kaum mit ökonomischen Fragestellungen beschäftigten. Ja, selbst als kurz darauf eine wirtschaftliche Krise einsetzte, blieben diese Autoren fast durchweg bei ihren Forderungen, in erster Linie für eine verstärkte Vergangenheitsbewältigung, einen Abbau autoritärer Regierungsformen, eine Demokratisierung des Schul- und Universitätssystems, eine Verhinderung irgendwelcher die persönliche Freiheit einengender Notstandsgesetze sowie eine Duldung linkskritischer Stimmen einzutreten. Die in allen systemkonformen Medien weiterhin vielgepriesene kapitalistische Marktwirtschaft und die trotz aller Wohlstandsparolen weiterbestehende Vermögensungleichheit wurden dagegen von fast keinem dieser Auto252

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ren in Frage gestellt. Um so nachdrücklicher sollten darum im Rückblick auf diese Jahre jene Außenseiter unter den gesellschaftskritischen Publizisten und Schriftstellern herausgestellt werden, die schon zu diesem Zeitpunkt versuchten, nicht nur mehr Rechte für den finanziell bessergestellten Mittelstand, sondern auch für jene Menschen zu fordern, die nach wie vor zu den Ärmsten der Armen gehörten und weiterhin die als unumgänglich hingestellten „Drecksarbeiten“ zu verrichten hatten.

III Während in der Literatur der DDR die sich für den Aufbau des Sozialismus einsetzenden Arbeiter in Form „positiver Helden“ von Anfang an eine wichtige Rolle spielten, war in der Literatur der BRD bis Anfang der sechziger Jahre von irgendwelchen Werktätigen oder Niedrigarbeitenden fast nirgends die Rede. Wer in diesem Bereich überhaupt auf irgendwelche sozialen Probleme oder gar Konfliktsituationen innerhalb der sogenannten Wirtschaftswunderwelt einging, blieb hierbei stets im Bereich jener kleinbürgerlichen oder mittelständischen Bevölkerungsschichten, deren Vertreter sich, wie der Protagonist in Martin Walsers Roman Ehen in Philippsburg (1957), bemühten, durch eine liebedienerische Haltung ebenfalls jenen „Olymp des Geldes“ zu erklimmen, auf dem die alteingesessenen oder neuarrivierten Unternehmerkreise saßen und sich einer steigenden Machtentfaltung im Bereich der auf die Durchsetzung des Monopolkapitalismus eingeschworenen Politiker und der von ihnen beeinflußten Medienindustrie erfreuten. Und die Mehrheit der deutschen Industriearbeiter, froh darüber, nach den äußerst kargen Nachkriegsjahren wieder mit den nötigen Konsumgütern versorgt zu werden, nahm diese Zustände einfach so hin, ohne dagegen aufzubegehren, das heißt sich zu Streiks zu entschließen oder gar die herrschenden Eigentumsverhältnisse in Frage zu stellen. Indem diese Schichten an der öffentlich propagierten „Freßwelle“ und dann der „Reisewelle“ partizipierten, glaubten sie, das ihren Verhältnissen Entsprechende bereits erreicht zu haben. Es bedurfte daher besonderer Mühen von seiten einiger älterer Sozialdemokraten, überhaupt wieder ein Bewußtsein dafür zu erwecken, daß es früher – zu Zeiten der Weimarer Republik – durchaus eine Literatur gegeben habe, die auf die industrielle Arbeitswelt eingegangen sei, ja daß es damals sogar schreibende Arbeiter gegeben habe, welche aus ihrem Unwillen gegen die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und die sich daraus ergebenden Ausbeutungstaktiken von seiten der Unternehmer kein Hehl gemacht hätten. Eine wichtige Rolle in dieser Hinsicht spielte dabei jener Fritz Hüser, der in den zwanziger Jahren als 253

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junger Werkzeugmacher durch Erich Schulz, den Direktor der Dortmunder Stadtbibliothek, in bibliothekarische Arbeiten eingeführt worden war und im Rahmen dieser Tätigkeit Arbeiterdichter wie Karl Bröger, Kurt Kläber und Heinrich Lersch kennengelernt hatte. Aufgrund dieser Erfahrungen wurde er nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Leitung der Städtischen Volksbücherei in Dortmund betreut. Da Hüser bereits während seiner Lehrzeit damit begonnen hatte, Bücher und Zeitungsartikel zur Arbeiterliteratur zu sammeln, besaß er eine beträchtliche Sammlung derartiger Werke, die er 1958 als Archiv für Arbeiterdichtung und soziale Literatur einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machte. Daß Hüser dabei eher die sozialdemokratisch als kommunistisch orientierte Arbeiterliteratur in den Vordergrund rückte, war aufgrund seiner der SPD verpflichteten Vergangenheit sowie dem 1956 in der BRD ausgesprochenen Verbot der KPD kaum anders zu erwarten. Statt sich jedoch lediglich auf eine umfangreiche Sammeltätigkeit zu beschränken, faßte er dabei – wohl auch in Konkurrenz mit jener 1959 in der DDR-Industriestadt Bitterfeld abgehaltenen Konferenz, auf der die Bildung von Zirkeln schreibender Arbeiter beschlossen wurde – ebenfalls eine Gruppenbildung schreibender Arbeiter sowie sie unterstützender Schriftsteller und Journalisten ins Auge, der eine ähnliche Zielvorstellung zugrunde liegen sollte.9 Auf Hüsers Anregung kam es deshalb am 31. März 1961 in Dortmund zu einer Tagung, an der neben ihm vor allem der Autor Max von der Grün, der Gewerkschafter Walter Köpping sowie eine Reihe sozialdemokratisch orientierter Schriftsteller und Publizisten teilnahm. Anfangs nannte sich diese Gruppe Arbeitskreis für künstlerische Auseinandersetzung mit der industriellen Arbeitswelt, bezeichnete sich jedoch schon kurz darauf schlichtweg als Dortmunder Gruppe 61.10 Ihr schlossen sich in der Folgezeit unter anderem Willy Bartock, Bruno Gluchowski, Wolfgang Körner, Angelika Mechtel, Josef Reding, Günter Wallraff und Peter Paul Zahl an. Ihr bekanntestes Mitglied war in den frühen sechziger Jahren Max von der Grün, der bereits 1959 Hüser zu seinem Mentor erkoren hatte.11 Dieser vermittelte ihm den notwendigen Kontakt zum Paulus-Verlag in Recklinghausen, der 1962 bzw. 1963 Max von der Grüns Bergwerksromane Männer in zwiefacher Nacht sowie Irrlicht und Feuer herausbrachte. Diese beiden Romane, in denen er die miserablen Arbeitsbedingungen der Bergarbeiter in den Zechen des Ruhrgebiets darstellte und es zugleich nicht an kritischen Äußerungen über das forcierte Leistungsdenken sowie die um sich greifende Konsumgier innerhalb der westdeutschen Wirtschaftswunderwelt fehlen ließ, erregten damals durchaus das Interesse breiterer Leserschichten. Derartige Erfolge wurden den anderen Mit254

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gliedern der Dortmunder Gruppe anfangs nicht zuteil, zumal im Laufe der sechziger Jahre eine allmähliche Radikalisierung dieser Gruppe einsetzte, die sich keineswegs als medienwirksam erwies und erst im Zuge der Achtundsechziger Bewegung dieser Vereinigung eine verstärkte Publizität verschaffte. Zum ideologisch entscheidenden Umschwung innerhalb der Dortmunder Gruppe 61 kam es auf einer im November 1968 stattfindenden Tagung in Essen, auf der vor allem Erika Runge, Erasmus Schöfer und Peter Schütt eine stärkere Einbeziehung linksorientierter Arbeiterschriftsteller forderten, was zu einer Spaltung dieser Gruppe führte. Unter der Leitung von Erasmus Schöfer gründeten darauf einige Opponenten gegen den älteren, von ihnen als allzu „gemäßigt“ empfundenen Kurs der von Hüser angeführten Bewegung die Gruppe 70 für Literatur der Arbeitswelt, worauf sich die Dortmunder Gruppe 61 Anfang der siebziger Jahre allmählich auflöste. An ihre Stelle traten im März 1970 jene Werkkreise Literatur der Arbeitswelt, die sich gegen eine Literatur aussprachen, welche die westdeutsche kapitalistische Marktwirtschaft – trotz aller Kritik an manchen Auswüchsen der in der BRD herrschenden Eigentums- und Arbeitsverhältnisse – keineswegs in Frage stelle. Sie wollten Texte schaffen, in denen sie im Gefolge der 1968 gegründeten DKP für eine der Arbeiterklasse dienliche wirtschaftliche Umstrukturierung der Gesamtgesellschaft eintraten. Diesen Kurs befürworteten vor allem Erika Runge, Erasmus Schöfer und Peter Schütt, denen es gelang, beim Frankfurter Fischer Verlag bis 1988 60 Titel herauszubringen, die in den frühen siebziger Jahren – wegen der damals herrschenden „linken Welle“ – zum Teil beachtliche Auflagen erzielten. Wer mit der betont linkskritischen Gesinnung der Gruppengründer, die sich mit sozialistischer Emphase für eine Parteiliteratur im Sinne der DKP einsetzten, nicht übereinstimmte, wurde vor allem in der Anfangsphase dieser Werkkreise als ideologisch nicht akzeptabel abgelehnt. Und dazu gehörte auf jener Arbeitstagung der Werkkreise Literatur der Arbeitswelt am 27. Juni 1970 selbst Günter Wallraff, der ein Jahr zuvor durch seine 13 unerwünschten Reportagen in der westdeutschen Medienwelt ein beachtliches Aufsehen erregt hatte, dem jedoch einige DKP-Mitglieder der verschiedenen Werkkreise wegen seiner Parteilosigkeit eine „verengte Literaturauffassung“ vorwarfen. Doch ihre im Überschwang der linken Gesinnung dieser Jahre vorgebrachte Kritik sollte sich schon kurz darauf als ein Fehlurteil erweisen. Schließlich war es Wallraff, der in der Folgezeit mit seinen Industriereportagen alle Mitglieder der Dortmunder Gruppe 61 und der Werkkreise Literatur der Arbeitswelt sowohl in seiner Schilderung der westdeutschen Arbeitsverhältnisse als auch der verdummenden Taktiken der tonangeben255

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den Boulevardpresse an kritischer Schärfe weit übertreffen sollte, ja auch später, als sich manche seiner ihn damals befehdenden Mitstreiter längst anderen Zielvorstellungen zugewandt hatten, weiterhin unentwegt für die Rechte der Armen und Erniedrigten eintrat.

IV Günter Wallraff wuchs in Köln Mauenheim, einem der ärmlicheren Teile dieser Stadt auf.12 Da sein Vater, geschwächt durch eine übermäßige Arbeitsbelastung in den Kölner Ford-Werken, früh starb, brach er 1958 als Sechzehnjähriger den Schulbesuch ab und begann danach eine Buchhändlerlehre, die er 1962 abschloß. Weil ihm seine früh geschriebenen Gedichte wegen ihrer selbstverliebten Ichbezogenheit während dieser Jahre, als er erstmals mit einer sozialkritischen Literatur in Berührung kam, immer belangloser erschienen, er aber dennoch Schriftsteller werden wollte, entschied er sich, in Zukunft eine wesentlich härtere Tonart anzuschlagen. Das belegt bereits jenes Tagebuch, das er 1963 während seiner Zeit als Kriegsdienstverweigerer schrieb und das später – auf Anregung von Heinrich Böll – sogar im Druck erschien.13 Während dieser Zeit, behauptete er mehrere Jahre danach, „wurde ich auf eine Wirklichkeit gestoßen, die ich einfach nicht für möglich gehalten hatte, und von da ab empfand ich eigentlich alles, was ich vorher gemacht hatte, als nebulös abwegig, wirklichkeitsfremd“.14 Nach seiner Entlassung aus dem ihn abstoßenden Wehrdienst trampte Wallraff erst einmal ein halbes Jahr durch Skandinavien, wo er vor allem mit Obdachlosen und anderen Außenseitern in Berührung kam. In die ehemalige BRD zurückgekehrt, nahm er sich vor, sich auch dort genauere Einblicke in die Welt all jener nicht vom Rad der Fortuna begünstigten Menschen zu verschaffen. Aus diesem Grund verdingte er sich von 1963 bis 1965 in fünf verschiedenen westdeutschen Großbetrieben als Gelegenheitsarbeiter, zuerst bei den Ford-Werken in Köln, dann auf einer Werft von Blohm und Voss in Hamburg, bei Siemens in München, bei den Benteler-Werken in Paderborn und schließlich bei einem zum Thyssen-Konzern gehörenden Hüttenwerk in Duisburg. Was er dort erlebte, waren folgende Zustände.15 Um eine ständige Beschleunigung der Arbeitsprozesse herbeizuführen, herrschte in diesen Betrieben fast überall ein genau ausgetüfteltes Akkordsystem, das jeden der dort Beschäftigten zu Höchstleistungen anspornte. An den inzwischen eingeführten Fließbändern arbeiteten meist Ausländer und Frauen, denen man wegen ihrer mangelnden Ausbildung nur die gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlöhne zu zahlen brauchte. Fast jeder hatte im Rahmen der übergeordneten Produktionsvorgänge nur eine 256

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sich ständig wiederholende Teilarbeit auszuführen, was sich in seiner abstumpfenden Monotonie auf die Psyche der Arbeitenden geradezu lähmend auswirkte. Viele von ihnen konnten daher nach den jeweiligen Tag- oder Nachtschichten lediglich pennen oder sich mit der Lektüre der BILD-Zeitung, mit Groschenheften oder Fernsehkrimis zerstreuen. Die meisten dieser Menschen lebten nur noch, um zu malochen, während ihnen für ein sinnvolles Privatleben fast keine Zeit blieb. Die unterste Schicht dieser Arbeiter bildeten meist die zu den Drecksarbeiten angeheuerten Ausländer, vor allem Griechen, Italiener oder Türken, die häufig in sogenannten Ledigenheimen untergebracht waren, wo sie sich ihren Schlafraum mit zwei anderen Arbeitern teilen mußten und ihnen als einzige Abwechslung nur der Alkohol blieb. Wem diese Fabriken gehörten, nahmen viele solcher Arbeiter kaum wahr. Sie wurden lediglich von irgendwelchen Vorarbeitern oder Meistern herumkommandiert oder zu ständig schneller ablaufenden Produktionsvorgängen angetrieben. Von dem Eigentümer eines dieser Werke, der irgendwo in den südlichen Ländern zu wohnen schien, hörten sie nur, daß er sein Werk von Zeit zu Zeit in einem privaten Hubschrauber aus der Vogelperspektive zu betrachten geruhte und alles Weitere seinen Managern überließ. Doch aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, nahmen die meisten Arbeiter diese soziale Ungleichheit einfach so hin, wie sie war, ohne dagegen zu rebellieren. Viele von ihnen waren durch die körperliche Schwerstarbeit einfach zu „abgewrackt und zu müde“, wie Wallraff schrieb,16 um sich zu einer derartigen Haltung aufzuraffen. Außerdem hatten sie Angst, als „Nörgler und Querulanten“ in „Schwierigkeiten“ zu geraten.17 Die ersten dieser Reportagen publizierte Wallraff in einem Blatt der IG-Metall sowie im Almanach der Gruppe 61. Darauf erschienen sie 1966 unter dem Titel Wir brauchen dich. Als Arbeiter in deutschen Industriebetrieben bei Kiepenheuer & Witsch in Köln als Buch und machten ihren Autor nicht nur unter Intellektuellen, sondern auch unter Arbeitern bekannt. Die Reaktion auf diese Reportagen von seiten der staatlichen Behörden und der betreffenden Firmen war, wie erwartet, alles andere als positiv. So wurde Wallraff von der politischen Polizei in Köln vorgeworfen, „landesverräterische Beziehungen“ zur UdSSR, DDR und ČSSR zu unterhalten, da dort einige seiner Reportagen, allerdings ohne sein Vorwissen, nachgedruckt worden seien.18 Noch empörter reagierten selbstverständlich die betroffenen Unternehmerkreise in Industrieblättern wie Wirtschaft und Erziehung oder Immer auf der Brücke, die ihn bezichtigten, mit seinen Reportagen eine „sozialpolitische Hetze“ angezettelt zu haben, die für die westdeutsche Wirtschaft äußerst schädlich sei.19 Ja, von einigen Firmen wurden gegen 257

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Wallraff sogar „einstweilige Verfügungen, Schadensersatzforderungen und Prozesse angestrengt“.20 Doch davon ließ sich Wallraff nicht beirren, zumal die meisten dieser gegen ihn in Gang gesetzten Aktionen wegen nicht nachweisbarer Unwahrheiten im Sande verliefen. Ja, er entschloß sich – neben seiner Tätigkeit für Zeitschriften wie konkret und pardon – umgehend, weitere „Erkundungen“ dieser Art anzustellen. Das belegt seine im Jahr 1968 erschienene Reportage über die Rundstahlkettenwerke im Raum Hagen, Iserlohn und Schwerte, die dem Unternehmer August Thiele gehörten und in denen 1.300 Beschäftigte, darunter 300 Griechen und Italiener, arbeiteten. Auch in ihr stellte Wallraff die gleichen erniedrigenden Arbeitsbedingungen wie in den zuvor beschriebenen Fabriken bloß, nämlich aufreibende Akkordarbeit, Niedriglöhne für ausländische Arbeiter und Frauen, kümmerliche Wohnverhältnisse, überlange Schichten sowie eine gewerkschaftsfeindliche Haltung von seiten des Unternehmers, mit der dieser den von ihm angestrebten „Sozialfrieden“ aufrechtzuerhalten suchte. Noch mehr Aufsehen als mit seinen frühen Industriereportagen erregte Wallraff mit seinen 1969 publizierten 13 unerwünschten Reportagen. Auch sie beruhten fast alle auf persönlich durchgeführten Aktionen, wobei er sich mehrfach einer geschickt angenommenen Rolle bediente, indem er sich verkleidete und sich als ein harmloser Unbeteiligter ausgab, um nicht von vornherein ein argwöhnisches Mißtrauen zu erwecken. Allerdings geht es in ihnen eher um Themen, die mit der damaligen APO-Bewegung zusammenhängen, wie etwa den Studentenprotesten in Westberlin, der ausgebliebenen Vergangenheitsbewältigung, dem neu aufbrechenden Antisemitismus sowie dem mörderischen, mit Napalmbomben durchgeführten Vietnam-Krieg als um Probleme der Arbeiterklasse. Jedoch schloß Wallraff auch hier die Sorgen der durch die 1966/67 einsetzende Wirtschaftskrise Betroffenen, vor allem der Arbeitslosen, sowie die Kritik an dem von den damaligen Großindustriellen verlangten Werkschutz gegen eventuelle „Chaoten“, keineswegs aus. Noch nachdrücklicher engagierte sich Wallraff für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Lohnverhältnisse für die westdeutsche Arbeiterschaft in jenen Reportagen, die er zwischen 1970 und 1972 publizierte. Die schärfste davon war der Melitta-Report, in dem es sich um eine Mindener Papierfabrik handelt, die damals mit ihren 8.500 Beschäftigten zu den 100 größten Firmenunternehmen der Bundesrepublik gehörte. Auch hier ließ sich Wallraff für kurze Zeit als Hilfsarbeiter anstellen, um sich so genau wie möglich mit den Nöten und Sorgen der dort Arbeitenden vertraut zu machen. Und wiederum stieß er 258

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auf die gleichen Mißstände, ob nun monotone Akkordarbeit, mangelnde Krankenversorgung, kaum ausreichende Mindestlöhne, die in solchen Betrieben übliche Ausländerfeindlichkeit sowie ein geradezu totalitaristisch wirkendes System von Arbeitsbedingungen, das der ehemalige SS-Obersturmbannführer Horst Bentz, der Besitzer dieses Unternehmens, für die von ihm angestrebten Produktionserweiterungen als unumgänglich erachtete. Kaum minder kritisch fiel Wallraffs Bericht über das Werner Battenberg gehörende SpritzgußmaschinenWerk in Meinerzhagen aus, dessen Eigentümer, der zugleich Großaktionär der Münchener Wagonbau-AG war, acht Privatflugzeuge besaß und seine Arbeiter ebenso kujonierte wie der besagte Horst Bentz. Aufgrund derartiger Reportagen schlug ein ähnlich gesinnter Publizist wie Bernt Engelmann dem inzwischen bekannt gewordenen Wallraff vor, mit ihm ein Buch unter dem Titel Ihr da oben – wir da unten zu schreiben, das 1973 wiederum bei Kiepenheuer & Witsch erschien. Während Engelmann dazu unter anderem die Kapitel über den Krupp-Herrn Arndt von Bohlen und Halbach, den bayrischen Supermillionär Johannes von Thurn und Taxis, den Besitzer der Persil-Werke Konrad Henkel, den reichen Playboy Gunter Sachs, den Konzernherrn Friedrich Flick, den Konsumkönig Helmut Horten, den Puddingfabrikanten Rudolf August Oetker und den Versicherungsgiganten Robert Gerling beisteuerte, wandte Wallraff sein Interesse, wie erwartet, vornehmlich den ihnen Untergebenen zu. Und zwar zog er seine Erkundungen wiederum dadurch ein, indem er sich unter falschem Namen um eine Stellung in ihren Fabriken oder Verwaltungsbüros bewarb und zugleich längere Gespräche mit den dort Beschäftigten führte, die er in der Druckfassung so genau wie möglich wiederzugeben versuchte. Wohl das größte Aufsehen erregte damals Wallraffs Reportage über den Gerling-Konzern, für den er eine Zeit lang als Portier, Chauffeur und Botengänger arbeitete. Was er dabei herausstellte, war vor allem der eklatante Gegensatz zwischen dem pompösen Lebensstil seines Eigentümers und den Elendsquartieren, in dem seine ausländischen Arbeiter hausen mußten. Um eine „anhaltende Steigerung der Umsätze“ zu gewährleisten, habe sich dieser „Herr“, wie Wallraff schrieb, gegen irgendwelche gewerkschaftlichen Einflußnahmen zur Wehr gesetzt und in aller Entschiedenheit auf einem „prozentual niedrigen Lohnkostenzuwachs“ bestanden.21 Und all diese Maßnahmen habe er stets mit seinem Leitspruch „Fortes Fortuna Adjuvat!“ (Dem Starken steht das Glück bei!) gerechtfertigt.22 Wie seine 13 unerwünschten Reportagen erwies sich auch dieses Buch aufgrund der „linken Welle“ der frühen siebziger Jahre geradezu als ein Bestseller, der von 259

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der westdeutschen Presse – je nach ideologischer Einstellung – entweder als unnötige Provokation oder als längst überfällige Entlarvung beurteilt wurde. Die gleiche zweigeteilte Position bezogen viele Medien den ebenso unorthodoxen Reportagen und politischen Statements gegenüber, die Wallraff in der Folgezeit über die von der SPD verfügten Radikalenerlasse, die destabilisierenden Taktiken der CIA, die Militärdiktatur in Griechenland, die innenpolitische Situation in Nicaragua, die forcierte Hochrüstung, die volksverdummende Wirkung bestimmter Medien, die heraufziehenden ökologischen Gefahren sowie die Ausbeutung der vielen Gastarbeiter in der BRD veröffentlichte. Wohl das meiste Aufsehen innerhalb dieser Publikationen erregte in diesem Zeitraum sein 1977 erschienenes Buch über die BILD-Zeitung, in deren Geschäftsräumen er eine Zeitlang unter dem Namen Hans Esser tätig war, um sich einen möglichst authentischen Eindruck über die dort herrschenden Methoden einer allein auf Profit und bewußte Unterstützung reaktionärer Gesinnungen bedachten Geschäftsführung zu verschaffen. Doch als sein ganz großer „Knüller“, wie es damals hieß, erwies sich erst sein 1985 herauskommendes Buch Ganz unten, in dem Wallraff darüber Zeugnis ablegte, wie er als Pseudotürke unter dem Name Ali zwei Jahre unter ausländischen Gastarbeitern gelebt habe, ohne daß irgendjemandem seine wahre Identität aufgefallen sei.23 Als besonders provokant stellte er dabei das Schicksal jener 500.000 ausländischen Leiharbeiter heraus, die unter menschenunwürdigen Verhältnissen, ja zum Teil unter Lebensgefahr die niedrigsten Drecksarbeiten ausführen müßten. Nicht nur durch Wallraffs schauspielerische Leistung, sondern auch durch die schon damals vieldiskutierte „Türkenfrage“ erwies sich dieses Buch, das den letzten bedeutsamen Höhepunkt seiner seit den frühen sechziger Jahren geschriebenen Industriereportagen bildet, als Wallraffs erfolgreichste Publikation schlechthin. Von ihm verkauften sich allein in der BRD fast drei Millionen Exemplare. Zugleich erschien es in einer Fülle von Übersetzungen, die Wallraff weltbekannt machten. Daran konnten auch die von einigen Industriekonzernen, wie Thyssen, sowie die von den am Leihhandel mit ausländischen Arbeitern profitierenden Firmen gegen ihn angestrengten Prozesse nicht viel ändern, bei denen Wallraff aufgrund seiner wahrheitsgetreuen Berichterstattungen stets freigesprochen wurde, ja welche die zuständigen Behörden veranlaßten, nun von sich aus Maßnahmen zu ergreifen, um gegen einen weiteren „Menschenhandel“ dieser Art gerichtlich vorzugehen.24 Und das erfüllte Wallraff mit besonderer Genugtuung, da er von Anfang an darauf bedacht gewesen war, mit seinen Publikationen eine die Arbeitswelt verändernde Wirkung zu erzielen. 260

Günter Wallraffs Industriereportagen (1963–1985)

V Wie soll man ein solches Vorgehen, das fast ausschließlich auf einzelgängerischen Aktionen beruhte, ideologisch beurteilen? War es richtig, könnte man sich fragen, dabei von vornherein auf die Mitwirkung anderer zu verzichten, wie ihm vor allem von den DKP-Mitgliedern der Werkkreise Literatur der Arbeitswelt vorgeworfen wurde? Bemühte sich Wallraff – trotz seines gesellschaftskritischen Engagements – mit seinen Reportagen letztlich nur darum, als vollgültiger „Autor“ angesehen zu werden, wie ihm manche Vertreter der Literatenzunft vorgehalten haben? War also all das, mit dem er Aufsehen zu erregen versuchte, nur eine linkskritische Camouflage, um sich als ein besonders interessanter Außenseiter aufzuspielen, dem es – genau betrachtet – nur um das eigene Ich, aber nicht die Notlage der unter mißlichen Umständen lebenden Vertreter der Arbeiterklasse gegangen sei? Wie bekannt, hat man Wallraff mit derartigen Fragen oder Vorwürfen, die manchmal sogar in Personalinjurien ausarteten, geradezu lebenslang konfrontiert. Und er zögerte keineswegs, darauf in aller Offenheit zu reagieren. Vor allem der Frage, warum er bei seinen Erkundungen fast immer einzelgängerisch vorgegangen sei, ist er nie aus dem Wege gegangen und hat dabei in aller Eindeutigkeit geantwortet: „Ich war nie Mitglied einer Partei“, sondern „habe mich stets als eine Art Korrespondent aller Menschen gesehen, die guten Willens sind“.25 Damit wollte er sich eher zu einem fast religiös wirkenden Bruderschaftsdenken als zu irgendwelchen, von ihm als sektiererisch abgelehnten Gruppenstrategien bekennen. Aus diesem Grund hat er nicht nur die DKP, sondern auch das „kleinbürgerlich-romantische Revoluzzertum“ der RAF entschieden abgelehnt.26 Im Gegensatz zu solchen Gruppen und der von ihnen vertretenen Gesinnungen empfand er sich zeitlebens als ein Radikaldemokrat, dessen ideologisches Ziel nicht die „Überwindung“ des marktwirtschaftlichen Systems, sondern die „Umsetzung basisdemokratischer Vorstellungen“ innerhalb dieses Systems gewesen sei.27 Die in seinen Industriereportagen beschriebene Miserabilität der dort herrschenden Zustände und ihrer Auswirkung auf die Psyche der Arbeiter war daher nie systemkritisch gemeint, indem sie auf eine Änderung der bestehenden Eigentumsverhältnisse drängte, sondern blieb letztlich reformistisch. Was Wallraff in ihnen befürwortete, war nicht eine Umstrukturierung der bestehenden Verhältnisse ins Sozialistische, sondern die Forderung, die in allen sogenannten Demokratien herrschende Marktwirtschaft, welche „total auf Konsum und Egoismus aufgebaut“ sei,28 endlich soweit umzugestalten, daß in ihr alle Menschen, auch die bisher von den Oberen rücksichtslos Ausgebeuteten, endlich ein human 261

Ihr da oben – wir da unten

verträgliches Leben führen könnten. Damit wich er zwar trotz aller Kritik an den von ihm geschilderten Verhältnissen die bei der Veränderung derartiger Zustände nicht zu umgehende Eigentumsfrage aus, blieb aber – im Gegensatz zu vielen ehemaligen Achtundsechzigern sowie sich sozialistisch gebenden Revoluzzern bürgerlicher Herkunft – einer der radikalsten Vertreter jener auf soziale Gleichheit pochenden Autoren, welche schon damals die herrschende Zweidrittelgesellschaft nicht mehr als unumgänglich akzeptierten, sondern sich für eine Einebnung der gesellschaftlichen Unterschiede einsetzten. Worum sich also Wallraff Zeit seines Lebens bemühte, war der Versuch, nicht in jenem „Ghettobereich“ zu bleiben, wo man der Literatur wegen ihrer ungesellschaftlichen Exklusivität und damit politischen Unwirksamkeit eine weitgehende „Narrenfreiheit“ gewähre, wie er am 12. Dezember 1970 in einem Interview erklärte,29 sondern sich zum „Sprecher jener Analphabeten“ zu machen,30 von deren Sorgen und Nöten in den gängigen westdeutschen Romanen, Erzählungen und Dramen fast nirgends die Rede sei. Er wollte keine von den einflußreichen Feuilletonchefs geschätzten „Dichtungen“ produzieren, sondern in seinen Reportagen vor allem jene „soziale Wahrheit“ bloßlegen, daß es selbst in der angeblich wohlflorierenden Wirtschaftswunderwelt der BRD weiterhin Reiche und Arme gebe, ja daß dieser Gegensatz im Laufe der Jahre immer größer werde. Es beirrte ihn daher keineswegs, daß ein Vertreter der sogenannten anspruchsvollen, das heißt alleingültigen Literatur, wie Marcel Reich-Ranicki, am 11. Mai 1973 im Hinblick auf die damals entstehende Reportageliteratur in der Zeit erklärte: „Wer nicht erzählen kann, erzählt vom Arbeiter. Und wer vollkommen unfähig ist, präpariert Collagen und Montagen.“ Schließlich verstand sich Wallraff nicht als wortschöpferischer Dichter, sondern lediglich als faktengläubiger Journalist. Allerdings nahm er diese Berufsbezeichnung sehr ernst. Schließlich wollte er nicht mit jenen unfreien Journalisten verwechselt werden, die innerhalb des systemimmanenten News Managements allen Fragen der herrschenden „Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse“ im Sinne der BILD-Zeitung und ähnlicher Gazetten aus dem Wege gingen31 oder nicht zögerten, sich als treue Diener ihrer Herren in die „Hofjournaille“ bestimmter Politiker einzureihen.32 Im Gegensatz zu solchen Public Relations-Leuten des marktwirtschaftlichen Systems der sozialen Ungleichheit, aber auch jenen Literaten, die sich in ihren Werken ausschließlich an die zwar gebildeten, aber selbstverliebten Leserschichten wandten, faßte er stets jene Bereiche der „unterschlagenen Wirklichkeit“ ins Auge, in denen der Dauerzustand der „ursprünglichen Akkumulation“ zu einer fortschreitenden 262

Günter Wallraffs Industriereportagen (1963–1985)

„Enteignung des Gemeinbesitzes“ geführt habe, wie es bei Oskar Negt einmal heißt.33 Denn dadurch seien Verhältnisse entstanden, in denen es der Medienindustrie gelungen sei, alle „emanzipativen Interessen und Bedürfnisse im Sinne der Herrschaftsbildung umzuorganisieren“, um so die breiten Massen der Bevölkerung „vom Bewußtsein ihrer Entfremdung“ zu entfremden.34 Ja, Hans-Albert Walter schrieb im Entscheidungsjahr 1969, kurz nachdem die 13 unerwünschten Reportagen erschienen waren, sogar noch unverblümter, daß Wallraff – ohne „Marxist“ zu sein – vor allem jene „handfesten ökonomischen Interessen“, die „der Aufrechterhaltung privilegierter Herrschaft, der Verhinderung von Chancengleichheit und Mündigkeit, der Ausbeutung, der Diskriminierung politischer Minderheiten und des personellen Übergewichts repressiver Machtstrukturen“ dienlich seien, so unbestechlich wie nur möglich attackiere.35 Und da sich an diesen Zuständen nichts änderte, blieb Wallraff auch in den nächsten Jahrzehnten weiterhin bei seinem auf eine Liberalisierung der bestehenden Arbeitsverhältnisse hindrängenden Enthüllungsjournalismus.

