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German Pages 456 Year 2006
Schriften zum Prozessrecht Band 196
Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen Zugleich ein Beitrag zur Reformdiskussion unter besonderer Berücksichtigung der italienischen Regelung einvernehmlicher Verfahrensbeendigung
Von Korinna Weichbrodt
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
KORINNA WEICHBRODT
Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen
Schriften zum Prozessrecht Band 196
Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen Zugleich ein Beitrag zur Reformdiskussion unter besonderer Berücksichtigung der italienischen Regelung einvernehmlicher Verfahrensbeendigung
Von
Korinna Weichbrodt
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Wintersemester 2004 / 2005 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-11930-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Rechtliches – auch richterliches – Handeln ist erst ganz zuletzt Arbeit an Texten, im Wesentlichen erst in der richterlichen Beratung und Urteilsfindung. Zuvor ist es im Wesentlichen Kommunikation und Interaktion zwischen Menschen, ist es Prozeß, flüchtiges und nicht-reproduzierbares Geschehen in der Zeit, Umgang auch mit dem gesprochenen Wort und nicht nur mit dem geschriebenen Text, Agieren in Handlungssequenzen und Strategien. In dieser szenischen Phase richterlichen Handelns ereignen sich Normkonkretisierung und Sachverhaltskonstruktion wirklich, werden Vorverständnisse folgenreich. Hassemer (Juristische Hermeneutik, S. 34)
Vorwort Diese Arbeit wurde im Wintersemester 2004/2005 von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung konnten Rechtsprechung und Literatur bis Juni 2005 berücksichtigt werden. Meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Felix Herzog, danke ich herzlichst für die Anregung zu dieser Arbeit und die freundlich intensive Betreuung. Für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. Detlef Krauß. Berlin, im Juli 2005
Korinna Weichbrodt
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
Kapitel 1
I.
II.
Rechtstheoretische Grundlegung
19
Gerechtigkeit im Wandel oder die „Emanzipation des Verfahrensrechts“ . . . . 1. Gerechtigkeit in der „ergebnisrichtigen“ Entscheidung oder reicht die materiell-richtige Entscheidung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ergebnisrichtigkeit in absoluter Vergeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erkenntniskritischer Abschied von der Idee der „Ergebnisrichtigkeit“ . 2. Gerechtigkeit in der „verfahrensrichtigen“ Entscheidung oder reicht die prozessordnungsgemäße Entscheidung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Formelle Verfahrensgerechtigkeit – der gerechte Prozess als Wettkampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Materielle Verfahrensgerechtigkeit – der Prozess als gerechte Grenze der Ergebnisrichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis: Materielle Gerechtigkeit im Verfahren – die Rechtsfrieden schaffende Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Prozess als Interessenausgleich – der Funktionswandel des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Materielle Verfahrensgerechtigkeit im Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
Schuldprinzip und prozessuale Wahrheitssuche als Funktionen der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vom materiellen Schuldprinzip über einen funktionalen Schuldbegriff zu einem hermeneutischen Schuldverstehen im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Materielle Schuld in sittlicher Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Strafbegründende Schuld im Vergeltungsgedanken . . . . . . . . . . . . . bb) Strafbegrenzende Schuld in der Theorie der positiven Generalprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Formelle Schuld in zweckrationaler Zuschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Funktionale Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verhältnismäßigkeit statt Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verbindungen formeller und materieller Schuld im Verfahren . . . . . . . . aa) Schuld als Relation zwischen Vergeltung und Prävention . . . . . . . .
22 23 25 29 34 36 38 40 43 46 46 48 50 52 55 56 61 64 64
10
Inhaltsverzeichnis bb) Schuld im Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis: Hermeneutische Schuldbegründung in prozessualer Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Von der Suche nach materieller Wahrheit über die Anerkennung formeller Wahrheit zur Finalstruktur der Wahrheit im Strafprozess . . . . . . . . . . . . a) Wahrheit und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die materielle Wahrheit – Übereinstimmung der Vorstellung mit der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die formelle Wahrheit – Konstruktion der Wirklichkeit . . . . . . . . . b) Die Annäherung der Wahrheitsbegriffe im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . aa) Die Gerechtigkeit als Ziel der Wahrheitssuche – wertrationale Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Wirklichkeit als Konstrukt des Prozesses – methodische Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis: Materielle und formelle Wahrheit als eigenständige Ziele prozessualer Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Verfahren als Interessen ausgleichende Kommunikation . . . . . bb) Das Verfahren als kommunikative Grundlage des szenischen Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Wirken der Strafzwecke auf Schuld und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die zweckfreie Vergeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prävention und die Entdeckung zweckgerichteter Vergeltung . . . . . . . . c) Aktuelle Aspekte der Strafzwecke – Schadenswiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis: Die Wechselwirkung zwischen Strafzwecken und prozessualer Kommunikationssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66 70 75 76 78 82 86 87 89 93 94 96 98 100 102 107 109
III. Ergebnis: Materielle Gerechtigkeit in Herstellung der Wahrheit und Zuschreibung von Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 1. Die Lösung des Gerechtigkeitsproblems von der Frage nach materieller Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2. Der legitimierende Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Kapitel 2 Rechtliche Würdigung der deutschen Absprachenpraxis
115
I.
Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1. Umfang der Absprachen im deutschen Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. Differenzierung der Absprachentypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
II.
Pragmatische Aspekte der Absprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1. Ursachen der Absprachenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 a) Die Überlastung der Strafjustiz – Verfahrensflut und überlange Dauer 120
Inhaltsverzeichnis
2.
3. 4. 5.
b) Sachzwänge aus Verfahren mit objektiv schwieriger Sach- und Rechtslage – der Wandel des materiellen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konfliktverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gedanke des Opferschutzes und der Wiedergutmachung . . . . . . . . . . . . e) Tendenz zur Rechtsfrieden stiftenden Konsensorientierung . . . . . . . . . . Die Interessen der Beteiligten an einvernehmlichen Absprachen . . . . . . . . a) Die Interessen der Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Interessen der Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Interessen des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die neue Interessenallianz im Verständigungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . Das Risiko fehlgeschlagener Absprachen und Vertrauen als Grundlage der Absprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Klassenjustiz“ durch Absprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis: Fragwürdiger „Siegeszug“ der Absprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III. Absprachen im System des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Vereinbarkeit mit den Verfahrensgrundsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Legalitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Instruktionsmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Öffentlichkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Unmittelbarkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Vereinbarkeit mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen . . . . . . . . . . . . . a) Der Grundsatz des nemo tenetur se ipsum accusare . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Prinzip des gesetzlichen Richters und die richterliche Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Gleichheitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Der Grundsatz des fairen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Vereinbarkeit der Absprachen mit den Strafzumessungsgrundsätzen . 4. Ansätze einer Rechtfertigung der informellen Verständigung . . . . . . . . . . . a) Die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege als mögliche Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Disponibilität von Verfahrensgrundsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis: Die Absprachen und das geltende Prozessrecht – ein Versuch der „Quadratur des Kreises“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Absprachen im Spiegel der jüngeren höchstrichterlichen Rechtsprechung – Entwicklungen seit der Grundsatzentscheidung des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Bruch von Zusagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Befangenheit von Richtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Pflicht zur Protokollierung der Absprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die beweisrechtliche Wertung „abgesprochener“ Geständnisse . . . . . . . . . .
11 124 125 127 128 129 129 131 134 137 138 141 143 144 144 145 148 154 157 158 158 160 162 164 165 166 167 169 169 171 173 174 176 177 178 179
12
Inhaltsverzeichnis 5. Der Rechtsmittelverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 6. Ergebnis: Das Dilemma der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
V.
Ergebnis: Absprachen als Zeichen eines gewandelten Strafprozesses . . . . . . . . 185
Kapitel 3 Rechtliche Würdigung des patteggiamento
189
I.
Historischer Abriss zum italienischen Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Codice Rocco von 1930 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Grundsätze des Strafprozesses in der Verfassung von 1948 . . . . . . . . . 3. Das Ermächtigungsgesetz zur Reform des Strafprozesses von 1974 . . . . . 4. Das Ermächtigungsgesetz zur Reform des Strafprozesses von 1987 . . . . .
189 190 191 192 194
II.
Die reformierte Prozessordnung von 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kontradiktorische Grundstruktur des neuen Strafprozesses . . . . . . . . . . . . . a) Die „Vorermittlungen“ – zunächst kein kontradiktorisches Verfahren . b) Die „Vorverhandlung“ – gedacht als „Filter“ des Verfahrens . . . . . . . . . c) Die Hauptverhandlung – gedacht als „Zentrum“ des Verfahrens . . . . . d) Die besonderen Verfahren – vordergründig nur „verfahrenseffiziente Mittel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die kontradiktorisch am Verfahren Beteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Doppelrolle der Staatsanwaltschaft – Hüterin des Legalitätsprinzips und Partei im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verteidigung als notwendige Voraussetzung eines kontradiktorischen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Rolle des Opfers: Prozessuale Reduzierung auf das Entschädigungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Instruktorische Relikte in der Rolle des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Beweisrecht – Stoffbeibringung durch die Parteien und Relikte der Amtsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die freie richterliche Beweiswürdigung und ihr Verhältnis zur prozessualen Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis: Parteiprozess auf halbem Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
197 198 199 200 201
III. Das verfassungsändernde Gesetz von 1999 und die „legge Carotti“ 479/1999 – akkusatorisches Lippenbekenntnis und inquisitorische Umsetzung . . . . . . . . 1. Das faire Verfahren des Art. 111 cost. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die gestärkte Rolle der Verteidigung im Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . 3. Die aufgewertete inquisitorische Bedeutung der Vorverhandlung . . . . . . . . 4. Ergebnis der legislatorischen Entwicklung: Die schleichende Gegenreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
203 207 207 210 212 217 218 223 225 230 231 234 237 241
Inhaltsverzeichnis IV. Das patteggiamento als Konsens im Dienste der Prozessökonomie – eine strafprozessuale Antinomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die erste Form des patteggiamento in dem Gesetz 689/1981 . . . . . . . . . . . 2. Grundzüge des patteggiamento der geltenden Art. 444 ff. c.p.p. . . . . . . . . . a) Erweiterter Anwendungsbereich und Ausschlusstatbestände . . . . . . . . . b) Inhalt der Übereinkunft oder das Spannungsfeld zwischen Verfügungsbefugnis und richterlicher Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Beteiligten oder der Ausschluss des Verletzten vom Einigungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Entscheidung über den Antrag als Ausschlussgrund . . . . . . . . . . . . e) Der Antrag im Gang des Verfahrens oder die Vermeidung der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Unwiderruflichkeit der Einigung durch den Verweis auf zivilistische Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Eingeschränkte Anfechtbarkeit der Einigung als Zugeständnis an die Prozessökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Die Rechtsfolgen als Anreize für die Verfahrensökonomie . . . . . . . . . . 3. Der Strafnachlass des patteggiamento . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unverträglichkeit mit den materiellen Strafzumessungsvorschriften . . . b) Von einer materiellen zu einer prozessualen Strafzumessungslehre . . . c) Ergebnis: Prozessökonomische Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der praktische Misserfolg des patteggiamento . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis: Systemwidrige Reduzierung des Konsenses auf die Prozessökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.
Die ausgehandelte Entscheidung: Schuldspruch oder Urteil eigener Art? – Eine exemplarische Grundsatzfrage zum reformierten Strafprozess . . . . . . . . . 1. Die Einigung als prozessuales Rechtsgeschäft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Grundpositionen zur Rechtsnatur des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Schuldurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Urteil eigener Art ohne Schuldfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der verbleibende Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die gesetzlich nicht geregelten Rechtsfolgen als Problem der Rechtsnatur 4. Ergebnis: Die Entscheidung als Ausspruch kommunikativer Schuldzuschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Ergebnis: Materielle Verfahrensgerechtigkeit im Konsensprinzip des patteggiamento . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
14
Inhaltsverzeichnis Kapitel 4 Das patteggiamento als Modell für eine kodifizierte Absprache? – Der Versuch eines Ausblicks
I.
II.
Das Konsensprinzip als systemimmanenter Bestandteil von Parteiverfahren und kontradiktorischer Verfahrensmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Akkusatorisches und inquisitiorisches Modell als Idealtypen der „Strafkultur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das kontradiktorische Verfahren als konsensoffene Methode . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis: Die verhaltene Öffnung des italienischen Systems . . . . . . . . . . . .
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Wichtige Strukturunterschiede zwischen Absprachenpraxis und patteggiamento 1. Zweiseitiger Antrag gegenüber dreiseitiger Aushandlung . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prozessualer Antrag gegen materielles Geständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prozessuale Strafzumessung gegen materielle Strafmilderung . . . . . . . . . . . 4. Prozessuales Rechtsgeschäft gegen materielles Rechtsgespräch . . . . . . . . . 5. Ergebnis: Die Dispositionsbefugnis als Anerkennung eines „zweiten Gleises“ im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Die Übertragbarkeit der Dispositionsmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kooperative Kommunikation als Einfallstor der Disponibilität des Verfahrensgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Dispositionsmaxime als Folge der Rechtsfriedensfunktion des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grenzen der Parteiendisposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beteiligung mutmaßlicher Opfer schwerer Gewaltverbrechen – Unverfügbares der Konfliktbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtliche Würdigung und Strafzumessung – Unverfügbares des öffentlichen Strafanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis: Die Dispositionsmaxime in den Grenzen des Unverfügbaren . .
339
IV. Rechtspolitischer Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Modelle einer kodifizierten Absprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Hypothetische Strafprognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Strafbescheid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Strafminderung für Prozesserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unmöglichkeit einer systemimmanenten Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Richtlinien für ein kodifiziertes Absprachenmodell – zugleich ein Kommentar zum jüngsten Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Trennung zwischen konfrontativem und kooperativem Verfahren . . . . . b) Das Ermittlungsverfahren im Reformentwurf – oder wie fördert man gerechte Ausgangspositionen prozessualer Kommunikation . . . . . . . . . .
357 359 362 363 363 364 365
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341 344 345 347 354 356
367 370 372
Inhaltsverzeichnis
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aa) Frühzeitige Formalisierung der Beschuldigteneigenschaft . . . . . . . . bb) Stärkung der Rechte der Verteidigung im Ermittlungsverfahren . . cc) Der frühe verfahrenslenkende Anhörungstermin . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Zwischenverfahren – kommunikative Verfahrensweiche . . . . . . . . . aa) Die Förderung konsensualer Elemente im Zwischenverfahren im Diskussionsentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Konsensuale Verfahrenserledigung oder konfrontative Überleitung ins Hauptverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Trennung der Spruchkörper im Zwischen- und Hauptverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verständigung in der Hauptverhandlung im Diskussionsentwurf oder ein weiterer Versuch der Quadratur des Kreises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorschlag für die prozessuale Ausgestaltung eines „Konsensualantrags“ . . a) Das zweiseitige Rechtsgeschäft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der gesetzliche Strafrabatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Antrag im Gang des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Antrag am Schluss des Ermittlungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . bb) Der Antrag im Zwischenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die gerichtliche Entscheidung im Zwischenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . aa) Prüfungsmaßstab des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Bindung an den Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Widerspruch des Verletzten gegen den Konsensualantrag bei schweren Delikten gegen Leib, Leben und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Sicherung des Übergangs vom kooperativen in das konfrontative Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Antrag als Prozesserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtliche Überprüfung des gescheiterten Antrags . . . . . . . . . . . . . cc) Abtrennung des Verfahrens bei mehreren Beschuldigten und Besorgnis der Befangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Eingeschränkte Anfechtbarkeit der konsensualen Entscheidung . . . . . . 5. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
374 376 379 382 383 384 387 389 391 391 394 395 396 397 397 398 400 401 403 404 405 407 408 409
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453
Einleitung Der „Handel“ auf den Gerichtsfluren der Strafgerichte ist innerhalb der letzten Jahrzehnte längst zu einem festen Bestandteil der Strafjustiz geworden. Dass informell Strafen ausgehandelt werden, leugnet wohl niemand mehr; dass sich diese Entwicklung nicht zurückdrehen lässt, setzt jeder Beitrag zu diesem Thema mehr oder weniger explizit voraus. Immer wieder wurde der Ruf nach dem Gesetzgeber laut, dessen Aufgabe es sei, die informelle Praxis in gesetzliche Bahnen zu zwingen. Ansätze einer legislatorischen Lösung sind bereits auf den Weg gebracht1. Doch sind sie ehrlich genug, die unüberbrückbaren Brüche der Verfahrenspraxis mit der Theorie des Strafprozesses aufzuzeigen oder gar zu überwinden? Die Frage nach der Rechtmäßigkeit von Absprachen sowie die Diskussion um eine gesetzliche Regelung dieser Praxis greift so tief in das traditionelle Verständnis des Strafprozesses als einer Suche nach „Wahrheit und Gerechtigkeit“2 ein, dass es unerlässlich ist, gerade die Bedeutung dieser Grundpfeiler unseres Prozessverständnisses im Lichte der Praxis neu zu bedenken. Auf verfassungsrechtliche Bedenken und Gefahren der Verletzung tragender Prozessprinzipien wird in praktisch jeder Abhandlung zu dem Thema hingewiesen. Auch mit den Ursachen und Zukunftsperspektiven dieser stetig an Bedeutung zunehmenden „informellen Prozessordnung“ setzt man sich ausführlich auseinander. Dass die Wahrheit in der konsensualen Erledigung häufig auf der Strecke bleibt, wird so gut wie von jeder Seite anerkannt und als notwendiges Übel hingenommen. Beschäftigte sich die Diskussion um die Absprachen in ihren Anfängen vornehmlich mit der Vereinbarkeit der informellen Verfahrenserledigung mit der Prozessordnung, tritt nunmehr seit einiger Zeit vermehrt ein neuer, grundlegenderer Aspekt in den Vordergrund der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Man fragt nun nicht mehr nur nach der Integrierbarkeit der Absprachen ins geltende Prozessrecht. Vielmehr geraten die Grundsätze des Verfahrens selbst zunehmend ins Visier, wenn die Diskrepanz zwischen prozessualer Praxis und der geltenden Strafprozessordnung näher untersucht wird.
1 Vgl. das Eckpunktepapier, ein in der Regierungskoalition erarbeitetes Diskussionspapier, in StV 2001, 314 ff., das nunmehr konkrete Gestalt angenommen hat in einem „Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens“, Stand 18. Februar 2004. 2 So die Formulierung bei Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung, Teil I, Rn. 275.
18
Einleitung
Die Meinung, der Prozess habe sich mehr oder minder heimlich bereits von den „hehren Ansprüchen“ des Strafverfahrens verabschiedet, gewinnt an Boden. Auch im Rahmen dieser Arbeit ist die eigentliche Frage nicht, ob sich die Absprachen mit der geltenden Strafprozessordnung vereinbaren lassen, sondern gefragt wird vielmehr, ob sich die „hehren Ansprüche“ des Strafverfahrens, die durch die Praxis zunehmend bedroht werden, noch mit dem Verständnis eines gerechten Verfahrens vereinbaren lassen. Da liegt der Einwand auf der Hand, man wolle in einer rein funktionalistischen Betrachtung des Problems die berechtigten Zweifel an der Absprachenpraxis durch eine zweckorientierte Überdehnung des Gerechtigkeitsbegriffs übertönen. Anliegen dieser Arbeit ist aber gerade nicht, die bestehende Praxis durch ein funktionalisiertes, auf Verfahrenseffizienz gerichtetes Gerechtigkeitsverständnis gegen wohl begründete Angriffe zu verteidigen. Vielmehr sollen die nicht zu unterschätzenden Gefahren, wohl aber auch die großen Chancen untersucht werden, die der viel konstatierten Konsensorientierung im Strafprozess zugrunde liegen. Mit anderen Worten ist Ziel dieser Arbeit, die Unvereinbarkeit der Absprachenpraxis mit dem derzeitigen Prozessmodell aufzuzeigen und dennoch für die Vereinbarkeit konsensualer Verfahrenserledigungen mit einem „gerechten Strafprozess“ zu plädieren3.
3 Eser, ZStW 104 (1992), 361, 377, hat bereits vor mehr als zehn Jahren gefragt, ob hinter dem Trend zur „Reprivatisierung des Strafverfahrens“, der zunächst „pragmatisch aufgezwungen gewesen sein mag“ nicht auch eine Änderung der „strafrechtsphilosophischen Grundvorstellungen“ stehe.
Kapitel 1
Rechtstheoretische Grundlegung Ist es gerecht, wenn der Kooperationswillige im Verfahren eine mildere Strafe erhält als derjenige, der seine Schuld bis zum Ende bestreitet? Ist es gerecht, wenn sich das Gericht mit einem ausgehandelten Sachverhalt zufrieden gibt und davon absieht, weiter nach der Wahrheit der angeklagten Tat zu forschen? Oder kann ein gerechtes Urteil nur da sein, wo nach der Wahrheit gestrebt wird? Die Absprachenpraxis ist in zahlreichen Untersuchungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit und Vereinbarkeit mit den Prozessgrundsätzen geprüft worden. Dass die „Mauschelei auf den Gerichtsfluren“ die Prozessgrundsätze des deutschen Strafverfahrens bis in ihre Fundamente ins Wanken bringt, ist vielfach hervorgehoben worden1. Nun gelten aber auch die Prozessmaximen nicht absolut, sondern nur so weit, wie sie den Kern des „Unverfügbaren“ im Strafprozess schützen2. Das „Unverfügbare im Recht“ wiederum muss das Gerechte schlechthin sein. Was aber gehört zu diesem „an sich Gerechten“? Die Ermittlung des wahren Sachverhalts soll Voraussetzung für ein gerechtes Urteil sein3. Das Bundesverfassungsgericht hat unmissverständlich festgestellt,
1 Verwiesen sei hier nur auf Schünemann, Gutachten, B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 141; Weider, Vom Dealen mit Drogen und Gerechtigkeit, S. 184: „Die neue Allianz der ,Praktiker‘ hat die gesamte Struktur des Strafprozesses gegen den Widerstand von Wissenschaft und obergerichtlicher Rechtsprechung mehr verändert, als alle Änderungen der Strafprozessordnung durch den Gesetzgeber und die rechtsfortbildende Rechtsprechung der Revisionsgerichte“; vgl. auch Sinner, Der Vertragsgedanke im Strafprozeß, S. 206 f.; Siolek, Die Verständigung in der Hauptverhandlung, S. 207. 2 Zur Frage des Unverfügbaren im Strafprozess werden für die Arbeit insbesondere die folgenden Positionen relevant: Kaufmann, RTh 1986, S. 257, 275, für den das Unverfügbare im Recht der „Mensch als Person“ ist, sowie Hassemer, in: Festschrift für Maihofer, S. 183 ff., der die „Idee der Unverfügbarkeit“ vor allem in der „Rechtskultur“ verankert (S. 201); die Frage nach dem Unverfügbaren im Strafverfahren hat als Gegenwicht zur „Effizienz des Verfahrens“ ohnehin Konjunktur, vgl. auch Weigend, Welche Grundprinzipien und sonstigen rechtstaatlichen Anforderungen des Strafverfahrens sind unverzichtbar?, in: Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften, S. 257 ff., der die „Orientierung des Strafverfahrens an der „materiellen“ Wahrheit für unverzichtbar hält; siehe auch Wolter, Aspekte einer Strafprozessreform bis 2007, S. 23 ff.; Habermas sieht dagegen das Unverfügbare nur in prozeduralen, nicht in inhaltlichen Prinzipien, KJ 1987, 1, 6 f., 9. 3 Vgl. BVerfGE 57, 250, 275 = NJW 1981, 1719, 1722; BVerfGE 63, 45, 61 = NJW 1983, 1043; Gössel, in: Festschrift für Meyer-Goßner, S. 187, 200, hält fest, dass
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Kap. 1: Rechtstheoretische Grundlegung
dass Tat und Schuld dem Täter nachgewiesen werden müssen4. Warum aber braucht es die Wahrheit für ein gerechtes Urteil? Gerecht kann ein Urteil nur sein, wenn es den Schuldigen bestraft5. Schuld soll nur feststellbar sein auf der Grundlage der Wahrheit6. Welche Wahrheit für diese Schuldfeststellung benötigt wird, ob eine formelle hinreicht, oder die materielle gefordert ist, dies verweist wieder auf den Ausgangspunkt, nämlich die „gerechte“ Entscheidung. Diese Frage ist schon in sich zirkulär. Das soll an dieser Stelle nicht etwa kaschiert werden. Worauf es hier vielmehr ankommt, ist aufzuzeigen, dass diese Zirkularität eine notwendige ist, die in der wechselseitigen Beziehung der drei zentralen Begriffe Gerechtigkeit, Schuld und Wahrheit begründet ist: gerecht ist ein Urteil, dass auf der Grundlage der Wahrheit den Schuldigen bestraft und den Unschuldigen freispricht, was Wahrheit und Schuld sind, lässt sich nicht bestimmen ohne ein Vorverständnis dessen, was gerecht ist. Gewandelte Gerechtigkeitsvorstellungen im Strafverfahren haben sich aber dann ihrerseits am Schuldprinzip und Wahrheitsverständnis zu messen. Diese gegenseitige Abhängigkeit stellt die Untersuchung vor methodische Schwierigkeiten, ist aber eine notwendige, da das Recht ohne Vorverständnisse von Recht nicht sein kann und jeder Wandel im Recht sich am Unverzichtbaren dieser Vorverständnisse messen lassen muss. An diesem Punkt kommt man notwendig mit dem hermeneutischen Zirkel jeden Verstehens im Recht in Berührung. Ob Schuldfeststellungen für Verurteilungen erforderlich sind oder nicht, wird bereits in Frage gestellt7, ob Wahrheit erkennbar, herstellbar oder überhaupt tauglicher Gegenstand einer prozessualen Suche sein kann, wird immer wieder anders beantwortet. Dass aber ein Urteil ein gerechtes sein soll, ist absolute
es allgemein als anerkannt gelten kann, „dass eine Entscheidung nur dann gerecht sein kann, wird der ihr zugrunde liegende Sachverhalt wahrheitsgemäß ermittelt“. 4 BVerfGE 9, 167, 169. 5 Grundlegend BVerfGE 20, 323, 331; vgl. Neumann, ZStW 101 (1989), S. 52, 53: „Die materiale Gerechtigkeit des Strafverfahrens ist die vergeltende: Verurteilung des Schuldigen, Freispruch des Unschuldigen.“ 6 BVerfGE 57, 50, 275: „Als zentrales Anliegen des Strafprozesses erweist sich daher die Ermittlung des wahren Sachverhaltes, ohne den das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden kann“. 7 An dieser Stelle sei nur exemplarisch für die Abschaffung des Schuldprinzips und Ersetzung durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip verwiesen auf: Ellscheid/Hassemer, Strafe ohne Vorwurf, in: Lüderssen/Sack, Seminar Abweichendes Verhalten II, S. 266; Baurmann, Schuldlose Dogmatik, in: Seminar abweichendes Verhalten, Bd. 4, S. 196 ff.; vgl. zur „Schuld als Kriterium der Verhältnismäßigkeit“ auch ders., in: Zweckrationalität und Strafrecht, S. 253 ff.; vgl. auch Hoffmann, P., Vergeltung und Generalprävention im heutigen Strafrecht, S. 244, der ebenso das Schuldprinzip durch das der Verhältnismäßigkeit ersetzen will; vgl. zur „Ersetzung des Schuldparadigmas“ durch das „Prinzip des objektiven Verantwortlichseins“ auch Scheffler, Grundlegung eines kriminologisch orientierten Strafrechtssystems, S. 69; ausführlicher wird auf die Schuldproblematik unten eingegangen.
I. Gerechtigkeit im Wandel
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Prämisse. Gerechtigkeit als Ziel des Verfahrens eint alle Theorien zum Strafprozess8. Was aber ist ein „gerechtes Urteil“?
I. Gerechtigkeit im Wandel oder die „Emanzipation des Verfahrensrechts“9 Heute kann es als anerkannt gelten, dass ein gerechtes Strafverfahren drei Zielen zu dienen hat: (1) einer materiell-richtigen, (2) einer prozessordnungsgemäß zustande gekommenen und (3) einer Rechtsfrieden schaffenden Entscheidung10. In der Zusammenschau dieser drei Verfahrensziele kristallisiert sich bereits ein Grundproblem aller Gerechtigkeitserwägungen im Recht heraus: das Verhältnis zwischen materiellen und prozeduralen Aspekten einer Theorie zur Gerechtigkeit. Kaufmann11 sieht daher in dem Streben nach Gerechtigkeit auch die beiden Grundfragen aller Rechtsphilosophie angelegt, die er folgendermaßen formuliert: „1. Was ist richtiges Recht? und 2. wie erkennen bzw. verwirklichen wir richtiges Recht. Beides zusammen ergibt die Frage nach der Gerechtigkeit als Maßstab für das positive Recht, [. . .]“. In einem modernen Strafverfahren hat nicht nur die Entscheidung gerecht zu sein, sondern ebenso das Verfahren selbst, was in dem Erfordernis einer „prozessförmigen“ Entscheidung zum Ausdruck kommt. Diese Eigenständigkeit des Verfahrens ist, rechtshistorisch betrachtet, keine Selbstverständlichkeit. Dass das Verfahren lange nur als Instrumentarium zur Durchsetzung des materiellen Strafrechts gegolten hat, macht deutlich, wie sehr die Vorstellung von Strafgerechtigkeit an das Ergebnis des Verfahrens geknüpft war. Dass aber die Prozessförmigkeit der Entscheidung zu einem eigenständigen Verfahrensziel avanciert, ist eine Konsequenz der Einsicht, dass die Frage nach Gerechtigkeit einer Entscheidung nicht nur nach dem entschiedenen „was“, sondern auch nach dem „wie“ der Entscheidung fragt. Dass zudem auch der Rechtsfrieden als Verfahrensziel in Erscheinung tritt, setzt die Gerechtigkeit einer Entscheidung unmittelbar in Beziehung zu dem 8 Anders die bewusst provozierende Frage „Wie wichtig ist Gerechtigkeit“ bei Stratenwerth in: Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 353 ff., die auf den formalen Maßstab der Gerechtigkeit abzielt und damit im Grunde nichts anderes meint, als über die materialen Inhalte der Gerechtigkeit neu zu reflektieren (indem „künftige Bewohner dieser Erde“ und die „außermenschliche Natur“ einbezogen werden sollen [S. 359]), der Gerechtigkeitsidee im Sinne geltender Werte aber nichts an Bedeutung abspricht. 9 Mit dieser Bezeichnung ist ein Unterkapitel in der Monographie „Verfahrensgerechtigkeit“ von Hoffmann, R., S. 27 ff., betitelt. 10 Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 1; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Einl. 4, HK-Krehl, Einl. Rn. 1; Löwe-Rosenberg/Rieß, Einl. Abschn. B. Rn. 4; KK-/Pfeiffer, Einl. Rn. 2. 11 Kaufmann, Theorie der Gerechtigkeit, S. 9.
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Kap. 1: Rechtstheoretische Grundlegung
Interessenausgleich, dem Recht immer zu dienen hat. Eine rechtliche Entscheidung ist niemals Selbstzweck, sondern immer an die Personen gebunden, an die sie gerichtet ist. Damit wird auch die Strafgerechtigkeit direkt an einen befriedenden Zweck gebunden. Anliegen dieser Grundlegung kann es nur sein, die Bausteine zu liefern mit denen aufzuzeigen ist, dass die These einer spezifischen Strafgerechtigkeit, die sich vom Prinzip der materiellen Wahrheit lösen kann, nur die Konsequenz aus dem Wandel von Gerechtigkeitsvorstellungen ist, die rechtsphilosophisch fundiert und nicht etwa ausschließlich einem Effizienzdenken verpflichtet sind. Hierfür sollen die drei Komponenten einer gerechten Entscheidung – materiellrichtig, prozessförmig und Rechtsfrieden schaffend – den ihnen zugrunde liegenden allgemeinen Gerechtigkeitskonzeptionen zugeordnet werden, um so zu einer spezifischen Gerechtigkeit des Strafverfahrens zu finden. 1. Gerechtigkeit in der „ergebnisrichtigen“ Entscheidung oder reicht die materiell-richtige Entscheidung? Solange sich Strafgerechtigkeit in einer materiell-richtigen Entscheidung erschöpft, ist kein Raum für Aushandlungen, deren Ziel nicht unbedingt eine richtige, sondern eine konsensuale Entscheidung ist. Das Gleichheitsgebot, das mit der Gerechtigkeit engstens verbunden ist und als solches wohl eine anthropologische Konstante darstellt12, kann nach diesem Verständnis nur gewahrt werden, wenn die Entscheidung im Ergebnis richtig ist. Ist die materielle Richtigkeit ein unabdingliches Gerechtigkeitsgebot, kann es Gleichheit nur auf der Grundlage der „ergebnisrichtigen“ Entscheidung geben? Wenn dies als Prämisse ohne Zweifel bejaht werden müsste, wäre die Frage einfach und jede Entscheidung, die nicht zumindest nach der „ergebnisrichtigen“ Entscheidung strebt, ungerecht. „Materiell-richtig“ ist eine Entscheidung, wenn sie im Ergebnis richtig ist. Das Erfordernis einer materiell-richtigen Entscheidung liegt im Vergeltungsbedürfnis begründet. 12 Bei Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 30, heißt es: „Gerechtigkeit in solchem Sinn bedeutet Gleichheit“; bei Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1131a 6., S. 126, heißt es: „Wenn nun das Ungerechte Ungleichheit bedeutet, so bedeutet das Gerechte Gleichheit“; so findet sich der Gleichheitsgedanke als Kern der Gerechtigkeit auch in dem biblischen Talionsprinzip, 2. Mose, 21, 23 ff.; 3. Mose 24, 17 ff.; bei Kant ist das Prinzip der Gleichheit das einzige, das die „öffentliche Gerechtigkeit sich zum Prinzip und Richtmaß“ macht, Metaphysik der Sitten, S. 332; Luhmann, ARSP 1967, 531, sieht im griechischen Denken das „Prinzip der Gerechtigkeit in noch mythischer und schon rationaler Weise als Gleichheit charakterisiert“. Deutlich wird in der Gegenüberstellung „rational“ und „mythisch“, dass in den Gleichheitsgedanken, soll er mehr sein als leere Formel, sowohl Vernunft als auch Transzendenz, sowohl Form als auch Inhalt einfließen, im „Mythischen“ ist das Inhaltliche der Gerechtigkeit bereits angelegt.
I. Gerechtigkeit im Wandel
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a) Ergebnisrichtigkeit in absoluter Vergeltung Strafe hat geschehenes Unrecht zu vergelten. Das gilt im Vergeltungsgedanken absolut. Strafe verfolgt in der Vergeltung keinen Zweck. Den von jedem Zweck losgelösten Absolutheitsanspruch, dem Strafe gerecht werden muss, hat Kant eindrücklich formuliert. Das Kantsche Inselbeispiel13, das die unbedingte Bestrafung des Straftäters verlangt, auch wenn dieser der letzte Mensch auf einer dem Untergang geweihten Insel ist, macht deutlich, dass Strafe im Gedanken absoluter Vergeltung kein Ziel verfolgen darf als nur die Vergeltung um ihrer selbst willen14. Die Zweckentbundenheit der Schuldvergeltung verlangt als unbedingtes Prinzip der Strafgerechtigkeit, dass Gleiches mit Gleichem vergolten werde15. Die strafrechtliche Ahndung der Tat im Sinne der Durchsetzung des materiellen Rechts entspricht dem Bedürfnis nach materieller Gerechtigkeit in der Vergeltung, die grundsätzlich ihrem unverfügbaren Gehalt nach verlangt, dass je schwerer die Tat ist, desto schwerer die Strafe sein muss16. Der Vergeltungsge13 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 333: „Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Zustimmung auflöste (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse auseinander zu gehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müsste der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind [. . .].“ Zwar relativiert Kant das absolute Gleichheitsgebot in der Vergeltung, indem er im Anhang zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre, a. a. O., S. 363, folgende Differenzierung vornimmt: „Die Strafgerechtigkeit (iusitizia punitiva), da nämlich das Argument der Strafbarkeit moralisch ist (quia peccatum est), muß hier von der Strafklugheit, da es bloß pragmatisch ist (ne peccetur) und sich auf Erfahrung von dem gründet, was am stärksten wirkt, Verbrechen abzuhalten, unterschieden werden und hat in der Topik der Rechtsbegriffe einen ganz anderen Ort (locus iusti)“ (Hervorhebungen im Original). Diese Relativierung ändert aber nichts an der Vorstellung absoluter Gerechtigkeit in der Vergeltung, da die Gerechtigkeit ja gerade frei von Zweckerwägungen zu sein hat. Die „Klugheit“ ist im Pragmatischen angesiedelt, die Kantsche Gerechtigkeit gerade nicht. 14 Anders wertet Armin Kaufmann, Die Aufgabe des Strafrechts, S. 8 f., das Inselbeispiel, indem er es, insbesondere unter Hinweis auf die Differenzierung in Strafgerechtigkeit und Strafklugheit nicht als einen „Beleg für ein Konzept der reinen Vergeltung“ versteht (Anm. 14, Hervorhebung im Original). 15 Kant, a. a. O., S. 334: „So viele also der Mörder sind, die den Mord verübt, oder auch befohlen, oder dazu mitgewirkt haben, so viele müssen auch den Tod leiden, so will es die Idee der Gerechtigkeit als Idee der richterlichen Gewalt nach allgemeinen a priori begründeten Gesetzen“. 16 Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, S. 175, setzt dieses Verhältnis als Gehalt der Strafgerechtigkeit voraus. Der Gedanke der Proportionalität als materieller Gehalt der Gerechtigkeitsidee legt, bezogen auf die Strafgerechtigkeit, den Schluss nah, dass dem „Vergeltungsbedürfnis“ die „tiefe Sehnsucht nach Gerechtigkeit“ zugrunde liegt, so Spendel, Lehre vom Strafmaß, S. 96, der den Vergeltungsgedanken deduktiv aus der Idee der Gerechtigkeit in Form des Gleichheitsprinzips ableitet, S. 97 ff. Auch Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 161, entwickelt das Vergeltungsprinzip aus der Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 376, bezeichnet die Vergeltung als das historisch vielleicht wichtigste Gerechtig-
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Kap. 1: Rechtstheoretische Grundlegung
danke in der Idee der Gerechtigkeit liegt anthropologisch im Rachebedürfnis des Verletzten begründet17. Wenn Strafe ansonsten zwecklos ist, und Gerechtigkeit sich in der materiellrichtigen Entscheidung verwirklicht, setzt das voraus, dass erstens das materielle Recht gerecht ist und dass zweitens der Sachverhalt als objektiv richtig erkennbar ist. Das kann nur vor dem Hintergrund des Vertrauens in eine absolute Gerechtigkeit geschehen. Ob ein modernes Strafrecht über ein solches Vertrauen verfügen kann, scheint äußerst fraglich. In einer Welt, die auf absolute Werte vertrauen kann, weil sie normative Prämissen aus Ethik, Religion, Vernunft oder sonstigen Transzendenzen gewinnt, hat auch eine absolute, inhaltlich bestimmte Gerechtigkeit ihren natürlichen Platz. Wenn Werte mit Gewissheit gelten und allgemein verbindlich sind, dann folgt aus ihnen unmittelbar, was gerecht, was ungerecht ist. Gerechtigkeit wird dann gedacht als ein außerhalb der subjektiven Wahrnehmung liegendes, objektiv gegebenes Sein. Aus diesem statischen Kern der Gerechtigkeit ergibt sich das Unverfügbare im Recht, das Wesen jeder naturrechtlichen Rechtsphilosophie ist. Das Recht ist gerecht, sofern es nur die jeder Rechtsordnung gleichermaßen vorgegebenen Werte richtig erkennt. Die Werte sind absolut, weil objektiv gegeben, und damit für alle gleich und verbindlich. Dieses „Subjekt-Objekt-Schema“ (Subjekt und Objekt bleiben in der Erkenntnis getrennt)18 kann nur in einer Welt funktionieren, die auf absolute Werte und auf die Fähigkeit menschlicher Erkenntnis dieser Werte vertraut. Dieses Objektive hat man zumeist, nach dem Verlust religiöser Bezugspunkte, in der Natur gesucht, wobei sowohl die empirische als auch die sittliche Natur des Menschen Eingang fanden. In der Natur wurde das Unverfügbare des Rechts gesehen19. Das Vertrauen in einen festen substanzontologischen Gehalt der Gerechtigkeit führt zu der Überzeugung, dass eine rechtliche Entscheidung nur dann gerecht sein kann, wenn sie „ergebnisrichtig“ ist. Gerechtigkeit wird dementsprechend gedacht als „richtiges Recht“20, das dann gefunden werden kann, keitsprinzip; erklärt aber den Vergeltungsgedanken als aus dem Grundsatz der Gleichheit entstanden für „sinnlos“ insoweit, als „die entscheidende Frage: Was ist gleich, durch das so genannte Prinzip der Gleichheit nicht beantwortet wird“, Was ist Gerechtigkeit, S. 26; die Gleichheit bleibt bei Kelsen eine leere Formel, vgl. Reine Rechtslehre, S. 376. 17 Zur „Sublimierung der Rache zur Vergeltung“ siehe Dreier, JuS, 1996, 580, 581. 18 Vgl. Kaufmann, in: Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 1, 19; zur Abkehr vom Subjekt-Objekt-Schema in der Erkenntnis siehe Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 7 ff. 19 Vgl. zur „Idee der Unverfügbarkeit von Recht als gemeinsames Kriterium modernen Naturrechtsdenkens“, Ellscheid, in: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 184. 20 Zu der Gleichstellung Gerechtigkeit und „richtiges Recht“ vgl. Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 5.
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wenn man, von der „Natur“ des Menschen ausgehend, logisch schlussfolgernd, die „natürlichen“ Rechte und Pflichten des Menschen ableitet. Jede naturrechtliche Konzeption geht also von einer bestimmten empirischen Natur des Menschen aus, um von dort mit der Vernunft logisch zu folgern, welche Rechte und Pflichten sich aus diesem Naturzustand ergeben. Gerechtigkeit ist in der naturrechtlichen Philosophie eine statische Größe mit in der Natur konkret vorgegebenen Wertinhalten21. In einem als absolut richtig anerkanntem Recht stellt sich Gerechtigkeit erst im Ergebnis, nicht schon im Verfahren ein. Für die Konkretisierung des Gleichheitsgebotes bedeutet dies, dass die Inhalte, die Bestimmung des wesentlich Gleichen und wesentlich Ungleichen, aus einer absolut gesetzten Ordnung direkt gewonnen werden können. Gerechtigkeit in der ergebnisrichtigen Entscheidung wird hier als ein Ansatz materieller Gerechtigkeit im engeren Sinn verstanden – im engeren Sinn, weil es der einzige Ansatz ist, der das „gerechte Ergebnis“ vollkommen losgelöst von dem zu diesem Ergebnis führenden Verfahren sieht. Oder anders formuliert: ein Urteil ist nach diesem Verständnis immer schon dann gerecht, wenn sein Ergebnis „richtig“ ist, unabhängig davon, mit welchen Methoden das „richtige“ Ergebnis gefunden wurde. „Materielle Gerechtigkeit im weiteren Sinne“ geht in der Terminologie dieser Arbeit indes über den Gedanken der Ergebnisrichtigkeit hinaus. b) Erkenntniskritischer Abschied von der Idee der „Ergebnisrichtigkeit“ Das Vertrauen in ein Vernunfterzeugnis, das durch rein deduktive Schlüsse von der gegebenen Naturordnung ausgehend als absoluter Gerechtigkeitsmaßstab fungiert, musste spätestens mit Kants Erkenntniskritik abhanden kommen. Mit der Frage, wie reine Erkenntnis überhaupt möglich ist, von der der Kantsche Kritizismus seinen Ausgang nimmt, geriet das Subjekt-Objekt-Schema und mit ihm das Vertrauen in die Erkenntnis subjektunabhängiger inhaltlicher Werte ins Wanken, obwohl Kant selbst die Absolutheit seines Gerechtigkeitsverständnisses von Strafe nie angezweifelt hat22. Dies ist nicht der Ort, um auf Kants Erkenntniskritik näher einzugehen, und dennoch soll in notwendigerweise redu21 Von einer „vorgegebenen und hinzunehmenden Ordnung der Werte“ als Voraussetzung allen Naturrechts spricht Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 226. 22 Die entscheidende Ausgangsfrage lautete: „Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?“, Kritik der reinen Vernunft, S. 365; damit war in Frage gestellt, ob es in der Metaphysik Urteile a priori, also allgemeingültige sichere Urteile geben kann, die allein die „reine Vernunft“ liefert. So hat Kant, obwohl er in seinem Gerechtigkeitsverständnis den Boden eines absoluten Vergeltungsgedankens nie verlassen hat, doch den philosophischen Grundstein für die Öffnung der Straftheorien hin zu präventiven Zielen gesetzt.
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zierenden Grundzügen dargelegt werden, warum und inwiefern mit der Erkenntniskritik auch ein Wendepunkt der Gerechtigkeitsvorstellungen eingeleitet wird. Im ersten Abschnitt der „transzendentalen Logik“ fasst Kant 23 zusammen, dass alle Erkenntnis zwei Elemente enthält, nämlich die Anschauung und den Begriff. Durch die Anschauung wird ein Gegenstand gegeben, durch den Begriff wird er gedacht. Anschauungen sind stets sinnlich, die Begriffe gibt uns der Verstand. Keine Eigenschaft ist der anderen vorzuziehen. „Gedanken ohne Inhalte sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“24. Fragt Kant nun nach der Möglichkeit von Urteilen a priori, so sucht er nach Urteilen, in die nichts der Erfahrung Entlehntes, nichts Sinnliches einfließt. Vor aller Erfahrung sind aber allein die Formen der Anschauungen und die Formen des Denkens gegeben. Reine Anschauung und reiner Begriff enthalten lediglich die Form, unter der etwas angeschaut oder gedacht wird25. Der Inhalt der Anschauung, also die Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung, sind stets subjektbezogen und somit a posteriori, also sind a priori nur die Formen gegeben. Die Frage, wie die „Formen“ im Kantschen Sinne zu verstehen sind, und ob sie mit dem formalen Aspekt der Gerechtigkeitsfrage in Verbindung gebracht werden können, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht erörtert werden26, sie kann aber für den Fortgang der Untersuchung auch insoweit ausgeblendet werden, als es entscheidend nur darauf ankommt, dass Inhalte nach der „Kopernikanischen Wende“ durch die Erkenntniskritik Kants nicht mehr ohne weiteres als allgemeinverbindlich hingenommen werden können. Damit müssen auch als absolut verstandene Werte ins Wanken geraten. Alle Erkenntnis, die auf sinnlicher Wahrnehmung beruht, ist also nicht mehr allgemein, nicht rein, sondern relativ27. Kant hat folglich gezeigt, dass es nicht möglich ist, den Inhalt einer Metaphysik allein aus formalen apriorischen Prinzipien abzuleiten, und dass daher eine inhaltliche Metaphysik niemals allgemein und mathematisch exakt sein kann. Damit wurde der Anspruch zurückgewiesen, aus der Natur ein allgemeingültiges Naturrecht mit eindeutigem Inhalt herleiten zu können28. Ein Sollen kann aus dem Sein nicht gefolgert werden, und die 23
Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 74 ff. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 75. 25 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 75. 26 Hinzuweisen ist auf den Umstand, dass Kant in seiner Gerechtigkeitsdogmatik insbesondere in Bezug auf die Frage der Rechtfertigung von Strafe seiner Erkenntniskritik zum Trotz sehr wohl auf dem Boden einer absoluten, inhaltlich bestimmten Vergeltungsgerechtigkeit steht. 27 Aus dieser Relativität folgert aber keine Willkür; die Behauptung ist nicht etwa skeptisch, denn Erkenntnis ist nach Kant innerhalb der ihr gewiesenen Schranken notwendig übereinstimmend und allgemein gültig für alle denkenden Wesen, vgl. Del Vecchio, Rechtsphilosophie, S. 169. 28 Kaufmann, in: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 71 f. 24
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Rechtsphilosophie ist im Methodendualismus angelangt, der die Gerechtigkeitsfrage neu stellen muss. Wenn Kant auch gerade in der rechtsphilosophischen Rezeption oft zu formalistisch aufgenommen wurde, so ist doch die große Wende, die durch seine Erkenntniskritik in Gang gesetzt wurde, nicht hinweg zu denken aus der Abkehr vom Natur- und Vernunftrecht29 hin zu einem wertrelativistischen Funktionalismus im Recht30. Der Kritizismus muss „das Ende eines objektivistischen, substanzontologischen, statischen, allgemeingültigen Naturrechts“ bedeuten31. Kant postuliert die Unmöglichkeit vom Sein auf das Sollen zu schließen, legt somit auf der einen Seite das Scheitern eines jeden Versuchs dar, normative Inhalte nur aus anthropologischen Zuständen abzuleiten, geht aber auf der anderen Seite notwendigerweise von einer „Ordnung der Begriffe von der Willensbestimmung“32 aus, in die sich der „freie Wille“ muss fügen können33. Materialethische Inhalte lassen sich aus der sittlichen Autonomie entwickeln, sie sind als solche notwenig, weil in ihnen a priorische Gesetze zur Anwendung kommen auf die nur sinnlich wahrnehmbare Natur des Menschen, die Anthropologie34. Allein eine als vorgegeben gedachte Ordnung, an deren Beginn der reine 29 Wenn Del Vecchio, Rechtsphilosophie, S. 164, darauf verweist, dass man es so auszudrücken pflege: „mit Kant habe die Naturrechtsschule ihr Ende erreicht und die Vernunftrechtsschule ihren Anfang genommen“, so geht er von einem Vernunftsrechtsbegriff aus, der die „recta ratio“ als naturrechtliches Fundament ausblendet. Denn (so die Formulierung Kaufmanns, in: Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 68) hat Kant doch die „schärfsten Waffen gegen das Vernunftrecht geschmiedet“, gegen jenes Vernunftrecht nämlich, dem als Ausgangspunkt die empirische Natur des Menschen diente, und das von dort folgernd als reines Erzeugnis der Vernunft verstanden sein wollte. 30 Ein solcher ist allerdings für das Strafrecht in Kants Gerechtigkeitsvorstellungen in keiner Weise angelegt, da er fest im absoluten Vergeltungsdenken verhaftet ist. 31 Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 26. 32 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 110; weiter heißt es, diese Ordnung dürfe „nicht aus den Augen gelassen werden, weil man sonst sich selbst missversteht und sich zu widersprechen glaubt, wo doch alles in der vollkommenen Harmonie nebeneinander steht.“ 33 Das folgert aus seiner „subjektiven Sittlichkeit“, die nun an die Stelle objektivmaterialethischer Fragen tritt. Denn soll der Wille sich „frei“ entscheiden, dann muss eine gegebene Ordnung bereits vorhanden sein, in die sich der Wille muss fügen können, vgl. Welzels Einwand, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 170: „Die objektive Gültigkeit materialethischer Handlungsinhalte ist vielmehr die Möglichkeitsvoraussetzung der Autonomie, kann aber nicht aus dieser gefolgert werden“. 34 Der scheinbare Formalismus der obersten Handlungsmaxime verträgt sich mit Kants absoluter, auch inhaltlich bestimmter Gerechtigkeitsvorstellung, denn in der Metaphysik der Sitten, S. 216 f. heißt es: „So wie es aber in einer Metaphysik der Natur auch Principien der Anwendung jener allgemeinen obersten Grundsätze von einer Natur überhaupt auf Gegenstände der Erfahrung geben muß, so wird es auch eine Metaphysik der Sitten daran nicht können mangeln lassen, und wir werden oft die besondere Natur des Menschen, die nur durch Erfahrung erkannt wird, zum Gegenstande nehmen müssen, um an ihr die Folgerungen aus den allgemeinen moralischen Princi-
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Vernunftbegriff der Freiheit steht, kann den Maßstab für die Gerechtigkeit liefern, die Kant noch als inhaltliche voraussetzt. In der Notwenigkeit der moralischen Gesetze35 gründet die absolute Gerechtigkeit. In der Formalität des reinen kategorischen Imperativs hingegen liegt das „Unterfangen, inhaltliche moralische Aussagen aus einem gedanklichen Verfahren abzuleiten“36. Auch wenn die Inhalte in der Moralphilosophie Kants bereits angelegt sind, kommen sie erst durch das gedankliche Verfahren des kategorischen Imperativs zur Geltung. Zwar stellt das Verfahren die Inhalte nicht her, wohl aber holt es sie hervor. Kants Einfluss auf die neuere Rechtphilosophie und Rechtstheorie kann nicht überschätzt werden37. Wenn Inhalte, die aus der Erfahrung stammen, nur a posteriori gelten und somit nicht allgemein gültig, nicht rein sind, dann lässt sich eine neue Frage stellen, ob nämlich aus der Form selbst nicht konsistentere Inhalte gewonnen werden können. Wenn Kant auch in seiner Gerechtigkeitsvorstellung sehr wohl noch auf dem Boden absoluter Vergeltung und notwendiger moralischer Prinzipien stand, so hat er durch seinen erkenntnistheoretischen Kritizismus doch den Grundstein gelegt für die Zweifel, die Zuflucht in der Form suchen, um aus dieser Inhalte der Gerechtigkeit zu gewinnen. Je wichtiger das Verfahren für das Erkennen konstitutiver Elemente der Gerechtigkeit wird, desto zweifelhafter wird die Idee der „Ergebnisrichtigkeit“ einer Entscheidung. Wenn die Inhalte der Gerechtigkeit nicht mehr ohne weiteres aus einer vorgegeben Natur gefolgert werden können, dann wird das Verfahren, mit dem man zu „gerechten“ Inhalten gelangt, entscheidend. Ein „richtiges Ergebnis“ hängt dann ab vom „richtigen Verfahren“.
pien zu zeigen, ohne dass jedoch dadurch der Reinigkeit der letzteren etwas benommen, noch ihr Ursprung a priori dadurch zweifelhaft gemacht wird. – Das will so viel sagen, als: eine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt werden.“ In der Anwendung der apriorischen Gesetze kommen die Inhalte zur Geltung, die in den reinen Begriffen „Freiheit“, und „freier Wille“ bereits angelegt sind. 35 Mit den Sittengesetzen ist es anders bewandt als mit den Naturwissenschaften, die ihre Gesetze auch nur der Erfahrung entnehmen können: „Nur sofern sie [die Sittengesetze] als a priori gegründet und als nothwendig eingesehen werden können, gelten sie als Gesetze“, Metaphysik der Sitten, S. 215. 36 Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 10 (Hervorhebungen im Original). 37 Das gilt in erster Linie für seine Erkenntniskritik und weniger für seine Rechtslehre, in der vor allem seine Gerechtigkeitstheorie weit hinter seiner Zeit zurückblieb – so bestimmte Kant z. B. die Gleichheit, die schon Aristoteles als eine proportionale erkannt hatte, rein numerisch, vgl. hierzu auch Kaufmann, in: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 75.
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2. Gerechtigkeit in der „verfahrensrichtigen“ Entscheidung oder reicht die prozessordnungsgemäße Entscheidung? Ein gerechtes Urteil erschöpft sich also nicht in einer materiell-richtigen Entscheidung, es verlangt ein gerechtes Verfahren. Die Gerechtigkeit des Strafverfahrens kann nach dem Zerfall des Schuldvergeltungsparadigmas keine absolute mehr sein. Wenn das Vertrauen in die „eine“ richtige Entscheidung abhanden kommt, weil es keine Gewissheit darüber gibt, was das materiell absolut gerechte Recht und wann die Tat richtig festgestellt ist, dann werden andere Gerechtigkeitsmaßstäbe denkbar. Wenn Strafe nicht mehr absolut aus dem Vergeltungsgedanken abgeleitet werden kann, dann wird zur Bestimmung der gerechten Strafe relevant, welchen Zielen die Strafe zu dienen hat. Wenn das Vertrauen in das Subjekt-Objekt-Schema durch den Kritizismus unweigerlich erschüttert wurde, wenn absolute Werte und damit die Vorstellung materieller Gerechtigkeit ins Wanken geraten, dann tut sich ein leerer Raum auf, in den prozedurale Gerechtigkeitstheorien eindringen können. Ihnen ist gemein, dass sie sich wesentlich auf ein Verfahren stützen, um Gerechtigkeit zu begründen und damit voraussetzen, dass Gerechtigkeit überhaupt durch die Einhaltung von Verfahrensregeln begründbar ist38. Der Kantsche Kritizismus, der das Subjekt-Objekt-Schema, und damit die Überzeugung eines allgemeingültigen Naturrechts, wissenschaftlich widerlegt hat39, legt nun eine sich anschließende Frage nahe. Wenn nämlich die Inhalte, die aus der Erfahrung stammen nur a posteriori und damit nicht allgemein gelten können, dann lässt sich berechtigterweise überlegen, ob aus der reinen Form nicht konsistentere Inhalte gewonnen werden können40. Der kategorische Imperativ Kants ist auf der einen Seite eine Spielart prozeduraler Gerechtigkeitstheorien, indem er Anweisungen gibt, wie moralische Fragen in einem bestimmten gedanklichen Verfahren einer Lösung zugeführt werden können41. Auf der ande38
Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 118. Vgl. Kaufmann, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 68. 40 Kaufmann a. a. O., S. 166, der davon ausgeht, dass im Grunde schon Kants kategorischer Imperativ einer solchen Idee entspringt. „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ So Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 421. Dem ist insoweit zuzustimmen, als aus einer formalen Handlungsmaxime („ Er [der kategorische Imperativ] betrifft nicht die Materie einer Handlung und das, was aus ihr erfolgen soll, sondern die Form und das Princip, woraus sie selbst folgt [. . .], a. a. O., S. 416) sehr wohl allgemeinverbindliche Inhalte abgeleitet werden. Eine a priorische Gegebenheit, die die Bedeutung eines absoluten Wertes hat, ist in Kants Moralphilosophie das Gebot der Pflicht. In seinem Handeln, in der praktischen Vernunft ist der Mensch dem Absoluten daher näher als in der Erkenntnis, der theoretischen Vernunft; vgl. hierzu Del Vecchio, Rechtsphilosophie, S. 170. 39
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ren Seite gilt bei Kant eine vorgegebene „objektiv-sittliche Ordnung der Dinge“42. In dieser Vereinigung, die in der Form das einzig Reine, a priorisch Seiende sieht, aber doch von einer gegebenen Harmonie der Dinge ausgeht, liegt der Grundstein dafür, dass „von Kant die verschiedensten philosophischen Richtungen der Gegenwart ihren Ausgang nehmen“43, und dass sowohl eine funktionalistisch gedachte Strafe44 als auch der absolute Vergeltungsgedanke im Denken Kants verwurzelt ist. Zwar kann Kant so verstanden werden, dass er erkenntnistheoretisch einem reinen Werterelativismus das Wort redet, aber der Kantsche erkenntnistheoretische Kritizismus verschließt sich nicht vor der Annahme normativer Prämissen, die die „Harmonie“ der Dinge begründen; Kant meidet in seinem Kritizismus den Weg in den Werterelativismus. Nur so kann sich erkenntnistheoretischer Kritizismus mit dem Gedanken absoluter vergeltender Gerechtigkeit vereinen. Der Gedanke, dass Gerechtigkeit durch Verfahren begründet werden kann, lässt aber grundsätzlich beide Positionen zu der Frage nach der Existenz letzter, absoluter Werte zu. Kants Erkenntniskritik auf der einen und seine Moralphilosophie auf der anderen Seite liegen diesen konträren Positionen jeweils zugrunde. Entweder werden letzte Werte ausschließlich aus der Form, aus dem Verfahren gewonnen. Oder die letzten Werte sind Teil einer bestehenden Ordnung, ob die menschliche Erkenntnis diese nun fassen kann oder nicht. Was bedeutet der Konflikt zwischen einem „reinen“, formellen Verständnis einer „verfahrensgerechten“ Entscheidung auf der einen und einer materiell fundierten prozeduralen Gerechtigkeit auf der anderen Seite für das Strafverfahren? 41 Ellscheid, in: Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 179, 213. 42 So die als Vorwurf der Inkonsequenz gemeinte Formulierung von Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 169: „Trotz seiner Kritik am materialen Prinzip der Sittlichkeit setzt Kants Ethik immerfort eine objektiv-sittliche Ordnung der Dinge voraus.“. Gegen diesen Einwand eines vermeintlichen Bruchs in der Argumentation siehe Kaufmann, in: Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 1, 74, der aufzeigt, dass der von Welzel aufgezeigte Zirkel „kein vitiöser, jedenfalls kein zu umgehender“ ist, da Kant dem kategorischen Imperativ, als rein formalem gedanklichem Verfahren doch inhaltlich-moralische Prinzipien abgewinnen will. 43 Vgl. Del Vecchio, Rechtsphilosophie, S. 164. 44 Verwiesen sei z. B. auf die Rückgriffe auf Kant bei Kindhäuser, ZStW 107 (1995), 701, 716, 731, der sich in seiner Schuld- und Strafkonzeption nicht als Funktionalist verstanden wissen will (S. 701), der aber im Ergebnis die Kriterien materialer Schuld „auf die Konstituenten von Recht“ beziehen will und damit keine systemexterne Bezugsgröße zulässt; allgemein zu einer funktionalistischen Rezeption Kants für das Recht vgl. Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?; er konstatiert von „Kant bis Habermas“ eine Suche nach Lösungen (bzgl. unverzichtbarer Normen), die dem Konzept der Systemautonomie nahe kommt; so stellt er in Kants Philosophie vor allem den „modernen“ Aspekt in den Vordergrund, dass sie einen „dogmatischen (metaphysischen, religiösen, undiskutierbaren) Vorgriff auf richtige Entscheidungen“ vermeidet.
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Wenn nur Kants erkenntnistheoretische Wende an den Ursprung der Fragen über Gerechtigkeit gesetzt wird – ungeachtet seiner Herleitung moralischer allgemeingültiger Gesetze a priori, die in ihrer Anwendung zu notwendigen konkreten Inhalten führen – dann bleibt sie als inhaltsleeres, formales Prinzip stehen, und damit stellt sich auch die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit neu. Ausschließliche Frage muss nun nicht mehr sein, was ist Gerechtigkeit, sondern zulässig wird eine neue, weitere Frage, nämlich, wie entsteht Gerechtigkeit45. Damit kommt dem Verfahrensrecht eine neue Bedeutung zu, es wird aus seiner dienenden Position gegenüber dem materiellen Recht entlassen. Denn der Prozess selbst und nicht erst das Urteil wird zum Ort, an dem Gerechtigkeit entstehen kann. Als konstitutives Element prozeduraler Gerechtigkeit wird auf den Gedanken der Fairness rekurriert46. Nach dem Abschied eines absoluten Vergeltungsstrafrechts wird auch das Verfahren selbst zum Maßstab für eine gerechte Entscheidung. Die Gerechtigkeit der Entscheidung entsteht aus der Einhaltung bestimmter formaler Anforderungen. Wie diese Anforderungen ausgestaltet sein müssen, ist die Frage der Verfahrensgerechtigkeit, die sich in rein prozeduralen Theorien nur aus der Form begründen können lassen muss und in materiellen Theorien der Verfahrensgerechtigkeit auf systemexterne „gerechte Inhalte“, also auf normative Prämissen zurückgreifen kann. In diesem Gegensatz manifestiert sich das bereits erwähnte Verhältnis zwischen einem rein formellen Verständnis von Verfahrensgerechtigkeit und einem materiell fundierten Bekenntnis zu einer Verfahrensgerechtigkeit, die zu einem spezifischen Anwendungsfeld materialer Gerechtigkeit wird. Dass der Gleichheitsgedanke mit der Gerechtigkeit aufs Engste verknüpft ist, ist bereits vorangestellt. Das Gleichheitsgebot lässt sich nach materiellen oder formellen Kriterien ausfüllen. In einem absoluten Strafverständnis, das an eine 45 In diesem Sinne stellt Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 43, an eine Gerechtigkeitstheorie aus juristischer Sicht die Anforderung, „die philosophische Ebene der Gerechtigkeitsbegründung mit der dogmatischen Ebene der Gerechtigkeitserzeugung zu verbinden“, was bedeutet, dass eine Theorie der Gerechtigkeit aus juristischer Sicht sich sowohl systemimmanent als auch systemtranszendent behaupten muss. 46 Vgl. insbesondere Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, deren Hauptgedanke ist die „Gerechtigkeit als Fairneß, eine Gerechtigkeitstheorie, die die herkömmliche Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag verallgemeinert und auf eine höhere Abstraktionsebene hebt“; vgl. weiter statt vieler, Tschentscher, a. a. O., S. 121 f. m. w. N., der die Fairness zwar als inhaltsunabhängig versteht, aber von fairen Prozeduren „sinnvoll“ nur dann sprechen will, wenn sie „richtigkeitsorientiert“ sind, und somit eine prozedurale Gerechtigkeit nur vor dem Hintergrund materialer Gerechtigkeit anerkennt. Dementsprechend kommt er in seinen „Grundzügen einer Diskurstheorie der Gerechtigkeit“ zu dem Ergebnis der „diskursethischen Notwendigkeit“ von „bestimmten grundlegenden Gerechtigkeitsprinzipien“, S. 311; vgl. zu den Fairnessregeln als Regeln „prozeduraler Gerechtigkeit im engeren Sinne“ auch Neumann, ZStW 101 (1989), 52, 67.
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„abstrakte Gerechtigkeitsidee“ der zwecklosen Vergeltung gebunden ist, liegt es daher nahe, Strafgerechtigkeit mit der Gleichheit von Unrecht und Strafe zu assoziieren47. Dieses konkrete Gleichheitsgebot ist zu Recht mehr und mehr Zweifeln ausgesetzt. Die gewichtigsten unter ihnen liegen darin, dass Unrecht und Strafe schon qualitativ etwas anderes sind48, und daher nicht im Wege eines „Ausgleichs“ miteinander abgewogen werden können. Es lässt sich also weiter fragen, ob die Konkretisierung des Gleichheitsgebotes, also die Ausfüllung der Gerechtigkeitsidee mit konkreten Inhalten im Strafverfahren nicht auch von der direkten Beziehung Unrecht und Strafe gelöst werden kann. Oder anders formuliert: kann nicht auch das Strafverfahren selbst, jenseits von seiner dienenden Funktion, materieller Gerechtigkeit „zum Durchbruch verhelfen“? So ist die Vorstellung, dass die Gerechtigkeit einer Entscheidung die Konsequenz der Befolgung der Regeln eines fairen Verfahrens sein kann, der gegenwärtigen rechtsphilosophischen Diskussion bereits durchaus geläufig49. Der 47 Dieser Gleichheitsgedanke ist tief im Talionsprinzip (2. Mose 21, 23 ff. „Leben um Leben, Aug um Aug [. . .]“) und in der Einordnung der Strafgerechtigkeit in die ausgleichende Gerechtigkeit verwurzelt, so schon bei Thomas v. Aquin, summa theologica, II-II 61, 4; 62, 3 (Bd. 18, S. 103 ff.). Schon hier bestimmt sich das „Gleichmaß“ zwischen Tat und Vergeltung unter Einbeziehung der Tatumstände, vgl. 61, 4, (S. 105). Das Gleichmaß ist eine Gleichwertigkeit: der, der den Fürsten geschlagen hat, wird nicht nur geschlagen, sondern viel härter gestraft, der der gestohlen hat, muss nicht nur das Gestohlene, sondern ein Mehrfaches zurückgeben. 48 Im Vergeltungsprinzip soll sich der Grundsatz der Gleichheit verwirklichen, so heißt es auch: Gleiches soll mit Gleichem vergolten werden. Doch wie hat man sich diese Gleichheit vorzustellen? Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 377 f., entlarvt die geforderte Gleichheit zwischen dem Bösen, das mit Bösem vergolten werden soll, zwischen der Aktion und der Reaktion, als eine nicht zu realisierende Forderung. Da die Gleichheit der Sache ohnehin nicht bestehen könne, könne die Gleichheit von Aktion und Reaktion nur eine Gleichheit der Werte sein. Diese könne aber nicht sein, da der Unwert, das Böse der Aktion, in der Normverletzung liegt, die das Vergeltungsprinzip voraussetzt. Das Böse der von der Vergeltungsnorm statuierten Reaktion könne aber kein Unwert sein, da die Strafe von der Vergeltungsnorm ja gerade als gesollt gesetzt ist. Das Verhältnis von Aktion und Reaktion könne mithin nicht eines der Gleichheit sondern nur eines der Proportionalität sein, was in der Norm zum Ausdruck komme: je größer die Schuld, desto größer soll die Strafe sein. 49 Neumann, ZstW 101 (1989), 52, 69; Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 106, unterscheidet hier in „vollkommene und unvollkommene Verfahrensgerechtigkeit“, wobei er ersterer das Verfahren einer Kuchenaufteilung zuordnet (einer teilt und bekommt das letzte Stück), diesem Verfahren aber bereits einen vom Verfahren unabhängigen Maßstab dafür, was eine faire Aufteilung ist, zuschreibt. Rawls geht also stets auch in der vollkommenen Verfahrensgerechtigkeit von einem externen Maßstab der Gerechtigkeit aus. Die unvollkommene Verfahrensgerechtigkeit hingegen soll z. B. die des Strafverfahrens sein, da hier das Verfahren nicht wie im Kuchenbeispiel den unabhängigen Gerechtigkeitsmaßstab sicher verwirklicht. Denn der unabhängige Maßstab in der Strafgerechtigkeit, liege gerade darin, dass der Angeklagte genau dann schuldig gesprochen wird, wenn er die ihm vorgeworfene Tat auch tatsächlich begangen hat. (vgl. S. 107). Die Verfahrensgerechtigkeit des Strafverfahrens ist nach Rawls also deshalb eine unvollkommene, weil auch das faire Verfahren zu einem falschen Ergebnis führen kann. Dazu in Gegensatz setzt Rawls die reine Verfahrensgerechtigkeit, die er
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Grundsatz, den alle prozeduralen Theorien gemein haben, dass sie sich wesentlich auf ein Verfahren stützen, um Gerechtigkeit zu begründen, hat in der Strafprozesslehre zu der Überzeugung geführt, dass das Verfahren nicht mehr nur der Durchsetzung des materiellen Rechts zu dienen habe, sondern dass ein „richtiges“ Verfahren selbst Gerechtigkeit konstituiert. Die Vorstellung eines vom materiellen Recht emanzipierten Strafverfahrensrechts ist in den letzten Jahrzehnten stetig fortgeschritten. Galten die Normen des Prozessrechts lange Zeit nur in ihrer dienenden Funktion gegenüber dem materiellen Recht, als Zweckmäßigkeitsnormen im Dienste der Findung und Verwirklichung des materiellen Rechts50, so lässt sich nunmehr zunehmend eine auch konzeptionelle Eigenständigkeit des formellen Rechts feststellen51. Es hat ein „Funktionswandel des Verfahrensrechts von einem bloß (formalen) Rechtsdurchsetzungsrecht hin zu einem (materialen) Rechtsgewinnungsrecht“52 stattgefunden. Diese Emanzipation des Verfahrensrechts kann nun ihrerseits rechtsphilosophisch unterschiedlich begründet sein, je nachdem, ob die ihr zugrunde liegende Idee einer Ver-
dem Glücksspiel vorbehält vgl. S. 107; vgl. auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, der versucht eine „normativ-analytische Theorie des juristischen Diskurses“ zu entwickeln (S. 33) und dabei von einer allgemeinen Theorie des rationalen Diskurses“ (S. 34) ausgeht, deren Kern „Regeln und Formen“ bilden, die nicht etwa „Axiome sind, aus denen normative Aussagen deduzierbar sind“ (S. 35). Sondern es handelt sich um solche Regeln, denen eine Argumentation genügen muss, „damit das in ihr begründete Ergebnis Anspruch auf Richtigkeit erheben kann“ (S. 35). Einen axiologischen Richtigkeitsmaßstab kann es in dieser Theorie nicht geben; vgl. auch Berkemann, JR, 1989, 221, 227, der dem Fairnessprinzip unterschiedliche Aufgaben zuordnet, unter denen auch die Regulierung der Rahmenbedingungen einer „reinen Verfahrensgerechtigkeit“. 50 Vgl. kritisch zu der „Dominanz des materiellen Strafrechts gegenüber dem Prozessrecht“ Neumann, ZStW 101 (1989), 52, 53 m. w. N.; zu den Zweifeln an der dienenden Funktion des Verfahrens vgl. auch Stamp, S. 258 ff.; dagegen im Sinne der rein dienenden Funktion auch noch jüngst Deu, ZStW 114 (2002), S. 156, die davon ausgeht dass das „Verfahren in seiner Gänze“ dem materiellen Strafrecht dient; ebenso dies., in: Festschrift für Roxin, S. 1229. 51 Zur „Emanzipation des Verfahrensrechts“ auch Hoffmann, R., S. 27 ff.; vgl. auch Neumann ZStW 101 (1989), S. 54 f.; er bezeichnet den Gedanken der dienenden Funktion des Verfahrens gegenüber dem materiellen Recht jedenfalls für den Strafprozess vor gut zwanzig Jahren noch als „aktuell“, und ist bemüht gerade diese dienende Funktion zu widerlegen. 52 Gilles, in: Festschrift für Schiedermair, S. 183, 192; zwar bezieht Gilles seine Äußerungen primär auf den Zivilprozess, der Gedanke ist aber auf das Verhältnis von materiellem und prozessualem Recht im Allgemeinen übertragbar; vgl. für den Stand der italienischen Diskussion auch Padovani, Riv. it. dir. proc. pen. 1989, 916 ff., der feststellt, dass die Idee, das Verfahrensrecht habe gegenüber dem materiellen Recht eine rein instrumentelle Funktion und sei nicht mehr als politisch-kriminalwissenschaftlich neutrale Anwendungstechnik für das Strafgesetz, „zweifelsohne als tot und begraben“ betrachtet werden könne; von einer „reziproken“ notwendigen Abhängigkeit zwischen materiellem und prozessualem Recht zum Zwecke der Gerechtigkeit spricht auch Gallo, Giust. pen., 1989, 641, 642.
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fahrensgerechtigkeit rein formell legitimiert ist oder sich als Teil einer materialen Gerechtigkeit versteht. Die Theorien zur Verfahrensgerechtigkeit lassen sich dementsprechend in zwei Gruppen einteilen, deren entscheidendes Trennungskriterium die Frage ist, ob Verfahrensgerechtigkeit rein formal (sich selbst genügend) gedacht werden kann, oder ob sie bereits materielle, außerhalb des Verfahrens liegende Gerechtigkeitsvorstellung in sich trägt. Nur im ersten Fall wird die Idee der „Ergebnisrichtigkeit“ einer Entscheidung hinfällig. In letzterem Fall hingegen bleibt die „Ergebnisrichtigkeit“ noch als ein Gerechtigkeitskriterium bestehen. Sie ist aber weder das einzige noch unbedingt erforderliche Kriterium für eine gerechte Entscheidung. a) Formelle Verfahrensgerechtigkeit – der gerechte Prozess als Wettkampf In einem Strafverfahren, das nur der Verfahrensgerechtigkeit im engeren, also formellen oder reinen Sinne verpflichtet ist, funktioniert der Prozess nicht wie ein Instrument zur Herstellung materialer Gerechtigkeit, sondern wie ein Spiel oder Wettkampf53, dessen Ergebnis gerecht ist, wenn nur die Ausgangspositionen gerecht verteilt sind. Es wird keine „richtige“ Entscheidung gefunden, sondern eine „gerechte“ Entscheidung erzeugt. Rein formelle Verfahrensgerechtigkeit hat demnach als einzigen Bezugspunkt das Verfahren selbst, eine außerprozessuale „Richtigkeit“ des Ergebnisses gibt es nicht54. Die Gerechtigkeit des Verfahrens in diesem engen Sinne verlangt Regeln, die Möglichkeiten festlegen, 53 Zum Prozess als Spiel Neumann, a. a. O., S. 67 ff., der aber in seiner eigenen Gerechtigkeitskonzeption für das Strafverfahren einen materiellen Bezugspunkt der Strafgerechtigkeit nicht aufgibt; in Ansätzen findet sich der Gedanke des Prozesses als vom materiellen Recht abgekoppelter „Wettkampf“ bereits in der Bezeichnung Eb. Schmidts, Lehrkommentar zur StPO, Teil I, Rn. 61, vom „prozessualen Raum“, in dem „Möglichkeiten‘ zu bestimmten prozessualen Schritten zugelassen werden“, die nicht mit dem Begriff des „Rechtes“ im materiellen Recht zu verwechseln sind, denn: „Wie dem objektiven Recht im materiellen Sinn die Berechtigung (das subjektive Recht), so entspricht der Zulassung durch das Prozessrecht die prozessuale Möglichkeit“, freilich bleibt aber das Verfahren in der Konzeption Eb. Schmidts, wenn materielles und prozessuales Denken auch von „grundsätzlicher Verschiedenartigkeit“ (Rn. 65) doch in seiner dienenden Funktion gegenüber dem Ziel von Wahrheit und Gerechtigkeit (Rn. 275). 54 Vgl. hierzu Neumann, ZStW 101 (1989), S. 67 ff. Eine rein formelle Verfahrensgerechtigkeit entwirft Habermas, wenn er fragt: Wie ist Legitimität durch Legalität möglich, KJ, 1987, S. 1 ff.; Luhmann, in: Ausdifferenzierung des Rechts, S. 388, trennt die Gerechtigkeit sogar vom Wertbegriff, indem er sie rein systemimmanent als „adäquate Komplexität des Rechtssystems“ versteht und feststellt: „Was Gerechtigkeit in der modernen Gesellschaft sein kann, lässt sich nicht in der Art der Auslegung einer Norm oder eines Wertes, zum Beispiel durch Exegese des Gleichheitsbegriffes, ermitteln, sondern kann sich nur aus dem Zusammenspiel mit anderen, das Rechtssystem bestimmenden Variablen in Abhängigkeit von bestimmten Umweltbedingungen ergeben“ (S. 405).
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auf das Verfahren selbst Einfluss zu nehmen.55. Der Prozess wird so zu einem Wettkampf, in dem sich der „teleologische Zusammenhang zwischen Verfahrensziel und Verfahrensregeln auflöst“56. Prozessregeln werden zu Spielregeln. Die Gerechtigkeit der Entscheidung ist eine Funktion der Gerechtigkeit des Verfahrens. Treten sich die „Streitenden“ also mit gleichen kämpferischen Möglichkeiten gegenüber, ist das Verfahren fair, und entbehrt es – schon erkenntnistheoretisch – eines außerprozessualen Bezugspunkts, so ist das im freien Wettstreit gefundene Ergebnis gerecht, weil sich in ihm der Prozess der Entscheidungsfindung fair erschöpft. Woher aber gewinnt in dieser Idee der Gerechtigkeit das Fairness-Gebot57 seine Inhalte? Konsequent kann das faire Verfahren seine „Fairness-Gebote“ nur in einem fairen Verfahren gewinnen – ein unendlicher Regress58. Mit formeller Verfahrensgerechtigkeit ist also eine rein prozedurale Gerechtigkeit gemeint59. Indem sie auf materiale Gerechtigkeitsinhalte außerhalb des Systems verzichtet und Inhalte (vergeblich) nur aus der Form gewinnen will, kann sie für den „juristischen Gebrauch“ nach dem dieser Untersuchung zugrunde gelegten Rechtsverständnis nicht konsequent angewendet werden, da etwas „Rechtshaltiges“ von außen schon immer in den „Prozess der Rechtsverwirklichung eingegeben werden muss“, damit wirklich „Recht“ daraus hervorgeht60.
55 Der Grundsatz des fairen Verfahrens gehört für Neumann zu dieser Verfahrensgerechtigkeit im engeren Sinn; allerdings bezeichnet Neumann den Konflikt, in dem sich die Verfahrensgerechtigkeit verwirklicht als einen Konflikt zwischen Verfahrensziel und „außerprozessualen“ Gegeninteressen der Beteiligten, a. a. O., S. 61. Die Gegeninteressen der Beteiligten sollen hier indes nicht als „außerprozessual“, sondern als integraler Bestandteil des Prozesses verstanden werden; damit steht nicht das „Verfahrensziel“ zu diesen im Widerspruch, sondern lediglich die materielle, vergeltende Gerechtigkeit. Das Verfahrensziel liegt nach diesem Verständnis gerade in der Abwägung auch mit den Interessen, die Neumann als die „außerprozessualen“ versteht. 56 Neumann, ZStW 101 (1989), 52, 68. 57 Hoffmann, R., S. 34 ff. sieht in der Entstehung des Topos vom „fairen Verfahren“ die Tendenz verwirklicht, die es lange Zeit in der Rechtsphilosophie vermied, wegen ihres ergebnisorientierten materialen Gerechtigkeitsverständnisses auch das Verfahren mit der Eigenschaft „gerecht“ zu verbinden; wenn er im Folgenden die Fairness als eine „terminologische Variante des Themas prozedurale Gerechtigkeit“ (S. 38) begreift, so ist dies vor dem Hintergrund zu lesen, dass bei Hoffmann prozedurale Gerechtigkeit gerade nicht auf normative Prämissen verzichtet, sondern selbst materiellen Maßstäben unterliegt, mithin eine Theorie materieller Verfahrensgerechtigkeit ist. 58 Besonders deutlich wird die Abhängigkeit des Fairness-Gebots von materialethischen Voraussetzungen in Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ als Fairness, indem sie die „Grundsätze, die freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden“ (S. 28), bereits als inhaltliche voraussetzt. 59 Anders die Einteilung bei Bottke, S. 64, der die Kriterien formeller Verfahrensgerechtigkeit als „grundwertekonform“ bezeichnet, und damit auf Inhalte jenseits des Verfahrens zurückgreift. 60 Kaufmann, Theorie der Gerechtigkeit, S. 25.
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Kap. 1: Rechtstheoretische Grundlegung
Ginge man für das Gerichtsverfahren von einer reinen formellen Verfahrensgerechtigkeit aus, dann würde die Gerechtigkeit der Entscheidung zu einer Funktion der Gerechtigkeit des Verfahrens61, jeglicher außerprozessuale Maßstab geleugnet und so das Recht vollkommen fungibel. Das verträgt sich nicht mit der Vorstellung von etwas Unverfügbaren im Recht. b) Materielle Verfahrensgerechtigkeit – der Prozess als gerechte Grenze der Ergebnisrichtigkeit An die Gerechtigkeit werden im Strafrecht besonders hohe Anforderungen gestellt. Die Strafgerechtigkeit hat sich an einer schwierigen Doppelfunktion auszurichten, einerseits hat sie den Unschuldigen vor Strafverfolgung und den Schuldigen vor unmäßiger Strafverfolgung zu schützen, andererseits hat sie das Bedürfnis des Einzelnen und der Allgemeinheit nach Verfolgung der Tat zu befriedigen. Die Gerechtigkeit des Strafverfahrens setzt sich also aus prozeduralen und materialen Aspekten zusammen, wobei die prozeduralen Elemente nicht als rein formelle „Spielregeln“ misszuverstehen sind, sondern selbst integraler Teil der materialen Gerechtigkeit sind. Die spezifische Gerechtigkeit des Strafverfahrens kann sich nur in einem Abwägungsprozess zwischen Strafverfolgungsinteressen und Schutzinteressen des Beschuldigten einstellen. Das Streben nach Gerechtigkeit im Strafverfahren birgt also selbst schon einen Abwägungsprozess in sich62. Eine „originäre“ Gerechtigkeit auch des Verfahrens zu denken, heißt also nicht zwangsläufig jede materialethische (substanzielle) Gerechtigkeit – im Sinne einer Vergeltungsgerechtigkeit – zu leugnen. Dass es Gerechtigkeit als regulative Idee gibt, die als materiellen Inhalt „den Vergeltungsgedanken“ umfasst, wird axiologisch vorausgesetzt. Das Recht bedarf eines solchen außerrechtlichen Bezugspunktes, der einen Maßstab für das materielle Recht setzt63. An diesem orientiert sich die Ergebnisrichtigkeit eines Urteils. Allerdings ist die 61 Vgl. Neumann, ZStW 101 (1989), 52, 70, der zu Recht darauf verweist, dass diese Theorie nur in ihrer negativen Form überzeugen kann, dass ein Urteil immer dann ein ungerechtes sein muss, wenn es unter Verletzung elementarer prozessualer Rechte entstanden ist. Das Problem des Verhältnisses von materialer und prozeduraler Gerechtigkeit sei nicht dadurch zu lösen, dass man beide in einen funktionalen Zusammenhang stellt. 62 Dieser Abwägungsprozess wird auch in der Rechtsprechung des BGH deutlich, wenn er klar formuliert, dass es kein Grundsatz der Strafprozessordnung sei, dass die Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müsse, BGHSt 14, 358, 365; 31 304, 309. 63 Lampe, Strafphilosophie, S. 157, sieht diesen außerrechtlichen Bezugspunkt in einem „Kern“ der Gerechtigkeit, der allgemeinmenschlich, und nicht „von dieser Welt ist“: „Der Kern ist die ,Humanität‘, das Menschliche als Wert.“ Da dieser Kern nicht nachweisbar ist, sei die „Dogmatisierung (Axiomatisierung) letzter Gerechtigkeitsprinzipien unausweichlich. Keine Rechtsordnung könne, „zumindest hinsichtlich einiger Grundprinzipien“ hierauf verzichten (S. 163).
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Ergebnisrichtigkeit nur ein Teil der Gerechtigkeit des Strafverfahrens und zudem niemals mit Sicherheit erreichbar. Strafgerechtigkeit in dem spezifischen Sinn einer materiellen Verfahrensgerechtigkeit versteht die Regeln prozeduraler Gerechtigkeit nicht als Einschränkungen einer nur materialen Gerechtigkeit, sondern die Verfahrensgerechtigkeit wird zu einer „spezifische[n], prozedurale[n] Ausprägung der umfassenden Gerechtigkeitsidee“64. Der Ergebnisrichtigkeit an die Seite wird der Fairnessgedanke gestellt, der der umfassenden Idee der Gerechtigkeit ebenso verpflichtet ist. Der Fairnessgedanke „findet seinen Anwendungsbereich in der ethischen Ausgestaltung eines Entwicklungsvorgangs, nicht primär in der sittlichen Qualifizierung des Ergebnisses“65. Das Fairnessprinzip ist nach einem materiellen Verständnis der Verfahrensgerechtigkeit kein formales. Die Regeln des Spiels existieren nicht um ihrer selbst willen, sondern um der „Richtigkeit“ des Verfahrens, die die Würde des Menschen als letzten materialen Wert unbedingt anerkennt. Mit dem Fairnessprinzip untrennbar verbunden ist eine „Achtungserwartung der eigenen Interessen“66. Materielle Gerechtigkeit des Strafverfahrens ist dann mehr als die vergeltende Gerechtigkeit. Das Verfahren selbst wird unter die Anforderungen der Gerechtigkeit gestellt. Gerecht kann ein Urteil dann nur sein, wenn es die verfahrensgerechten Regeln akzeptiert und dabei noch nach einem „ergebnisrichtigen“ Urteil strebt67. Der vergeltende materielle Teil der Gerechtigkeit gibt gewissermaßen die Richtung der prozessualen Suche vor. Die materielle Verfahrensgerechtigkeit regelt die Suche als „faire Suche“, gibt eigenständig „gerechte Regeln“ auf; die Regeln der Verfahrensgerechtigkeit sind zwar nicht auf „Ergebnisrichtigkeit“ orientiert, der Prozess selbst bleibt aber auf die „forensische Wahrheit“68 gerichtet, die ohne die Richtung vorgebende Ergebnisrichtigkeit nicht denkbar ist. 64 Hoffmann, R., Verfahrensgerechtigkeit, S. 21., unter die Strafgerechtigkeit in diesem spezifischen Sinn fällt auch der Ansatz von Hassemer, in: Festschrift für Maihofer, S. 183, 204, das Strafverfahren nicht als „Instrument zur Abwehr von Gefahren“, sondern als „für die Strafverfahren Betroffenen“ zu begreifen; sowie die Position Neumanns, ZStW 101 (1989), S. 2 ff.; in der so verstandenen Strafgerechtigkeit verbinden sich der status negativus und der status activus processualis; vgl. zu der Verschränkung von Grundrechten und Verfahren auch Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 428; auch für Roxin, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 4, ist die Justizförmigkeit nicht „bloß formale Kategorie“, sondern sie diene „unmittelbar dem Schutz der Menschenwürde“. 65 Hoffmann, R., Verfahrengerechtigkeit, S. 37. 66 Berkemann, JR 1989, 221, 228. 67 Berkemann, JR 1989, 221, 226, nennt diese Verfahrensgerechtigkeit, die auf das Ergebnis orientiert bleibt, die „unvollkommene Verfahrensgerechtigkeit“ und grenzt sie so von der „reinen Verfahrensgerechtigkeit“ ab, die durch das „Bild der fairen Lotterie“ veranschaulicht wird, Röhl, ZfRechtss. 1993, 1, 6, führt in diesem Zusammenhang das Begriffspaar der „internen“ und „externen“ Verfahrensgerechtigkeit ein, und beschreibt damit die dienende Funktion des Verfahrens gegenüber dem Eigenwert des Verfahrens.
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Kap. 1: Rechtstheoretische Grundlegung
Die prozessförmig zustande gekommene Entscheidung ist nach dem hier gefundenen Ergebnis einer materiellen Verfahrensgerechtigkeit allein nicht hinreichend, eine gerechte Entscheidung zu begründen, sondern sie ist erst dann gerecht, wenn die Formen des Prozesses (also die Verfahrensregeln) nach einer Gerechtigkeit streben, die jenseits des Verfahrens liegt, aber sich nicht in der Ergebnisrichtigkeit erschöpft. Der Schutz des Beschuldigten ist ebenso Teil dieser außerprozessualen Gerechtigkeit wie die Suche nach dem ergebnisrichtigen Urteil. 3. Ergebnis: Materielle Gerechtigkeit im Verfahren – die Rechtsfrieden schaffende Entscheidung Zu der „jenseits des Verfahrens liegenden Gerechtigkeit“ gehört die Ergebnisrichtigkeit der Entscheidung als Ausprägung des Vergeltungsgedankens. Fraglich bleibt an diesem Punkt aber, ob das Streben nach der „ergebnisrichtigen Entscheidung zu dem Unverzichtbaren im Strafverfahren gehört, ob also Vergeltung notwendig in jedem strafrechtlichen Urteil erstrebt werden muss. Für die Beantwortung dieser Frage wird nun das dritte Verfahrensziel, nämlich die Rechtsfrieden schaffende Entscheidung bedeutsam. In dem Ziel einer Rechtsfrieden schaffenden Entscheidung ist ein Abwägungsprozess angelegt. Materiell-richtige und prozessförmige Entscheidung sind per se Antinomien, da der justizförmige Prozess gerade die Suche nach der materiell-richtigen Entscheidung einschränkt. Rechtsfrieden kann eine Entscheidung nur dann erzielen, wenn sie innerhalb dieses Widerspruchs abwägt, denn zum Rechtsfrieden gehören beide Elemente der Strafgerechtigkeit, der materiellrechtliche, der die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs gewähren soll und der formellrechtliche, der den Schutz des Beschuldigten gewährleisten soll69. Wenn das Strafverfahren nicht mehr autoritär den staatlichen Strafanspruch durchsetzen soll, sondern wenn das Verfahren selbst konstitutiv für die Herstellung einer gerechten Entscheidung ist, dann kann sich der autoritäre Verfahrensaufbau in eine kommunikative, interaktive Verfahrensstruktur auflösen, in der die Verfolgung der materiell-richtigen Entscheidung durch ein anderes
68 Vgl. Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 153: die „forensische Wahrheit“ ist die auf formalisiertem Wege im Strafverfahren gefundene und sich auf das „szenische Verstehen“ (ausführlicher zu diesem Begriff siehe Seite 122) gründende Wahrheit. Sie hat sich vom Gedanken der notwendigen Verknüpfung von materieller Wahrheit und Gerechtigkeit nie wirklich verabschiedet, denn die Suche bleibt auf die materielle Wahrheit gerichtet und wird durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur „gebremst“ oder „dosiert“ (S. 151). 69 So im Ergebnis auch Trüg, S. 66, der den Rechtsfrieden als „vereinigend“ versteht, „weil gerade aufgrund der zweigliedrigen Struktur des Gerechtigkeitsbegriffes eine für die Rechtsgemeinschaft friedensstiftende Wirkung erzeugt werden soll.“
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Verfahrensziel, nämlich den Rechtsfrieden stiftenden Konsens ersetzt werden kann70. Zwar werden die rechtsstaatlichen Einschränkungen der Wahrheitssuche nicht mehr zwangsläufig als ein Verlust an Gerechtigkeit verstanden, aber das Verfahren ist nach weitgehender Meinung71 doch noch immer notwendig auf die Suche nach der materiell-richtigen Entscheidung gerichtet, nur die Anforderungen an die Suche werden einem eigenen Gerechtigkeitsmaßstab unterworfen. Dass die Entscheidungsfindung auf „Ergebnisrichtigkeit“ gerichtet ist, wird außer in einer rein formellen Konzeption der Verfahrensgerechtigkeit72 noch immer axiologisch vorausgesetzt73. Zugestanden wird lediglich, dass davon abgesehen werden kann, das Ziel der „Ergebnisrichtigkeit“ zugunsten der „verfahrensrichtigen Entscheidung“ bis zum Ende zu verfolgen74. Es sollte dargelegt werden, wie die materielle Verfahrensgerechtigkeit die Handlungen im Verfahren selbst unter die Anforderungen der Gerechtigkeit stellt; nunmehr ist zu zeigen, dass die Ausrichtung des Verfahrens auf die „Ergebnisrichtigkeit“ keine notwendige Forderung der materiellen strafrechtlichen Verfahrensgerechtigkeit ist. Nur eine absolut vergeltende Strafgerechtigkeit kann zweckfrei gedacht werden. Der reine Vergeltungsgedanke in der Strafe ist aber unumkehrbar überwunden und damit wird die Frage, unter welchen Bedingungen sich Rechtsfrieden einstellen kann, neu belebt. Das Ziel der Rechtsfrieden schaffenden Entscheidung verliert die Adressaten des Rechts nie aus dem Blick, es bleibt an die
70 Schünemann, in: Festschrift für Pfeiffer, S. 461, 483, gibt explizit zu erkennen, dass der Konsensgedanke „sich in der Praxis in einem erheblichen Teil der Strafverfahren durchgesetzt und die Idee der materiellen Wahrheit verdrängt“ hat. 71 BVerfGE, 57, 250, 275, hiernach bleibt die Suche nach der Wahrheit das zentrale Anliegen des Strafprozesses; so bleibt auch die „forensische Wahrheit“ bei Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 153, trotz ihrer Relativierung gegenüber der materiellen Wahrheit stets an dieser als Bezugsgröße ausgerichtet; vgl. auch Neumann, ZStW 101 (1989), 52, 74, der die „Bereitschaft bei gravierenden Verstößen gegen rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze ein Verfahrenshindernis zu bejahen“ als eine Tendenz befürwortet, „Prinzipien prozeduraler Gerechtigkeit den Vorrang einzuräumen“. Auch hierin liegt die Vorstellung, dass der Prozess grundsätzlich nach der Wahrheit zu streben habe, diese Suche zum Schutze des Angeklagten aber eingeschränkt ist. 72 Vgl. oben I. 2. a). 73 Auch Schünemann, in: Festschrift für Gerd Pfeiffer, S. 461, 481, der ein neues Prozessmodell fordert, „das nicht durch die Chimäre der materiellen Wahrheit, sondern durch Interaktion, Konsens und strikte Neutralität legitimiert wird“, orientiert sich in letzter Konsequenz an der Ergebnisrichtigkeit, wenn er die Zulässigkeit konsensualer Verfahrensbeendigung an „einen hinreichend hohen und vom Richter verantwortlich geprüften Verdachtsgrad“ binden will. 74 Beispiele hierfür sind die Beweisverbote und Verfahrenshindernisse wegen schwerwiegender Verstöße gegen Verfahrensgrundsätze.