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Kapitalistische Zukunftsvisionen Mathias Schebens Konzern 2003 (1977)

I Nach dem tiefgreifenden Schock des Zweiten Weltkriegs und der Möglichkeit weiterer Atombombenabwürfe herrschten in den USA und der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland im Bereich der literarischen Zukunftsvisionen weitgehend dystopische Züge vor.1 Erst als in den fünfziger und frühen sechziger Jahren in beiden Ländern ein ökonomischer Boom ersten Ranges einsetzte und es zugleich zu bisher ungeahnten Erfolgen in der Weltraumfahrt kam, die in einer spektakulären Mondlandung gipfelten, erhielt das ältere kapitalistischtechnologische Denken wieder einen beachtlichen Auftrieb. Ideologisch und literarisch äußerte sich das in einer neuen Zukunftsorientiertheit, welche die bisherigen Weltuntergangsstimmungen zeitweilig in den Hintergrund drängte. An ihre Stelle traten im Dichten und Denken jener Jahre zusehends technokratische oder futurologische Utopien, die sich allerdings bei genauerem Zusehen meist als ausgesprochene Manager-Utopien erwiesen, in denen ein „Hurratechnizismus“ herrschte,2 der zwar wieder positive Zukunftsbilder entwickelte, welchen jedoch lediglich der technologische Fortschritt, ein total enthistorisiertes Weltbild und eine kommerzielle Befriedigung der allmählich immer größer werdenden Konsumbedürfnisse zugrunde lagen. In den USA lassen sich dabei in ideologischer Hinsicht zwei Haupttrends beobachten. Eine Gruppe stützte sich weiterhin auf die traditionelle These des „Free Enterprise“, die sich alles Heil von einer sich selbst regulierenden Wirtschaft versprach und daher jede altruistische Planung sofort als „Sozialismus“ verdächtigte. Die Hauptexponentin dieses Kurses war eine Zeit lang Ayn Rand, die sich in ihren Büchern The Virtue of Selfishness (1964) und Capitalism. The Unknown Ideal (1966) gegen jede staatliche Bevormundungspolitik wandte und – im Zeichen einer „Free Society“ – ein hemmungsloses Manchestertum befürwortete.3 Doch ein solcher Liberalismus wurde schon damals von vielen als altmodisch, ja anachronistisch empfunden. Wofür sich diese Kreise einsetzten, war im Gegenteil eine wesentlich engere Zusammenarbeit von Regierung und Industrie, um 264

Mathias Schebens Konzern 2003 (1977)

so eine Gesamtplanung aller gesellschaftlichen Vorgänge zu ermöglichen. Und zwar gebrauchten sie dafür meist den Begriff „Futurologie“, um so die „Wissenschaftlichkeit“ solcher Planungen zu betonen. Ihre ersten Impulse empfing diese Richtung von der sich sprunghaft entwickelnden Computer-Technik, die eine wesentlich genauere Datenverarbeitung und damit Prognostik erlaubte denn je zuvor. Doch auch eine gewisse Konkurrenz mit den sowjetischen Fünfjahresplänen, denen zum Teil ebenfalls „futurologische“ Planungsgesichtspunkte zugrunde lagen,4 darf nicht übersehen werden. Demzufolge entstanden seit Mitte der sechziger Jahre, erst in den USA und dann in den westeuropäischen Ländern, eine Reihe von Instituten, die sich mit den nötigen Statistiken versahen und – trotz einiger Unsicherheitsfaktoren – die wirtschaftliche Zukunft als ein weitgehend errechenbares Phänomen hinstellten. Dazu gehörten vor allem folgende Institute und Kommissionen: die RAND Corporation und die System Development Corporation (Santa Monica), TEMPO (Santa Barbara), das Hudson Institute (New York), die Commission on the Year 2000 (Boston), Mankind 2000 und das Committee on the Next Thirty Years (London), die Association Internationale des Futuribles und die Groupe 1985 (Paris), die Werkgroep 2000 (Amsterdam), das PRO-GNOS-Institut (Basel), die Gesellschaft für Zukunftsfragen und das Industrie-Institut zur Erforschung technologischer Entwicklungslinien (Hamburg), das Zentrum für Zukunftsforschung (Westberlin) und das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen in der wissenschaftlich-technischen Welt (Starnberg). Der Grundtenor fast aller Berichte, welche diese Institute und Kommissionen in den ersten Jahren ihrer Existenz lieferten, war ausgesprochen optimistisch. Nach ihren Prognosen sollten bis zum Jahre 2000 folgende Fortschritte erzielt worden sein: absolut perfekte Wettervorhersagen, serienmäßig hergestellte Kunstherzen, Fernsehtelephone, kontrollierte Kernfusion, Nahrungsstoffe aus den Meeren, synthetisch erzeugtes Protein, Retortenbabys, biochemische Fabriken zur Lebensmittelerzeugung, Immunisierung gegen sämtliche Bakterien- und Virenkrankheiten, Luftkissenfahrzeuge, Roboterdienstmädchen, eine durchschnittliche Arbeitszeit von fünfzehn Stunden und eine Lebensverlängerung um mindestens dreißig bis vierzig Jahre. Als Beweis für diese Vorhersagen berief man sich hierbei meist auf die Tatsache, daß in den letzten zwanzig Jahren mehr erfunden worden sei als in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor und sich dieser Prozeß in Zukunft zweifellos verstärkt fortsetzen werde. In den Augen dieser Futurologen sollte der Mensch im Jahre 2000, wenn nicht schon früher, ein Mensch mit besserer Bildung sein, der in einer vergnügungsorientierten 265

Kapitalistische Zukunftsvisionen

Freizeitgesellschaft lebt, neben Sport und Fernsehen eine Fülle neuer Hobbies entwickelt, ständig visuell-stimulierende Kontakte hat, immer höhere Gehälter bezieht – und somit durch die Segnungen des „Bigger and Better“ immer glücklicher wird. Neben den Schriften von Marshall McLuhan waren es vor allem folgende Bücher, die diesem technologischen Optimismus ständig neue Nahrung boten: The Year 2000. A Framework for Speculation on the Next Thirty-Three Years (1967) von Herman Kahn und Anthony J. Wiener, der von Daniel Bell herausgegebene Sammelband Toward the Year 2000 (1967), Utopia or Oblivion. The Prospects for Humanity (1968) von R. Buckminster Fuller, The Coming of Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting (1973) von Daniel Bell sowie der Kongreßbericht The Future of the Corporation (1974), den Herman Kahn edierte. Fast alle diese Bücher gipfeln in der These, daß in Zukunft nicht mehr die Gütererzeugungsindustrie, sondern die Dienstleistungs- und Wissensindustrie im Vordergrund stehen wird. Dadurch werde es zu einer immer größeren Planung und Rationalisierung kommen, was nur sogenannte „Think Tanks“ leisten könnten. Das Top-Management der großen Konzerne, die neue „Leadership Group“,5 werde daher in Zukunft nicht mehr vornehmlich aus Geschäftsleuten, sondern weitgehend aus Technikern, Naturwissenschaftlern und Futurologen bestehen, von denen man eine bestmögliche Lösung aller noch anstehenden gesellschaftlichen und ökonomischen Probleme erwarten dürfe. Gegenüber dieser Führungsschicht des bevorstehenden „technotronischen“ Zeitalters würden Robes­ pierre und Lenin, wie sich Zbigniew K. Brzezinski Ende der sechziger Jahre ausdrückte, einmal wie „milde Reformer“ wirken.6 Überhaupt waren diese Gruppen der Überzeugung, daß die Industrialisierung der Welt erst in den Anfängen stecke und im Jahre 2000, wenn die großen Konzerne voll entfaltet seien, alles „größer und besser“ werde.7 Die entscheidende Voraussetzung dafür sei allerdings, daß zwischen 1980 und 2000 die Herrschaft an die „Professional and Technological Class“ übergehe.8 Während Bell im Hinblick auf solche Zukunftsplanungen vor allem zur optimistischen Vision einer post-industriellen „Service Society“ neigte, ließen es R. Buckminster Fuller und Herman Kahn – bei aller Zukunftsgläubigkeit – dabei nicht an Warnungen vor der Möglichkeit eines Atomkriegs oder einer Zunahme von egoistischer Gewalttätigkeit im Rahmen der kommenden Freizeitgesellschaft fehlen. Viele dieser Thesen wurden kurze Zeit später auch in der BRD propagiert. Um gegenüber den Supermächten nicht „in Rückstand zu geraten“, wie Werner Holste schrieb,9 versuchte man auch hier, eine wissenschaftlich fundierte Futu266

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rologie zu begründen. Statt sich weiterhin mit einem „kurzsichtigen Realismus“ oder utopischen „Hirngespinsten“ zu begnügen, wie es hieß, wurden plötzlich auch in diesem Land eine Reihe futurologischer Planungsstrategien für das Wirtschaftsgefüge der Zukunft entwickelt. So trat etwa Rainer Waterkamp 1969 in seinem Zukunftsreport 2000 energisch gegen die „traditionalistische Planungsfeindlichkeit“ auf10 und bekannte sich zu einer „Zukunftsforschung“ à la Daniel Bell, Nigel Calder, Olaf Helmer und Herman Kahn,11 die sich vor allem die modernen Computermöglichkeiten zu Nutze machen solle. Im gleichen Sinne schrieb Ossip K. Flechtheim, einer der Begründer der westdeutschen Futurologie, in diesen Jahren: „Ideologie und Utopie werden aufgehoben durch die kritisch-rationale Fortbildung der Utopie zur konkreten und realen Utopie, das heißt zur Futurologie.“12 Daher wurde der westdeutsche Buchmarkt um 1970 geradezu mit Büchern überschüttet, auf denen folgende Titel prangten: Der Griff nach der Zukunft, Programm 2000, Modelle für eine neue Welt, Wege ins neue Jahrtausend, Ziele der Zukunftsforschung, Nordrhein-Westfalen auf dem Weg in das Jahr 2000, Planung der Zukunft, Die organisierte Forschung, Geplante Zukunft, Rückblick auf die Zukunft, Der Weg ins Jahr 2000, Politik für das Jahr 2000, Interview mit der Zukunft, Ihr werdet es erleben. Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahre 2000, Die große Transformation oder Fünfzig Jahre Zukunft. Schon bei einem höchst oberflächlichen Durchblättern dieser Werke stößt man allenthalben auf die gleichen Prognosen wie in ihren nordamerikanischen Vorbildern. Auch hier liest man von Retortenbabys, synthetisch erzeugtem Protein, Luftkissenautos, planetarischen Reisen sowie vollautomatisierten Fabriken, die durch die Nutzung biologischer Mikroorganismen Zehntausende von Menschen mit den nötigen Kalorien versorgen könnten.13 Ja, neben rein technologischen Vorhersagen wurde sogar über die fortschreitende Intellektualisierung des „Menschen“ spekuliert, der bisher nur vier Prozent seiner Gehirnzellen aktiv nutze. Nach langen Jahren eines weitgehenden „Ideologieverzichts“ wurden in vielen dieser Bücher plötzlich wieder höchst anspruchsvolle Ideologeme vertreten, die sich nicht nur auf Bell, Kahn oder McLuhan, sondern auch auf Ernst Bloch und Pierre Teilhard de Chardin beriefen, um ihre futurologischen Konzepte mit einer gewissen philosophischen Würde zu versehen. Ihre Autoren waren weitgehend angesehene Volkswirtschaftler, Soziologen, Naturwissenschaftler oder Politiker, von denen allerdings einige nach 1968 – bewirkt durch die APO und die Studentenbewegung – unter den Einfluß antikapitalistischer Linkstendenzen gerieten, wodurch sich neben einer deutlich systemfördernden Futurologie auch eine 267

Kapitalistische Zukunftsvisionen

relativ systemkritische Futurologie entwickelte. Außerdem gab es schon in diesen Jahren Stimmen, welche die Futurologie überhaupt verwarfen. So stellte etwa Claus Koch 1968 in einem Kursbuch-Aufsatz die Futurologie als eine schamlose Apologetik des kapitalistischen Technizismus hin, hinter der sich lediglich eine „Gewaltstrategie“ zur „Krisenverhinderung“ verberge.14 Mit noch schärferem Geschütz fuhr Alfred Bönisch auf, der 1971 die Futurologie als eine bewußt in Szene gesetzte Ideologie des „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ denunzierte,15 die sich bemühe, zutiefst Labiles in den Zustand der Stabilität zu überführen, indem sie sich über die Eigentumsfrage und damit den Grundwiderspruch unserer Epoche einfach hinwegsetze. Durch illusionäre „Wohlstandsprognosen“ versuche man in diesem Bereich die Illusion zu erwecken, daß sich eine sozial gerechte Gesellschaftsordnung auch ohne revolutionäre Umgestaltung erreichen lasse.16 Die Futurologie sei daher letztlich eine bürgerliche Pseudowissenschaft, die das „Zusammenwirken von Monopolunternehmen und Regierungsorganen verbessern“ wolle, ohne dabei die „Entscheidungsfreiheit der Konzerne in Frage zu stellen“.17 Durch diesen Meinungsstreit spaltete sich die westdeutsche Futurologie schnell in zwei Lager: eine „Establishmentfuturologie“,18 der sich alle systemintegrierten oder systemfördernden Wissenschaftler anschlossen, und eine reformistisch gesinnte Futurologie mit „demokratischer Gesinnung“,19 die eine Ideologie des „dritten Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus“ zu vertreten suchte.20 Ossip K. Flechtheim sprach im Hinblick auf diese Teilung von einem „konservativ-technokratischen“ und einem „kritisch-humanistischen“ Lager.21 Er selbst schloß sich dabei der letzteren Richtung an, indem er sich einerseits gegen den „dogmatischen Materialismus des Ostens“, andererseits gegen den „positivistischen Szientifismus des Westens“ wandte und sich das alleinige Heil der Zukunft von einer „Weltföderation für Frieden, Wohlstand und Kreativität“ erhoffte.22 In einem ähnlichen Sinne äußerte sich Robert Jungk, der wiederholt eine „Mobilisierung sozialer Phantasie“ gegen den platten Pragmatismus der meisten Unternehmer und Politiker forderte.23 Doch sowohl die konservativen als auch die reformbetonten Futurologen kamen nach 1970 schnell ins Gedränge. Während es bis dahin hauptsächlich die linke Kritik war, mit der sie sich auseinandersetzen mußten, wurden sie plötzlich mit einem schockartig auftretenden ökologischen Krisenbewußtsein konfrontiert, das viele technologische Wunschphantasien in Frage stellte. Während man bis dahin – aufgrund der relativ stabilen ökonomischen Situation – einfach ins Blaue hinein geplant hatte, mußte sich auch die Futurologie in der 268

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Folgezeit mit höchst konkreten Phänomenen wie Bevölkerungsexplosion, Rohstoffmangel, Energiekrise, Atomtodgefahr, Arbeitslosigkeit und galoppierender Inflation beschäftigen, was ihren bisherigen Elan merklich dämpfte und sogar in diesen Kreisen eine Stimmung der Lethargie, wenn nicht des nahenden Untergangs auslöste. Wohl den nachhaltigsten Schock übte damals jener Bericht über Die Grenzen des Wachstums aus, den ein unter Dennis Meadows am Massachusetts Institute for Technology arbeitendes Team für den „Club of Rome“ angefertigt hatte und der 1972 publiziert wurde. Hier erfuhren viele zum ersten Mal jene „harten Fakten“ über die schrumpfenden Rohstoffe und die gleichzeitige Bevölkerungszunahme, die seitdem ein Teil des gesellschaftlichen Allgemeinbewußtseins geworden sind. Die systemverhafteten Industriestrategen versuchten zwar diesen Katastrophenstimmungen anfänglich energisch entgegenzutreten, was etwa ein Buch wie Die Zukunft des Wachstums. Kritische Antworten zum „Bericht des Club of Rome“ beweist, das 1973 von Heinrich von Nußbaum herausgegeben wurde. Doch das zunehmende Krisenbewußtsein – von der Entwicklung bestätigt – war nun einmal da und ließ sich nicht wieder verdrängen. Selbst ein reformbetonter Futurologe wie Flechtheim schrieb daher 1973 in seinem Aufsatz Futurologie in der zweiten Phase?, daß er zwar noch immer dem schönen Traum einer liberalen „Weltdemokratie“ anhänge, sich jedoch bewußt geworden sei, daß man auch die Gefahren eines „NeoCäsarismus“, einer Zunahme der „Gewalt“, eines „Total-Totalitarismus“, eines „Dark Age“, ja eines „Ende des Menschen“ ins Auge fassen müsse.24 Auch den westdeutschen Linken machte der dadurch ausgelöste „Zukunftsschock“ arg zu schaffen. Während viele Vertreter dieser ideologischen Einstellung derartige Untergangsvisionen bisher meist als Teil einer kapitalistischen Ablenkungsstrategie hingestellt hatten, welche den sogenannten breiten Massen ihre revolutionären Hoffnungen auszutreiben versuche, wurde man nach 1972/73 selbst in diesem Lager etwas vorsichtiger, skeptischer, resignierter. So ging etwa Hans Magnus Enzensberger 1978 in seinem Kursbuch-Beitrag Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang so weit, die Zerstörung der Biosphäre, die Bevölkerungszunahme und die atomare Bedrohung als einen weltweiten Akt hinzustellen, der nicht mehr aufzuhalten sei.25

II Waren in einer solchen Situation überhaupt noch „utopische“ Romane zu erwarten, in denen sich die damalige Industriegesellschaft als ein entwicklungsfähiges, ja bis zur Perfektion zu verbesserndes Modell darstellen ließ? Oder war eine 269

Kapitalistische Zukunftsvisionen

derartige Frage von vornherein rhetorisch? Mußten nicht danach in allen Bereichen wieder die dystopischen Momente überwiegen, zumal die Literatur dasjenige, was sich im Bereich des Politischen, Gesellschaftlichen und Ökonomischen abspielt, oft noch um einige Grade übersteigert? Wenn man die Produkte der Science-Fiction der siebziger Jahre Revue passieren läßt, so läßt sich nicht übersehen, wie in ihr der dystopische Grundzug – trotz mancher Happy-End-Situationen – wieder merklich zunahm. In vielen Bereichen herrschte hier abermals die gleiche Untergangsstimmung wie in den fünfziger Jahren. Ja, manches wirkte inzwischen noch düsterer, grauenvoller, wenn nicht gar apokalyptischer. Man denke an Filme wie Star Wars oder Close Encounters of the Third Kind, wo es um intergalaktische Kriege oder UFO-Invasionen geht, oder an all jene Werke, in denen draculaähnliche Vampire oder andere gräßliche Tierungetüme ihr Unwesen treiben. Der Spiegel sprach daher 1978 von einer „neuen SF-Welle“ ungeahnten Ausmaßes, in der es nicht mehr um glänzende Zukunftswelten, sondern hauptsächlich um „Umweltkatastrophen, Rassenkonflikte, die Dschungel der Städte, Ausbeutung, Verelendung und machtpolitische Korruption“ gehe.26 Kein Wunder daher, daß die SF-Heftchenreihen in der BRD nach diesem Zeitpunkt erheblich auflagenstärker wurden. So erreichte etwa die Perry-Rhodan-Serie gegen Mitte der siebziger Jahre eine Gesamtauflage von 300 Millionen und überholte damit selbst die geschätzte Weltauflage der Bibel von 250 Millionen. Nicht viel anders sah es im Bereich der technokratisch-futurologischen Zukunftsvisionen aus, wo sich ebenfalls eine merkliche Verdüsterung beobachten läßt. Und doch finden sich hier – innerhalb des allgemeinen Defätismus – noch am ehesten utopische Elemente. Schließlich konnte sich das kapitalistische System nicht einfach selber aufgeben und nur noch seinen eigenen Untergang beschwören, sondern mußte sich – im eigensten Interesse – ständig in die Zukunft projizieren. Obendrein suchte es sogar aus den Untergangsstimmungen Profit zu ziehen, was ein Großteil der damaligen dystopischen Literatur nur zur Genüge beweist. Doch auch die futurologischen Elemente, einmal etabliert, starben innerhalb dieses Systems und seiner Literatur nicht sofort ab. Greifen wir dafür ein zufälliges, wenn auch besonders sinnträchtiges Beispiel heraus, und zwar den Roman Konzern 2003 (1977) von Mathias Scheben, der sich trotz aller „kritischen“ Elemente als ein futurologisches Werk ausgibt. Während sich ein Roman wie Der Konzern (1967) von Peter Heim schon beim ersten Anblättern als die übliche Sex- und Ehestory unter feinen Leuten entpuppt, ohne daß damit irgendwelche futurologischen Spekulationen verbunden würden, geht es bei Scheben um ein relativ konkretes Zukunftsbild der westdeutschen Industrie. Und das 270

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macht seinen „Fall“ wesentlich interessanter als die übliche Bestsellerliteratur im Schickeriamilieu. Letztlich liegt diesem Buch die utopische Fiktion zugrunde, daß sich bis zum Jahre 2003 in der BRD, ja nicht nur in ihr, sondern auch in Österreich, Italien, Holland, Nordbelgien und der Schweiz, ein einziger Machtfaktor, nämlich der Zannen-Konzern, durchgesetzt hat. Die erwähnten Staaten werden sich – nach seiner Meinung – bis dahin aufgelöst haben. Die einzigen anderen Machtkomplexe, die es neben dem Zannen-Konzern dann noch in Westeuropa geben wird, sind die Konzerne Interproducts und Napol, die sich den englischen, skandinavischen, iberischen und französisch-südbelgischen Markt untereinander aufgeteilt haben. Wie es zu dieser Situation gekommen ist, wird folgendermaßen erläutert: Einerseits hat sich Zannen gegen alle wirtschaftlichen Konkurrenten durch seine „FFT-Methode“, das heißt seine „Fünf-Fronten-Taktik“, durchgesetzt.27 Die Kernpunkte dieser Taktiken sind: „Unterbietung an der Preisfront“, „Verwicklung der Konkurrenten in teure Prozesse“, „systematische Zerstörung der Betriebsanlagen“, „imageschädigende Kampagnen in der Presse“ sowie „systematische Ankäufe von Roh-, Zwischen- und Betriebsstoffen, ohne die konkurrierende Unternehmen nicht weiterproduzieren konnten“ (67). Andererseits hat Zannen zwischen 1980 und 2000 alle staatlichen Organe ausgeschaltet und sich erst als Staat im Staate und dann als eigenständiger Staat etabliert. Der Niedergang der älteren Staatsgebilde wird sowohl auf die zunehmende „Bummelei“ der Beamten als auch die „Zersplitterung der Gewerkschaften“ zurückgeführt (40). Dadurch habe es schließlich überhaupt keine Gegenkräfte zum Zannen-Konzern mehr gegeben. Weil die „staatliche Bürokratie“ nie so „produktiv“ arbeite wie die „private Wirtschaft“, seien in allen öffentlichen Anstalten Milliardendefizite keine Seltenheit gewesen (108). Selbst die Post und die Eisenbahn wären daher schrittweise „reprivatisiert“ worden (107). Schon in den achtziger Jahren hätten alle Begabten den Zannendienst – wegen besserer Bezahlung und interessanterer Aufgabenbereiche – eindeutig dem Staatsdienst vorgezogen. Und so sei es schließlich dahin gekommen, daß man sich im Jahre 2003 unter staatlichen „Organisationen“ nichts Rechtes mehr habe vorstellen können (15). Aus Zannen wird so ein Großkonzern, der acht Millionen Beschäftigte hat und 30.000 kurz-, mittel- oder langlebige Gebrauchsgüter herstellt. Seine 15.000 Zweigstellen versuchen geradezu „alle materiellen und immateriellen Wünsche“ der Bevölkerung zu erfüllen (31), was zu einem Umsatz von 160 Milliarden im Jahr geführt hat. Um nicht allzu tyrannisch zu erscheinen, muß natürlich auch Zannen die Illusion eines ungehinderten Wettbewerbs aufrechterhalten und den 271

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Konsumenten die Möglichkeit einer „freien Wahl“ vorspiegeln. Aus diesem Grunde läßt er einzelne seiner Produkte miteinander konkurrieren, ja inszeniert sogar einen Wettbewerbskrieg gegen seinen englischen Konkurrenten Interproducts, dessen „Zauberland-Läden“ die „Wunderland-Läden“ des Zannen-Konzerns in Holland und Nordbelgien zu verdrängen suchen. Er setzt dabei alle Mittel der Erpressung, Diffamierung, Werkspionage, ja sogar des offenen Betriebsgangstertums ein – und kann so den Eingriff in seine Interessenssphäre siegreich zurückschlagen. Aber so blutig das Ganze auch abläuft, letztlich handelt es sich bei dieser Konkurrenzschlacht lediglich um den Versuch, die „Bereitschaft der Bevölkerung zu testen“, einen gewissen „Wettbewerb zu akzeptieren“ (278). Daß sich die eigentlich Verantwortlichen für diese Manöver in den USA befinden, ja daß Westeuropa zu diesem Zeitpunkt bereits innerlich und äußerlich geradezu unzertrennlich mit den Vereinigten Staaten verflochten ist, wird dem Leser lediglich en passant mitgeteilt, als so selbstverständlich wird diese Allianz bereits empfunden. Die Bosse dieser Welt sitzen demzufolge nicht mehr in Frankfurt oder Düsseldorf, sondern in Boston oder New York – und lassen von dort ihre Fäden über den Atlantik spielen. Die zentrale Figurenschicht dieses Romans sind demnach lediglich die Vertreter jener „Professional and Technological Class“, wie sie Daniel Bell nennt, für die alles in der Welt nur noch ein Organisationsproblem ist. Wer in diesen Bereichen – und daher auch in Schebens Konzern 2003 – etwas zu sagen hat, muß also zu den Junior Executives, den Abteilungsleitern, den Chefs, den Managern, den Bossen gehören, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Von Arbeitern oder Konsumenten ist darum kaum die Rede. Immer wieder geht es nur um jene, die mit den Fragen der betrieblichen Effizienz betraut sind. Jeder strebt hier bloß noch danach, sich durchzusetzen, aufzusteigen, die Chefetage zu erreichen und Manager zu werden. Wem der Zannen-Konzern eigentlich gehört, bleibt unerwähnt. Hier prahlt man nicht mehr mit Besitz, sondern nur noch mit jugendlichem Elan, Dynamik, Durchsetzungsvermögen. Man will Manager sein, weil das Erfolgserlebnisse verspricht, weil das zu einem gesteigerten Selbstbewußtsein führt, weil das den Schimmer der Wichtigkeit verleiht. Große Teile des Romans spielen deshalb in den Managertürmen des „Zentralen Werkgeländes“, in denen jene fixen Kerle sitzen, deren Hauptaufgabe im Entwurf neuer Marketing-Strategien besteht. Weil mit der Abschaffung der Konkurrenz zugleich das Bedürfnis nach Qualität abgestorben ist, geht es jetzt bloß noch um weitere Umsatzsteigerungen. Und darauf verstehen sich diese jungen, flotten, dynamischen Aufsteigertypen allerdings aus dem Effeff. Sie tun deshalb alles, 272

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um zur Profitmaximierung beizutragen und sich somit als Top-Manager zu qualifizieren. Dies ist die Welt jener „Brainstorming-Büros“, wo man mit 35 Jahren bereits sein bestes Alter erreicht hat und mit Fünfzig pensioniert wird, weil man dann nicht mehr über die erforderliche Dynamik und Aggressivität verfügt. Manche Kapitel dieses Romans wirken deshalb fast wie ein Katalog guter Ratschläge, die jeder karrierebewußte Aufsteiger auswendig wissen sollte. In der Negativbilanz werden dabei folgende Eigenschaften verbucht: ein eierköpfiger Intellektualismus, eine allzu deutliche Gemütsbetontheit, ein Interesse an Kunst oder auch eine ausgeprägte Liebe zur Natur, die auf „Aggressionslosigkeit“ und damit mangelndes Durchsetzungsvermögen hindeuten. All das mache, wie es heißt, aus Menschen notwendig Langweiler. Dasselbe gelte für Weingenuß oder Pfeiferauchen, in denen sich eine abwägende, kontemplative Gesinnung zu erkennen gebe. Als empfehlenswert gilt dagegen, unentwegt Zigaretten zu rauchen, scharfe Drinks zu sich zu nehmen sowie einen „Jagdschein“ zu erwerben, worin sich eine begrüßenswerte „Brutalität“ manifestiere (61). Nicht minder geschätzt wird eine „schlanke“ und „sportlich durchtrainierte“ Erscheinung (13), ein „hartes und unmenschliches“ Auftreten (100), eine gleichbleibende „Treue zum Unternehmen“, ein „absolutes Wohlverhalten“ und ein hoher „Leistungsquotient“ (9). Bei Zannen kann nur jemand Karriere machen, der sich widerspruchslos in die bestehende „Leistungshierarchie“ einfügt (51), das heißt die offizielle Hackordnung anerkennt. Außerdem empfiehlt es sich, gewisse Amerikanismen wie „clever“ oder „overdressed“ zu gebrauchen und seinen Namen in Manfred Cannon oder Charly Feldberg abzuändern. Um dabei nicht im Handbuchmäßigen steckenzubleiben, bedient sich Scheben zur Illustration dieses Tugendkatalogs der Figur des jungen Aufsteigers Tobias Sabaco, der sich bereits mit 24 Jahren – nach dem Besuch einer Zannen-Universität – als „Erster Experte“ in der erfolgreichen Einführung des Kindersafts „Labelle“ einen Namen gemacht hat (54). Diesem Mann gelingt es, nach einer dreimonatigen Einführungsphase und unter Einsatz aller Medien einen Absatz von „500.000 Flaschen pro Verkaufstag“ zu erreichen und damit alle Nebenbuhler aus dem Feld zu schlagen (54). Sabaco sieht sein einziges Ziel darin, „beruflich voranzukommen“ (98). Er setzt sich deshalb bei den Oberen geschickt ins rechte Licht und wird schließlich zum Abteilungsleiter ernannt. Als solcher führt er ein Heer von „20.000 Filialleitern, Supermarkt-Angestellten, Verkäufern und Verkäuferinnen“ an die „Verkaufsfront“, um ständig „neue Umsatz- und Gewinnrekorde“ zu erzielen (134). Von diesem Zeitpunkt an gehört er zu jenen 273

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Manager-Typen, die in Schebens Utopie stolz durch die Chefetage schreiten, von Zeit zu Zeit in Nobel-Restaurants speisen, die Klubfreuden ausgesuchter Erotikbars genießen, mit schnellen Autos durch die Gegend rasen, mit ihren Sekretärinnen schlafen – kurz: alle Privilegien des sogenannten Top-Managements genießen. Daß die Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaftsschicht auch Gefahren in sich birgt, zeigt sich daran, daß der Bezirk, auf dem jene Managertürme stehen, in denen die 60.000 Angestellten der Zentralverwaltung arbeiten, mit elektrisch gesicherten Drahtzäunen umgeben ist. Alle, die dieses „Heiligtum des ZannenKonzerns“ betreten wollen, müssen durch drei Sperrschranken hindurch und sich die „obligatorische Abtasterei“ gefallen lassen (33). Dabei wird allerdings immer wieder betont, daß diese Managerschicht keine bevorrechtigte Kaste bilde. Für sie qualifiziert „man“ sich nicht durch Herkommen oder Besitz, sondern allein durch „Leistung“. Eine solche Karriere stehe allen offen, heißt es, da alle dieselben ganztägigen Zannen-Kindergärten und Zannen-Schulen besuchen, wo sie die gleiche Bildung genießen. In diesen Schulen werden sie einerseits auf das „erstrebenswerte Wir-Gefühl eingestimmt“, das heißt sich als Teil des ZannenKonzerns zu fühlen (41). Andererseits herrscht in ihnen eine ausgesprochen aggressionssteigernde Erziehung, die sich auf eine Reihe höchst effektiver Kampfund Konkurrenzspiele stützt, um so die Schüler an den Zustand einer „organisierten Friedlosigkeit“ zu gewöhnen (42). Und zwar spielt sich das meist im Rahmen einer polytechnischen „Learning by doing-Unterweisung“ ab (43). Schließlich sollen die Zannen-Zöglinge nicht fürs Leben, sondern für den Beruf vorbereitet werden. Alles Unnütze – wie „tote Sprachen“, „als belanglos entlarvte geschichtliche Erfahrungen“ oder „Kritik an kapitalistischen Prinzipien“ – wird daher aus dem Lehrstoff ausgemerzt (16). In diesen Schulen geht es nur noch um jenes Wissen, „aus dem sich – Gott sei Dank – nichts anderes als Geld schöpfen ließ“ (16). Die Cleversten und Aggressivsten unter diesen Schülern werden anschließend auf die Zannen-Universitäten geschickt, wo die eigentliche privatwirtschaftliche Ausbildung und damit Qualifizierung zum Managertum stattfindet. Wenn es diese Eleven dann allerdings „geschafft“ haben und endlich „oben“ sind, bleiben sie durchaus Teil des Konzerns und genießen keine absolute Freiheit. Und zwar gilt das nicht nur für ihr Berufs-, sondern auch für ihr Privatleben, das sich im Rahmen vom Konzern vorgeschriebener Regeln und Verhaltensnormen abspielt. So beginnt jeder Tag mit dem „obligatorischen Duschen“ (17). Danach müssen sich alle nach der von Zannen ausgestrahlten „Muntermacher274

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Musik“ den „Trimm-Bewegungen“ der „vorgeschriebenen Morgengymnastik“ unterziehen (12). Anschließend begeben sie sich an die zanneneigenen „Mahlzeiten-Automaten“ und entnehmen diesen ihr „Schnellfrühstück“ (17). Was diese Menschen am Leibe tragen, besteht fast ausschließlich aus einem Kunststoff, dem der Konzern den Namen „Zanothyl“ gegeben hat. Ähnlich geregelt vollzieht sich ihre Büroarbeit zwischen den von Zannen gelieferten Glasmöbeln und Glaswänden, die keinen Rückzug ins Private erlauben. Doch auch in der sogenannten Freizeit unterliegen diese Menschen einer „pausenlosen Observation“ und Gängelung (120). Sogar ihre schicken werkseigenen Appartments haben gläserne Wände und Audiovisionsquadrate, die sie ständig beobachten und selbst ihre intimsten Regungen an den großen „Personalcomputer“ weiterleiten (121). Das gleiche gilt für ihre Parties, ihre „Club intim“-Besuche, ihre Spaziergänge, ihre Ferien: Überall herrscht eine „totale Kontrolle“ (120). Und doch haben fast alle diese Menschen eine recht „positive“ Einstellung zum Leben (23), ja fühlen sich bei der Befriedigung ihrer außengelenkten Bedürfnisse ausgesprochen wohl. Schließlich ist in dieser Welt alles so geregelt, daß jene Zannisten, die nur auf oberflächliche Vergnügungen aus sind, durchaus auf ihre Kosten kommen. Diesen Leuten wird genug Gelegenheit gegeben, die üblichen Parties zu besuchen, wo man sich neben einem „strukturierten Small-Talk“ im Sinne von „Hallo, nett Sie hier zu sehen!“, „Ziemlich viel Leute hier!“ oder „Wie geht es Ihrer Frau?“ (192 f.) auch einige Gläschen Whiskey, Marke „Zann 17, four years old“, genehmigen kann (155). Außerdem gibt es reichlich „Hobbymöglichkeiten“ (198), Kurse für „Sensitivity-Training“ (156) sowie Ferienreisen in die Schweiz oder nach Italien, wo die von Zannen eingesetzten Umweltschützer einige Gebiete für die Sommerurlauber aufbereitet haben. Auch an Tanzgelegenheiten besteht im Zannen-Land kein Mangel. Im Jahr 2003 ist es gerade der „Pendelpace”, der als der schickste Modetanz gilt (152). Wem selbst das nicht genug ist, der kann Spaziergänge ins Grüne machen, von Zannen inszenierte Sportveranstaltungen besuchen, sich Quiz-Sendungen ansehen, Squash spielen oder seine Zeit mit Spielautomaten totschlagen. Was im Rahmen dieser Freizeitbeschäftigungen fehlt, sind lediglich die früheren Formen der sogenannten „E-Kultur“. So gibt es im Zannen-Land kaum noch Bücher oder Bibliotheken. Von den verschiedenen Theaterformen sind lediglich die Show und die Boulevardkomödie übriggeblieben. Doch selbst die spielen nur eine marginale Rolle, da die für Zannen arbeitende Managerschicht keine Kompensationsbedürfnisse mehr hat und ihre Bedürfnisse nicht mehr ästhetisch, sondern „real“ befriedigt. Und diese Befriedigungen bieten ihr vor allem die Sekretärinnen. Wer größere 275

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oder verfeinerte Ansprüche hat, verbringt seine Abende oder auch ganze Nächte im „Club anonym“ (172), zu dem alle Manager einen Privatschlüssel besitzen und wo man sich auf jede Weise „relaxen“ kann. Hier wimmelt es nur so von attraktiven Liebesdienerinnen wie auch ebenso attraktiven und willigen Bürofräulein, die mit Computerinformationen versehene „Heirats-Scheiben“ um den Hals tragen (285), damit zwei, die sich gefallen, sofort nachsehen können, ob sie zueinander passen. Und so scheint auch dieses Problem, das in früheren Zeitaltern oft zu den schlimmsten Komplikationen geführt habe, ein für allemal gelöst zu sein. Doch was machen eigentlich die anderen Zannen-Bewohner, die nicht zu dieser ewig „glücklichen“ Konzernbourgeoisie gehören? Auf ihre Probleme wird überhaupt nicht eingegangen. So gibt es in diesem Roman weder kleinere Angestellte noch Arbeiter. „Niedrigkeit“ wird hier bewußt übersehen. Doch eine andere Form des Menschseins ließ sich auch in einem solchen Roman nicht übersehen. Und das waren die „Frauen“, da diese Schicht – nach Schebens Meinung – nun einmal unmittelbar mit dem persönlichen Wohlergehen all dieser Manager verbunden ist. Allerdings eröffnen sich für diese Frauen im Zannen-Land nur zwei Möglichkeiten, mit der privilegierten Männerkaste in Kontakt zu kommen: als Sekretärinnen oder als Ehefrauen. Das Los der Sekretärinnen, selbst der Chefsekretärinnen, ist kein besonders beneidenswertes. Ihre Arbeit im Büro ist zwar nicht übermäßig anstrengend, aber dafür müssen sie ihren Chefs auch sonst in jeder Weise zur Verfügung stehen. Die Grenzen zwischen Sekretärinnen, Call Girls und bloßen „Miezen“ sind deshalb in dieser Welt recht schwimmend (108). All dies sind Frauen, die „man“ einfach vernascht. Falls sie sich dagegen sperren, werden sie entweder angebrüllt oder vergewaltigt. So wird Tina, da sie sich nicht schnell genug auszieht, von dem aufgebrachten Sammet so brutal auf die Erde geschleudert, daß sie tot liegenbleibt (128). Etwas „besser“ haben es dagegen die „Nurhausfrauen“ im Zannen-Land (18), das heißt solche, die mit Managern verheiratet sind. Denn die Familie gilt auch hier noch immer als eine „geheiligte“ Institution. Da jedoch der berufliche Aufstieg das einzige Erfolgsziel in dieser Gesellschaft ist, fühlen sich manche dieser Frauen benachteiligt und leiden stumm vor sich hin. Um sie vor eventuellen Depressionen zu bewahren, hat Zannen einen Hausfrauendienst entwickelt, der sie durch Meinungsbefragungen, Postwurfsendungen, Werksbesichtigungen, Kuraufenthalte sowie kontrollierte Spaziergänge durch Zoos, Supermärkte und Naturparks ständig bei guter Laune zu halten versucht. Ja, es gibt sogar einen „Hausbesucher-Dienst“ mit attraktiven männlichen Betreuern 276

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(21), die ihnen die Langeweile durch charmante Plauderstündchen zu vertreiben suchen. Und so werden selbst die „Nurhausfrauen“ immer wieder in eine zannenfreudige, das heißt lebensbejahende und vor allem verbrauchsorientierte Stimmung versetzt. Sogar sie empfinden die totale Entfremdung schließlich als etwas Positives, wenn nicht gar als erfüllte Utopie. Schließlich leben in dieser Welt die meisten Menschen wie die „Tiere im Zoo“, wie es an einer Stelle verräterischerweise heißt (139), die zwar auf ihre natürliche Freiheit verzichtet haben, aber dafür ein Leben führen, in dem sie sämtliche Segnungen der massenmedial gesteuerten postindustriellen Dienstleistungs- und Freizeitgesellschaft genießen dürfen. Soviel zu den Freuden und Leiden der Managerklasse, die sich mit dem hier geschilderten „System“ in einem positiven Sinne abgefunden hat. Das gleiche scheint offenbar für die Angestellten und Arbeiter zu gelten, von denen man zwar nur indirekt hört, die aber durch die konstante „Gehirnwäsche“ bereits so manipuliert sind, daß sie keinen politischen oder ideologischen Gegenfaktor mehr bilden, sondern einfach mitmachen. Die einzigen Opponenten zu diesem System, die sogenannten „Zannen-Schädlinge“, rekrutieren sich daher nicht aus den niederen Klassen, sondern lediglich aus gewissen Außenseitern der Managerklasse, welche sich noch einen Rest an subjektiver Eigenwilligkeit bewahrt haben. Dabei handelt es sich um jene „Ausgeflippten“ (213), die sich im Laufe des Romans als „Kaufverzichtler“ (187), ja „Anarchisten“, „Terroristen“ und „Untergrund-Kämpfer“ aufspielen (64). Eine dieser Gruppen beginnt im zweiten Teil des Ganzen sogar eine „Attentats-Offensive“ (219). Doch der ZannenKonzern erweist sich in diesem Punkt als relativ tolerant. Schließlich lassen sich solche Aktivitäten gut als Medienunterhaltung ausschlachten und sollen die breiten Massen zugleich von anderen Problemen ablenken. Als es zu Geiselnahmen und Erschießungen kommt, inszenieren die Topmanager sogar selber einige solcher „Attentate“ und stellen die „Zannen-Schädlinge“ als ein „Monsterheer“ hin, dessen Aktionen im Fernsehen so sensationell aufgebauscht werden, daß sie sich als äußerst umsatzsteigernd erweisen. Viele Leute kaufen plötzlich mehr, um sich „auf eine länger andauernde Krise einzurichten“ (230). Obendrein will der Chef der „Aktuellen Meldungen“ mit solchen Horrorstories endlich einmal die „Einschaltquoten der Kollegen aus dem Sport- und Unterhaltungsbereich übertreffen“ (239). Und dies gelingt ihm auch, ja seine „Beerdigung-der-WocheSendung“ (258) wird ein regelrechter Hit. Daß sich dadurch die Krisenstimmung zusehends verstärkt, kümmert die Zannen-Bosse, die selbst daraus ihren Profit ziehen wollen, nicht im geringsten. Ja, gegen Ende des Romans kommt es sogar 277

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zu offenen Rebellionen und Geschäftsplünderungen. Allerdings bleibt es unklar, ob diese Aktionen eine wirkliche Revolte darstellen oder ob selbst sie von oben gesteuert werden. Schließlich handelt es sich im Zannen-Reich um eine Welt der totalen Lenkung – und daher könnten sogar diese Aktionen Teil eines allberechnenden Konzernwillens sein.