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Kap. 1: Rechtstheoretische Grundlegung
Personen gebunden und erkennt auch einen absoluten Vergeltungsanspruch nur insoweit an, als er Teil eines personalen Interesses sein kann. Die Rechtsfrieden schaffende Entscheidung bleibt auf einen Interessenausgleich ausgerichtet. Ob das Strafverfahren nach dem „ergebnisrichtigen“ Resultat zu streben hat, oder ob nicht andere Ziele die Richtung der Entscheidungsfindung bestimmen können, kann daher nicht losgelöst von den Kriterien betrachtet werden, nach welchen der Ausgleich der Interessen zu erfolgen hat. Der Rechtsfrieden ist somit nach dem hier zu entwickelnden Ansatz nicht eigentlich ein eigenes Verfahrensziel, sondern vielmehr die Synthese der Ziele einer materiell und formell richtigen Entscheidung. a) Der Prozess als Interessenausgleich – der Funktionswandel des Strafverfahrens Alles Recht hat von der Person seinen Ausgang zu nehmen75, so sind auch die Anforderungen an eine spezifische Gerechtigkeit des Strafverfahrens nicht ohne Rücksicht auf die Personen des Verfahrens, ihre Relationen und Interessen zu bestimmen. Denn Recht hat immer dem Ausgleich von Interessen zu dienen, und nicht einer als absolut gedachten, metaphysischen Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Auch im Strafverfahren kann sich Gerechtigkeit nicht losgelöst von der Beziehung der am Verfahren Beteiligten verwirklichen. Der Zweck auch des Strafverfahrens ist in diesem Sinne Interessenausgleich. Schließlich ist auch der Strafanspruch des Staates rechtshistorisch aus der Zähmung des Rachebedürfnisses des einzelnen entstanden76, der dem Staat seinen persönlichen „Vergeltungsanspruch“ gewissermaßen abtritt. Auch der öffentliche Strafanspruch hat somit seine Wurzeln in der Regulierung eines Interessenausgleichs77. Nach dem Zerfall des Schuldvergeltungsparadigmas treten die Interessen, die zueinander in Ausgleich gebracht werden müssen, in ein neues Licht. Zwar bleibt als entscheidender Gedanke des öffentlichen Strafrechts, dass der Normbruch nicht nur einen privaten Konflikt darstellt, sondern auch die Allgemeinheit in ihrem Vertrauen in die Rechtsordnung tangiert. Aber wenn das absolute Schuldvergeltungsparadigma fällt, hat der Prozess nicht mehr einer absoluten Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen, dann richtet sich 75 So liegt nach Kaufmann dem Recht etwas „Unverfügbares“, „Ontologisches“ zugrunde, das gerade „der Mensch als Person“ ist, RTh 1986, 257, 275. 76 Vgl. zur Entwicklung des staatlichen Strafanspruchs den umfassenden Überblick bei Wolfslast, Staatlicher Strafanspruch und Verwirkung, S. 59 ff. 77 So ist nach Eser, ZStW 104 (1992), 361, 396, „der durchgehend zu beobachtende ,Privatisierungstrend‘ [. . .] entwicklungsgeschichtlich durchaus verständlich: In einer ersten Entwicklungsstufe, die vom römischen bis ins germanische Recht reicht, hatte die Befriedigung des Opfers primär noch in dessen eigener Hand gelegen. Dem war dann im Mittelalter die Entwicklung des öffentlichen Strafrechts gefolgt [. . .]“.
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der Blick wieder verstärkt auf die Abwägung der einzelnen Interessen: nämlich das Interesse des Beschuldigten an einem fairen Verfahren, das Interesse der Allgemeinheit an der Verfolgung strafbarer Handlungen, das sich im öffentlichen Strafanspruch artikuliert, und schließlich das Wiedergutmachungsinteresse des Opfers. Diese Interessenabwägung, der das Strafverfahren zu dienen hat, ist nun aber wesentlich geprägt von einer Entwicklung des Strafrechtssystems, die Schünemann versteht als „fundamentale Neuorientierung unseres materiellen Strafrechts von einem an der abstrakten Gerechtigkeitsidee orientierten Vergeltungsdenken hin zum zweckrationalen Präventionsprinzip“78. Diesem zunehmend diskutierten „Paradigmenwechsel“79 liegt eine Tendenz zugrunde, die an dieser Stelle nur in ihren Grundzügen dargelegt werden soll. Die zunehmende rechtliche Regulierung der immer komplexer werdenden gesellschaftlichen Konflikte im strafrechtlichen Bereich bleibt auch für die Konzeption des Sinns der Strafe nicht ohne Bedeutung80. Weigend sieht diesen Wandel darin, dass der moderne Staat, der in viele neue Gebiete des unüberschaubar gewordenen Soziallebens lenkend und kontrollierend eingreife, das Strafrecht nicht mehr als gleichmäßige Retribution, sondern als praktisches Steuerungsinstrument einsetze. Diese Entwicklung sei gekennzeichnet durch einen zunehmenden Abbau an rechtsstaatlicher Förmlichkeit, der sich sowohl auf das materielle als auch auf das prozessuale Strafrecht erstrecke81. Im Bereich des materiellen Rechts seien hier nur Stichworte wie die Zunahme abstrakter Gefährdungsdelikte, übersteigerte Pflichtnormierungen im Zuge von Unterlassungs- und Fahrlässigkeitsdelikten und ein Trend zu Generalklauseln und unbestimmten Tatbestandsmerkmalen angeführt. Was den verfahrensrechtlichen Aspekt angeht, tritt das Ziel einer Flexibilisierung von Strafverfolgung und Sanktionierung hervor. Neben Ansätzen wie dem Täter-Opfer-Ausgleich und den Reformdiskussionen zur Ermittlungsflexibilisierung bei organisierter Kriminalität, der Ausweitung von Opportunität und Diversion reiht sich in diesen Zusammenhang auch die Diskussion um informelle Absprachen zur Verfahrensverkürzung. Alle Reformansätze dieser Tendenz sehen in dem Abbau gesetzlicher Bindungen den entscheidenden präventiven Effekt82. Der proklamierte 78
Schünemann, NJW 1989, 1895, 1898. Im Zusammenhang mit Absprachen wird dieser in Mode gekommene Terminus besonders gern verwendet, so u. a. bei Bussman/Lüdemann, MschrKrim. 1988, 81, 89, Lüderssen StV 1990, 415; siehe auch Steinhögl, die die Absprachenpraxis im Lichte einer funktionalistischen Strafrechtskonzeption als Ausfluss eines „Paradigmenwechsels“ analysiert, S. 93; vgl. zu diesem Aspekt auch Weigend, JZ, 1990, 774, 780. 80 Zum Problem der steten Ausweitung des materiellen Strafrechts insbesondere zur Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes in den Gefährdungsbereich Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und Daseinsvorsorge; vgl. auch Hassemer, ZRP 1992, 378 ff.; kritisch zur „Schwerpunktverlagerung im Strafrecht“ auch Naucke, KritV 1993, 135 ff. 81 Weigend, JZ 1990, 774, 780. 79
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Kap. 1: Rechtstheoretische Grundlegung
„Paradigmenwechsel“ ist somit auch auf Konsensorientierung ausgerichtet. Der staatliche Strafanspruch kann hierbei in zweierlei Hinsicht zurücktreten: einmal im Rahmen verfahrensbeendender Absprachen zugunsten eines Konsenses zwischen Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem und zum anderen im Rahmen eines Wiedergutmachungskonsenses zwischen Beschuldigtem und Opfer. Die Zeichen stehen für eine Entwicklung, die den staatlichen Strafanspruch „dezentralisiert“ und „privatisiert“83. Der staatliche Strafanspruch ist dem Interesse des Opfers und dem der Allgemeinheit an Strafverfolgung verpflichtet, er kann somit einmal dann zurücktreten, wenn für die Allgemeinheit das Sanktionsbedürfnis gemindert ist oder wenn der Verletzte selbst in Form von Wiedergutmachung oder im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs seine Interessen geltend macht. Die „Reprivatisierung“ des Strafrechts prägt sich damit insbesondere unter erhöhter Einbeziehung des Opfers (Wiedergutmachung, Täter-Opfer-Ausgleich) oder unter vollständiger Umgehung des Verletzten (verfahrensbeendende Absprachen) aus. Kritisch zu der Entwicklung des strafrechtlichen „Paradigmenwechsels“ wird zu Recht angemerkt, dass sie zu einer uferlosen Ausdehnung des materiellen Strafrechts führt84. Zum anderen wird warnend darauf verwiesen, dass diese Umwandlung gekennzeichnet sei von einer „Vertragsorientierung“85, die die alten Strukturen des traditionellen Prozessmodells in erheblicher Form tangiere. Es ist sicher nicht zu leugnen, dass die beschriebene Entwicklung einer „Vertragsorientierung“ im Strafverfahren Vorschub leistet, dass das Verfahren also zunehmend auf Kooperation, Konsens und Interaktion gerichtet ist. Dass diese Tendenz das traditionelle Prozessmodell bis in seine Grundfeste erschüttert, ist bereits zugestanden. Dass diese Erschütterung allerdings nicht auf Kosten der Gerechtigkeit gehen muss, sollte aufgezeigt und näher ausgeführt werden, indem der Konsens als ein integraler Bestandteil materieller Verfahrensgerechtigkeit auch im Strafprozess vorgestellt wird86. 82
Albrecht, KritV 1993, 163, 165. Mit diesen Worten umschreibt Naucke, KritV 1993, 135, 139 die Entwicklung des staatlichen Strafanspruchs. 84 Kritisch zur stetigen Ausdehnung des materiellen Strafrechts statt vieler, Naucke, KritV 1999, 336, 338; ausführlich die Monographie von Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und Daseinsvorsorge; siehe hierzu auch Hassemer, ZRP 1992, 378 ff. 85 Vgl. Sinner, Der Vertragsgedanke im Strafprozeß, S. 276 und passim, der Verfasser bietet eine kritisch detaillierte Auseinandersetzung mit der vertragsorientierten Entwicklung des Strafprozessrechts. 86 Gegen ein auf dem Konsensgedanken beruhendes Prozessmodell Weigend, in: Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften, S. 257, 284, wegen faktisch nicht gegebener Waffengleichheit im Strafverfahren sowie wegen der sozialen Funktion des Strafverfahrens, bei dem es nicht nur um die „Erledigung eines Streits zwischen zwei Privatparteien“ gehe, sondern um eine „erhebliche Störung des sozialen 83
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b) Materielle Verfahrensgerechtigkeit im Konsens Konsens und Ergebnisrichtigkeit können dann als eigenständige Ziele eines gerechten Verfahrens gesehen werden, wenn der Rechtsfrieden als Synthese der Ziele einer materiell-richtigen und verfahrensgerechten Entscheidung verstanden wird. Da der Prozess geregelte Verarbeitung eines Interessenkonflikts ist, hängt die Frage, welches der beiden Ziele verfolgt wird, zunächst von den Interessen ab, die zu einem Ausgleich gebracht werden sollen. War die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs im absoluten Schuldvergeltungsparadigma noch ein absolut gefordertes Prozessziel, so ist diese in einem modernen Strafrecht aus Zweckerwägungen heraus zu legitimieren; auch die materiell-richtige Entscheidung, wird nicht um ihrer selbst willen gesucht, sondern hat den gestörten Rechtsfrieden wiederherzustellen. Daher ist die Verpflichtung auf die materiellrichtige Entscheidung nicht mehr aufgrund der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs gefordert, sondern durch das Ziel eines Interessenausgleiches legitimiert. Deshalb kann sie, wenn der Interessenausgleich auch anders erreicht werden kann, hinter dem Konsensgedanken vollkommen zurücktreten. Wenn materielle Gerechtigkeit im engeren Sinne im Strafverfahren an den Vergeltungsgedanken geknüpft ist, so darf der Absolutheitsanspruch, den das Vergeltungsgebot beispielsweise in der Kantischen Philosophie erhebt, nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Vergeltungsbedürfnis anthropologisch in der verletzten Person begründet ist. Das bedeutet, dass auch hinter dem Vergeltungsgedanken in einem rechtlichen Sinn, nicht wie bei Kant, etwas Absolutes zu sehen, sondern dieser in Bezug auf die Person zu deuten ist und damit auf ein Ziel des Verfahrens verweist, das im weitesten Sinn im Ausgleich von Interessen zu suchen ist87. Als rechtliche Kategorie darf der Vergeltungsgedanke nicht absolut gesehen werden, sondern muss seiner personalen Komponente verbunden bleiben. Das Verfahren ist nicht nur Form im Dienste der Durchsetzung des Inhalts, nämlich des materiellen Rechts. Auch in der Form des Verfahrens selbst liegen inhaltliche Gerechtigkeitswerte, die sich mit denen der materiellen Gerechtigkeit im Sinne des materiellen Rechts nicht decken müssen. Das Verfahren ermöglicht den Personen die Beteiligung an der Lösung eines Interessenkonflikts. Friedens“. Gegen den Begriff des Konsenses im Strafverfahren auch Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 132, der ihn für den Strafprozess „mindestens als verwirrend“ bezeichnet, „weil es dort um durchaus gegenläufige Interessen geht“ und stattdessen die Terminologie „geregelte Verarbeitung von Dissens“ für vorzugswürdig hält. Dagegen ist einzuwenden, dass zum einen die Interessen in einem Strafverfahren nicht zwangsläufig entgegengesetzt sein müssen, und dass zum anderen ein Konsens sich auch bei entgegen gesetzter Interessenlage einstellen kann, wie es sich im Zivilrecht, z. B. im Vertragsrecht eindrücklich zeigt. 87 Vgl. zum Gedanken des Rechts als „Interessenregelung“ auch Zippelius, Das Wesen des Rechts, S. 41 ff.
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Hierin ist angelegt, dass Konsensorientierung als Verfahrenswert zu einem eigenen Inhalt avanciert und nicht mehr auf ein Mittel zum Zweck einer ergebnisrichtigen Entscheidung reduziert werden muss88. Konsens ist nicht mehr Methode zur Wahrheitsfindung, sondern kann zu einem eigenständigen Gerechtigkeitsparameter werden. Konsens wird von einer leeren Form der Gerechtigkeit zu einem Inhalt der Strafgerechtigkeit, der als Verfahrensziel die Wahrheitssuche ersetzen kann. Konsens und Wahrheit bilden kein Verhältnis von Mittel und Zweck, sondern treten als Ziele nebeneinander. Zu den Inhalten einer materiellen Verfahrensgerechtigkeit kann aber die Konsensorientierung gehören, weil sie die Subjektstellung des Täters im Verfahren in besonderer Form zum Ausdruck bringt. Konsensorientierung mit dem kooperationswilligen Beschuldigten wird so zu „menschlichem Umgang mit abweichendem Verhalten“. Das Ergebnis eines solchen kooperierenden Verfahrens im Konsens kann also ein gerechtes sein, ohne an den Maßstab der Ergebnisrichtigkeit gebunden zu sein. Wenn hier die Form des Konsenses genügen sollen, um die „Richtigkeit“ eines Ergebnisses zu legitimieren, dann bedeutet dies keine radikale Abkehr von dem Gedanken des Unverzichtbaren im Recht. Wenn die Etablierung des Formellen zum Wahrheitskriterium in der Erkenntnistheorie ein klares Bekenntnis zum Konstruktivismus bedeutet, so muss dasselbe nicht gelten, wenn im Strafverfahren der Konsens die Bedeutung eines eigenständigen Maßstabs für eine gerechte Entscheidung erhält. Konsens als wissenschaftstheoretisches Wahrheitskriterium muss ein formelles bleiben, weil es außerhalb des Konsenses keinen externen Bezugspunkt gibt; Konsens als Kriterium der Gerechtigkeit im Recht kann ein inhaltliches sein, weil er auf das außerhalb seiner selbst liegende Ziel des Rechtsfriedens bezogen ist. Das bedeutet, dass das Verfahren auch nach dem hier entwickelten Verständnis seine dienende Funktion beibehält, nur dient es nicht mehr ausschließlich einer ergebnisrichtigen Entscheidung, also der Durchsetzung des materiellen Rechts, sondern in erster Linie der Wiederherstellung des Rechtsfriedens89. In die Idee des Rechtsfriedens fließt in 88 Vgl. Stamp, S. 285: „Die Verfahrensgerechtigkeit wird durch ein faires und justizförmiges Strafverfahren erreicht, das den Schutz des Beschuldigten ebenso wie die Einbeziehung des Opfers gewährleistet, Möglichkeiten zu Kommunikation und Konsens eröffnet und zur effektiven Konfliktbeseitigung und Wiederherstellung gestärkten Rechtsfriedens geeignet ist.“ Stamp will allerdings Konsens und Kommunikation weiterhin dem Ziel der materiellen Wahrheit unterordnen; S. 27, 284. 89 Siehe zum Rechtsfrieden als „oberstes Ziel des Strafverfahrens“ auch Löwe-Rosenberg/Rieß, Einl. Abschn. B, Rn. 4; ebenso ders., StraFo, 2000, 364, 368; kritisch zur Wertung des „Rechtsfriedens“ als Verfahrensziel im Sinne einer „verfahrensexternen sozialen Funktion des Strafverfahrens“, Neumann, in: Jenseits des Funktionalismus, S. 73, 82, der dieser Funktion die „traditionelle“ formale Funktion der „Rechtskraft“ gegenüberstellt und den „Rechtsfrieden“ insbesondere auf diese beziehen will. Kritisch zum Rechtsfrieden als Zweck des Strafverfahrens Murmann, GA 2004, 65, 80 ff., der den Zweck des Verfahrens als „Wiederherstellung des Rechts unter den Bedingungen der Unsicherheit“ versteht.
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diesem Sinne sowohl etwas Unverfügbarers, nämlich der Gedanke der Person als Grundlage allen Rechts als auch der mit diesem relationalen Charakter verbundene Aspekt eines Interessenausgleichs. Damit entsteht, um es mit Kaufmann zu sagen, Gerechtigkeit nicht schon durch Verfahren, sondern erst im Verfahren90. Die Suche nach materieller Wahrheit ist daher auch ideologisch (mehr kann sie ohnehin nicht sein, weil nie mit Gewissheit erfolgreich) nur ein Weg in dem Streben nach Gerechtigkeit (weil die Gerechtigkeit des Verfahrens nicht nur Ergebnisrichtigkeit zum Ziel hat). Konsensorientierung kann ein weiterer Weg sein, soweit er nicht mit Geboten der materiellen Gerechtigkeit im engeren Sinn kollidiert, die in der Respektierung der Person, hier also in concreto in der Respektierung des Vergeltungsbedürfnisses des Opfers liegen. Da die Strafgerechtigkeit einen Abwägungsprozess erfordert (ursprünglich zwischen den Eingriffen in die Persönlichkeit des Angeklagten und der Durchsetzung des Strafanspruchs) erfordert sie letztlich in der Entscheidung für oder wider ein konsensuales Vorgehen eine Abwägung zwischen dem Vergeltungsinteresse des Opfers und dem Interesse der Justiz und des Beschuldigten an einer einvernehmlichen Einigung. In dieser Abwägung entsteht die materielle Gerechtigkeit des Verfahrens. Verfahren ist Kommunikation; Gerechtigkeit, die sich im Verfahren verwirklicht, entsteht in Abhängigkeit von der Kommunikationssituation des Verfahrens. Kooperative Kommunikation stellt die Weichen für die Wiederherstellung des Rechtsfriedens anders als eine konfrontative Verfahrenssituation. In einer kooperativen Kommunikation ist die Verpflichtung auf die Wahrheit zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens nicht unbedingt erforderlich, weil schon der Konsens zu einem Ausgleich der Interessen führen kann. Das Verfahren ist mehr als nur Form, Streben nach Gerechtigkeit im Verfahren mehr als nur Wahrheitssuche. Es bleiben aber die Fragen, ob diese Öffnung des Gerechtigkeitsbegriffes im Strafverfahren dem als unverzichtbar vorausgesetzten Schuldprinzip standhalten kann und ob die geltende prozessuale Verpflichtung auf die materielle Wahrheit die Anerkennung des Konsenses als eigenständiges Gerechtigkeitsmerkmal verhindert und schließlich ob die „moderne Strafgerechtigkeit“ mit den Strafzwecken vereinbar ist.
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Vgl. Kaufmann, Beiträge zur juristischen Hermeneutik, S. 97.
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II. Schuldprinzip und prozessuale Wahrheitssuche als Funktionen der Gerechtigkeit Schuldausgleich und Wahrheitssuche werden nach dem Zerfall des Schuldvergeltungsparadigmas im Strafprozess nicht mehr um ihrer selbst willen verfolgt. Sie werden vielmehr zu Funktionen der Gerechtigkeit. Damit stehen Schuldausgleich und Wahrheitsziel zur Gerechtigkeit in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Wenn das Gerechtigkeitsverständnis sich wandelt – insbesondere durch den Verlust eines intuitiven Vertrauens in absolute Wahrheiten und Werte – dann kann dieser Wandel nicht ohne Konsequenzen für das Schuldprinzip und das Dogma prozessualer Wahrheitsforschung sein. Und wenn Schuldprinzip und Wahrheitsverpflichtung sich wandeln, muss dies wiederum die Anforderungen an ein „gerechtes“ Verfahren ändern. Die Interdependenz liegt also gerade darin, dass Gerechtigkeitsvorstellungen sich im Zuge erkenntnistheoretischer Zweifel an absoluten Wahrheitsbegründungen wandeln müssen und dass diese gewandelten Gerechtigkeitsideen ihrerseits den spezifischen Wahrheits- und Schuldbegriff des Verfahrens prägen91. Wie Schuld und Wahrheit als Kategorien einer modernen Strafrechtstheorie sich wandeln und ob sie sich in dieser Entwicklung mit dem eigenständigen Verfahrensziel Konsensorientierung vereinbaren lassen, soll im Folgenden untersucht werden. 1. Vom materiellen Schuldprinzip über einen funktionalen Schuldbegriff zu einem hermeneutischen Schuldverstehen im Prozess Das Schuldprinzip ist, aller berechtigten Zweifel zum Trotz, nach wie vor fester Bestandteil unseres Strafrechtssystems92. Der Inhalt des Schuldprinzips entzieht sich indes einer gefestigten, allgemein anerkannten Bestimmung. Be91 Krauß, in: Festschrift für Schaffstein, S. 412, 423, beschreibt die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Wahrheit und Strafzwecken so, dass wir auf der einen Seite „mit unserer Frage nach dem Prinzip, der Struktur und der Qualität der Wahrheit im Prozess zuletzt auf ,Funktionen und Zwecke des Strafrechts zurückverwiesen‘ (MüllerDietz, Zeitschrift für evangelische Ethik 1971, 257, 265) werden“. Andererseits zeige sich alsbald, „dass jede mögliche Straftheorie den Begriff der Wahrheit im Verfahren in ganz spezifischer Weise prägt und voraussetzt“. Genau diese Wechselseitigkeit muss sich auf einer höheren Ebene auch zwischen Wahrheit, Schuld und Gerechtigkeit ergeben, denn auch Straftheorien sind nicht ohne Rückgriff auf die Gerechtigkeitstheorien aufzustellen. 92 So hat Kaufmann, in: Festschrift für Richard Lange, Berlin, S. 27, darauf hingewiesen, dass die Abkehr vom Schuldstrafrecht „mit schöner Regelmäßigkeit [. . .] seit hundert Jahren [. . .] gefordert und propagiert“ wird; vgl. exemplarisch für den immer wiederkehrenden Zweifel an der Schuldkategorie Baurmann, Schuldlose Dogmatik, in: Seminar: abweichendes Verhalten, IV, S. 196 ff.; sowie das Kapitel „Ersetzung des Schuldparadigmas“ von Scheffler, Grundlegung eines kriminologisch orientierten Strafrechtssystems, 1987, S. 69 ff.; siehe auch Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, S. 205 ff., sowie Kargl, Kritik des Schuldprinzips, S. 198 ff.; 375 ff.
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reits vor fast 25 Jahren hat Stratenwerth93 danach gefragt, was die Orientierung der Moderne, soziale Konflikte allein nach „rational überprüfbaren Zwecken zu lösen“, für die neue Rationalität des Schuldprinzips bedeute. Gemeint war „der Versuch, so offen und unvoreingenommen wie möglich Rechenschaft zu geben sowohl über die Entstehungszusammenhänge der Konflikte wie über die Art und Weise, in der die Gesellschaft auf solche Normverletzungen reagiert.“ An diesem Punkt ist anzusetzen. Wenn anders auf Normverletzungen reagiert wird (Absprachen sind ein faktisches Reaktionsmodell), wenn dieser Wandel der Reaktionen folgerichtig aus einem gewandelten konsensorientierten Gerechtigkeitsverständnis im Verfahren entstanden ist, dann kann das Schuldprinzip davon nicht unberührt bleiben. Eine gerechte Strafe muss schuldangemessen sein94. Der Schuldbegriff kann sich in einem modernen Strafverfahren ebenso wenig wie der Gerechtigkeitsbegriff Zweckerwägungen ganz verschließen. Diese Öffnung des Schuldbegriffes soll nun Gegenstand sein und mithin die Frage, ob Schuldstrafe und konsensual verhängte Strafe kompatibel sind. Das Schuldprinzip fordert, dass jede Bestrafung Schuld voraussetzt. Das „materielle“ Schuldprinzip versteht die Schuld als eine materiale Größe95. Unser Strafrecht basiert auf dem materiellen Schuldprinzip. Diese Aussage ist trotz stetig wiederkehrender Zweifel an der Tauglichkeit des Schuldbegriffs wohl noch immer in dieser Allgemeingültigkeit vertretbar96. Kann also davon ausgegangen werden, dass das materielle Schuldprinzip noch immer als allgemein anerkannt gilt, so wird diese scheinbare Einigkeit doch dadurch stark relativiert, dass große Differenzen darüber bestehen, was strafrechtliche Schuld ihrem Wesen nach ist. Es ist bereits hier darauf hinzuweisen, dass in der Auseinandersetzung um den Inhalt des Schuldprinzips die Grenzen zwischen einer zuweilen geforderten Aufgabe des Prinzips und einer Neuinterpretierung des Grundsatzes fließend und häufig nur eine Frage der Etikettierung sind.
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Stratenwerth, Die Zukunft des Schuldprinzips, S. 49. Andere Ansicht vertritt Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache, S. 266, wenn er feststellt, dass die gerechte Strafe mit der Schuldstrafe „nicht notwendig identisch“ sein müsse. Die Antwort auf die Frage nach der gerechten Strafe liefert Grasnick im Ergebnis aber nicht. 95 So geht Kaufmann in seiner Monographie zum Schuldprinzip, S. 129, von der Prämisse aus, „dass das Schuldprinzip nur dann Sinn und Bedeutung hat, wenn die Schuld material verstanden wird“. 96 Über den Bestand des Schuldprinzips besteht in den einschlägigen Kommentierungen weitgehend Einigkeit, vgl. statt vieler Kühl, § 46 Rn. 1; Dreher/Tröndle, § 46, Rn. 3; der BGHSt 2, 194, 202, formuliert den „unantastbaren Grundsatz allen Strafens, dass Strafe Schuld voraussetzt“; Lampe, Strafphilosophie, S. 225, bescheinigt der Geltung des Schuldprinzips „zwar kein umfassendes, wohl aber ein ganz überwiegendes Einvernehmen“. 94
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Wie kann, wie im Fall der Absprachen, ein Urteil ergehen, das einen Schuldspruch einschließt, obwohl die Schuld gerade nicht aufgrund ermittelter Tatsachen nachgewiesen, sondern eben „nur“ konsensual festgestellt wird? Kann Schuld überhaupt konsensual festgestellt werden? Oder noch anders gewendet: hat jemand Schuld oder bekommt er Schuld?97 Mit dem Zusammenbruch des absoluten Schuldvergeltungsparadigmas wird auch die Vorstellung einer absolut begründbaren Schuld, die jemand „hat“ oder auf sich lädt, brüchig. Wie stark ist das Schuldprinzip an die Vorstellung einer vergeltenden Strafe und an die Idee der „Ergebnisrichtigkeit“ gebunden? Wäre es beispielsweise denkbar, an das konsensuale Verfahren eine Sanktionierung ohne Schuldfeststellung zu knüpfen98? Ist das Schuldprinzip im Rahmen des „Paradigmenwechsels“ einer Strafgerechtigkeit weg vom Vergeltungsstrafrecht hin zum Präventionsstrafrecht disponibel geworden? Der Frage nach dem Wesen der Schuld kann hier nicht erschöpfend nachgegangen werden. Interessieren und die Untersuchung leiten soll nur die Frage, inwieweit Schuldbegründung und Schuldzurechnung sich einem Verständnis vom modernen Strafprozess im Sinne einer materiellen Verfahrensgerechtigkeit, die den Abschied vom absoluten Schudvergeltungsparadigma vollzogen hat, angepasst haben oder doch zumindest anpassen können. Die Bedeutungswandlungen, die das Schuldprinzip durchlaufen hat, sind in direktem Zusammenhang mit dem Wandel der Vorstellungen über Gerechtigkeitsanforderungen im Strafverfahren zu sehen. Die Zweifel an einer als absolut verstandenen Schuld gehen tief. Sie reihen sich ein in die „schrittweise Zurückdrängung der Idee des Schuldausgleichs durch das Präventionskonzept, die ein Leitmotiv des modernen Strafrechts ist“99. Da Schuldfeststellung im Strafverfahren eine Funktion der Gerechtigkeit ist, ist nun zu fragen, was Schuld nach dem „Zerfall“ des absoluten Schuldvergeltungsparadigmas noch sein kann, was von ihr noch bleibt. a) Materielle Schuld in sittlicher Autonomie Die moderne Strafrechtswissenschaft bewegt sich in ihrer Schulddogmatik in dem Spannungsfeld zwischen Schuldbegründung aus der sittlichen Autonomie der Person und Schuldzuschreibung aus zweckrationalen Geboten für die Allgemeinheit. 97 So Krauß, Schuld im Strafrecht, S. 11, wenn er die Frage stellt, ob der Schuldbegriff deskriptiv oder askriptiv zu verstehen sei. 98 Für diese Lösung plädiert Weßlau, S. 280; der Konsens soll nach diesem Modell die notwendige Legitimation liefern, derer Sanktionen ohne Schuldspruch bedürfen. 99 Kunz, ZStW 98 (1986), S. 823, 824.
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Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegt implizit die Vorstellung einer „materiellen Schuld“ zugrunde, die in sittlicher Autonomie entsteht. Das Erfordernis der Schuldfeststellung sei ein Prinzip, das „aus der Würde des Menschen als eigenverantwortlich handelnder Person abgeleitet“ ist100. Das Bekenntnis des Bundesgerichtshofes zum Schuldprinzip ist unmissverständlich. „Strafe setzt Schuld voraus“. Das Schuldprinzip wird zum „unantastbaren Grundprinzip allen Strafens“101 deklariert. Die grundsätzliche Kritik am Schuldgedanken setzt genau an dieser Eigenverantwortlichkeit an. Da das Schuldprinzip die Willensfreiheit notwendigerweise voraussetze, diese aber nicht nachweisbar sei, sei die Schuld als Kategorie der Zurechnung als solche hinfällig102. Schuld setze die Möglichkeit, anders zu handeln, voraus; auf die Willensfreiheit dürfe aber nicht zurückgegriffen werden, um den Vorwurf und die strafrechtliche Reaktion zu legitimieren103. Der grundlegende theoretische Zweifel an der Tauglichkeit des Schuldprinzips als strafrechtliches Zurechnungskriterium gründet sich damit vor allem auf die Unbeweisbarkeit eines freien Willens. Es ist hier nicht der Ort, um den Determinismus-Indeterminismusstreit zum eigentlichen Thema zu machen; allerdings stellen sich auch an diesem Punkt zwangsläufig solche Fragen, die nicht vollkommen ausgeblendet werden dürfen. Denn das Problem der Willensfreiheit hat die Diskussion um das Schuldprinzip von jeher dominiert. Die Untersuchung beschränkt sich hier jedoch auf die Festlegung, dass jenseits der ungelösten Frage nach der Selbstbestimmung des Menschen das Strafrecht gewisse Prämissen konstituieren muss, um funktionieren zu können104. Strafrecht muss „die reale Existenz und Ausweisbarkeit der Willens100
BVerfGE 57, 250, 275. BGHSt 2, 194, 200, 202. 102 Zur Kritik am Dogma der Willensfreiheit ausführliche Nachweise bei Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, S. 160, Rn. 17. 103 Antolisei, F., S. 296; zur strafrechtsdogmatischen Bewertung des Problems der Willensfreiheit statt vieler Hassemer, Einführung in die Grundlagen der Strafrechtswissenschaft, S. 228; zur Idee der Unerheblichkeit des philosophischen und naturwissenschaftlichen Streits um die Willensfreiheit über das Konstrukt einer normativ gesetzten Freiheitsannahme siehe Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 716; zur Irrelevanz der Willensfreiheit aus dem Gedanken einer rein zweckbestimmten Schuld siehe Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 17. Abschn. Rn. 23. 104 Zum Postulat der Willenfreiheit als „staatsnotwendige Fiktion“ (der Begriff stammt von Kohlrausch, Festschrift für Güterbock, 1910, S. 26); zur „Setzung“ der Freiheitsannahme auch Roxin, Allgemeiner Teil, S. 547 f.; zur Unerheblichkeit des erkenntnistheoretischen Problems der Willensfreiheit, Bockelmann, ZStW 75 (1963), 373, 388; zur Willenfreiheit als „gesellschaftliche Rekonstruktion der Wirklichkeit“ Schünemann, in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, der die Existenz der Willensfreiheit sprachphilosophisch aus der grammatikalischen Struktur unserer Syntax unter Rückgriff auf Humboldt und Whorf ableitet, S. 163 ff.; Hirsch, ZStW 106 (1994), 746, 764, erklärt nicht die Frage, ob es Willensfreiheit gibt oder nicht für relevant, sondern „entscheidend ist, welche Vorstellung in einer Gesellschaft insoweit 101
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freiheit notgedrungen dahingestellt sein lassen“105. Die Frage, von welchem Menschenbild die Rechtsordnung ausgeht, wird somit zu einer normativen Grundentscheidung, die auch ohne empirischen Nachweis zulässig ist, solange sie nicht falsifizierbar ist106. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist „Schuld [. . .] Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten hat, obwohl er sich rechtmäßig hätte verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können“107. Der Täter ist also in „sittlicher Autonomie“ für seine Tat verantwortlich. Das Strafrecht geht also von einem eigenverantwortlichen, freien Menschenbild aus: die Willensfreiheit wird jenseits der Frage ihrer philosophischen Nachweisbarkeit als notwendige Voraussetzung jeder Rechtsordnung gesetzt. Allein der Zweifel an einem als frei gedachten Willen genügt demzufolge nicht, das materielle Schuldprinzip in seinen Grundfesten zu erschüttern. Es tritt aber ein weiterer Einwand hinzu. Es stellt sich nämlich, wenn die Schuldfeststellung eine Funktion der Gerechtigkeit ist, die Frage, warum eigentlich Schuld Strafe begründen und warum Strafe Schuld voraussetzen soll. aa) Strafbegründende Schuld im Vergeltungsgedanken Seinen „natürlichen“ Platz hat das „materielle Schuldprinzip“ in retributiven Straftheorien. Im Schuldvergeltungsstrafrecht hat die Strafe keinen anderen Zweck als eben die Vergeltung der Schuld, oder genauer die Vergeltung der Tat108. Die Frage nach der Funktion der Schuldfeststellung stellt sich im reinen Vergeltungsgedanken nicht, weil die Schuldfeststellung hier selbst letzter Zweck ist. Der Täter hat Schuld auf sich geladen, die er in der Strafe sühnt. Darin verwirklicht sich die Gerechtigkeit. Die Schuld ist in einem derartigen System für sich allein hinreichende Bedingung für die Verhängung einer Strafe und wird damit zum zentralen Begriff des Strafrechtssystems überhaupt109. Schuld herrscht, nach welchem Weltbild man in ihr lebt [. . .]. Dass man sich in seinen Entscheidungen als indeterminiert empfindet und danach lebt, gibt den Ausschlag“. 105 Roxin, in: Festschrift für Kaufmann, S. 519, 521. 106 Lenckner, Strafgesetzbuch Kommentar, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 110. 107 So das Bekenntnis des großen Senats für Strafsachen zur Schuld, BGHSt 2, 194 (200). 108 Kaufmann, in: Festschrift für Richard Lange, S. 27, 33 f., weist darauf hin, dass Schuld eigentlich nicht vergolten, d.h. mit Entsprechendem zurückgezahlt werden könne, da es nur für die Tat, nicht aber für die Schuld ein Äquivalent gäbe. 109 Schünemann, in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, S. 157; Hoffmann, P., Vergeltung und Generalprävention im heutigen Strafrecht, S. 138, will eine notwendige Verbindung von Schuld und Vergeltung herstellen, man könne nicht die Vergeltung für erledigt erklären und zugleich die Fortgeltung des Schuldprinzips bekräftigen. Dagegen lässt sich einwenden, dass hierin kein unüberbrückbarer Widerspruch gesehen werden muss, denn das Schuldprinzip setzt am Axiom der Willensfrei-
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hat hier keine Funktion, sondern liefert direkt die Strafbegründung, steht in keiner Beziehung zu Strafzwecken, da in ihrer Vergeltung selbst der absolute Zweck liegt. Sie ist strafbegründendes materielles Verbrechensmerkmal110. Die freie Entscheidung zum Unrecht der Tat begründet die Schuld111. Zwischen Unrecht und Schuld besteht Kongruenz112. Die vollständige Kenntnis der Tat ist somit unumgängliche Voraussetzung für die Schuldfeststellung, die keinen anderen Zweck verfolgt als den Schuldausgleich selbst. Inhalt oder Wesen der Schuld werden in der „klassischen“ Vergeltungslehre nicht in Frage gestellt. Ihr Inhalt ist der „Unwert“ der Tat. Die Frage nach dem Wesen der Schuld, die heute durchaus gestellt wird, ist in einer Welt des puren Vergeltungsstrafrechts nicht berechtigt113. Der Täter lädt Schuld auf sich. Er hat Schuld. Er bekommt sie nicht erst. Eine Strafgerechtigkeit, die sich nicht in der Vergeltung der Tat erschöpft, kann sich mit einer funktionslosen Schuldfeststellung nicht begnügen114. Wenn Gerechtigkeit sich auch im Verfahren selbst und nicht erst im Ergebnis verwirklicht, dann verträgt sich damit kein absoluter zweckfreier Schuldbegriff. Wenn Schuldfeststellung eine Funktion der Gerechtigkeit ist und Gerechtigkeit auch abhängig vom Verfahren ist, dann muss der Schuldfeststellung im Verfahren eine eigene Funktion zukommen. heit an, kann aber in einem modernen Strafrecht sehr wohl einem Bedeutungswandel unterliegen. 110 Kaufmann, in Festschrift für Richard Lange, S. 32. 111 BGHSt 2, 194 ff., 200, formuliert das so: „Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können.“ 112 Kaufmann, Jura 1986, 225, 227, der noch in: Schuldprinzip, 1976, S. 206 das Strafbedürfnis nur von der Schuld abhängig gemacht hatte und präventive Zwecke für nicht erforderlich hielt; er lenkt aber selbst schon in der 2. Aufl. ein und spricht der Schuld auch die Funktion zu, Sühne zu ermöglichen; Sühne bedeute nicht mehr Vergeltung, sondern die selbstverantwortliche Übernahme der Schuld, S. 271. Diesen Kongruenzaspekt hatte der BGH ausdrücklich anerkannt und so formuliert: „Das Erfordernis der Entsprechung von Unrecht und Schuld ist heute in der Schuldlehre herrschender Grundsatz“, siehe BGHSt 10, 35 ff., 38. 113 So widmet Kant in dem Abschnitt über das Straf- und Begnadigungsrecht in: Metaphysik der Sitten, S. 331 ff. der Schuld keine Aufmerksamkeit; um die Vergeltung der Tat geht es, nicht um den Ausgleich der Schuld. Schuld wird vorausgesetzt, nach ihrem Wesen nicht gefragt. 114 Eine reine absolute Vergeltungslehre dürfte heute wohl so gut wie nicht mehr vertreten werden; so meint Lüderssen, Vergeltung und Sühne traue sich kaum jemand mehr zum Strafzweck zu erheben, in: Abschaffen des Strafens, Die Krise des öffentlichen Strafanspruchs, S. 30; allerdings war das Urteil Roxins aus dem Jahr 1985, in: Wiedergutmachung und Strafrecht, S. 47, das das Ende aller absoluten Theorien prophezeite, wohl doch etwas voreilig; so bezeichnet z. B. Wolff, ZStW 97 (1985), 786, 803, den Gedanken der positiven Generalprävention heftig kritisierend, die Verurteilung als „Ausgleich schuldhafter Tat“.
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bb) Strafbegrenzende Schuld in der Theorie der positiven Generalprävention Den Einwand, die Schuld könne kein rechtes Maß für die Strafe liefern, wollen solche Schuldtheorien entkräften, die sich zwar vom absoluten Vergeltungsgedanken verabschiedet, den Boden eines materiellen Schuldbegriffes aber nicht verlassen haben. Diese Theorien eint die Vorstellung, dass Schuld zwar einen materiellen Gehalt habe, der aber nicht tauglich sei, Strafe zu bemessen, sondern lediglich dazu dienen könne, Strafe zu begrenzen. So gesehen wird Schuld zu einer strafbegrenzenden Kategorie; ob ihr daneben noch ein strafbegründender Gehalt zukommt, wird unterschiedlich beantwortet. Die strafkonstituierende Eigenschaft der Schuld, die im klassischen Vergeltungsstrafrecht zu finden ist, hat sich zum Teil in moderne Schuldtheorien hinübergerettet, indem sie in Ergänzung zur strafbegrenzenden Funktion der Schuld wieder auftaucht. Wenn sich das Erfordernis von Strafe nicht allein über Prävention erklären lassen soll, dann wird das Schuldprinzip in seiner Eigenständigkeit relevant115. Alle präventiven Straftheorien stellen den Rechtsgüterschutz als Strafzweck in den Vordergrund. In denjenigen Präventionstheorien, die am Schulderfordernis für strafrechtliche Sanktionen festhalten, wird nur noch die Frage, ob überhaupt eine Strafe verhängt werden darf, von der Schuld abhängig gemacht, während der Zweck der Strafe von der Schuld vollkommen losgelöst wird. Die Schuld ist nur noch zusätzliche Legitimationsgrundlage, nicht mehr eigentlicher Strafgrund116. Solange aber das Präventionsbedürfnis nicht zur Straflegitimierung ausreicht, und die Schuld als zusätzliche Legitimierung hinzutreten muss, bewegt man sich auf dem Terrain eines materiellen Schuldbegriffs. Denn eigene legitimierende Wirkung kann das Schuldprinzip nur dann entfalten, wenn es sich nicht in den Strafzwecken erschöpft. Den Theorien, die die Vergeltung als ausschließliche Legitimation der Strafe überholt haben, sie aber dennoch als Strafbegrenzungsparameter beibehalten und sich damit vom Vergeltungscharakter der Strafe nicht ganz lösen, dient sie entweder als Strafobergrenze117 oder als Maß des „Spielraumes“, innerhalb dessen der Richter die schuldangemessene Strafe nach präventiven Gesichtspunkten
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Stratenwerth, Zukunft des Schuldprinzips, S. 42. Zum Stand der Diskussion in Italien zum Thema „Schuld und Prävention“ vgl. Fiandaca, Riv. it. dir. proc. pen., 1987, 863 ff., der insbesondere die Positionen Roxins und Jakobs einbezieht. 117 Roxin, Strafrechtliche Grundlagenprobleme, S. 20 ff.; später schwenkt er allerdings auf die Spielraumtheorie um, in: Festschrift für Bockelmann 1979, S. 306; vgl. zur Rezeption des Schuldkonzepts Roxins in Italien ausführlich Padovani, Riv. it. dir. proc. pen., 1987, 798 ff. 116
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festsetzen kann118. Die Schuld tritt – und dies ist als Konzession an den traditionellen Vergeltungsgedanken zu verstehen – neben das Strafziel der Prävention als eigenständige Strafbegrenzung. Die traditionelle dogmatische Kategorie der Schuld bleibt bestehen, sie ist allerdings durch die zusätzliche Forderung eines generalpräventiven Bedürfnisses zu ergänzen. Wird der Zweck der Strafe nunmehr nach herrschender Auffassung im Rechtsgüterschutz durch Prävention gesehen, so soll ihre Verhängung überhaupt und ihre Begrenzung im Einzelnen dennoch von der Schuld entscheidend bestimmt werden. Auch unter Zugrundelegung der Spielraumtheorie, die präventiven Gesichtspunkten ihren Tribut zollt, legt der BGH119 den Maßstab der Vergeltungsgerechtigkeit an, wenn er von der „Bestimmung der Strafe“ als „gerechtem Schuldausgleich“ spricht. Es erfolgt somit eine „Trennung von Zweck und Inhalt“ der Strafe120, die sich nur schwerlich überbrücken lässt. Den strafbegründenden Gehalt verneinend argumentiert Hassemer121: Nicht aus dem vorwerfbaren Verschulden des Straftäters ergebe sich die Rechtfertigung der Strafrechtsfolge, sondern aus den Aufgaben des Strafrechts als einer gesellschaftlichen und staatlichen Institution; die „Schuld“ des Täters, nämlich die subjektive Zurechenbarkeit, sei nicht Begründung, sondern Mittel der Begrenzung der Strafrechtsfolge. Es kommt bei der straflimitierenden Konzeption zu einer wechselseitigen Begrenzung von Schuld und Prävention. „Prävention durch Strafe darf nur unter der Voraussetzung und nach dem Maß der Schuld betrieben werden, aber auch die Schuld rechtfertigt die Strafe nur im Rahmen des präventiv Erforderlichen“122. Strafe im Gedanken strafbegrenzender Schuld dient somit zweierlei Ausprägungen der Gerechtigkeit. Auf der einen Seite ist sie nur dann gerecht, wenn sie Schuld ausgleicht, und bleibt somit in ihren Wurzeln einem absoluten Gerechtigkeitsverständnis und damit im Vergeltungsgedanken verhaftet, und auf der anderen Seite kann sie nur dann gerecht sein,
118 Vgl. zur „Spielraumtheorie“ BGHSt 7, 28, 32; 20, 264, 266 f.; BVerfGE 45, 187, 259 f.; 50, 1, 11 f.; ausführliche Wertung der Spielraumtheorie mit dem Ergebnis, sie sei ein „Produkt des Gesetzgebers“ bei Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache, S. 250 ff. 119 So beispielsweise in BGHSt 24, 132, 134. 120 Hierzu Schünemann, in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, S. 153, 159. 121 Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 242, wo er schließlich festhält: „Die ,Schuld‘ der Beteiligten braucht die Strafrechtspflege nur als Grenze subjektiver Zurechnung, nicht als Begründung ihres Handelns. Die „Schuld“ setzt Hassemer wohl deshalb in Anführungsstriche, weil er dem Schuldbegriff selbst misstraut und ihn zumindest für den Strafjuristen definiert als „nicht mehr als das Fehlen von Gründen für Schuldausschluss“ S. 243; zu Hassemers Konzept der Strafe, in der der Tadelscharakter durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu ersetzen ist, noch unten. 122 Roxin, in: Festschrift für Kaufmann, S. 519, 522.