III Damit wird der Leser auf den letzten Seiten dieses Romans zwar irritiert, aber nicht wirklich geschockt oder gar zur Umkehr aufgerufen. Im Gegenteil: Alles erstarrt in einer wohlkalkulierten Schwebe, wodurch die eigentliche Intention dieses Werks reichlich unklar bleibt. Genau besehen, erweist sich das Ganze weder als wirkliche Utopie noch als wirkliche Dystopie, sondern als ein seltsames Mixtum beider. Nun, das allein spricht noch nicht gegen diesen Roman. Viele Dystopien sind zugleich Utopien – oder umgekehrt. Auch „sogenannte Gegenutopien“, wie uns sowohl Richard Gerber28 als auch Martin Schäfer29 versichert haben, können durchaus einen „utopischen“ Protest enthalten. Doch leider läßt sich diese Einsicht auf Schebens Konzern 2003 kaum anwenden. Schließlich ist dieser Roman weder ein echtes Schreckbild noch ein echtes Wunschbild. Aber was ist er dann? Vielleicht wäre es am angebrachtesten, ihn einfach als einen in die Zukunft verlängerten Gegenwartsroman zu bezeichnen. Damit würde man zugleich jenem kryptischen Motto gerecht, das Scheben diesem Werk vorangestellt hat: „Die Welt, in der wir leben, steckt voller Ungereimtheiten und boshafter Ideen. Was wir denken, ist uns ernst, was andere tun, wirkt belustigend oder beschämend. Die Zukunft wird sich so entwickeln, wie wir sie verursachen. Die Vision steckt voller Satire, Groteske und blutigem Ernst. Ihre Realität entwickelt sich bereits“ (5). Daß sich diese Realität nicht erst „entwickelt“, sondern bereits voll ausgebildet ist, beweisen vor allem jene Abschnitte, die in Schebens Roman der Konsum­ orientierung, der Aufsteigermentalität, der Freizeitgestaltung, der geplanten Obsolenz, der Dominanz der „Professional Class“, dem beschleunigten Verbrauchszyklus einzelner Warensorten, dem Hobbyismus, der Terroristenaktivität sowie der Entfremdungsproblematik gewidmet sind. Und das sind über zwei Drittel des Romans! Daneben gibt es jedoch auch Passagen, die deutlich an Utopisch-Dystopisches grenzen, wie etwa all jene Kapitel, in denen die politische, gesellschaftliche und ökonomische Allmacht des Zannen-Konzerns beschrieben wird. In diesen Abschnitten wirkt das Ganze noch am ehesten wie ein Vorgriff auf die Zukunft – ob nun in warnend-abschreckender oder zynisch-grotesker 278

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Absicht, sei erst einmal dahingestellt. Doch selbst dieser Vorgriff enthält, genau besehen, ein gewisses Maß an „Realität“. Schließlich zeichnete sich das Vordringen der großen Konzerne innerhalb des westlichen Bündnissystems seit den siebziger Jahren immer eklatanter ab und übte bereits auf die Innen- und Außenpolitik vieler Staaten einen maßgeblichen, wenn nicht ausschlaggebenden Einfluß aus. So gab es in den USA um 1975 nur noch 145 Konzerne, die fast die Hälfte der Güterproduktion kontrollierten. In der BRD waren es 1975 bloß noch 115, die für 46 Prozent des Umsatzes, sowie 61 Prozent des Exports und 54 Prozent der Investitionen verantwortlich zeichneten.30 Max Gloor schrieb daher bereits 1969: „Es vergeht wohl kaum mehr ein Tag, an dem der die Entwicklung auf internationaler Ebene verfolgende Beobachter nicht von der geplanten oder verwirklichten Fusion zweier oder mehrerer Unternehmen hört.“31 Seine Vorhersage, daß der westliche Markt um 1980 nur „noch aus 300 riesigen Unternehmen bestehen“ wird, war daher nicht völlig aus der Luft gegriffen.32 Ja, Gloor sah bereits zu diesem Zeitpunkt in den staatlichen Organen keinen wirklichen Hemmschuh dieser Entwicklung mehr. Im Gegenteil. Er schrieb: „Der Staat und im Rahmen der EWG die Brüsseler Behörden tun das ihre, um die Konzentration zu fördern.“33 Und so kam es auch in Westdeutschland – mit dem „Segen des Staates“ und „im Namen der freien Marktwirtschaft“34 – immer stärker zu Monopol- oder Oligopolmärkten, innerhalb derer der Wettbewerb entweder völlig abgeschafft oder „wesentlich eingeschränkt“ wurde.35 Die Ohnmacht der Kartellbehörden demonstrierte hier bereits die „Ohnmacht des Staates“.36 Ja, manche behaupteten, daß in diesem Staat nicht mehr die Regierung, sondern die Wirtschaft die tatsächliche „Macht“ ausübe.37 Aus diesem Grunde erfolgte in der BRD – wie in Schebens Zannen-Land – zusehends eine deutliche Abwanderung der Begabteren zur Großindustrie. Jene, die sich noch immer um staatliche Anstellungen bewarben, bekamen hier bereits damals den Spruch zu hören: „Für die freie Wirtschaft hat’s bei euch wohl nicht gereicht.“38 Der Wirtschaftsverlag Langen-Müller/Herbig, bei dem Schebens Konzern 2003 im Jahr 1977 erschien, ging daher nicht fehl, wenn er diesen Roman auf dem Waschzettel mit folgenden Sätzen charakterisierte: „Der Leser erkennt, daß die Zeit bis zum Jahre 2003, neunzehn Jahre ab Orwells ‚1984‘, schon heute partielle Gegenwart ist. Rückblicke aus der Zukunft vermitteln originelle Einsichten in die Tatsache, daß die Zukunft des Konzernbürgertums bereits begonnen hat.“ Ja, an anderer Stelle hieß es noch deutlicher: „Die Darstellung einer wenig phantastischen Zukunft enthält satirische Elemente, manches wird als Groteske deutlich, Beispiele zeigen den Sadismus der Perfektion. Es ist nicht nur 279

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alles möglich, sondern vieles heute schon Realität. Summierung, Ergänzung und klärende Überzeichnung machen das jedem klar.“ Das klingt zwar einleuchtend, ist aber immer noch nicht eindeutig genug, um der wirklichen Intention Schebens auf die Spur zu kommen. Vielleicht erweist sich hierbei ein kurzer Blick auf das übrige Programm dieses Verlages als hilfreich. Schließlich brachte der Wirtschaftsverlag Langen-Müller/Herbig in den siebziger Jahren nicht viele, aber dafür um so signifikantere Bücher heraus, die sich fast ausschließlich an Manager wandten. Neben Schebens Konzern 2003 fanden sich in seinem Programm vor allem Werke wie die folgenden: Führungs-Psyche für Vorgesetzte (1973) von Friedrich Liegert, Erfolgreiches Marketing für Vorgesetzte (1973) von Otto Ladner, Karriere im Sekretariat (1974) von Annelore Schliz und Hannelore Winter, Dialektik für Manager. Methoden des erfolgreichen Angriffs und der Abwehr (1975) von Rupert Lay, Denkspiele für Manager (1975) von Frank Ullmann, Marxismus für Manager. Kritik einer Utopie (1975) von Rupert Lay, Die große Utopie. Sozialismus in Deutschland (1976) von Wolfgang Horlacher, Meditationstechniken für Manager (1976) von Rupert Lay, Der Krieg im Betrieb. Spielanweisung für Chefs und Mitarbeiter (1977) von Heinz Commer und Rudolf Rindermann, Sozialismus. Das Geschäft mit der Lüge (1977) von Klaus Motschmann und ähnliches.39 Dazu muß man wissen, daß Wolfgang Horlacher der Chefredakteur des Bayernkurier, Klaus Motschmann der Schriftleiter der Zeitschrift Konservativ heute und Rupert Lay Mitglied der Societas Jesu war. Die ideologische Ausrichtung des Ganzen ließ also an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Neben einem massiven Antikommunismus herrschte hier einerseits eine konservativ-katholische, andererseits eine konservativ-technokratische Gesinnung. Was beide verband, war eine grundsätzlich antiutopische Einstellung, die sich entweder religiös manifestierte, indem sie auf die notwendige „Begrenztheit“40 alles menschlichen Wissens verwies (Lay), oder indem sie utopisches Denken als neiderfülltes Ressentiment zu entlarven versuchte (Horlacher, Motschmann). Und zwar betonte man dabei – unter scharfer Polemik gegen jede Sozialisierungstendenz – immer wieder die natur- oder gottgegebene Notwendigkeit des finanzkapitalistischen Verfügungsrechts über die „Produktionsmittel“.41 Nicht minder ideologisch ging es in manchen dieser scheinbar „technokratischen“ Handbücher zu, die der Langen-Müller/Herbig Verlag herausgab. So wurde in dem Band Der Krieg im Betrieb die Eigentums- und Klassenfrage, wie bei Scheben, einfach ausgeklammert und das Phänomen der sozialen Schichtung rein psychologisch erklärt. Nach Commer/Rindermann existierten damals lediglich drei Menschentypen: Adler, Schlangen und Maulwürfe, wobei sie die Adler 280

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(0,1%) mit den Managern, die Schlangen (9,9%) mit den mittleren Angestellten und die Maulwürfe (90%) mit den Arbeitern und anderen Dienstleistenden gleichsetzten. Daß sich zwischen diesen drei Gruppen nach „mehr als dreißig Jahren äußerlicher Waffenruhe“ ein „ungebändigter Aggressionsstau“ entwickelt habe,42 empfanden Commer/Rindermann als geradezu „natürlich“. Vor dem Hintergrund derartiger Bücher wird deutlich, daß Schebens Konzern 2003 vornehmlich für Manager gedacht war und diese auf die Bewältigung gewisser Zukunftsfragen, wie den sich entwickelnden „Aggressionsstau“, aufmerksam machen wollte. Jedenfalls war das die Absicht des Verlages, der dieses Buch auf seinem Waschzettel ausdrücklich als ein Werk hinstellte, das für jene „Führungskräfte“ gedacht sei, „die sich gern als Manager betiteln“. Nach all dem wird man neugierig, wer denn eigentlich dieser Mathias Scheben ist. Das einzige Buch, das vor dem Konzern 2003 unter seinem Namen herauskam, nannte sich Karriere-Handbuch und erschien 1974 beim BertelsmannRatgeberverlag. Doch dieses Buch stammte nicht wirklich von ihm, sondern von einem vierzehnköpfigen „Team von Fachjournalisten, Karriereexperten und Führungskräften der Wirtschaft“, wie es im Vorwort heißt,43 und war von Scheben nur stilistisch und redaktionell aufbereitet worden. Es handelte sich hierbei um eine Serie von guten Ratschlägen, wie man sich die nötige „Härte“ aneignet, sich durchsetzt, Erfolg hat, kurz: wie man sich zum Manager qualifiziert. In ihm wird behauptet, daß jedermann die gleiche Chance habe, vom Hilfsarbeiter zum Aufsichtsratsvorsitzenden aufzusteigen. Allerdings sei dazu vor allem Folgendes nötig: einen genauen Karriereplan zu entwerfen, in seinen Arbeitskollegen vornehmlich Konkurrenten zu sehen, fleißiger zu sein als alle anderen, die „Interessen der Firma zu seinen eigenen“ zu machen,44 die eigene Ehefrau, die selbstverständlich „hübsch“ sein muß,45 als „Karrierehelferin“ einzuspannen,46 unterhaltsame Parties zu geben, der Frau seines Chefs zu gefallen, stets „fit“ zu sein usw. Genau betrachtet, wurde hier also noch immer jenes Manchestertum propagiert, das Einsichtsvolleren bereits im späten 19. Jahrhundert als veraltet erschien. Ja, die Autoren dieses Bandes gingen in manchem noch über ihre frühliberalen Kollegen hinaus, indem sie erklärten: „Zu keiner Zeit gab es so viele Chancen, Karriere zu machen, wie in der Gegenwart der 70er und auch der 80er Jahre.“47 Wie man aus einer redaktionellen Notiz erfährt, stellte dieses Buch eine überarbeitete und erweiterte Fassung der Serie „Karriereplanung: Gehalt verdoppeln“ des westdeutschen Wirtschaftsmagazins Capital dar. Der Public Relations-Experte Scheben, der im Impressum dieser Zeitschrift ausdrücklich als einer der „Auto281

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ren“ angeführt wird, scheint darin seine eigentliche Lebenswelt gesehen zu haben. Gehen wir daher kurz auf dieses Blatt ein, um dann zu einem abschließenden Urteil über Konzern 2003 zu gelangen. Das Magazin Capital wurde 1962 gegründet und war seit seinen Anfängen ein ausgesprochenes Offensivorgan jener „Führungskräfte, die sich gern als Manager betiteln“. Bereits auf der ersten Seite des ersten Hefts wurde hier erklärt, daß man sich Capital nenne, weil das „C“ in Capital wesentlich sympathischer klinge als das „K“ in Marx’ Kapital. Außerdem wandte sich diese Zeitschrift bereits im ersten Heft, ähnlich wie Ayn Rand, gegen den verbreiteten „Minderwertigkeitskomplex des Kapitalismus“, der immer noch verzweifelt nach einer Idee oder Ideologie suche, um sich weltanschaulich zu legitimieren. Einer solchen Haltung stellte man die selbstsichere These entgegen: „Nicht Ideologien sind notwendig, sondern der Glaube an die gemeinsame bessere Zukunft: wir werden stark und stärker, uns geht es gut und besser. Die Zuversicht des Volkes wird nicht aus Lehrsätzen, sondern aus der Zuversicht und dem Selbstbewußtsein der führenden und herrschenden Schicht gespeist.“48 Und dieses „Selbstbewußtsein“, das oft in nackte Apologetik und Affirmation umschlug, äußerte sich anfänglich nicht nur im hohen Preis und anspruchsvollen Layout der Zeitschrift Capital, sondern auch in der Art ihrer Beiträge über Managerprobleme, einzelne Großkonzerne, lohnende Investitionen, bekannte Aufsichtsräte oder Aufsteigerkarrieren, die lediglich für Leute von Interesse waren, die selbst zu dieser Managerkaste gehörten. Erst in den späten siebziger Jahren gab dieses Blatt seine ausgesprochen „elitäre“ Orientierung auf und glich sich als thematisch breiter gestreutes Wirtschaftsmagazin in Stil und Aufmachung einem Nachrichtenmagazin wie dem Spiegel an. Es wirkte danach wesentlich knalliger, bunter und erreichte so eine Auflage von fast 200.000. Es gab sich zwar immer noch als das Blatt der„Entscheidungsträger in der Wirtschaft“ aus,49 wandte sich aber in seinen Reklamen und Beiträgen nicht mehr ausschließlich an Aufsichtsräte, sondern auch an mittlere Angestellte. Das Capital versuchte von nun an, mit Slogans wie „Planen Sie Ihre Karriere“ und „Machen Sie mehr mit Ihrem Geld“ all jene „Tüchtigen“ zu erreichen, die entweder schon Manager waren oder Manager werden wollten. Demzufolge offerierte es diesen Leuten die erforderlichen Steuertips, Konjunkturnachrichten, Versicherungshinweise, Rechtsberatungen, Reisetips, Investitionsvorschläge, Börsenmeldungen und Stellenangebote, unter denen selbst solche mit sechsstelligen Jahresgehältern nicht fehlen durften. Vor diesem Hintergrund nimmt der Roman Konzern 2003 des Capital-Autors Scheben allmählich schärfere Konturen an. Daß er weder eine reine Utopie noch 282

Mathias Schebens Konzern 2003 (1977)

eine reine Dystopie ist, dürfte klargeworden sein. Er ist letztlich, wie gesagt, ein in die Zukunft verlängerter Gegenwartsroman, der keine wirklichen Katastrophen, aber auch keine wirklichen Wunschbilder enthält. Zugegeben: manches in diesem Buch wirkt schon satirisch oder grotesk überspitzt – jedenfalls kritischer als die erwähnten Publikationen des Wirtschaftsverlages oder die Beiträge in der Zeitschrift Capital. Doch diese kritische Note reicht letztlich nicht aus, um dem Ganzen jene Schärfe zu geben, die bereits einen dystopischen Roman wie Aldous Huxleys Brave New World (1931) ausgezeichnet hatte. Während sich dort das von der technischen Perfektion „Verdrängte“ in dem empörten Schrei des „Wilden“ nach „Poetry“, nach „Real Danger“, nach „Freedom“, nach „Goodness“, nach „Sin“ Ausdruck verschafft,50 wirken die Terroristenaktionen am Schluß des Schebenschen Romans wie belanglose Husarenstückchen einiger Mißvergnügter oder gescheiterter Aufsteiger. Und damit bleibt das Ganze letztlich unernst und büßt so den Rang einer wirklichen Warnung oder gar eines Gegenentwurfs ein. Denn faule Witze sind nun einmal die harmloseste Form des Protests – falls man so etwas überhaupt noch als Protest bezeichnen kann. Genau besehen, entpuppt sich daher Schebens Konzern 2003 als ein Roman für jene Manager, deren Leben hauptsächlich aus Job, Streß, Erfolgserlebnissen und Playboyfreuden besteht und die für andere Lebensformen überhaupt keinen Sinn mehr haben. Denn wie die Nicht-Manager in dieser Zannen-Welt leben, darüber erfahren wir nichts. Immer wieder sind es nur die Vertreter des Managements, deren Probleme in den Vordergrund gerückt werden. Und damit wird das Ganze auf den Erfahrungsbereich jener Gesellschaftsschicht reduziert, die gar nicht mehr weiß, wie privilegiert sie eigentlich ist, und sich in Momenten des Unmuts lediglich mit witzelnden Zynismen wie „Nach mir die Sintflut“ oder „Schon wieder Rehrücken“ Luft zu machen versucht. Hier geht es um jene Managertypen, die alles verdrängt haben, was über ihren eigenen Horizont geht: die Klassenfrage, die Eigentumsverhältnisse, das Problem der sozialen Gerechtigkeit, die innerbetriebliche Demokratie, den Wunsch nach Schönheit und seelischer Vertiefung – wie auch jene Gefahren, die mit der fortschreitenden Umweltzerstörung, der atomaren Bedrohung und den damit zusammenhängenden Problemen verbunden sind. An ihre Stelle ist weitgehend das Gefühl der Blasiertheit, wenn nicht des blanken Zynismus getreten. Selbst die Gefahr eines allgemeinen Zusammenbruchs oder einer Wiederkehr des Verdrängten, wie sie auf den letzten Seiten angedeutet wird, würde diese Leute nicht ernsthaft erschüttern. Schließlich enthalten sogar diese Seiten keine wirklich „kritische“ Pointe. Wer weiß: vielleicht verbirgt sich selbst hinter dieser letzten Rebellion, wie gesagt, 283

Kapitalistische Zukunftsvisionen

nur ein von den Hauptverantwortlichen gelenktes Manöver, mit dem man etwas „Leben in die Bude“ zu bringen versucht. Danach herrscht höchstwahrscheinlich wieder der Status quo. Warten wir daher weiter auf eine echte Utopie der kapitalistischen Marktwirtschaft, die uns die Vorteile dieses Systems in etwas leuchtenderen Farben auszumalen versucht. Aber kann eine solche heute überhaupt noch geschrieben werden? Oder ist die krisengeschüttelte Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus lediglich ein „Fortsetzungsroman ohne Happy End“, wie Elmar Altvater kürzlich erklärt hat?51 Ja, wird dieses System, dem in seinem rastlosen Innovationsdrang das Prinzip der „kreativen Zerstörung“ zugrunde liegt, nicht zwangsläufig an den „Konsequenzen seines Erfolgs“ scheitern?,52 um einen der Kernsätze aus Jürgen Kockas kürzlich erschienener Geschichte des Kapitalismus zu zitieren.53

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Unerfüllte Hoffnungen Volker Brauns Mein Eigentum (1990)

I Von allen ostdeutschen Autoren gehörte Volker Braun sicher zu denjenigen, die sich am ungestümsten, drangvollsten für die Durchsetzung wahrhaft kommunistischer Zustände in der DDR eingesetzt haben. Allerdings verschaffte er sich damit unter den Kulturfunktionären dieses Staats nicht nur Freunde. Im Gegenteil, jene alten SED-Genossen, welche in der Umwandlung des früheren Privateigentums in Gemeinbesitz bereits die entscheidende Verwirklichung des Sozialismus sahen, sperrten sich energisch gegen alle darüber hinausgehenden Tendenzen, nun auch die kulturellen und moralischen Überbauverhältnisse in einem freiheitlich-demokratischen Sinne umzugestalten. Die Folgen dieser Politik – Bevormundung oder gar Zensur – sind bekannt. Und gerade Volker Braun hatte unter solchen Maßnahmen vielfach zu leiden, da er den älteren „Kulturverantwortlichen“ im Zentralkomitee der SED als viel zu „radikal“ erschien. Im Sinne ihrer Vorstellungen hatten diese Funktionäre natürlich Recht. Sie wollten nach langen Jahren des Kampfes, der Verfolgung, des Exils und der Entbehrung endlich in jener von Walter Ulbricht so gern beschworenen „sozialistischen Menschengemeinschaft“ angekommen sein – und nicht mehr ständig weiterkämpfen. Ein junger Autor wie Volker Braun, der nach dem Abitur erst als Drucker, Betonrohrleger und Maschinist gearbeitet hatte, bevor er von 1960 bis 1964 in Leipzig Philosophie studieren durfte und kurz darauf Dramaturg am Berliner Ensemble wurde, verfügte dagegen nicht über derartige Erfahrungen. Als „proletarischer“ Philosoph und brechtisierender Stückeschreiber hatte er vor allem Hegels Dialektik und Blochs „Vorschein“-Denken im Sinn. Braun war daher nicht bereit, sich den 1965 auf dem bekannten XI. Plenum der SED erlassenen Direktiven anzupassen, die alle „kulturrevolutionären“ Tendenzen à la Wolf Biermann oder Heiner Müller von vornherein als anarchistisch und damit „staatsgefährdend“ abkanzelten. Er wollte mehr, viel mehr. Er trat demzufolge weiterhin – innerhalb der Grenzen des Möglichen – so provokativ auf, wie er nur 285

Unerfüllte Hoffnungen

konnte. Er begnügte sich nicht mit Teilaspekten des Sozialismus. Er wich nicht ins Private aus. Ihm ging es immer stärker um das „Ganze“, das heißt um eine mühsame, sich dialektisch vollziehende Verwirklichung der vielfachen Versprechungen des Kommunismus. Kurzum, er blieb im besten marxistischen Sinne ein Hoffender, der sich von der SED nicht einreden ließ, daß utopisches Denken nicht nur unmarxistisch, sondern – angesichts der prekären Situation der DDR der westdeutschen Bundesrepublik gegenüber – auch politisch gefährlich sei, da es zu viele Hoffnungen wecke, die sich unter den gegebenen Produktionsverhältnissen nicht befriedigen ließen und deshalb lediglich konterrevolutionäre Tendenzen innerhalb der Bevölkerung unterstützen würden. Als Marxist war Volker Braun selbstverständlich einsichtig genug, die taktische Notwendigkeit solcher Beschwichtigungsversuche anzuerkennen. Dennoch wehrte sich alles in ihm, ihnen blindlings zu folgen. Und so wurde er bei aller Parteitreue zu einem strengen Kritiker der selbstgefälligen Pragmatiker innerhalb der SED und ließ nicht nach, in seinen Gedichten, Dramen, Erzählungen und Essays auf die Fortführung der sozialistischen Revolution in Richtung eines demokratischen Rätesystems zu dringen. Damit meinte er – im Gegensatz zu manchen anderen DDR-Autoren – keine westlich gefärbte „Liberalisierung“, sondern eine Änderung aller Verhältnisse „von Grund auf“. „Ein bißchen Sozialismus rettet uns nicht“, schrieb er, so wie man auch nicht „ein wenig schwanger sein“ könne.1 Er wollte Alles: Er wollte den „aufrechten Gang“, wie einer seiner Gedichtbände hieß, er wollte „ins Offene“, ins „Unermeßliche“, wie er in Anlehnung an Friedrich Hölderlin erklärte – und sah daher 1968 in der Prager Aufstandsbewegung, im Gegensatz zur SED-Führung, keine Konterrevolution, sondern ein Moment der Hoffnung, endlich ins Freie, noch Unrealisierte vorzudringen. Dieser Hoffnung blieb Braun, selbst als die sowjetischen Panzer auffuhren, auch in der Folgezeit treu. Er nahm zwar, wie im Fall seines Dramas Lenins Tod sowie seiner Unvollendeten Geschichte, mit knirschenden Zähnen irgendwelche ideologischen Einschränkungsmaßnahmen der SED hin, um nicht wegen „Unbötigkeit“ völlig aus dem literarischen Leben ausgeschaltet zu werden, hielt aber letztlich an seinen Grundüberzeugungen fest. Wie vor ihm Ernst Bloch, einer seiner wichtigsten Mentoren, ließ er sich nicht einreden, daß der Marxismus à la Friedrich Engels lediglich eine Wissenschaft, aber keine Utopie sei.2 Und wie Bloch sah Braun in dieser Utopie eine höchst „konkrete“ Hoffnung, welcher er die Formel „Mensch / Plus Leuna mal drei durch Arbeit / Gleich Leben“ zugrunde legte,3 um nicht in den Bereich der bloßen Phantasterei zu geraten. Im Sinne 286

Volker Brauns Mein Eigentum (1990)

Blochs wollte er eine Utopie, die „sich auf das Hier und Jetzt einläßt, ohne das Fernziel eines geglückten Sozialismus aus den Augen zu verlieren“.4 In dieser Hinsicht war für ihn das Leben in der DDR noch fast ein Zustand des „Nichtgelebten“ oder „Ungelebten“,5 gegen den er immer wieder anzurennen versuchte, um endlich die legendären Steine zum Tanzen zu bringen. Wenn Hinze seinen Kunze mit zynisch-herablassender Geste gefragt hätte: „Wann kommt denn Deine Utopie?“, dann hätte dieser im Sinne Brauns sicher geantwortet: „Die kommt nie von selbst! Die kommt nur, wenn wir aufstehen und gehen!“ Bei dieser Haltung des Aufstehen- und Gehenwollens blieb Braun bis zum bitteren Ende der DDR. In der „Gefahr größester Gegenwart“, wie er schrieb, fühlte er sich als „der letzte / Oder der erste Mensch“.6 Er verstieg sich zwar manchmal ins Träumerische, aber er träumte mit „Konsequenz“, um ihn noch einmal beim Wort zu nehmen.7 Als guter Dialektiker glaubte er, mit seinen Werken, die manche seiner Mitbürger und Mitbürgerinnen im Laufe der siebziger Jahre sehr zu schätzen begannen, eine „Springprozession“ in Gang zu setzen,8 die auf dem widersprüchlichen Prinzip des „Vorrückwärts“ beruht und selbst die Kräfte des Unterbewußtseins in den Dienst einer bis auf Arthur Rimbaud zurückreichenden Kulturrevolution zu stellen versucht, wie es noch 1988 in seinem im Westen verlegten Bändchen Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie heißt.9

II Wie widersprüchlich im besten Sinne des Wortes muß ein solcher Autor die Leipziger Montagsdemonstrationen im Herbst 1989 erlebt haben. Schließlich entstand plötzlich die Chance, als der letzte Mensch zugleich der erste Mensch zu sein. Wieder einmal, wie schon 1968 in Prag, lag hier für kurze Zeit „die Macht auf der Straße“. Erneut gab es Momente mit zum Bersten angefüllter Hoffnungen, daß sich der jahrelang aufgestaute Drang ins Demokratisch-Sozialistische endlich Bahn brechen würde. Und Braun gab sich diesen Hoffnungen – trotz mancher bittereren Erfahrungen mit den bisherigen Würdenträgern des DDR-Sozialismus – geradezu rückhaltlos hin. Er wußte zwar, wie stark das „Flutlicht der westlichen Verführung“ war,10 aber er überredete sich zu einem von Woche zu Woche wachsenden Überschwang ins „Offene“ vorstoßender Erwartungen. Nach dem langen Stillstand der Dialektik schien mit einem Mal – völlig unerwartet – der „jüngste Tag“ angebrochen zu sein, wie Braun am 11. Oktober 1989 zur Eröffnung der Spielzeit des Berliner Ensembles behauptete.11 Aber er verlangte schon bei dieser Gelegenheit, sich nicht nur nach „bür287

Unerfüllte Hoffnungen

gerlicher Kost“ zu sehnen und darüber den „Hunger nach Kommunismus“ zu vergessen.12 Bei einem solchen Fehltritt könne man bald vor einem „leeren Tisch“ stehen. „Bedenkt“, sagte er in dieser Rede mit brechtschem Gestus, „daß da auch Hunger herrscht / Mit dem Mandat der Massen, Hunger nach Gerechtigkeit.“13 Wenige Tage später erklärte Braun in Budapest in einem Gespräch mit Karoly Vörös, welches am 28./29. Oktober in der Zeitung Der Morgen erschien, daß man den Bürgern und Bürgerinnen der DDR ruhig jeden „Ausflug“ über die Grenzen erlauben solle, um damit zu einer Auflockerung der inneren Verhältnisse beizutragen.14 Nur dann würde der „utopische Text“, daß der realexistierende Sozialismus auch ein freiheitlich-demokratischer sein könne, endlich „real“.15 Die staatliche Verfügungsgewalt, betonte Braun im Folgenden, müsse endlich in die Hände „gewählter Volksvertretungen“, das heißt von „Räten“, übergehen. Nur so könnten die seit langem verhärteten Verhältnisse wieder in Bewegung geraten. Statt wie die immer noch regierende Sozialistische Einheitspartei weiterhin das „Realexistierende“ zu propagieren, sei grundsätzlich falsch. Diese Partei müsse endlich ihre diesbezüglichen Fehler eingestehen und „die Gesellschaft in die geschichtliche Arbeit entlassen“. Ja, die DDR-Literatur, erklärte er in diesem Zusammenhang selbstbewußt, habe der SED diesen Kurs bereits seit langem vorgezeichnet. Aber das Volk müsse diese Chance auch erkennen, statt in einer solchen Situation „nur einen halben Schritt“ zu tun und damit lediglich „mit dem anderen Bein auf dem gleichen Fleck“ zu verharren. „Halbheiten“, warf Braun ein, kämen uns jetzt teuer zu stehen. Schließlich seien wir noch immer nicht „bei uns zuhaus“, wie es in Anlehnung an Bloch heißt. Was also „weiter wird“, solle vornehmlich im Interesse der sozialistischen Hoffnungen der „Dableibenden“ geschehen. Mit Demonstrationen allein, und wenn sich ihnen auch noch so viele Menschen anschlössen, wäre nichts gewonnen. Wenn man sich darauf beschränke, würde man die große Hoffnung wieder einmal „vertagen“ und sich einfach vom „Westen kolonisieren“ lassen. Es müsse ein „Ruck durch die ganze Gesellschaft“ gehen, ein „Ruck der Ermutigung“, um so alle bisher ungeahnten Kräfte endlich freizusetzen. Sonst, erklärte Braun wiederum brechtisierend, „wird nach uns kommen nichts Nennenswertes“.16 Und als dann die „Wende“ wirklich eintrat, schrieb Braun unter dem Titel Die Erfahrung der Freiheit am 11./12. November 1989 im Neuen Deutschland: „Wir erleben die größte demokratische Bewegung in Deutschland seit 1918 – und die Richtung geht wieder von unten nach oben.“ Die Massen hätten den „ersten Schritt“ getan, um sich vom „zentralistischen Sozialismus“ zu verabschieden. Jetzt liege es an der Regierung, den nächsten Schritt zu wagen und die 288

Volker Brauns Mein Eigentum (1990)

Staatsstruktur zu verändern. Doch haben wir die „Demokratie“ schon wirklich „gelernt“, fragte sich Braun? Ist nicht die „Macht der Mehrheit“ etwas, mit der wir noch gar nicht „umzugehen wissen“? „Wir haben jetzt viel in der Hand“, hieß es weiter, „wir können es festhalten und wir können es fallenlassen!“ Jetzt müsse sich die „Weisheit des Volkes“ bewähren, jetzt müsse es „die Führung übernehmen“. Doch das würde der Masse der Bevölkerung sicher schwerfallen. Schließlich sei „Volkseigentum plus Demokratie“ etwas, was man in der Welt noch „nirgends probiert“ habe. Erst dann könne man von der „Verfügungsgewalt der Produzenten“ sagen: „Made in GDR.“17 Das waren hochgesteckte Ziele! Und Braun gab – trotz gegenläufiger Tendenzen – keineswegs auf, weiterhin sein Räte-Konzept zu propagieren. So berief er sich am 8. Dezember im Neuen Deutschland nachdrücklich auf jenen Lew Trotzki, der eine „Partei ohne Bürokratie“ gefordert habe, um sie nicht zum „Apparat“ über der von ihr „angeherrschten Klasse“ verkommen zu lassen. Diesen „Tagtraum“ in der „geschichtlichen Dämmerung“ der frühen Sowjetunion gelte es jetzt in die Realität zu übersetzen, nachdem er im stalinistischen System lange genug verdrängt worden sei. Das Volk hebe zwar „demonstrierend den Blick nach oben“, aber denke immer noch nicht daran, jenen riskanten Aufstieg zu wagen, der endlich ins „Offene“ führen würde. Statt die „Schneelinien der kapitalistischen Großproduktion“ erreichen zu wollen, das heißt nur die Warenauslagen des Westberliner KaDeWe ins Auge zu fassen, müsse die Mehrheit der DDR-Bevölkerung möglichst schnell eine völlig andere „Gangart“ einschlagen, und zwar mit dem Ziel einer „sanfteren Technologie und einem milderen Markt“. Ansonsten würde sie bei einem „Opportunismus der Freiheit“ und damit einem Anschluß an den Westen landen.18 Ähnliche oder gleiche Äußerungen finden sich auch in anderen politischen Statements Brauns aus diesen Wochen und Monaten, wie etwa in seiner Rede auf der Veranstaltung „Was tun?“ am 3. Dezember im Ostberliner Friedrichstadtpalast oder am 12. Dezember anläßlich einer Vorlesung an der Leipziger Karl-Marx-Universität, in denen er erklärte, daß man endlich das „notwendige Bedürfnis der Massen“ nach größerer Beteiligung an der Staatsgewalt befriedigen müsse, statt sich in der Volkskammer lediglich um die Verteilung neuer Posten zu streiten. Noch sei nicht entschieden, sagte er erwartungsvoll, ob sich die Parole „Wir sind das Volk“ oder die Parole „Großdeutschland“ als die stärkere erweisen werde.19 Doch in solche Hoffnungen mischten sich schnell Bedenken. Das „geprügelte Volk“, heißt es in seiner Berliner Rede, habe zwar zu „denken begonnen“, sei sich aber nicht bewußt, daß es, wenn „es nicht tief genug denke“, 289

Unerfüllte Hoffnungen

künftig die neuen „Prügel des Kapitals“ erhalten werde.20 Ja, in Leipzig äußerte Braun bereits die Befürchtung, daß der gegenwärtige sozialistische Aufbruch ins Utopische durchaus scheitern könne, bestärkte jedoch seine Hörer und Hörerinnen immer wieder in der Hoffnung, daß mit dem „Zerfall des historischen Kommunismus“ das „Bedürfnis nach Gerechtigkeit“ keineswegs ausgesetzt habe und daher der Traum eines neuen Aufbruchs in eine nachkapitalistische Welt durchaus im Bereich des Möglichen geblieben sei.21 Den gleichen Ton schlug Braun in seiner Eröffnungsrede des Außerordentlichen Schriftstellerkongresses der DDR am 1. März 1990 an, in der er noch einmal an das Bestreben der bisherigen DDR-Literatur erinnerte, seit vielen, vielen Jahren bereits den Weg zu einem demokratischen Sozialismus vorgezeichnet zu haben.22 Doch im Laufe des Jahres 1990, als es immer klarer wurde, daß die Mehrheit der DDR-Bevölkerung einen möglichst raschen Anschluß an den Westen und damit an die D-Mark wollte, um nicht wie die Polen oder Tschechen gegen Ende der achtziger Jahre in den Zustand ärmster Verhältnisse zurückzufallen, wurde Braun zusehends verbitterter. Dafür spricht vor allem sein kurzer Prosatext Bodenloser Satz, den er im Herbst 1990 bei Suhrkamp herausbrachte. Zornig über den relativ „störungsfreien Anschluß“ der sich sang- und klanglos auflösenden DDR an die im Konsumglanz strahlende Bundesrepublik,23 die am 3. Oktober den Osten einfach schluckte, wirkt hier jeder Satz wie ein Erdrutsch ins Bodenlose. Statt danach zu streben, daß in der „ehemaligen“ DDR alles „von Grund auf anders“ werde, statt zu erkennen, was ein ungeteiltes „Volkseigentum“ bedeuten könne, statt das eigene Land endlich mit dem Gefühl des „Noch-Nicht“ zu lieben – herrsche überall der Hunger nach einem gesamtdeutschen „Supermarkt“ und damit die „Republikflucht der Utopien in die Messer der Konsumschlacht“.24 Als ihn daher das Wochenblatt Die Zeit im Oktober 1990 fragte, wie das neue Deutschland heißen solle, antwortete er: „Den Namen Bundesrepublik zu prolongieren, ist mir ein unerträglicher Gedanke, der den Anschluß festschreibt. Ich hoffe dagegen, man könne sich auch uns anschließen.“25 Auf die Frage, welches in Zukunft der höchste nationale Feiertag sein solle, erwiderte er ebenso verdrossen, das solle erst von den „glücklicheren Bürgern“ einer „Demokratie von Grund auf“ festgelegt werden.26 Ja, am Abend des 2. Oktober 1990 wandte er sich bei einer Veranstaltung im Ostberliner Maxim Gorki-Theater, die unter dem Motto stand „Hurra, du Schwarz, du Rot, du Gold“, gegen das „kapitulantenhafte Verhalten“ der meisten seiner Landsleute, welche die „Utopien eingerollt“ hätten und denen nur noch das gefalle, „was auf dem Marktplatz taugt“.27 Hier sagte er in verzweifelt-trotziger Haltung: „Wir müssen zurück bis in die Startlöcher, 290

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warum nicht gleich bis in die freie Wildbahn des Kapitalismus, wo die Freiheit am Punching-Ball trainiert wird.“28 Statt wie so viele seiner früheren Freunde lediglich zu lamentieren, sagte er bei dieser Gelegenheit mit einem Blick in die Zukunft der beiden in eins zusammengeschlossenen Deutschländer: „Wir werden unsere Differenzen zu hüten haben, den Reichtum der Unterschiede, gegen die besoffene Macht, die die Widersprüche plattwalzt.“29