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wenn von präventiven Erfordernissen geboten, und wird somit auch in einer funktionalen Komponente der Gerechtigkeit verankert. In konsequenter Fortführung des Präventionsgedankens, der die Vergeltung gänzlich aus dem Inhalt der Strafe verdrängt, ist die Schuldkategorie für die Strafzumessung ganz ohne Bedeutung. Nach dieser Konzeption besteht keine Korrelation zwischen Schuldumfang und Strafhöhe. So kann die Schuld nur als Zulässigkeitsvoraussetzung der Strafe verstanden werden, während die Generalprävention deren Notwendigkeit begründet123. Wenn die Strafe allein dem Präventionszweck dient, kann sie auch vom Präventionszweck her inhaltlich bestimmt werden. Unter präventiven Gesichtspunkten hänge die Strafe in erster Linie von der Schwere der Rechtsgüterverletzung und in zweiter von der Intensität der kriminellen Energie ab. Die begrenzende Funktion der Schuld ergebe sich daraus, dass für die Strafzumessung solche Umstände nicht berücksichtigt werden dürften, die dem Täter nicht erkennbar und somit ihm nicht vorwerfbar waren. Damit würde aber die Redeweise von der „schuldangemessenen Strafe“ hinfällig, weil es die logische Verknüpfung von Schuld und Strafmaß nur im Vergeltungsstrafrecht gibt124. Aber selbst wenn die Bedeutung der Schuld für die Sanktionierung auf eine Zulässigkeitsvoraussetzung für Strafe beschränkt wird, bleibt der Schuldbegriff ein materieller, der sich als systemexterne Konstante aus außerhalb des Strafrechtssystems begründeten Werten erschließt. Lässt man die grobe Verallgemeinerung zu, dass Schuld in den präventiven Theorien die Funktion zukommt – sei es je nach konkreter Ausgestaltung die einzige Funktion oder eine unter anderen –, eine Grenze für die Strafe zu liefern, so stellt sich das Problem nach dem semantischen Gehalt von Schuld besonders deutlich: soll das Schuldprinzip die Funktion haben, kriminalpolitische Zweckerwägungen einzuschränken, dann muss sein semantischer Gehalt hinreichend eindeutig sein, damit eine kriminalpolitisch orientierte Interpretation verhindert werden kann125. Die Gleichsetzung der Schuld mit „Vorwerfbarkeit“ oder „Andershandelnkönnen“ hilft hier nicht wirklich weiter, da es sich bei dem einen um einen semantisch offenen Begriff handelt, der keine Auskunft über Inhalte der Vorwerfbarkeit liefern kann und der andere sowohl die Frage nach der Nachweisbarkeit als auch die nach der „richtigen Alternative“ des Handelns offen lässt. Einen semantisch eigenen Gegenstand haben sie nicht, positiv bestimmt wird die Schuld so nicht, denn vorwerfbar ist nur, was zuvor als solches bestimmt wurde. Die Vorwerfbarkeit lie-
123 Schünemann, in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems., S. 187, für diesen Ansatz vgl. auch Roxin, in: Festschrift für Kaufmann, S. 519, 522, der explizit formuliert, dass Schuld für die Strafe nötig sei, diese aber nicht erfordere. 124 Schünemann, in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, S. 189. 125 Baurmann, in: Seminar Abweichendes Verhalten IV, Kriminalpolitik und Strafrecht, S. 261.
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fert nicht die Werte, nach denen das Vorwerfbarkeitsurteil getroffen würde. Materielle Schuld aber siedelt sich auf der Wertebene an, nirgends sonst kann sie ihren Inhalt gewinnen. So steht die Schuld als strafbegrenzende Kategorie vor demselben Dilemma wie die Schuld als strafbegründende Kategorie im Vergeltungsstrafrecht: indem sie Strafe begrenzen will, muss sie selbst ein Maß liefern, das nur in einem „Sprung ins Transzendentale“ gefunden werden kann126. Zwangsläufig stößt alle Theorie hier an solche Erklärungsdefizite, die tatsächlich um einen Rückgriff auf Werte jenseits der Rechtsordnung nicht herumkommen. Allerdings ist zu bedenken, dass die als Strafbegrenzung verstandene Schuld stets ein Mittel ist, den Beschuldigten oder Angeklagten vor überschießenden Straftendenzen im Namen präventiver Zwecke zu schützen. Dass der einzelne nicht zum Opfer der Besserung der Gesellschaft würde, soll das Schuldprinzip verhindern. Wenn Strafe nicht mehr dem „Schuldausgleich“ dient, sondern Schuld nur noch Zulässigkeitsvoraussetzung für staatliche Sanktion ist, so wird zwar noch immer ein materieller Schuldgehalt vorausgesetzt, aber das Schuldprinzip in seinem materialen Kern, für den die Wahrheitssuche unverzichtbar ist, ist auf die Schutzfunktion für den Beschuldigten beschränkt. Es lässt sich die berechtigte Frage anschließen, die für den weiteren Gang der Untersuchung im Auge behalten werden muss, ob für die Gewährleistung der Schutzfunktion, die das Schuldprinzip dann nur noch zu erfüllen hat, die Ermittlung des Sachverhaltes, also die Suche nach materieller Wahrheit unverzichtbar ist. Festzuhalten bleibt, dass das Schuldprinzip sich vom Vergeltungsprinzip gelöst hat und nun nicht mehr der ausgleichenden Gerechtigkeit, sondern dem Schutz des Beschuldigten dient. Damit ist das Schuldprinzip nicht mehr nur im Gedanken einer Gerechtigkeit der Ergebnisrichtigkeit, sondern vor allem der umfassenden Idee „materieller Gerechtigkeit im Verfahren“127 verwurzelt. b) Formelle Schuld in zweckrationaler Zuschreibung Ein modernes, extrem zweckrationales Strafrecht scheut aber auch diesen metaphysischen Schritt in den „materialen Kern der Schuld“, der in jeder Begründung materieller Schuld liegt. Es bleibt das Dilemma, dass keine präventive Straftheorie, die an einem materiellen (ontologischen) Schuldbegriff festhält und Strafe dennoch nur präventiv legitimiert, begründen kann, warum die 126 So prangern denn auch Ellscheid/Hassemer, in: Seminar Abweichendes Verhalten, II, Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität, S. 283, gerade diesen „metaphysischen Vorgang“ an. 127 Vgl. oben I. 3.
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Strafe sich an der Schuld auszurichten habe. Zwischen präventiven Strafzwecken und Schuld besteht kein logischer Zusammenhang. Der Schuldgedanke stellt deshalb einen Fremdkörper im modernen Strafrecht dar128. Erst wenn Schuld inhaltsleer gedacht, und ganz vom Zweck her bestimmt wird, lässt sie sich präventiven Theorien ohne Systembruch eingliedern. Fraglich ist dann nur, ob die Schuld in dieser Form überhaupt noch als eigenständiges Unrechtsmerkmal Bestand haben kann oder nicht nur in der Verkleidung einer alten Bezeichnung ein neues, nur zweckrationales Strafverständnis etabliert. Versuche, Schuld zu denken, ohne auf das Postulat der sittlichen Autonomie, des a priori freien Willens oder allgemeingültiger Werte zurückgreifen zu müssen, flüchten sich in die reine Funktionalität der Schuld. Schuld ist nur dort, wo sie das Erreichen bestimmter Zwecke verbürgt. Es ist mit dem Wesen einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft verbunden, dass die Frage laut werden kann, ob es materiale, strafrechtliche Schuld überhaupt geben kann129. Die Frage mündet notwendig in das der ganzen Schuldproblematik zugrunde liegende Problem des Werterelativismus. Die Theorien eines funktionalen Schuldbegriffs erheben den Anspruch, auch ohne Rückgriff auf den „metaphysischen Sprung“ in absolute Werte, Schuld als zweckbestimmt und dennoch straflimitierend zu begründen130. aa) Funktionale Schuld Der Gedanke funktionaler Schuld beschreibt die Abhängigkeit des Schuldbegriffs von der Aufgabe des Strafrechts. Der Inhalt von Schuld ist in einem funktionalen Verständnis immer nur so genau bestimmt, wie der Strafzweck genau bestimmt ist131. Schuld kann dann als funktional verstanden werden, wenn man 128
Schünemann, in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, S. 159. Kindhäuser, ZStW 107 (1995), 701, stellt eingangs genau diese Frage und kommt zu dem Schluss, dass es in einer säkularisierten und pluralistischen Gesellschaft keine inhaltlichen Gründe a priori gebe, die die verhaltensregulierenden Normen legitimierten, S. 718. 130 Vgl. zur limitierenden Wirkung zweckbestimmter Schuld Jakobs, Schuld und Prävention, S. 32, nach dessen Auffassung Schuld nur als „zweckbezogenes Moment“ ein Maß liefert und „zuallererst zur Limitierung“ tauglich wird. Dem ist entgegenzuhalten, dass der Zweck als solcher nur ein vollkommen fungibles Maß, aber keine an der Würde des Menschen orientierte Strafmaßgrenze liefern kann. 131 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 17. Abschn. Rn. 22, treibt das Konzept der Funktionalität der Schuld auf die Spitze, indem Schuld letztendlich gänzlich auf Generalprävention zurückgeführt wird. Die Schuld hat keinen eigenständigen Charakter mehr, wie die persönliche Vorwerfbarkeit; vgl. auch ders. zur Rückführung der Schuld auf Generalprävention, indem Schuld durch Generalprävention begründet und nach dieser bemessen wird, Schuld und Prävention, S. 9. Siehe auch Roxin zur „kriminal129
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sie als „Zuschreibung gemäß den Normstabilisierungsbedürfnissen der Allgemeinheit“132 begreift. „Zuschreibung“ lässt sich theoretisch auch ohne einen Wahrheitsanspruch denken, da sich eine Schuldzuweisung nicht am vergangenen Unrecht, sondern am zukünftigen Nutzen orientiert. „Zuschreibung“ der Schuld bedeutet, Schuld hat man nicht, Schuld bekommt man. Die Verantwortlichkeit der Person kommt ausschließlich von außen, ohne dass dem ein reales, essentielles Substrat in der Person des Täters selbst entsprechen würde133; Schuld wird so vordergründig vom zugrunde liegenden Sachverhalt gelöst, es gibt keinen Schuldsachverhalt, sie ist – zumindest auf den ersten Blick – funktionale Hülle, ohne semantischen Gehalt134. Ob einer Person Schuld zugeschrieben wird, hängt also nicht von der „ontologischen“ Struktur der Schuld – eine solche kann es in einem funktionalen Schuldsystem nicht geben – ab, sondern von der „ontologischen“ Struktur des gesellschaftlichen Prozesses der Normstabilisierung135. Auf dem Luhmannschen System enttäuschter Erwartungen baut Jakobs seinen funktionalen Schuldbegriff auf. Das Strafrecht wird als ein Mittel zur Reaktion auf enttäuschte Erwartungen konzipiert136. Es nähert sich dabei den absoluten Theorien und insbesondere der Konzeption Hegels insoweit an, als „die Verletzung des Rechts als Recht“, die „in sich nichtig ist“137 bei Jakobs dazu wird, dass der Normbruch für die Gesellschaft unmaßgeblich sei138. Die Nähe der Jakobschen Theorie zum Vergeltungsgedanken liegt in der Tatbezogenheit der funktionalen Schuld, in der „Kompensation der Störung, der Enttäuschung“139. Nach welchen quantitativen Parametern sich das Gewicht des Normbruchs allerdings zu bemessen habe, bleibt offen und kann aus einem rein funktional verstandenen Schuldbegriff auch nicht geklärt politischen Prägung der Schuld durch die Strafzwecklehre“, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 33, wo er feststellt, dass das, was unter dem Gesichtspunkt der Schuld abgehandelt wird, nur mit der Frage zu tun hat, ob ein Verhalten Strafe verdient; die Schuld wird kriminalpolitisch von der Strafzwecklehre her geprägt. 132 Streng, JZ 1984, 114, 119. 133 Günther, in: Positive Generalprävention, Heidelberg 1998, S. 153, 157. 134 Gegen einen eigenständigen semantischen Gehalt der Schuld explizit Baurmann, in: Seminar: abweichendes Verhalten, IV, S. 196, 262, der von einer „autonomen Festsetzung“ des Schuldinhalts ausgeht. 135 Günther, a. a. O.; dieser gesellschaftliche Prozess ist bei Jakobs vor dem Hintergrund der rechtssoziologischen, systemtheoretischen Ansätze Luhmanns zu verstehen. Ausgangspunkt der Luhmannschen Rechtsbeschreibung sind die wechselseitigen Verhaltenserwartungen, mit denen die Menschen die denkbaren Verhaltens- und Erlebnismöglichkeiten so reduzieren, dass sie im sozialen Kontakt interagieren können, vgl. Rechtssoziologie, S. 31 ff. 136 Vgl. Jakobs, Schuld und Prävention, S. 10. 137 Hegel, Grundlinien, § 97, S. 95. 138 Jakobs, in: Strafe muss sein, S. 37. 139 Jakobs, Schuld und Prävention, S. 9.
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werden. Das Gewicht der sozialen Störung liegt nicht, auch nicht teilweise, im Täter, sondern bestimmt sich nur über die Erwartungen der Gesellschaft. Die Zurechnung muss sich aber auf etwas beziehen, das nur in der einzelnen Person liegt. Jakobs führt hierfür den Begriff der „Motivation“140 ein. Das motivationale Defizit an Rechtstreue wird zum Zentrum der „Schuld“141. Zurechnung zur Person bedeutet, dass diese aus der Menge der möglichen Ursachen und Umstände, die eine Erwartungsenttäuschung erklären können, isoliert wird142. Wenn die Gesellschaft sich nicht mehr für zuständig erklärt, bestimmte, aus enttäuschten Erwartungen entstandene Konflikte zu regulieren, dann wird die Person isoliert, indem die enttäuschten Erwartungen ihrem Verantwortungsbereich zugerechnet werden. Aber welche dem Verantwortungsbereich der Person zugeordnet und dem der Gesellschaft entzogen werden, kann in Jakobs’ Modell nicht vorab feststehen und „kann sich insbesondere nicht aus einem zweckfrei verstandenen Schuldbegriff ergeben“143. Wenn auf das Jakobsche Strafkonzept im Rahmen dieser Arbeit auch nur sehr summarisch eingegangen werden kann, so sollte doch deutlich werden, dass die Diskrepanz zwischen einer inhaltsleer gedachten Schuld und der Bindung der Schuld an das „motivationale Defizit“ unüberbrückbar bleibt. Das ausschließliche Abhängigkeitsverhältnis zwischen Schuld und Strafzweck wirft die grundlegenden Fragen auf. Jakobs Konzept, in dem die Schuld dem Strafzweck der Generalprävention entsprechend nur dann gegeben ist, wenn das gesellschaftliche Bedürfnis hierfür besteht, und umgekehrt dann auch gegeben ist, wenn die Gesellschaft es verlangt, weil sie sich im Sinne der Verarbeitung der Erwartungsenttäuschung nicht für zuständig erachtet, und den Täter nur aus diesem Grunde isoliert und für „zuständig“ erklärt144, birgt die Gefahr in sich, auf eine Instrumentalisierung der Schuld des Einzelnen im Dienste gesellschaftlicher Stabilisierungsinteressen hinauszulaufen. Gegen diese Einwände Kants (Mensch unters Sachenrecht gemengt) und Hegels (Mensch wird zum Hund, gegen den man den Stock erhebt), ist auch Jakobs nicht gewappnet. Er versucht, dem Vorwurf der Instrumentalisierung des Täters offensiv zu begegnen.
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Jakobs, Das Schuldprinzip, S. 15. Günther, in: Positive Generalprävention, S. 153, 159, über das Wesen der Schuld in den präventiven Straftheorien. 142 Günther, a. a. O., S. 158. 143 Jakobs, Schuld und Prävention, S. 28; hier liefert Jakobs das anschauliche Beispiel, dass die Frage, ob etwa ein Trieb in den Verantwortungsbereich der Person fällt und damit die Schuld erhöht oder aber ob der Trieb, vergleichbar einer Krankheit entlastet, weil er nicht zum persönlichen Verantwortungsbereich zu rechnen ist, dann nicht mit Hilfe des Schuldbegriffs beantwortet werden kann, wenn man nicht weiß, zu welchem Zweck dieser eingesetzt werden soll. 144 So heißt es bei Jakobs, ARSP, Beiheft 74, 57, 71: „Zurechnung beginnt mit der Zuständigkeitsverteilung zwischen Täter, Opfer und dritten Personen“. 141
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Der Vorwurf verkenne, dass es überhaupt nur um die Funktionsbedingungen von Gesellschaft gehe; so versteht Jakobs sein Schuldkonzept denn auch rein deskriptiv und nicht etwa als einen „Entwurf für die Zukunft“145. Schuld sei schon immer zweckbestimmt und daraus folge zwingend, dass der Zweck, der in die Schuld eingeht, nicht durch diese limitiert werden könne und dass die Schuld, in die der Zweck eingegangen ist, die Strafe begründe146. Doch einmal mehr: wenn es nur um Funktionsbedingungen geht, was ist dann die fehlerhafte Motivation, die Jakobs als Zurechnungsmoment eingeführt hat; wo hat sie ihren Ursprung? Vollzieht sich gerade dort nicht doch wieder der Sprung in die absolute Schuld, denn wonach beurteilt sich die falsche oder richtige Motivation? Was ist motivationales Defizit anderes als Vorwerfbarkeit, schleicht sich da nicht der zuvor negierte „Schuldsachverhalt“ ein? Zwar verweist Jakobs auf die Parallele, die zwischen der Zweckbezogenheit von Schuld und Motivation besteht: „Sowenig der Schuldbegriff vor seiner Zweckbestimmung etwas dafür hergibt, wie die verfestigten subjektiven Tatbedingungen, also Erziehung, Vorleben, Triebe des Täters etc. sich auf die Schuld und deren Maßstab auswirken, sowenig lässt sich vor einer Zweckbestimmung die Schuldrelevanz der äußeren Situation und der an die Situation gebundenen Motive ausmachen.“147 Allerdings tritt dieser Vergleich in offenkundigen Widerspruch zu dem zuvor eingeführten Grund der Notwendigkeit des Rückgriffs auf die „Motivation“ als Zurechnungselement. Ist nämlich auch die Motivation bzw. die Wertigkeit der Motivation erst vor dem Hintergrund der verfolgten Zwecke zu bestimmen und abhängig davon, welche Erwartungen zum Erhalt der Ordnung enttäuschungsfest garantiert werden müssen, so liegt die Fehlerhaftigkeit der Motivation nicht im Täter, sondern wiederum in den Stabilisierungsbedürfnissen der Gesellschaft begründet. Dennoch präsentiert Jakobs die Motivation als eine nur im Täter liegende Größe. Es bleibt ein unauflösbarer Widerspruch148. So kann man dem Konzept Jakobs’ vorhalten, es verlagere die materielle Gerechtigkeit in den Bereich der Generalprävention. Denn im Ergebnis wird die funktional vorgestellte Generalprävention mit traditionellen Wertestandpunkten aufgefüllt. In der Berücksichtigung der Erwartungshaltung des Durchschnittsbürgers wird das dem klassischen Schuldverständnis zuzuordnende Wertedenken durch die Hintertür wieder in das System eingeführt149. 145
Jakobs, Schuld und Prävention, S. 32. Jakobs, a. a. O., S. 32. 147 Jakobs, a. a. O., S. 29. 148 Besonders deutlich wird dies in Jakobs Differenzierung zwischen materieller und formeller Schuld. Formelle Schuld soll jede Übertretung, unabhängig von der konkreten Rechtsordnung nach sich ziehen. So soll die „Schuld innerhalb einer Ordnung, die ihrerseits nichts wert ist“, eine „nur-formelle Schuld“ sein, Schuldprinzip, S. 26. Materielle Schuld hingegen setze „legitime Normen voraus“, S. 28. 149 Vgl. Hirsch, ZStW (106), 1994, 746, 753; zur Kritik an Jakobs Schuldkonzept auch Schünemann, in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, S. 154, 168 ff. 146
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Eingewendet wird zudem, dass es dem Ordnungsvertrauen des Bürgers nicht zuträglich sein könne, dass das Vorliegen seiner Schuld von Umständen abhängt, die nicht in seiner Person, sondern in äußeren Faktoren begründet liegen150. Doch, wie aufgezeigt, hat Jakobs selbst den Ansatz der nur von äußeren Faktoren abhängigen Schuld durch den Rückgriff auf die Motivation unterlaufen. Noch offenkundiger tritt dieser Rückgriff auf eine vorgegebene Wertordnung bei Streng151 in Erscheinung. Er legitimiert die Schuldstrafe in ihrer Funktion der Normbestätigung im Sinne der positiven Generalprävention. Schuld gebe es demzufolge nur so weit, wie die Stabilisierungsbedürfnisse reichten. Diese wiederum seien „Reflexe der verinnerlichten Wertordnung“. Über die verinnerlichte Wertordnung wird der absolute Schuldmaßstab auch hier wieder in das funktionale System eingeführt. Die Schuld ist nicht mehr inhaltsleer. Es handelt sich in letzter Konsequenz bei diesem Modell gar nicht um funktional verstandene Schuld, sondern um die Annäherung präventiver Schuldausgleichsbedürfnisse mit absoluter Schuldvergeltung. Kein funktionaler Schuldbegriff wird konsequent „formell“ gedacht. Die Materialität der Schuld wird mehr oder weniger verdeckt immer wieder in das System eingeführt152. Ist auch in der funktionalsten aller Schuldkonzeptionen eine 150
Zur Kritik an Jakobs, siehe Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 19, Rn. 32 f. Streng, ZStW, 101 (1989), 292 ff., der die Funktionalität der Schuld mit materieller Gerechtigkeit widersprüchlich dergestalt vermengt, dass „Zweckrationalität und wertrationale Vertretbarkeit“ bei positiver Generalprävention zusammenkämen, solange diese „die als Gerechtigkeitsvorstellungen geäußerten, durch die Tat hervorgerufenen Stabilisierungsbedürfnisse realisiert – also Schuld ausgleicht“, S. 295; den Widerspruch oder die Unentschlossenheit in einer „versöhnlichen“ Lösung, wo es keine Versöhnung geben kann, bringt er selbst auf den Punkt: „gesellschaftliche Verantwortungszuschreibung“ ist „funktional, in ihrer empfundenen Absolutheit aber gerade nicht fungibel“, S. 307; grundlegend zu Strengs Schuldkonzeption, siehe in ZStW 92 (1980), 637 ff.; wo er feststellt, dass Strafe „ihrem Wesen nach Vergeltung darstellt“, dass diese Vergeltung aber keinen „metaphysischen oder mechanistischen Selbstzweck“ bedeute, sondern dass sie „funktional“ sei. Eine solche Funktionalität kann aber nur dann funktionieren, wenn – wie Streng das implizit voraussetzt – das soziale Normvertrauen im Sinne generalpräventiver Theorien mit einer ethisch sittlichen Ordnung im Sinne einer metaphysischen Vergeltungsstrafe identisch ist. 152 Diese bewusste oder unbewusste materielle „Füllung“ eines formellen Schuldbegriffs bringt Frister, Die Struktur des „voluntativen Schuldelements“, S. 249, dazu festzustellen, dass es „für die generalpräventiven Schuldkonzeptionen bei der strafrechtlichen Zurechnung nur um die Frage gehen kann, welche Verhaltensweisen ihrer Art nach dazu geeignet sind, die Anerkennung durch sie verletzter Normen zu beeinträchtigen. Diese Frage aber erwies sich [. . .] nur als eine andere Formulierung der nach dem traditionellen Schuldbegriff maßgeblichen Frage, welche Verhaltensweisen ihrer Art nach dazu geeignet sind, ein moralisches Urteil in Bezug auf ein Zurechnungssubjekt zu begründen.“ Dieser Schluss geht indes zu weit. Denn es bleibt bei dem grundsätzlichen Unterschied, dass das traditionelle Schuldkonzept sich zu dem Schritt ins Transzendente bekennt, der funktionale Schuldbegriff diesen Schritt nur „heimlich“ vollziehen und ihn nie als Legitimationsmoment gebrauchen kann. 151
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mysteriöse, nur im Täter liegende Größe (Motivation) auffindbar, dann lässt der Zweifel an der „Reinheit“ der funktionalen Konzeption zurückschauen auf die „Vorwerfbarkeit“. Es bleibt dennoch für den weiteren Gang der Untersuchung vor allem ein Aspekt der funktionalen Schuldkonzeption: es ist der Gedanke der Zweckgerichtetheit der Schuld. Ist die Zweckbestimmung der Schuld zwar nicht ausschließliches Wesen der Schuld, ist andererseits auch nicht zu leugnen, dass die Schuld in einem modernen Präventionsstrafrecht nicht ganz zweckfrei gedacht werden kann. Zwar knüpft Schuld am Element der Vorwerfbarkeit an, was aus dem Postulat der Willensfreiheit folgert, aber die Schuldkategorie wird rechtlich relevant erst dann, wenn sie zweckgerichtet eingesetzt wird153, nämlich mit dem Ziel, auf einen Ausgleich personaler Interessen hinzuwirken. Schuld wird nicht um ihrer selbst oder einer metaphysischen Vergeltung willen festgestellt, sondern die Schuldfeststellung in rechtlichem Sinn ist zweckgerichtet. bb) Verhältnismäßigkeit statt Schuld Wird der Gedanke formeller Schuld auf die Spitze getrieben, dann ist es nicht mehr weit zur Forderung, das Schuldprinzip gänzlich abzuschaffen. So wird dieses Anliegen denn auch immer wieder laut154. Der Ruf nach der Aufhebung des Schuldprinzips ist im Grunde nichts anderes, als die konsequente Fortführung der funktionalistischen „Entleerung“ des Schuldbegriffs. Wird das Schuldprinzip seines materiellen Gehalts ganz beraubt, spricht nichts dagegen, den Schuldbegriff ganz aufzugeben. Hassemer und Ellscheid 155 versuchen, das Schuldprinzip durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu ersetzen. Schuld wird nur noch negativ bestimmt, indem sie auf das Fehlen von Strafausschließungsgründen reduziert wird156. Da153 Vgl. auch den Hinweis bei Kargl, Kritik des Schuldprinzips, S. 198, dass die „zweckgerichtete Funktion des Schuldvorwurfs“, „ob dies explizit offen gelegt wird oder nicht“, „durchaus gesehen“ und „eindeutig begrüßt“ wird. 154 Für die Abschaffung des Schuldprinzips haben sich insbesondere ausgesprochen: Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, S. 205 ff., der „Schuldvorwurf“ wird hier zu einem „Wahngedanken“; sowie Kargl, Kritik des Schuldprinzips, S. 198 ff.; 375 ff., der dem Schuldprinzip ein „allein auf die verfassungsrechtlichen Basisinstitutionen gestütztes Strafrecht entgegenhält (S. 437); vgl. auch Hoffmann, P., S. 244, der das gegenwärtig noch notwendige Schuldprinzip langfristig durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip ersetzen will; vgl. zum Gedanken der Verhältnismäßigkeit auch den Aufsatz „Schuldlose Dogmatik“ von Baurmann, in: Seminar abweichendes Verhalten, IV, Kriminalpolitik und Strafrecht, S. 196 ff., wie auch das Kapitel „Zweckrationalität und Verhältnismäßigkeit“, ders., in: Zweckrationalität und Strafrecht, 1987, S. 253 ff.; vgl. ebenso das Kapitel „Ersetzung des Schuldparadigmas“ von Scheffler, Grundlegung eines kriminologisch orientierten Strafrechtssystems, S. 69 ff. 155 Ellscheid/Hassemer, in: Seminar Abweichendes Verhalten II, S. 266.
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mit ist die Schuldkategorie an sich nicht mehr positiv fassbar und der Weg geöffnet, um sie als straflegitimierende Kategorie zu eliminieren. Ihre grundsätzliche Kritik am Schuldprinzip setzen Hassemer und Ellscheid an dem „Dogma“ des Tadelscharakters der Strafe an. Gerade dieser Aspekt führe, da Tadel das Andershandelnkönnen voraussetzt, das Strafrecht in Sackgassen157, und zwar „mitten in den Determinismusstreit“158, und auch in den Widerspruch, dass nach präventiven Zwecken der Tadel des Urteils ohne Konsequenz bleibt, weil er im Strafvollzug nicht realisiert werde159. Diese und weitere160 Aporien ließen sich dann entschärfen, wenn es dem Strafrecht für seine sittliche Legitimierung nicht auf Schuldvergeltung, sondern vielmehr auf den Schutz von Freiheitsräumen ankäme, der ohne die Ahndung von Freiheitsverletzungen nicht zu gewährleisten wäre. „Begreift man das Strafrecht von Ansprüchen her, so gewinnt es damit eine Nüchternheit und Sachgebundenheit, wie sie dem modernen Recht sonst eignet. Das Strafrecht zielt dann auch in seiner Theorie wie die übrigen Rechtsgebiete auf Schutz und Ausgleich von Interessen“161. Um die Idee des Maßes nicht auf ein Jenseits der sozialen Welt, auf die Schuld, zu projizieren, gehen Hassemer und Ellscheid den aus anderen Bereichen bekannten Weg der Verhältnismäßigkeit. Das Strafrecht habe somit, wenn es das Schuldprinzip durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ersetzt, das Ziel einer praktischen Konkordanz zwischen der Verwirklichung der Grundrechte des Täters einerseits und dem Schutz sonstiger Rechtsgüter andererseits anzustreben. Um dies zu erreichen, müsste aus dem Ganzen der Rechtsordnung entwickelt werden, welche Wertigkeit Freiheit und Eigentum des Täters im Verhältnis zu den kriminalpolitischen Zwecken zukommt162. Nur das Verhältnismäßigkeitsprinzip könne sich vom irrationalen Vergeltungsbedürfnis der Gesellschaft absetzen und es als Faktor innerhalb eines Systems begreifen163. Wirkt der Gedanke eines nüchternen Ersatzes des Schuldprinzips durch den „unmetaphysischen“ Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf den ersten Blick auch bestechend, so lassen sich doch schwerwiegende kritische Einwände nicht überwinden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz muss im Gegensatz zum Schuldprinzip ein rein formaler Maßstab bleiben. Doch kann er, da er Werte zueinander in Bezug 156 Vgl. Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 243; dass die Vorwerfbarkeit in dem Konzept von Ellscheid/Hassemer keinen eigenen ontologischen Gehalt hat, wird explizit: „Vorwerfbarkeit ist also im Strafrecht kein funktionaler, sondern ein bloß systematisch-ordnender Begriff, in: Seminar: Abweichendes Verhalten II, Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität, S. 275. 157 Ellscheid/Hassemer a. a. O., S. 273. 158 Ellscheid/Hassemer a. a. O., S. 267. 159 Ellscheid/Hassemer a. a. O., S. 272. 160 Dazu ausführlich Ellscheid/Hassemer, a. a. O. 161 Ellscheid/Hassemer, a. a. O., S. 280. 162 Ellscheid/Hassemer, a. a. O., S. 285. 163 Ellscheid/Hassemer, a. a. O., S. 287.
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setzt, nur dann operativ sein, wenn er doch auch eine metaphysische Dimension enthält, ohne die das nach „Gerechtigkeit“ strebende Recht nun einmal nicht auskommt. Was „verhältnismäßig“ ist, lässt sich ohne ein Wertevorverständnis nicht bestimmen. Vor dem „eigentlichen Problem des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, nämlich seiner inhaltlichen Bestimmung“ mussten Ellscheid und Hassemer denn auch kapitulieren164. Zudem setzt sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Gefahr aus, keine adäquaten Grenzen für staatliches Strafen liefern zu können, denn er erfordert ganz allgemein, dass Eingriff und Nutzen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen165. Wenn Schuld durch Verhältnismäßigkeit ersetzt wird, dann wird das Strafrecht das „Ziel einer praktischen Konkordanz zwischen der Verwirklichung der Grundrechte des Täters einerseits und dem Schutz sonstiger Rechtsgüter andererseits anstreben müssen“166. Allerdings erfordert jede Verhältnismäßigkeitsprüfung im Sinne einer praktischen Konkordanz zunächst die Bestimmung des angestrebten Zwecks, denn erst dann lässt sich bestimmen, ob das angewendete Mittel nicht außer Verhältnis zur Bedeutung des beeinträchtigten Rechtsguts steht. Und genau hier liegt der wunde Punkt, dass sich allein aus dem Zweck der Strafe, wenn er von jeder „metaphysischen“ Schuldkategorie absehen will, kein Schutz vor missbräuchlich hohen Strafen im Namen präventiver Zwecke ableiten lässt. Denn der „Schutz sonstiger Rechtsgüter“, der einen Abwägungsposten in der Suche nach praktischer Konkordanz darstellt, ist zugleich nach Eliminierung des Vorwurfselementes der Schuld einziger Zweck der gesamten Verhältnismäßigkeitsprüfung, oder anders gewendet: praktische Konkordanz zwischen zwei Rechtsgütern kann nur im Hinblick auf einen außerhalb dieser liegenden Zweck erreicht werden. Hassemer und Ellscheid versuchen der Gefahr, „dass eine Maßlosigkeit in der Anwendung strafrechtlicher Sanktionen folgen könnte“, so zu begegnen, dass eine solche „so lange und in dem Maße nicht zu befürchten sei, als Freiheit, Leib, Leben und Vermögen des Straftäters eine hohe Bewertung erfahren“167. Dieser Versuch bleibt jedoch eher blass. Denn selbst wenn die Grundrechte des Täters eine hohe Bewertung erfahren, aber in die Verhältnismäßigkeitsprüfung die Schwere der Tat nicht mehr als Abwägungsposten in die Konkordanz eingebracht wird, sondern nur Grundrechte des Täters und Schutz übriger Rechtsgüter zum Ausgleich gebracht werden sollen, so steht einem funktionalistischen Missbrauch von Strafe nicht mehr viel im Wege, denn der Abwägungsposten „Schutz sonstiger Rechtsgüter“ enthält in sich kein Kriterium des Maßes. 164 165 166 167
Kaufmann, in: Festschrift für Richard Lange, S. 27, 35. Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, § 13 III. Ellscheid/Hassemer, a. a. O., S. 285. Ellscheid/Hassemer, a. a. O., S. 285 f.
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Einen grundsätzlichen Einwand gegen die Versuche, den Schuldbegriff durch die Erfordernisse der Generalprävention zu ersetzen, liefert Schünemann168, weil im Schuldgedanken eine für das rechtsstaatliche Strafrecht geradezu fundamentale Wertstruktur liege, die durch die Eliminierung des Schuldprinzips zerstört würde. Generalpräventive Erwägungen könnten zwar die zweckrationale Nützlichkeit, nicht aber die wertrationale Vertretbarkeit der Strafe begründen. Weil das Recht sich ohne eine solche „Wertstruktur“ in reiner Funktionalität auflösen müsste, ist am Gedanken der Vorwerfbarkeit im Schuldprinzip festzuhalten. Der Gedanke von Hassemer und Ellscheid, dass Strafrecht auch von Ansprüchen her begriffen werden kann, ist jedoch für den weiteren Gang der Untersuchung gewinnbringend. Soll das „moderne“ Strafrecht nicht mehr der Vergeltung zum Durchbruch verhelfen, sondern auf Ausgleich und Schutz von Interessen zielen, dann kann auch das Strafrecht von Ansprüchen her gedacht werden, weil Strafrecht nicht um seiner selbst willen sein darf. Nur muss Schuld für den Gedanken eines Strafrechts aus Ansprüchen nicht notwendig eliminiert werden, vielmehr wird es zur Aufgabe, die Schuldkategorie in ein Konzept des strafrechtlichen Interessenausgleichs zu integrieren. c) Verbindungen formeller und materieller Schuld im Verfahren Eine rein formelle Schuld ist nicht denkbar, da sich von der einen oder anderen Seite immer wieder absolute Werte in das Schuldverständnis einschleichen und die Schuldkategorie ohne diesen materiellen Kern das Strafrecht nicht gegen funktionale Willkür wappnen könnte. Ebenso wenig kann aber eine absolut verstandene Schuld wie im zweckfreien Vergeltungsstrafrecht die Schuldkategorie eines modernen Strafrechts sein. Denn strafrechtlich relevante Schuld wird nicht um ihrer selbst willen vergolten, sondern ist Zulässigkeitsvoraussetzung eines zweckorientierten Strafrechts, und somit selbst von den Zielen des Strafrechts geprägt. aa) Schuld als Relation zwischen Vergeltung und Prävention Schuld als eigenständige, strafbegründende Kategorie zu verstehen und dennoch präventive Gesichtspunkte und kommunikative Elemente der Schuldzu-
168 Schünemann, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, S. 171; so wendet er sich auch gegen das Jakobsche Modell, weil es auf einer Apologie des gegenwärtigen Strafrechtssystems beruhe, indem behauptet werde, eine anderweitige Möglichkeit zur Konfliktverarbeitung bestünde nicht, ohne dies empirisch begründen zu können. In Wahrheit müsse aber die „reale Ansprechbarkeit des Menschen durch Normen der feste Boden“ sein, von dem aus das Strafrecht konstruiert werden muss (S. 181).
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schreibung auch im Inhalt der Schuld zu berücksichtigen, darum bemühte sich Kaufmann169 in seinen späteren Schriften zum Schuldprinzip. Kaufmann170 gesteht offen zu, dass der Schuld kein exaktes Maß für die Strafe zu entnehmen ist. Er löst den Widerspruch zwischen absolut verstandener Schuld und präventiven Strafrechtszielen dergestalt auf, dass er einerseits an dem strafbegründenden Charakter der Schuld festhält, indem er ihr einen materialen Gehalt zuschreibt, nämlich die bewusste und gewollte Entscheidung zum Unrecht, die ein „metaphysisches Phänomen“171 bleiben muss. Diesen absolut verstandenen Charakter der Schuld setzt Kaufmann dann schließlich doch in Relation zur Prävention. Den Gegensatz zwischen „Schuldrealismus“ und „Schuldnominalismus“ versucht Kaufmann aufzulösen, indem er das Entscheidende weder in der Schuld noch in der Prävention allein, sondern in der Relation zwischen beiden sieht172. Schuld im strafrechtlichen Sinn ist eine Kategorie des Rechts. Recht aber ist für Kaufmann, anders als das Gesetz kein Zustand, sondern ein Akt. Recht wird verstanden als „Produkt eines Prozesses hermeneutischer Sinnentfaltung und Sinnverwirklichung“173. Was die Schuld in concreto ist, könne man nicht ohne Blick auf die Sanktion sagen, und welche Sanktion zu verhängen ist, lasse sich nicht unabhängig davon bestimmen, welche Schuld dem Täter anzulasten ist. Es gelte auch hier der berühmte Satz Engischs vom Hin- und Herwandern des Blickes – wie zwischen Sachverhalt und Norm, so auch zwischen Schuld und Prävention. Auch hier kehrt der „Zirkel allen Rechtsverstehens und aller Rechtsverwirklichung“174 wieder. Wenn Kaufmann Schuld und Prävention in Relation setzt, so könnte es zunächst scheinen, als sei dort noch eine absolute zweckfreie gedachte Schuld auf der einen und eine nur utilitaristisch gedachte Prävention auf der anderen Seite 169 Kaufmann, Jura 1986, 225 ff., der sich hier deutlich von seiner Interpretation des Schuldprinzips aus der Habilitationsschrift von 1961 (1. Aufl.) und 1976 (2. Aufl.) entfernt hat, in der er noch die Punktstrafentheorie vertrat, und schrieb: „Die Schuld ist stets nur eine feste und bestimmte Größe, und daher kann die richtige Strafe immer nur eine sein, Schuldprinzip, S. 261; anders beurteilt Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache, S. 59, die Entwicklung in Kaufmanns Schuldprinzip, da er seine Auffassung von Schuld niemals korrigiert habe, sondern immer von der Schuld als „metaphysischem Phänomen“ ausgegangen sei und später lediglich andere Schlüsse gezogen habe. 170 Kaufmann, Jura 1986, 225, 232. 171 Kaufmann, Schuldprinzip, S. 65, da die Schuld ein „metaphysisches Phänomen“ ist, „kann keine Theorie, die überhaupt noch am Schuldprinzip festhält, ein Maßprinzip für die Errechnung der absolut richtigen Strafe aufstellen“. 172 Kaufmann, Jura 1986, 225, 230. 173 Kaufmann, Theorie der Gerechtigkeit, S. 35. 174 So die Formulierung von Kaufmann, Jura 1986, 225, 230, der den Zirkel dort auf das Verhältnis Schuld-Sanktion bezieht; zur Analytik-Hermeneutik-Diskussion näher Kaufmann, in: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 30, 122; sowie eingehend Hassemer, in: Dimensionen der Hermeneutik, Arthur Kaufmann zum 60. Geburtstag, S. 1 ff.
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zu finden. Die strafrechtlich relevante Schuld ist indes vor der Konfrontierung mit der in Betracht kommenden Sanktion noch gar nicht existent und auch die Prävention wird erst dann wirklich, wenn sie an der konkreten Schuld einer Person ausgerichtet ist175. Das bedeutet Schuld und Prävention werden wahrnehmbar erst in der Relation zueinander176. Eine absolut verstandene Schuld ist nach Kaufmanns späterem analytisch-hermeneutischen Verständnis nicht fassbar und somit strafrechtlich nicht relevant. Wichtig ist jedoch, dass jedes hermeneutische Verständnis der Schuld von einem Vorverständnis der Schuld ausgehen muss, das in sich wieder als eines vom Prozess des hermeneutischen Verstehens losgelöstes und damit materielles verstanden werden muss. Zwar ist die rein materielle Schuld nicht fassbar, aber doch als Vorverständnis notwendig. Die strafrechtlich relevante Schuld wird dem Täter auch nach Kaufmanns Konzeption auf einer „Metaebene‘ zugeschrieben“, aber es sei nicht so, dass vorher, „auf der ,Objektebene‘ “ noch gar kein Schuldgehalt vorhanden wäre“177. Strafrechtliche Schuld wird also auch bei Kaufmann nicht absolut verstanden; sie wird in Relation gesetzt zur Prävention, und ihre sittliche Vertretbarkeit wird abhängig gemacht von der „personalen Kommunikation“, in die der Richter mit dem Angeklagten eintritt und in der er an dessen Schuld „teilhat“ und sie „versteht“178. Kommunikation wird so zu einem entscheidenden Moment der Schuldkonkretisierung. bb) Schuld im Dialog Den Gedanken Kaufmanns einer relational verstandenen Schuld aufgreifend, stellt Haft 179 fest, Schuld werde erst im Verfahren hergestellt. Über Kaufmann geht er aber hinaus, wenn er formuliert, Schuld sei ein „wandelbarer Gegenstand, der seine endgültige Gestalt erst durch den Schulddialog im Konsens der Beteiligten findet“180. Konsens soll so zu einem schuldkonstituierenden Merkmal werden. Haft setzt seine Überlegungen an der Unterschiedlichkeit der Feststellung der Tat gegenüber der Feststellung der Schuld an. Die Dialogsituation bei der Un175
Kaufmann, Jura 1986, 225, 230; die Trennung von „strafrechtlich relevanter Schuld“ und einem „Schuldgehalt“ auf der „Objektebene“ sieht bei Kaufmann folgendermaßen aus: Die strafrechtlich relevante Schuld ist erst diejenige, die sich in einem hermeneutischen Verstehensprozess entwickelt; die konkrete Schuld wird erst in der Relation zwischen Schuld und Prävention. 176 Relation wiederum ist „das Mitkonstituiertsein eines Seienden durch seine Beziehung zu anderen Seienden“, Kaufmann, Theorie der Gerechtigkeit, S. 40; vgl. hierzu auch ausführlich ders., RTh 1986, 257 ff. 177 Siehe Kaufmann, Jura, 1986, 225, 230. 178 Kaufmann, a. a. O., S. 231. 179 Haft, Schulddialog, S. 83. 180 Haft, a. a. O.
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rechtsfeststellung auf der einen und der Schuldfeststellung auf der anderen Seite sei eine grundsätzlich andere, da sich im Unrechtsdialog wenig argumentative Gemeinsamkeiten finden könnten. Die Tat sei geschehen, sie werde beweismäßig erforscht und das generelle Unrechsturteil sei längst gefällt. Es sei verfehlt bei der Schuld in gleicher Weise wie beim Unrecht mit belastender, kontroverser Tendenz zu prozedieren, vielmehr müsse eine entlastende Ausrichtung den Schulddialog beherrschen181. Nach Haft geht es beim Schulddialog um das Aushandeln von Schuld im Einzelfall182. Der kommunikative Aspekt der Schuld betreffe die Analyse der Schuld als „Vorwerfbarkeit“ im Hinblick auf den geschehenden Akt des Vorwerfens183. Das bedeutet im Ergebnis, dass sich im Vorwerfen erst die Vorwerfbarkeit konkretisiert. Die Einsicht in die „schuldkonstituierende Notwendigkeit“ des Schulddialogs setzt Klarheit darüber voraus, „dass die Schuld nicht mit der Tat ein für allemal als unveränderliche Größe entstanden“, sondern dass Schuld vielmehr ein „wandelbarer Begriff“184 ist. Haft verfährt dabei insofern hermeneutisch, als er sein Alltagsverständnis von Schuld in Form eines Axioms an den Ursprung seines Schulddialogs setzt185, die strafrechtlich relevante Schuld konkretisiert sich jedoch erst im „Schulddialog“. Beteiligt am Schuldvorwurf sind „die Instanz, die den Schuldvorwurf erhebt“, und der „Täter, den das Schuldurteil erreichen soll“. Haft geht für seinen Schulddialog von der Prämisse aus, dass die Tat beweismäßig gesichert ist. Er greift mithin die Vorschläge zu einem Schuldinterlokut wieder auf. Frage muss nun aber sein, ob die Idee eines Schulddialogs notwendig an die beweismäßige Sicherung der Tatfeststellung gebunden ist – insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Prämisse auch in seinem eigenen System nicht konsequent gesetzt werden kann, denn, seiner Terminologie der Kommunikation entsprechend, soll die Tat zwar in einem „Unrechtsdialog“186 festgestellt werden. Es gehe aber um die „von der Person losgelöste Frage“, „ob ein Verhalten Unrecht ist“187. In der Sache handelt es sich hier also lediglich um die „beweismäßige“ Erforschung der „geschehenen Tat“188, und das dialogische Verfahren zu deren Feststellung verkommt zu einer leeren sprachlichen Hülle; übrig bleibt nur die monologische Struktur der Wahrheitssuche durch den Amtsermittlungsgrundsatz. In dieser Hinsicht macht Haft also wieder einen Schritt 181 182 183 184 185 186 187 188
Haft, a. a. O., S. 46 f. Haft, a. a. O., S. 27. Haft, a. a. O., S. 11. Haft, a. a. O., S. 30. Vgl. Haft, a. a. O., S. 19. Haft, a. a. O., S. 46. Haft, a. a. O., S. 46. So Haft selbst, a. a. O., S. 46.
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hinter Kaufmann zurück, der in Anlehnung an Engisch189 die Sachverhaltskonstruktion im Verfahren als Teil eines schöpferischen Aktes190 verstand. Gegenstand des Verfahrens ist eben kein substantiell gegebenes Unrecht, sondern der Verfahrensgegenstand konstituiert sich erst im Relationalen. Eine Art Schulddialog entwickelt auch Krauß 191, wenn er feststellt, dass Schuld nicht als eine „wie immer objektiv geartete“ verstanden werden müsse, sondern dass man „die Schuld, die der Täter am Ende hat, als das Ergebnis eines Verfahrens begreift, in dem der gesellschaftliche Bedarf an strafrechtlicher Lösung eines Konflikts erst artikuliert und bestimmt wird“. Dann seien die „Bedingungen des Schuldvorwurfs flexibel und eingebunden in einen Prozess, in dem das Strafbedürfnis der Gesellschaft durchaus zur Diskussion und am Ende zur Disposition gestellt werden kann“. Als weitere Spielart eines dialogischen Schuldverständnisses lässt sich auch der Ansatz Kindhäusers192 verstehen, der zwar keinen geglückten, wohl aber einen stattgefundenen Schulddialog voraussetzt. Von einem Schulddialog spricht auch Grasnick193, nach dessen Verständnis es eine ontologisch verstandene Tatschuld nicht geben kann. Eine solche werde vielmehr fingiert194.