III Bei einer solchen Haltung nimmt es nicht wunder, daß in fast allem, was Braun in den nächsten Jahren zu Papier brachte, der Gestus des „Nicht mehr. Noch nicht“ zusehends schwächer wurde. So gab er seinem Gespräch mit Christoph Funke, das am 21. Februar 1991 in der Zeitung Der Morgen erschien, den resig­ nativ gestimmten und zugleich bewußt provozierenden Titel Jetzt wird der Schwächere plattgewalzt. Hier sagte er: „Wir erleben jetzt den Einmarsch des Kapitalismus in eine herrenlose Gegend, die massenhafte Kollaboration mit dem Freund, der verblüfft zugleich sein wahres Gesicht zeigt. Er räumt unseren Laden aus und installiert sein bürgerliches Geschäft. Wir haben es gleich komplett und mit vollem Sortiment: Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit, das Plattwalzen der Schwächeren, Betriebe und Institute, das Bauernlegen, die parlamentarische Demagogie und, wie dazugehörig, den Krieg. Jetzt stehen wir mitten im Stoff dieses anderen Lebens. Ein herrliches, wildes, brutales Leben, wenn wir nur erst den Humor dazu haben und die wichtigste Tugend lernen, zu verdrängen, was es uns kostet und die Welt.“30 Und auch alles weitere, was Braun in den neunziger Jahren publizierte, drückt die gleiche Haltung aus, die ihm im Westen, wo man ihn wegen seiner Unvollendeten Geschichte lange Zeit als einen Widersacher des DDR-Regimes geschätzt hatte, zusehends verübelt wurde. Wohl die bekanntesten dieser verbitterten Gedichte sind jene, die im Dezember 1990 unter der Sammelüberschrift Rot ist Marlboro in der Neuen Deutschen Literatur erschienen. Vor allem das Gedicht Mein Eigentum, das mit der Zeile beginnt „Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen“, empörte viele der älteren westdeutschen Kalten Krieger. Schließlich hieß es hier in Antwort auf eine zynische Äußerung Ulrich Greiners in der Zeit vom 22. Juni 1990 „Die toten Seelen des Realsozialismus sollen bleiben, wo der Pfeffer wächst“: „Dem Winter folgt der Sommer der Begierde / Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst. / Und unverständlich wird mein ganzer Text. / Was ich niemals besaß wird mir entrissen, / Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen. / Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle. / Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle. / Wann sag ich wieder mein und meine alle.“31 291

Unerfüllte Hoffnungen

Knapper und noch komplexer hätte man eine solche Haltung kaum ausdrücken können! In den Gedichten, die Braun gleichzeitig oder kurz danach schrieb, bediente er sich dagegen eher einer Haltung des bewußt Aufreizenden, indem er sein steigendes Unwohlsein in die Metaphern eines vorgetäuschten Wohlseins einzukleiden versuchte. So heißt es unter dem Titel Das Theater der Toten: „Im übrigen bin ich der Meinung / Daß der Sozialismus zerstört werden muß, und / Mir gefällt die Sache der Besiegten.“32 Ja, das Titelgedicht dieser Sammlung Marlboro is Red, Red is Marlboro schließt mit den bewußt zum Widerspruch herausfordernden Zeilen: „Genieße, atme, iß. Öffne die Hände. / Nie wieder leb ich zu auf eine Wende.“33 Ähnliche Äußerungen finden sich in dem Gedicht Weststrand: „Jetzt hast du alles (was du nicht brauchst), atme auf“34 oder in den Strophen Verbannt nach Atlantis: „Vergiß das Bild einer anderen Welt.“35 Doch diese falsche Witzigkeit, dieses forciert Possenhafte, glückte Braun nur in Ausnahmefällen. Das belegt unter anderem sein als „Unterhaltung“ deklarierter pseudodramatischer Dialog Der Wendehals. Trotzdestonichts von 1995, wo sich ein imaginäres Ich mit einem ebenso imaginären Er über die Lebensverhältnisse in den „neuen Bundesländern“ auseinandersetzt. Auch hier wimmelt es von sarkastischen Slogans à la Heiner Müller wie: „Es ist gekommen, das nicht Nennenswerte. / Der Sozialismus geht, und Johnny Walker kommt“, „Arbeitsloser, leist dir was / Kauf dir eine Ananas“ oder „Pepsi for the New Generation“.36 Auf eine ebenso farcenhafte Weise wird auf westliche Errungenschaften wie „Erlebnisreisen“, „Schönheitskonkurrenzen“ oder „Spontanficks“ angespielt.37 Doch bei alledem wird einem nicht recht wohl. Hier begab sich Braun auf eine Stilebene, die dem Ernst seines politischen Anliegens nicht angemessen war. Überzeugender wirkt dagegen in dieser „Unterhaltung“ alles, wo von jenen „Weltanschauern oder Veränderern“ die Rede ist, welche die „zahlungsunfähige Geschichte“ ins vorläufige Nichts entlassen habe.38 „Wo ist der Morgen“ geblieben, „den wir gestern sahn?“, heißt es in diesem Zusammenhang.39 Was hat die „Treuhand der Barbaren“ mit unserem „Volkseigentum“ angestellt?40 Wir sind zwar die „Avantgarde der Niederlage“, sagt sein imaginäres Ich mit dem WirGestus der ehemaligen DDR, aber sind wir wirklich besser als jene „Opportunisten“ und „Wendehälse“, die nicht mehr fragen „Wessen Welt ist die Welt?“, sondern nur noch die Frage stellen: „Wessen Laden ist der Laden?“41 Dementsprechend läuft in den besseren Partien dieses Gesprächs alles auf jene bereits von Brechts Paul Ackermann in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny geäußerte Grundüberzeugung jedes menschlichen und politischen Ungenügens hinaus: „Etwas fehlt.“42 292

Volker Brauns Mein Eigentum (1990)

Auf diese Weise versuchte Braun, wenn auch auf eine zum Teil höchst verquere Art, weiterhin an jenen utopischen Hoffnungen festzuhalten, die fast allen seiner früheren Werke – trotz so vieler Erbitterungen und Rückschläge – ihre Größe und ihren Glanz verliehen hatten. Immer wieder, wie schon in seinen Dramen Die Kipper und Großer Frieden, beschäftigte ihn nach wie vor die Situation des „Noch-Nicht“, des Zufrühgekommenseins im Strom der unablässig weiterrollenden Geschichte. Selbst in den späten neunziger Jahren, als er sich im „Dickicht der künstlichen Wildnis des Neoliberalismus“43 bereits wie ein Fremder im eigenen Lande fühlte, was auch für andere linke Autoren gelte, die heutzutage in den herrschenden Medien ebenfalls „mit Gleichgültigkeit gestraft“ würden, gab er manche seiner bisherigen Überzeugungen nicht auf, und zwar im Gegensatz zu jenen „Germanisten“, diesen „einstigen Instandbesetzern des Sozialismus, die jetzt ihre Spuren verwischen“, wie er im Hinblick auf die ehemaligen westdeutschen Achtundsechziger nicht ohne Bitternis schrieb.44 Inmitten einer „Wegwerfgesellschaft“, wie es 1999 in seinem Gedichtband Tumulus heißt,45 wo die „Utopien“ auf den Abfallhaufen des „Unsinns“ geworfen würden, klammerte sich Braun weiterhin an jenen ideologischen Strohhalm, daß zwar innerhalb der Geschichte immer wieder ein „Stau“ eintreten könne, aber damit nicht alle neuen Durchbrüche ins „Offene“ verhindert würden. Und die Erinnerung an solche Momente der Hoffnung, ob nun das Jahr 1968, aber auch die Öffnung von 1989, müsse man ständig wachhalten, wie er 1999 in einem Gespräch mit Silvia und Dieter Schlenstedt erklärte.46 Gerade in Zeiten der Rückschläge dürfe man nicht Tote wie Lew Trotzki, Karl Radek, Che Guevara oder Salvador Allende vergessen, denen man solche Hoffnungen zu verdanken habe. Auch ältere Autoren der gleichen Gesinnung, vor allem Büchner oder Brecht, betonte er seinen Gesprächspartnern gegenüber, böten in ihren Werken weiterhin „Leitfossilien“ solcher Hoffnungen an.47 Nicht minder entschieden bekannte sich Braun in seinen Werken, die er in den Jahren danach schrieb, zu einer solchen Haltung. So publizierte er im Jahr 2004 seinen Prosatext Das unbesetzte Gebiet, in dem er, wenn auch auf eine wesentlich überzeugendere Weise als Stefan Heym, auf jene SchwarzenbergEpisode in der unmittelbaren Nachkriegszeit zurückgriff, als im noch unbesetzten Süden Sachsens die Macht für kurze Zeit „auf der Straße lag“, anstatt bereits apparathaft erstarrte Formen anzunehmen.48 Und von dieser Haltung ließ Braun auch in den darauffolgenden Jahren nicht ab. Dafür sprechen in seinem Gedichtband Auf die schönen Possen von 2005 noch immer Titel wie Die Utopie, Der Kommunismus, Die Solidarität und Karl-Marx-Stadt. Sie wurden zwar von ihm 293

Unerfüllte Hoffnungen

in eckige Klammern gesetzt, sollten aber – gerade weil sie unerfüllt blieben – auf jenes ideologische Potential hinweisen, das es nach wie vor zu bedenken gelte. Ja, angesichts der heutigen Krisen des Kapitalismus, griff er in seiner Erzählung Die hellen Haufen von 2011, wie schon in seiner Schwarzenberg-Novelle, noch einmal das Motiv einer möglichen Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse auf.49 Mit mannigfachen Rückbezügen auf die Bauernaufstände des frühen 16. Jahrhunderts, die Arbeitskämpfe kurz nach der Novemberrevolution von 1918 sowie die unerfüllten utopischen Hoffnungen von 1989 geht es hier um den Abbau jener Arbeitsstätten im Mansfelder Industriegebiet durch die nach der „Wende“ eingesetzte Treuhandanstalt, die den dortigen Arbeitern zwar die Einführung westlicher Demokratievorstellungen versprach, ihnen aber dafür den Mitbesitz an ihren bisherigen Fabriken und Bergwerken entriß – ein Vorgang, den Braun kurze Zeit später in die lapidare Formel kleidete: „Das Volk gab sein Eigentum auf und ließ sich die Freiheit aushändigen.“50 Wie beharrlich Volker Braun in all den Jahren der Nachwendezeit an seinen bisherigen Anschauungen festzuhalten versuchte, beweist vor allem der 2. Band seiner Werktage, der 2014 erschien und seine umfangreichen, an Brecht geschulten Notate aus den Jahren 1990 bis 2008 enhält. Wie erwartet, zog er dort zu Anfang vor allem gegen die Treuhandanstalt, diese „Trümmerbörse“, vom Leder, die es jedem westlichen „Eroberer“, der „die nötigen D-Mark in der Tasche hatte“, ermöglicht habe, sich „schnell etwas auszusuchen“.51 Und beschämenderweise hätten viele DDR-Bewohner das „Verschwinden ihres Volkseigentums“ keineswegs bedauert.52 Ja, die Bevölkerung in den sogenannten Neuen Bundesländern sei anschließend ebenso „pragmatisch, egozentrisch, konservativ“ geworden wie die Menschen im Westen. Auch ihr gehe es nur noch um „Besitzstände“.53 Eine „Kapitalismuskritik“ finde daher kaum noch statt, lesen wir weiter – und das trotz der vielen Arbeitslosen, Kleinverdiener und des immer größer werdenden „Prekariats“.54 „Wenn ich heute von einer neuen Wende spräche“, notierte er sich verbittert, „verstände mich niemand mehr.“55 Und doch, trotz all dieser Einsichten, daß sich der Sozialismus wieder „von der Wissenschaft zur Utopie entwickelt habe“, hoffte Braun dennoch weiter und erklärte in einem seiner besonders widerborstigen Notate: „In fünfzig Jahren werden die Archäologen nach uns graben.“56 Schließlich gehöre es zum Wesen des Kapitalismus, wie er schrieb, immer wieder in finanzielle Notlagen zu geraten, was schon die Bankkrise von 2008 beweise, als die „Blase der Spekulationsgelder“ wieder einmal geplatzt sei und ein allgemeines „Wessie-Jammern“ eingesetzt habe.57 294

Von einem gesellschaftlichen „System“ in das andere Christoph Heins Landnahme (2004)

I Nach der sogenannten Wende von 1989 hat der ehemalige DDR-Autor Christoph Hein in Gesprächen und Interviews immer wieder betont, daß er kein „Moralist“, sondern lediglich ein unbestechlicher „Realist“ sei, dem es in seinen Werken ausschließlich um eine „Bestandsaufnahme“ der vorgegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse gehe.1 Wonach er strebe, erklärte er im Februar 1991 in einem Gespräch mit Klaus Hammer, sei vor allem „Genauigkeit“ und nicht „Moral“.2 „Ich will das Publikum nicht belehren und habe wirklich keine Botschaft, ich versuche einfach nur, wie ein Chronist die Sache mitzuteilen, natürlich meinem Verständnis gemäß.“3 Allerdings ließ dabei schon der Nachsatz „natürlich meinem Verständnis gemäß“ aufhorchen. Denn ideologisch unbeteiligt wirken bereits seine frühen Dramen, Romane und Erzählungen der siebziger und achtziger Jahre keineswegs. Schon sein weitaus erfolgreichstes Werk der Vorwendezeit, die Novelle Der fremde Freund (1982), ist alles andere als das Werk eines unbeteiligten Erzählers, sondern läßt sich in seiner Darstellung der alltäglichen Entfremdung innerhalb des selbstgefälligen Berufslebens der Honecker-Ära des angeblich „realexistierenden Sozialismus“ durchaus als eine Warnung lesen, nicht einem parasitären Subjektivismus zu huldigen, sondern auch das Große und Ganze der sozioökonomischen Verhältnisse im Auge zu behalten.4 Und für diese Haltung spricht auch Heins Verhalten während der folgenreichen Tage Anfang November 1989, als die DDR ihrem Untergang zueilte.5 So lobte er zwar in seiner am 4. November dieses Jahres – neben Heiner Müller und Christa Wolf – gehaltenen Rede auf dem Ostberliner Alexanderplatz die mutigen Bürger der Stadt Leipzig, in ihren Montagsdemonstrationen gegen gewisse diktatorische Maßnahmen der DDR-Regierung aufbegehrt zu haben, sprach sich aber ebenso nachdrücklich gegen einen bedenkenlosen Anschluß an den kapitalistischen Westen aus.6 Ja, er unterzeichnete sogar kurz darauf den von Christa Wolf entworfenen Appell Fassen Sie Vertrauen!, der am 9. November im Neuen 295

Von einem gesellschaftlichen „System“ in das andere

Deutschland erschien und in den Sätzen gipfelte: „Helfen Sie uns, eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die auch die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt. Kein Traum, wenn Sie mit uns verhindern, daß er wieder im Keim erstickt wird. Wir brauchen Sie. Fassen Sie zu sich und zu uns, die wir hierbleiben wollen, Vertrauen.“7 Ja, Hein erklärte in einem am 2./3. Dezember im Neuen Deutschland abgedruckten Interview ausdrücklich: „Es ist uns jetzt die große Chance gegeben, auf deutschem Boden erstmals wirklich den Sozialismus aufzubauen.“ Allerdings befürchtete er schon zu diesem Zeitpunkt, daß sich „ein großer Teil der Bevölkerung“ für „ein solches Experiment“ nicht mehr „aufraffen“ würde.8 Und als genau das eintraf, das heißt die Verlockung der westlichen Entertainment- und Konsumwelt die Hoffnung auf einen anderen, besseren Sozialismus schnell verblassen ließ, gab er seine bis dahin gehegten Illusionen allmählich auf. Als er darum Anfang 1991 gefragt wurde, welche ideologische Haltung er jetzt – nach der relativ reibungslosen Wiedervereinigung der beiden Deutschländer – vertrete, erklärte er unter Bezugnahme auf die Minima moralia Theodor W. Adornos: „Die Ideale sind desavouiert, die Botschaften verschlissen, das Leben scheint ein falsches, leeres und auswegloses.“9 Doch selbst angesichts dieser Situation zog er sich in den frühen neunziger Jahren nicht in irgendeinen ästhetisch verbrämten Schmollwinkel zurück oder gab sich, wie so viele andere, als Wendehals aus, sondern versuchte, sich eine gewisse „Gelassenheit“ zu bewahren. Er sah bereits damals genau, daß der allerorten mit viel Brimborium gefeierte 3. Oktober 1990, der Tag der endgültigen Wiedervereinigung Deutschlands – angesichts der vielen Fabrikschließungen, der rapide einsetzenden Arbeitslosigkeit und der steigenden Kriminalität – für die Bewohner der ehemaligen DDR nicht nur einen uneingeschränkten Segen bedeuten würde. Deshalb entschied er sich, auch in der Folgezeit weiterhin ein unbestechlicher Chronist der sozioökonomischen Verhältnisse zu bleiben und faßte wie kaum ein anderer vor allem die sich aus den neuen Eigentumsverhältnissen ergebenden Finanz- und Lebensbedingungen ins Auge. Und zwar gab er sich dabei in seinen öffentlich geäußerten „Statements“, wie man das jetzt nannte, weiterhin als ein Chronist jener Zustände aus, wie sie nun einmal eingetreten seien, verhehlte aber dabei keineswegs, worin er die Nachteile der sich grundlegend veränderten Besitzverhältnisse in den sogenannten Neuen Bundesländern sah. Dafür sprechen unter anderem sein im Jahr 2000 erschienener Roman Willenbrock und dann vor allem der vier Jahre später publizierte Roman Landnahme.

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Christoph Heins Landnahme (2004)

II Der Roman Willenbrock spielt ausschließlich in der Nachwendezeit. Sein gleichnamiger Protagonist war ursprünglich „Ingenieur einer Bankrott gegangenen Fabrik für Rechenmaschinen“ in der ehemaligen DDR, dem es in den neunziger Jahren gelingt, sich zum „erfolgreichen Besitzer eines unaufhörlich prosperierenden Gebrauchtwagenhandels“ zu mausern.10 Besonders der Verkauf von frisierten Oldtimern, für die sich vor allem Russen und Polen interessieren, erweist sich als ein „gutes Geschäft“.11 Deshalb kann er es sich schon nach wenigen Jahren leisten, nicht nur einen mit allen modernen Gadgets ausgestatteten Autohof errichten zu lassen, sondern auch ein Landhaus zu erwerben und seiner Frau den nötigen Vorschuß zu geben, eine mehr oder minder einträgliche Modeboutique zu gründen. Was sich inzwischen in Osteuropa abspielt, erfahren wir vor allem aus Gesprächen Willenbrocks mit einem seiner russischen Geschäftspartner, dem Auto- und Waffenhändler Krylow, der ihm erzählt, daß dort „die armen Leute noch ärmer geworden“ seien, während die „Reichen, wie heutzutage überall in der Welt“, etwas zugelegt hätten, was der sich bereichernde Krylow als völlig normal empfindet.12 Während „damals“, wie es im Hinblick auf die ehemalige Sowjetunion heißt, noch „Ordnung“ geherrscht habe, ja es „Brot und Arbeit für alle“ gegeben habe, sei jetzt dort wieder der scheinbar nicht aufzuhebende Zustand des Besitzen- und Unterdrückenwollens eingekehrt.13 Allerdings fühlt sich Willenbrock trotz seiner neuen Vermögenslage keineswegs wohl. Nicht nur die gesteigerte Kriminalität, das heißt die ständigen Einbrüche und Diebstähle, bedrücken ihn, auch der sich im rein Geschäftlichen erschöpfende Leerlauf seines Lebens in der westlichen Konsumwelt wirkt sich negativ auf ihn aus. Schließlich gibt es in dieser Welt kein Fortschrittsbewußtsein, keine Solidarität, kurzum: keine Ideale mehr, sondern nur noch Versicherungsprobleme, Marketingstrategien, Kontoabschlüsse und Steuersorgen. Um sich davon abzulenken, bleiben Willenbrock nur die allerorten angepriesenen „Hobbys“ übrig,14 die ihn jedoch eher langweilen als die erwünschten Abwechslungen bieten. Selbst einige Abstecher in das sich überall ausbreitende Prostituiertenmilieu verschaffen ihm nicht die erhofften Ersatzbefriedigungen. Und so endet das Ganze genau so trist, wie es angefangen hat. Wie erwartet, wußten die neudeutschen Rezensenten mit diesem Roman wenig anzufangen. Sie hatten sich von Hein eher ein Anti-DDR-Buch erhofft und nicht eine so alltägliche „Bestandsaufnahme“, in der es vor allem um Vermögensverhältnisse geht. Dorothea Dieckmann bemängelte daher die „dokumentarische Schlichtheit“ des Ganzen, die kein tiefer gehendes „Psychogramm“ 297

Von einem gesellschaftlichen „System“ in das andere

enthalte.15 Auch Gustav Seibt fand diesen Roman eher langweilig und lobte lediglich die „düster-schwarze, kalt-glänzende Poesie“ von Heins Willenbrock, beschränkte sich also auf eine ästhetische Würdigung.16 Nur Agnes Hüfner fand, daß dem Ganzen ein gesellschaftlicher „Subtext“ zugrunde liege, wie es leicht verschlüsselt heißt, „den der Leser zu ergänzen geradezu gezwungen werde“. Und dieser Subtext bringe schließlich die in ihm geschilderten wirtschaftspolitischen Verhältnisse zum Tanzen, indem er ihnen ihre „eigene Melodie“ vorspiele.17 Doch auch Heins Roman Landnahme, obwohl er wesentlich vielfiguriger ist, einen größeren Zeitraum umfaßt und erzählerisch interessanter wirkt, fand in der neuen Bundesrepublik keine besonders lobende Zustimmung. Die meisten Rezensenten hatten sich von diesem Werk endlich den großen „Wenderoman“ erwartet, in welchem sich Hein nachdrücklich von dem allerorts verschrieenen „Unrechtsstaat“ DDR distanzieren würde. Und was wurde ihnen vorgesetzt? Wiederum eine recht düstere „Bestandsaufnahme“ der in der ehemaligen DDR sowie der neuen Bundesrepublik herrschenden sozioökonomischen Verhältnisse, welcher nicht das erwünschte Prinzip „Per aspera ad astra“ zugrunde lag, sondern in der lediglich der Wandel eines negativ gesehenen Staats in einen anderen, ebenso negativ gesehenen Staat nachgezeichnet wurde. Abermals ging es auch in den zentralen Partien dieses Romans lediglich um systembezogene Besitzverhältnisse statt um irgendwelche sich endlich erfüllende Freiheitshoffnungen. Und das fanden die meisten, die eher positiv gesehene Wandlungsprozesse oder zumindest psychologische Ergründungen erwartet hatten, wegen der sie langweilenden Berufs- und Eigentumsprobleme weitgehend „dröge“. So erklärte etwa Kristina Maidt-Zinke, daß das Ganze einfach zu „zäh“ wirke, da es in seinen detaillierten Milieuschilderungen in einem „grauen Mittelmaß“ und damit „dumpfen Dunst“ verharre, der einen an beziehungsreiche Dialogen und ästhetische Raffinements gewöhnten Leser notwendig anöde.18 Martin Krumholz bemängelte in seiner Rezension, daß trotz der Multiperspektivität des Erzählverlaufs dieser Roman viel zu „länglich“ ausgefallen sei und deshalb ermüdend wirke, ohne näher auf die in ihm geschilderten sozioökonomischen Veränderungen aus dem einen politischen System in das andere einzugehen.19 Auch Ursula März lobte lediglich die geschickte „Rondokomposition“ des Ganzen sowie die Fähigkeit des Autors, die dargestellte „Alltagswelt“ mit den Mitteln einer „Ästhetik der Unauffälligkeit“ wiedergegeben zu haben, was sie als die eigentliche „Stärke“ dieses Autors bezeichnete. Daß dabei manches an Uwe Johnson und Bertolt Brecht erinnere, fand sie dagegen weniger lobenswert.20 Ina Hartwig fühlte sich dagegen bei der Lektüre dieses Werks fast an die Dimen298

Christoph Heins Landnahme (2004)

sionen einer „griechischen Tragödie“ erinnert, während sie die in ihm vorkommenden Charaktere – unter poetologischer Perspektive – an Jean de La Bruyère gemahnten.21 All das wirkt – genauer besehen – eher beiläufig. Daß es sich bei diesem Buch um einen eminent politischen Roman handelt, kam in fast keiner der damals erschienenen Rezensionen zur Sprache. Ja, wenn es in ihm um den unrühmlichen Untergang der DDR und die endlich erreichte „Freiheit“ im wiedervereinigten Deutschland gegangen wäre, hätte Heins Landnahme sicher eine wesentlich größere Zustimmung gefunden. Doch darum ging es Hein in diesem Roman, obwohl er genau in dem betreffenden Zeitraum spielt, letztlich gar nicht, sondern nur in einem höchst verqueren, ja zum Teil geradezu widerläufigen Sinn. Sein in der DDR großgewordener Bernhard Haber, der Protagonist des Ganzen, gibt sich in seinen jungen Jahren weder als ein überzeugter Sozialist noch später als ein opportunistisch gesinnter Wendehals oder sich irgendwelchen Ostalgiegefühlen hingebender PDSler aus, sondern ist von vornherein ein lediglich an seinem beruflichen Fortkommen interessierter „kleiner Mann“. Zu Anfang geht es ihm in erster Linie um die ostdeutsche Mark und nach der Wende in erster Linie um die westdeutsche Mark, um sich sowohl in dem einen als auch in dem anderen System ein erträgliches Dasein zu verschaffen. Er wird zwar in seiner Schülerzeit und auch noch danach als schlesischer Umsiedler von den Bewohnern einer kleinen DDR-Stadt als Fremder empfunden, versteht aber danach, sich relativ gut durchzusetzen und weiß sich schließlich in der Honecker-Ära und der sich daran anschließenden Kohl-Ära durchaus die nötigen Moneten zu ergattern. Das „Politische“ ist ihm – wie fast allen „kleinen Leuten“ – relativ schnuppe. Er verschreibt sich keiner Ideologie oder erhofft sich irgendwelche staatlichen Segnungen. Als ein Normalmensch ohne höhere Ambitionen ist es ihm letztlich gleich, in welchem gesellschaftlichen System er lebt. Er will lediglich existieren – weiter nichts. Und das macht ihn in vieler Hinsicht durchaus repräsentativ für das Verhalten all jener „kleinen Leute“, deren Gesichtskreis kaum über das eigene Ich hinausgeht.

III Doch bleiben wir nicht länger im Allgemeinen oder gar Klischeehaften stecken, sondern gehen wir etwas detaillierter auf den von Christoph Hein höchst geschickt erfundenen Lebenslauf jenes Bernhard Haber ein, der in den fünfziger Jahren in der DDR beginnt und in den neunziger Jahren in der Nachwendezeit endet. Habers Erlebnisse und Aktivitäten werden zwar nicht im Sinne älterer Geschichts299

Von einem gesellschaftlichen „System“ in das andere

oder Entwicklungsromane dargestellt, lassen aber dennoch kaum irgendeine Phase des historischen Ablaufs zwischen 1950 und 1995 aus. Und zwar erfahren wir vom Leben dieses Mannes aus der Perspektive von fünf verschiedenen IchErzählern und -Erzählerinnen, drei Männern und zwei Frauen, die fest davon überzeugt sind, Bernhard Haber genau gekannt zu haben. Allerdings wird mit einer derartigen Polyperspektivität keine bewußte „Verrätselung“ dieses Mannes, sondern lediglich eine Erweiterung seines gesellschaftlichen Umfelds angestrebt. Zwei der Männer sind ehemalige Schulkameraden Bernhards, der andere ist einer seiner späteren Geschäftsfreunde, die eine Frau ist seine erste Freundin, die andere seine Schwägerin. Und dadurch werden sowohl seine Schulzeit, sein familiäres Milieu, seine ersten Liebeswirren und die darauf folgenden Geschäfts­ praktiken Habers so beziehungsreich wie nur möglich mit seinem Lebenslauf verbunden. Im Einzelnen spielt sich das Ganze folgendermaßen ab. Wie bereits gesagt, um 1950 kommen die Habers als schlesische Umsiedler in der Kleinstadt Guldenberg in Nordsachsen an, wo sie als „Fremde“ nicht gerade freundlich empfangen werden. Vater Haber hat im Krieg seinen rechten Arm verloren, versucht aber dennoch – mehr schlecht als recht – seinen früheren Beruf als Tischler auszuüben. Die ersten drei Jahre müssen die Habers in zwei Dachkammern einer Scheune des Großbauern Griesel hausen und obendrein, ohne dafür bezahlt zu werden, auf seinen Feldern arbeiten. Viele der alteingesessenen Familien Guldenbergs sehen in ihnen, wie auch in den anderen Umsiedlern, lediglich „Zigeuner“ oder „Polacken“.22 Ja, ihnen besonders feindlich Gesinnte stecken sogar die Tischlerei Habers in Brand, um ihn auf diese Weise zu zwingen, ihren Ort wieder zu verlassen. Der gleichen Haltung sieht sich der junge Bernhard in der Schule ausgesetzt. Alle anderen Schüler hänseln ihn und töten schließlich sogar seinen von ihm über alles geliebten Hund Tinz. Und so bleibt Bernhard ein Außenseiter, der kaum irgendwelche Kontakte zu anderen Menschen hat. Nach der achten Klasse beginnt er eine Tischlerlehre und sinnt im Geheimen auf Rache. Und diese Chance bietet sich ihm, als im Zuge der landwirtschaftlichen Kollektivierung innerhalb der DDR auch die Guldenberger Großbauern immer stärker unter Druck gesetzt werden, ihren Besitz aufzugeben und sich den vom Staate geförderten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, kurz: den LPGs, anzuschließen. Obwohl Bernhard, wie fast alle Kleinbürger dieser Stadt, an „Politik und Zeitungsmeldungen“ völlig uninteressiert ist (93), schließt er sich vorübergehend einer Gruppe „fortschrittlicher Kräfte“ an (94), welche sich mit Agitprop-Parolen für das neue 300

Christoph Heins Landnahme (2004)

Genossenschaftswesen einsetzen, um so den Bauern Griesel, der immer „weniger Dünger und Saatgut“ vom Staat erhält (91), endlich zum Verzicht auf seine Eigentumsrechte zu zwingen. Daher gilt auch Bernhard – im Zuge dieser Propagandaaktionen – plötzlich als „fortschrittlich“, wenn nicht gar als „dunkelrot“ (138). Sogar seiner apolitisch eingestellten Freundin Marion Demutz gegenüber erklärt er heuchlerisch: „Wir sind im Einsatz für eine Genossenschaft. Wir wollen die Bauern überzeugen, daß sie eintreten. Das ist besser für sie und für uns alle“ (143). Darauf trennt sich Marion von ihm, ohne zu ahnen, daß er an dieser Aktion nur aus ressentimentbetonten Motiven teilgenommen hat. Und damit endet die erste der in diesem Roman beschriebenen „Landnahmen“, ohne daß damit irgendein ideologisches Pathos verbunden würde. Anschließend zieht Bernhard Haber nach Ostberlin um. Die Tischlerei hat er inzwischen aufgegeben, wie wir fast beiläufig erfahren, und ist ein wohlverdienender Schausteller auf Jahrmärkten geworden. Doch das meiste Geld scheint er mit anderen „Geschäften“ zu verdienen (230). Worum es sich dabei handelt, erfahren wir erst nach einer Reihe von Andeutungen. Schließlich spielen sich diese Machenschaften im Bereich des Kriminellen ab. Es geht hierbei nämlich um Menschenschmuggel aus der DDR in die Bundesrepublik, ob nun in besonders dafür eingerichteten Autos oder durch bestimmte geheimgehaltene Tunnelsysteme, also Aktionen, die sich manche Leute viel Geld kosten lassen, da sie hoffen, im Westen einen besser bezahlten Job oder eine höhere Rente zu bekommen. Ja, Bernhard Haber beteiligt sogar einen ehemaligen Schulfreund, den Automechaniker Peter Koller, an diesem Geschäft, der darauf bei diesen Unternehmungen ebenfalls „eine ganze Stange Geld“ einkassiert (253). Vor allem nach dem im Herbst 1961 erfolgten Mauerbau, als diese Schmuggelei nur noch durch unterirdische Kanalisationssysteme möglich ist, verdienen beide „das Fünffache der bisher üblichen Summe“ (258). Alles wird zwar gefährlicher, aber „die Verlockung, weiterhin so leicht und so schnell Geld zu verdienen, war stärker als meine Angst“, erklärt Koller nach einer dieser Transitunternehmungen (261). Doch schließlich wird Koller von der Volkspolizei geschnappt und zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, während es Bernhard Haber gelingt, in der Anonymität unterzutauchen. Im vierten Kapitel erfahren wir, daß Haber wieder nach Guldenberg zurückgekehrt ist. Er hat inzwischen sein Karussellgeschäft und seine Schlepperdienste, die ihn zu einem reichen Mann gemacht haben, aufgegeben und gründet dort eine Tischlerwerkstatt. Da er sich aufgrund seines Vermögens die modernsten Maschinen leisten kann, wird er schnell zu einer der „wichtigsten Personen in 301

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dieser Stadt“, wo in den Honecker-Jahren im Rathaus „nichts mehr entschieden wird, ohne ihn vorher gefragt zu haben“ (322). Im folgenden Kapitel, das aus der Perspektive eines ortsansässigen Sägewerkbesitzers erzählt wird, der sich in den damals herrschenden Geschäftspraktiken gut auskennt, hören wir, daß Haber inzwischen die wichtigste Tischlerei des Orts sein eigen nennt, worauf er nicht nur in den angesehenen Kegelklub, sondern sogar in den noch einflußreicheren Klub der führenden Geschäftsleute Guldenbergs, der sich „Die zwölf Aufrechten“ nennt, aufgenommen wird. Ja, er erwirbt sogar jene Villa, die als das am „besten restaurierte Gebäude in ganz Guldenberg“ gilt (349), was sich ebenfalls als eine „Landnahme“ innerhalb dieses Romans deuten läßt. Haber wird zwar im Zuge der darauf folgenden Kollektivierungsmaßnahmen enteignet, bleibt aber weiterhin Leiter seines früheren Betriebs, den er ständig vergrößert, und erhält zudem „genügend Aufträge unter der Hand“ (355), die er nicht zu versteuern braucht. Er und seine Freunde akzeptieren diese Vorgänge mit unerschütterlicher Gelassenheit und finden die herrschenden Verhältnisse durchaus „normal“ (368). „Es gab sogar ein paar kleine Verbesserungen für uns Geschäftsleute“, heißt es in diesem Zusammenhang, „unsere Beschwerden wurden ernst genommen, und drei aus unserem Klub wurden Mitglieder der Stadtvertretung und konnten dort die dümmsten Dummheiten verhindern“ (368). Doch dann kommt es im Spätherbst 1989 plötzlich überraschenderweise zu den bekannten Ereignissen in Leipzig und Berlin. „Die Parteileute und die Polizei verkrochen sich“, berichtet der letzte der fünf Erzähler, „die Leute liefen auf die Straße und gebärdeten sich, als ob gebratene Ferkel durch die Luft flogen“. Ja, in Guldenberg bilden sich sogar „sogenannte Bürgerforen“, in denen ein paar „aufgeregte Lehrer, einige Mitglieder des Gemeindekirchenrates und ein paar jugendliche Schreihälse das Wort führten“ (369). Doch die Mitglieder des Kegelklubs nehmen an alledem nicht teil. „Sie hatten zu viel kommen und gehen sehen“, lesen wir, „als daß sie vor Entzücken gleich den Verstand verloren, wenn ein paar Schreimätze, die noch grün hinter den Ohren waren und keinerlei Erfahrungen mit politischen Versprechungen und der dann folgenden Realität hatten, wilde Reden von sich gaben. Wir alle ließen uns jedenfalls nicht von der Begeisterung mitreißen, die die Stadt und das ganze Land offensichtlich erfaßt hatte, sondern blieben ruhige Beobachter“ (369). Nach diesen Ereignissen, auf die im Folgenden nicht näher eingegangen wird, geht alles den erwarteten kapitalistischen Gang. Die Mitglieder des Kegelklubs bekommen von der Treuhandanstalt ihre früheren Besitztümer zurück und sorgen dafür, daß ihnen keine neuen Konkurrenten ins Gehege kommen. Beson302

Christoph Heins Landnahme (2004)

ders Habers Freund Sigurd Kitzerow, der Kiesgrubenbesitzer des Ortes, wird in der Folgezeit zum steinreichen Mann. Und zwar hilft ihm dabei ein geschäftstüchtiger Onkel aus dem Westen, der ihn in das kapitalistische Kreditsystem einführt. Kitzerow verursachen zwar die drei Millionen Westmark, die er plötzlich der örtlichen Sparkasse schuldet, viele schlaflose Nächte, aber der ihm gewährte Kredit befähigt ihn, eine Straßenbaufirma zu gründen, mit der er sich – aufgrund seiner Kiesgruben – bald eine Monopolstellung in der nordsächsischen Provinz verschafft. Auch Haber bleibt in dieser „Goldgräberzeit“, wie es ausdrücklich heißt (375), nicht untätig. Nachdem er wieder Alleinbesitzer seiner Tischlerei geworden ist, nimmt er ebenfalls einen Kredit bei der Bank auf und gründet als Zweitgeschäft eine Lieferfirma für Heizöl. Wie Kitzerow gehört auch er weiterhin zu dem besagten Kegelklub, der sich zu einer Art Industrie- und Handelskammer entwickelt, von der alle weiteren Entscheidungen in Guldenberg abhängen. Und dadurch bekommt der Begriff „Landnahme“, der dem Ganzen vorangestellt ist, noch eine weitere Bedeutung. Nach der Lektüre der ersten hundert Seiten dieses Romans glaubte man, daß damit die polnische Besiedlung der früheren deutschen Ostgebiete und das darauf folgende allmähliche Heimischwerden der schlesischen Umsiedler in der DDR gemeint war. Dann dachte man, daß damit auf die Kollektivierung der Landwirtschaft angespielt werden sollte. Doch auf den letzten fünfzig Seiten hat man plötzlich das Gefühl, daß mit dem Begriff „Landnahme“ zugleich und vielleicht sogar noch nachdrücklicher die Schließung der ehemals volkseigenen Betriebe und Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften gemeint ist, welche die am 17. Juni 1990 von westlicher Seite eingerichtete Treuhandanstalt, der 90 Prozent aller Betriebe und 1,9 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Nutzflächen unterstellt wurden, entweder an ihre früheren Besitzer zurückgab oder meistbietend verschacherte.

IV Daher schließt dieser Roman mit einem betont „spießig“ wirkenden Karnevals­ umzug, bei dem es nicht zu der erwarteten Ausgelassenheit kommt, die man von den Teilnehmern eines solchen Festes eigentlich erwartet hätte. Es gibt zwar einige Kostüme zu sehen und es wird auch Bier ausgeschenkt, aber die Stimmung bleibt muffig. Man fühlt sich fast in das Reich des ewigen Methusalem versetzt, so trist und unveränderlich wirkt alles. Und das fanden, wie gesagt, viele Leser und Leserinnen dieses Romans reichlich uninteressant, wenn nicht gar „dröge“. Doch was hatten sie von einem sogenannten Wenderoman eigentlich erwartet? 303

Von einem gesellschaftlichen „System“ in das andere

Etwas Aufheiterndes oder gefühlsmäßig Erschütterndes? Damit werden sie bei Hein nicht bedient. Er bleibt auch in diesem Roman, der er immer war: ein nüchterner Beobachter, der vor allem die Eigentumsverhältnisse und die sich daraus ergebenden Lebensbedingungen ins Auge faßt. Und bei einer solchen Sicht, die sich nicht von utopisch erhofften Idealen blenden läßt, ergibt sich nun einmal kein erfreuliches Ergebnis. Nach dem gescheiterten Experiment des Sozialismus in der DDR, nämlich das ältere, ungezügelte Besitzverlangen durch die Vorstellung des Gemeineigentums zu ersetzen, sieht er verstört und deprimiert zugleich, wie ungehemmt in den erneut eingeführten Verhältnissen des Kapitalismus jenes Habenwollen des Finanzwesens herrscht, das selbst in der Welt des realexistierenden Sozialismus nur mühsam zu unterdrücken war. Und zwar läßt er sich dabei nie von irgendwelchen allgemein-menschlichen Vorstellungen leiten, sondern variiert dieses Grundthema – je nach den verschiedenen gesellschaftlichen Systemen – so konkret wie nur möglich, indem er dabei weder die politischen noch die sozioökonomischen Voraussetzungen aus dem Auge verliert. Viel Hoffnung ist daher von einem Autor wie Hein nicht zu erwarten – aber genügend Wachsamkeit, nicht an jene Ideologien zu glauben, die uns weismachen wollen, daß es letztlich nur auf den guten Willen und nicht auf das „liebe Geld“ ankommt.

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Die Wettbewerbsgesellschaft der New Economy Ernst-Wilhelm Händlers Wenn wir sterben (2002)

I Wenn um die Jahrhundertwende in weiten Bereichen der Welt von Deutschland die Rede war, wurde meist – ob nun bewundernd oder neidisch – die wirtschaftliche Stärke dieses Landes herausgestellt. Schließlich war die Bundesrepublik nicht nur der bevölkerungsreichste Staat innerhalb der sogenannten Eurozone, sondern hatte sich aufgrund seiner hochspezialisierten Industrie obendrein zu einem der wichtigsten Exportländer der Welt entwickelt, was seinem Wirtschaftsgefüge ein Profitvolumen und eine sich daraus ergebende ökonomische Stabilität verlieh, mit denen sich kein anderer europäischer Staat vergleichen konnte. Was man zu diesem Zeitpunkt als wirtschaftliche Globalisierung bezeichnete, hatte daher diesem Land – im Gegensatz zu vielen anderen Staaten der Welt – nicht geschadet, sondern eher genützt. Es erweiterte ständig seine Infrastruktur, es unterstützte das heimische Entrepreneurwesen, es zog die Fachkräfte aus zahlreichen ökonomisch angeschlagenen Ländern an, es investierte Milliarden von Euros in fast allen Ländern der Welt, es trat bei allen internationalen Wirtschaftskonferenzen mit steigendem Selbstbewußtsein auf, kurzum: es gab sich wieder – wie schon vor dem Ersten Weltkrieg oder gegen Mitte der zwanziger Jahre, als es in der Weltrangliste der führenden Industrienationen den zweiten Platz einnahm – als eine nicht zu übersehende Wirtschaftsmacht aus. Während es in den fünfziger Jahren, das heißt der Zeit des Erhardschen „Wirtschaftswunders“, als die westdeutsche Industrie mit Hilfe der Vereinigten Staaten erneut angekurbelt wurde, noch hieß „Wir sind wieder wer“, erklärten jetzt die führenden Meinungsträgerschichten dieses Landes eher „Wir sind wesentlich stärker als die anderen“. Und zwar stellte sich dabei – im Zuge der steigenden Rolle, welche die USA als die führende Weltmacht auf militärischem und wirtschaftlichem Gebiet spielt – meist das Schlagwort der New Economy ein, mit dem man die unvermeidliche Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems in einem 305

Die Wettbewerbsgesellschaft der New Economy

progressionsbetonten Sinne zu überblenden versuchte. Schließlich hatte die verschärfte Wettbewerbssituation auf dem Weltmarkt auch in diesem Land – durch die fortschreitende Automation der industriellen Produktion sowie die Auslagerung wichtiger Konzerne in ökonomisch schwächere Länder, wo die Lohnkosten wesentlich geringer waren – zu einer nicht zu übersehenden Arbeitslosigkeit, ja zur Verarmung des unteren Drittels der Bevölkerung geführt. Ja, der Unterschied zwischen arm und reich wurde daher selbst in Deutschland, wie in allen hochindustrialisierten Ländern der Welt, in den letzten Jahrzehnten eher größer als kleiner. Was einmal als „Soziale Marktwirtschaft“ ausgegeben wurde, die allen Bürgern und Bürgerinnen eine abgesicherte Existenz versprach, wich demzufolge auch in diesem Land weitgehend einer „Freien Marktwirtschaft“, wofür sich Begriffe wie Neoliberalismus, Postfordismus, Risikogesellschaft, Finanzkapitalismus, New Management oder New Economy einbürgerten, die von den systemkonformen Medien als durchaus positiv und damit zukunftsweisend ausgegeben wurden, während kritische Stimmen kaum noch eine Chance hatten, dagegen anzukommen. „Geht es nicht Deutschland – im Vergleich zu den meisten anderen Ländern der Welt – wirtschaftlich wesentlich besser?“, hieß es in vielen Publikationen dieses Landes immer wieder. „Haben nicht alle kommunitaristischen oder sozialistischen Alternativkonzepte zu der jetzt herrschenden Wirtschaftsordnung jämmerlich versagt?“ Aufgrund dieser Einstellung verbreitete sich in der BRD eine Status-quo-Gesinnung, die von der Mehrheit der Bevölkerung einfach hingenommen wurde. Daher nahmen sogar ökologische Bedenken gegen die fortschreitende Überindustrialisierung Deutschlands zusehends ab. Und auch soziale Forderungen, von kleineren Zugeständnissen wie in der Frage des Mindestlohns einmal abgesehen, scheiterten meist an der übermächtigen Parlamentsmehrheit aus CDU/CSU und SPD.

II Selbst auf seiten der Literatur oder des Fernsehens wurden demzufolge irgendwelche kritischen Stimmen immer seltener. Auch in diesen Regionen setzte sich die New Economy mit ihren ausschließlich profitbetonten Marketingstrategien in der sogenannten Nachwendezeit geradezu flächendeckend durch. Zugegeben, es gab in diesem Umkreis immer noch Werke oder Sendungen, die sich – im Rückgriff auf die Vergangenheit – weiterhin in politischer Hinsicht mit den „judenfeindlichen Auswirkungen“ des Nazifaschismus oder der „stalinistischen Kommandogesellschaft“ der DDR beschäftigten. Das bewies zwar ein historisches 306

Ernst-Wilhelm Händlers Wenn wir sterben (2002)

Bewußtsein, trug aber wenig dazu bei, sich mit den immer dringlicher werdenden Problemen der ins Globalisierende ausgeweiteten kapitalistischen Wettbewerbswirtschaft auseinanderzusetzen. Es erschienen deshalb, von einigen Migrantenromanen oder Dramen wie Das Recht auf Arbeit (1999) und McKinsey kommt (2004) von Rolf Hochhuth einmal abgesehen, kaum noch literarische Werke, die darauf eingingen, was sich hinter den Kulissen der angeblichen Wohlstandsgesellschaft der BRD abspielte. Wenn Krisenhaftes geschildert wurde, blieb es meist im Rahmen des Individuellen, das heißt im Bereich privater Beziehungskisten, angespannter Familienbeziehungen, erotischer Selbstrealisierungsbemühungen oder krimineller Aktivitäten. Die herrschende Geschäfts- und Arbeitswelt, welche die materielle Voraussetzung all dieser interessant herausgeputzten „Stories“ bildete, kam dagegen selten oder nie in den Blick. Während in der BRD der sechziger und siebziger Jahre – im Zuge basisdemokratischer Bewegungen, wie der Gruppe 61 oder den Werkkreisen Literatur der Arbeitswelt – auch Probleme der unteren Klassen aufgegriffen wurden, herrschte stattdessen, wie in der Literatur des 19. Jahrhunderts, wieder eine spezifisch mittelständische Perspektive vor. Über die sogenannten Werktätigen, wie es einmal hieß, schwieg man sich dagegen in diesen Bereichen weitgehend aus. Zugegeben, diese Schichten waren zwar im Zuge der industriellen Automation und der Ausweitung des Dienstleistungsgewerbes zahlenmäßig geringer geworden, aber sie waren immer noch da, wenn sie sich auch – aufgrund der ideologisch einlullenden Wirkung des alles überflutenden Medienbetriebs – weitgehend in jenem Zustand befanden, der früher wegen seiner unrevolutionären Gesinnung einmal als „falsches Bewußtsein“ galt. Falls daher in der Literatur dieser Jahre überhaupt noch Fragen der industriellen Arbeitswelt behandelt wurden, dann nicht mehr im Hinblick auf die Arbeiterschichten, sondern lediglich im Hinblick auf die leitenden Angestellten- oder Managerkreise.1 Und selbst das geschah, wie gesagt, selten genug. Um wenigstens auf einen Autor einzugehen, der sich mit den Problemen der New Economy auseinandergesetzt hat, sei im Folgenden auf Ernst-Wilhelm Händlers umfangreiches Romanwerk der letzten 20 Jahre eingegangen, dessen im Jahr 2002 erschienener Roman Wenn wir sterben, trotz der verbreiteten Scheu vor solchen Themen, dennoch einiges Aufsehen erregte.

III Wer ist denn dieser Händler, werden selbst manche der mit der deutschen Gegenwartsliteratur durchaus vertrauten Leser und Leserinnen fragen? Und was soll 307

Die Wettbewerbsgesellschaft der New Economy

uns ein Roman, in dem es lediglich um die Widerspiegelung der heute herrschenden Geschäftsverhältnisse geht? Gehören dazu nicht besondere Vorkenntnisse auf wirtschaftstheoretischem Gebiet, über die letztlich nur Betriebswissenschaftler, aber nicht die literaturinteressierten Schichten verfügen? Nun, Händler ist nicht nur ein Romancier, sondern zugleich ein Unternehmer, der sich in allen Taktiken der New Economy und ihren Auswirkungen auf das menschliche Verhalten innerhalb der herrschenden Managerschichten bestens auskennt. Geboren wurde er 1944 als Sohn eines Ingenieurs und einer Chemikerin in München, wo er 1963 sein Abitur ablegte und dann an der Technischen Universität Stuttgart sowie der Ludwig-Maximilians-Universität in München Philosophie, Wissenschaftstheorie, Betriebswirtschaftslehre und Volkswirtschaft studierte. Nach seiner Promotion über das Thema Die logische Struktur und Referenz von mathematischen ökonomischen Gleichungen übernahm er 1980 die Geschäftsführung eines elektrotechnischen Unternehmens mit einigen Hundert Beschäftigten in Cham und dann als geschäftsführender Gesellschafter die Leitung einer Regensburger Fabrik zur Herstellung von Schaltschränken. Nebenher schrieb er zugleich Aufsätze und kürzere Artikel für philosophische Fachzeitschriften. Als Schriftsteller debütierte er 1995 mit einem Erzählband mit dem verwirrenden Titel Stadt mit Häusern,2 in dem er sich, wie auch in seinen folgenden Romanen Kongreß (1996), Fall (1997) und Sturm (1999), die sämtlich bei der Frankfurter Verlagsanstalt herauskamen,3 weitgehend mit Problemen des kapitalistischen Wirtschaftsgefüges und seines Einflusses auf die in ihm lebenden Menschen auseinandersetzte, wobei er sich in der literarischen Stilgebung zum Teil an anspruchsvollen Autoren wie Hermann Broch, Robert Musil und Thomas Bernhard orientierte. Der Durchbruch zu einer größeren Bekanntheit gelang Händler erst im Jahr 2002 mit seinem Roman Wenn wir sterben, für den er vom SWR den Preis für „Das beste Buch des Jahres“ erhielt, da er in ihm, wie die Jury erklärte, jene „kalte Sprache für den zeitgenössischen Kapitalismus“ gefunden habe, der bis in die psychische Konstitution der Menschen hineinwirke.4 Ja, kurz darauf erhielt er vier weitere Literaturpreise für seine frühen Romane, denen er in der Folgezeit drei weitere mit den Titeln Die Frau des Schriftstellers (2006), Welt aus Glas (2011) und Der Überlebende (2013) folgen ließ.5 Alle diese Romane zeichnen sich sowohl durch eine glasklare, bewußt unterkühlte Sprachgebung als auch durch eine intime Kenntnis jener soziologischen, philosophischen und wirtschaftlichen Theoriebildungen aus, die in den achtziger und neunziger Jahren das wissenschaftstheoretische Denken innerhalb der Bundesrepublik und dann des wie308

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dervereinigten Deutschlands maßgeblich beeinflußten, das heißt die älteren Fortschrittskonzepte der sogenannten Moderne in einem postmodernistischen bzw. poststrukturalistischen Sinne in Frage stellten. Im Falle Händlers gehörten dazu vor allem folgende Theoreme. In demographischer Hinsicht war es höchstwahrscheinlich das Buch Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne (1986) des Münchener Soziologen Ulrich Beck, dem die These zugrunde liegt, daß das ständische Gefüge der bisherigen Industriegesellschaft, in der die ältere „Logik der Reichtumsgesellschaft“ im Zuge der Automation und Globalisierung immer stärker durch die „Logik der Risikoverteilung“ abgelöst werde, wodurch der industrielle Modernisierungsprozeß, der alle Gesellschaftsschichten betreffe, zusehends instabiler werde.6 In wirtschaftlicher Hinsicht erregte damals die sogenannte Chaostheorie einiges Aufsehen, welche das zeitliche Verhalten ökonomischer Systeme, wie es sich in Börsenkursen und Absatzbedingungen widerspiegele, als Erscheinungen einer zwar verwirrenden, aber zugleich deterministisch gesteuerten Dynamik zu erklären versuchte, das heißt chaotische Konjunkturentwicklungen als mathematisch durchaus beschreibbar hinstellte.7 Vor allem die Münchner Gruppe um Alfred Hübler bemühte sich in den neunziger Jahren, in bestimmten, langfristig nicht vorhersehbaren, ja scheinbar irregulären Wirtschaftsabläufen dennoch typische Verhaltensmuster nachzuweisen. Im Hinblick auf sozialphilosophische Probleme war im gleichen Zeitraum häufig von der systemtheoretischen Denkweise Niklas Luhmanns die Rede, nach der nicht Menschen, Ideen oder individuelle Handlungen, sondern eigenlogische Kommunikationssysteme die Entstehung und den weiteren Ablauf sozioökonomischer Verhältnisse bestimmen, zu denen sich der Einzelne – im Gegensatz zu den alteuropäisch-subjektivistischen Denktraditionen – nur als „Beobachter“ verhalten könne. Da derartigen Systemen eigene Gesetzmäßigkeiten zugrunde lägen, stellte Luhmann alle systemübergreifenden Steuerungsversuche, darunter den Einfluß der Politik auf die Wirtschaft, von vornherein als grundsätzlich problematisch hin.8 Während sich also Ulrich Becks Theorie der Risikogesellschaft noch halbwegs kritisch verstehen läßt, gibt es demzufolge im Rahmen der Luhmannschen Theorien letztlich keine Möglichkeit zu einer Änderung, welche die Eigenlogik der sozioökonomischen Verhältnisse beeinflussen könnte. Fast alle öffentlichen Äußerungen, die Händler in diesem Zeitraum abgegeben hat, belegen die Wirkung dieser Theoriebildungen geradezu auf Schritt und Tritt.9 Und zwar ging er dabei gern von seinem Erfahrungshorizont als Unternehmer und Betriebsleiter aus. Von zentraler Bedeutung stellte er hierbei stets 309

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das marktwirtschaftliche System innerhalb der New Economy hin, in dem vor allem das Prinzip des „Wettbewerbs“ dominiere. In ihm gehe es – „im Luhmannschen Sinn“ – allein um finanzielle Gewinne.10 Das habe dazu geführt, wie er erklärte, daß Dinge wie „Fleisch, Körper und Gefühle“ in der „westlichen Welt des Kapitalismus“ immer stärker verdrängt worden seien, was zu einer verstärkten Bedeutung kompensatorischer Phänomene wie „Fitness und Pornographie“ geführt habe.11 Allerdings betonte er in diesem Zusammenhang stets, daß er als „Beobachter“ der gegebenen Verhältnisse keinen Ausweg aus dieser Misere erblicke. Schließlich sei innerhalb des heutigen Wirtschaftslebens letztlich der gnadenlose Wettbewerb das allein bestimmende Prinzip, ja werde von Jahr zu Jahr zusehends einflußreicher. Der Kommunismus sei daher in einer solchen Welt zwangsläufig gescheitert, weil es dort – in Gegensatz zum Kapitalismus – keinen industriellen Wettbewerb gegeben habe. Um bei solchen Statements nicht allzu negativ zu wirken, erklärte Händler 2005 in einem Interview gegenüber Anja Höfer: „Ich sehe auch nicht, wo das ganz Andere sein sollte. Die kleine Hoffnung, die ich vielleicht habe, ist die Vorstellung, daß unsere jetzige Wirtschaftsgesellschaft letzten Endes dazu da ist, um die Natur, um die Materie zu zähmen. Das ganze Wirtschaften könnte die rein materiellen Dinge eines Tages – möglicherweise mit Robotern – so unter Kontrolle haben, daß wir nicht mehr arbeiten müssen, um unsere Existenz zu sichern. Das ist die einzige Hoffnung, die ich habe.“12

IV Aufgrund dieser Sehweise ist von Händler kein „Vorschein“ auf andere, bessere Wirtschafts- und Sozialverhältnisse zu erwarten. Er sieht sich eingebunden in ein System, das eine eigene, durch menschliche Eingriffe nicht mehr zu verändernde Dynamik besitze und unter den herrschenden Wettbewerbsbedingungen höchstens noch perfektere Industrieprodukte, wie die besagten Roboter, entwickeln könne, aber nicht mehr von dem einmal eingeschlagenen Kurs abzubringen sei. Ohne auf die sich daraus ergebenden ökologischen Gefahren, ja die Möglichkeit einer Auslöschung der gesamten Menschheit einzugehen, verhält er sich darum als Erzähler weitgehend passiv und beschreibt lediglich, welche menschlichen Deformierungen und Entfremdungserscheinungen dieser scheinbar unaufhaltsame Prozeß schon heute mit sich bringe. Das wirkt zwar auf den ersten Blick durchaus gesellschaftskritisch, erweckt aber im Leser letztlich nur das Gefühl der Resignation, diesen systemimmanenten Vorgängen hilflos ausgeliefert zu sein. 310

Ernst-Wilhelm Händlers Wenn wir sterben (2002)

Doch gehen wir endlich auf den zu interpretierenden Roman Wenn wir sterben selber ein. Er ist zwar 475 Seiten lang, kreist aber – aufgrund seiner Alternativlosigkeit – letztlich immer wieder um dieselben Probleme: Wie sehen die Geschäftspraktiken der New Economy aus, in denen ein gnadenloses Wettbewerbssystem herrscht, und wie wirkt sich das auf die Lebensführung der in diesem Teufelskreis agierenden Menschen aus? Und zwar werden diese Fragestellungen durchaus klassenspezifisch behandelt, indem sich Händler, aufgrund seiner Herkunft und der damit verbundenen Erfahrungen, in seiner Darstellungsweise fast ausschließlich auf eine kleine Gruppe von Chefetagenakteuren bzw. -akteurinnen beschränkt, das heißt die Angestellten oder Arbeiter einfach wegläßt. Die New Economy wirkt sich für ihn, wie bereits in Mathias Schebens Konzern 2003 (1977), offensichtlich vor allem auf die Lebenshaltung der Managerklasse und der in sie verstrickten Gesellschaftsschicht aus, während sie den Rest der Gesellschaft scheinbar weniger betrifft. Allerdings ist diese Kaste, wie sie von ihm dargestellt wird, keine im älteren Sinne dominierende Führungsschicht mehr, welche die Zügel der politischen und wirtschaftlichen Verfügungsgewalt noch fest in den Händen hat. Sie agiert bloß noch im Rahmen systemimmanenter Vorgänge, welche sie zwar zum Teil in eigennützige Bahnen zu lenken versucht, ist aber unfähig, einen Einfluß auf den Gesamtverlauf der Wirtschaft, geschweige denn des Staates auszuüben. Demzufolge ist dieser Roman kein bürgerlicher Entwicklungsroman mehr, in dem es um den weltanschaulichen Reifungsprozeß eines klar herausgestellten Protagonisten geht. Er hat überhaupt keinen eigentlichen „Helden“, sondern bietet vornehmlich Einblicke in das Geschäftsgebaren und das Privatleben von vier Unternehmerinnen und Topmanagerinnen, genannt Charlotte, Milla, Stine und Bär, die sich wechselseitig befehden, um möglichst viel Profit aus ihren finanziellen Transaktionen herauszuschlagen. Die Erzählweise des Ganzen ist daher alles andere als einlinig. Wie das System der New Economy schreitet sie zwar fort, entwickelt sich jedoch nicht auf ein bestimmtes Ziel hin. Das Ganze wirkt wie ein verrätseltes, wenn nicht gar bewußt undurchschaubares Verwirrspiel, in dem es scheinbar nur um „tägliche Erlebnisse“, aber nicht um „bemerkenswerte Geschehnisse“ oder „bedeutende Ereignisse“ geht.13 Um diesen Eindruck des Willkürlichen noch zu verstärken, folgen auf durcherzählte Episoden ständig innere Monologe, Tagebucheintragungen oder lebensphilosophische Reflexionen, die mal in Kursivschrift, mal in Englisch, mal in Kleinschrift ohne Interpunktionen oder mal in normalen Drucktypen wiedergegeben werden, um nur ja nicht den Eindruck eines älteren Romans aus der Zeit jenes fortschrittlich ein311

Die Wettbewerbsgesellschaft der New Economy

gestellten Bewußtseins zu erwecken, in dem es noch Hoffnungen auf eine Veränderung der Weltsituation ins Christlich-Brüderliche, ins Kommunitaristische, zu einer weltbürgerlichen Friedfertigkeit im Sinne der Aufklärung des 18. Jahrhunderts oder gar zu einer sozialistischen Menschengemeinschaft gegeben habe. Was letztlich in diesem Roman im Vordergrund steht, ist immer nur das Geschäftliche im Rahmen der New Economy. Was alle vier Unternehmerinnen und Managerinnen der Firmen Voigtländer, Alcor und d’Wolf, die keineswegs unter feministischer Perspektive dargestellt werden, interessiert, sind lediglich Bilanzen, neue Produkte, Kredite, Investitionen, Personalfragen, Vorstandssitzungen, Mietverträge, Grundstückpreise, Marketingprobleme, Mailingaktionen, Provisionen, Sonderabschreibungen, Aktienkurse, Wertsteigerungen, Immobilienmärkte, Proopening-Kosten, Win-Strategien, flexible Fertigungsmethoden, Joint Ventures, Consulting-Probleme sowie die nötige Angebotsvielfalt. Sie überlegen daher ständig, wie sie Mitarbeiter einsparen können, wie sich bestimmte Geschäftsbereiche kaufen oder verkaufen lassen, wie man Fehlerraten herunterbringt, wo es die besten Steuerberater oder Organisationsdesigner gibt usw. usw. Alle vier Frauen sind demzufolge ständig umtriebig. Sie telephonieren „gleichzeitig auf vier Leitungen mit einem Käufer, einem Verkäufer, einem Rechtsanwalt und einem Steuerberater“ (64), denken sich „Promotionen für neue Produkte“ aus (109), geben Interviews für das manager magazin (48) oder entwerfen Pläne für eine neue Fließbandfertigung, um so die „nächste Stufe auf der Karriereleiter“ zu erklimmen (44). Und zwar geschieht das alles, wie immer wieder erklärt wird, mit deutlichem Systembezug auf die Wettbewerbsgesellschaft der New Economy. Um das so deutlich wie möglich herauszustellen, werden die diesbezüglichen Hinweise fast durchgehend auf Englisch formuliert. So heißt es etwa im Hinblick auf die Hauptmerkmale dieser neuartigen Wirtschaftsordnung mit ihren höchst komplizierten Kommunikationssystemen, ihrer globalen Verflechtung, ihrer kurzfristigen Innovationsschübe sowie ihrer digital gesteuerten Marketingstrategien: „The new economy is based on communication“ (166) , „In the new economy innovation is king“ (166), „The lifecycle of innovations, products, and services is increasingly short-lived“ (175) oder „The new economic model fosters organizations which thrive on a few rules and near chaos, enabling them to cope with the changes in the game“ (176). Als die Hauptantriebskraft hinter diesem neuartigen Kapitalismus wird hierbei meist die Tendenz hingestellt, um eines gesteigerten Profitverlangens ständig neue Produkte zu erfinden, und zwar gleichgültig, ob diese für die meisten 312

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Menschen wirklich lebensnotwendig sind. Nicht mehr der Gebrauchswert der verschiedenen Produkte, ja nicht einmal „die Entwicklung, die Logistik oder die Finanzen“ geben in diesem Wirtschaftssystem den entscheidenden Ausschlag, wie es an einer Stelle heißt, sondern lediglich die Marketingstrategien (278). Überall scheint im Hinblick auf die hergestellten Produkte allein die Maxime zu herrschen: „Es verkauft sich, oder es verkauft sich nicht“ (278). Und das Mittel, mit dem man die Masse der Käufer von dem angeblichen Wert der meisten Produkte zu überzeugen versuche, sei in erster Linie die „Werbung“ (284). Wie zu erwarten, wird all das nur an wenigen Stellen als kritisierbar, sondern meist als systemimmanent und damit unveränderbar hingestellt. „Große Unternehmen“, erklärt Händler im Hinblick auf die New Economy, sind wie „Riesentanker, die den einmal eingeschlagenen Kurs einhalten – gleich, wohin er führt, gleich, wer den Kurs vorgegeben hat“ (143). Dem entsprechen ständig eingestreute Bemerkungen wie: „Der Markt kann sich alles anverwandeln“ (105) oder „Alle Lügen werden erfolgreich sein. Die Welt wird zum Sonderpreis über den Tresen gehen“ (97). Schließlich wird in diesem, als durchaus verhängnisvoll geschilderten Kapitalismus, der wegen seines ins Maßlose gesteigerten Profitverlangens immer stärker in eine ökologisch unverträgliche Wegwerfgesellschaft ausartet, keine Alternative entgegengestellt, die sich an der Maxime „Wenn es so bleibt, wie es ist, bleibt es nicht“ orientieren würde. Kein Wunder daher, daß in diesem Roman von irgendwelchen politischen Ereignissen der letzten 30 Jahre fast nirgends die Rede ist. Politik und Wirtschaft scheinen für Händler zwei völlig getrennte Bereiche zu sein, die im Sinne der Luhmannschen Systemtheorie nichts miteinander gemeinsam haben. Interessanterweise macht Händler dabei eine Ausnahme, nämlich in dem Abschnitt, wo er auf die Situation nach der „Eroberung der DDR“ zu sprechen kommt, als die westlichen „Investoren“, wie es ausdrücklich heißt, aufgrund „gigantischer Sonderabschreibungen“ viele der dortigen „Grundstücke in guter Lage“ zu Spottpreisen erwerben konnten (60). Doch selbst dieser Vorgang wird von ihm nicht als ein politischer Akt, sondern, wie alle anderen finanziellen Transaktionen, ausschließlich als ein profitermöglichendes Immobiliengeschäft hingestellt, das sich im Rahmen der New Economy abspielt.

V Soviel zu den rein ökonomischen Aspekten der in Händlers Roman Wenn wir sterben dominierenden Handlungsabläufe. Doch ebenso ausführlich werden in 313

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dem Ganzen die Auswirkungen dieser neuen Geschäftsbesessenheit auf das Privatleben der vier „unablässig gestreßten“ Unternehmerinnen und Managerinnen beschrieben (43). Eine von ihnen sagt zwar: „Ich bin nur für eins gut: mich immer wieder so zu verhalten, egal ob man es merkt oder nicht, daß ich meine Provision kriege“ (78), das heißt sie denkt ständig an die fälligen Deadlines, hat stets ihr Handy zur Hand, schleppt immer ihren Laptop mit sich herum, sinnt unablässig auf neue Steuervergünstigungen oder stellt neue Produktdesigner an, um die ihr unterstehende Firma wettbewerbsfähig zu erhalten, wenn nicht gar zu vergrößern. Doch gleichzeitig werden alle vier Frauen – bereits in den sogenannten Wechseljahren angekommen – tagtäglich von der Angst geplagt, in der herrschenden Wegwerfgesellschaft um sich herum als gealtert und damit, wie die auf eine kurzfristige Laufdauer bedachten Produkte ihrer Firma, obsolet zu wirken. Also tun sie alles, um neben ihren jungen, auf Glamour „gestylten“ Sekretärinnen nicht pensionsreif auszusehen. Unentwegt auf der Flucht vor dem Gefühl des Älterwerdens geben sie sich die erdenklichste Mühe, weiterhin agil, attraktiv, sexy, kurz: unternehmensgierig zu erscheinen. Sie legen demzufolge großen Wert auf ein den jeweiligen Situationen entsprechendes Outfit, das heißt tragen entweder einen Business-Anzug oder zerfranste Jeans, einen Leopardenmantel oder einen weißen Parka, T-Shirts oder Rollkragenpullover, um nicht von ihren Geschäftspartnern, Anwälten oder Kreditgebern als menopausal oder „über den Hügel“ eingeschätzt zu werden. Eine ihrer Hauptsorgen ist deshalb, keine Falten unter den Augen, das heißt sogenannte „Sonnenterrassen“, zu bekommen (411). Sie setzen sich daher nie einer intensiven Bestrahlung aus und bevorzugen lieber beigefarbige Makeups. Ebenso wählerisch verhalten sie sich beim Kauf von Wonderbras, Pushup-BHs oder neonfarbigen Slips. Und auch die Angst vor dem Dickerwerden quält sie unentwegt. Sie vermeiden demzufolge alle Süßigkeiten und geben nie der Versuchung nach, sich irgendwelche Zwischendurch-Snacks zu leisten. Stattdessen essen sie nur Körnerbrot und Müsli, trinken vornehmlich Kefir und Sojamilch, schlucken ständig Kalzium und Lecithintabletten, um nur ja die nötigen Vitamine, Proteine, Polyphenole, Ballaststoffe und Spurenelemente zu bekommen. Eine von ihnen hegt sogar die Hoffnung, „daß in unmittelbarer Zukunft die Entschlüsselung des Telomerasegens gelingen werde, das die Zellteilung steuert“ und somit ihr „Körper ewig jung bleiben würde“ (111). Doch was tun diese Frauen eigentlich in ihrer Freizeit, wenn sie einmal nicht im Büro ihrem unablässigen Gewinnstreben nachgehen? An sich haben sie gar keine Freizeit, da auch ihr Privatleben weitgehend im Zeichen der Schaustellung 314

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ihrer Geschäftstüchtigkeit und ihrer sich hoffentlich nie verändernden Attraktivität steht. Sie besuchen Industriemessen, strampeln sich in einem Fitness Center auf Lifecycle-Fahrrädern ab, beteiligen sich an Step Aerobic Veranstaltungen, gehen shoppen, suchen Bars auf, wo es Table Dancing mit Male Strippers gibt, besuchen Parties, leisten sich elegante Apartments, machen Kurzurlaube in fashionablen Spas, wo sie in Fünf-Sterne-Hotels mit Pools und Jacuzzis logieren, kurzum: reihen sich in den internationalen Jetset ein. Ab und zu leisten sie sich auch Boy Friends oder sogenannte One-Night-Stands, wo sie das ausprobieren, was nicht in die übliche Kategorie des „Hausfrauensex“ fällt (350). Überhaupt lehnen sie irgendwelche Commitments oder gar Familienbindungen als völlig altmodisch ab.14 Mit anderen Worten: sie schätzen die „Dinge“ mehr als die „Menschen“, wie es an einer Stelle heißt (427). Ihre Freizeit besteht also weitgehend aus einem „bißchen Sex, einem bißchen Tennis, ein wenig am Pool herumdösen, dann wieder Sex“ (173). Letztlich scheint ihr Lebensglück nur in dem zu bestehen, „was nach Glück aussieht, nämlich Geld, Sex, Parties und Geschäfte“ (173). Trotz aller geschäftlichen Betriebsamkeit fehlt daher fast allen dieser Unternehmerinnen und Managerinnen das Gefühl, in ihrem Leben etwas Sinnstiftendes getan oder erreicht zu haben. Sie fürchten, weitgehend „Teil eines MitläuferMarathons“ (453) zu sein, der ständig ziellos weiterläuft. Sie haben – aufgrund ihres systemverhafteten Lebens – „kein Bedürfnis mehr, gegen den Strom zu schwimmen, sie wollen sich nur noch von dem in seiner Ergebnislosigkeit so seltsam harmonischen Miteinander der vielen verschiedenen Menschen forttragen lassen“ (134). Sie empfinden sich wie Wellen auf einem Ozean der Sinnlosigkeit, der zwar ständig in Bewegung ist, den aber kein klar erkennbares Telos anzutreiben scheint. Immer geht es ihnen nur darum, „to communicate urgency of change, to organize change management teams, to develop visions and strategies, to communicate visions of change, to implement activities, to enable fast visible results, to consolidate profits and further change“ (221). Genauer besehen, steht dahinter nie die „Grundüberzeugung, daß die Welt und das Leben ein sinnvolles Ganzes bilden“ (250). Letztlich erscheint diesen vier Frauen alles, was sie tun, als sinnlos. Selbst die ständig neu anzukurbelnden, aber dennoch gleichbleibenden Strategien der Vermarktung ihrer Produkte erlauben ihnen, wie es an einer Stelle heißt, „keinen Stolz auf eine erbrachte Leistung, keine Trauer über ein gescheitertes Vorhaben, keinen Zorn über ein unnötig gescheitertes Vorhaben“. Und daher können sie weder eine „wirkliche Zuneigung zu Menschen noch zu Dingen oder Ideen“ entwickeln (133). Nichts scheint in ihren Augen 315

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eine tiefere Bedeutung zu haben. Alles ist unentwegt im Fluß, ohne daß sich irgendwo ein Ausblick auf einen sinnstiftenden Haltepunkt eröffnet. Was letztlich dominiert, ist die Unentrinnbarkeit aus der Welt des Sich-Ewig-Gleichbleibenden. „I want to spend the rest of my life“, heißt es in diesem Zusammenhang, „everywhere, with everyone, one to one, always, forever, now“ (268). Ja, an anderer Stelle wird das Grundgefühl dieser Menschen auf einen sentenzenhaft verknappten Nenner gebracht: „Wer einmal merkt, daß das Leben keinen Sinn mehr hat, merkt auch automatisch, daß das Leben nie einen Sinn gehabt hat“ (324). Dennoch – inmitten all dieser Sinnlosigkeit – haben diese vier Frauen, statt aus Verdruß über das ewige Einerlei ihres Lebens Selbstmord zu begehen, eine nicht zu bewältigende Angst vor dem Älterwerden. Sie wollen trotz alledem so lange leben wie nur möglich, und zwar nicht nur, um sich als erfolgreiche Managerinnen aufspielen zu können, sondern auch, um die werbewirksam angepriesenen Luxusfreuden der Upperclass-Schickeria zu genießen und dabei mit den in dieser Gesellschaftsschicht herrschenden Damentaktiken einige besonders attraktive Männer „rumzukriegen“. In solchen Momenten erscheint ihnen ihre geschäftliche Betriebsamkeit – angesichts der als allzu kurz empfundenen Lebensspanne – plötzlich völlig nebensächlich. Eine dieser Damen sieht sich daher in ihrem Hotelzimmer, statt wie bisher irgendwelche Verträge zu unterzeichnen, lieber ein Video an, das den Titel hat: „I don’t know anyone who wished on his deathbed that he had spent more time at the office“ (469). Das mag in solchen Momenten, als sie plötzlich die Angst vor dem Tod überfällt, durchaus stimmen. Aber letztlich bleiben alle diese Frauen doch von Geschäftseifer erfüllte Managerinnen, die sich zwar ab und zu einige scheinbar genußreiche Abstecher in die Welt des Jetset gönnen, jedoch den sinnlosen Sinn ihres Lebens lediglich in der Erweiterung der Gewinnchancen ihrer Firmen sehen.