189 Vgl. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 14 f., und den berühmten Ausdruck vom „Hin und Herwandern des Blickes“ zwischen Norm und Lebenssachverhalt“, S. 15; ähnlich auch Hruschka, Konstitution des Rechtsfalles, S. 55 f., nach dem „das Hin- und Herwandern des Blicks vornehmlich eine Fragebewegung“ darstellt (S. 56). 190 Zur Rechtsverwirklichung als „gestaltender Akt“ vgl. Kaufmann, RTh 17 (1986), 257, 264 ff.; gerade darin liegt die Bedeutung der philosophischen Hermeneutik, dass sie gezeigt hat, dass jeder Verstehensleistung auch ein „schöpferisches Moment“ immanent ist; vgl. Schroth, in: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 344, 348; zum „schöpferischen Akt der Tatfestsetzung (Sachverhaltentscheidung)“ auch Lampe, in: Festschrift für Pfeiffer, S. 353, 369 (Hervorhebung im Original). 191 Krauß, Schuld im Strafrecht, S. 16. 192 Kindhäuser, ZStW 107 (1997), S. 701, 732, der für die Schuldzurechnung als entscheidend erklärt, „dass der Täter als Teilnehmer eines Dialogs mit den entsprechend abgesicherten, diskursiven Rechten behandelt wird“. 193 Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache, S. 274: Ausgehend von der Unmöglichkeit, innerseelische Gegebenheiten (kein Zweifel könne daran bestehen, dass die Schuld eine „innerseelische Entität“ sei, S. 268) des anderen zu erkennen oder solche eigenen mit der Sprache zu beschreiben, will er die Schuldkategorie zwar keinesfalls eliminieren, aber doch grundsätzlich neu konzipieren – auf der Grundlage der phänomenologischen Philosophie. Schuld sei nicht nur kein Gegenstand richterlicher Erkenntnis, sondern sei als solche überhaupt nicht, vielmehr gebe es sie nur als Teil der Geschichte, in der und durch die der Angeklagte als Anderer begegnet; vgl. hierzu ausführlich Grasnick, das achte Kapitel: Die Schuld des Angeklagten als Teil seiner Geschichte oder: Der lange Weg von der Substanzontologie zur Geschichtenphilosophie, S. 136 ff., 180 ff. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass Grasnick zwar am Schuldprinzip festhält, die Schuld aber letztlich im Konsens der Zuschreibung (S. 275) erblickt und somit gerade den Inhalt der Schuld leugnet und sich an dem Punkt wie-
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Auf die Interaktion im Prozess stützt auch Neumann195 sein Schulddialogmodell. Allerdings kommt in Neumanns Konzeption dem Dialog keine schuldkonstituierende Eigenschaft zu. Die Regeln strafrechtlicher Verantwortlichkeit sind nach Neumann zwar dialogisch zu verstehen196. Aber nicht die Schuld selbst entsteht erst im Dialog, sondern nur der Prozess des strafrechtlichen Verantwortlich-Machens hat eine dialogische Struktur. „Die dialogische Struktur des Regelkomplexes bestimmt also nicht den Gehalt der Regel“.197 Dass z. B. einem Täter die Berufung auf eine arglistig herbeigeführte Voraussetzung eines Entschuldigungsgrundes verwehrt wird, ergibt sich nicht notwendig schon aus dem dialogischen Ansatz. Nur die Tatsache, dass ihm die Geltendmachung von Entschuldigungsgründen überhaupt unter Umständen versagt werden kann, folgt hiernach aus der dialogischen Struktur. Der entscheidende Unterschied in den schuldkonstituierenden Dialogmodellen auf der einen und Neumanns Schuldidee auf der anderen Seite liegt darin, dass Neumann gesellschaftliche Zurechnungskriterien voraussetzt, die für eine „gerechte“ strafrechtliche Zurechnung berücksichtigt werden müssen und die in diesen Zurechungskriterien liegende dialogische Struktur freilegen will. Ob Schuld vorliegt, entscheidet sich nach Regeln, die einer dialogischen Struktur folgen, in der ein Vorwurf erhoben und ggf. eine Verteidigung vorgebracht wird. Der Dialog begründet die Schuld nicht, sondern er legt sie nur offen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Tatschuld außer in Grasnicks Vorstellung einer „Lebens- und somit Täterschuld“198 und in Kindhäusers Modell einer materialen Schuld, die sich „auf die Konstituenten von Recht“199
der findet, den er den Vertretern der funktionalen, präventiven Schuldbestimmung vorgeworfen hat (S. 62 ff.). 194 Grasnick, a. a. O., S. 276 f. 195 Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden“, S. 277, der Strafprozess verdanke seine interaktionäre Struktur nicht seiner Eigenschaft als Prozess, sondern der Tatsache, dass ein Schuldvorwurf erhoben und Verantwortung verlangt wird. Demnach sei schon die Sache, um die es geht „dialogisch strukturiert“ und nicht erst das Verfahren. Auch im vorrechtlich sozialen Raum habe das Zur-Verantwortung-Ziehen eine interaktive Struktur. Daher seien im Strafverfahren nicht nur die Regeln, die die Form des Verantwortlichmachens festlegen, dialogisch strukturiert, sondern ebenso die Grundsätze, nach denen über die Verantwortlichkeit materiell entschieden wird. Neumann verwendet dieses Argument, um „sekundäre Zurechnungsregeln“ zu begründen, die unter Umständen die Berufung auf primäre Zurechnungsregeln der Schulddogmatik verhindern können (Beispiel: Ausschluss einer Berufung auf den entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) bei fahrlässiger Verursachung der Gefahrenlage). 196 Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden“, S. 279. 197 Neumann, a. a. O., S. 279 f. 198 Vgl. Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache, S. 277. 199 Kindhäuser, ZStW 107 (1995), 701, 725. Indem Schuld auf die „Konstituenten von Recht“ bezogen wird, ist sie nur noch ihrer Etikettierung nach eine „materiale“, nicht aber im Sinne einer ontologischen Schuldstruktur; so verneint Kindhäuser,
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bezieht, in den vorgestellten Dialogmodellen auf ein substanzontologisches (materielles) Fundament gestellt wird, das einmal im „Alltagsverständnis“ der Schuld und das andere mal in der Anerkennung „vorrechtlicher Zurechnungskriterien“ in Erscheinung tritt. Mit einer funktionalistischen, inhaltsleer gedachten Konzeption haben diese dialogischen Schuldmodelle nichts zu tun. Zwar wird in ihnen das Werden der Schuld in den Vordergrund gerückt, ohne dabei jedoch einen materiellen Kern der Schuld jemals ganz zu verdrängen200. Der Ansatz, Schuld im Dialog erst entstehen zu lassen, beinhaltet aber, ein konstitutives Schuldelement im Verfahren selbst zu suchen201. d) Ergebnis: Hermeneutische Schuldbegründung in prozessualer Kommunikation Als Ergebnis lässt sich zu diesem Zeitpunkt festhalten, dass die Schuldkategorie weder auf das Tadelselement noch auf ihre funktionale Zweckgerichtetheit reduziert werden kann. Ein modernes Strafrechtsverständnis, das den Rechtsgüterschutz als Ziel nie aus dem Auge verliert, das aber ebenso der Gefahr einer Instrumentalisierung des Straftäters im Dienste der Prävention bewusst begegnen will, muss vielmehr versuchen, die tadelnde und die funktionalistische Komponente des strafrechtlichen Schuldbegriffs zu vereinen.
a. a. O. auch explizit die Existenz „materialer Schuld“, wenn man sie auf „individuelle Vernunft“ beziehen wolle. 200 Besonders deutlich wird dies in der Äußerung Hafts, Der Schulddialog, S. 8, die beiden Schuldkonzepten nebeneinander Raum lässt: „Schuld ist nicht nur eine vom Täter im Moment der Tatbegehung geschaffene Realität, sondern auch eine Wirklichkeit, die in einem Dialog zwischen dem Täter und dem, der ihn wegen der Tat schuldig spricht, konstituiert wird.“ Der Schulddialog Hafts beschäftigt sich nur mit diesem letzteren „Prozess“ der Herstellung von Schuld; nicht ganz eindeutig ist in diesem Zusammenhang die Position Christmanns, der auf der einen Seite der „Idee der Gerechtigkeit“ jeden „ontologischen Status“ abspricht (S. 238), auf der anderen Seite aber für die „materielle Ausfüllung des Schuldgrundsatzes“ durch eine „objektive Wertordnung“ plädiert (S. 243). 201 Einen „Schulddialog“ nimmt auch Kunz, ZStW 98 (1986), 823, 834, an und hält ihn als Konfliktlösungsverfahren wie kein anderes dazu geeignet, die Chance einer einverständlichen Anerkennung des Schuldurteils durch den Verurteilten wie durch das Publikum anzubieten. In die gleiche Richtung geht die Argumentation von Mikinovic und Stangl, S. 38 f., indem sie den Angeklagten nicht als jemanden begreifen, der von einem „objektiven“ Standpunkt aus gesehen schuldig oder unschuldig ist, sondern als jemanden, dem im Zuge des Prozesses erst die Qualität des Normbrechers zugeschrieben wird. Bei dieser Interpretation gewinne die Interaktion im Prozess konstitutiven Charakter für die Abweichung; Herzog, Prävention des Unrechts oder Manifestation des Rechts, S. 130, entwirft „das rekonstruktive Konzept ,Schuld‘, in dem der „Vorwurf über die Ebene des kommunikativ-interaktiven Verhältnisses von Vorwurf und Verantwortung entwickelt“ wird (S. 134).
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Die Vorwerfbarkeit ist Konsequenz aus dem notwendigen Postulat der Freiheit, aus dem Rückgriff auf die „vorrechtlichen Zurechnungskriterien“, die, wenn auch nicht in concreto fassbar, so doch unbedingter Bestandteil unseres Vorverständnisses von „Schuld“ sind. Die Zweckgerichtetheit der Schuld ist notwendige Folgerung aus dem Zerfall des Schuldvergeltungsparadigmas und aus der Anerkennung eines Präventivstrafrechts bzw. aus der Nichterkennbarkeit oder deduktiv unmöglichen Herleitung einer absolut verstandenen Schuld. Vom materiellen Schuldbegriff bleibt in einem „modernen“ präventiven Strafrecht nur der Tadelscharakter und die strafbegrenzende Funktion. Der Tadelscharakter als Relikt absoluter Vergeltung kann keiner präventiven Theorie geopfert werden, weil nur in ihm der Täter als Person geachtet wird, die einer eigenen Selbstbestimmung fähig ist202. Von der Konzeption einer formellen Schuld bleibt der Gedanke, dass Schuldfeststellung immer auch eine „Zuschreibung“ ist. In einem strafrechtlich relevanten Sinn kann Schuld nicht nur aus sich selbst heraus entstehen, sondern sie muss von außen zugewiesen werden. Denn eine Schuldzuweisung im Recht verfolgt immer einen über sie selbst hinausweisenden Zweck. In einem hermeneutisch gedachten Schuldverständnis können, ja müssen sich diese beiden Aspekte verbinden, denn genau diese Verbindung ist Ziel und Wesen hermeneutischer Rechtsverwirklichung. Denn wenn die konkrete Schuld erst im kommunikativen Verstehensprozess hergestellt wird, dann gehen in diesen Prozess sowohl der Tadel als auch der Zweck der Schuldfeststellung ein. Beide sind für das hermeneutische Spannungsverhältnis des Individuellen zum Allgemeinen von entscheidender Bedeutung. Für den weiteren Gang der Untersuchung bleibt damit die Überzeugung, dass ein Vorverständnis von Schuld für jedes Verstehen von Schuld erforderlich ist (genau in diesem Vorverständnis knüpfen die hermeneutischen Theorien am materiellen Schuldbegriff der absoluten Straftheorien an), dass zudem strafrechtlich relevante Schuld einer „Konkretisierung im Verfahren“ bedarf: Schuld „ist“ nicht, Schuld „wird“ erst im Prozess203. Es ist ein unleugbarer Widerspruch, in der Schuld formelle und materielle Elemente gleichzeitig zu verbinden. Krauß 204 hat den aufgezeigten Widerspruch zu einem Grundsatz der gesamten Strafrechtswissenschaft erhoben und ihn mit ihren axiologischen Prämissen notwendig verbunden: „Der Widerspruch zwischen formeller (askriptiver) und materieller (deskriptiver) Schuld ist kein Einwand gegen das Prinzip, sondern beschreibt vielmehr das System selbst: Wenn das 202
Vgl. Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 250. In diesem Sinn und nicht nur in dem der „doppelspurigen Indizkonstruktion“ des BGH (grundlegend BGHSt 1, 105 ff.), kann der Einwand von Kruse, StraFo 2000, 146, 147, nicht greifen, dass nämlich für die Bestimmung der Schuld als Grundlage der Strafzumessung „prozessualem Verhalten keine Bedeutung zukommt“ – den er zudem unverständlicherweise als „allgemein anerkannt“ voraussetzt. 204 Krauß, Schuld im Strafrecht, S. 15. 203
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Strafrecht auf ein bestimmtes Menschenbild hin ausgerichtet ist, wenn in diesem Menschen freiheitliches Selbstverständnis und kausale Determination gegeneinander stehen und nur zusammen gedacht werden können, wenn demnach der verbrecherische Willensentschluss immer zugleich (!) Ausdruck einer sittlichen Fehlentscheidung und einer sozialen Zwangsläufigkeit ist, dann kann es nicht verwundern, dass auch in der Reflexion über Schuld und Strafe zugleich auf sich widersprechende sozialethische und gesellschaftliche Sachverhalte verwiesen wird.“ Es soll, entsprechend dem Ansatz dieser Arbeit, auch daran festgehalten werden, dass es sich um einen nicht aufzulösenden Widerspruch handelt. Es gilt vielmehr, sich so offen als nur möglich diesem Widerspruch zu stellen. Hier werden aber die Grundlagen dieser in der Schuldidee notwendig liegenden Antinomie nicht in den „sozialen Zwangsläufigkeiten“ gesehen, die durch die „Setzung“ der Willensfreiheit, sofern sie nicht innerhalb des dogmatischen Systems Beachtung finden, gerade ausgeblendet werden. Nach dem dieser Untersuchung zu Grunde liegenden Verständnis liegt der Widerspruch vielmehr in dem Nebeneinander des Tadelscharakters und der Zweckgerichtetheit der Schuld. Besonders deutlich wird dies, wenn man bedenkt, dass auch in der als rein funktional deklarierten Schuldkategorie in Jakobs Konzept entscheidend nicht die soziale Zwangsläufigkeit, sondern die Zuständigkeitsverteilung des abweichenden Verhaltens ist. Denn als „Kern der zweckbestimmt verstandenen Schuld „enthüllt sich die Verteilung der Verantwortungsbereiche zwischen (Sub-) Systemen“205. Es soll hier der so weit gehende Schluss gezogen werden, dass die Schuld, die in der „bei Tatbegehung geschaffenen Realität“ entsteht, nicht die strafrechtlich relevante Schuld sein kann, da im strafrechtlichen Prozess die Schuld nicht gefunden, sondern diese im Prozess erst entstehen kann. Die Schuld in der Realität der Tatbegehung kann somit allenfalls einen moralischen Vorwurf begründen und einem Vorverständnis von Schuld entsprechen. Die für die strafrechtliche Schuld relevante Realität wird jedoch erst im Prozess geschaffen. Also kann auch die strafrechtlich relevante Schuld nur eine erst im Prozess werdende sein. Differenziert man den Schuldvorwurf in Urheberschuld und Zurechnungsschuld in der Form, dass die Urheberschuld die moralische Grundlage der Strafschuld ist, während die Zurechnungsschuld dadurch entsteht, dass das Unrecht zugerechnet wird206, dann bleibt im konsensualen Verfahren nur die Zurech205
Jakobs, Schuld und Prävention, S. 29. Vgl. Lampe, Strafphilosophie S. 234 ff., der allerdings davon ausgeht, dass die Zurechungsschuld nur auf der Grundlage der Urheberschuld entstehen könne. Gerade dieser Zusammenhang soll hier aber in Frage gestellt werden und wird von Lampe selbst relativiert insofern, als der Richter – fehlt ihm die Überzeugung – sich auch auf die rechtliche Schuldzuschreibung zurückziehen können soll, die wiederum für die Auferlegung der Strafe ausreichen soll, S. 241 f. m. w. N. 206
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nungsschuld. Die Urheberschuld als solche ist noch keine rechtliche Schuld, sie ist nur in foro interno vor dem eigenen Gewissen zu vertreten207. Es ist hier aber nun zu fragen, ob die Zurechnungsschuld allein, ohne den Nachweis der Urheberschuld, die Sanktion möglicherweise dann begründen kann, wenn die Nichtnachweislichkeit der Urheberschuld durch die freiverantwortliche Übernahme der Zurechnungsschuld ersetzt wird. Kann also der oben dargelegte Widerspruch so auf die Spitze getrieben werden, dass auch eine nur „zugeschriebene“ Schuld mit unserem Vorverständnis von Schuld in Einklang zu bringen ist? These dieser Arbeit ist, dass dies möglich ist, dass also das prozessuale Entstehen von strafrechtlicher Schuld auch ohne den Nachweis der Urheberschuld denkbar ist. Voraussetzung für eine solche Substituierung der Urheberschuld durch eine Übernahme muss aber sein, dass die Übernahme der Schuld im Verfahren eigenverantwortlich und frei von Zwang oder Druck geschieht. Eine Schuldfeststellung erfordert in jedem Fall eine freiverantwortliche Entscheidung auf Seiten des zur Verantwortung Gezogenen. Das folgt aus dem Postulat der Willensfreiheit: entweder muss dieser freie Willensentschluss in der konkreten Tatbegehung, oder aber in der subjektiven Verantwortungsübernahme liegen. Zudem kann die Feststellung der Zurechnungsschuld auch nur dann von der Ermittlung des Sachverhaltes absehen, wenn die Kommunikationssituation des Schulddialogs eine solche entbehrlich macht. Hierfür ist entscheidend, wer am Dialog beteiligt ist. Da das Verbrechen „Rechtsgut- und Pflichtverletzung in einem“208 ist, und strafrechtliche Schuld sich nicht auf die subjektive Beziehung des Täters zur Tat beschränkt, sondern einen Erfolg, eine Rechtsgutsverletzung voraussetzt, muss gegebenfalls auch das Opfer der Verletzung am Dialog beteiligt werden, da auch die Interessen des Opfers Eingang finden müssen in die Rechtsfrieden schaffende Aufgabe des Strafrechts. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Der hier zu entwickelnde Ansatz einer im Verfahren sich konkretisierenden Schuld stellt die Verpflichtung auf die materielle Wahrheit als „einzigem Weg“ zur Konkretisierung der Schuld in Frage. Damit wird gefragt, ob der Tadel, die 207 Siehe Lampe, a. a. O., S. 235; und selbst dort ist die Urheberschuld nicht wirklich fassbar. Selbst Kant hat trotz seines absoluten Vergeltungsgedankens die Unergründlichkeit dieser moralischen Schuld klar benannt, Kritik der reinen Vernunft, S. 373 Anm.*): „Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem verschuldeten Fehler des Temperaments oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.“ 208 Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, § 1 III 2.
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Vorwerfbarkeit unbedingt einer Wahrheitsfeststellung bedarf oder ob Schuld sich auch anders als durch Wahrheitsermittlung „konkretisieren“ kann. These ist also, dass der Tadelscharakter auch aus einer freiverantwortlichen Übernahme resultieren kann. Übernimmt jemand freiverantwortlich die Schuld, so kann ihm aufgrund dieser Übernahme ein Vorwurf gemacht werden. Das ist auch dem Alltagsverständnis von Schuld nicht vollkommen fremd. Eine freiverantwortliche Schuldübernahme kann auch in einem nicht rechtlichen Kontext durchaus Tadel und Vorwurf rechtfertigen und friedenstiftend wirken. Es soll nicht verhehlt werden, dass an diesem Punkt das „Vorverständnis“ von Schuld strapaziert wird, zumal dem Schuldprinzip in der Regel straflimitierende Funktion zukommt, was der Akzeptanz einer Substitution des Nachweises der Urheberschuld möglicherweise hinderlich sein kann. Denn, wenn die Urheberschuld nicht nachgewiesen zu werden braucht, muss man ehrlicherweise zugestehen, dass Schuld unter Umständen durch Übernahme auch da begründet werden kann, wo der Schuldtatbestand in der angeklagten Form nicht gegeben ist. Und ist die freiverantwortliche Schuldübernahme zu verstehen als ein Andershandelnkönnen, das, wenn es dem „klassischen“ Schuldverständnis auch nicht entspricht, ein „modernes“ Vorverständnis von Schuld doch zumindest nicht untergräbt. Die strafrechtliche Schuld konkretisiert sich dementsprechend, wie Kaufmann es dargelegt hat, in der hermeneutisch fundierten Relation zwischen Schuld und Prävention. Enscheidend in dieser Konskretisierung ist aber auch der dialogische Gehalt einer jeden Schuldzuweisung, sodass die Kommunikationssituation die Relation zwischen Schuld und Prävention wesentlich prägt. Das Schuldprinzip kann sich demzufolge dem Wandel der Gerechtigkeitsvorstellung vom Vergeltungsgedanken hin zu einer materiellen Verfahrensgerechtigkeit, die die Zweckrationalität mit dem Tadelscharakter des Strafrechts verbindet, durchaus öffnen. Denn im Wesen strafrechtlich relevanter209 Schuld ist angelegt, dass sie erst im Verfahren entsteht und nicht von der Aufgabe des 209 Diese Trennung von „strafrechtlich relevanter Schuld“ und einem „Schuldgehalt“ auf der „Objektebene“ nimmt Kaufmann, in Jura 1986, 225, 230, vor. Die strafrechtlich relevante Schuld ist danach erst diejenige, die sich in einem hermeneutischen Verstehensprozess entwickelt; die konkrete Schuld wird erst in der Relation zwischen Schuld und Prävention. Dass die konkrete Schuld aus dem Verhältnis von Schuld und Prävention in einem hermeneutischen Verstehenszirkel entstehen kann, setzt ein Vorverständnis der Schuld voraus, „dieser Zirkel gehört gleichsam zur Natur unseres Denkens“, vgl. Kaufmann, Beiträge zur juristischen Hermeneutik, S. 72. Um das Prozesshafte des hermeneutischen Zirkels gegen ein nicht fortschreitendes sich Drehen in einem vitiösen Zirkel abzugrenzen, hat Hassemer den Begriff der hermeneutischen „Spirale“ geprägt, Tatbestand und Typus, S. 107; vgl. zum „spiralförmig“ verlaufenden hermeneutischen Prozess auch ders., in: Freiheitliches Strafrecht, S. 17, 30. Da es um ein „Besser-Verstehen“ (Hassemer, a. a. O., S. 106) geht, kann nicht der die Erkenntnis nicht erweiternde Zirkel das richtige Bild sein. Zwar bezieht Hassemer im konkreten Fall die „hermeneutische Spirale“ nur auf den „Auslegungsprozess“ in Bezug auf Tatbestand und Sachverhalt. Da aber Recht sich nicht nur in der Normauslegung nach hermeneutischem Muster verwirklicht, ist das Bild der „Spirale“ auf wei-
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Strafrechts, Rechtsfrieden in einem Interessenausgleich zu schaffen, gelöst werden kann. 2. Von der Suche nach materieller Wahrheit über die Anerkennung formeller Wahrheit zur Finalstruktur der Wahrheit im Strafprozess Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Wahrheitsermittlung das aus dem Rechtstaatsprinzip210 und aus dem Schuldprinzip211 sich ergebende verfassungsrechtlich vorgegebene beherrschende Prinzip des Strafverfahrens212. Wie aber die Anforderungen an die Wahrheitspflicht auszusehen haben, dafür hat die verfahrensabhängige Konkretisierung der Schuld entscheidende Bedeutung. Auch hier ist wieder auf die reziproke Abhängigkeit von Wahrheitsbegriff und Verfahrensziel zu verweisen, denn die Wahrheit ist nicht letztes Ziel des Verfahrens. Was aber letztes Ziel des Verfahrens ist, hängt wiederum davon ab, ob es ein Vertrauen in eine absolute „Wahrheit“ geben kann oder nicht213. Nach dem hier vertretenen Verständnis eines gerechten Urteils, das sich vom Gedanken reiner Schuldvergeltung gelöst hat, muss sich also auch die Wahrheit an dem Verfahrensziel, Rechtsfrieden zu schaffen, ausrichten. Es ist dargelegt worden, dass auch die Zurechnungsschuld, die sich in einem hermeneutischen Verstehensprozess konkretisiert, dann für eine Sanktionierung der Tat ausreichen kann, wenn die Nichtnachweisbarkeit der Urheberschuld durch die freie Verantwortungsübernahme kompensiert wird. Die Strafe legitimiert sich dann über diese freiverantwortliche Schuldübernahme, in der strafrechtlich relevante Schuld entsteht. Bleibt also zu fragen, wie es sich mit dem Postulat verhält, dass die „Ermittlung des wahren Sachverhalts“ zu der „notwendigen Grundlage eines gerechten Urteils“ erklärt wird214. Wenn immer wietere Rechtsverwirklichungsprozesse übertragbar, so auch auf die Schuldkonkretisierung im Verfahren. 210 So etwa BVerfGE 32, 373, 381; 33, 367, 383; 36, 174, 186; 47, 239, 248. 211 BVerfGE 57, 250, 275; vgl. BVerfG NStZ 187, 419, im Zusammenhang mit der Absprachenproblematik. 212 Löwe-Rosenberg/Rieß, Einl. G 42.; vgl. auch BVerfGE 33, 367, 383; 38, 105, 115, wo explizit betont wird, dass das öffentliche Interesse an einer möglichst vollständigen Sachaufklärung zu den Bedürfnissen einer gerechten Entscheidung gehöre. 213 In diesem Sinne auch Müller-Dietz, Zeitschrift für evangelische Ethik 1971 257, 264: „Teleologik und Funktionalität des Wahrheitsbegriffes lassen sich nur vom Endzweck des Verfahrens her begreifen. Der Wahrheitsbegriff des Strafverfahrens wird damit durch das Prozessziel bestimmt“. Hetzer, Wahrheitsfindung im Strafprozess, S. 25 f., der darauf hinweist, dass „jeder Akt der Wahrheitserforschung an dem Handlungsziel des Strafprozesses orientiert ist, Wahrheitsbegriff und Wahrheitserforschung also durch Prozessziele beeinflusst werden“.
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der betont wird, dass die Wahrheit zu einem gerechten Strafurteil gehört, dann ist damit in der Regel und nach dem klassischen Prozessverständnis der StPO die materielle Wahrheit gemeint. Ist das Prinzip der materiellen Wahrheit aber unverfügbar? Auch in der Herleitung des Verfassungsgerichts besteht eine direkte Verbindung zwischen Wahrheitspflicht und Schuldfeststellung, denn Wahrheit wird insoweit gefordert, als nur sie eine Schuldfeststellung ermöglichen soll215. Für ein „gerechtes“ Urteil braucht es also diejenige Wahrheit, die für die Feststellung der Schuld erforderlich ist. Die beiden „Fundamentalbeziehungen“ von Wahrheit bestehen zur Gerechtigkeit und Wirklichkeit216. Wahr soll nur das sein, was der Wirklichkeit entspricht, und gerecht soll ein Urteil nur sein können, das auf Wahrheit beruht. Was so einleuchtend und, gemessen an der „traditionellen“ Vorstellung eines gerechten Strafprozesses auch im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nahezu selbstverständlich klingt, eröffnet unter einem kritischem Blick auf epistemologische Grenzen im Allgemeinen und prozessuale Sachverhaltsfeststellung im Besonderen zahlreiche Fragen. a) Wahrheit und Wirklichkeit Wahrheitsfindung im Strafprozess im „traditionellen Sinn“ bedeutet, im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung „Wirklichkeitserkenntnis“217 zu betreiben. Zwar beginnt dieser Konsens zu bröckeln, aber noch gilt wohl die erstrebte Wahrheit des Strafprozesses als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Theoretisch wird also noch die Erkenntnis der Wirklichkeit zum Ziel gemacht, in der Praxis aber ist diese Aufgabe weitgehend ersetzt worden. Zum Teil wird offen zugestanden, dass die Absprachenpraxis den materiellen Wahrheitsbegriff bereits durch einen formellen ersetzt habe218, da die informelle Ver214
BVerfGE 63, 45, 61; vgl. BVerfGE 57, 250, 275. Vgl. BVerGE 57, 250, 275, die dem Gericht aufgetragene Erforschung der Wahrheit ist im Hinblick auf das Schuldprinzip das zentrale Anliegen des Strafprozesses; vgl. BVerfG NStZ 1987, 419, im Zusammenhang mit der Absprachenproblematik. 216 Volk, in: Festschrift für Salger, S. 412. 217 Spendel, JuS 1964, 465, 466; vgl. zur Verpflichtung auf die Wirklichkeit auch Peters, Strafprozeß, S. 287: „Die Wahrheitserforschungspflicht birgt die Verpflichtung zur eindeutigen Sachverhaltsklärung in sich. Nur ein Sachverhalt kann dem wirklichen Geschehen entsprechen.“ (Hervorhebungen im Original); KK-Herdegen, § 244 Rn. 18, spricht unter Rückgriff auf Lobe von der „Gewinnung eines ,der vergangenen Wirklichkeit adaequaten Vorstellungsinhalts‘“; vgl. auch Stamp, S. 281. Sie spricht von der „grundsätzliche(n) Orientierung an der Erforschung des wirklichen Geschehens“. 218 So bspw. Sinner, Der Vertragsgedanke im Strafprozeß, S. 276, der davon spricht, dass die Suche nach der materiellen Wahrheit sich in der Vertragsorientierung zugunsten einer formellen Wahrheit auflöse“. 215
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ständigung ein Verhandeln über Tatsachen und Rechtsfolgen gestatte oder sogar verlange, der traditionelle Strafprozess hingegen nach der Wahrheit als unverfügbarer Wirklichkeit zu suchen habe. Wenn aber die Formel, der Strafprozess habe nach der einen Wirklichkeit zu suchen, mehr als eine Tautologie sein will (indem sie erkennt, dass Wahrheit und Wirklichkeit nicht in einem Identitätsverhältnis zueinander stehen), stellt sich die anschließende Frage nach dem Verhältnis zwischen Wahrheit und Wirklichkeit219. Worin also liegt die Differenz220? Ob nämlich die Gleichsetzung von Wahrheit mit „unverfügbarer Wirklichkeit“ als unumstößliches Postulat für den Strafprozess Bestand haben kann oder soll, wird nun Gegenstand der Untersuchung sein. Es ist nicht Aufgabe dieser Arbeit, über das „Wesen“ der Wahrheit zu philosophieren. Die Pilatusfrage steht zwar am Beginn jeder Überlegung zum strafprozessualen Wahrheitsbegriff, kann hier aber natürlich nicht bis in ihre Tiefen diskutiert, sondern nur in ihrer grundlegenden Bedeutung vorangestellt werden, da das Wahrheitsproblem für den Strafprozess ein unvermeidbares ist. Denn die Bedeutung dieser ungelösten Frage macht deutlich, dass die Vorstellung, auf der die Strafrechtswissenschaft wohl in weiten Teilen noch immer ruht, auf wackligen Füßen steht. Dass ein „intuitives Gerechtigkeitsempfinden“ in einem strafrechtlichen Kontext nur dort befriedigt werden könne, wo die im Prozess „gefundene“ Wahrheit der Wirklichkeit entspricht, ist eine Überzeugung, die sich in einem Gerechtigkeitsverständnis, in dem das Verfahren selbst konstitutive Bedeutung erlangt, immer weniger aufrecht erhalten lässt. Wahrheit ist eine Eigenschaft, Wirklichkeit ein Zustand. Dieser grundsätzliche Unterschied zwischen der Wahrheit von Tatsachenaussagen und der Wirklichkeit eines Sachverhalts kommt darin zum Ausdruck, dass Wahrheit ein Ziel des Verfahrens ist und somit einen Wert darstellt, dem der Prozess entgegen zu streben hat. Die Wirklichkeit des Sachverhalts hingegen ist unabhängig vom 219 Anders Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren, S. 21 ff., die die Probleme der Wissenschaftstheorie, die auf eine Nichterkennbarkeit der Wahrheit hinauslaufen, für prozessuale Sachverhaltsfeststellungen „irrelevant“ erklärt. Bezugspunkte der Wahrheit im Sinne eines strafprozessualen Wahrheitsbegriffs könnten ohnehin nur „sprachliche Gebilde“ und Konventionen, nicht aber „reale Sachverhalte im ontologischen Sinn“ (S. 22) sein. Dieses Postulat beendet aber die Diskussion um Wahrheit im Strafverfahren dort, wo die eigentliche Auseinandersetzung um materielle“ und „formelle“ Wahrheit ansetzt, denn wenn Bezugspunkt der Wahrheit nur sprachliche Konventionen sein können, dann ist es bereits im Ansatz verfehlt anzunehmen, dass ein „außerhalb des konkreten Verfahrens liegender Maßstab“ (S. 184) existiert, an dem der Wahrheitsanspruch der getroffenen Feststellungen gemessen werden kann. Unter der erkenntnistheoretischen Prämisse, dass Bezugspunkt der Wahrheit nur sprachliche Konvention sein kann, gibt es keinen Raum für außerprozessuale Wahrheitsmaßstäbe. 220 Zu der Frage, was logisch gesehen „Feststellung des wirklichen Sachverhalts“ heißt, Engisch, Logische Studien, S. 39.
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Verfahren. Die Wirklichkeit liegt im wertfreien Sein. Die Wahrheit hingegen gehört nicht der Seins-, sondern der Wertsphäre an, sie „ist“ nicht, sie „gilt“221. Wahrheit ist ein für das richtige Recht wesentlicher Wert.222 Die Wahrheit des Strafverfahrens ist also das Ziel einer strebenden Suche; nach Wahrheit wird gestrebt wie nach der Gerechtigkeit. Diesen Zusammenhang formuliert Hassemer sehr anschaulich, indem er sagt, dass so wie die Gerechtigkeit das Ethos der Normanwendung sei, sei die Wahrheit das Ethos der Tatsachenfeststellung223. Wenn Wahrheit der Wertsphäre, Wirklichkeit der Seinssphäre zugeordnet ist und diese somit dem Wesen nach verschieden sind, dann ist fraglich, wie man sich die Beziehung zwischen Wahrheit und Wirklichkeit vorzustellen hat und welche Bedeutung diese Beziehung für den Strafprozess erlangt. aa) Die materielle Wahrheit – Übereinstimmung der Vorstellung mit der Wirklichkeit Die Wahrheit im Strafverfahren wird „traditionell“ verstanden als die Übereinstimmung zwischen der Überzeugung des Gerichts und den dem Prozess zugrunde liegenden Tatsachen224. Eine so verstandene gesetzliche Wahrheitsverpflichtung in § 244 II StPO ist der auf Aristoteles zurückgehenden Definition der Scholastik verpflichtet, nach der Wahrheit die „adaequatio rei et intellectus“225, die Übereinstimmung des Denkens mit seinem Gegenstand ist. Dieser Ansatz bildet als sog. Korrespondenztheorie den Ausgangspunkt materieller Wahrheitstheorien und entspricht wohl weitgehend auch einem intuitiven Alltagsverständnis von Wahrheit. Materielle Wahrheit ist also dann erreicht, wenn die Vorstellung von den Tatsachen der Wirklichkeit entspricht. Das Wesen des materiellen Wahrheitsbegriffes liegt dann genau in diesem Streben nach Annäherung von subjektiver Vorstellung und objektivem Sein. Die eingängige adaequatio-Formel eines materiel221
Spendel, JuS 1964, 465. Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, S. 271. 223 Hassemer, KritV 1990, 268; wohl angemerkt sei jedoch, dass Hassemer, die Wahrheitssuche im Strafverfahren nicht auf die „naive“ Wirklichkeit des „tatsächlich Geschehenen“ gerichtet wissen will, sondern sie sowohl erkenntnistheoretisch als auch verfassungs- und verfahrensrechtlich einschränkt, S. 269 f., und so zur „forensischen Wahrheit“ gelangt, die das Gericht herauszufinden habe, vgl. Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 153; Kennzeichen der „forensischen Wahrheit“ wird die „formalisierte Wahrheitssuche“ (S. 154). 224 Vgl. Paulus, in: Festschrift für Spendel, S. 687, 688; ebenso KK-Pfeiffer, Einl. Rn. 15; Löwe-Rosenberg/Gollwitzer, § 244 Rn. 46. 225 So eine bei Thomas von Aquin wiedergegebene Definition, Von der Wahrheit, De Veritate, Quaestio I, 1. Artikel, S. 8 f. 222
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len Wahrheitsverständnisses muss aber spätestens dann brüchig werden, wenn keine Klarheit mehr darüber besteht, was nun eigentlich die Wirklichkeit ist, der sich die Wahrheit im Verfahren zu nähern hat226. Spätestens seit Kants Erkenntniskritik bestehen schwerwiegende Zweifel an der Vorstellung der „adaequatio“ als objektivem Wahrheitskriterium. Es kann nach der „Kopernikanischen Wende“ keine vollständige Übereinstimmung der Vorstellung mit der Realität geben, da es keine erkennbare Realität unabhängig von sinnlicher Wahrnehmung gibt, was wiederum bedeutet, dass eine allgemeingültige, unbedingte, außerprozessuale Wirklichkeit vom Erkennenden als Wahrnehmendem nicht erkannt werden kann. Allerdings sagt der Kantsche Kritizismus nur etwas über die Unerreichbarkeit allgemeingültiger Erkenntnis, leugnet aber die Existenz eines an sich seienden, von der subjektiven Wahrnehmung unabhängigen Sachverhalts nicht; der transzendentale Kritizismus Kants ist gerade die Ablehnung sowohl des Dogmatismus als auch des Skeptizismus und stellt so einen dritten Weg dar227. Was Kant leugnet, ist die Erkennbarkeit einer materiellen Wahrheit, nicht aber die Existenz einer vom Erkennen unabhängigen Wirklichkeit, die bei Kant das „Ding an sich“ ist228. Übertragen auf das strafprozessuale Prinzip der materiellen Wahrheit bedeutet das, dass sich die gesetzliche Wahrheitspflicht in der Interpretation einer Pflicht zur Aufklärung der „materiellen Wahrheit“ mit dem grundlegenden Ein226 Grasnick, in Festschrift für Meyer-Goßner, 207, 208, geht so weit, dass er der Norm des § 244 Abs. 2 schlicht ihre Falschheit attestiert, da Wahrheit bestenfalls als Attribut für Aussagen herhalten könne, wenn es dagegen „etwas“ zu erforschen gäbe, so könne es sich hierbei nur um die Wirklichkeit handeln; im Folgenden erklärt er aber, jedes Vorhaben einer „Rekonstruktion“ der Vergangenheit sei zum Scheitern verurteilt, und geht von der „Konstruktion“ als einzig Möglichem aus. 227 Vgl. Baumgartner, Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S. 21; Müller-Tuckfeld, Wahrheitspolitik, in: Konstruktion der Wirklichkeit durch Kriminalität und Strafe, S. 458 465, Fn. 1, weist aber darauf hin, dass Kant andererseits auch von radikalen Konstruktivisten (unter Rückgriff auf Glaserfeld, in: Die erfundene Wirklichkeit, S. 16 ff.) als die zentrale philosophische Gestalt genannt wird und in dieser Lesart in Kants Philosophie auch die Existenz eines Dings an sich geleugnet wird. 228 So heißt es in der Vorrede zur 2. Aufl. der Kritik der reinen Vernunft: „Daß Raum und Zeit nur Formen der sinnlichen Anschauung, also nur Bedingungen der Existenz der Dinge als Erscheinungen sind, dass wir ferner keine Verstandesbegriffe, mithin auch gar keine Elemente zur Erkenntnis der Dinge haben, als so fern diesen Begriffen correspondierende Anschauung gegeben werden kann, folglich wir von keinem Gegenstande als Ding an sich selbst, sondern nur so fern es Objekt der sinnlichen Anschauung ist, als Erscheinung Erkenntniß haben können, wird im analytischen Theile der Kritik bewiesen; woraus denn freilich die Einschränkung aller nur möglichen spekulativen Erkenntniß der Vernunft auf bloße Gegenstände der Erfahrung folgt. Gleichwohl wird, welches wohl gemerkt werden muss, doch dabei immer vorbehalten, dass wir eben dieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können. Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgern, daß Erscheinung ohne etwas wäre, das da erscheint“, Abt. 1 Bd. III, S. 16 f.
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wand auseinandersetzen muss, dass mit der erkenntnistheoretisch begründeten Einsicht in die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis im Allgemeinen, die notwendigerweise die Wirklichkeit auf das Wahrnehmbare bezieht und somit subjektbezogen konzipiert ist, auch die Verpflichtung auf die materielle Wahrheit kein real erreichbares Ziel des Verfahrens mehr darstellen kann. Das Prinzip der materiellen Wahrheit setzt somit einen subjektunabhängigen Sachverhalt voraus, was allerdings auch unter Zugrundelegung erkenntnistheoretischer Relativierung noch möglich ist. Denn die Unerkennbarkeit eines objektiv Gegebenen bedeutet noch nicht, dass etwas Objektives, das Ding an sich, nicht sein kann229. Ob dieser vom Gericht theoretisch herausgefunden werden kann und inwieweit dieser überhaupt erkennbar ist, kann innerhalb der unterschiedlichen Positionen eines materiellen Wahrheitsbegriffes durchaus variieren. So kann „objektive Wahrheit“ als „vollständige Einsicht in vergangenes und gegenwärtiges Geschehen“ verstanden und somit als Gegenstand von Fragen und also auch als mögliches Ziel des Strafverfahrens gedacht werden230. Ebenso sehr bewegt sich aber auch noch die Auffassung auf dem Boden des materiellen Wahrheitsprinzips, die die Pflicht statuiert, nach der Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu suchen, auch wenn diese niemals erfasst werden könne231. Je größer die Schwierigkeiten und Grenzen der Erkennbarkeit des objektiven Sachverhaltes angesetzt werden, umso mehr tritt in der Suche nach der Wahrheit das Streben nach etwas Unerreichbaren in den Vordergrund. Solange jedoch ein objektiv Gegebenes vorausgesetzt wird, ob es nun erkennbar ist oder nicht, kann zumindest vom erstrebenswerten Ziel der Wahrheit gesprochen werden. Wenn das allgemeine Ziel der materiellen Wahrheitsfindung praktisch unerreichbar ist, so werden an den Richter keine realistischen, sondern ideologische Entscheidungsanforderungen gestellt232. Aber auch diese ideologischen 229 Diese Voraussetzung eines objektiv Gegebenen rügt Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, S. 133, als den vergeblichen Versuch, „aus dem sprachlogischen Bereich auszubrechen, innerhalb dessen der Geltungsanspruch von Sprechakten allein geklärt werden kann“; wirkliche Gegenstände sind nur „Erfahrungsgegenstände“. 230 Krauß, in: Festschrift für Schaffstein, S. 411, 412; zustimmend auch Hetzer, Wahrheitsfindung im Strafprozess, S. 27. 231 Vgl. Gössel, Ermittlung oder Herstellung von Wahrheit im Strafprozess, S. 20. So geht auch Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 336, in seiner „Konvergenztheorie“ davon aus, dass Erkenntnis immer in doppelter Hinsicht begrenzt sei, weil inadäquat und unvollkommen. Vgl. zur Unerkennbarkeit auch Gallandi, NStZ 1987, 420, wonach man der Aufklärungspflicht die aus „vernünftiger Bescheidenheit“ erwachsene Erkenntnis entgegenhalten müsse, dass „angesichts der allen bekannten Beweismittel letztlich doch nur eine prozessuale Wahrheit Ergebnis der Hauptverhandlung sein kann, nicht aber eine Erfassung des wirklichen Geschehens.“ Angemerkt sei wiederum, dass diese Auffassung nicht dem Prinzip der materiellen Wahrheit als Ziel des Verfahrens widerspricht.
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Anforderungen sind dann dem – wenn auch unerreichbaren – Ziel der materiellen Wahrheit verpflichtet. Die objektive Wahrheit als Ziel, dem sich der Prozess nur annähert, ohne es je zu erreichen, ist zumindest theoretisch denkbar233, was bedeutet, dass auch nach der erkenntnistheoretischen Wende durch Kant die materielle Wahrheit als Ziel nicht schon denknotwendig aufgegeben werden muss. Die Unerreichbarkeit eines Zieles stellt für sich genommen noch nicht notwendig das Ziel als solches in Frage. Der Begriff der materiellen Wahrheit verliert auch nicht dadurch an Konturen, dass man einwendet, Ziel des Verfahrens sei ohnehin nur eine „forensische Wahrheit“234, da die Wahrheitsfindung im Strafprozess im Interesse des Beschuldigten beschränkt werden müsse, es gelte eben nicht: Wahrheit um jeden Preis. Dass die Wahrheitssuche mit anderen rechtsstaatlichen Belangen kollidieren kann, sagt noch nichts darüber aus, ob die materielle Wahrheit als grundsätzliches Ziel des Verfahrens Bestand haben kann235. Dass ein Ziel um eines anderen Zieles willen eingeschränkt werden muss, diskreditiert nicht das Ziel als solches, sondern entspricht einem rechtsstaatlichen Verständnis eines verhältnismäßigen Rechtsgüterschutz. Die „forensische Wahrheit“ hat damit im Ergebnis nichts mit einem theoretischen Wahrheitsanspruch gemein, sondern ist vielmehr das Ergebnis einer praktischen Konkordanz im Strafverfahren. Materielle Wahrheit ist mithin ein Wert, der eine objektive Wirklichkeit voraussetzt und in der Übereinstimmung der Vorstellung mit dieser Realität das – wenn auch unerreichbare – Ziel sieht, das dem Streben nach Gerechtigkeit im Prozess eine Richtung verleiht. Auch die „forensische Wahrheit“236, als rechtsstaatlich gebotene, gerechte Ausprägung eines strafprozessualen Wahrheitsbe-
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Schünemann, in: Festschrift für Gerd Pfeiffer, S. 461, 475. Zum Gedanken der möglichst weitgehenden Annäherung an die materielle Wahrheit als Streben des Strafprozesses vgl. auch Schlüchter, Zur Relativierung der gesetzlichen Aufklärungspflicht durch Verständigung im Strafverfahren, in: Festschrift für Spendel, S. 737 ff. Trüg, Lösungskonvergenzen trotz Systemdivergenzen im deutschen und US-amerikanischen Strafverfahren, S. 62, spricht daher davon, dass „der materielle Wahrheitsbegriff ,überwiegend nur als regulativer Grundsatz‘ verstanden wird“ (Hervorhebung im Original). 234 So Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 153. 235 So auch Neumann, in: Jenseits des Funktionalismus, S. 73, 76, und Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren, S. 29. 236 Im Sinne Hassemers, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S 153. Auch die „prozessuale“ Wahrheit bei Paulus, in: Festschrift für Spendel, S. 687 ff., steht demzufolge noch auf dem Boden eines materiellen Wahrheitsverständnisses, weil der Prozess auf die „ontologische Wirklichkeit“ (S. 697) ausgerichtet bleibt, auch wenn er sie nicht schon erkenntnistheoretisch nicht erreichen kann und rechtstaatlich nicht erreichen will. 233
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griffes baut auf dem materiellen Wahrheitsbegriff auf, weil die Richtung des Prozesses weiterhin auf die ergebnisrichtige Entscheidung gerichtet ist. bb) Die formelle Wahrheit – Konstruktion der Wirklichkeit Den materiellen Wahrheitsbegriff verlässt hingegen die skeptizistische Position, die die Möglichkeit leugnet, eine objektive, vom erkennenden Subjekt unabhängige und allgemeingültige Wahrheit gewinnen zu können, weil es eine subjektunabhängige Wirklichkeit an sich schon nicht geben könne237. Eine radikale Intersubjektivitätstheorie der Wahrheit darf konsequenterweise nicht auf einen objektiv seienden Sachverhalt rekurrieren und muss überhaupt jede substanzontologische Dimension der Wirklichkeit leugnen238. Die formelle Wahr-
237 So Grasnick, in: 140 Jahre Goldtammers Archiv für Strafrecht, 1993, S. 55, 69, der davon ausgeht, dass „die Wirklichkeit, um die es hier angeblich geht, das historische Ereignis also, gar nicht ,da ist‘ und nie da sein kann“; für ein konstruktivistisches Verständnis der Wirklichkeit in dieser radikal konsequenten Form siehe Luhmann, in: Soziale Systeme, S. 10, der die „Prämisse einer gemeinsamen Welt“ ersetzt „durch eine Theorie der Beobachtung beobachtender Systeme“; ders., Soziale Systeme, S. 651, versteht auch die physische Welt als ein selbstreferentielles System, auch „Aussagen über Natur“ sind „selbstreferentielle Prozesse“. Das „Konzept der Selbstreferenz“ wird auf „Letztelemente jeglicher Art“ ausgedehnt“, S. 653, damit wird kein Rekurs auf eine Wirklichkeit außerhalb des Systems zugelassen; vgl. auch Habermas, in: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, S. 127, 133. Habermas reduziert das, was „wirkliche“ Gegenstände sind, auf die „Erfahrungsgegenstände“, die „etwas in der Welt“ sind; ohne den Bezugspunkt auf etwas außerhalb des Intersubjektiven Liegendes kommt aber auch Habermas nicht aus, indem „wir, die Aktoren“ aus dem Horizont einer „intersubjektiv geteilten Lebenswelt“ „uns auf etwas in der einzigen objektiven Welt beziehen. Dabei handelt es sich um eine formale Unterstellung, die keine bestimmten Inhalte präjudiziert – [. . .]“, in: Wahrheit und Rechtfertigung, S. 230, 261. 238 Anders Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren, S. 160, die davon ausgeht, dass eine Intersubjektivitätstheorie der Wahrheit nicht bedeute, dass als Maßstab für Entscheidungsrichtigkeit nur eine innerhalb des Verfahrens liegende Verständigung in Frage kommt. Die Argumentation kann aber insoweit nicht überzeugen, als sie eine Erklärung schuldig bleibt, woher der Richtigkeitsmaßstab denn kommen soll, wenn sich der Wahrheitsanspruch strafprozessualer Sachverhaltsfeststellungen nur auf „sprachliche Konventionen“ (S. 159) beziehen könne. Der Rückgriff auf Habermas (S. 160) zur Stütze eines außerhalb des Verfahrens liegenden Maßstabs für die Entscheidungsrichtigkeit geht insofern an der zentralen Frage vorbei, als er dem Gedanken nicht Rechnung trägt, dass bei Habermas die „Kraft des besseren Arguments“ allein durch formale Eigenschaften des Diskurses erklärt werden soll (Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, S. 127, 161), es also gerade keinen materialen, sondern ausschließlich formalen Bezugspunkt gibt. Die Wahrheit ergibt sich nicht etwa aus einem „etwas, das . . . dem Argumentationszusammenhang zugrunde liegt, oder wie die Evidenz von Erfahrungen, von außen gleichsam in die Erfahrung eindringt“ (S. 161). Wahrheit entsteht im Diskurs. „Wahrheitsfragen stellen sich im Hinblick auf . . . Tatsachen, die erfahrungsfreien und handlungsentladenen Diskursen zugeordnet sind. Darüber, ob Sachverhalte der Fall oder nicht der Fall sind, entscheidet nicht die Evidenz von Erfahrungen; sondern der Gang von Argumentatio-
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heit in diesem konstruktivistischen Sinn kann keine externe Wirklichkeit als Wahrheitskriterium in sich aufnehmen, sie strebt einem selbstreferentiellen Ideal entgegen. Wenn in der Konsensustheorie auf den Konsens als Wahrheitskriterium rekurriert wird, dann ist der Konsens nicht mehr als eine regulative Idee und in diesem Sinne nie erreichbares Ziel ebenso wie in der Vorstellung einer materiellen Wahrheit. Der Konsens wird zu einem Ziel, das „stets anzustreben, aber nie dauerhaft zu erreichen ist“239. Denn die formelle Wahrheit im Sinne der Konsensustheorie knüpft an die Voraussetzung einer freien Kommunikationsstruktur an, in der die Prozessparteien gleichermaßen die Möglichkeit haben, ihre Argumente in den Diskurs einzubringen. Dass die Kommunikationsstruktur im Strafprozess den Bedingungen des herrschaftsfreien, idealen Diskurses240 nicht entspricht, ist nicht entscheidend. Denn der ideale Diskurs ist nicht mehr als ein Gedankenkonstrukt und somit in der Realität schon per definitionem nicht erreichbar. Denn um „Diskurse zu führen, müssen wir in gewisser Weise aus Handlungs- und Erfahrungszusammenhängen heraustreten“241. Entscheidend ist vielmehr, dass die prozessuale Kommunikation im Strafverfahren noch nicht einmal in der Theorie nach der idealen Sprechsituation streben kann242. Denn die Prozessstruktur enthält nicht die für eine ideale Sprechsituanen. Die Idee der Wahrheit lässt sich nur mit Bezugnahme auf die diskursive Einlösung von Geltungsansprüchen entfalten“ (Wahrheitstheorien S. 135 f.). Dass sich ein „Diskurs“ im Gerichtsverfahren schwer oder besser gar nicht einstellen kann, erlaubt, Habermas folgend, noch nicht die Annahme eines außerhalb des Verfahrens liegenden feststehenden Richtigkeitsmaßstabs. Es bleibt mithin ein nicht aufzulösender Widerspruch, Wahrheit in sprachlicher Konvention begründet zu sehen und doch an der „Ergebnisrichtigkeit“ eines prozessualen Ergebnisses festzuhalten. Zur sprachlichen Konvention als Bezugspunkt der Wahrheit vgl. auch Schulz, S. 187; auch in seiner Konzeption der „Wahrheit als regelechte Sprachverwendung“ (S. 196 ff.) liegt hinter dem Bezugspunkt der sprachlichen Konvention jedoch ein außersprachlicher Wirklichkeitsbezug, der die Frage nach dem Wahrheitskriterium weiterhin offen lässt. 239 Tschentscher, Rechtstheorie 2002, 43, 58. 240 Zur idealen Sprechsituation im Diskursmodell vgl. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, S. 127 ff., 179; zur Unmöglichkeit des Strafverfahrens als „Diskurs“, als ein „rationaler Dialog im Sinne von Herrschaftsfreiheit mit dem alleinigen Ziel zwangloser Einigung unter den Beteiligten“ siehe Schreiber, in: Rechtsgeltung und Konsens, S. 71, 84. 241 Habermas, in: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, S. 127, 130 f., weiterführend heißt es dort: „Diskurse verlangen erstens eine Suspendierung von Handlungszwängen, welche dazu führen soll, daß alle Motive außer dem einzigen kooperativer Verständigungsbereitschaft außer Kraft gesetzt (und Fragen der Geltung von denen der Genesis getrennt) werden können. Zweitens erfordern sie eine Virtualisierung von Geltungsansprüchen, welche dazu führen soll, daß wir gegenüber Gegenständen der Erfahrung (Dingen, Ereignissen, Personen, Äußerungen) einen Existenzvorbehalt anmelden und Tatsachen wie Normen unter dem Gesichtspunkt möglicher Existenz bzw. Legitimität betrachten (d.h. hypothetisch behandeln) können.“ 242 Vgl. hierzu Kaufmann, Einführung, S. 165: „Das Gerichtsverfahren ist nicht herrschaftsfrei, die Beteiligten sind an das Gesetz, auch an ein mangelhaftes Gesetz, gebunden, das Verfahren kann nicht bis ins Unendliche oder auch nur bis zur ,Sätti-
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tion erforderlichen Bedingungen. Die Angeklagten verfügen in der Regel weder über die juristische Sachkompetenz noch über die erforderlichen Ausdrucksmöglichkeiten, um vor Gericht als gleichwertige Partner am Prozess zu partizipieren243. Diese skeptizistische Position der absoluten Relativität des Seins kann zumindest für den Fortgang der Untersuchung ausgeblendet werden, weil – wenigstens im normativen Bereich – davon ausgegangen werden muss, dass Rechtssätze ihre Rechtsfolgen an geschehene Wirklichkeit anknüpfen. In der Vorstellung einer Welt nur relativen Seins hätte das Recht in seinem Anspruch, nach einer im Kern absoluten Gerechtigkeit zu streben, keinen Platz244. Da Gegenstand der Rechtsfindung nun aber sehr konkrete „Wirklichkeiten“ sind und der Prozess keine „ideale Veranstaltung“ ist, muss „formelle“ Wahrheit im juristischen Gebrauch auch noch etwas anderes meinen. Der Gedanke formeller Wahrheit im Verfahren muss nicht notwendig auf der skeptizistischen Grundlage einer nur konstruierten, intersubjektiv gegebenen Wirklichkeit, aufbauen245. Liegt der Interpretation des § 244 II StPO im Sinne des Prinzips der „materiellen Wahrheit“ erkenntnistheoretisch die „adaequatio-Formel“ zugrunde, so gibt es eine entsprechend zwingende Verbindung zwischen dem Prozessziel „formeller Wahrheit“ und allgemeiner, formeller Wahrheitstheorie nicht. Das Prinzip der formellen, prozessualen Wahrheit definiert die Wahrheit, die im Prozess erlangt werden soll, losgelöst von dem zugrunde liegenden Verständnis dessen, was „Wahrheit“ epistemologisch ist246. Der formelle prozessuale Wahrgung der Argumente‘ (wann gibt es je Einigkeit über eine solche Sättigung) durchgeführt werden [. . .]“; ausführlich hierzu ders., in: Dogmatik und Praxis des Strafverfahrens, S. 15 ff., und insbes., S. 23 f. 243 Vgl. zur idealen Sprechsituation als Voraussetzung materieller Wahrheitsfindung und den diesbezüglichen Strukturen des Strafverfahrens Mikinovic/Stangl, Strafprozess und Herrschaft, insbesondere S. 26 ff. 244 So ist denn auch konsequenterweise aus Luhmanns systemtheoretischer Rechtskonzeption, Das Recht der Gesellschaft, S. 17, die Gerechtigkeit als leitender Wert insoweit eliminiert, als die Idee der Gerechtigkeit auf eine „Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung des Systems“ reduziert wird; vgl. zur „Kontingenzformel der Gerechtigkeit“ ausführlicher a. a. O., S. 14 ff. 245 Zu einem dritten Weg neben Korrespondenz- und Konsensgedanken vgl. das Plädoyer von Poscher, ARSP 2003, 200, insbesondere 205 ff. für die Etablierung eines weiteren Strangs der Wahrheitstheorien, „der in der juristischen Diskussion bislang nicht rezipiert worden ist“ und den er in den „deflationären Wahrheitstheorien“ sieht, die als gemeinsames Wesensmerkmal aufweisen, dass das Wahrheitskriterium als redundant verstanden wird. 246 Harsche Kritik an einer Trennung der epistemologischen Frage nach der Wahrheit von der Frage der prozessualen Wahrheitserzeugung übt Gössel, Ermittlung oder Herstellung von Wahrheit im Strafprozess?, S. 19, wenn er davon spricht, dass das Anerkennen einer „prozeduralen“ Wahrheit gleichgesetzt werde mit dem Verzicht auf
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heitsbegriff ist nicht schon denknotwenig an „diskursive Wahrheitstheorien“ gebunden, sondern kann auch nur die spezifische prozessuale Wahrheit meinen, eine Wahrheit, die nicht gesucht, sondern im Verfahren erst hergestellt wird. Wahrheit wird dann durch faktischen Konsens erlangt. Formelle Wahrheit im Prozess verlangt deutlich weniger als die formelle Wahrheit einer Konsensustheorie der Wahrheit. Der herrschaftsfreie, ideale Diskurs, der Voraussetzung der formellen Wahrheit im weiteren Sinne ist, ist in einem prozessualen Verfahren, wie überhaupt sonst nirgendwo in der Realität, nicht gegeben. Formelle Wahrheit im Prozess muss folglich nicht auf dem erkenntnistheoretischen Fundament einer formellen Wahrheit im Sinne der Diskurstheorien stehen. „Formelle Wahrheit“ im prozessualen Sprachgebrauch ist nicht mehr als eine pragmatische Definition der Wahrheit, ohne den Anspruch, Ergebnis einer Theorie zur Wahrheit zu sein. Im Sinne dieser Definition sind dann bereits unstreitige Tatsachen wahr. Die formelle Wahrheit ist Grundsatz des Zivilprozesses247, der auf der Dispositionsmaxime basiert. Zur Disposition steht hier der Verfahrensgegenstand selber, der nicht wie im Strafprozess durch den zugrunde liegenden Lebenssachverhalt gestellt wird, sondern vielmehr erst durch die von den Parteien vorgetragenen Tatsachen entsteht. Der Verfahrensgegenstand kann von den Parteien geändert, ergänzt oder der gerichtlichen Erkenntnis auch ganz entzogen werden. Die Parteien verfügen über den Verfahrensgegenstand. Sie legen die Tatsachen fest, auf die sich die prozessuale Wahrheit zu gründen hat. Wahrheit wird nur insoweit hergestellt, als die Definition des Gegenstandes reicht. Wahrheit kann es nur relativ zur Stoffsammlung geben. Mag man auch vor dem ideellen Hintergrund, dass Wahrheit auch oder gerade in der freien Auseinandersetzung der Argumente gefunden wird, die Differenzen zwischen den Wahrheitsbegriffen des Zivil- und des Strafprozesses für geringer erachten, als es zunächst scheint, so bleibt es doch bei dem entscheidenden Unterschied, dass die Parteien im Zivilverfahren über den Verfahrensgegenstand frei verfügen. In dem Gegensatz zwischen Dispositionsmaxime und Instruktionsprinzip manifestiert sich jenseits der wahrheitsphilosophischen Fundamente die praktische und grundlegende Differenz zwischen formellem und materiellem Wahrheitsbegriff im juristischen Gebrauch. Entscheidend für die Differenzierung der juristischen Wahrheitsbegriffe ist, dass der prozessuale „Wahrheitsanspruch“ des Zivilverfahrens sich an den spezifischen prozessualen Interessen der Beteiligten ausrichtet. Ist zwischen den Prozessparteien der „Sachverhalt“ nicht mehr streitig, gibt es in der Regel kein Gerechtigkeit, weil das nur prozessordnungsmäßige Zustandekommen der Wahrheit auf jede inhaltliche Bestimmung der Wahrheit und damit der Gerechtigkeit verzichte. 247 Zur Gegenüberstellung von Straf- und Zivilverfahren vgl. Peters, Strafprozess, S. 15 ff.
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Bedürfnis mehr, eine „andere Wahrheit“ als die konsensuale zu erforschen. Formelle, prozessuale Wahrheit ist anders als erkenntnistheoretisch formelle Wahrheit, eine funktionale Wahrheit. Sie hat ausschließlich dem Ausgleich von Interessen zu dienen und keinen sonstigen, absoluten Wahrheitsanspruch zu erfüllen. Sie ist funktional zur Rechtsfrieden schaffenden Entscheidung und konstruiert insoweit eine verfahrensspezifische Wirklichkeit. b) Die Annäherung der Wahrheitsbegriffe im Strafprozess Dem traditionellen Modell des Strafprozesses lag die Suche nach materieller Wahrheit zur Verwirklichung von Gerechtigkeit zugrunde. Bis in die 60er Jahre galt der Vergeltungsgedanke praktisch ungebrochen als das tragende Prinzip der Legitimation des staatlichen Strafanspruchs248. Die Strafe hat das Maß des Tatunrechts auszugleichen. Das Strafverfahrensrecht hat nach dieser Vorstellung eines Strafvergeltungsrechts gegenüber dem materiellen Recht eine nur dienende Funktion. Bestand bis vor einigen Jahrzehnten noch weitgehend Einigkeit darüber, dass der Strafprozess die materielle Wahrheit zu erforschen habe, so gewinnt der formelle Wahrheitsbegriff, der zunächst auf andere Rechtsgebiete beschränkt blieb, zunehmend auch in der Strafrechtswissenschaft an Bedeutung. Mit der fortschreitenden Aufweichung des Legalitätsprinzips (z. B. durch die Einführung der §§ 153 ff. StPO), der ansteigenden Komplexität strafrechtlich relevanten Verhaltens (wie vor allem in der Wirtschafts- Drogen- und Umweltkriminalität und im Bereich der Gefährdungsdelikte) sowie der zunehmenden Betonung kommunikativer Strukturen im Verfahren (Zustimmungserfordernisse, konsensuale Elemente249) beginnt das Dogma der materiellen Wahrheit merklich zu schwanken. 248 Vgl. BVerfGE 22, 125, 132, wo es noch hieß: „Die Prävention ist aber kein Wesensmerkmal der Strafe, sondern eine Nebenwirkung [. . .]. Jede Kriminalstrafe ist ihrem Wesen nach Vergeltung durch Zufügung eines Strafübels; in BVerfGE 39, 1, 57 heißt es dann aber schon: „Sieht man die Aufgabe des Strafrechts in dem Schutz besonders wichtiger Rechtsgüter und elementarer Werte der Gesellschaft [. . .]“; den Vergeltungsgedanken für präventive Zwecke öffnet aber auch schon die Begründung zum Entwurf eines Strafgesetzbuches von 1962 E 1962, S. 96: „Denn der Entwurf sieht den Sinn der Strafe nicht allein darin, daß sie die Schuld des Täters ausgleicht. Sie hat damit zugleich auch den allgemeinen Sinn, die Rechtsordnung zu bewähren. Außerdem dient sie kriminalpolitischen Zwecken, in erster Linie dem Zweck, künftige Straftaten zu verhüten.“ Spendel, Zur Lehre vom Strafmaß, S. 88, erscheint in einem Tatstrafrecht „Vergeltung als der nächste Zweck und damit als das Wesen der Strafe“. Kaufmann, Jura 1986, 225, erklärt das Bekenntnis zu einem absoluten Schuldstrafrecht vor allem damit, dass es in den Nachkriegsjahren Aufgabe der Strafrechtswissenschaft war, das Unverfügbare („Ontologische“) aufzudecken, um das Recht, soweit nur möglich, der Willkür zu entziehen. 249 Zur Vertragsorientierung im Strafprozess auf positivrechtlicher Grundlage vgl. Sinner, Der Vertragsgedanke im Strafprozeß, S. 139 ff.
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Die Zweifel an der Erkennbarkeit der „Wirklichkeit“, seien sie nun auf empirische Erwägungen gestützt (im Strafprozess kann praktisch nie mehr als hohe Wahrscheinlichkeit erreicht werden), normativ begründet (ein rechtsstaatliches Strafverfahren will die Wirklichkeit gar nicht unbedingt erkennen) oder erkenntnistheoretischer Natur (Erkenntnis einer objektiv gegebenen Wirklichkeit ist schon theoretisch nicht möglich), führen zu einer Annäherung der Wahrheitsbegriffe. Es lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Wege anführen, über die eine Annäherung der Wahrheitsbegriffe gedacht werden kann: Sie kann einmal über den übergeordneten Wert der Gerechtigkeit erfolgen (materielle und formelle Wahrheit als Funktionen der Gerechtigkeit) und ist auf der anderen Seite denkbar als Folge einer notwendigen Wirklichkeitskonstruktion im Prozess. aa) Die Gerechtigkeit als Ziel der Wahrheitssuche – wertrationale Annäherung Wenn nicht die Erforschung des wahren Sachverhalts als solche die Strafe legitimiert, sondern erst ein gerechtes Urteil diese Wirkung entfaltet (eine rechtsstaatswidrig erfolgte Tatfeststellung führt eben nicht zu einem „gerechten Urteil“ und legitimiert auch keine Strafe), dann muss über den prozessualen Wahrheitsbegriff neu nachgedacht werden. Die Wahrheit ist nicht endgültiges Prozessziel, sondern erst Voraussetzung für die Gerechtigkeit250. Über den Gerechtigkeitsbegriff, der im Rahmen dieser Untersuchung auf eine „materielle Gerechtigkeit des Verfahrens“ ausgeweitet worden ist, wird der Wahrheitsbegriff somit funktionalisiert. Materielle und formelle Wahrheit haben beide einer gerechten Entscheidung zu dienen, und werden somit in ihrer Eigenschaft als Mittel zum Zweck der gerechten Entscheidung einander angenähert. Die konzeptionelle Untrennbarkeit von Gerechtigkeit und materieller Wahrheit, die den Strafprozess noch immer beherrscht, ist in keiner Weise ein zwingender Schluss. Im Zivilprozess kann unsere Rechtsordnung sehr wohl zwischen einem gerechten Ergebnis und der „objektiven Wahrheit“ der zugrunde liegenden Tatsachen unterscheiden, denn der Verhandlungsgrundsatz fragt ja gerade nicht nach einer objektiven Wahrheit, sondern nur nach dem Konflikt der Parteien. Zwar muss einschränkend erwähnt werden, dass die Verfügungsmacht der Parteien nicht den Eindruck erwecken darf, dass neben der „formellen Wahrheit“ eine eventuell anders aussehende „materielle Wahrheit“ überhaupt nicht mehr interessiert. Denn eine solche Interpretation müsste der in § 138 ZPO verankerten Wahrheitspflicht der Parteien zuwider laufen. Dass die Parteien auch im Zivilprozess auf die Wahrheit verpflichtet werden, lässt sich viel250 So zum Verhältnis von Wahrheit und Gerechtigkeit auch Neumann, ZStW 101 (1989), 52.
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mehr aus einer gewissen Verschränkung der Wahrheitsbegriffe ableiten. So könnte man aus der Vorschrift folgern, dass die Verhandlungsmaxime des Zivilprozesses in keinem Widerspruch zur Wahrheitsermittlung stehen soll251, denn Ziel eines jeden Prozesses, ob auf Verhandlungs- oder Inquisitionsmaxime beruhend, könne nur die Feststellung der wahren Rechtslage sein252. Mit dem Gedanken der Gerechtigkeit wird also verbunden, dass die formelle Wahrheit nicht in bewusster Abkehr von der materiellen Wahrheit gedacht werden darf. Der formelle Wahrheitsbegriff des Zivilprozesses lässt also keine Lüge zu. Es bleibt aber dabei, dass auch die Wahrheitspflicht des § 138 ZPO sich nur soweit erstreckt, wie der von den Parteien bestimmte Verfahrensgegenstand reicht, und damit ist auch die Verpflichtung auf die materielle Wahrheit nur eine relative und mit derjenigen der Instruktionsmaxime in keiner Weise zu vergleichen. Der formelle Wahrheitsbegriff des Zivilprozesses bleibt also in seinem Wesen von der Dispositionsmaxime gekennzeichnet, und die Wahrheitspflicht in § 138 ZPO stellt insoweit einen nicht systemkohärenten Fremdkörper dar. Denn der Wahrheitsbegriff unterscheidet sich durch die Verhandlungsmaxime grundlegend vom Wahrheitsbegriff des Strafverfahrens. Eine Wahrheit außerhalb der in der Verhandlung zusammengetragenen Tatsachen hat es für den Zivilprozess nicht zu geben. Im anglo-amerikanischen Rechtskreis, der die Dispositionsmaxime auch im Strafverfahren anerkennt, wird sogar die Meinung vertreten, dass inquisitorische Systeme eher geeignet sind, die Wahrheit (gemeint ist hier natürlich die materielle) zu finden, während kontradiktorische Modelle eher nach Gerechtigkeit als nach Wahrheit streben253. Nach dieser Auffassung wird die materielle Wahrheit sogar als Gegensatz zur Gerechtigkeit verstanden, weil das Verfahren nach der Verhandlungsmaxime für „gerechter“ erachtet wird als die Wahrheitsermittlung nach dem Untersuchungsgrundsatz. Dies verdeutlicht, wie nach diesem Verständnis die Idee der Gerechtigkeit in der Ergebnisrichtigkeit auch aus dem Strafverfahren verdrängt ist und das Verfahren konstitutiv für die gerechte Entscheidung wird. 251
In diesem Sinn, Stein/Jonas-Leipold, Kommentar zur ZPO, § 138 Rn. 1; MüKo ZPO/Mayer-Maly, § 138 Rn. 13: nach dieser Auffassung soll die Wahrheitspflicht auch gegenüber dem Gericht gelten und nicht in die Disposition der Parteien gestellt sein. 252 Jauernig, Zivilprozessrecht, S. 94, der sogar soweit geht, dass in der praktischen Auswirkung beider Maximen kein Unterschied bestehe. § 138 ZPO verlange, den Sachverhalt vollständig und richtig vorzutragen, denn nur auf dieser Grundlage könne die wahre Rechtslage festgestellt werden (S. 95). Im Folgenden versucht er widersprüchlich die freie Disposition über den Tatsachenstoff und die Festellung des wahren Sachverhalts als Prozessziel zu versöhnen, indem er die Wahrheitspflicht auf die Prozesslüge zulasten des Gegners beschränken will (S. 97). 253 So bei Volk, in: Festschrift für Salger, S. 412, 416, m. w. N. zur Diskussion über Beweisprobleme im anglo-amerikanischen Rechtskreis.
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In diesem Sinn erheben auch diejenigen rechtsstaatlichen Ordnungen, die sich mit einer „formellen“ Wahrheit im Strafprozess „begnügen“, den Anspruch, gerechte Urteile zu fällen. Hebt man die Gemeinsamkeit hervor, dass sowohl Instruktionsmaxime als Verhandlungsgrundsatz einer gerechten Entscheidungsfindung verpflichtet sind, muss aber auch explizit anerkannt werden, dass beiden Konzepten ein unterschiedlich geprägter Gerechtigkeitsbegriff zugrunde liegt. Die Suche nach der materiellen Wahrheit strebt weiterhin – innerhalb ihrer notwendigen Grenzen – nach einer ergebnisrichtigen Entscheidung, die Herstellung formeller Wahrheit hängt dagegen entscheidend von der verfahrensrichtigen Entscheidung ab. Angenähert werden die Wahrheitsbegriffe über den übergeordneten Gerechtigkeitswert also nur insoweit, als sie beide der Rechtsfrieden schaffenden Funktion der Entscheidung dienen. bb) Die Wirklichkeit als Konstrukt des Prozesses – methodische Annäherung Es ist ein zweiter Aspekt der Annäherung der beiden Wahrheitsbegriffe denkbar: die prozessuale Konstruktion des Sachverhalts. Entweder ist die materielle Wahrheit als Übereinstimmung von Vorstellung und Wirklichkeit nicht erreichbar, weil vom Subjekt unabhängig keine Wirklichkeit existiert und die formelle Wahrheit schon ideell die einzig mögliche ist, oder die materielle Wahrheit ist im Strafprozess aufgrund der Grenzen des Erkenntnisvermögens nicht auffindbar, sondern nur als „hohe Wahrscheinlichkeit“254 oder „subjektive Gewissheit“255, so dass auf die formelle Wahrheit zurückgegriffen werden muss, um ein der materiellen Wahrheit möglichst nahe kommendes Ergebnis zu verbürgen. Die erste radikal konstruktivistische Position ist bereits für den normativen Bereich des Rechts ausgeklammert worden256. 254 Vgl. statt vieler Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 567, die aber gerade deshalb am Prinzip der materiellen Wahrheit festhält; das Korrespondenzkriterium sei zumindest in seiner negativen Form gefordert, da keine Anhaltspunkte für Widersprüche vorliegen dürften. 255 Hegelianischer Ansatz, vgl. Grundlinien der Philosophie des Recht, § 227, S. 223: „[. . .] und der Beweis ohnehin nicht Vernunft- oder abstrakte Verstandesgegenstände, sondern nur Einzelheiten, Umstände oder Gegenstände sinnlicher Anschauung betrifft, daher keine absolut objektive Bestimmung in sich enthält, so ist das letzte in der Entscheidung die subjektive Überzeugung und das Gewissen [. . .]“; diese Position läuft auf eine Konstruktion des Verfahrensgegenstandes in der subjektiven Gewissheit hinaus, die die außerprozessuale Wirklichkeit jedoch als Bezugspunkt niemals vollends aufgibt; Müller-Tuckfeld, in: Konstruktion der Wirklichkeit durch Kriminalität und Strafe, S. 458, 465 bezeichnet diese als einen „Ja/Aber-Konstruktivismus“, der in der Tradition Kants stehe, und knüpft damit an Luhmanns „Ja/Aber-Ausgaben von Konstruktivismus“ an, in: Soziale Systeme, S. 7. 256 Vgl. oben II. 2. a) bb).
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Um also das formell „Wahre“ nicht ganz losgelöst vom „Wirklichen“ zu denken, versucht die zweite Position den vermeintlichen Gegensatz zwischen materieller und formeller Wahrheit aufzulösen, indem aufgezeigt wird, wie die Diskrepanz letztlich bei konsequenter Berücksichtigung erkenntnistheoretischer Zweifel mehr und mehr dahinschwindet. Die Erkenntnis, dass absolute Wahrheit finden zu wollen, ein hoffnungsloses Unterfangen bleiben muss, kann sich, wie gezeigt, auf verschiedenste Zweifel gründen, mündet aber stets in der Konsequenz, dass der Prozess sich eine eigene „Wahrheit“ schaffen muss. Bereits die Tatsache, dass sich der juristische Sachverhalt notwendigerweise an den Relevanzstrukturen des materiellen Rechts257 zu messen hat, verdeutlicht die Selektivität, mit der Wahrheitsfindung im Prozess betrieben werden muss. Selbst dann, wenn man an dem Erfordernis der Wahrheit im Sinne der Entsprechung mit der Wirklichkeit festhalten wollte, müsste man zugestehen, dass es bei der strafrechtlichen Verfolgung einer Tat nicht um die Erkenntnis eines „ganzen wirklichen Geschehens“ gehen kann. Relevant in der unendlichen Fülle der Wirklichkeiten sind nur diejenigen, die Bezug zu dem „in den Blick gekommenen“ Straftatbestand haben258. Ziel kann es nicht sein, den Sachverhalt zu rekonstruieren, weil der juristisch relevante Sachverhalt erst im Moment der Normanwendung durch Selektion anhand der Relevanzstrukturen des materiellen Rechts entsteht259. Der Sachverhalt bestimmt sich aus der abstrakten Norm, die mit konkreten Inhalten des Geschehens angefüllt wird. Der vom Gericht gefundene Sachverhalt kann dementsprechend kein Abbild einer Realität sein, sondern er schafft erst eine neue selektive Wirklichkeit in der Konstruktion eines juristischen Sachverhalts260. Wie man sich diese Zusammenfügung methodisch zu einer Wirklichkeitseinheit vorstellen kann, hat Engisch, der die Begründung der juristischen Hermeneutik ent257 Vgl. Kaufmann, Beiträge zur juristischen Hermeneutik, S. 74; so auch Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 107: „Das materielle Strafrecht enthält die Relevanzstrukturen der strafrechtlichen Konstitution der Wirklichkeit; in ihm finden sich die Selektionskriterien für die Herstellung des strafrechtlichen Falles.“ 258 Käßer, Wahrheitserforschung im Strafprozess, S. 4; siehe auch Behrendt, GA 1991, S. 337, 349, der die Frage der allgemeinen Unmöglichkeit der Wahrheitsfindung offen lässt, aber betont, dass zumindest „bei kommunikativ-interaktionell geprägten Sachverhalten und auch für die Aufhellung der inneren Tatseite die Tat im Strafprozess – auch im Sinne des wissenschaftstheoretischen Konstruktivismus – rekonstruiert wird“. Diese Formulierung birgt allerdings einen Widerspruch in sich, da auf „konstruktivistischer Grundlage“ etwas nicht rekonstruiert, sondern konstruiert wird. 259 Das bedeutet aber nicht, dass nicht auch ein Lebenssachverhalt vorhanden ist, der dem Werden des juristisch relevanten Sachverhalts als Grundlage dient; in diesem Sinne ist der „Gegenstand“ des Strafverfahrens „durch konkrete, gesellschaftliche Begegnungspraxis vorgegeben“, Herzog, Prävention des Unrechts oder Manifestation des Rechts, S. 121. 260 Weniger auf den selektiven Aspekt, sondern mehr auf den „sprachlich überhaupt nicht adäquat zu erfassenden“ Sachverhalt stützt Haft, Schulddialog, S. 95, die „Konstruktion der Wirklichkeit“.
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scheidend geprägt hat, sehr anschaulich dargelegt261. Er bringt das Problem des zirkulären Verhältnisses zwischen Sachverhalt und Obersatz dergestalt auf den Punkt, dass für den Obersatz nur wesentlich sei, was auf den konkreten Fall Bezug hat, am konkreten Fall wiederum sei wesentlich, was auf den Obersatz Bezug hat. Es handele sich dann nicht um einen fehlerhaften Zirkelschluss, wenn man es als eine ständige Wechselwirkung, ein Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt betrachtet262. Erst in der Bewegung des Hin- und Herwandern des Blickes entsteht der rechtlich relevante Sachverhalt. Die Relation zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt führt zur Konstruktion der strafrechtlich zu würdigenden Wirklichkeit. Die Erkenntnis, dass prozessuale Wahrheitssuche stets ein Konstruieren ist, entschärft den Gegensatz also insoweit, als die Idee materieller Wahrheit für den juristischen Gebrauch schon aufgrund methodischer Erwägungen zur Sachverhaltskonstruktion relativiert werden muss. Zusätzliche Unterstützung findet diese These durch die moderne Entwicklung des materiellen Strafrechts. Vor allem jüngere Tatbestände sind zum Teil so angelegt, dass Wahrheit sich ohnehin nur in einem kommunikativen Prozess einstellen kann, dass eine autoritäre Wahrheitsfindung durch das Gericht schon theoretisch nicht möglich ist, weil die forensische Reproduzierbarkeit gewisser Tatbestände insofern unmöglich gemacht wird, als die Tatbestände keine objektivierbaren Gegebenheiten beschreiben, sondern sich erst in relationalen Prognosen erschließen. In diesem Zusammenhang ist z. B. auf das Tatbestandsmerkmal der drohenden Zahlungsunfähigkeit in § 283 StGB hinzuweisen, das Schünemann als Beispiel der „hermeneutischen Unschärferelation“ anführt, in der „abstrakt gesprochen [. . .] in der rekonstruierenden Beweisaufnahme der durch Interaktion und Kommunikation gestiftete Sinn notwendig neu konstituiert“ wird263. Allgemein gesprochen, kann in diesen Fällen das Wahrheitskriterium nicht im „Korrespondenzgedanken“ wurzeln, weil es keine außerprozessuale, objektivierbare Wirklichkeit gibt, die dem Tatbestandsmerkmal entsprechen kann264, sondern sich das Merkmal ausschließlich in der Relation der Beteiligten manifestiert. Nun kann das nicht bedeuten, dass für die Feststellung „kommunikationsgeprägter Tatbestandsmerkmale“ stets ein Konsens erzielt werden müsste, das wäre eine törichte, weil unrealisierbare Forderung. Es ist aber nicht zu leugnen, dass die Struktur vieler „moderner Tatbestände“ dazu führt, dass ihnen mit dem „Kor261
Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 15. Engisch, a. a. O., S. 15; kritisch zum Bild des Hin-und Herwandern des Blickes Schünemann, in: Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 299 ff. 263 Schünemann, in: Festschrift für Gerd Pfeiffer, S. 461, 463 f. 264 Neumann, Jenseits des Funktionalismus, S. 73, lässt den skeptizistischen Einwand, materielle Wahrheit gebe es gar nicht, und die Suche nach einer solchen gleiche „der Jagd nach einem Phantom“, sogar allgemein für die Feststellung von Vorsatz, Absicht und Motivation gelten, S. 78, da die Existenz mentaler Entitäten nicht vorausgesetzt werden könne. 262
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respondenzgedanken“ schlecht beizukommen ist. Kommunikationsgeprägte Tatbestandsmerkmale sind strukturell mit der Dispositionsmaxime verbunden, weil sich mangels außerprozessualer Entsprechung dem Gericht keine Anhaltspunkte zur weiteren Ermittlung aufdrängen können, als eben solche, die von den Parteien selbst in das Verfahren eingebracht werden. Die kommunikative Struktur verlangt somit gerade, dass die Parteien über den Verfahrensgegenstand verfügen. Damit wird eine formelle Wahrheit zum Ziel des Prozesses, was bedeutet, dass dieser einem Konsens entgegen strebt und, wo er ihn nicht findet, sich mit der Kraft des stärkeren Arguments begnügt, ohne auf eine außerprozessuale Wirklichkeit zurückzugreifen. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis, dass materielle Wahrheitsfindung in der Normanwendung auch methodisch nicht möglich ist, ist es kein weiter Schritt, die Herstellung formeller Wahrheit als grundsätzlich bessere Methode zu begreifen. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass, wenn die verschiedenen, im Prozess vorgetragenen „Tatsachen“ im Augenblick der Beweiserhebung Angriffen der gegnerischen „Partei“ unterworfen sind, dies gewährleisten müsse, dass die in diesem Verfahren gewonnenen Ergebnisse zuverlässig sind, weil sich erwiesen habe, dass sie dem Versuch der Verzerrung durch die gegnerische „Partei“ widerstanden haben. Es müsse also davon ausgegangen werden, dass auch unter Geltung des formellen Wahrheitsbegriffs die Übereinstimmung des Sachurteils mit der Realität angestrebt wird265. Die Konstruktion des prozessualen Sachverhalts orientiert sich nach diesem Verständnis auch unter der Geltung eines formellen Wahrheitsbegriffes und damit der Verhandlungsmaxime an der außerprozessualen Wirklichkeit. Die methodisch notwendige Konstruktion des Sachverhaltes, die zu einem schöpferischen Akt der Wahrheitskonstruktion wird, ist zwar ein wesentliches Merkmal prozessualer Wahrheitsfindung. Diese Erkenntnis hat dazu geführt, dass die Differenzen zwischen formeller und materieller Wahrheit vor allem 265 Vgl. Honert, ZStW 106 (1994), 427, 444; so hat neben anderen auch Rieß, in: Festschrift für Schäfer, S. 188, der an einem materiellen Wahrheitsbegriff als Ziel festhält, bereits 1979 die Frage aufgeworfen, ob durch größere Freiräume für die Initiative der Prozessbeteiligten die Wahrscheinlichkeit umfassender Aufklärung gesteigert werden könne; im dem Sinne, dass das kontradiktorische Streitverfahren mit seiner Dialektik zwischen den Parteien der bessere Weg auf der Suche der „verità giudiziale“ sei, auch Ubertis, Argomenti di procedura penale, Milano 2002; ders. in dig. disc. pen. 301; auf dem Boden dieser Idee argumentiert auch Lozzi, in: oralità e contradditorio nei processi di criminalità organizzata, S. 31, 43, wenn er festhält, dass auch das akkusatorische Prozessmodell danach strebe, die „historische Wahrheit“ festzustellen; so lässt sich gerade der Gegensatz der „Parteien“, der Widerstreit entgegenstehender Interessen als treibende Kraft sehen, die von der „Thesis über die Antithesis der Prozessparteien zur Synthesis des Richters, dem Urteil oder Erkenntnis“ führt, so Spendel, JuS 1964, 465, 467, der diesen Vorgang der prozessualen Wahrheitsfindung als einen versteht, der die „tatsächliche Wahrheit in einem Streitgespräch herausarbeitet“. Dem liegt letztendlich ein materieller Wahrheitsbegriff zugrunde, weil die Wahrheit im Streitgespräch nicht konstruiert, sondern rekonstruiert wird.
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methodisch begründet wurden, für das Ergebnis der Wahrheitssuche aber nicht mehr entscheidend sein sollen266. Übersehen wird in dieser „methodischen Annäherung aber der entscheidende Unterschied, der in der Bindung der „prozessualen formellen Wahrheit“ an die Dispositionsmaxime liegt. Wie für die kommunikationsgeprägten Tatbestandsmerkmale bereits ausgeführt, gibt es Bereiche, in denen notwendigerweise ein formeller Wahrheitsbegriff zugrunde gelegt werden muss. Will man den formellen Wahrheitsbegriff aber grundsätzlich auch für den Strafprozess behaupten, so muss die methodische Annäherung zum materiellen Wahrheitsbegriff fehlschlagen, weil die entscheidende Differenz unüberbrückbar bleibt: Unter Geltung eines formellen Wahrheitsbegriffes konstruieren die Parteien den juristischen Sachverhalt, indem sie frei über ihn verfügen, weil es einen Bezugspunkt außerhalb ihrer Disposition nicht gibt. Genau in dieser freien Dispositionsbefugnis unterscheidet sich der pragmatische formelle Wahrheitsbegriff der Verhandlungsmaxime von dem ideellen formellen Wahrheitsbegriff der Konsensus- oder Diskurstheorie. Die „prozessuale materielle Wahrheit“ muss aber – auch eingedenk ihrer Unerreichbarkeit – notwendig auf eine unverfügbare Wirklichkeit bezogen werden. In diesem Sinne ist die Dispositionsmaxime an die formelle, die Instruktionsmaxime an die materielle Wahrheit gebunden. c) Ergebnis: Materielle und formelle Wahrheit als eigenständige Ziele prozessualer Kommunikation Dass materielle und formelle Wahrheit, als Funktion des Gerechtigkeitsstrebens auch im Strafverfahren keine unversöhnlichen Gegensätze sein müssen, sondern zwei auf das gleiche Ziel gerichtete unterschiedliche Wege darstellen können, sollte bereits oben anhand gewandelter Gerechtigkeitsvorstellungen aufgezeigt werden267. An dieser Stelle ist nun dazulegen, wie in der Finalstruktur268 juristischer Wahrheit selbst angelegt ist, dass sich die prozessual relevante Wahrheit mit zweierlei Maß messen lässt. Hierzu sollen zunächst die Begriffe der materiellen und formellen Wahrheit unter Berücksichtigung der gewonnenen Ergebnisse, auf das Strafverfahren bezogen, erneut konkretisiert werden. Materielle Wahrheit im prozessualen Sinn 266 So bei Volk, in: Festschrift für Salger, S. 412 f. – der in „Wahrheit und materielles Recht“, 1980, noch das Prinzip der materiellen Wahrheit vehement gegen das Prinzip der Wahrscheinlichkeit zu behaupten versuchte. Nun soll die Annäherung zu einer Verschmelzung der beiden Begriffe führen, in der die „materielle“ Wahrheit auch keine andere als die „formelle“ sei, weil die Wirklichkeit selbst zu einem Konstrukt geworden sei. 267 Vgl. I. 3. 268 Der Begriff geht zurück auf Müller-Dietz, Zeitschrift für evangelische Ethik, 1971, S. 257, 264.
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wird auf die „forensische“ Wahrheit reduziert, was methodisch die Konstruktion des Sachverhalts als „schöpferischen Akt“ einschließt und rechtsstaatliche Begrenzungen der Aufklärung insofern beinhaltet, als diese gerechter Umgang mit abweichendem Verhalten sein muss. Auch die Suche nach so definierter „forensischer“ Wahrheit bleibt aber an der „Ergebnisrichtigkeit“ der Entscheidung orientiert. Die forensische Wahrheit bezieht sich auf eine Wirklichkeit, die der Verfügungsmacht der Parteien entzogen ist. Dagegen verlangt die Herstellung formeller, prozessualer Wahrheit keinen idealen, herrschaftsfreien Diskurs, sondern wird bereits mit dem faktischen Konsens der Beteiligten erreicht und vom Ziel der „Ergebnisrichtigkeit“ vollkommen gelöst. Ein faktischer Konsens kann formelle prozessuale Wahrheit aber nur dann begründen, wenn die Ausgestaltung des Verfahrens den Anforderungen an eine verfahrensgerechte Entscheidung genügen kann269. Die Darstellung möglicher Annäherungen der Wahrheitsbegriffe sollte verdeutlichen, dass die Gerechtigkeit als verbindendes Moment die dienende Funktion der Wahrheitsfindung in den Vordergrund rückt und dass die Einsicht in die methodisch (oder sogar ontologisch270) notwendige Konstruktion des Sachverhaltes nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass entscheidendes Differenzierungskriterium bleibt, ob ein außerprozessualer Bezugspunkt in der Wahrheitsfindung zugelassen wird oder nicht. Im Ergebnis gelangt man also nicht zu einer Verschmelzung der Wahrheitsbegriffe, sondern es wird hier vielmehr die These aufgestellt, dass die differenten Wahrheitskriterien, Korrespondenz (als nicht erreichbarer Orientierungspunkt) und Konsens (im Sinne faktischer Übereinstimmung), gleichrangig für die Herstellung einer gerechten, rechtsfriedenschaffenden Entscheidung sind. aa) Das Verfahren als Interessen ausgleichende Kommunikation Wahrheit wird im Gerichtssaal nicht aus wissenschaftlicher Neugier als Selbstzweck erforscht, sondern juristische Wahrheitssuche hat immer „personale Relationen“ zum Gegenstand271, in denen Konflikte entstanden sind, die es 269 Diese Einschränkung soll an dieser Stelle nur allgemein hervorgehoben und im folgenden Gang der Untersuchung weiter konkretisiert werden. 270 So stellt Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 299, zum hermeneutischen Prinzip fest, dass der Zirkel des Verstehens „überhaupt nicht ein ,methodischer‘ Zirkel“ ist, sondern ein „ontologisches Strukturmoment des Verstehens“ beschreibt. 271 Vgl. zu einer „juristischen Logik und Ontologie der Relationen“ Kaufmann, RTh 17 (1986), 257, 265: „Recht ist nicht Substanz, sondern gerade das ganz andere als Substanz: Beziehung.“ So steckt das Recht weder in der Norm noch im Fall, sondern erst in deren Beziehung, ebenso entscheidend ist aber, dass Recht „nie für einen vereinzelten Menschen gilt, sondern immer nur für ein „Verhältnis“, in dem Menschen zueinander oder zu Dingen stehen, also für Personen“ (S. 273); Person wird hier verstanden nicht als Individuum, sondern als der „Grundfall der Relation“ (S. 271); vgl.
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rechtlich zu lösen gilt. Dies ist nicht der Ort, um ausführlicher auf die „Ontologie der Relationen“272 und deren Bedeutung für das Rechtssystem einzugehen, es sei aber zumindest hervorgehoben, dass die „Idee des personalen Menschen“273, von der alles Recht auszugehen hat, notwendig beinhaltet, dass Recht nicht Substanz ist, sondern sich erst in Relationen verwirklicht; Person im Sinne des Rechts ist schon Relation274. Was bedeutet das aber für die beiden Extremauffassungen von Wahrheit, den Gedanken, dass die materielle Wahrheit die Wirklichkeit abbildet und die Vorstellung einer Wahrheit im Konsens ganz ohne Wirklichkeit? Es sind Versuche aufgezeigt worden, diese Wahrheitsbegriffe wertbezogen und methodisch einander anzunähern, es bleibt aber bei der unterschiedlichen Behandlung eines außerprozessualen Bezugspunktes. Ob ein solcher Bezugspunkt in der außerprozessualen „Wirklichkeit“ aber überhaupt vorausgesetzt werden muss, hängt von den Relationen ab, die den Verfahrensgegenstand bilden. Da der ontologische Gehalt eines jeden Prozessgegenstandes im Relationalen liegt, muss auch die juristische Wahrheit sich in einer Relation einstellen. Es wäre allerdings zu einfach zu behaupten, wo Konsens unter den Verfahrensbeteiligten herrscht, seien der relationale Konflikt bereits gelöst, die widerstreitenden Interessen ausgeglichen und damit Rechtsfrieden geschaffen. Denn der Konflikt der Relationen, der durch eine Straftat begründet wird, erschöpft sich nicht in den Relationen der Verfahrensbeteiligten. Ein Konflikt entsteht nicht nur zwischen Angeklagtem und Staatsanwaltschaft, sondern ebenso relevant wird die Relation zwischen Angeklagtem und Geschädigtem sowie zwischen Angeklagtem und Gesellschaft. Die Wahrheitssuche ist aber insofern von der Kommunikationsstruktur des Prozesses beeinflusst, als sie sich schon ontologisch auf Relationales bezieht und eben durch den Prozess selbst noch entscheidend beeinflusst werden kann. Im Grunde ist also nicht die Straftat im Sinne des wirklichen Geschehens Gegenstand des Prozesses (das kann sie schon methodisch nicht sein), sondern erst die Rechtsverhältnisse, die durch die Tat entstanden sind (denn nur diese gehören zum ontologischen Gehalt des Rechts). In der prozessualen Kommunikation können sich diese Rechtsverhältnisse neu gestalten. Die Wahrheit hängt in ihrer Finalstruktur275, einem Interessenausgleich zu dienen, von diesen Rechtsverhältnissen ab. Je nachdem, ob auch Kaufmann, Beträge zur juristischen Hermeneutik, S. 98: „Die ,Sache‘ Recht ist nicht das transzendentale ,Recht an sich‘, sondern der konkrete personale Bezug zwischen Menschen und Dingen“. 272 Siehe hierzu ausführlich Kaufmann, RTh 17 (1986), 257 ff. 273 Hierzu eingehend Kaufmann, RTh 17 (1986), S. 257, 276: „Die Idee des Rechts ist die Idee des personalen Menschen – oder sie ist gar nichts“. 274 Dieser Ansatz, dass die Person nicht mehr als Gegenstand, sondern auch als Beziehung aufgefasst wird, findet sich schon bei Kant, Metaphysik der Sitten, S. 223: Person „ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“.