VI Bei der Interpretation derartiger Zustände hat man früher gern Begriffe wie „Entfremdung“ oder „falsches Bewußtsein“ verwendet. Aufgrund der heute herrschenden Lebensbedingungen im ideologischen Rahmen der New Economy scheinen jedoch derartige Begriffe vielen Sozialhistorikern bei der Beschreibung solcher ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr angebracht zu sein. Schließlich ist das falsche Bewußtsein innerhalb breiter Bevölkerungsschichten inzwischen zum allgemein legitimierten Bewußtsein geworden. Ja, von manchen wird dieser Zustand – im Sinne der verbreiteten Posthistoire-Theorien – 316

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sogar als ein durchaus positives Bewußtsein hingestellt, das in der Welt des sich globalisierenden Finanzkapitalismus seinen nicht mehr zu überbietenden Höhepunkt erreicht hat, der zwar noch einiger kleinerer Reformen bedarf, aber letztlich nicht mehr verändert zu werden braucht. So gesehen, ist es das Verdienst Ernst-Wilhelm Händlers, in seinem Roman Wenn wir sterben ein gesellschaftliches Panorama entfaltet zu haben, das diesen Zustand zwar so resigniert, aber zugleich so unerbittlich wie nur möglich zu beschreiben versucht. In ihm wird der Trend zur steigenden Entfremdung innerhalb des gegenwärtigen Wirtschafts- und Gesellschaftslebens, in dem es nur noch um Geld und Sex zu gehen scheint, bis zur letzten Konsequenz nachgezeichnet. Hier gibt es keine Beschönigungen, keine Auswege, keine Alternativen mehr. Hier herrscht der Zustand einer sich von allen Forderungen nach einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung abgelösten Gesinnung, die im Rahmen eines zu sich selbst gekommenen Wirtschaftssystems bereits so übermächtig geworden ist, daß ihm mit politischen Veränderungseingriffen nicht mehr beizukommen ist. Doch während diese positive Entfremdung früher noch von manchen kritisiert wurde, wird sie von Händler nur noch als ein düsteres Syndrom einer unveränderbaren Zwangsläufigkeit beschrieben, die – seiner Meinung nach – nicht mehr anzuhalten ist. Und damit bleibt die Frage, wie sich dieser Zustand, innerhalb dessen selbst der mühsam erwirtschaftete Geldbesitz keine sinnvolle Befriedigung bietet, ändern oder gar überwinden läßt, notwendig ohne Antwort. Wie haben eigentlich die Rezensenten der deutschen Rundfunkanstalten und der großen Zeitungen auf diesen höchst verstörenden Roman reagiert? Schon die Titel ihrer zum Teil umfangreichen Besprechungen,15 die zwischen Zustimmung und Ablehnung meist unschlüssig hin- und herschwanken, verraten eine seltsame Ambivalenz, die in vielem durchaus der ideologischen Alternativlosigkeit dieses Romans entspricht. Da heißt es unter anderm: „Freundlich feindlich“, „Wo Bürger war, wird Ich-AG“, „Soviel Einsamkeit war nie“, „Erodierende Seelen“, „Ist es eine Komödie oder eine Tragödie?“ „Protokolle aus der Nahkampfszene“, „Die Fabrik, die Fabrik hat immer recht“, „Die Business-Menschen ohne Eigenschaften“, „Aus dem Inneren des Marktes“, „Eiskalte Geschichten von Gier und Geld“, „Glamour, Sex und die eigene Firma“, „Die Erforschung der Isolation“, „Optimale Auslastung der Fickmaschine“, „Erst die Firma, dann die Musen“, „Gut im Geschäft“, „Der Firma Deutschland fehlt der Auftrag“, „Der Kapitalismus ist eine Schule des Scheiterns“, „Keiner für alle – alle für keinen“ oder „Über die Einsamkeit in der Vielheit der reizüberfluteten Möglichkeiten“. 317

Die Wettbewerbsgesellschaft der New Economy

Manches davon ist zwar, wie im Zeitungswesen überall, recht feuilletonistisch formuliert, deutet aber auf ein zunehmendes Unbehagen an den herrschenden Zuständen hin, die zwar in den angeführten Besprechungen nicht als veränderbar, aber doch als recht reformbedürftig hingestellt wurden. Allerdings beschränkten sich dabei fast alle dieser Rezensenten in ihrer Kritik an dem von Händler dargestellten Wirtschaftssystem auf die von ihm besonders krass herausgestellte Gier nach Geld und Sex, statt sich auch mit dem gesamtgesellschaftlichen Verblendungssyndrom auseinanderzusetzen, das dieser systemimmanenten Gier zugrunde liegt. Und damit blieben auch sie, wenn auch auf nonkonformistische Weise, zwangsläufig konformistische Vollzugsvertreter eines angeblich nicht mehr zu verändernden Systems marktwirtschaftlicher Machinationen, innerhalb deren sich das Eigentum, das laut Artikel 14.2 des bundesdeutschen Grundgesetzes, an sich eine „Verpflichtung“ zu gesamtgesellschaftlicher Verantwortung beinhalten sollte, in ein kaum noch faßbares Finanzkapital verwandelt hat, aber dennoch die weiterhin alles dominierende Rolle spielt. Alle diese Wandlungsprozesse werden zwar in den führenden Industrieländern der Welt von systemimmanenten Volkswirtschaftlern, Soziologen und von der Wirtschaft abhängigen Politikern gern mit Begriffen wie „Demokratisierung der Arbeitssphäre“, „Neoliberalismus“, „gesteigerte Flexibilität“, „kreativer Teamgeist“, „postfordistische Innovationsschübe“ sowie „zunehmende Verfreiheitlichung“ bewußt beschönigt,16 können aber letztlich nicht über die sich verstärkenden Krisensymptome innerhalb der New Economy hinwegtäuschen. Selbst wenn dabei auch auf die inneren Paradoxien des gegenwärtigen Banken- und HighTech-Kapitalismus eingegangen wird, geschieht das in den meinungsbildenden Medien stets unter Absehung möglicher Alternativvorstellungen. Und dadurch ist ein ideologisches Vakuum entstanden, in dem die weiterhin bestehende Ausbeutung der breiten Massen als ein nicht mehr zu verändernder Zustand empfunden wird, ja der Gegensatz zwischen den Reichen und den Armen einfach als Gegebenheit hingenommen wird. Selbst in Deutschland, wo – trotz der vielbeschworenen „günstigen Wirtschaftslage“ – seit den neunziger Jahren durch die fortschreitende Automatisierung der industriellen Produktionsvorgänge die soziale Ungleichheit ständig zugenommen hat, das heißt 18 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsschwelle leben müssen, während das Einkommen der 65 Reichsten allein in den Jahren von 2002 bis 2005 um 53 Prozent anstieg,17 herrscht in fast allen Medien der sogenannten Meinungsträgerschichten weiterhin eine unübersehbare Tendenz ins Beschönigende. Es gibt in diesem Lande zwar auch Kritiker des Kapitalismus 318

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und der dadurch entstandenen Dominanz des Homo oeconomicus, darunter Elmar Altvater, Jürgen Kocka, Eckart Spoo, Wolfgang Streeck, Joseph Vogl, Hans-Ulrich Wehler, die Argument-Gruppe um Wolfgang Fritz Haug sowie führende Sprecherinnen der Partei Die Linken wie Sahra Wagenknecht, aber ihre Stimmen verhallen zumeist ungehört, und zwar nicht nur, weil die massenbeherrschende Medienindustrie sie verschweigt, sondern auch, weil sie – nach dem Zusammenbruch des Ostblocks – keine überzeugenden Alternativkonzepte mehr aufzubieten haben.18 Was dagegen in den meinungsbeeinflussenden Zeitungen, Journalen und Talk Shows der BRD weiterhin als „fortschrittlich“ herausgestellt wird, ist lediglich jener individuelle Bereicherungs- und Selbstverwirklichungsdrang, der angesichts der zunehmenden Verarmung der unteren Bevölkerungsschichten längst zur Farce geworden ist. Ja, selbst in der deutschen Gegenwartsliteratur, die sich in den siebziger und achtziger Jahren noch stark mit solchen Problemen beschäftigt hatte, herrschen heutzutage weitgehend jene Themenkreise vor, in deren Zentren lediglich „die privilegierten Leiden von Einzelgängern“ stehen,19 während von irgendwelchen überindividuellen, die Gesamtgesellschaft betreffenden Problemen kaum noch die Rede ist. Und sogar da, wo, wie in den Romanen von Ernst-Wilhelm Händler, auf die Machenschaften des gegenwärtigen Finanzkapitalismus eingegangen wird, geht es meist nur um die Vertreter der gesellschaftlichen Oberschicht, zu denen vor allem die Topmanager und -managerinnen gehören. Doch selbst bei diesen Privilegierten, diesen Promis, diesen Beautiful People äußert sich der allgemein propagierte Drang zur Selbstrealisierung lediglich in Formen eines falschen Bewußtseins, das keinerlei Rückschlüsse auf die Ursachen der sich darin äußernden Selbstentfremdung erlaubt. Dennoch sage man nicht à la Theodor W. Adorno, daß es angesichts derartiger Zustände im Falschen nichts Richtiges mehr geben könne. Schließlich wäre ja auch etwas Richtiges jenseits des Falschen denkbar. Aber dieser Frage, die unter den gegenwärtigen Verhältnissen des HighTech oder Turbo-Kapitalismus und der von ihm in Gang gehaltenen Market Driven Society zwangsläufig in die Grenzbereiche des Utopischen vorstößt, wird sowohl in der Theoriebildung als auch in der Literatur bisher immer wieder ausgewichen.

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Anmerkungen Der erste deutsche Kaufmannsroman 1 Vgl. hierzu allgemein Francis G. Gentry: Arbeit in der mittelalterlichen Gesellschaft. Die Entwicklung einer mittelalterlichen Theorie der Arbeit vom 11. bis zum 14. Jahrhundert. In Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.): Arbeit als Thema in der deutschen Literatur, Königstein 1979, S. 4 ff. 2 Genesis und Exodus nach der Milstäter Handschrift. Hrsg. von Joseph Diemer, Wien 1862, 19, 5–7. 3 Francis G. Gentry: Arbeit in der mittelalterlichen Literatur (wie Anm. 1), S. 5. 4 Vgl. Werner Wunderlich: „…des Koufmannes güete.“ Rudolf von Ems: Der guote Gêrhart. In ders.: Der literarische Homo oeconomicus. Vom Märchenhelden zum Manager. Beiträge zum Ökonomieverhältnis in der Literatur, Stuttgart 1989, S. 43 f. 5 Vgl. Friedrich Sengle: Die Patrizierdichtung „Der gute Gerhard“. Soziologische und dichtungsgeschichtliche Studien zur Frühzeit Rudolfs von Ems. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 24, 1950, S. 53–82. 6 Werner Wunderlich: Der „ritterliche“ Kaufmann. Literatursoziologische Studien zu Rudolf von Ems’ „Der guote Gêrhart“, Kronberg 1975, S. 42. 7 Vgl. Sonja Zöller: Kaiser, Kaufmann und die Macht des Geldes. Gerhard Unmaze von Köln als Finanzier der Reichspolitik und der „Gute Gerhard“ des Rudolf von Ems, München 1993, S. 9 f. 8 Vgl. dazu schon Friedrich Sengle: Die Patrizierdichtung „Der gute Gerhard“ (wie Anm. 5), S. 56, und Reinhard Bleck: Kaiser Otte und Künic Willehalm. Rudolf von Ems: „Der guote Gêrhart“, Wien 1985, S. 21. 9 Vgl. Der gute Gerhard. Hrsg. von Moritz Haupt, Leipzig 1840, und Kerl Simrock: Der gute Gerhard und die dankbaren Todten. Ein Beitrag zur deutschen Mythologie und Sagenkunde, Bonn 1856. 10 Vgl. mein Buch: Geschichte der Germanistik, Reinbek 1994, S. 60. 11 Vgl. hierzu Helmut Brackert: Rudolf von Ems. Dichtung und Geschichte, Heidelberg 1968, S. 5. 12 Vgl. Friedrich Sengle: Die Patrizierdichtung „Der gute Gerhard“ (wie Anm. 5), S. 54. 13 Vgl. mein Buch: Synthetisches Interpretieren. Zur Methodik der Literaturwissenschaft, München 1968, S. 126–163. 14 Vgl. Friedrich Sengle: Die Patrizierdichtung „Der gute Gerhard“ (wie Anm. 5), S. 57. 15 Ebd., S. 60. 16 Vgl. u. a. Heinrich von Loesch: Die Kölner Kaufmannsgilde im 12. Jahrhundert. In: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst, 1904, H. 12, S. 43, und 320

Anmerkungen

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Luise von Winterfeld: Handel, Kapital und Patriziat in Köln bis 1400. In: Pfingstblätter des Hansischen Geschichtsvereins, 1925, S. 12. Vgl. Friedrich Sengle: Die Patrizierdichtung „Der gute Gerhard“ (wie Anm. 5), S. 56. Er berief sich dabei auf die Studien von Konrad Gatz: Kauffahrer, Krämer und Handelsherren, Danzig 1941, S. 22, und Hans Planitz: Die Kaufmannstadt der Ottonenzeit. In: Forschungen und Fortschritte 19, 1948, S. 276. Vgl. Xenja von Ertzdorff: Rudolf von Ems. Untersuchungen zum höfischen Roman im 13. Jahrhundert, München 1967, S. 379 ff., und Helmut Brackert: Rudolf von Ems (wie Anm. 11), S. 25, 48 und 57. Sonja Zöller: Kaiser, Kaufmann und die Macht des Geldes (wie Anm. 7), S. 279 ff. Vgl. Edith Ennen: Kölner Wirtschaft im Früh- und Hochmittelalter. In Hermann Kellenbenz (Hrsg.): Zwei Jahrtausende Kölner Wirtschaft, Köln 1979, Bd. I, S. 139. Vgl. Joachim Bumke: Studien zum Ritterbegriff im 12. und 13. Jahrhundert, Heidelberg 1964, S. 102, und Werner Wunderlich: Der „ritterliche“ Kaufmann (wie Anm. 6), S. 130. Ebd., S. 135. Vgl. zur Entstehung des Patriziats auch Rolf Engelsing: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Göttingen 1973, S. 38 f., und Jürgen Kocka: Geschichte des Kapitalismus, München, 2. Aufl., 2014, S. 39. Vgl. Der guote Gêrhart, Vers 3130 f. Ebd. u. a. Vers 2933, 1859 und 2192. Vgl. dazu auch Werner Wunderlich: „ … das er das Beste gerne tut“. Profit für Seelenheil und Reichswohl. Der königliche Kaufmann Gerhard aus Köln“. In ders.: „Geld im Sack und immer Not“. Betrachtungen zum Homo oeconomicus, Zürich 2007, S. 85. Vgl. Helmut Brackert: Rudolf von Ems (wie Anm. 11), S. 41. Vgl. zur Bedeutung der „richerzeche“ auch Hans Planitz: Die deutsche Stadt im Mittelalter, Köln 1954, S. 119, und Georg Droege: Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 1973, S. 89 f. Vgl. Werner Wunderlich: „ … des koufmanns güete“ (wie Anm. 4), S. 43, und Johannes Burkhardt: Die kommerzielle Welt in der Wissensordnung der frühen Neuzeit. In ders., Helmut Koopmann und Henning Krauß (Hrsg.): Wirtschaft in Wissenschaft und Literatur, Augsburg 1993, S. 9. Vgl. Sonja Zöller: Kaiser, Kaufmann und die Macht des Geldes (wie Anm. 7), S. 312 ff. Werner Wunderlich.: Der „ritterliche“ Kaufmann (wie Anm. 6), S. 147. Ebd., S. 150. Vgl. Wolfram Weimer: Geschichte des Geldes, Frankfurt a. M. 1992, S. 11. Ebd., S. 159. Ebd., S. 159 f. Jürgen Kocka: Geschichte des Kapitalismus (wie Anm. 22), S. 41. Freidanks Bescheidenheit. Hrsg. von Wolfgang Spiewok, Leipzig 1985, S. 38.

321

Anmerkungen

Protestantisches Arbeitsethos 1 Vgl. Dieter Kartschoke: Die Rettung des Kaufmanns in der Literatur des Spätmittelalters. In Werner Wunderlich (Hrsg.): Der literarische Homo oeconomicus. Vom Märchenhelden zum Manager. Beiträge zum Ökonomieverständnis in der Literatur, Bern 1989, S. 72–78. 2 Fortunatus. Hrsg. von Hans-Gert Roloff, Stuttgart 1981, S. 46. 3 Ebd., S. 190 und 194. Vgl. auch Walter Raitz: Zur Soziogenese des bürgerlichen Romans. Eine literatursoziologische Analyse des „Fortunatus“, Düsseldorf 1973, Hans-Jürgen Bachorski: Geld und soziale Identität im „Fortunatus“. Studien zur literarischen Bewältigung frühbürgerlicher Widersprüche, Göppingen 1983, und John Van Cleve: The Problem of Wealth in the Literature of Luther’s Germany, Columbia, SC 1991, S. 97–109. 4 Vom Sterben des reichen Mannes. Die Dramen von Everyman, Homulus, Hecastus und dem Kauffmann. Nach der Übersetzung von Helmut Wiemken, Bremen 1965, S. 345. 5 Vgl. Dietrich Kartschoke: Die Rettung des Kaufmanns (wie Anm. 1), S. 78. 6 Vgl. Lukas-Evangelium 15, 11–32. 7 Vgl. zum Folgenden vor allem Janis Little Solomon: Die Parabel vom Verlorenen Sohn. Zur Arbeitsethik des 16. Jahrhunderts. In Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.): Arbeit als Thema in der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Königstein 1979, S. 29–50. 8 Ebd., S. 30. 9 Vgl. u. a. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen, 4. Aufl., 1947, Bd. I, S. 76. 10 Vgl. Janis Little Solomon: Die Parabel vom Verlorenen Sohn (wie Anm. 7), S. 31. 11 Vgl. u. a. Werner Sombart: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, München 1920. 12 Vgl. Adolf Schweckendiek: Bühnengeschichte des verlorenen Sohns in Deutschland, Teil I (1527–1627), Leipzig 1930, S. 7. 13 Vgl. dazu auch Arnold Berger: Die Schaubühne im Dienste der Reformation, Teil I, Leipzig 1935, S. 133–142. 14 Lukas-Evangelium, 15,7. 15 Hans Sachs: Werke in der Reihenfolge ihrer Entstehung. Hrsg. von Wolfgang F. Michael und Roger A. Crockett, Bern 1996, Bd. III, Zeile 70–71. 16 Ebd., Zeile 61 und 63–66. 17 Ebd., Zeile 880–884. 18 Vgl. Eckard Bernstein: Hans Sachs, Reinbek 1993, S. 18. 19 Vgl. ebd, S. 94, und Klaus Wedler: Hans Sachs, Leipzig 1976, S. 114 f. 20 Vgl. Janis Little Solomon: Die Parabel vom Verlorenen Sohn (wie Anm. 7), S. 36. 21 Ebd., S. 37.

322

Anmerkungen

22 Jörg Wickram: Sämtliche Werke. Hrsg. von Hans-Gert Roloff, Berlin 1967 ff., Bd. III, S. 60. 23 Vgl. u.a. Hannelore Christ: Literarischer Text und historische Realität. Jörg Wickrams „Knabenspiegel“ und „Nachbarn“-Roman, Düsseldorf 1974, S. 60 f., und Marianne Schultz: Ökonomie, Geld und Besitz in den Werken Wickrams, Diss. Saarbrücken 2007, S. 24 ff. 24 Georg Wickram: Werke. Hrsg. von Johannes Bolte, Tübingen 1901, Bd. II, S. 107. 25 Ebd., S. 107. 26 Ebd., S. 109. 27 Ebd., S. 109. 28 Ebd., S. 112. 29 Ebd., S. 114. 30 Vgl. hierzu Gertrud Fauth: Nachwort zu Wickrams „Knabenspiegel“, Straßburg 1917, S. 149, Hans-Jürgen Geerdts: Das Erwachen des bürgerlichen Klassenbewußtseins in den Romanen Jörg Wickrams. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 1952/53, S. 121, und Hannelore Christ: Literarischer Text und historische Realität (wie Anm. 23), S. 23. 31 Vgl. das als Materialsammlung angelegte Buch von Franz Spengler: Der verlorene Sohn im Drama des 16. Jahrhunderts, Innsbruck 1888.

Eine Femina oeconomica 1 Vgl. u. a. Rolf Engelsing: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Göttingen 1973, S. 84 ff., Volker Meid: Grimmelshausen. Epoche – Werk – Wirkung, München 1984, S. 11 ff., und Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. I, München 1987, S. 48 ff. 2 Vgl. Günther Franz: Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk. Untersuchungen zur Bevölkerungs und Agrargeschichte, Stuttgart, 4. Aufl., 1979, S. 6–8. 3 Vgl. Max L. Baeumer: Gesellschaftliche Aspekte der „Volks“-Literatur im 15. und 16. Jahrhundert. In Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.): Popularität und Trivialität, Frankfurt a. M. 1974, S. 7–50. 4 Vgl. Erich Trunz: Deutscher Humanismus um 1600 als Standeskultur. In Richard Alewyn (Hrsg.): Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche, Köln 1965, S. 155. 5 Volker Meid: Grimmelshausen (wie Anm. 1), S. 53. 6 Ebd., S. 67 f. 7 Vgl. Rolf Tarot: Der Homo oeconomicus im Werk Grimmelshausens. In Werner Wunderlich (Hrsg.): Der literarische Homo oeconomicus. Vom Märchenheld zum Manager. Beiträge zum Ökonomieverständnis in der Literatur, Bern 1989, S. 80–88. 8 Vgl. ebd., S. 85 ff.

323

Anmerkungen

9 Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Werke. Hrsg. von Dieter Breuer, Frankfurt a. M. 1992, Bd. I.II, S. 30. Im Folgenden wird im Text nach dieser Ausgabe zitiert. 10 Mathias Feldges: Grimmelshausens Landstörtzerin Courasche. Eine Interpretation nach der Methode des vierfachen Schriftsinns, Basel 1969. 11 Vgl. Günther Weydt: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, Stuttgart 1971, S. 72 ff. 12 Italo Michele Battafarano und Hildegard Eilert: Courage. Die starke Frau in der deutschen Literatur, Bern 2003. 13 Vgl. Siegfried Streller: Grimmelshausens Simplicianische Schriften. Allegorie, Zahl und Wirklichkeit, Berlin 1957, S. 47–55. 14 Hans Magnus Enzensberger: Nachwort zu Johann Jacob Christoffel Grimmelshausens „Courage“, München 1962, S. 154. 15 Ralf Tarot: Der Homo oeconomicus im Werk Grimmelshausens (wie Anm. 7), S. 89–92. 16 Ebd., S. 91. 17 Vgl. Herbert A. Arnold: Die Rollen der Courasche. Bemerkungen zur wirtschaftlichen und sozialen Stellung der Frau im 17. Jahrhundert. In Barbara BeckerCantorino (Hrsg.): Die Frau von der Reformation zur Romantik. Die Situation der Frau vor dem Hintergrund der Literatur- und Sozialgeschichte, Bonn 1980, S. 86–111, Jörg Jochen Berns: Libuschka und Courasche. Studien zur Grimmelshausens Frauenbild. In: Simpliciana 11, 1989, S. 215–260 und 12, 1990, S. 417– 441, und Dieter Breuer: Grimmelshausen-Handbuch, München 1999, S. 86.

Ohne einträgliche Schuldverschreibungen kein ungestörtes Liebesglück 1 2 3 4 5

6 7

Vgl. u. a. Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1965, und Horst Steinmetz: Die Komödie der Aufklärung, Stuttgart 1966. Vgl. das Komödienkapitel in Margrit Fiederer: Geld und Besitz im bürgerlichen Trauerspiel, Würzburg 2002, S. 163–190. Vgl. Dieter Hildebrand: Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm, Frankfurt a. M. 1969, S. 13 ff. Vgl. Wilfried Barner, Gunter Grimm, Helmut Kiesel und Martin Kramer: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung, München 1975, S. 219–226. Vgl. u. a. Thomas Höhle: Einleitung. In: Lessings Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Karl Balser, Weimar 1959, S. 26, und Daniel Fulda: Schau-Spiele des Geldes. Komödie und die Entstehung der Marktgesellschaft von Shakespeare bis Lessing, Tübingen 2005, S. 482 ff. Vgl. u. a. Dieter Hildebrand (wie Anm. 3), S. 9–22, und Joachim Dyck: Minna von Barnhelm oder: Die Kosten des Glückes, Berlin 1981, S. 59–112. Vgl. hierzu auch Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002, S. 109 und 125. 324

Anmerkungen

8 Lessings Werke in fünf Bänden (wie Anm. 5), S. 145. Im Folgenden wird im Text nach dieser Ausgabe zitiert. 9 Wilfried Barner et al.: Lessing (wie Anm. 4), S. 228. 10 Zur Rolle des Geldes in den bürgerlichen Komödien des gleichen Zeitraums vgl. u. a. Helmut Koopmann: Geld und Literatur im 18. Jahrhundert. In Johannes Burkhardt, Helmut Koopmann und Henning Krauß (Hrsg.): Wirtschaft in Wissenschaft und Literatur, Augsburg 1993, S. 31 ff, und Heiner Weidmann: Ökonomie der „Großmuth“. Geldwirtschaft in Lessings „Minna von Barnhelm“ und „Nathan der Weise“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68, 1994, S. 447–461. 11 Vgl. Heinz Schlaffer: Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösung literarischer Widersprüche, Frankfurt a. M. 1973, S. 86 ff.

Eine Rotte von Narren mit roten Kappen 1 Vgl. meinen Aufsatz: „Es ist der Herren eig’ner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln“. In ders.: Pro und Contra Goethe, Oxford 2005, S. 139–158. 2 Vgl. meinen Aufsatz: Der Streit um die Klassik-Legende um 1970. In: Ebd., S. 177– 190. 3 Jörg Drews: Sichtung und Klarheit. Kritische Streifzüge durch die Goethe-Ausgaben und die Goethe-Literatur der letzten fünfzehn Jahre, München 1999, S. 6. 4 W. Daniel Wilson: Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar, München 1999, S. 2. 5 Vgl. hierzu im Hinblick auf Goethe als ersten Einstieg die Bibliographie „Goethe und die Französische Revolution“. In: Goethe Handbuch, Bd. IV,1. Hrsg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto, Stuttgart 1998, S. 319. 6 Z. B. in Walter Grab: Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner, Frankfurt a. M. 1984, S. 26 f. und ders.: Die Französische Revolution. Aufbruch in die moderne Demokratie, Stuttgart 1989, S. 226. 7 Vgl. W. Daniel Wilson: Geheimräte gegen Geheimgesellschaften. Ein unbekanntes Kapitel der klassisch-romantischen Geschichte Weimars, Stuttgart 1991, S. 11 und 17 ff. 8 Vgl. hierzu u. a.: Die Illuminaten. Quellen und Texte zur Aufklärungsideologie des Illuminatenordens (1776–1783). Hrsg. von Jan Rachold, Berlin 1984, S. 11, und meinen Aufsatz: Der „Fall Geiger“. In ders.: Von Mainz nach Weimar (1793–1919). Studien zur deutschen Literatur, Stuttgart 1969, S. 67. 9 Zit. in Walter Grab: Die Französische Revolution (wie Anm. 6), S. 433. 10 W. Daniel Wilson: Geheimräte gegen Geheimgesellschaften (wie Anm. 7), S. 143 ff. 11 Vgl. hierzu: Goethes Weimar und die Französische Revolution. Hrsg. von W. Daniel Wilson, Köln 2004, S. 217 ff. 12 Vgl. W. Daniel Wilson: Das Goethe-Tabu (wie Anm. 4), S. 179 ff. 13 Vgl. Goethes Weimar (wie Anm. 11), S. 516. 325

Anmerkungen

14 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke, Stuttgart 1854, Bd. II, S. 308 und 311. 15 Ebd., S. 318. 16 Vgl. Lothar Ehrlich: Goethes Revolutionskomödien. In: Goethe Jahrbuch 107, 1990, S. 179 ff. 17 Vgl. Goethe und die Französische Revolution. Hrsg. von Karl Otto Conrady, Frankfurt a. M. 1988, S. 70 f. 18 Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Leipzig o. J., Bd. V, S. 381. 19 Vgl. Goethes Weimar (wie Anm. 11), S. 10. 20 Vgl. hierzu meinen Aufsatz: Mit scharfer Klinge. Der Xenien-Krieg von 1796. In ders: Pro und Contra Goethe (wie Anm. 1), S. 30–48. 21 So Bernd Leistner in: Der Xenien-Streit. In Hans-Dietrich Dahnke und Bernd Leistner (Hrsg.): Debatten und Konfrontationen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin 1989, S. 242. 22 Vgl. dazu Friedrich Sengle: Die Xenien Goethes und Schillers als Teilstück der frühen antibürgerlichen Bewegung. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 8, 1983, S. 121–144. Franz Schwarzbauer spricht in diesem Zusammenhang von einem napoleonischen „Staatsstreich im Reich des Schönen“. Vgl. sein Buch: Die Xenien. Studien zur Vorgeschichte der Weimarer Klassik, Stuttgart 1992, S. 43 und 226. 23 Weimarer Ausgabe. 1. Abtl., Bd. V,3, S. 115. 24 Zitiert werden die „Xenien“ im Text nach der Numerierung der Weimarer Ausgabe. 1. Abtl., Bd. V,1. 25 Vgl. Helmut Peitsch: Johann Georg Forster. In: Goethe Handbuch (wie Anm. 5), Bd. IV,1, S. 295. 26 Goethe und die Französische Revolution (wie Anm. 17), S. 137. 27 Vgl. Weimarer Ausgabe (wie Anm. 23), S. 153. 28 Ebd., S. 151. 29 Ebd., S. 152. 30 Ebd., S. 24. 31 Ebd., S. 313. 32 Goethe: Sämtliche Werke (wie Anm. 14), Bd. I, S. 361. 33 Schiller: Sämtliche Werke (wie Anm. 18), Bd. IV, S. 302. 34 Überarbeitete Fassung meines Aufsatzes: Eine Rotte von Narren mit roten Kappen. Goethes und Schillers Angriffe auf die deutschen Jakobiner. In: Johann Dvořák (Hrsg.): Aufklärung, Demokratie und die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Texte über Literatur und Politik in Erinnerung an Walter Grab (1919– 2000), Frankfurt a. M. 2011, S. 33–48.

326

Anmerkungen

Adliger Schloßherr und bürgerlicher Fabrikant 1 Vgl. mein Buch: Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus, Köln 2012, S. 97 ff. 2 Vgl. „Allgemeine Epochenprobleme“. In Jost Hermand und Manfred Windfuhr (Hrsg.): Zur Literatur der Restaurationsepoche, Stuttgart 1970, S. 3–61. 3 Vgl. Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848, Bd. I, Stuttgart 1971, S. 196 ff. 4 Vgl. Hans Mayer: Karl Immermanns „Epigonen“. In ders.: Studien zur deutschen Literatur, Berlin 1954, S. 129 ff. 5 Benno von Wiese: Karl Immermann. Sein Werk und sein Leben, Bad Homburg 1969, S. 21. 6 Vgl. Manfred Windfuhr: Immermanns erzählerisches Werk. Zur Situation des Romans in der Restaurationszeit, Gießen 1957, S. 145, und Gertrud Milkereit: Das Unternehmerbild im zeitkritischen Roman des Vormärz, Köln 1970, S. 8 ff. 7 Karl Immermann: Werk in fünf Bänden. Hrsg. von Benno von Wiese, Frankfurt a. M. 1971, Bd. II, S. 20. Im Folgenden wird im Text nach dieser Ausgabe zitiert. 8 Vgl. Kurt Böttcher et al.: Geschichte der deutschen Literatur von 1830 bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Berlin 1975, Bd. I, S. 103. 9 Vgl. ebd., S. 103. 10 Vgl. auch Heinrich Schauerte: Die Fabrik im Roman des Vormärz, Köln 1983, S. 39. 11 Vgl. u. a. Keith Bullivant und Hugh Ridley: Industrie und deutsche Literatur, München 1976, S. 77. 12 Vgl. Hans Mayer: Karl Immermanns „Epigonen“ (wie Anm. 4), S. 141. 13 Vgl. Manfred Windfuhr: Immermanns erzählerisches Werk (wie Anm. 6), S. 158. 14 Vgl. Siegfried Kohlhammer: Resignation und Revolte. Immermanns „Münchhausen“. Satire und Zeitroman der Restaurationsepoche, Stuttgart 1973, S. 129–140. 15 Im Hinblick auf den sozialen Roman der vierziger Jahre vgl. dazu u. a. Ilsedore Rarisch: Das Unternehmerbild in der deutschen Erzählliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1977, S. 21 ff., und Hans Adler: Soziale Romane im Vormärz, München 1980.

Wir sind endlich wer! 1 Vgl. hierzu schon mein Buch: Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus, Köln 2012, S.145 ff. 2 Vgl. dazu allgemein Benedict Schofield: Private Lives and Collective Destinies. Class, Nation, and the Folk in the Works of Gustav Freytag, London 2012. 3 Gustav Freytag: Soll und Haben, 100. Auflage, Leipzig 1919, Bd. I, S. 309. Im Folgenden wird im Text nach dieser Ausgabe zitiert. 4 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Vollständige Ausgabe, Stuttgart 1854, Bd. III, S. 356. 327

Anmerkungen

5 Vgl. Christine Achinger: Gespaltene Moderne. Gustav Freytags „Soll und Haben“. Nation, Geschlecht und Judenbild, Würzburg 2007, S. 98. 6 Ebd., S. 102. 7 Ebd., S. 104. 8 Vgl. Paul Ostwald: Gustav Freytag als Politiker, Berlin 1927, S. 67. 9 Vgl. ebd., S. 84 ff. 10 Vgl. Kurt Böttcher et al.: Geschichte der deutschen Literatur von 1830 bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Berlin 1975, Bd. I., S. 514. 11 Vgl. hierzu u. a. Michael Schneider: Geschichte als Gestalt. Formen der Wirklichkeit und Wirklichkeit der Form in Gustav Freytags „Soll und Haben“, Stuttgart 1980, ders.: Apologie des Bürgers. Zur Problematik von Rassismus und Antisemitismus in Gustav Freytags Roman „Soll und Haben“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 25, 1981, S. 385–413, Hans Otto Horch: Judenbilder in der realistischen Literatur. Jüdische Figuren bei Gustav Freytag, Fritz Reuter, Berthold Auerbach und Wilhelm Raabe. In Herbert A. Strauss und Christhard Hoffmann (Hrsg.): Juden und Judentum in der Literatur, München 1985, S. 140–171, Gabriele Büchler-Hauschild: Erzählte Arbeit. Gustav Freytag und die soziale Prosa des Vorund Nachmärz, Paderborn 1987, S. 289, Klaus Christian Köhnke: Ein antisemitischer Autor wider Willen. Zu Gustav Freytags Roman „Soll und Haben“. In Hans Otto Horch und Horst Denkler (Hrsg.): Laudatio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutsche Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 1989, S. 130–147, und Alyssa A. Lonner: Mediating the Past. Gustav Freytag, Progress, and German Historical Identity 1848–1871, Oxford 2005, S. 13 f. 12 Vgl. Michael Schneider: Geschichte als Gestalt (wie Anm. 11), S. 69. 13 Vgl. die Biographie Walter Grabs in meinem Buch: Vorbilder. Partisanenprofessoren im geteilten Deutschland, Köln 2014, S. 213–232. 14 Im Gespräch mit dem Verfasser. Vgl. auch Hans Mayers Nachwort zu der Neuausgabe von Gustav Freytags „Soll und Haben“, München 1977, S. 837–844. 15 Vgl. hierzu Christine Achinger: Gespaltene Moderne (wie Anm. 5), S. 168–185. 16 Vgl. Martin Gubser: Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998. S. 17 ff. 17 Vgl. ebd., S. 21. 18 Ebd., S. 192. Vgl. beispielsweise Jean Amery: Schlecht kling das Lied vom braven Mann. In: Neue Rundschau 89, 1978, S. 89, und Florian Krobb (Hrsg.): 150 Jahre „Soll und Haben“. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman, Würzburg 2005, S. 285–322. 19 Gustav Freytag: Die verlorene Handschrift, Leipzig 1920, Bd. I, S. 296. 20 Vgl. u. a. Matthew Lange: Antisemitic Elements in the Critique of Capitalism in German Culture 1850–1933, Oxford 2007, S. 35–102.

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Anmerkungen

21 Gustav Freytag: Eine Pfingstbetrachtung. In ders.: Vermischte Aufsätze aus den Jahren 1848 bis 1994. Hrsg. von Ernst Elster, Leipzig 1903, Bd. II, S. 312. 22 Vgl. Daniel Goldhagen: Hitler’s Willing Executioners, New York 1996. 23 Vgl. hierzu allgemein Izabela Surynt: Das „ferne“, „unheimliche“ Land. Gustav Freytags Polen, Dresden 2004. 24 Theodor Fontane: Gustav Freytags „Soll und Haben“. In: Literaturblatt des deutschen Kunstblattes 2, 1855, S. 225.

Die selbstgefällige Großbourgeoisie der Gründerzeit 1 Vgl. mein Buch: Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus, Köln 2012, S. 161 ff. 2 Vgl. u. a. Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 1973, S. 48 ff. 3 Vgl. Peter Brandt: Preußen. Zur Sozialgeschichte eines Staates, Reinbek 1981, Bd. III, S. 233 ff., und Rolf Engelsing: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Göttingen 1973, S. 166 f. 4 Vgl. Richard Hamann und Jost Hermand: Gründerzeit, Berlin 1965, S. 22 ff. 5 Vgl. zum Folgenden meinen Aufsatz: Der gründerzeitliche Parvenü. In Eberhard Roters (Hrsg.): Aspekte der Gründerzeit, Berlin 1974, S. 7–15, und David Bruce Little: The Parvenu in the Berlin Novel, Diss. Wisconsin 1977. 6 Vgl. u. a. Mirosław Ossowski: Der „Berliner Roman“ zwischen 1880 und 1900, Rzeszów 1989. 7 Max Kretzer: Zur Entwicklung und Charakteristik des „Berliner Romans“. In: Magazin der Literatur des In und Auslandes, 1895, Nr. 43. Vgl. dazu auch Patrick Küppers: Die Sprache der Großstadt. Zeitkritik und ästhetische Moderne in den frühnaturalistischen Berlinromanen Max Kretzers, Marburg 2014, S. 99 ff. 8 Peter Wruck: Literarisches Leben in Berlin 1871–1933, Berlin 1989, S. 14. 9 Vgl. Otto Glagau: Der Kolportage-Roman oder „Gift und Dolch, Verrat und Rache“. In: Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft 6, 1870, S. 51–59. 10 Theodor Fontane: Die gesellschaftliche Stellung des Schriftstellers. In: Magazin für Literatur 60, 1891, Nr. 52, S. 818. 11 Hans-Friedrich Rosenfeld: Zur Entstehung Fontanescher Romane, Groningen 1926, S. 32. 12 Vgl. Reinhard Bentmann und Michael Müller: Theodor Fontanes „Villa Treibel“. In dies. (Hrsg.): Die Villa als Herrschaftsarchitektur. Versuch einer kunst- und sozialgeschichtlichen Analyse, Frankfurt a. M. 1992, S. 141 f. 13 Vgl. Frank Eberhard: Vom Handwerker zum Großindustriellen. Ein Destillierapparat bestimmte den Weg von Carl Justus Heckmann. In: Berlinische Monatsschrift 12, 1999, S. 4–13, Hans Soost: Der wirkliche „Kommerzienrat Treibel“. In: Mitteilungen der Theodor Fontane Gesellschaft 22, Juni 2002, S. 39 f., und Tobias

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Anmerkungen

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Witt: Anhang zu Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel. In Theodor Fontane: Große Brandenburger Ausgabe, Berlin 2005, S. 228 f. Hans Friedrich Rosenfeld: Zur Entstehung (wie Anm. 11), S. 33. Vgl. Tobias Witt: Anhang (wie Anm. 13), S. 230. Hans Friedrich Rosenfeld: Zur Entstehung (wie Anm.11), S. 16. Tobias Witt: Anhang (wie Anm. 13), S. 230–235. Vgl. dazu allgemein Bernd W. Seiler: Fontanes Berlin. Die Hauptstadt in seinen Romanen, Berlin 2010. Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel (wie Anm. 13), S. 9. Im Folgenden wird im Text nach dieser Ausgabe zitiert. Vgl. Kurt Böttcher et al. (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1830 bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Berlin 1975, S. 990. Ebd., S. 990. Vgl. das Kapitel „Der unbestechliche Beobachter gesellschaftlicher Verhältnisse“ in meinem Buch: Adolph Menzel, Reinbek 1986, S. 79–101. Vgl. Tobias Witt: Anhang (wie Anm. 13), S. 250. Ebd., S. 250. Ebd., S. 251. Ebd., S. 252. Ebd., S. 252. Ebd., S. 252. Vgl. das Kapitel „Die Abwendung vom Naturalismus“ in Richard Hamann und Jost Hermand: Impressionismus, Berlin 1960, S. 194–205.

Bürgerliche Sympathisanten und proletarische Widersacher der frühen Sozialdemokratie 1 Vgl. zum Folgenden auch Richard Hamann und Jost Hermand: Naturalismus, Berlin 1959, S. 39–50. 2 Bruno Wille: Einsiedler und Genosse, Berlin 1890, S. 103. 3 Hermann Conradi: Phrasen, Leipzig 1887, S. 21, 40 und 241. 4 Ebd., S. 232 f. 5 Ebd., S. 314. 6 Georg Lukács: Der deutsche Naturalismus. In ders.: Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur, Berlin 1955, S. 101. 7 Wilhelm Hegeler in: Die Gesellschaft, 1900, S. 230 f. 8 Hans Land: Der neue Gott. Roman aus der Zeit des Sozialistengesetzes, Berlin 1890, S. 1191. 9 Arthur Eloesser: Fünfundzwanzig Jahre. In: Fischer-Jahrbuch, 1911, S. 14 f. 10 Franz Mehring: Gesammelte Schriften und Aufsätze, Berlin 1929, Bd. II, S. 112. 11 Gerhart Hauptmann: Gesammelte Werke, Berlin 1922, Bd. I, S. 49 f.

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Anmerkungen

12 Ebd., S. 105. 13 Vgl. u. a. Georg Fülberth: Proletarische Partei und bürgerliche Literatur, Neuwied 1972, Herbert Scherer: Bürgerlich-oppositionelle Literaten und sozialdemokratische Arbeiterbewegung nach 1890, Stuttgart 1974, und Manfred Brauneck: Literatur und Öffentlichkeit im ausgehenden 19. Jahrhundert, Stuttgart 1974. 14 Vgl. zum Folgenden auch meinen Aufsatz: Carl Fischer: Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters (1903–05). In ders.: Unbequeme Literatur. Eine Beispielreihe, Heidelberg 1971, S. 87–106, und Carol Poore: The Bonds of Labor. German Journeys to the Working World 1890–1990, Detroit 2000, S. 27–44. 15 Vgl. Richard Hamann und Jost Hermand: Naturalismus (wie Anm. 1), S. 241. 16 Paul Göhre: Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche, Leipzig 1891, S. 222. 17 Ders.: Die evangelisch-soziale Bewegung, ihre Geschichte und ihr Ziel, Leipzig 1896, S. 177. 18 Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters. Hrsg. von Paul Göhre, Jena 1903. S. XI. 19 Ebd., S. IV. 20 Eugen Diederichs: Selbstzeugnisse und Briefe von Zeitgenossen, Düsseldorf 1967, S. 136. 21 Ebd., S. 90. 22 Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters. Hrsg. von Paul Göhre, Bd. II, Jena 1905, S. XII. 23 Ebd., S. XV. 24 Dazu paßt, daß Paul Göhre und Eugen Diederichs ständig den Haß betonten, den Fischer auf die Sozialdemokraten hatte. Vgl. Selbstzeugnisse (wie Anm. 20), S. 138. 25 Denkwürdigkeiten (wie Anm. 22), S. XVI. 26 Vgl. Der deutsche Vormärz. Hrsg. von Jost Hermand, Stuttgart 1967, S. 385. 27 Vgl. Wolfgang Emmerich (Hrsg.): Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland, Reinbek 1974, Bd. I, S. 22 f.

Imperialistische Stimmungsmache vor 1914 1 Vgl. neben dem Werk von Christopher Clark: The Sleepwalkers. How Europe went to War in 1914, London 2012, auch die Bücher von Margaret MacMillan: The War That Ended Peace. The Road to 1914, New York 2013, und Michael S. Neiberg: Dance of the Furies. Europe and the Outbreak of World War I, Boston 2011. 2 Vgl. Günter Heidorn: Monopole – Presse – Krieg. Die Rolle der Presse in der Vorbereitung des Ersten Weltkriegs, Berlin 1960. 3 Vgl. Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart 1959.

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Anmerkungen

4 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 1973, S. 41–59. 5 Vgl. u. a. Jürgen Kuczynski: Studien zur Geschichte des deutschen Imperialismus, Bd. I, Monopole und Unternehmerverbände, Berlin, 2. Aufl., 1951, und Fritz Klein: Deutschland von 1896/98 bis 1917. Deutschland in der Periode des Imperialismus bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, Berlin 1977, S. 16–34. 6 Vgl. Willibald Gutsche: Zur Imperialismus-Apologie in der BRD. Neue Imperialismusdeutungen in der BRD-Historiographie zur deutschen Geschichte 1898 bis 1917, Berlin 1975. 7 Vgl. Fritz Fischer: Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914, Düsseldorf 1969, S. 40–61. Vgl. dazu auch George W. f. Hallgarten und Joachim Radkau: Deutsche Industrie und Politik von Bismarck bis heute, Frankfurt a.M. 1974, S. 69–104. 8 Vgl. u. a. Karl Holl, Hans Klaft und Gerd Fesser: Caligula. Wilhelm II. und der Cäsarenwahnsinn, Bremen 2001. 9 Vgl. Fritz Fischer: Krieg der Illusionen (wie Anm. 7), S. 17–39, und Reinhard Opitz (Hrsg.): Europastrategien des deutschen Kapitals. 1900–1945, Köln 1977, S. 127– 210. 10 Vgl. meinen Aufsatz: Der verdrängte Naturalismus. In ders.: Der Schein des schönen Lebens. Studien zur Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1972, S. 26–38. 11 Vgl. Helmut Donat und Dieter Riesenberger: Die Friedensbewegung in Deutschland 1892–1933, Stuttgart 1986, S. 17 ff. 12 Vgl. dazu allgemein Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1996. 13 Alexander Tille: Von Darwin zu Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik, Leipzig 1895, S. 240. 14 Ebd., S. 207. 15 Zit. in Max Robert Gerstenhauer: Der völkische Gedanke in Vergangenheit und Zukunft. Aus der Geschichte der völkischen Bewegung, Leipzig 1933, S. 31 f. 16 Vgl. u. a. Geoff Eley: Reshaping the German Reich. Radical Nationalism and Political Change after Bismarck, New Haven 1980, Roger Chickering: We Men Who Feel Most German. A Cultural Study of the PanGerman League 1896–1914, Boston 1984, und Michael Peters: Der „Alldeutsche Verband“. In: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ (wie Anm. 12), S. 302–315. 17 Vgl. die Dokumente in dem Band: Europastrategien des deutschen Kapitals (wie Anm. 9), S. 180–198. 18 Vgl. Daniel Frymann [Heinrich Claß]: Wenn ich Kaiser wär’. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, Leipzig 1912, S. 8, 137 und 142. 19 Vgl. das Kapitel: Der Gedankenkreis der „Fortschrittlichen Reaktion“. In Richard Hamann und Jost Hermand: Stilkunst um 1900, Berlin 1967, S. 24–203.

332

Anmerkungen

20 Vgl. mein Buch: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1988, S. 57–65. 21 Jahrbuch für die geistige Bewegung 3, 1912, S. IV, 144 und 148. 22 Vgl. hierzu: Der alte Traum vom neuen Reich (wie Anm. 20) S. 77–84, sowie meine Aufsätze: Germania germanicissima. Zum präfaschistischen Arierkult um 1900. In ders.: Der Schein des schönen Lebens (wie Anm. 10), S. 39–54, und: Vom Werfenstein zur Wewelsburg. Die sogenannten arioheroischen Geheimbünde. In ders. und Sabine Mödersheim (Hrsg.): Deutsche Geheimgesellschaften von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Köln 2013, S. 144–150. 23 Vgl. u. a. Willibald Hentschel: Varuna. Eine Welt- und Geschichtssicht vom Standpunkt des Ariers, Leipzig, 2. Aufl., 1907, S. 610. 24 Jörg Lanz von Liebensfels: Theozoologie oder die Kunde von den Sodomsäfflingen und dem Götterelektron, Wien 1906, S. 159 f. Vgl. dazu auch Adolf Harpf: Die Zeit des ewigen Friedens. Eine Apologie des Krieges als Kultur und Rassenauffrischer. In: Ostara 19/20, 1908, S. 3–17. 25 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich (wie Anm. 4), S. 173. 26 Vgl. mein Buch: Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus, Köln 2012, S. 190. 27 Heinrich Claß: Wenn ich Kaiser wär’ (wie Anm. 18), S. 137, 142 und 227. 28 Vgl. Verlorene Illusionen (wie Anm. 27), S. 206. 29 Ebd., S. 209. 30 Vgl. ebd., S. 206–212, Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000, und Frank Trommler: Kulturmacht ohne Kompaß. Deutsche auswärtige Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert, Köln 2014, S. 185– 205. 31 Überarbeitete Fassung meines Aufsatzes: Imperialistische Stimmungsmache vor 1914. In Heinrich Bleicher-Nagelsmann et al. (Hrsg.): Der Krieg in Kunst, Literatur und Wissenschaft. Mössingen 2015, S. 11–32.

Von Grund auf anders? 1 Vgl. mein Buch: Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus, Köln 2012, S. 2213 f., und Frank Trommler: Kulturmacht ohne Kompaß. Deutsche auswärtige Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert, Köln 2014, S. 185 ff. 2 Vgl. Richard Hamann und Jost Hermand: Expressionismus, Berlin 1977, S. 226 ff. 3 In: Ja! Stimmen des Arbeitsrates für Kunst in Berlin, Berlin 1919, S. 32. 4 Vgl. u. a. Friedrich-Wilhelm Henning: Das industrialisierte Deutschland 1914 bis 1972, Paderborn 1974, S. 32 ff. 5 Vgl. dazu allgemein Horst Denkler: Klänge aus Utopia. Zeitkritik,Wandlung und Utopie im expressionistischen Drama, Berlin 1982. 333

Anmerkungen

6 Georg Kaiser: Werke. Hrsg. von Walther Huder, Bd. IV, Frankfurt a. M. 1971 , S. 549. 7 Ebd., Bd. IV, S. 550. 8 Ebd., Bd. I, S. 661 f. 9 Ebd., Bd. I, S. 685. 10 Vgl. Peter K. Tyson: The Reception of Georg Kaiser 1915–1945, New York 1984, Bd. I, S. 49–68. 11 Georg Kaiser: Werke (wie Anm. 6), Bd. II, S. 12. 12 Ebd., Bd. II, S. 19. 13 Zum Problem der Arbeiterdarstellung bei Georg Kaiser vgl. allgemein Rudolf Bussmann: Einzelner und Masse. Zum dramatischen Werk Georg Kaisers, Kronberg 1978, S. 101 ff. und 198 ff. 14 Georg Kaiser: Werke (wie Anm. 6), Bd. II, S. 55. 15 Ebd., Bd. II, S. 58. 16 Ebd. 17 Vgl. hierzu nochmals Horst Denkler: Klänge aus Utopia (wie Anm. 5). 18 Vgl. mein Buch: Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des ökologischen Bewußtseins, Frankfurt a. M. 1991, S. 106. 19 Vgl. Georg Kaiser: Briefe. Hrsg. von Gesa M. Valk, Frankfurt a. M. 1980, S. 158f. Über den Einfluß Gustav Landauers auf Kaiser vgl. u. a. Rudolf Bussmann: Einzelner und Masse (wie Anm. 13), S. 174 ff., Rhys W. Williams: Der werdende Mensch. Georg Kaiser und Gustav Landauer. In Frank Krause (Hrsg.): Georg Kaiser and Modernity, Göttingen 2005, S. 78 ff., und Axel Goodbody: Technology and Nature in the Plays of Georg Kaiser. In: Ebd., S. 57 ff. 20 Vgl. Peter K. Tyson: The Reception (wie Anm. 10), Bd. I, S. 49–68. 21 Ebd., Bd. I, S. 69–104. 22 Georg Kaiser: Werke (wie Anm. 6), Bd. II, S. 888. 23 Vgl. Peter K. Tyson: The Reception (wie Anm. 10), Bd. I, S. 126–137. 24 Georg Kaiser: Werke (wie Anm. 6), Bd. II, S. 142. 25 Vgl. Peter K. Tyson: The Reception (wie Anm. 10), Bd. I, S. 105–125. 26 Georg Kaiser: Werke (wie Anm. 6), Bd. II, S. 38. 27 Ebd., Bd. II, S. 345. 28 Ebd., Bd. II, S. 346. 29 Vgl. Jost Hermand und Frank Trommler: Kultur der Weimarer Republik, München 1978, S. 40 ff. 30 Georg Lukács: „Größe und Verfall des Expressionismus“. In ders.: Probleme des Realismus, Berlin 1955, S. 146 und 157.

334

Anmerkungen

Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise von 1929 1 Vgl. u. a. Fritz Blaich: Der Schwarze Freitag. Inflation und Wirtschaftskrise, München 1990, Rainer Meister: Die große Depression 1929–1932, Regensburg 1991, und Albert Ritschl: Deutschlands Krise und Konjunktur 1924–1935, Berlin 2002. 2 Vgl. Siegfried Kracauer: Die Angestellten, Frankfurt a. M. 1930, S. 135. 3 Vgl. u. a. Jürgen Manthey: Hans Fallada, Reinbek 1965, S. 95 f., und Patricia Fritsch: Der Roman „Kleiner Mann – was nun?“ im Spiegel der deutschen Presse im Jahr seiner Entstehung. In Gunnar Müller-Waldeck und Roland Ulrich (Hrsg.): Hans Fallada. Beiträge zu Leben und Werk, Rostock 1995, S. 249 f. 4 Vgl. meinen Aufsatz: Versuch, den Erfolg von Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ zu verstehen. In Dieter Borchmeyer und Till Heimeran (Hrsg.): Weimar am Pazifik. Literarische Wege zwischen den Kontinenten. Festschrift für Werner Vordtriede, Tübingen 1985, S. 71–78. 5 Vgl. u. a. Renate Möhrmann: Biberkopf, was nun? Großstadtmisere im Berliner Roman der präfaschistischen Ära. Dargestellt an Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und Hans Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ In: diskussion deutsch 9, 1978, S. 133 ff. 6 Vgl. u. a. Jürgen Manthey: Hans Fallada (wie Anm. 3), S. 87, und Hannes Möbius: Der Sozialcharakter des Kleinbürgers in den Romanen Falladas. In James Elliott, Jürgen Pelzer und Carol Poore (Hrsg.): Stereotyp und Vorurteil in der Literatur. Untersuchungen zu Autoren des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1978, S. 84–110. 7 Jürgen Manthey: Hans Fallada (wie Anm. 3), S. 86. 8 Hans Fallada: Heute bei uns zu Haus, Hamburg 1957, S. 24. 9 Vgl. Friedrich Engels an Minna Kautsky vom 26. November 1885. In Karl Marx und Friedrich Engels: Über Kunst und Literatur, Frankfurt a. M. 1968, Bd. I, S. 155 f. 10 Vgl. u. a. Wilhelm Treue: Deutschland in der Weltwirtschaftskrise in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1967, Wilhelm Breuer: Deutschland in der Wirtschaftskrise 1929/1932, Köln 1974, und Stefan Welzk: Vom Börsencrash zur Wirtschaftskrise. Hintergründe, Gefahren, Auswege, Köln 1988. 11 Ernst Glaeser, F. C. Weiskopf und Alfred Kurella: Staat ohne Arbeitslose, Berlin 1931. 12 Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun?, Berlin 1932, S. 191. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden im Text zitiert. 13 Vgl. meinen Aufsatz: Erik Regers „Union der festen Hand“ (1931). Roman oder Reportage? In ders.: Angewandte Literatur. Politische Strategien in den Massenmedien, Berlin 1996, S. 21–41. 14 Vgl. Jost Hermand und Frank Trommler: Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978, S. 187. 15 Vgl. Patricia Fritsch: Der Roman „Kleiner Mann – was nun?“ (wie Anm. 3), S. 250– 280. 335

Anmerkungen

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Ebd., S. 251. Freie Presse vom 29. September 1932. Christoph von der Ropp. In: Die junge Mannschaft 2, 1932, H. 2, S. 55 f. Vgl. Patricia Fritsch: Der Roman „Kleiner Mann – was nun?“ (wie Anm. 3), S. 255. Ebd., S. 258. Ebd., S. 263. Textilarbeiter-Zeitung vom 17. Dezember 1932. Patricia Fritsch: Der Roman „Kleiner Mann – was nun?“ (wie Anm. 3), S. 264. Ebd., S. 267. Vgl. Bettina Latzkow: „Wir werden doch nicht müssen am End?“ Leserbriefe zu „Kleiner Mann – was nun?“ In Gunnar Müller-Waldeck und Roland Ulrich (Hrsg.): Hans Fallada (wie Anm. 3), S. 273. Zit. in ebd., S. 274. Zit. in ebd., S. 276. Zit. in Jürgen Manthey: Hans Fallada (wie Anm. 3), S. 171. Vgl. auch Johannes R. Becher: Was nun? Zu Hans Falladas Tod. In: Aufbau 3, 1947, S. 97–101. Heinz Rein: Die große Literatur des kleinen Mannes. Der Fall Fallada. In: Einheit, Nr. 8, 1948, S. 711 ff., Lilly Becher: Ein Kronzeuge des „kleinen Mannes“. Zum 5. Todestag des Dichters Hans Fallada. In: Neues Deutschland, 1952, Nr. 30, Max Schröder: Hans Fallada. In: Neue deutsche Literatur, 1953, Nr. 12, S. 124 ff., Sabine Brandt. In: Sonntag, 1954, Nr. 20, und Wolfgang Joho. In: Sonntag, 1954, Nr. 18. Tamara Motyljowa: Das Schicksal eines deutschen Schriftstellers. In: Sowjetliteratur, 1948, Nr. 9, S. 137 ff. Vgl. u. a. Ruth Römer: Dichter des kleinbürgerlichen Verfalls. Vor zehn Jahren starb Hans Fallada. In: Neue deutsche Literatur 5, 1957, H. 2, S. 123 ff., und Alfred Gessler: Hans Fallada, Berlin 1976, S. 137 ff. Vgl. Dieter Mayer (Hrsg.): Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun? Historische, soziologische, biographische und literaturgeschichtliche Materialien zum Verständnis des Romans, Frankfurt a. M. 1978, S. 116 f. Vgl. auch Jürgen Manthey: Hans Fallada oder die unbewältigte Krise. In: Frankfurter Hefte 18, 1963, H. 3, S. 193 ff. Vgl. Claus-Dieter Krohn: Hans Fallada in der Weimarer Republik. Zur Disposition kleinbürgerlicher Mentalitäten vor 1933. In Helmut Arntzen (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emrich, Berlin 1978, S. 507 ff., Bernd Hüppauf: „Kleiner Mann – was nun?“ In Manfred Brauneck (Hrsg.): Der deutsche Roman im 20. Jahrhundert, Bamberg 1976, S. 209–239, Jürgen C. Thöming: Hans Fallada. Seismograph gesellschaftlicher Krisen. In Hans Wagener (Hrsg.): Zeitkritische Romane des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1975, S. 101 f., Dieter Mayer (Hrsg.): Hans Fallada (wie Anm. 32), S. 116 f., und Hannes Möbius: Der Sozialcharakter des Kleinbürgers (wie Anm. 6), S. 84–110.

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Anmerkungen

35 Eine vorläufige Fassung dieses Aufsatzes erschien in Heidi Beutin et al. (Hrsg.): „Wir müssen die Wahrheit über die barbarischen Zustände sagen“. Welt-WirtschaftsKrisen und ihre Auswirkungen auf Gesellschaft, Politik und Kultur, Mössingen 2014, S. 178–195.

„Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen“ 1 Vgl. meinen Aufsatz: More than a House-Painter? Brecht’s Hitler. In: Klaus L. Berghahn und Jost Hermand (Hrsg.): Unmasking Hitler. Cultural Representations of Hitler from the Weimar Republic to the Present, Oxford 2005, S. 171–192. 2 Vgl. Werner Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln, Berlin 1986, Bd. I, S. 526 ff. 3 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in acht Bänden. Hrsg. von Elisabeth Hauptmann, Frankfurt a. M. 1967, Bd. VIII, S. 246. 4 Vgl. u. a. Hans Mayer: Herrschaft und Knechtschaft. Hegels Deutung, ihre literarischen Ursprünge und Folgen. In: Hans Peter Neureuter (Hrsg.): Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“, Frankfurt a. M. 1987, S. 265–278. 5 Martin Esslin: Brecht. The Man and His Work, New York 1960, S. 306. 6 Franz Hubert Crumbach: Die Struktur des Epischen Theaters, Braunschweig 1960, S. 40 und 47. 7 Marianne Kesting: Das epische Theater, Stuttgart 1959, S. 86. 8 Frederic Ewen: Brecht. His Life, His Art, His Times, New York 1969, S. 370. 9 Franz Hubert Crumbach: Die Struktur des Epischen Theaters (wie Anm. 6), S. 41. 10 Eine gute Darstellung und zugleich Kritik der westlichen „Puntila/Matti“-Rezeption gibt E. Speidel: Brecht’s „Puntila“. A Marxist Comedy. In: Modern Language Review 65, 1970, S. 321 ff. 11 Dieter Hildebrandt: Kleine Brecht-Woche. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. April 1965. 12 Gerd Vielhaber: Wer – Wen? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Mai 1966. 13 Hans Schwab-Felisch: Saisonbeginn in Düsseldorf. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. September 1969. 14 Vgl. Henning Rischbieter: Bertolt Brecht, Velber, 2. Aufl., 1968, S. 44. 15 Bertolt Brecht: Werke (wie Anm. 3), Bd. VII, S. 1162. 16 Theaterarbeit. Hrsg. vom Berliner Ensemble, Dresden 1952, S. 42. 17 Zur höchst komplizierten Entstehungsgeschichte des „Puntila/Matti“ vgl. vor allem Richard Semrau: Das Volksstück Bertolt Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ und die finnische Bearbeitung des Themas von Hella Wuolijoki, HumboldtUniversität, Berlin 1959, Hans Bunge: Im Exil. In: Bertolt Brecht. Leben und Werk, Berlin 1963, S. 109 f., Friedrich Ege: Zur Urfassung von „Herr Puntila und sein Knecht Matti“. In: Theater Mosaik 2.6, 1964, S. 3–7, und ders.: Von der „Sägenmehlprinzessin“ zum „Puntila“. In: Theater Mosaik 3,7/8, 1965, S. 5–9. 337

Anmerkungen

18 Bertolt Brecht: Arbeitsjournal. Hrsg. von Werner Hecht, Frankfurt a. M. 1973, Bd. I, S. 164. 19 Vgl. Bestandsverzeichnis des literarischen Nachlasses, Bd. I, Stücke. Hrsg. von Herta Ramthun, Berlin 1969, S. 149. 20 Vgl. Friedrich Ege: Zur Urfassung von „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ (wie Anm. 17), S. 6. 21 Bertolt Brecht: Arbeitsjournal (wie Anm. 18), Bd. I, S. 169. 22 Ein anonymer Rezensent der Zeitschrift „Der Ruf“ charakterisierte daher den Attaché als „die gleiche Monokel-Rolle wie Zuckmayers Korpsstudent Knuzius“. In: Der Ruf 4,1, 1949, S. 14. 23 Ebenso auffällig sind folgende Ähnlichkeiten: Das „Pflaumenlied“ und „Charlottchen, Charlottchen geh mit mir ins Gras“; Eismeyer redet bei Tisch unentwegt vom Sauschlachten, Laina spricht mit der Pröbstin ständig von der Pilzzubereitung; beim Freimostfest werden die Veteranen hinausgeworfen, bei der Verlobungsfeier fliegt der Attaché vor die Tür; Puntila bezeichnet sich als „Nero“, von Gunderloch heißt es, daß er den „Cäsarenwahn“ habe; Eino und Knuzius prahlen beide mit ihren „fürstlichen“ Bekanntschaften; in beiden Stücken wird nachts im Freien Wasser abgeschlagen usw. 24 Carl Zuckmayer: Der fröhliche Weinberg, Berlin 1925, S. 109. 25 Bertolt Brecht: Werke, Berlin und Frankfurt a. M. 1989, Bd. VI, S. 369. 26 Bertolt Brecht: Arbeitsjournal (wie Anm. 18), Bd. I, S. 177. 27 Vgl. Walter H. Sokel: Brecht’s Split Characters and His Sense of the Tragic. In: Brecht. A Collection of Critical Essays. Hrsg. von Peter Demetz, Englewood 1962, S. 127–137. 28 Ebd., S. 133. Das gleiche Urteil findet sich bei Max Spalter: Brecht’s Tradition, Baltimore 1967, S. 146. 29 Franz Hubert Crumbach: Die Struktur des Epischen Theaters (wie Anm. 6), S. 43. 30 Paul Rilla: Über „Herr Puntila und sein Knecht Matti“. In: Programmheft, S. 11. 31 Fritz Martini: Soziale Thematik und Formwandlungen des Dramas. In: Episches Theater. Hrsg. von Reinhold Grimm, Köln 1966, S. 270. 32 Paul Dessau: Zur „Puntila-Oper“. In: Programmheft, S. 1. 33 Ilja Fradkin: Bertolt Brecht – ein Realist und Aufklärer. In: Sowjetwissenschaft. Kunst und Literatur 4,4, 1956, S. 367; ders.: Bertolt Brecht. Weg und Methode, Leipzig 1974, S. 220; Alfred B. Bergstedt: Herr Puntila, der „Gute Mensch“ von Lammi. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Pädagogischen Hochschule Potsdam 6,2, 1963, S. 97, und Fritz Hennenberg: Dessau-Bericht, Berlin 1963, S. 35. 34 Paul Rilla: Über „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ (wie Anm. 30), S. 11. 35 Henning Rischbieter: Bertolt Brecht (wie Anm. 14), S. 48. 36 Möglicherweise stützte sich Brecht hierbei auch auf die Erzählung „Der Brotherr“ (1913) von Maxim Gorki. Dort steht dem klugen Knecht ebenfalls ein weichherzigbrutaler Quartalssäufer gegenüber, der sich dauernd als „guter Mensch“ bezeichnet, 338

Anmerkungen

mit seinen Knechten mal höchst vertraulich tut und sie wenige Minuten später mit Füßen tritt (vgl. Erzählungen, Berlin 1955, Bd. V, S. 326, 373). Als dieser russische „Puntila“ schließlich heuchlerisch von sich behauptet: „Ich wollte, daß die Menschen sich in meiner Nähe wohlfühlen“ (S. 379), verlangt der kluge Knecht, der an sich eine recht bevorzugte Stelle innehat, kurzentschlossen seine Entlassungspapiere. 37 Bertolt Brecht: Werke (wie Anm. 3), Bd. VI, S. 361. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Franz Hubert Crumbach: Die Struktur des Epischen Theaters (wie Anm. 6), S. 41. 41 Martin Walser: Heimatkunde, Frankfurt a. M. 1968, S. 79. 42 Walter Hinck: Die Dramaturgie des späten Brecht, Göttingen 1959, S. 33. 43 Theaterarbeit (wie Anm. 16), S. 22. 44 Bertolt Brecht: Werke (wie Anm. 3), Bd. VI, S. 285. 45 Theaterarbeit (wie Anm. 16), S. 46 46 Ebd., S. 16. 47 Vgl. meinen Aufsatz: „Das Feld muß in seiner historischen Relativität gekennzeichnet werden.“ Brechts Verneinung des Tragischen. In: ders.: Die Toten schweigen nicht. Brecht-Aufsätze, Frankfurt a. M. 2010, S. 95–106. 48 Bertolt Brecht: Werke (wie Anm. 25), Bd. VI, S. 370. 49 Programmheft, S. 7. 50 Vortrag auf einer der frühen Tagungen der Internationalen Brecht-Gesellschaft im November 1969 in Montreal. Erstfassung in: Brecht heute – Brecht today 1, 1971, S. 117–136. Für diesen Band stark überarbeitet.

Erzwungener Sozialismus 1 Vgl. zum Folgenden schon mein Buch: Verlorene Illusionen.· Eine Geschichte des deutschen Nationalismus, Köln 2012, S. 297 ff. 2 Vgl. hierzu u. a.: DDR-Handbuch. Hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Köln, 3. Aufl., 1985, S. 1486 f., und Rolf Walter: Wirtschaftsgeschichte vom Merkantilismus bis zur Gegenwart, Köln, 5. Aufl., 2011, S. 273 ff. 3 Vgl. mein Buch: Kultur im Wiederaufbau, München 1986, S. 251 ff. 4 Vgl. hierzu meinen Aufsatz: Ernst Hermann Meyers Polemik gegen die „westliche Unkultur in der Musik“. In Ulrich Blomann (Hrsg.): Kultur und Musik nach 1945: Ästhetik im Zeichen des Kalten Krieges, Saarbrücken 2014, S. 252–265. 5 Vgl. mein Buch: Unerfüllte Hoffnungen. Rückblicke auf die Literatur der DDR, Oxford 2012, S. 42 f. 6 Vgl. Horst Haase (Hrsg.): Literatur der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1976, S. 254 f. 7 Vgl. Rüdiger Thomas: Modell DDR. Die kalkulierte Emanzipation, München, 5. Aufl., 1975, S. 15.

339

Anmerkungen

8 Vgl. Horst Haase (Hrsg.) Literatur der Deutschen Demokratischen Republik (wie Anm. 6), S. 256. 9 Vgl. David Bathrick: Agroprop: Kollektivismus und Drama in der DDR. In Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.): Geschichte im Gegenwartsdrama, Stuttgart 1976, S. 96–110. 10 Vgl. mein Buch: Unerfüllte Hoffnungen (wie Anm. 5), S. 41–56. 11 Vgl. hierzu meinen Aufsatz: „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“. Heiner Müllers Bekenntnis zu Lenin. In Jost Hermand und Helen Fehervary: Mit den Toten reden. Fragen an Heiner Müller, Köln 1999, S. 190–199. 12 Heiner Müller: Werke. Hrsg. von Frank Hörnigk, Bd. III, Frankfurt a. M. 2000, S. 108. 13 Vgl. Falk Strehlow: Balke. Heiner Müllers „Der Lohndrücker“ und seine intertextuellen Verwandtschaftsverhältnisse, Stuttgart 2006. 14 Vgl. meinen Aufsatz: „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ (wie Anm. 11), S. 199. 15 Vgl. hierzu allgemein Helen Fehervary: Heiner Müllers Brigadenstücke. In: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur 2, 1971, S. 103–140. 16 Vgl. Heiner Müller: Werke, Bd. III (wie Anm. 12) S. 538. 17 Ebd., S. 358. 18 Heiner Müller: Werke, Bd. VIII (wie Anm. 12), S. 36. 19 Ebd., Bd. II, S. 17. 20 Helen Fehervary: Heiner Müllers Brigadenstücke (wie Anm. 15), S. 7. 21 Vgl. Käthe Rülicke-Weiler: Die Dramaturgie Brechts. Theater als Mittel der Veränderung, Berlin 1965, S. 258. 22 Helen Fehervary: Heiner Müllers Brigadenstücke (wie Anm. 15), S. 7. 23 Heiner Müller: Werke Bd. III (wie Anm. 12), S. 35. Im Folgenden wird im Text nach dieser Ausgabe zitiert. 24 Heiner Müller: Geschichten aus der Produktion, Berlin 1974, S. 15. 25 Nach mündlichen Ausführungen Müllers dem Verfasser gegenüber. 26 Vgl. mein Buch: Verlorene Illusionen (wie Anm. 1), S. 315 f. 27 Vgl. dazu auch meinen im Jahr 1988 geschriebenen, aber von Müller als unrealisierbar abgelehnten Dialog: Regisseure unter sich. Ein Gespräch über den „Lohndrücker“. In: Müller Material. Texte und Kommentare. Hrsg. von Frank Hörnigk, Leipzig 1990, S. 236–250.

Im Schlaraffenland des westdeutschen Wirtschaftswunders 1 Vgl. mein Buch: Kultur im Wiederaufbau, München 1986, S. 36 ff. 2 Vgl. u. a. Hans-Peter Schwarz: Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik 1949–1957, Stuttgart 1981, Werner Abelshauser: Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Frankfurt a. M. 1983, und Frank Gruber und Gerhard Richter: Das Wirtschaftswunder. Unser Weg in den Wohlstand, Hamburg 1983. 340

Anmerkungen

3 Vgl. Kultur im Wiederaufbau (wie Anm. 1), S. 22. 4 Ebd., S. 251. 5 Vgl. zum Folgenden u. a. Gerald A. Fetz: Martin Walser, Stuttgart 1997, und Jörg Magenau: Martin Walser. Eine Biographie, Reinbeck 2008. 6 Anthony Waine: Martin Walser, München 1980, S. 27. 7 Ebd., S. 19. 8 MartinWalser: Werke, Frankfurt a. M. 1997, Bd. I, S. 9. Alle Zitate im Text sind dieser Ausgabe entnommen. 9 Zur Rezeption dieses Romans vgl. Erhard Schütz: Von Kafka zu Kristlein. Zu Martin Walsers früher Prosa. In Klaus Siblewski: Martin Walser, Frankfurt a. M. 1991, S. 65 ff. und Gerald A. Fetz: Martin Walser (wie Anm. 5), S. 28 ff. 10 Wolf Jobst Siedler: Deutschlands junge Männer sind mißmutig. In: Tagespiegel vom 17. Dezember 1957. 11 Vgl. Karl August Horst: Neuer Wein in alten Schläuchen. In: Jahresring 58/59, 1958, S. 361 f., und Adrian Morriën in: Über Martin Walser. Hrsg. von Thomas Beckermann, Frankfurt a. M. 1970, S. 361 f. 12 Klaus Pezold: Martin Walser. Seine schriftstellerische Entwicklung, Berlin 1971, S. 67 ff. 13 Renate Möhrmann: Der neue Parvenü. Aufsteigermentalität in Martin Walsers „Ehen in Philippsburg“. In: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur 6, 1976, S. 140–159. 14 Anthony Waine: Martin Walser (wie Anm. 6). 15 Gerald A. Fetz: Martin Walser (wie Anm. 5). 16 Karl Rathmann: Deutschsprachige Schriftsteller nach 1945, Stuttgart 1985, S. 352– 357.

Ihr da oben – wir da unten 1 Vgl. u. a. Frank Grube und Gerhard Richter: Das Wirtschaftswunder. Unser Weg in den Wohlstand, Hamburg 1983. 2 Vgl. Andreas Metz: Die ungleichen Gründerväter. Adenauer und Erhards langer Weg an die Spitze der Bundesrepublik, Konstanz 1998. 3 Vgl. dazu schon mein Buch: Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus; Köln 2012, S. 329. 4 Arnold Gehlen: Konsum und Kultur. In ders.: Gesamtausgabe. Hrsg. von KarlSiegbert Rehberg, Frankfurt a. M. 1978, Bd. VII, S. 3. 5 Ludwig Erhard: Wohlstand für alle, Düsseldorf 1957, S. 7. 6 Ebd., S. 9, 14, 39 und 248. 7 Vgl. mein Buch: Kultur im Wiederaufbau, München 1986, S. 521 ff. 8 Vgl. hierzu: „Der Klassenkampf ist nicht zu Ende“. Rolf Hochhuth über die sozialen Verhältnisse in der Bundesrepublik. In: Der Spiegel vom 26. Mai 1965, S. 28–44.

341

Anmerkungen

9 Vgl. u. a. Manfred Durzak: Literatur der Arbeitswelt in der Bundesrepublik Deutschland. In ders. (Hrsg.): Deutsche Gegenwartsliteratur. Ausgangspositionen und aktuelle Entwicklungen, Stuttgart 1981, S. 317 ff., und Hanneliese Palm: Fritz Hüser als Mentor der Dortmunder Gruppe 61. In Gertrude Cepl-Kaufmann und Jasmin Grande (Hrsg.): Schreibwelten – Erschriebene Welten. Zum 50. Geburtstag der Dortmunder Gruppe 61, Essen 2011, S. 172–181. 10 Vgl. u. a. Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.) Gruppe 61. Arbeiterliteratur – Literatur der Arbeitswelt? München 1971, und Bernd Witte: Arbeiterliteratur. Auseinandersetzung mit der industriellen Arbeitswelt und Wirkungen in der Praxis. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. XXII. Hrsg. von Jost Hermand, Wiesbaden 1979, S. 335–356. 11 Vgl. Stephan Reinhard: Max von der Grün. Materialienbuch, Darmstadt 1978. 12 Vgl. u. a. Ina Braun: Günter Wallraff. Leben – Werk – Wirken – Methoden, Würzburg 2007, S. 11 ff., und Jürgen Gottschlich: Der Mann, der Günter Wallraff ist, Köln 2007. 13 Ebd., S. 19. 14 Zit. in Christian Linder (Hrsg.): In Sachen Wallraff. Berichte, Analysen, Meinungen und Dokumente, Köln 1975, S. 47. 15 Vgl. zum Folgenden auch Reinhard Dithmar: Günter Wallrafts Industriereportagen, Kronberg 1977, und Carol Poore: The Bonds of Labor. German Journeys to the Working World 1890–1990, Detroit 2000, S. 218–224. 16 Günter Wallraff: Reportagen 1963–1974. Hrsg. von Dorlies Pollmann, Köln, 3. Aufl., 1976, S. 244. 17 Ebd., S. 244. 18 Günter Wallraff: Die Reportagen, Köln 1976, S. 174. 19 Ebd., S. 175. 20 Ebd., S. 176. Vgl. dazu auch Frank Berger: Thyssen gegen Wallraff. Chronik einer politischen Affäre, Göttingen 1988, und Heinrich Hannover: Der Fall Günter Wallraff. Die Verfolgung eines kritischen Journalisten (1968–1975). In ders.: Die Republik vor Gericht 1954–1974. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts, Berlin, 2. Aufl., 1998, S. 300–315. 21 Bernt Engelmann und Günter Wallraff: Ihr da oben – wir da unten, Köln 1973, S. 202. 22 Ebd., S. 227. 23 Vgl. Carol Poore: The Bonds of Labor (wie Anm. 15), S. 234–247. 24 Günter Wallraff: Ganz unten. Mit einer Dokumentation der Folgen, Köln 1988, S. 263 ff. 25 Vgl. Ina Braun: Günter Wallraff (wie Anm. 12), S. 121. 26 Günter Wallraff: Akteneinsicht, Göttingen 1987, S. 128 ff. 27 Vgl. Ina Braun: Günter Wallraff (wie Anm. 12), S. 84. 28 Günter Wallraff: Kein Abschied von Heinrich Böll, Köln 1987. S. 176. 342

Anmerkungen

29 Zit. in Reinhard Dithmar: Günter Wallraffs Industriereportagen (wie Anm. 15), S. 63. 30 Günter Wallraff: Die Reportagen (wie Anm. 18), S. 291. 31 Vgl. Eckart Spoo: Wie sind die Tabus zu brechen, Hannover 1977, S. 120 32 Zit. in Ina Braun: Günter Wallraff (wie Anm. 12), S. 125. 33 Oskar Negt: Wallraffs Untersuchungsarbeit in Bereichen der „unterschlagenen Wirklichkeit“. In Christian Linder (Hrsg.): In Sachen Wallraff (wie Anm. 14), S. 128. 34 Ebd., S. 109. 35 Hans-Albert Walter: Achtung! Wallraff was here. In: Die Zeit vom 28. November 1969.