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konfrontativ oder kooperativ verhandelt wird, ändert sich die Interessenlage der Beteiligten. Das Verfahren konstituiert die Relationen neu, und die Wahrheit interessiert nur im Verhältnis zu diesen Relationen. Die Kooperation der Parteien kann, wenn andere Interessen nicht wesentlich beeinträchtigt werden, einen außerprozessualen Bezugspunkt entbehrlich machen. Damit unterscheidet sich die in einem kooperativen Verfahren angestrebte Wahrheit von der formellen Wahrheit der Konsensustheorie entscheidend. Die Wahrheit des konsensualen Verfahrens ist Folge eines strategischen, nicht eines diskursiven Handelns276. In der Strategie der Beteiligten dieser konsensualen Wahrheitssuche kann jeder Bezugspunkt in der „Wirklichkeit“ fehlen. Dies kann aber nur insoweit gelten, als anderweitige Interessen, die zu dem Konflikt in Relation stehen, also das öffentliche Strafbedürfnis und die Vergeltungs- oder Wiedergutmachungsinteressen eines etwaigen Opfers, nicht unberücksichtigt bleiben. Damit schließt sich der hermeneutische Zirkel, der zurückführt zu der oben entwickelten Idee einer materiellen Gerechtigkeit des Verfahrens. Denn es wird bereits ein vom Verfahren geprägtes Gerechtigkeitsverständnis in den Wahrheitsbegriff hineingelegt, das zur Finalstruktur juristischer Wahrheit geführt hat, von der man nun notwendig zirkulär zum Interessenausgleich als Rechtsfrieden schaffender Aufgabe des Strafverfahrens zurückkehrt und für diese eine „strategische“ Wahrheit genügen lässt. bb) Das Verfahren als kommunikative Grundlage des szenischen Verstehens Unabhängig von der Frage, ob ein außerprozessualer Bezugspunkt aufgrund einvernehmlicher Interessenlage entbehrlich werden kann, stellt sich aber die Frage, ob eine Wirklichkeit jenseits des Verfahrens als Ziel der Wahrheitssuche überhaupt vorausgesetzt werden kann. Gegenstand dieser Frage sind nicht konstruktivistische Einwände gegen die Idee einer subjektunabhängigen Realität, sondern die Abhängigkeit der Sachverhaltskonstruktion im szenischen Verstehen von der Kommunikationssituation im Verfahren. Ein Strafverfahren kann auf 275 Krauß, in: Festschrift für Schaffstein, S. 411, 413, macht die „Finalstruktur der Wahrheit“ zu einem „möglichen Einfallstor aller erdenklichen Manipulierungen an der ,Objektivität‘ der Erkenntnis“. 276 Dieses strategische Handeln hat Habermas, in: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, S. 200 f., folgendermaßen charakterisiert: „Welche Tatbestände die Parteien mitteilen, welche sie verbergen; welche Interpretationen und Erklärungen sie für die Daten finden: das hängt von ihrer sozialen Rolle in einem Interaktionszusammenhang und von ihrem Interesse ab.“ Zwar hat Habermas seine Auffassung später geändert, vgl. Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 62 f. (Anm. 63), aber insbesondere für die konsensuale Sachverhaltsfeststellung soll hier an dem Gedanken festgehalten werden, dass es sich hierbei um eine strategische Wahrheit handelt; vgl. zu der von den „Parteiinteressen“ geleiteten Argumentation im Prozess auch Neumann, Juristische Argumentationslehre, S. 84.
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Konfrontation oder aber auf Kooperation ausgerichtet sein. Das „Verhältnis“ der Verfahrensbeteiligten entscheidet darüber, welche Richtung verfolgt wird. Die Suche nach materieller Wahrheit im Falle kooperativer Verfahrensführung ist unter Umständen nicht nur entbehrlich, sondern sogar methodisch unmöglich. Dies ist für die oben vorgestellten „kommunikationsgeprägten Tatbestandsmerkmale“ besonders einleuchtend. Da diese sich nur in der Relation verwirklichen, kann bei konsensualer Festlegung des Sachverhaltes und mangelnder Interaktion Dritter, die dem Konsens eine andere Wirklichkeit gegenüberstellt, schon methodisch keine anders lautende außerprozessuale Wirklichkeit gefunden werden. Da aber jede Sachverhaltskonstruktion im Strafprozess ein Prozess hermeneutischen Verstehens ist, in dem sich die Relevanzstrukturen eines Falles erst herauskristallisieren müssen, muss das Gesagte letztlich unabhängig von der Struktur der Tatbestandsmerkmale gelten. Denn wenn ein juristischer Sachverhalt stets Verhältnisse beschreibt, dann beeinflusst die das Verhältnis konstituierende personale Kommunikation die Sachverhaltskonstruktion entscheidend277. Hruschka hat sehr klar zum Ausdruck gebracht, dass das „theoretisch-juristische Erkenntnisinteresse“ letztlich immer „vitalen, vorrationalen, praktischen Bedürfnissen“ entspringt. „Die Erkenntnis rechtlich relevanter Linien eines vergangenen Lebensverhaltes findet ihren Sinn und Anstoß darin, dass ein gegenwärtiges Lebensverhältnis unter Rückgriff auf den vergangenen Lebenssachverhalt geregelt werden soll. Nun besteht diese Regelungsbedürftigkeit nie ,an sich‘. [. . .]. Regelungsbedürfnisse sind aber ganz auf Personen bezogen. [. . .]. So steuert ein praktisches Interesse der unmittelbar Betroffenen das theoretische Erkennen der rechtlich relevanten Linien eines Lebensverhaltes.“ 278 Bezogen auf das Strafverfahren, kann das bedeuten, dass, wenn kooperativ verhandelt wird, ohne dass von sonstigen Verfahrensteilnehmern Einwände gegen den „einvernehmlich konstruierten“ Sachverhalt erhoben werden, und wenn die Beteiligten im Prozess so zu einem konsensualen Ergebnis gelangen, sich die relevanten Tatsachen in der Konstruktion des einvernehmlich konstruierten Sachverhaltes erschöpfen. Die Verfügungsmacht der Parteien ist dann eine faktische, keine ideologische. Dem Gericht bieten sich keine Anhaltspunkte für einen Bezugspunkt in einer „jenseits des Verfahrens liegenden Wirklichkeit“. Der Amtsaufklärungsgrundsatz findet also dort seine Grenzen, wo eine materielle Wahrheit, die jenseits der Relationen der Verfahrensbeteiligten liegt, das juristische Erkenntnisinteresse und Erkenntnisvermögen verlassen muss. Denn der Lebensverhalt zeigt sich dem Gericht nicht so, wie er „an sich“ war, sondern so, wie das in der Gegenwart bereitstellbare Material ihn zu sehen erlaubt279. Die 277 Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 125, weist zu Recht darauf hin, dass sich das Verstehen in der Konstruktion des Sachverhaltes auf permanente Veränderungen seines Objektes einzustellen hat. 278 Hruschka, Die Konstitution des Rechtsfalles, S. 37 f.
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Beschränktheit des Materials kann aber von den Prozessbeteiligten wesentlich beeinflusst werden, sodass auch unter Geltung des Amtsaufklärungsgrundsatzes die Prozessbeteiligten über das Material zwar konzeptionell nicht frei verfügen, dieses aber faktisch so einschränken können, dass sich dem Gericht keine weiterführenden Anhaltspunkte aufdrängen. In der Erkenntnis, dass der Sachverhalt erst in prozessualer Kommunikation konstruiert wird, ist also bereits angelegt, dass die Parteien in gewissen Grenzen über den Verfahrensgegenstand verfügen können. Besteht hingegen keine Einigkeit und wird konfrontativ verhandelt (gemeint ist hiermit auch eine eventuelle Opposition des möglichen Opfers gegen das einvernehmliche Tatsachenergebnis), verlangt die Finalstruktur des prozessualen Wahrheitsbegriffs die Ausrichtung der Sachverhaltsfeststellung an der „forensischen Wahrheit“280, also die Orientierung auf einen Bezugspunkt, der der Verfügbarkeit der Parteien entzogen ist. Das folgt schon faktisch aus der Kommunikationssituation, denn die Konfrontation bietet per se Anhaltspunkte für die weitere Aufklärung des Rechtsverhältnisses, über das gerade keine Einigkeit besteht. Es ist aber auch eine Konsequenz der Finalstruktur selbst, denn ein Interessenausgleich ist in konfrontativen Fällen auf einvernehmlichem Wege nicht möglich, und damit verlangt eine gerechte Entscheidung die Ausrichtung des Prozesses an der „forensischen Wahrheit“, an der sich das szenische Verstehen zu orientieren hat. Eine Wirklichkeit, die der Verfügung der Parteien entzogen ist, kann sich durch das Einbringen neuer Aspekte in das Verfahren (beispielsweise durch Zeugen oder Verletzte) ergeben. Es gibt dementsprechend nur innerprozessuale Wirklichkeitsbezüge, aber nicht alle liegen in der Disposition der Parteien. Die Relationen der Verfahrensbeteiligten bestimmen den hermeneutischen Verstehensprozess im Verfahren. Eine außerhalb dieser Relationen liegende Wahrheit kann und muss für das Strafverfahren nicht relevant werden. 3. Das Wirken der Strafzwecke auf Schuld und Wahrheit Es bleibt nun die Frage, ob sich die bis zu diesem Punkt herausgearbeiteten Ergebnisse zum Schuldprinzip und der Wahrheitspflicht mit den anerkannten Strafzwecken vereinbaren lassen. Bislang ist hier nur nach den Verfahrenszielen gefragt und diese sind in Relation zu der Gerechtigkeitsfrage gesetzt worden. Von den Verfahrenszielen zu trennen ist jedoch die Frage nach den Zwecken und der Legitimation der Strafe281. Auf diese versuchen die Straftheorien eine 279
Vgl. Hruschka, a. a. O., S. 44. Als Ziel der „formalisierten“ und auf „szenisches Verstehen im Strafverfahren ausgerichteten Wahrheitssuche“, vgl. Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 153. 280
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Antwort zu geben. Die Frage muss also sein, welches Schuld- und Wahrheitsverständnis die einzelnen Strafzwecke voraussetzen oder verlangen. Die Strafzwecke ihrerseits wiederum unterliegen Wandlungen, die von Änderungen der Gerechtigkeitsvorstellungen abhängig sind. Und so findet sich auch an diesem Punkt die bereits mehrfach erwähnte gegenseitige Abhängigkeit zwischen Gerechtigkeitsvorstellungen im Allgemeinen und den Zwecken des Verfahrens oder der Strafe selbst im Besonderen. Diese Interdependenz ist in jedem hermeneutischen Zirkel angelegt. Die Eingangsfrage nach dem Wandel der Gerechtigkeitsvorstellungen im Strafverfahren betraf gewissermaßen das Vorverständnis von Gerechtigkeit, das entscheidend dafür ist, in der „rechten Weise“ in den hermeneutischen Zirkel hineinzukommen282. Daher müssen sich nun die Konsequenzen dieses Vorverständnisses auch an den Strafzwecken messen. Dass eine jede Straftheorie sich ihr eigenes Bild von Wahrheit und Schuld schafft, hängt nicht zuletzt auch mit der semantischen Offenheit der Begriffe zusammen. Den verschiedenen straftheoretischen Konzepten lassen sich unterschiedliche Wahrheitsmodelle zuordnen283, und auch das Schuldkonzept wird von jeder einzelnen Straftheorie anders belebt284. Unter diesem Aspekt gilt es nun also, sich unter Zugrundelegung der oben gewonnenen Ergebnisse zum Wahrheits- und Schuldbegriff den einzelnen Strafzwecken zuzuwenden, um zu prüfen, welche Aspekte der Strafziele mit den gewonnenen Resultaten in Einklang zu bringen sind.
281 Anders Calliess, NJW 1989, 1338, der „in der Tendenz, den allgemeinen strafrechtlichen Normen allgemeine Strafzwecke als übergreifende Auslegungskriterien und Zielbestimmungen voranzustellen“, eine „tiefgreifende Krise“ sieht, und die Diskussion über Strafzwecke für im Ansatz falsch hält, weil die „staatliche Strafbefugnis“, die mit dem neuzeitlichen „Gewaltmonopol entstanden“ ist, „keiner besonderen Legitimation bedarf“; „wo Zwecke und Ziele staatlichen Handelns die allein entscheidenden Kriterien werden, verliert das freiheitsverbürgende Recht seine Kraft.“ 282 Vgl. hierzu Kaufmann, Beträge zur juristischen Hermeneutik, S. 77, der unter Rückgriff auf Heidegger, darauf hinweist, dass entscheidend nicht ist, aus dem Zirkel heraus-, sondern „in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen“. 283 So auch Volk, Wahrheit und materielles Recht im Strafprozess, S. 18; vgl. zu diesem reziproken Verhältnis insbesondere auch Krauß, in: Festschrift für Schaffstein, S. 412, 423 (siehe auch Kapitel 1, Fn. 94) und Müller-Dietz, Zeitschrift für evangelische Ethik 1971 257, 264 (siehe auch Kapitel 1, Fn. 216). 284 So fragt auch Rudolphi, in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, S. 69 f., 84, nach den Zusammenhängen der Zurechnungsformen mit den Zielen und Zwecken staatlichen Strafrechts: „[. . .] denn Strafzweckerwägungen sind es, die die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Zurechnungsstufen und damit die strafrechtliche Handlungs-, Unrechts-, und Schuldlehre in legitimer, wenngleich in jeweils unterschiedlicher Weise mitbestimmen“, Vgl. auch Giunta, Riv. it. dir. proc. pen., 2002, 123, der die Grundlage des Schuldprinzips so direkt an die Strafzwecke gebunden sieht, dass Schuldfeststellung und Strafrechtfertigung nur zwei Aspekte einer einzigen materiellen Thematik darstellen.
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Wenn im Rahmen der informellen Verständigung im Strafverfahren auf Strafzweckerwägungen verwiesen wird, so geschieht dies meist im Zusammenhang mit der Einbettung der Absprachen in den Prozess eines „Paradigmenwechsels“ im gesamten Strafrechtspflegesystem. Der in diesen Zeiten in Politik und Wissenschaft gerne und viel bemühte Terminus „Paradigmenwechsel“ muss oft dann herhalten, wenn es um solche Wandel von Wertvorstellungen geht, die axiologisch vorausgesetzt werden, um aus diesen konkrete Folgerungen abzuleiten. Nun stellt sich ein offenes Argumentationsproblem gerade da, wo die einen den „Paradigmenwechsel“ als Rechtfertigung für ein neues Verständnis des Strafprozesses ins Feld führen, während die anderen gerade am traditionellen Konzept des Verfahrens festhalten, um von dort Angriffe gegen die fortschreitende Informalisierung zu starten. In diesem Streit kann so lange keine Lösung gefunden werden, wie der axiologische Charakter der gegenseitigen Grundpositionen nicht aufgedeckt und auf seine konkreten Grenzen überprüft wird. Diese Grenzen müssen sich an unserem Vorverständnis von Gerechtigkeit ausrichten. Die Frage ist also nicht, ob der Deal sich mit traditionellen Strafzwecken vereinen lässt (das wäre die allzu dogmatische Variante), die Frage kann aber auch nicht sein, ob der prozessuale „Paradigmenwechsel“ selbst die Zwecke der Strafe so weit gewandelt hat, dass sich Kollisionen gar nicht mehr auftun können (das wäre der allzu funktionalistische Ansatz), sondern es ist zu fragen, wo entsprechend dem gewandelten Vorverständnis von Gerechtigkeit die Grenzen der Unverfügbarkeit in den Strafzwecken verlaufen. Weder der Gesetzgeber des StGB noch das Grundgesetz haben sich für den einen oder anderen Strafzweck entschieden. Das Bundesverfassungsgericht hält dementsprechend Abwägungen im Blick auf die anerkannten Strafzwecke je nach Einzelfall grundsätzlich für geboten285. Es ist also sinnvoll, die einzelnen Strafzwecke gesondert an einem „materiell prozedural“ geprägten Vorverständnis von Gerechtigkeit zu messen. a) Die zweckfreie Vergeltung Da Strafe nach den absoluten Theorien keine Zwecke zu erfüllen hat, ist sie einzig in Vergeltung oder Sühne begründet. Klassisch für den Vergeltungsgedanken ist die Formulierung Kants, nach der jedem genau das zu widerfahren habe, was seine Taten wert sind286. Wurzel dieses Verständnisses von Strafe ist das antike Talionsprinzip. Die Vergeltung ist nicht nur einziger Rechtsgrund, sondern auch einziges Maß der Strafe. Zwischen den Aufgaben des Strafrechts und denen der Strafe gibt es für die Lehre absoluter Tatvergeltung keinen Bruch.287 Die Strafe hat das Unrecht oder die Schuld der Tat exakt auszuglei285 286
So z. B. BVerGE 64, 261, 277. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 333.
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chen. Der Vergeltungsgedanke wird anthropologisch im Rachebedürfnis begründet288. Damit die Rache nicht uferlos wird, bedarf es eines Korrektivs, nämlich der angemessen Strafe. Die Angemessenheit richtet sich nach dem Unrecht der Tat und der in ihr liegenden Schuld. In der Vergeltungstheorie ist somit das materielle Schuldprinzip in der Form angelegt, dass der Vergeltungsgedanke die Vorstellung stützt, einem konkreten Unrecht entspreche auch eine konkrete Schuld. Die Schuld liefert dann das Maß für die Strafe289. Die absoluten Theorien sind nur vergangenheitsorientiert290. Es geht ausschließlich um den „Rückblick auf das Verbrechen, das es als vergangenes Geschehen zu überwinden gilt291. Nur die zurückliegende Tat ist Maßstab, zukunftsorientierte Erwägungen bleiben unberücksichtigt. Da es keinen anderen Maßstab als den der konkreten Tat gibt, ist die Erforschung der Tat im Sinne ihres wahren Sachverhalts für die absoluten Theorien unabdinglich. Da sich in der Vergeltung selbst die Gerechtigkeit manifestiert, sind die Feststellung materieller Schuld und damit die Erforschung des tatsächlichen Tatgeschehens im absoluten Vergeltungsgedanken eine Notwendigkeit. Durch die unbedingte Verbindung von Tatschuld und dem verwirklichten Unrecht, muss den absoluten Straftheorien jedes Zugeständnis an eine mögliche Relativierung der Aufklärungspflicht zuwiderlaufen. Die absoluten Straftheorien verfolgen somit einen materiellen Wahrheitsbegriff, der in der idealistischen Überzeugung gründet, dass Gerechtigkeit nur da sein kann, wo die umfassende Kenntnis des Tatunrechts ist und die konkrete Tatschuld vergolten wird292. Auch der Schuldbegriff in der Idee absoluter Vergeltung muss ein streng materieller sein, der weder die Funktionalität der Schuld im Sinne einer „Zuschreibung“ noch den kommunikativen Prozess des „Schuldgebens“ anerkennen kann. Der absolute Vergeltungsgedanke ist mit den hier entworfenen Schuld- und Wahrheitskonzeptionen nicht vereinbar. Das spricht aber nicht schon gegen die herausgearbeitete Öffnung dieser dogmatischen Kategorien, da ein rechtlich relevanter Strafzweck sich in absoluter Vergeltung niemals erschöpfen kann. Denn die Idee absoluter Vergeltung schließt gerade das Rechtsspezifische, nämlich die personalen Relationen, aus ihrer Strafbegründung aus, indem sie Strafe aus-
287
Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 324. Dreier, JuS 1996, 580, 581. 289 Zu den Vertretern der drei verschiedenen „Spielarten“ der „Idee der Schuldvergeltung“: „Vergeltungsstrafe“, Vergeltung durch „Sühne“ und „Vereinigungstheorie“ vgl. die ausführlichen Nachweise bei Schünemann, in: Grundfragen des modernen Strafrechts, S. 154, Fn. 4. 290 Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren, S. 251. 291 Schmidhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil Kap. 2, Rn. 5. 292 In diesem Sinn tut sich ein Widerspruch in Kants Strafphilosophie der absoluten Vergeltung in Ansehung seiner erkenntnistheoretischen kritischen Schriften auf. 288
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schließlich an einen transzendentalen Ausgleich bindet. Dass der Vergeltungsgedanke in einem „modernen“ Strafrecht als Legitimierungsmoment für staatliche Sanktionierung nicht hinreichen kann, ist wohl anerkannt293. Insofern kann man von einem breiten zwecktheoretischen Konsens ausgehen. Dass es innerhalb dieses Konsenses zu einer Renaissance des Vergeltungsgedankens294 gekommen ist und diese wohl auch nicht abgeschlossen ist, ändert nichts daran, dass das Erfordernis präventiver Zwecke für die Legitimierung von Strafe nicht mehr ernstlich angezweifelt wird. b) Prävention und die Entdeckung zweckgerichteter Vergeltung Mit den „relativen Theorien“ zum Strafzweck ist ein umfassender Überbegriff gemeint für zahlreiche Ansätze, die in ihrer Unterschiedlichkeit nur den grundsätzlichen Gegensatz zu den absoluten Theorien gemein haben: Sie setzen einen außerhalb der Strafe liegenden Zweck voraus. Sie sind zukunftsorientiert, indem sie nach den gesellschaftlichen Folgen der Strafe fragen295. Strafe kann sich demnach nicht aus sich selbst heraus legitimieren, weil Aufgabe des Strafrechts die Durchsetzung einer Gerechtigkeit ist, die nicht von gesellschaftlichen und kriminologischen Strafbedürfnissen losgelöst ist. Die Gerechtigkeit öffnet sich in den relativen Theorien dem Zweckgedanken. Das Strafrecht dient dementsprechend einem auch in die Zukunft gewandten Rechtsgüterschutz. An dieser Funktion haben sich auch die Zwecke der Strafe zu messen. Sie haben sich daher stets mit dem Vorwurf auseinanderzusetzen, dass sie die Würde des Straftäters insofern bedrohen, als sie ihn zu einem Mittel zum Zweck degradieren. Wenn die Strafe also vor allem der Verhütung zukünftiger Rechtsgüterverletzungen zu dienen hat und weniger der Vergeltung der konkreten Tat, legitimierte Strafe aber immer „gerecht“ sein muss, deutet dies einen Wandel auch in der Gerechtigkeitsvorstellung von Strafe an, der dem oben entwickelten „Vorverständnis“ einer materiell fundierten Gerechtigkeit des Verfahrens nicht zuwiderläuft. Strafe ist nicht mehr nur dann gerecht, wenn sie die Tat vergilt im Sinne 293 In einer freiheitlichen Gesellschaft könne Vergeltung nicht der alleinige Zweck bzw. Selbstzweck von Strafe sein, sondern sie müsse zumindest auch der Verhütung von Straftaten dienen, vgl. Kühl, Strafgesetzbuch, § 46 Rn. 2; Dreher/Tröndle, § 46 Rn. 3a. 294 In diesem Sinne programmatisch der Titel der Dissertation von Kalous: „Positive Generalprävention durch Vergeltung“. 295 Ob von „relativen“ (so die klassische Bezeichnung im Gegensatz zu den absoluten), „zweckorientierten“ (so bei Schünemann, in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, S. 45 ff.) „folgenorientierten“ (z. B. bei Schumann, in: Positive Generalprävention, S. 17) oder „kriminalpolitisch“ (vgl. Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, insbesondere S. 10 ff.) orientierten Straftheorien gesprochen wird, so ist bei aller Verschiedenartigkeit der Konzepte ihnen immer eines gemeinsam, nämlich die Abkehr von einer nur metaphysisch begründeten Strafe hin zum Eindringen instrumenteller Vernunft in das Strafrechtssystem.
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eines Schuldausgleichs, sondern zur Gerechtigkeit gehören ebenso die Wirkung der Strafe und ihre gesellschaftlichen Folgen. Warum sollte es gerecht sein, den letzten Mörder in einer sich auflösenden Gesellschaft296 für seine Tat büßen zu lassen, wenn es keine „personalen Relationen“ mehr gibt, die eine Reaktion auf Unrecht überhaupt erfordern? Wenn Adressat der Strafe nicht nur der Täter, sondern auch die Gesellschaft ist, wird die präventive Wirkung auf das soziale Gefüge unabdingliche Voraussetzung für die Legitimation jeder Strafe. Wie ist es aber dann um Schuldfeststellung und Wahrheitspflicht im Prozess bestellt? Wie notwendig ist die Erforschung der Wahrheit wirklich? Und was bedeutet Wahrheit als Ziel eines Verfahrens, das nicht nur vergelten will, sondern vor allem dem Rechtsgüterschutz zu dienen hat? An diesem Punkt ist eine weitere Differenzierung erforderlich. Die relativen Theorien werden nach ihren jeweiligen Strafzielen unterteilt in general- und spezialpräventive Theorien. Beide theoretischen Ansätze haben einen positiven und einen negativen Aspekt. Ihre positive Wirkung liegt in der Stärkung des Normbewusstseins durch Ahndung des Rechtsbruchs, ihre negative in Abschreckung. Je nach Ausrichtung der einzelnen Theorien steht mal das eine, mal das andere Ziel im Vordergrund. Nachdem die Vergeltungstheorien an Einfluss verloren hatten, gewann für eine relativ kurze Zeit die Idee der Spezialprävention als „eigentlichem Motor der deutschen Strafrechtsreform“297 an Bedeutung. Sie überlebte sich nach einigen wenigen Jahren durch die Krise des Behandlungsdenkens298 und machte dem rasanten Aufstieg der positiven Generalprävention Platz. Um die negative Abschreckungswirkung der relativen Theorien zu erzielen, scheint die Erforschung der Wahrheit weniger wichtig als für die positive Ausprägung. Es liegt auf der Hand, dass abschreckend auch die Strafe wirkt, die nicht auf Tatsachenfeststellung, sondern unter Umständen auf Verdacht oder gar auf Willkür basiert – wenn auch ein statistisch nachweisbarer Zusammenhang zwischen abschreckender Wirkung und höherer Sanktionierung bis heute nicht festgestellt werden konnte299. Eine höhere Wahrscheinlichkeit, auch bei geringeren Anforderungen an die Wahrheitserforschung bestraft zu werden, mindert sicher nicht die abschreckende Wirkung. Daraus folgt, dass für die Legitimation von Strafe, sofern sie ausschließlich in der abschreckenden negativen Prävention gesehen wird, die Erforschung der Wahrheit mithin kein konstitutionelles Element ist. 296
Kant, Metaphysik der Sitten, S. 333. Schünemann, Zum Stellenwert der positiven Generalprävention in einer dualistischen Straftheorie, in: Positive Generalprävention, S. 109. 298 Weitere Verweise bei Schünemann a. a. O., Fn. 6. 299 Skeptisch zur Abschreckungswirkung Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 315, der das Funktionieren des Abschreckungsmechanismus insofern in Zweifel zieht, als es nicht nur empirisch äußerst unwahrscheinlich sei, sondern normativ auch unerträglich wäre. 297
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Positive Generalprävention meint die Stärkung des Normbewusstseins in der Allgemeinheit, „die Erhaltung der Norm als Orientierungsmuster für sozialen Kontakt“300, die Sicherung der „Normen, die einer Gesellschaft jeweils als unverzichtbar gelten“301. Die Beurteilung des Erfordernisses der Wahrheitsfindung für ein gerechtes Urteil im Lichte dieser Straftheorien ist komplexer. Da Ziel die Stärkung des Normbewusstseins ist, zum Vertrauen in die Rechtsordnung aber auch gehört, dass der Staat nicht willkürlich sanktioniert, gewinnt die Wahrheitspflicht im Zusammenhang mit der positiven Prävention an Bedeutung. Die Unsicherheit in der Bewertung der Anforderungen an die Wahrheitserforschung in den Theorien der positiven Generalprävention (wo die einen einen höheren Sanktionierungsoutput als Stärkung ins Rechtsvertrauen interpretieren, legen die andern eine Aufwertung konsensualer Elemente zu Lasten der Wahrheitserforschung als in der Allgemeinheit empfundene „Ungerechtigkeit“ aus) liegt in einem Hauptangriffspunkt der integrationspräventiven Ansätze begründet: die häufig beklagte mangelnde Empiriefähigkeit des Theorems der positiven Generalprävention302. Da sich empirisch weder die eine noch die andere Position wird nachweisen lassen, müssen Aussagen zum „korrespondenzorientierten Wahrheitserfordernis“ rein spekulativ sein. Da positive Generalprävention, anders als eine reine Abschreckungstheorie, ein Vorverständnis von gerechter Strafe bereits in ihre Vorstellung vom „Vertrauen in die Rechtsordnung“ eingliedern muss, befindet man sich auch hier innerhalb des berühmten Zirkels, aus dem es kein analytisches Entrinnen, sondern in den es nur ein „bekennendes Hineingelangen“ geben kann. In den Theorien positiver Generalprävention tritt der hermeneutische Zirkel jeder Beschäftigung mit Recht so deutlich hervor, dass man nicht umhin kann, den Blick auf die „Vorverständnisse“ zu wenden, um die Theorie mit Inhalten zu füllen. Es lässt sich also festhalten, dass es gerade im Rahmen der Integrationsprävention entscheidend darauf ankommt, inwieweit sich die Gerechtigkeitsvorstellungen über die Herstellung eines gerechten Urteils gewandelt haben. Wenn Kooperation und Konsens auch im Strafverfahren als Gerechtigkeit verbürgende Werte anerkannt und das Verfahrensrecht seiner nur dienenden Funktion enthoben wird, dann werden Öffnungen des Schuldprinzips und der Wahrheitssuche auf positiv generalpräventiver Grundlage möglich, da sie weder den Strafzweck des Rechtgüterschutzes noch das „Vorverständnis einer gerechten Strafe“ unterlaufen müssen. Es zeichnet sich seit einiger Zeit eine Renaissance des Vergeltungsgedankens der absoluten Theorien ab, die entweder in offener Kritik zum Prinzip der posi300
Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1. Abschn. Rn. 11. Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 295 ff. 302 Anders Schumann in dem Beitrag „Empirische Beweisbarkeit der Grundannahmen von positiver Generalprävention“, in: Positive Generalprävention, S. 17 ff. 301
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tiven Generalprävention offenbar wird303 oder aber in Ergänzung zum Gedanken der positiven Generalprävention304. Im Grunde nimmt diese Wiederaufwertung des Vergeltungsgedanken die Bemühungen der Vereinigungstheorien auf, die Antinomien der Strafzwecke nicht zugunsten eines dominierenden Zwecks, sondern im Sinne eines Ausgleichs zu lösen, wenn sie auch die Vergeltung wieder stärker in den Vordergrund rückt. In der Wiederaufwertung des Vergeltungsgedankens in der modernen Strafrechtswissenschaft fällt auf, dass die Ableitung des ethischen Schuldbegriffes nicht mehr aus übergeordneten Prämissen versucht wird, sondern eher aus einer „reductio ad absurdum“: nämlich aus den unhaltbaren Konsequenzen einer rein zweckrationalen Strafe305. Damit wird das Schulderfordernis eher aus negativer Abgrenzung zu präventiven Auswüchsen denn als positiv bestimmbarer Wert formuliert. Der Absolutheitsanspruch des vergeltenden Schuldprinzips wird dadurch in den modernen Lesarten aufgeweicht. Die Tendenzen, die den Vergeltungsgedanken in der positiven Generalprävention verankern wollen und so zum Begriff der „funktionalen Vergeltungstheorie“306 oder der „Prävention durch Vergeltung307 finden, setzen bei einer Strafbegründung an, die zwischen absoluter und relativer „oszilliert“308. Die Strafe entspricht einem neu verstandenen Schuldprinzip309: Der Täter hafte nur für 303 So z. B. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 48, der von der „notwendigen Verbrechensaufhebung durch Strafe“ spricht, und präventive Effekte als mittelbare Folgen einer absoluten Strafbegründung versteht, S. 50. 304 So Hörnle/von Hirsch, in: Positive Generalprävention, S. 83, 91, die von einer „ethisierten Version von Tadel und positiver Generalprävention“ ausgehen; Baurmann, in: Positive Generalprävention, S. 1, 13, der bestreitet, dass die positive Genralprävention allein staatliche Strafe rechtfertigen könne, und für die Legitimierung die Ergänzung mit anderen vergeltenden oder präventiven Zwecke für erforderlich hält; Frisch, in: Positive Generalprävention, S. 125, 136, der so weit geht, dass die berechtigten Wesensmerkmale der positiven Generalprävention aus dem Begründungszusammenhang der absoluten Theorien, nämlich der „Negation der Negation des Rechts“ stammen und im Rahmen der positiven Generalprävention nur in einen anderen Begründungszusammenhang gestellt werden, S. 139; im weiteren Sinne so auch Stratenwerth, Strafrecht Allgemeiner Teil, Rn. 15, der dabei bleibt, dass Strafe schuldbezogene Vergeltung sei, Schuld als Rechtfertigung aber nicht ausreiche, sondern legitime Zwecke hinzutreten müssten, die verschiedenen Zwecke seien dann im Sinne eines Interessenkonfliktes zu lösen; Hoffmann, P., Vergeltung und Generalprävention im heutigen Strafrecht, der die Nähe von Vergeltung und Generalprävention im Rahmen des Schuldbegriffs, nämlich in der Deckung des Vergeltungsbedürfnisses mit dem Normstabilisierungsbedarf sucht, S. 176 ff. 305 Vgl. Baurmann, Zweckrationalität und Strafrecht, S. 181. 306 Lesch, JA 1994, S. 598 m. w. N. 307 So der Titel der Monographie von Kalous. 308 So Lesch, a. a. O., nach dessen Ansicht die Strafe absolut ist, weil gestraft werde, „quia peccatum est“ und nicht „ne peccetur“; sie sei relativ, weil die Strafe eine Funktion habe, nämlich Erhaltung der Grundbedingungen sozialer Koexistenz (S. 599). 309 So als Prinzip formuliert bei Lesch, a. a. O., S. 599.
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seine Schuld. Diese Schuld bestehe in der Störung der Ordnung. Die Strafe sei die Beseitigung der Störung, die Tilgung der Schuld. Auf welcher Grundlage allerdings die Gleichsetzung zwischen Schuld und Störung der Ordnung erfolgen soll, ist nicht einsichtig. Zwar verweist Lesch310 auf Jakobs311 und Stratenwerth312, die die rechtswidrige Tatbestandsverwirklichung als Element der Schuld anführen, und den Schuldtatbestand somit von der subjektiven Beziehung des Täters zum Unrecht auf einen objektivierbaren Maßstab verlagern. Es bleibt aber dabei, dass auch in dieser Argumentation die „Störung der Ordnung“ als ein von Vorverständnissen geprägter Topos gebraucht wird und sich somit als funktionale Maskierung für ein absolutes Schuldverständnis erweist. Schuld als Störung der Ordnung kann nicht absolut verstanden werden, so lange die Ordnung nicht als eine absolute konzipiert wird. Dann findet man sich aber inmitten der Metaphysik wieder, die man gerade verlassen wollte313. Das Verhältnis der Theorien von der positiven Generalprävention durch Vergeltung zur Wahrheit des Prozesses hängt wiederum vom zugrunde liegenden Schuldkonzept ab. Wenn Schuld die Störung der Ordnung sein soll, dann ist denkbar, dass Kooperation und Konsens im Verfahren die Störung und somit auch die Schuld mildern können. Ebenso zulässig würde die Vorstellung, dass die Störung der Ordnung ohne Feststellung der materiellen Wahrheit attestiert wird. Denn bereits durch eine Verantwortungsübernahme kann die Ordnung als gestört angesehen werden, weil zumindest der Anschein einer Normübertretung geweckt wird, der zumindest störend wirken kann. Wenn Schuld die Störung der Ordnung sein soll und keine konkreten Maßstäbe dafür geliefert werden können, was die Ordnung stört, dann handelt es sich – entgegen den anders lautenden Beteuerungen – entweder um eine absolute Vergeltungstheorie, in der die Störung der Ordnung nur in versteckter Weise die absolut verstandene Schuld paraphrasiert, oder um eine rein präventive Theorie, in der die Störung der Ordnung rein funktional das meint, was als „Störung“ festgesetzt wird, da es einen absoluten Maßstab für die Störung nicht geben kann. In diesem Sinne lässt sich von einer Renaissance des Vergeltungsgedankens nicht im Allgemeinen sprechen, sondern die Idee wird in jeder einzelnen Konzeption auf verschiedene Art neu belebt.
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Lesch, a. a. O., S. 599. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 17. Abschn. Rn. 43 ff., zur Notwendigkeit eines Schuldtatbestandes. 312 Stratenwerth, in: Festschrift für Schaffstein, S. 177, 184, fordert, man müsse einen „auf die Tat als ganzes bezogenen Schuldbegriff zugrunde“ legen, „der die rechtswidrige Tatbestandsverwirklichung mit umfaßt“ (Hervorhebung im Original). 313 Besonders deutlich wird dieser Widerspruch, wenn Lesch, a. a. O., auch in Bezug auf die wiederherzustellende „Ordnung“ den Gedanken Luhmanns der „Legitimation durch Verfahren“ bemühen will. Dann kann aber von absoluter Schuld nicht mehr die Rede sein. 311
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Positive Generalprävention in allen Varianten macht – mehr oder weniger explizit – die strafrechtlichen „Vorverständnisse“ zum Programm, mal bekennt sie sich offen, mal erfolgt der Rückgriff auf das „Vorrechtliche“ unter dem Deckmantel funktionalistischer Terminologie, aber an irgendeiner Stelle vollzieht sich doch stets der Sprung vom Funktionalen ins Unverfügbare. Je nachdem, wo die Grenzen des Unverfügbaren angesetzt werden, bleibt also Raum für eine Öffnung des Schuld- und Wahrheitsbegriffes. c) Aktuelle Aspekte der Strafzwecke – Schadenswiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich Neben die traditionellen Zwecke der Strafe ist seit den frühen achtziger Jahren314 mit steigendem Nachdruck die Aufgabe getreten, die Opfer stärker in den Prozess der Sanktionierung zu integrieren. Unterschieden wird hierbei der Täter-Opfer-Ausgleich und die Schadenswiedergutmachung (§ 46a StGB). Bei der Schadenswiedergutmachung liegt das Schwergewicht auf einer Zahlung oder sonstigen Leistung des Täters an das Opfer, sie ist ergebnisorientiert; beim Täter-Opfer-Ausgleich steht dagegen die Verhandlung im Vordergrund, es geht hierbei zunächst um eine alternative informelle Verfahrensweise. Die Wiedergutmachungsauflage hat eher den Charakter einer Sanktion315. Der Täter-OpferAusgleich lässt sich in dem Schema von Vergeltung und Prävention nicht oder nur gewaltsam unterbringen316. Seit einigen Jahren werden die prozessualen Rechte des Opfers enorm gestärkt. Diese Tendenzen laufen darauf hinaus, das Opfer zu einer weiteren Partei im Prozess zu machen317. In den traditionellen Straftheorien wird das Opfer praktisch ausgeblendet. Diese bewusste „Vernachlässigung“ muss dann nicht verwundern, wenn man die Entwicklung des staatlichen Strafanspruchs gerade mit der „Neutralisierung des Opfers“ in Verbindung bringt318. Die absoluten 314 Zu diesen ersten Höhepunkten der Entwicklung zunehmender Opferorientierung im Strafrecht vgl. Jung, ZstW 93 (1981), 1147 ff. 315 Frehsee, in: Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem, S. 117, 120. 316 Stratenwerth, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2000 Rdn 1/29; anders Flechter, in: Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem, S. 75 ff., der für die Einführung des Opfers „in das Rahmenwerk einer vergeltenden Gerechtigkeit“ (S. 84) und konkret für ein Mitspracherecht der Opfer bei Verfahrensabsprachen plädiert; anders auch Frehsee, in: Der Rechtsstaat verschwindet, S. 21, 28. 317 Schünemann, in: Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem, S. 7; so wird die Genugtuung für das Opfer auch im letzten Eckpunktepapier zur Strafrechtsreform, StV 2001, 314, deutlich hervorgehoben; vgl. zur kritischen Würdigung der Wiederentdeckung des Opfers im Strafverfahren auch Salditt, StV 2002, 273 ff., nach dessen Ausführungen, es bei den Tendenzen zur Opferstärkung darum gehe, „ein Vorurteil zugunsten des mutmaßlichen Opfers normativ zu verankern“ (S. 275). 318 Vgl. hierzu Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 70 f.
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Theorien fordern Vergeltung um der Vergeltung willen, Opferinteressen haben neben absoluten Strafansprüchen keinen Platz319. In dem Moment, in dem das Opfer in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird, ist die strenge Täterorientierung des Besserungskonzepts, also der spezialpräventive Gedanke, überschritten320. Aber auch in ihren sonstigen generalpräventiven Ausgestaltungen verlieren die einzelnen Spielarten der Präventionstheorie das Opfer als Bezugspunkt aus dem Blick. Denn dem zweckgerichteten Strafrecht geht es darum, abzuschrecken oder die Gesellschaft vor künftigem Unrecht zu schützen und Normbewusstsein zu stärken. Unter diesem Gesichtspunkt gerät das Individuum aus dem Blick321. Bedeutung und Wert des Täter-Opfer-Ausgleichs werden vor allem gesehen in den kommunikativen Aspekten, dem unmittelbaren persönlichen Kontakt zwischen Täter und Opfer, der Mobilisierung der Autonomie der Kontrahenten, sowie der Tatsache, dass das zu erreichende Ergebnis in der eigenen Verantwortung der Beteiligten verbleibt und diese somit selbst Konfliktschlichtung betreiben322. Es ist hier nicht der Ort über das Für und Wider dieser Gesetzgebungsbestrebungen zu diskutieren. Nur soviel sei hervorgehoben: Die Diskussion um die Einordnung der Wiedergutmachung in die Strafzwecke verläuft alles andere als einheitlich323. Das zentrale Problem der verstärkten Einbeziehung des Opfers liegt auch hier in der Gefahr einer unzulässigen Druckausübung auf den Angeklagten, die einer schnellen und effizienten Genugtuung des Opfers allzu zuträglich sein könnte. Auch unter dem Aspekt des Gleichheitsgebotes bietet Wiedergutmachung Anlass zu berechtigten Zweifeln. 319 Prittwitz, in: Die Stelllung des Opfers im Strafrechtssystem, S. 59, sieht denn auch in den absoluten Straftheorien die radikalste Entfernung des Opfers aus den straftheoretischen Legitimationszusammenhängen. Er weist aber selbst darauf hin, dass „paradoxerweise“ gerade absolute Theorien am offensten für eine Berücksichtigung des Opfers zu sein scheinen, was gerade aus ihrer „Fixierung auf die vergangene Rechtsverletzung“ folge. 320 Hassemer macht die Entwicklung des Gedankens der Opfergenugtuung als eigenständigem Strafzweck an dem Beispiel der Regierungskriminalität der DDR deutlich, bei deren Ahndung die traditionellen Strafzwecke mehr oder weniger versagten, ZRP 1997, 318. 321 Albrecht, in: Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem, S. 43, der zu der kritischen Überzeugung gelangt, das Opfer sei das „Mittel zum dem politischen Zweck , den Abbau von Bürgerrechten weiter voranzutreiben (S. 50); Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 72, formuliert das in der Form, dass ein präventionsorientiertes Strafrecht das Opfer, schon weil es nur „zukunftgerichtet“ ist, nicht mehr sehen könne. 322 Frehsee, in: Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem, S. 120. 323 Nach einer Auffassung soll Wiedergutmachung den antagonistischen Zielen von Spezial- und Generalprävention gleichermaßen dienen können, vgl. hierzu Roxin, in: Festschrift für Baumann, S. 243 ff., Frehsee, Schadenswiedergutmachung als Instrument strafrechtlicher Sozialkontrolle, S. 7 ff.; nach anderer Auffassung stellt sie einen eigenständigen Strafzweck dar, vgl. hierzu Rössner/Wulf, Opferbezogene Strafrechtspflege, S. 83, 124.
II. Schuldprinzip und prozessuale Wahrheitssuche
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Der Wiedergutmachungsgedanke wird noch am einfachsten dem Strafziel der Wiederherstellung des Rechtsfriedens zugeordnet, und dementsprechend muss dem Strafprozess eine friedensstiftende Ausgleichswirkung zukommen. Dieser Funktionsbestimmung entspricht die Tendenz zu kooperativen Verfahrensformen. Somit ist der Gedanke des Täter-Opfer-Ausgleichs einer Relativierung des Wahrheitsbegriffs bzw. der Schuldfeststellung durchaus zuträglich, da ganz neue Zwecke in den Vordergrund treten, die auf einen Interessenausgleich setzen. Dieser muss nicht notwendigerweise an der vollständigen Kenntnis des objektiven Tatunrechts ansetzen. Wiedergutmachung setzt eine „konsensorientierte Argumentation“324 voraus. Konsens setzt eine objektive Wahrheit nicht voraus. In der wachsenden Bedeutung des Wiedergutmachungsgedanken knüpft die Lehre von den Strafzwecken an antiken Strafmustern an. Strafe wird reprivatisiert. Weder Schuldausgleich noch materielle Wahrheit sind die entscheidenden Größen in der Diskussion um Wiedergutmachung oder den Täter-Opfer-Ausgleich. Vielmehr werden Kommunikation und Interessenausgleich zu zentralen Begriffen auch der Strafzwecke, die sich damit einer Funktionalisierung der Schuldund Wahrheitsidee weiter öffnen. d) Ergebnis: Die Wechselwirkung zwischen Strafzwecken und prozessualer Kommunikationssituation Strafe im Dienste positiver Generalprävention lässt also Raum für die Einbeziehung sowohl des Vergeltungsgedankens als auch funktionaler Aspekte in dem Zweck der Strafe. In der formalisierten Verarbeitung des Rechtsbruchs im Strafverfahren treffen in der klassischen strafrechtlichen Antinomie zwischen Zweckrationalität und Freiheit wurzelnde Interessen aufeinander. Die formalisierte Aufarbeitung dieses Interessenkonflikts geschieht in einem kommunikativen Prozess. Dabei spiegeln sich unterschiedliche Sanktionierungsbedürfnisse in einer Mehrzahl möglicher Strafzwecke wider. Welches diese Bedürfnisse sind, hängt nicht zuletzt von den im Verfahren aufeinander treffenden Interessen im Einzelfall ab325, die damit auch die Strafzwecke prägen. Wo ohne Einwände möglicher Opfer kooperativ verhandelt wird, kann der Vergeltungsgedanke in den Hintergrund treten. Vergeltung in öffentlicher Strafe muss auf ihre rechtlich relevante Grundlage reduziert werden. 324
Lüderssen, StV 1990, 415, 417. So auch Strathenwerth, Was leistet die Lehre von den Strafzwecken, S. 20, der einen einheitlichen Strafzweck nur auf so hohem Abstraktionsniveau formulieren will, dass Strafrecht zumindest „die eine Aufgabe hat, für die kontrollierte Abwicklung des Konflikts zu sorgen, den der Normbruch darstellt“. 325
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Kap. 1: Rechtstheoretische Grundlegung
Für das Recht maßgeblich aber sind personale Konflikte und nicht etwa die Verwirklichung einer transzendenten, absoluten Gerechtigkeit. Insofern kann und soll der Vergeltungsgedanke auch in einem rechtsstaatlichen Strafprozess nicht vollkommen ausgeblendet werden, denn seine anthropologische Wurzel liegt in einem personalen Konflikt, im Ausgleichsbedürfnis des Verletzten. Wo ein solches Ausgleichsbedürfnis einem kooperativen Verfahren nicht entgegensteht, verliert dieser Kern des Vergeltungsgedanken an Bedeutung. Zudem kann ein kooperatives Prozessverhalten die Suche nach einer materiellen, außerprozessualen Wahrheit, die für den Vergeltungsgedanken unabdinglich ist, praktisch unmöglich machen. Ebenso können aber auch die einzelnen Strafzwecke die Kommunikationssituation beeinflussen. Unmittelbar einsichtig ist, dass bei unterschiedlichen Kriminalitätsformen auch stets andere Strafzwecke im Vordergrund stehen. So lassen sich beispielsweise eine Affekttötung, ein Subventionsbetrug, ein Drogenhandel und die Todesschüsse von Mauerschützen an der innerdeutschen Grenze auch im Bezug auf die Strafzwecke nicht über einen Kamm scheren. Entsprechend wird sich auch die Kommunikationssituation im Gerichtssaal wandeln. Je nachdem, welche Aufgabe der Strafe im konkreten Fall insbesondere zugeschrieben wird, werden sich auch die kommunikativen Strukturen im Verfahren ändern. Dort, wo der Vergeltungsgedanke ins Zentrum rückt, wird wenig Raum für eine kooperativ „handelnde“ Kommunikation sein, steht hingegen der Wiedergutmachungsgedanke im Vordergrund, ist eine Kooperation geradezu erforderlich. Auch das Verhältnis zwischen Kommunikationssituation und im Strafprozess sich konkretisierenden Aufgaben der Strafe ist also eines der gegenseitigen Wechselwirkung.