Kapitalistische Zukunftsvisionen 1 Vgl. hierzu meinen Aufsatz: „Was aber bleibet, ist allein das Ich!“ Die westdeutschen Romane des Antitotalitarismus 1947–1960. In Bernd-Peter Lange und Anna Maria Stuby (Hrsg.): „1984“, Berlin 1989, S. 103–120. 2 Martin Schäfer: Science Fiction als Ideologiekritik? Utopische Spuren in der amerikanischen Science-Fiction-Literatur 1940–1955, Stuttgart 1977, S. 160. 3 Ayn Rand: Capitalism. The Unknown Ideal, New York 1966, S. 55. 4 Vgl. Ossip K. Flechtheim: Futurologie. Der Kampf um die Zukunft, Köln 1970, S. 280 ff. 5 Herman Kahn (Hrsg.): The Future of the Corporation, New York 1974, S. 8. 6 Zbigniew K. Brzezinski: Amerika im technotronischen Zeitalter. In: Das Parlament vom 19. Mai 1968, S. 3. 7 Herman Kahn (Hrsg.): The Future of the Corporation (wie Anm. 5), S. 197 ff. 8 Daniel Bell: The Coming of Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting, New York 1973, S. 14. 9 Werner Holste: Der Maschinenbau im Jahre 2000. In Ernst Schmacke (Hrsg.): Zukunft im Zeitraffer, Düsseldorf 1968, S. 159. 10 Rainer Waterkamp: Zukunftsreport 2000, Hannover 1969, S. 7. 11 Ders.: Futurologie und Zukunftsplanung, Stuttgart 1970, S. 9. 12 Ossip K. Flechtheim: Warum Futurologie? In: Zukunft im Zeitraffer (wie Anm. 9), S. 69. 13 Vgl. Nigel Calder: Vor uns das Paradies, München 1968. 14 Claus Koch: Kritik der Futurologie. In: Kursbuch 14, 1968, S. 2. 15 Alfred Bönisch: Futurologie. Eine kritische Analyse bürgerlicher Zukunftsforschung, Frankfurt a. M. 1971, S. II. 16 Ebd., S. 128. 17 Ebd., S. 53. 18 Dietger Pforte und Olaf Schwencke (Hrsg.): Ansichten einer künftigen Futurologie. Zukunftsforschung in der zweiten Phase, München 1973, S. 14. 343

Anmerkungen

19 Dieter Klein (Hrsg.): Futurologie und Zukunftsforschung. Untaugliches Mittel einer überlebten Gesellschaft, Berlin 1972, S. 35. 20 Ansichten einer künftigen Futurologie (wie Anm. 18), S. 14. 21 Ossip K. Flechtheim: Futurologie. Der Kampf um die Zukunft, Köln 1970, S. 19. 22 Ebd., S. 37. 23 Ansichten einer künftigen Futurologie (wie Anm. 18), S. 126. 24 Ebd., S. 23 f. 25 Hans Magnus Enzensberger: Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang. In: Kursbuch 52, 1978, S. 1–8. Vgl. dazu bereits seinen Aufsatz: Zur Kritik der politischen Ökologie. In: Kursbuch 33, 1973, S. 1–42. 26 Science Fiction – Flucht ins Weltall. In: Spiegel 32, 1978, Nr. 6 vom 6. Februar, S. 168. 27 Mathias Scheben: Konzern 2003, München 1977, S. 67. Im Folgenden wird im Text nach dieser Ausgabe zitiert. 28 Richard Gerber: Utopian Phantasy, London 1955, S. 61. 29 Martin Schäfer: Science Fiction als Ideologiekritik? (wie Anm. 2), S. 41 ff. 30 Hermann Marcus: Die Macht der Mächtigen. Deutschland und seine Wirtschaftsriesen, Düsseldorf 1970, S. 21. 31 Max Gloor: Unternehmensführung im Markt von Morgen. In: Zukunft als Schicksal und Aufgabe, Essen 1969, S. 33. 32 Ebd., S. 34. 33 Ebd., S 44. 34 Hermann Marcus: Die Macht der Mächtigen (wie Anm. 30), S. 152. 35 Ebd., S. 151. 36 Ebd., S. 148. 37 Ebd., S. 160. 38 Ebd., S. 224. 39 Diese Angaben verdanke ich der Deutschen Bibliothek in Frankfurt. 40 Rupert Lay: Vor uns die Hoffnung, Olten 1974, S. 237. 41 Klaus Motschmann: Sozialismus. Das Geschäft mit der Lüge, München 1977, S. 190 ff. 42 Heinz Commer/Rudolf Rindermann: Der Krieg im Betrieb. Spielanweisung für Chefs und Mitarbeiter, München 1977, S. 9. 43 Capital Karriere-Handbuch, München-Gütersloh 1974, S. 7. 44 Ebd., S. 98. 45 Ebd., S. 89. 46 Ebd., S. 96. 47 Ebd., S. 13. Die gleiche berufsfördernde Absicht liegt Schebens späteren Publikationen, wie dem „Capital-Karriere-Handbuch“ (1980) und dem Buch „Was mein Unternehmen unschlagbar macht“ (1992), zugrunde, die im Goldmann-Verlag bzw. ECON-Taschenbuchverlag herauskamen, während er selber in diesem Zeitraum 344

Anmerkungen

48 49 50 51

52 53

vor allem im Bereich der Unternehmenskommunikation tätig war sowie größere Konzerne bei der Auswahl von Führungskräften beriet. Der Minderwertigkeitskomplex des Kapitalismus. In: Capital 1, 1962, H. 1, S. 35. Capital 15, 1976, H. 1, S. 3. Aldous Huxley: Brave New World, New York 1946, S. 288. Elmar Altvater: Die Krise des Kapitalismus – ein Fortsetzungsroman ohne Happy End. In Heidi Beutin et al. (Hrsg.): „Wir müssen die Wahrheit über die barbarischen Zustände sagen.“ Welt-Wirtschafts-Krisen und ihre Auswirkungen auf Gesellschaft, Politik und Kultur, Mössingen 2014, S. 30–44. Jürgen Kocka: Geschichte des Kapitalismus, München, 2. Aufl., 2014, S. 16. Überarbeitete Fassung meines Aufsatzes: Unser aller Zukunft? Mathias Schebens „Konzern 2003“. In: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur 10, 1980, S. 7–35.

Unerfüllte Hoffnungen 1 Volker Braun: Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie, Frankfurt a. M. 1988, S. 15. 2 Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. In: MEW, Bd. XIX, S. 194. 3 Volker Braun: Lustgarten. Preußen. Ausgewählte Gedichte, Frankfurt a. M. 1996, S. 19. 4 Klaus L. Berghahn: „Marxismus ist nicht keine Utopie“. Auf Blochs Spuren. In Rüdiger Scholz und Klaus Michael Bogdal (Hrsg.): Literaturtheorie und Geschichte. Zur Diskussion materialistischer Literaturwissenschaft, Opladen 1996, S. 151. 5 Jost Hermand: Das Nichtgelebte. In Frank Hörnigk (Hrsg.): Volker Braun. Arbeitsbuch, Berlin 1999, S. 26 f. 6 Volker Braun: Lustgarten. Preußen (wie Anm. 3), S. 96. 7 Ebd., S. 117. 8 Ebd., S. 133 f. 9 Volker Braun: Verheerende Folgen (wie Anm. 1), S. 124 ff. 10 Volker Braun: Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst einmal am Ende. Äußerungen, Frankfurt a. M. 1998, S. 12. 11 Ebd., S. 11. 12 Ebd., S. 12. 13 Ebd., S. 12. 14 Ebd., S. 14. 15 Ebd., S. 14. 16 Ebd., S. 15–17. 17 Ebd., S. 18–21. 18 Ebd., S. 24. 19 Ebd., S. 24. 345

Anmerkungen

20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46

47 48 49

50 51 52 53

Ebd., S. 37. Ebd., S. 50. Ebd., S. 51 f. Volker Braun: Bodenloser Satz, Frankfurt a. M. 1990, S. 14. Ebd., S. 21, 33, 39. Volker Braun: Wir befinden uns soweit wohl (wie Anm. 10), S. 55. Ebd., S. 56. Ebd., S. 57. Ebd., S. 57. Ebd., S. 57 f. Ebd., S. 60. Volker Braun: Texte in zeitlicher Folge, Halle, Bd. X, 1993, S. 52. Vgl. auch Volker Braun: Werktage, Bd. II, Berlin 2014, S. 54. Ebd., S. 57. Ebd., S. 57. Volker Braun: Lustgarten. Preußen (wie Anm. 3), S. 156. Volker Braun: Texte in zeitlicher Folge (wie Anm. 31), S. 60. Volker Braun: Der Wendehals. Trotzdestonichts, Frankfurt a. M. 1995, S. 19 und 62. Ebd., S.17. Ebd., S. 7. Ebd., S. 83. Ebd., S. 68 und 70. Ebd., S. 113. Ebd., S. 114. Volker Braun: Wir befinden uns soweit wohl (wie Anm. 10), S. 133. Ebd., S. 167. Volker Braun: Tumulus, Frankfurt a. M. 1999, S. 41. Schichtwechsel oder die Verlagerung des geheimen Punkts. Volker Braun im Gespräch mit Silvia und Dieter Schlenstedt, März 1999. In Frank Hörnigk (Hrsg.): Volker Braun. Arbeitsbuch (wie Anm. 5), S. 174. Ebd., S. 181. Vgl. hierzu meinen Essay: Von Heym zu Braun. Die Schwarzenberg-Utopien. In: Neue Deutsche Literatur 52, 2004, H. 7, S. 64–68. Vgl. Dieter Schlenstedt: Aus Deutschlands hohler Mitte oder Vom Dreckschweinfest zum großen Aufstand. Volker Brauns neue Erzählung „Die hellen Haufen“. In: Argument 53, 2011, S. 817–823. Volker Braun: Werktage, Bd. II (wie Anm. 31), S. 107. Ebd., S. 167. Ebd., S. 715. Ebd., S. 849 und 873. 346

Anmerkungen

54 55 56 57

Ebd., S. 957. Ebd., S. 148. Ebd., S. 926. Überarbeitete Fassung meines Essays: „Momente der Hoffnung. Volker Braun und die „Wende“ von 1989/90“. In ders.: Unerfüllte Hoffnungen. Rückblicke auf die Literatur der DDR, Oxford 2012, S. 245–256.

Von einem gesellschaftlichen „System“ in das andere 1 Vgl. Klaus Hammer (Hrsg.): Chronist ohne Botschaft. Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch, Berlin 1992, S. 7. 2 Ebd., S. 11. 3 Ebd., S. 21. 4 Vgl. meinen Aufsatz: Mir gehts „so ziemlich“. Christoph Heins „Der fremde Freund“ (1982). In ders.: Unerfüllte Hoffnungen. Rückblicke auf die Literatur der DDR, Oxford 2012, S. 229–244. 5 Vgl. dazu allgemein: David W. Robinson: Deconstructing East Germany. Christoph Hein’s Literature of Dissent, Rochester 1999, S. 181 ff., und David Clarke: Facing the West. Christoph Hein and the „Wende“. In ders.: „Diese merkwürdige Kleinigkeit einer Vision“. Christoph Hein’s Social Critique in Transition, Amsterdam 2002, S. 182 ff. 6 Klaus Hammer (Hrsg.): Chronist ohne Botschaft (wie Anm. 1), S. 48. 7 Zit. in ebd., S. 163. 8 Ebd., S. 164. 9 Ebd., S. 8. 10 Christoph Hein: Willenbrock, Frankfurt a. M. 2000, S. 59. 11 Ebd., S. 52. 12 Ebd., S. 45. 13 Ebd., S. 47. 14 Ebd., S. 295. 15 Neue Zürcher Zeitung vom 6. Juli 2000. 16 Die Zeit vom 21. Juni 2000. 17 Süddeutsche Zeitung vom 24. Juni 2000. 18 Süddeutsche Zeitung vom 7. Februar 2004. 19 Neue Zürcher Zeitung vom 3. Februar 2004. 20 Die Zeit vom 29. Januar 2004. 21 Frankfurter Rundschau vom 24. Januar 2004. 22 Christoph Hein: Landnahme, Frankfurt a. M. 2004, S. 36 f. Im Folgenden wird im Text nach dieser Ausgabe zitiert.

347

Anmerkungen

Die Wettbewerbsgesellschaft der New Economy 1 Vgl. u. a. Sandra Pott: Wirtschaft in Literatur. „Ökonomische Subjekte“ im Wirtschaftsroman der Gegenwart. In: KulturPoetik 4,2, 2004, S. 202–217, und Susanne Heimburger: Kapitalistischer Geist und literarische Kritik. Arbeitswelten in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, München 2010. 2 Vgl. Joachim Unseld: Ernst-Wilhelm Händler. Einführung in eine „Grammatik der vollkommenen Klarheit“. In Lutz Hagestedt und Joachim Unseld (Hrsg.): Literatur als Passion. Zum Werk von Ernst-Wilhelm Händler, Frankfurt 2006, S. 9–12. 3 Vgl. ebd., S. 12–25. 4 Vgl. das Nachwort von Martin Klebes zu Ernst-Wilhelm Händler: City With Houses, Evanston 2002, S. 222. 5 Bernhard Kämmerling: Am Ort der Seele klafft nur ein schwarzes Loch. In: Die Welt vom 25. Februar 2013, und Thomas Andre: In der Kältekammer des Kapitalismus. In: Der Spiegel vom 8. März 2013. 6 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986, S. 25. 7 Vgl. u. a. Gregor Morfill und Herbert Scheingerber (Hrsg.): Chaos ist überall und es funktioniert. Eine neue Weltsicht, Frankfurt a. M. 1993, Wolfgang Metzler: Nichtlineare Dynamik und Chaos, Stuttgart 1998, Günter Küppers (Hrsg.): Chaos und Ordnung. Formen der Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft, Ditzingen 1996, und Bruno Eckardt: Chaos, Frankfurt a. M. 2004. 8 Vgl. u. a. Georg Kneer und Armin Nassehi (Hrsg.): Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, München 1993, Christian Schuldt: Systemtheorie, Hamburg 2003, und Karl-Siegbert Rehberg: Konservatismus in postmodernen Zeiten. Niklas Luhmann. In Gunter Runkel und Günther Burkart (Hrsg.): Funktionssysteme der Gesellschaft. Beiträge zur Systemtheorie von Niklas Luhmann, Wiesbaden 2005. 9 Vgl. Anja Höfer: Sprache und Geld sind ungeheuer flexibel. Interview mit ErnstWilhelm Händler. In: Polar. Politik – Theorie – Alltag, 2005, Nr. 2. Vgl. dazu auch Händlers „Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument“, wo er unter Berufung auf die Luhmannsche Systemtheorie ausdrücklich erklärte, daß die Welt weder soziologisch noch historisch zu erklären sei (Frankfurt a. M. 2014, S. 56). 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd. Ja, in Händlers Roman „Der Überlebende“ (2013) stellt die Firma D’Wolf bereits solche Roboter unter der Firmenmarke „Powerwolf W-8 2000“ her. 13 Ernst-Wilhelm Händler: Wenn wir sterben, Frankfurt a. M. 2002, S. 25. Im Folgenden wird im Text nach dieser Ausgabe zitiert. 14 Vgl. hierzu u. a. Stefanie Ablass: Ökonomisierung des Körpers. Interdependenzen von ökonomischer und physischer Sphäre im Wirtschaftsroman. In Evi Zemanek und Susanne Krones (Hrsg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreib-

348

Anmerkungen

15 16

17

18 19

verfahren und Buchmarkt um 2000, Bielefeld 2000, S. 163–177, und Susanne Heimburger: Kapitalistischer Geist und literarische Kritik (wie Anm. 1), S. 266–273. Vgl. Lutz Hagestedt und Joachim Unseld: Literatur als Passion (wie Anm. 2), S. 317–321. Vgl. u. a. Peter Block: Entfesselte Mitarbeiter. Demokratische Prinzipien für die radikale Neugestaltung der Unternehmensführung, Stuttgart 1997, Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin, 2. Aufl., 1998, Luc Boltanski und Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, und Sven Opitz: Gouvernementalität im Postfordismus, Hamburg 2004. Vgl. u. a. Ernst-Ulrich Huster: Reichtum in Deutschland. Die Gewinner in der sozialen Polarisierung, Frankfurt a. M. 1997, Stefan Hradil: Soziale Ungleichheit in Deutschland, Opladen 2001, Monica Budowski und Michael Nollert (Hrsg.): Soziale Ungleichheit, Zürich 2010, und Hans-Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland, München 2013. Vgl. u. a. Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitalismus, Zürich 2012. Vgl. Susanne Heimburger: Kapitalistischer Geist und literarische Kritik (wie Anm. 1), S. 358.

Für die Computerisierung meines Manuskripts sorgte auch diesmal Justin Court, ohne dessen Hilfe dieses Buch nie seine endgültige Druckreife erhalten hätte. Ebenso dankbar bin ich Carol Poore für ihre unermüdliche Sorgfalt beim Korrekturlesen. 349

Namenregister Abbt, Thomas 67 Adenauer, Konrad 94, 235, 236, 237, 248, 249, 250, 251 Adler, Peter 240 Adorno, Theodor W. 296, 319 Ahlwardt, Hermann 118 Albrecht V. von Bayern 54 Alexis, Willibald 132 Allende, Salvador 293 Altvater, Elmar 28, 284, 319 Amery, Carl 251, 252 Ammon, Otto 161 Arndt, Ernst Moritz 91, 117 Bahrdt, Carl Friedrich 79, 82 Bamberger, Ludwig 119 Barbarossa (Friedrich I.) 35 Bartock, Willi 254 Battenberg, Werner 259 Bebel, August 139 Becher, Johannes R. 75, 187, 198, 221, 223 Becher, Lilly 198 Beißner, Friedrich 239 Bell, Daniel 266, 267, 272 Benteler (Fabrik) 256 Bentz, Horst 259 Bergstadt, Alfred 213 Bernhardi, Friedrich von 166 Bernhard, Thomas 308 Bethmann Hollweg, Theobald von 157, 174 Beumelburg, Werner 191 Biermann, Wolf 285 Birken, Siegmund 56 Bismarck, Otto von 19, 69, 108, 114, 121, 123, 125, 131, 137, 144, 153, 154, 156, 157, 166 Bloch, Ernst 267, 285, 286, 287, 288

Blohm und Voss (Werft) 256 Bohlen und Halbach, Arndt von 259 Böll, Heinrich 239, 256 Bönisch, Alfred 268 Börne, Ludwig 93, 117 Borsig (Fabrik) 124 Brackert, Helmut 36, 38 Brandt, Sabine 198 Brandt, Willi 248, 251, 252 Brant, Sebastian 55 Braun, Volker 285–294 Brecht, Bertolt 202–218, 226, 229, 230, 293, 294, 298 Breitinger, Karl 194 Brentano, Clemens 117 Broch, Hermann 308 Bröger, Karl 254 Bromme, Moritz William 151 Brüning, Heinrich 186, 194 Bucharin, Nikolai 156 Büchner, Georg 94, 293 Bürger, Gottfried August 82 Burte, Hermann 164 Cabet, Etienne 144 Calder, Nigel 267 Campe, Joachim Heinrich 82, 86 Carl August von Sachsen-WeimarEisenach 78, 79, 80, 81, 83, 90 Castorf, Frank 28 Chamberlain, Houston Stewart 165 Chaplin, Charlie 208, 211 Christian Friedrich von Augustenburg 82 Churchill, Winston 219 Clark, Christopher 155 Claß, Heinrich 161, 166, 174 Claudius, Eduard 225, 226, 230 Commer, Heinz 280 350

Namenregister

Conradi, Hermann 140, 144 Cramer, Karl Friedrich 82, 86 Crumbach, Franz Hubert 204, 212 Dahn, Felix 129 Dahrendorf, Ralf 200 Dessau, Paul 213, 218 Diderot, Denis 203, 208, 215 Diederichs, Eugen 149 Ditfurth, Jutta 28 Döblin, Alfred 188 Drews, Jörg 77 Dühring, Eugen 118 Dwinger, Edwin Erich 191 Dyherrn, Friedrich von 68 Ebers, Georg 129 Eggebrecht, Axel 251, 252 Eloesser, Arthur 142 Engelmann, Bernt 259 Engels, Friedrich 18, 104, 190, 286 Enzensberger, Hans Magnus 251, 269 Erhard, Ludwig 9, 199, 222, 235, 246, 249, 250, 251, 305 Erler, Fritz 252 Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha 106, 107 Ertzdorff, Xenja von 36 Ewen, Frederic 204 Fallada, Hans 185, 201 Fehervary, Helen 229 Fetz, Gerald A. 244 Fichte, Hubert 252 Fischer, Carl 148–151 Fischer, Fritz 157 Fischer (Verlag) 255 Flechtheim, Ossip K. 267, 268, 269 Flick, Friedrich 259 Fontane, Theodor 123–139 Forster, Georg 76, 81, 82, 87 Fradkin, Ilja 213 Franzos, Karl Emil 119 Freidank 41

Freiligrath, Ferdinand 104 Freytag, Gustav 105, 121 Fried, Erich 252 Friedrich II. von Preußen 67, 70 Fries, Jakob Friedrich 117 Frischlin, Nikodemus 55 Fritsch, Patricia 196 Fuller, R. Buckminster 266 Funke, Christoph 291 Garbe, Hans 225, 229, 230, 232 Gehlen, Arnold 249 George, Stefan 164 Gerber, Richard 278 Gêrhart Unmâze 34, 35, 37, 38, 40 Gerling, Robert 259 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 67 Gloor, Max 279 Gluchowski, Bruno 254 Gobineau, Artur de 165 Goebbels, Joseph 202 Goethe, Johann Wolfgang von 75, 90, 96, 97, 109 Göhre, Paul 147, 148, 149, 150, 151 Goldhagen, Daniel 119 Göring, Hermann 213 Gorki, Maxim 229, 290 Gotsche, Otto 225 Gottfried von Straßburg 34 Gotzkowsky, Johann Ernst 68 Grab, Walter 77, 117 Grass, Günter 28, 251, 252 Greiner, Ulrich 291 Grillparzer, Franz 94 Grimmelshausen, Johann Jacob Christoffel von 53–65 Gropius, Walter 172 Grünberg, Karl 226 Grün, Max von der 254 Gryphius, Andreas 57 Guevara, Ernesto Che 293 Gundolf, Friedrich 164 351

Namenregister

Hammer, Klaus 295 Händler, Ernst-Wilhelm 305–319 Hardenberg, Karl August von 117 Harich, Wolfgang 228 Härtling, Peter 252 Hartmann von Aue 34 Hartwig, Ina 298 Hašek, Jaroslav 215 Hasse, Ernst 161 Haug, Wolfgang Fritz 319 Hauptmann, Gerhart 139, 151, 203, 217 Haushofer, Max 164 Hebenstreit, Franz 82 Heckmann, Carl Justus 133 Hegeler, Wilhelm 141 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 9, 203, 285 Heilbronn, Ernst 193 Heim, Peter 270 Hein, Christoph 295–304 Heine, Heinrich 93, 94, 96, 97, 104, 117, 146 Heinemann, Gustav 252 Heißenbüttel, Helmuth 252 Helmer, Olaf 267 Henkel, Konrad 259 Hennenberg, Fritz 213 Hentschel, Willibald 165 Herder, Johann Gottfried 80, 81, 83, 85 Hermlin, Stephan 225 Herwegh, Stephan 104 Heß, Moses 150 Heym, Stefan 28, 293 Heyse, Paul 130 Hilferding, Rudolf 20, 156 Hinck, Walter 215 Hindenburg, Paul von 200, 214 Hitler, Adolf 22, 75, 153, 186, 187, 200, 202, 214 Hochhuth, Rolf 252, 307

Hölderlin, Friedrich 286 Holek, Wenzel 151 Holz, Arno 142, 143 Honecker, Erich 233 Horlacher, Wolfgang 280 Horneffer, Ernst 164 Horten, Helmut 259 Huber, Franz 240 Huber, Therese 86 Hübler, Alfred 309 Hüfner, Agnes 298 Hugenberg, Alfred 161, 162, 174, 190 Hüser, Fritz 253, 254, 255 Huxley, Aldous 283 Immermann, Karl Leberecht 91–103 Issel, Anne 189 Jahn, Ludwig 91, 117 Jean Paul 85 Jedele, Helmut 240 Jens, Walter 28, 252 Jhering, Herbert 194 Johnson, Uwe 298 Joho, Wolfgang 198 Johst, Hanns 193 Jordan, Wilhelm 129 Kafka, Franz 239, 240, 244 Kahn, Herman 266, 267 Kaiser, Georg 170–183 Karl V. von Deutschland 53 Karpeles, Gustav 119 Kästner, Erich 188 Kautsky, Karl 156 Keil, Ernst 105 Keller, Gottfried 135 Kesting, Marianne 204 Keun, Irmgard 192 Kiepenheuer (Verlag) 181 Kiepenheuer & Witsch (Verlag) 257, 259 Kiesinger, Kurt Georg 251 Kirchmeyer, Thomas (Naogeorgus) 43 352

Namenregister

Kirdorf, Emil 156, 161, 162, 174, 186 Kläber, Kurt 254 Knebel, Karl Ludwig 80 Knigge, Adolf 76, 82 Koch, Claus 268 Koeppen, Wolfgang 239 Kohl, Helmut 26 Köpping, Walter 254 Körner, Christian Gottfried 82 Körner, Wolfgang 254 Kracauer, Siegfried 191 Kretzer, Max 130 Krüger, Horst 252 Krüger, Ohm Paul 154 Krumholz, Martin 298 Krupp (Konzern) 124, 140, 191, 259 Kubsch, Werner 226 Kuby, Erich 251, 252 Kuczynski, Jürgen 9 Küeffer, Johann 57 Kunheim, Hugo 134 Kurella, Alfred 190 La Bruyère, Jean de 299 Ladner, Otto 280 Landauer, Gustav 146, 179 Land, Hans 141, 144, 146 Lange, Friedrich 161 Langen-Müller/Herbig (Verlag) 279, 280 Lanz von Liebenfels, Jörg 165 Lasker, Eduard 119 Lassalle, Ferdinand 139 Lay, Rupert 280 Lenin, Wladimir Iljitsch 156, 170, 227, 228, 266 Lenz, Siegfried 251, 252 Leopold von Österreich 38 Lepel, Bernhard von 132 Lersch, Heinrich 254 Lessing, Gotthold Ephraim 66, 74, 146

Lettau, Reinhard 252 Liebknecht, Karl 160, 170, 171 Liebknecht, Wilhelm 139, 146 Liegert, Friedrich 280 Lienhard, Friedrich 164 Lindau, Paul 130 List, Guido von 165 Lloyd George, David 155 Lohenstein, Daniel Casper von 56, 57 Lorbeer, Hans 225 Ludwig XVI. von Frankreich 80 Luhmann, Niklas 309, 313 Lukács, Georg 183 Luther, Martin 13, 44, 45 Lützow, Adolf von 91 Lux, Adam 82 Luxemburg, Rosa 156, 160, 173 Maidt-Zinke, Kristina 298 Makart, Hans 128 Mann, Heinrich 158, 244 Mann, Thomas 159, 172 Manthey, Jürgen 199 Marchwitza, Hans 191 Marie Antoinette von Frankreich 81 Marlitt, Eugenie 133 Marr, Wilhelm 118 Marshall, George C. 221, 235 Martialis, Marcus Valerius 85 Martini, Fritz 212 Marx, Karl 9, 18, 104, 142, 178, 217 März, Ursula 298 Mauthner, Fritz 130 Maximilian von Bayern 54 Mayer, Hans 117 McLuhan, Marshall 266, 267 Meadows, Dennis 269 Mechtel, Angelika 254 Mehring, Franz 69, 142, 146 Meinecke, Friedrich 75 Menzel, Adolph 137 Menzel, Wolfgang 117 353

Namenregister

Metternich, Klemens Wenzel von 7, 17, 92, 94, 97, 106 Meyer, Conrad Ferdinand 130 Migge, Leberecht 179 Moeller van den Bruck, Arthur 164 Möhrmann, Renate 244 Mörike, Eduard 94 Motschmann, Klaus 280 Motyljowa, Tamara 198 Müller, Heiner 219–234, 285, 292, 295 Musil, Robert 308 Napoleon Bonaparte 91, 96 Nathasius, Johann Gottlieb 97 Naumann, Friedrich 147 Negt, Oskar 263 Nestroy, Johann Nepomuk 204 Neukrantz, Klaus 191 Nicolai, Friedrich 67, 69, 85, 86 Nietzsche, Friedrich 140 Noll, Dieter 225 Nußbaum, Heinrich von 269 Oertzen, Peter von 28 Oetker, Rudolf August 259 Opitz, Martin 55 Otto, Werner 218 Päpken 134 Peters, Carl 161, 162 Pezold, Klaus 244 Pieck, Wilhelm 221 Pinthus, Kurt 194 Platen, August von 96 Plenzdorf, Ulrich 28 Ploetz, Alfred 161 Raabe, Wilhelm 117 Radek, Karl 293 Ramler, Karl 67 Rand, Ayn 264, 282 Rathmann, Kurt 244 Ratzel, Friedrich 162 Rebmann, Georg Friedrich 76, 82 Reding, Josef 254

Reed, John 227 Reger, Erik 191 Reichardt, Johann Friedrich 82, 85, 86 Reich-Ranicki, Marcel 262 Reimer, Joseph Ludwig 165 Remarque, Erich Maria 188 Richard Löwenherz 38 Richter, Hans Werner 240, 252 Rilla, Paul 212 Rimbaud, Arthur 287 Rindermann, Rudolf 280, 281 Rist, Johann 56 Robespierre, Maximilien 78, 81, 266 Rollenhagen, Georg 55 Rosegger, Hanns Ludwig 164 Rosenberg, Julius 130 Rothe, Wolfgang 77 Rousseau, Jean-Jacques 88, 142, 211 Rowohlt (Verlag) 188, 191, 199, 251 Rubiner, Ludwig 178 Rudolf von Ems 30, 41 Rühs, Christian Friedrich 117 Runge, Erika 28, 255 Sachs, Gunter 259 Sachs, Hans 46, 47, 48, 55 Saphir, Moritz 132 Schäfer, Martin 278 Schallmeyer, Wilhelm 161 Schallück, Paul 251 Schauenburg, Hans Reinhard von 57 Schauwecker, Franz 191 Scheben, Mathias 264–283, 311 Scheel, Heinrich 75 Scheffel, Viktor 129 Schelsky, Helmut 238 Scherer, Wilhelm 34 Schiller, Friedrich 75, 90, 96, 146 Schiller, Karl 252 Schirokauer, Arno 193 Schlenstedt, Dieter 293 Schlenstedt, Silvia 293 354

Namenregister

Schliz, Annelore 280 Schmid, Carlo 252 Schmidt, Erich 69 Schmidt, Helmut 252 Schmidt, Julian 107 Schneider, Eulogius 82 Schöfer, Erasmus 255 Scholem, Gershom 117 Schopenhauer, Arthur 105 Schröder, Max 198 Schui, Herbert 28 Schulz, Erich 254 Schumacher, Kurt 250 Schumpeter, Joseph Alois 9 Schütt, Peter 255 Schütz, Friedrich Wilhelm von 82 Schwaner, Wilhelm 165 Schweichel, Robert 146 Scott, Walter 132 Seghers, Anna 225 Seibt, Gustav 298 Seidel, Heinrich 130 Sengle, Friedrich 35, 36 Shakespeare, William 69, 96, 207 Siedler, Wolf Jobst 244 Siemens (Konzern) 225, 229, 256 Singer, Paul 135 Smith, Adam 113 Soemmering, Thomas 87 Sölle, Dorothee 28 Sombart, Werner 9, 20, 170 Spengler, Oswald 164 Spoo, Eckart 28, 319 Stachanow, Alexei Grigorjewitsch 229 Stahl, Hagen 227, 228 Steckel, Leonhard 216 Steiner, Gerhard 76 Stein, Heinrich Friedrich vom 91 Stephany, Friedrich 137 Stifter, Adalbert 94 Stinde, Julius 130

Stinnes, Hugo 156, 174 Stöcker, Adolf 118, 147 Strasser, Gregor 186 Strauß, Franz Josef 252 Streeck, Wolfgang 319 Styfel, Michael 45, 47 Sudermann, Hermann 142 Suhrkamp (Verlag) 290 Suttner, Bertha von 160 Tauentzien, Bogislaw Friedrich von 67 Teilhard de Chardin, Pierre 267 Teut, Heinrich 164 Thiele, August 258 Thurn und Taxis, Johannes von 259 Thyssen, August 156, 174 Thyssen (Konzern) 256, 260 Tille, Alexander 161, 162 Tirpitz, Alfred von 154, 157, 174 Toller, Ernst 178 Topf, Erwin 193 Treitschke, Heinrich von 118, 155 Trotzki, Lew 289, 293 Truman, Harry S. 219 Ulbricht, Walter 75, 221, 224, 285 Vesper, Will 193 Voegt, Hedwig 76 Vogl, Joseph 319 Voigt, Christian Gottlob 79 Vörös, Karoly 288 Wachler, Ernst 164 Wagner, Richard 105, 117, 118, 129 Waine, Anthony 244 Waldis, Burkhard 45, 46, 47, 48 Wallraff, Günter 249, 263 Walser, Martin 235–248, 251, 253 Walter, Hans-Albert 263 Waterkamp, Rainer 267 Weber, Max 9, 20 Weerth, Georg 104 Wehler, Hans-Ulrich 9, 28, 29, 319 Wehner, Herbert 252 355

Namenregister

Winter, Hannelore 280 Wolf, Christa 295 Wolfram von Eschenbach 34 Wolters, Friedrich 164 Wolzogen, Ernst von 130 Wunderlich, Werner 36 Wuolijoki, Hella 207, 208, 210 Würzer, Heinrich 82 Zahl, Peter Paul 254 Zesen, Philipp 56 Zimmermann, Johann Georg 67 Zola, Émile 137, 140, 142 Zöller, Sonja 36, 37 Zuckmayer, Carl 194, 208, 209, 210 Zwerenz, Gerhard 28

Wehner, Joseph Magnus 191 Weishaupt, Adam 78 Weiskopf, F. C. 190 Weiss, Peter 252 Weitling, Wilhelm 150 Wickram, Jörg 42, 50, 55 Wieland, Christoph Martin 80, 81, 83 Wiener, Anthony J. 266 Wildenbruch, Ernst von 129 Wilhelm I. von Deutschland 123 Wilhelm II. von Deutschland 145, 153, 156, 157, 160, 167, 168, 170 Wille, Bruno 140 Willkomm, Ernst Adolf 104 Wilser, Ludwig 165 Wilson, W. Daniel 77

356

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Gesellschaftspolitisch engagierte Professoren werden heutzutage gern als unzeitgemäße Idealisten, hoffnungslose Utopisten oder gar lächerliche Moralathleten abgetan. Im Gegensatz zu derartigen Anschauungen werden in diesem Band elf verschiedene Geisteswissenschaftler herausgestellt, welche selbst im ideologisch verhärteten Klima des Kalten Kriegs zwischen Ost und West versuchten, gegen die systemkonformen Fronten innerhalb der BRD und der DDR aufzubegehren. Das Buch enthält Portraits von: Richard Hamann, Werner Krauss, Jürgen Kuczynski, Wolfgang Abendroth, Georg Knepler, Hans Mayer, Helmut Gollwitzer, Robert Jungk, Walter Grab, Hans Heinz Holz und Werner Mittenzwei. Dieser Titel liegt auch für eReader, iPad und Kindle vor. 2014. 310 S. 11 S/W-ABB. GB. 135 X 210 MM ISBN 978-3-412-22365-6 [BUCH] | ISBN 978-3-412-21813-3 [E-BOOK]

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THOMAS GEIGER, NORBERT MILLER, JOACHIM SARTORIUS (HG.)

SPRACHE IM TECHNISCHEN ZEITALTER 210 (2014)

„Geld regiert die Welt“ war das Thema des diesjahrigen Autorenspecials des Literarischen Colloquiums Berlin auf der Leipziger Buchmesse: Sechs europäische Autoren haben sich dazu Gedanken gemacht: Sergej Lebedew, (Russland), Jonas Lüscher (Schweiz), Tim Parks (Großbritannien/ Italien), Ricardo Menéndez Salmón (Spanien) und Szczepan Twardoch (Polen) verfassten einen Essay – und Ulrike Draesner (Deutschland) steuerte eine Erzählung bei. Weiterhin versammelt das Heft Texte und Romanauszüge von Gert Loschütz, Thomas Hettche und dem diesjährigen Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse Saša Stanišić sowie Gedichte von Tadeusz Dąbrowski. In Auf Tritt die Poesie stellt Volker Sielaff den kroatischen Dichter Branko Čegec vor. Lothar Müller würdigt Hans Joachim Schädlich, dem am 26. Februar der Berliner Literaturpreis verliehen wurde. 2014. 139–253 S. 11 S/W-ABB. BR. 150 X 225 MM. | ISBN 978-3-412-22348-9

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