III. Ergebnis: Materielle Gerechtigkeit in Herstellung der Wahrheit und Zuschreibung von Schuld Ziel und Aufgabe des Strafverfahrens geben den entscheidenden Maßstab für die inhaltliche Ausgestaltung des Verfahrensrechts ab. Der lange fast unbestrittene Konsens, der Zweck liege gerade in der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs mit justizförmigen Mitteln, was die dienende Funktion des Verfahrensrechts impliziert326, ist brüchig geworden327. Die Herausbildung unver326 Müller-Dietz, Zeitschrift für evangelische Ethik, 1971, 257, 265, spricht vor gut 30 Jahren noch davon, dass „herkömmliche Wendungen besagen, dass das Strafverfahren der Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs, also dem Strafrecht selbst diene“. 327 Vgl. Rieß, in: Festschrift für Karl Schäfer, S. 155, 168; für den allgemeinen Gerechtigkeitsdiskurs verweist Röhl, ZfRechtss. 1993, 1, auf zwei „ganz verschiedene Richtungen“, die seit den sechziger Jahren eine „radikale Umorientierung“ in der Funktion des Verfahrens betrieben haben: die Sozialpsychologie begann die subjekti-
III. Ergebnis
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fügbarer Kriterien eines gerechten Strafverfahrens muss sich offen zu ihren hermeneutischen „Vorverständnissen“ bekennen und darf die hieraus resultierenden Zirkelschlüsse nicht scheuen. Schuld, Wahrheit und Gerechtigkeit selbst nähern wir uns nur über einen juristisch hermeneutischen Zirkel, in dem die Verbindung von Vorverständnissen des Unverfügbaren mit dem funktionalen Charakter des Rechts angelegt ist. 1. Die Lösung des Gerechtigkeitsproblems von der Frage nach materieller Wahrheit Die eigenständige Funktion des Verfahrensrechts wird zunehmend hervorgehoben. Das Verfahrensrecht enthält nicht nur Formen zur Durchsetzung des materiellen Rechts, sondern es hat teil an der Konstituierung gerechter Inhalte. Mit der Emanzipation des Verfahrensrechts vom materiellen Recht können die rechtsstaatlichen Beschränkungen der Wahrheitssuche als eigenständige Werte einer prozeduralen Gerechtigkeit verstanden werden328, die nicht nur formeller Natur ist. Die prozedurale Gerechtigkeit ersetzt die materielle nicht, sondern sie wird von dieser „einverleibt“. Eine Entscheidung kann demnach dann nicht gerecht sein, auch materiell nicht, wenn sie nicht auf der Grundlage eines fairen Verfahrens entstanden ist. Das Gerechtigkeitsproblem wird von der Frage nach der materiellen Wahrheit gelöst. So wenig wie die materielle Wahrheit reicht, um eine gerechte Entscheidung zu begründen, so wenig ist sie aber auch erforderlich, um eine gerechte Entscheidung zu begründen. Denn der Konsens, die formelle Wahrheit des Prozesses, wird zu einem eigenständigen materiellen Gerechtigkeitswert, weil er in seiner Frieden stiftenden Funktion die Verpflichtung auf die materielle Wahrheit verdrängen kann329. ven Gerechtigkeitsvorstellungen zu untersuchen, während Luhmann mit „Legitimation durch Verfahren“ (1969) die Frage nach distributiver Gerechtigkeit, also die Frage nach Ergebnisrichtigkeit überhaupt zurückwies; nur durch ein „Vorurteil“ könne die Auffassung festgehalten werden, „dass wahre Erkenntnis und wahre Gerechtigkeit das Ziel und damit das Wesen rechtlich geregelter Verfahren seien“ (S. 20); so ist auch Steinhögl, S. 102, der Ansicht: „Eine zukunftsorientierte Strafprozesstheorie hätte den Wandel der Strafziele, das geänderte materiell-rechtliche Programm und den sich in der Strafrechtspraxis abzeichnenden Paradigmenwechsel zu verarbeiten, um ein einheitliches Fundament strafrechtlichen Agierens zu schaffen“. 328 In diesem Sinn auch Neumann, ZStW 1989, S. 60 f., der das „Prozessziel der Justizförmigkeit des Verfahrens“, das die rechtsstaatlichen Beschränkungen der Durchsetzung des materiellen Rechts rechtfertigen soll, durch das Ziel der „prozeduralen Gerechtigkeit“ ersetzt wissen möchte. 329 In diesem Sinn löst auch Volk, Süddeutsche Zeitung vom 26./27.10.2002, S. 2, den Rechtsfrieden vom Gedanken der materiellen Wahrheit, indem er argumentiert, dass „man nach einem fair geführten Verfahren und angesichts der Einigung über seinen Abschluss von einem gerechten Urteil sprechen“ könne, das „Rechtsfrieden schafft“, selbst wenn die „Wahrheit auf der Strecke geblieben“ ist; anders aber das Konsensmodell von Weßlau, Konsensprinzip, S. 197 ff., die das Konsensmodell in ein
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Kap. 1: Rechtstheoretische Grundlegung
Der „Rechtsfrieden“ als „ideale(s) Ziel“330 des Strafprozesses lässt Wahrheitspflicht und Konsensorientierung als zwei Posten in einem Abwägungsprozess begreifen, in dem insbesondere ein Interessenausgleich erzielt werden soll. In die Idee des Rechtsfriedens muss die „klassische Antinomie von Zweckrationalität und Freiheit“331, mit der es Strafrecht immer zu tun hat, bereits aufgenommen werden. Der Rechtsfrieden kann somit nicht in Gegensatz zur Gerechtigkeit treten, sondern Gerechtigkeit verwirklicht sich erst im Rechtsfrieden und umgekehrt. Wenn Strafe mehr als nur Vergeltung bezweckt, dann nimmt die Schuldbestimmung selbst Teil an diesen Zwecken, weil rechtlich relevante Schuld mit dem relationalen Gehalt allen Rechts untrennbar verbunden ist. Schuld wird dann je nach Kommunikationssituation „rationalisiert“. Entweder wird im Verfahren nur eine Zurechnungsschuld zugeschrieben, oder das Gericht strebt danach, auch eine Urheberschuld festzustellen. Dementsprechend lässt sich der so verstandenen „doppelten Schuld“ auch ein Wahrheitsbegriff zugrunde legen, der seinerseits doppelt geprägt ist: materiell durch das Streben nach Erkenntnis der unerreichbaren Wirklichkeit im konfrontativen Verfahren und formell durch legitimierenden Konsens im kooperativen Verfahren. Ob für die Feststellung der zweckgeprägten Schuld die materielle Wahrheit erforderlich ist, hängt von der Rechtsfrieden schaffenden Funktion der Wahrheitssuche ab. Die friedensstiftende Funktion der Strafe wiederum kann durch die Kommunikationsstruktur beeinflusst werden, in der die antinomischen Strafzwecke zueinander in Ausgleich gebracht werden müssen. Prozess ist Kommunikation, und in der Kommunikation konkretisieren sich die einzelnen Strafzwecke, weil kein Urteil um einer absoluten Gerechtigkeit willen gesprochen wird. Gegenstand des Prozesam Prinzip der materiellen Wahrheit orientiertes Strafverfahren integrieren will und dem Konsens eigenständige Legitimierungsfunktion nur in solchen Verfahren zukommen lässt, die ohne Schuldspruch abschließen und auf die leichte Kriminalität beschränkt bleiben. Zwar solle in den Fällen eines Schuldspruchs das Einverständnis der Prozessbeteiligten als Legitimationsfaktor wirken, dieser aber nicht auf die erste Stufe der Legitimierung, die in diesem Modell unverändert von der Wahrheitssuche gestellt wird, zurückwirken, so dass ein „willkürliches Zurückbleiben hinter den Anforderungen an die Vollständigkeit der Informationsbasis auch durch Zustimmung der Prozessbeteiligten nicht legitmiert werden kann“ (S. 199). 330 Vgl. die Formulierung bei Schmidhäuser, in: Festschrift für Eb. Schmidt, S. 511, 516, der den Rechtsfrieden definiert als einen „Zustand, bei dem sich die Gesellschaft über den Rechtsbruch beruhigen kann“; vgl. auch Roxin, in: Wiedergutmachung und Strafrecht, S. 48, der von einer „auf Integration und Befriedung abzielenden Integrationsprävention“ spricht und von einer „Befriedung des Rechtgefühls“ und damit die „Wiederherstellung des durch das Delikt gestörten Rechtsfriedens“ meint. So hat auch die große Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes in ihrem Gutachten zum Thema Verständigung, S. 36 ff., danach gefragt, ob eine veränderte Einstellung in Staat und Gesellschaft zum Ziel des Strafverfahrens den Verständigungsgedanken beeinflusst hat; im Ergebnis so auch Ranft, Strafprozessrecht, Rn. 2. 331 Vgl. Herzog, Prävention des Unrechts oder Manifestation des Rechts, S. 154.
III. Ergebnis
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ses sind Relationen, und die Gewichtung der einzelnen Strafzwecke muss die Lösung des Interessenkonflikts, der durch den Normbruch entstanden ist und neben Täter und Opfer auch die Allgemeinheit betrifft, im Auge behalten. Wo keines der beteiligten Interessen die Erforschung einer „Wahrheit jenseits des Konsenses“ verlangen, braucht es das Suchen nach der „Wirklichkeit“ nicht, um ein gerechtes Urteil zu fällen, um Rechtsfrieden zu schaffen. 2. Der legitimierende Konsens Die Schuldfeststellung ist Voraussetzung strafrechtlicher Sanktionen. Schuld knüpft an der persönlichen Vorwerfbarkeit an, bestimmt sich aber dennoch auch funktional. Das ist nicht programmatisch, sondern deskriptiv zu verstehen. Schuld ist immer auch „Zuschreibung“. In ein Präventivstrafrecht kann sich die Schuld als straflimitierende Kategorie nur fügen, wenn sie an der Verwirklichung der Zwecke des Gesamtstrafrechtssystems teilhat. Strafrechtlich relevante Schuld konkretisiert sich erst im Verfahren. Dieser Konkretisierungsprozess kann von der Kooperation des Angeklagten abhängig sein, der Schuld freiverantwortlich übernehmen kann; die ihn treffende und den Vorwurfscharakter begründende Schuld ist dann eine Zurechnungsschuld, die auch ohne Nachweisbarkeit der Urheberschuld festgestellt werden kann. Legitimiert wird das Defizit der nicht nachweislichen Urheberschuld über die freiverantwortliche Übernahme im Konsens. Die vollständige Sachverhaltsaufklärung (ohnehin nicht mehr als unerreichbares Ziel) ist zur Schuldfeststellung nicht grundsätzlich erforderlich. Eine freiwillige Verantwortungsübernahme kann den Anforderungen an die Schuldfeststellung dann genügen, wenn sich hierdurch die Schuld im Verfahren hinreichend konkretisiert. Berechtigte Opferinteressen in Form von Einwänden gegen die einvernehmliche Sachverhaltskonstruktion können unter Umständen eine hinreichende Konkretisierung der konsensual bestimmten Schuld verhindern. Die Frage, wo die Grenzen einer einvernehmlichen „Konstruktion“ durch die Verfahrensbeteiligten verlaufen, wie weit also deren Verfügungsmacht über den Verfahrensgegenstand reicht, bleibt dem „rechtspolitischen Ausblick“ dieser Arbeit vorbehalten. Hervorgehoben sei aber bereits an dieser Stelle, dass juristisch formelle Wahrheit mit der Instruktionsmaxime nicht zu vereinen ist, weil dieses Wahrheitskonzept wesentlich durch die Dispositionsmaxime und damit durch die Konstruktion einer verfahrensspezifischen Wirklichkeit bestimmt ist332. Damit gilt entsprechend, dass das Prinzip der materiel332 Anders aber Weßlau, Das Konsensprinzip, S. 29, wenn sie meint, man müsse sich von der „unbegründeten Vorstellung“ lösen, dass das „Prinzip der materiellen Wahrheit notwendig identisch sei mit der inquisitorischen Methode der Sachverhaltsfeststellung“, nach der hier vertretenen Auffassung besteht aber sehr wohl eine notwendige Verbindung zwischen Instruktionsmaxime und Prinzip der materiellen Wahrheit, weil das Prinzip der materiellen Wahrheit eine außerhalb des Verfahrens liegende Wirklichkeit zum Zielpunkt der Suche erklärt und nur die „formelle Wahrheit“ mit
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Kap. 1: Rechtstheoretische Grundlegung
len Wahrheit im Prozess auch unter Berücksichtung der methodischen und empirischen Einschränkungen notwendig mit der Instruktionsmaxime verbunden ist, weil die Annahme eines außerprozessualen Bezugspunktes in der Wirklichkeit verlangt, dass das Gericht auch unabhängig von einer Parteiinitiative weiter ermitteln können muss. Mit dem Verhandlungsgrundsatz ist es deshalb nicht zu vereinen, weil die Befugnis der Parteien, über den Verfahrensgegenstand zu verfügen, keinen Bezugspunkt in der außerprozessualen Realität zulässt, das Prinzip der materiellen Wahrheit einen solchen aber erfordert. Berücksichtigt man die Besonderheiten der juristischen Sachverhaltsfeststellung, insbesondere auf der Grundlage eines hermeneutischen Verständnisses von Sachverhaltskonstruktion im „szenischen Verstehen“333, wird deutlich, von welch entscheidender Bedeutung die Kommunikationssituation im Prozess ist. Entsteht der juristisch relevante Sachverhalt erst durch Interaktion der Verfahrensbeteiligten, macht die aktive, instruktorische Suche des Gerichts nach dem Tatgeschehen überhaupt nur im konfrontativen Verfahren Sinn334, weil im kooperativen Verfahren die Beteiligten bereits faktisch über den Verfahrensgegenstand disponieren können – zumindest so lange das mutmaßliche Opfer sich einer solchen Disposition nicht widersetzt. Eine dezidierte, auch verfahrensrechtliche Anerkennung der Trennung von kooperativem und konfrontativem Verfahren ist daher dringend geboten335. In einem kommunikativen Strafrechtssystem kann Konsens Schuld begründen und Tatsachen herstellen und so eine Rechtsfrieden schaffende, legitimierende Funktion übernehmen, ohne dass der Prozess nach der Feststellung absoluter Schuld oder materieller Wahrheit streben müsste336.
der Dispositionsmaxime vereinbar ist, da nur die juristisch formelle Wahrheit eine außerhalb des Verfahrens liegende Wirklichkeit ausblendet und ihr Ziel nur die verfahrensimmament konstruierte Wirklichkeit ist. 333 Mit dem aus der Psychoanalyse stammenden Begriff des „szenischen Verstehens“ will Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 122, 124, die juristische Hermeneutik, die weitenteils noch eine Theorie des materiellen Rechts, eine Theorie der Texte ist, auf den realen Prozess der Sachverhaltskonstruktion im Verfahren anwenden. 334 Kintzi hat noch 1990, JR 1990, 309, 316, gewissermaßen als Schreckgespenst die Gefahr heraufbeschworen, dass bei gesetzlicher Regelung der Absprachen ein „Konfliktlösungsmodell zur Erzielung einer effizienten konsensualen ,Gerechtigkeit‘ geschaffen“ werden könne. Es ist das Anliegen dieser Arbeit zu zeigen, dass ein so verstandener Gerechtigkeitsbegriff sich in keiner Weise hinter ironisierenden Anführungszeichen verstecken muss, sondern sich in seiner ganzen positiven Werthaftigkeit behaupten kann. 335 Diese Forderung hat eindringlich Roxin, in: Festschrift für Gerd Jauch, S. 183, 190 ff., gestellt; im Ergebnis so auch Herzog, in: Quo vadis, Strafprozeß?, S. 21, 31. 336 Schünemann hat bereits 1990 in seinem Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 167, konstatiert, „es ist unvermeidlich, dass wir uns auf den Weg zu einem neuen Haus des Strafverfahrens begeben“. Eine der „zukünftig vielleicht tragenden Säulen“ dieses Hauses könne das „aus den Trümmern der informellen Absprachen zu bergende Konsensprinzip“ sein.
Kapitel 2
Rechtliche Würdigung der deutschen Absprachenpraxis Nachdem im 1. Kapitel die rechtstheoretischen Grundfragen aufgeworfen wurden, die durch die Absprachenpraxis berührt werden und deren Bedeutung für eine rechtliche Beurteilung und mögliche gesetzliche Ausgestaltung nicht zu unterschätzen ist, soll nun die konkrete Absprachenpraxis in Deutschland beleuchtet werden. Im Rahmen der rechtlichen Würdigung der Absprachenpraxis soll zunächst ein zusammenfassender Überblick auf die Verfahrensrealität der zu untersuchenden Abspracheformen geworfen werden. Die Beleuchtung der pragmatischen Aspekte ist besonders wichtig, weil die Absprachen ein Kind der Praxis und noch immer ohne gesetzliche Stütze sind. Will man also über Kodifizierungsmöglichkeiten nachdenken, und so eventuellen Missbräuchen in der Praxis vorbeugen, ist es unerlässlich, sich zunächst dem realen Erscheinungsbild der Absprachen zu widmen. Im Folgenden wird dann die Praxis einer summarischen rechtlichen Würdigung unterzogen werden. Hierbei wird die Frage nach der Vereinbarkeit der Praxis mit allgemeinen Prozessmaximen und verfassungsrechtlichen Grundsätzen des Strafverfahrens gestellt, wobei unter den Prämissen der Grundlegung dargelegt werden soll, dass die Etablierung der informellen Absprachenpraxis weit über die Grundsätze des geltenden Prozessrechts hinausweist. Abschließend soll ein Überblick über die jüngere höchstrichterliche Rechtsprechung zu dem Thema gegeben werden, der die nach wie vor bestehenden Antimomien in den Entscheidungen aufzeigen soll. Diese enstehen in dem Versuch, den Bereich des rechtlich Zulässigen vom unzulässigen „Wildwuchs“ der Absprachen zu trennen. Die Problematik der Absprachen hat in den letzten zwanzig Jahren die Strafrechtswissenschaft anhaltend beschäftigt und dementsprechend umfangreich ist die Literatur zu dem Thema1. Seit der Grundsatzentscheidung des BGH von 1 An dieser Stelle sei nur auf die zahlreichen zu dem Thema erschienen Monographien verwiesen: Schmidt-Hieber, Die Verständigung im Strafverfahren; Dencker/ Hamm, Der Vergleich im Strafprozess; Rönnau, Die Absprache im Strafprozess; Siolek, Die Verständigung in der Hauptverhandlung; Gutterer, Der Deal: Strafzusage gegen Geständnis; Weider, Vom Dealen mit Gerechtigkeit und Drogen; Bömeke, Rechtsfolgen fehlgeschlagener Absprachen im deutschen und englischen Strafverfahren; Ger-
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Kap. 2: Rechtliche Würdigung der deutschen Absprachenpraxis
1997 hoffte man, in den dort gezogenen Leitlinien gewissermaßen den Grundstein für eine „Prozessordnung für abgesprochene Urteile“2 gefunden zu haben. Dass dieser Versuch als gescheitert gelten muss, ist als Antriebsfeder der vorliegenden Arbeit zu verstehen. Die vom BGH erstrebte Differenzierung in zulässige Absprachen auf der einen und den Rahmen der Strafprozessordnung sprengende Deals auf der anderen Seite, ist bis heute ein ehrgeiziges, aber von Beginn an zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. „Echte Absprachen“ im Sinne dieser Arbeit folgen anderen Regeln. Der Versuch, sie vor dem Hintergrund der geltenden Verfahrensgrundsätze höchstricherlich abzusegnen, kann nicht gelingen. Die Gründe sollen im Folgenden dargelegt werden.
I. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Was sind nun aber im Sinne dieser Arbeit „echte Absprachen“? Der Begriff „Absprachen im Strafverfahren“ ist ein sehr weitläufiger, der unterschiedliche Phänomene umfasst3. Die Bezeichnung „Absprachen“ als eine der „neutraleren“ Begriffsvarianten wird ergänzt von zahlreichen weiteren Formulierungen, von denen hier nur exemplarisch die wichtigsten wiedergegeben werden4; sie reichen von zurückhaltenden Begriffen wie „Verständigung“5, „Rechtsgespräch“ über den „Vergleich“6 bis zu unverhohlenen Wertungen wie „Schmierenthealach, Absprachen im Strafverfahren; Janke, Verständigung und Absprache im Strafverfahren; Kremer, Absprachen zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten im Strafprozess; Tscherwinka, Absprachen im Strafprozess; Bussmann, Die Entdeckung der Informalität; Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren; Steinhögl, Der strafprozessuale Deal, Perspektiven einer Konsensorientierung im Strafrecht; Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren. 2 So der Titel der Kommentierung der Entscheidung BGHSt 43, 195 ff. von Weigend, NStZ 1999, 57 ff. Die Entscheidung ist im Übrigen vielfach besprochen worden, so u. a. bei Rönnau, wistra 1998, 49; Kintzi, JR, 1998, 249; Satzger, JA, 1998, 98; Herrmann, JuS 1999, 1162; Meyer-Goßner, StraFO 2001, 73; Schünemann, in: Festschrift für Rieß, S. 525; Krause, AnwBl 2002, 36; Terhorst, GA 2002, 600; vgl. auch die detaillierte Würdigung der Entscheidung in der der BGH-Rechtsprechung zu den Abpsrachen gewidmeten Monographie von Moldenhauer, Eine Verfahrensordnung für Absprachen im Strafverfahren durch den Bundesgerichtshof, S. 129 ff. 3 Zur Kategoriebildung der verschieden Typen vgl. Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 14; sowie Siolek, S. 47 ff.; Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren, S. 5 ff. 4 Eine Darstellung der terminologischen Vielseitigkeit findet sich in SK-StPO/ Schlüchter, vor § 213 Rn. 26; zur Emotionalität der Begrifflichkeiten, Löwe-Rosenberg/Rieß, Einl. Abschnitt G Rn. 58 ff.; Braun, a. a. O., S. 3 ff.; interessant zur „Entwicklung eines „spezifischen juristischen Sprachschatzes“, Bussmann, Die Entdeckung der Informalität, S. 180 ff. 5 So neben vielen weiteren als einer der ersten Schmidt-Hieber, Verständigung im Strafverfahren, 1986, zum Begriff der Verständigung, S. 3; Bussmann, Die Entdeckung der Informalität, übt Kritik am Begriff der „Verständigung“, da durch diesen die Interessengegensätze kaschiert und das Machtgefälle sprachlich neutralisiert würde, passender wäre mithin die Bezeichnnug „Unterwerfung“, S. 216.
I. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes
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ter“7, „Handel mit der Gerechtigkeit“8, „Kuhhandel“9 oder „unwürdiges Gemauschel“10. Es liegt auf der Hand, dass die Vielschichtigkeit der Bezeichnungen einhergeht mit Differenzen auch in der Definition des Gegenstandes. In Anfängen der wissenschaftlichen Diskussion lieferte Schünemann11 eine sehr umfassende Definition strafprozessualer Verständigung: „Unter einer Absprache im Strafverfahren ist im engeren Sinn jede Einigung zwischen Prozesssubjekten über künftig vorzunehmende Prozesshandlungen zu verstehen, ferner im weiteren Sinn auch die auf Erzielung einer solchen Einigung gerichtete Kommunikation sowie die nachfolgende Realisierung der Einigung durch die absprachegemäßen Prozesshandlungen.“ Unter diese weit gefasste Definition lassen sich zahlreiche Absprachenformen subsumieren, die die Praxis in den Gerichten weitgehend prägen. 1. Umfang der Absprachen im deutschen Strafverfahren Um beurteilen zu können, ob sich de facto in unserem Strafverfahren bereits eine merkliche Relativierung von Wahrheitsverständnis und Schuldkonzeption eingeschlichen hat, ist es unabdingbar, sich zunächst über die Dimensionen der zu untersuchenden Praxis Klarheit zu verschaffen. Erschwerend kommt hierbei hinzu, dass in Deutschland generell nur wenig empirische Forschung zur Rechtswirklichkeit der Absprachenpraxis betrieben wird. Zwar liegen einige Untersuchungsberichte zu dem Thema vor12, gemessen an der Brisanz dieser Praxis, ist der empirisch erschlossene Bereich jedoch eher spärlich und zudem veraltet zu nennen. Bereits vor über zehn Jahren konstatierte Schünemann13, dass im Wege von Absprachen bereits 20–30% aller deutschen Strafverfahren erledigt werden. Siolek stellte bei seiner auf Wirtschaftskammern beschränkten Untersuchung einen Anteil von bis zu über 60% fest14. Leider liegen jüngere Zahlen nicht vor; es ist aber von einer steigenden Tendenz auszugehen, da sich 6 Dencker, in: Der Vergleich im Strafprozeß, S. 29 ff., zur begrifflichen Annäherung an den Terminus „Vergleich“. 7 Weider unter dem Pseudonym Detlev Deal, StV 1982, 545 ff. 8 BVerfGE NStZ 1987, S. 419; der Begriff geht aber schon zurück auf den Titel der Monographie von Schumann von 1977: Handel mit der Gerechtigkeit. 9 Rückel, NStZ 1987, 297, 298. 10 Widmaier, StV 1986, 357, 358. 11 Schünemann, in: Triberg-Symposium, Absprache im Strafprozeß – ein Handel mit der Gerechtigkeit, S. 25. 12 Vgl. Hassemer/Hippler, StV 1986, 360 ff.; Lüdemann/Baussmann, KrimJ 1989, 54 ff., Schünemann-Repräsentatitivbefragung, unveröffentlicht, Ergebnisse wiedergegeben im Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 17 ff.; Siolek, Verständigung in der Hauptverhandlung, S. 31 ff. 13 Schünemann, a. a. O., S. 18; von 30–40% geht die Einschätzung bei Dahs, NStZ 1988, 153, aus.
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Kap. 2: Rechtliche Würdigung der deutschen Absprachenpraxis
der Anwendungsbereich der Absprachen stetig ausgeweitet hat. Sektorale Schwerpunkte waren zu Beginn Wirtschafts-, Betäubungsmittel-, Steuer-, Umwelt-, und Verkehrsstrafsachen15. Diese haben sich aber im Laufe der Jahre zunehmend aufgelöst, so dass heute die Praxis auch in Prozessen der Alltagskriminalität anzutreffen ist16, und sogar Schwurgerichtssachen auf informellem Wege erledigt werden17; ebenso werden Absprachen im Bereich der Sexualdelikte verstärkt praktiziert18. Diese Entwicklung dürfte zu einem stetigen Anstieg der Anwendung informeller Verständigung geführt haben. Die Untersuchung ist auf einen Teilaspekt der im weiteren Sinn definierten Absprachepraxis zu beschränken. Die Eingrenzung ergibt sich aus dem Zusammenhang mit der rechtsvergleichenden Komponente der vorliegenden Arbeit und orientiert sich an der Entsprechung zum italienischen „patteggiamento“, das seinerseits nur einen Ausschnitt aus den konsensualen Verfahrenselementen der italienischen Prozessordnung darstellt. Wie lassen sich also innerhalb des unfassenden Phänomens Absprachen noch einzelne Typen differenzieren, anhand derer eine Entsprechung zur italienischen Regelung gesucht werden kann? 2. Differenzierung der Absprachentypen Es kann hierbei nach Inhalt der Einigung, Verfahrensabschnitt ihrer Realisierung und dem Grad der Verbindlichkeit der getroffenen Vereinbarung unterschieden werden19.
14 Siolek, Verständigung in der Hauptverhandlung, S. 33; Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 18, geht sogar davon aus, dass die Praxis in einzelnen Spruckörpern die Rate von bis zu 80% erreiche. 15 Dencker, in: Der Vergleich im Strafprozess, S. 12, 62; Janke, Verständigung und Absprache im Strafverfahren, S. 20 f.; Schmidt-Hieber, NStZ 1988, 303, der von Wirtschaftskammern spricht, die „kaum mehr ein Verfahren streitig verhandeln“. 16 Naucke, KritV 1999, 348. 17 Vgl. Siolek, in: Festschrift für Rieß, S. 563; Weider, Vom Dealen mit Drogen und Gerechtigkeit, S. 144, der zudem der Ansicht ist, dass Absprachen viel weiter verbreitet sind, „als allgemein angenommen wird“. 18 Vgl. hier nur den exemplarischen Fall eines angeklagten sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen in 245 Fällen, BGH StV 1999, 410 ff.; siehe auch BGH StV 2000, 408 ff.; sowie BGH NStZ 1997, 561 f., angeklagt war hier wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung zum Nachteil behinderter Patientinnen; gerade auch aus Opferschutzgründen wird in diesem sensiblen Kriminalitätsbereich gern auf konsensuale Erledigungsformen zurückgegriffen, um so dem Opfer die erneute Konfrontierung mit dem Täter im Gerichtssaal zu ersparen. 19 Zur Klassifizierung der Absprachenpraxis vgl. die diversen Monographien, Gerlach, Absprachen im Strafverfahren, S. 36 ff.; Tscherwinka, Absprachen im Strafprozeß, S. 40 ff.; Gutterer, Der Deal: Strafzusge gegen Geständnis S. 3 ff.; Weigend, Absprachen im Stafverfahren, S. 12 ff.; Rönnau, Die Absprache im Strafverfahren, S. 27 ff.; Siolek, Verständigung in der Hauptverhandlung, S. 47 ff.; Schmidt-Hieber,
I. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes
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Inhaltlich können Absprachen in drei Hauptaspekten erfolgen: im Bereich der Verfahrensvereinfachung, der Bestimmung des Prozessgegenstandes und im Bereich der Rechtsfolgen20. Die italienische Regelung, die Gegenstand des dritten Teils der Untersuchung sein wird, betrifft nicht Einigungen über die Verfahrensgestaltung, sondern beschränkt sich auf die Bestimmung des Prozessgegenstandes sowie der Rechtsfolgen, was ohnehin praktisch untrennbar miteinander verknüpft ist. Daher bleiben Einigungen über den Gang des Verfahrens im Rahmen dieser Untersuchung außen vor21. Die in der Praxis vorzufindende Überdehnung des gesetzlichen Opportunitätsprinzip der §§ 153, 153a, 154 StPO findet ebenso wenig Berücksichtigung, da das zu vergleichende Institut des patteggiamento ausschließlich Strafmaßabsprachen betrifft, und somit der gesamte Bereich der Verfahrenseinstellung von der Regelung nicht erfasst ist wird. Differenziert werden muss auch hinsichtlich des Verfahrensabschnitts, in dem die Gespräche erfolgen. Da solche Verständigungen in jedem Verfahrensstadium denkbar sind und praktiziert werden, und auch die italienische Regelung explizit die Möglichkeit des patteggiamento im Ermittlungsverfahren (indagini preliminari) vorsieht, erstreckt sich der Gegenstand der Untersuchung auch auf diesen Verfahrensabschnitt. Hinsichtlich des Verbindlichkeitsgrades werden all jene Absprachen, die in den Bereich der so genannten „labilen Absichtserklärung“22 fallen, ausgenommen. Mit diesem Begriff gemeint sind lediglich unverbindliche Mitteilungen, die nach Antizipation eines zukünftigen Prozessverhaltens des Kommunikationspartners kundtun, wie man darauf nach gegenwärtiger Beurteilung reagieren würde. Diese sind als Zwischenberatungen mit Prognosecharakter rechtlich unproblematisch23. Der Untersuchungsgegenstand grenzt sich somit auf solche Absprachen ein, die mit Bindungswillen den Prozessgegenstand und/oder die Rechtsfolgen im Einvernehmen unabhängig vom Verfahrensstand bestimmen wollen und sich dabei außerhalb der von der StPO explizit vorgesehenen Formen bewegen. Im RahVerständigung im Strafverfahren, S. 4 ff.; Hamm, Der Vergleich im Strafprozeß, S. 110 ff. 20 Baumann, NStZ 1987, 157, 158; vgl. zu einem vom BGH „besorgten“ Zusammenhang zwischen einer „Verständigung“ und der „Entscheidung über die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung“ NStZ-RR 2005, 39. 21 Informelle Gespräche ausschließlich zum Gang des Verfahrens im Rahmen des Vor- oder Zwischenverfahrens unterliegen ohnehin kaum rechtlichen Bedenken, vgl. Baumann, NStZ 1987, 157, 160. 22 Der Begriff stammt von Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 74. 23 Zu den gesetzlichen Beispielen vgl. Schmidt-Hieber, Verständigung im Strafverfahren, 1986, S. 76 ff.; im Bereich des materiellen Rechts setzen §§ 31 BtMG und 46a StGB Verständigungen voraus, vgl. hierzu Weider, Vom Dealen mit Drogen und Gerechtigkeit, S. 118; ausführliche Rezension zu der Arbeit von Bernsmann, StV 2000, 642 ff.; zu weiteren Vorschriften, die eine Verständigung nahe legen, vgl. auch Sinner, Der Vertragsgedanke im Strafprozeß, S. 139 ff.
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Kap. 2: Rechtliche Würdigung der deutschen Absprachenpraxis
men der Arbeit werden die Begriffe „Absprache“, „Verständigung“ und „Aushandlung“ synonym für den Untersuchungsgegenstand verwendet. Durch „echte Absprachen“ im Sinne dieser Arbeit wird somit dem Gericht einvernehmlich ein Dispens von seiner Aufklärungspflicht erteilt.
II. Pragmatische Aspekte der Absprachen Im Folgenden sollen einige wichtige pragmatische Aspekte der Absprachen beleuchtet werden. Ziel dieser Darstellung ist es, die Gefahren aufzuzeigen, die sich gerade aus der Informalität der Praxis ergeben können. Zunächst sollen die Ursachen Gegenstand sein, um dann die komplexe Interessenlage der Verfahrensbeteiligten zu untersuchen. Im Weiteren soll das Problem fehlgeschlagener Absprachen erörtert werden, das gerade vor dem Hintergrund mangelnder gesetzlicher Absicherung besonders brisant ist. Schließlich ist noch auf die praktische Gefahr einer Ungleichbehandlung unter dem Gesichtspunkt einer drohenden „Klassenjustiz“ einzugehen. 1. Ursachen der Absprachenpraxis Die Ursachen der Absprachenpraxis sind für die Frage, inwieweit die beschriebene informelle Praxis in die Grundfeste unseres Strafrechtssystems eingreift, von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Gerade die Gründe für das Entstehen der informellen Praxis können als Ausdruck einer generellen Neuorientierung im Prozessverständnis aufgefasst werden. Darüber hinaus können sie möglicherweise auch das in der Grundlegung skizzierte Verhältnis der Strafzwecke zueinander neu beleuchten oder sogar der Funktion von Strafe ganz neue Aspekte beimessen. Die Ursachen lassen sich auf der einen Seite in praktischen Defiziten des Justizwesen suchen und auf der anderen in einer sich von Grund auf wandelnden Prozesskultur. Freilich bedingt hier das eine das andere, sind die Übergänge fließend und die Ursachen nicht immer klar voneinander abgrenzbar; dennoch soll versucht werden, einzelne Gründe kurz darzustellen. Ziel soll es hierbei sein, den für einen tiefer liegenden Wandel des Strafprozesses symptomatischen Charkater der sich praeter legem entwickelnten Praxis aufzuzeigen. a) Die Überlastung der Strafjustiz – Verfahrensflut und überlange Dauer Nahezu Einigkeit besteht darüber, dass als Hauptursache der Absprachenpraxis die Überlastung der Strafjustiz durch die Verfahrensflut und die überlange, durchschnittliche Verfahrensdauer und damit das Bedürfnis einer Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren anzusehen ist24. Die Strafjustiz arbeite am
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Rande der Belastbarkeit und müsse nachhaltig entlastet werden25. Diese Argumentation geht hin bis zu der Annahme, dass auf Absprachen nicht mehr verzichtet werden könne, um eine funktionsfähige Strafrechtspflege zu gewährleisten26. Auffällig ist an der Argumentation der Überlastung, die so einvernehmlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird, dass sie weder praktisch noch theoretisch konsequent weitergedacht wird. Denn führt man den Gedanken der Überlastung folgerichtig zu Ende, müsste man die Absprachen für ein probates Mittel der Justizentlastung halten. Entsprechend müsste die Praxis idealiter in naher oder fernerer Zukunft zu einem spürbaren Rückgang der Ressourcenüberforderung an unseren Gerichten führen und damit die Hauptursache der Absprachen selbst hinfällig werden. Daraus ergäbe sich die Konsequenz, dass die Verständigung nicht mehr als ein Mittel in einem Übergangsstadium auf dem Weg zur Entlastung der Gerichte sein dürften27. Die Überlastung der Justiz mag zwar ein Grund für das Entstehen der Absprachen sein. Es ist aber wohl davon auszugehen, dass die Absprachen sich inzwischen so weit von dieser Ursache verselbstständigt haben, dass dieser anfangs vielleicht wichtige Umstand mehr und mehr in den Hintergrund tritt und Absprachen nunmehr nicht mehr nur als ein Mittel der Effizienz verstanden werden, sondern dass sie vielmehr zu einem integralen Bestandteil des Prozessverständnisses geworden sind, das nicht mehr an die Überlastung der Gerichte gekoppelt ist. Denn es ist doch auffällig, dass in der Diskussion neben das Argument des Entlastungs- und Beschleunigungsbedürfnisses zunehmend der Gedanke tritt, dass es sich bei der Ausbreitung der Absprachenpraxis auch um einen Anpassungsprozess, gewissermaßen um eine Modernisierung des Strafverfahrens handele, mit der auf Wandelungen des materiellen Rechts und der Strafziele reagiert werde28. 24 Vgl. statt vieler, Nestler-Tremel, DRiZ 1988, 288, 289; Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 16; vgl. auch die „Münsteraner Thesen“ des DRB, abgedruckt bei Kintzi, JR 1990, 309, 310; Gerlach, Absprachen im Strafverfahren, S. 19 ff.; wie auch Braun, AnwBl 2000, 222, 224, der feststellt, dass dieser „Faktor“ in „fast allen Stellungnahmen hierzu übereinstimmend an erster Stelle“ genannt werde; kritisch zur Überlastung der Strafjustiz als Hauptursache Dencker, Der Vergleich im Strafprozess, S. 59 ff. 25 Meyer-Goßner/Ströber, ZRP 1996, 354. 26 Kremer, Absprachen zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten, S. 285; NestlerTremel, DRiZ 1988, 288, 290, weist insoweit darauf hin, dass „weithin Konsens besteht, „dass die Strafjusitz ohne informelle Absprachen ihr input an Verfahren gar nicht mehr bewältigen könnte.“ 27 So weist Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 30, darauf hin, dass die einmal entwickelten Erledigungspraktiken auch bei Konsolidierung der Geschäftsanfallzahlen nicht wieder obsolet werden, da ja nur mit ihrer Hilfe der Geschäftsanfall bewältigt werden könne. 28 Vgl. zu diesen Hassemer, ZRP 1992, 378 ff.; zu Reaktionen auf die Absprachenpraxis unter diesem Aspekt vgl. Dencker, Der Vergleich im Strafprozeß, S. 68 ff.; Lüderssen, StV 1990, 415.
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Kap. 2: Rechtliche Würdigung der deutschen Absprachenpraxis
Die zur Hauptursache erklärte Überlastung der Gerichte erweist sich zumindest dann, wenn die Ursachen auch als Rechtfertigungsgründe für die Absprachen herangezogen werden sollen, als ein ungeeignetes Argument. Denn die Überlastung der Justiz als Selbstzweck kann nicht herangezogen werden, um informelle Verfahrenspraktiken zu legitimieren, die hinsichtlich der Verletzung von essenziellen Rechten des Beschuldigten durchaus umstritten sind. Die übermäßige Betonung der Arbeitsbelastung, die in allen Bereichen der Strafjustiz anzutreffen ist, bleibt zudem eine Erklärung für die sektorale Begrenztheit der Entstehung29 des Verständigungsphänomens schuldig. Zudem ist – entgegen der öffentlichen Beteuerungen von der überlasteten Justiz – vor den Amtsgerichten, wo der Großteil der Verfahren verhandelt wird, nicht das überlange, sondern das „Fließbandverfahren“ die Regel30. Auch das 1994 von Gössel 31 erstellte Gutachten zum 64. Deutschen Juristentag zur Frage, ob es einer Beschleunigung der Strafverfahren bedürfe, bietet in seinem rechtstatsächlichen Teil keinerlei Anlass zur Stärkung der These der Überlastung der Justiz. Insbesondere die Ausweitung des materiellen Strafrechts und der Strafverfolgung, sowie die zunehmende Verlagerung zu einem zweckrationalen Präventivstrafrecht führen zu einer höheren Belastung der Strafjustiz. Gegen die Wertung der vermeintlichen Verfahrensflut als Hauptursache spricht zudem die Tatsache, dass die Absprachenpraxis sich in keiner Weise nur auf solche Bereiche erstreckt, in denen der Geschäftsanfall besondere Ausmaße annimmt. Vielmehr hat sich die Praxis inzwischen auf alle Bereiche der Strafverfolgung erstreckt. „Gedealt“ wird überall und über alles. Wenn auch in Wirtschaftsverfahren die Bedeutung der Aushandlungen insofern eine besondere ist, als sie dort fast „Alltagscharakter“32 angenommen haben, so wird doch nicht mehr bestritten, dass sie inzwischen praktisch in allen Deliktsbereichen anzutreffen sind. Problematisch wird die Argumentation da, wo auf der einen Seite die Verfahrensflut und -dauer als hauptsächliche Ursache verantwortlich gemacht und auf der anderen Seite vorgeschlagen wird, mit einem strafrechtlichen „Vergleichsverfahren“ insbesondere einen großen Teil moderner und kompli29 Dass Absprachen inzwischen in allen Deliktsbereichen, sogar in Schwurgerichtsverfahren anzutreffen sind und insofern heute nicht mehr von einer Bevorzugung bestimmter Kriminalitätsbereiche ausgegangen werden kann, hebt Siolek hervor, in: Festschrift für Rieß, S. 563; so auch Naucke, KritV 1999, 336, 348, der feststellt, dass Absprachen inzwischen auch die Alltagsfälle bestimmten; dies ändert aber nichts an dem Befund, dass sie in einem eingegrenzten Kriminalitätsberiech entstanden sind. 30 Herzog, in: Quo vadis, Strafprozess, S. 30. 31 Gössel, Gutachten C zum 64. Deutschen Juristentag, S. 12 f.; auf dieser Linie auch Kempff, StV 1997, 208, der auf die rechtstatsächlichen Untersuchungen von Barton (Rechtstatsachen zur Dauer von Strafverfahren und zu deren Gründen, StV 16, 690) zurückgreift, keine quantitativen Gründe für die Überlastung der Strafjustiz, aber qualitative Veränderungen der Gesellschaft. 32 Vgl. Bussmann, Die Entdeckung der Informalität, S. 26.
II. Pragmatische Aspekte der Absprachen
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zierter Kriminalitätsformen, wie Wirtschafts-, Umwelt- und Drogendelikte, zu bewältigen33. Eine behauptete Ursache wird vorgeschoben, um ein von ihr unabhängiges Bedürfnis, nämlich generell mehr „konsensorientierte Effizienz“ in bestimmten Kriminalitätsbereichen, zu befriedigen. So sieht Schünemann34 die seit den 70er Jahren intensiver betriebenen Wirtschafts- und Drogenverfahren als Einstiegsnischen für die Absprachenpraxis. Verfahrensflut und Verfahrensdauer seien hinzutretende Gründe. Wenn die Verfahrensflut tatsächlich ein so gewichtiger Grund sein sollte, warum hat sich die Absprachenpraxis dann zunächst gerade in Wirtschafts- und Drogenverfahren so rasant entwickelt, und nicht etwa im Bereich der Bagatellkriminalität? Hier liegt ein offener Widerspruch in der so gern als einvernehmlich anerkannten Kausalkette. Verantwortlich ist doch in erster Linie nicht die Anzahl der Verfahren, sondern vielmehr deren Dauer, die auf die besonderen Schwierigkeiten der Beweislage insbesondere bei Großverfahren zurückzuführen ist. Relativiert wird jedoch auch diese Ursache durch eine Untersuchung, die im Auftrag des Bundesministerium der Justiz im dem Jahre 1999 durchgeführt wurde35. Diese belegt, dass noch nicht einmal das Kriterium der überlangen Dauer kritiklos übernommen werden kann, da es nicht mit den besonders von Absprachen betroffenen Deliktsbereichen übereinstimmt36. Die allseits beklagte „chronische Arbeitsüberlastung der Justiz“37 ist nach alldem ein Argument der Ursachen, das empirisch weniger gesichert ist, als es die ständige Berufung auf diesen Grund annehmen lässt. Mit dem Faktor Arbeitsbelastung lässt sich die Häufigkeit von Aushandlungen dementsprechend nicht allein erklären38. Im Rahmen der Überlastung der Strafjustiz wird gern auf ein hiermit eng verbundenes Phänomen hingewiesen, nämlich die „überproportionale Zunahme“39 solcher Verfahren, die eine besonders komplexe und umfangreiche
33 In diesem Sinn Koch, ZRP 1990, 249, 250, der den Deal für eine nicht mehr verzichtbare Einrichtung hält, für ein praktisches strafrechtliches „Vergleichsverfahren“, mit dem man einen großer Teil „komplexer und moderner Kriminalitätsformen bewältigen möchte“. 34 Schünemann, in: Festschrift für Baumann, S. 361, 367. 35 Dölling/Feltes/Laue/Törnig, Die Dauer von Strafverfahren vor den Landgerichten. 36 So wurde festgestellt, dass beispielsweise bei Wirtschaftsstraftaten und Diebstahl/ Betrug eine verhältnismäßig längere Verfahrensdauer zu verzeichnen ist, bei Betäubungsmitteldelikten hingegen eine kürzere, a. a. O., S. 204 f. 37 Schon 1988 gebrauchte Hamm, Der Vergleich im Strafprozeß, S. 123, diesen Begriff. 38 So spricht auch Siolek, Verständigung in der Hauptverhandlung, S. 58, der Arbeitsüberlastung zumindest für den von ihm untersuchten Bereich der Wirtschaftskriminalität nur eine untergeordnete Rolle zu. 39 Weigend, JZ 1990, 774, 775, vgl. auch Terhorst, DRiZ 1988, 296, 298.
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Beweisaufnahme erfordern. Dieser Aspekt leitet zu einer weiteren Ursache über, die oft für die lange Verfahrensdauer verantwortlich gemacht wird. b) Sachzwänge aus Verfahren mit objektiv schwieriger Sach- und Rechtslage – der Wandel des materiellen Strafrechts Die Beweisschwierigkeiten, die sich insbesondere in großen Wirtschafts- oder Drogenverfahren ergeben, sind im Zusammenhang mit jüngeren Tendenzen der Gesetzgebung zu sehen. Es ist eine Ausweitung des materiellen Strafrechts zu verzeichnen, das sich von den klassischen Kerntatbeständen zunehmend entfernt. Besonders deutlich wird diese Ausdehnung im Bereich der Wirtschaftsund Umweltdelikte und erklärt durch die ansteigende Bürokratisierung und Komplexität der Lebensverhältnisse40, auf die der Gesetzgeber mit einer deutlichen Intensivierung der „legislatorischen Gesellschaftssteuerung“41 reagiert hat. Sie führt ihrerseits zu einer vermehrten Pönalisierung von Verhaltensformen42. Die Normen der neueren Deliktsbereiche haben im Vergleich zum Kernstrafrecht weniger Plastizität und gehören vor allem nicht zum allgemeinen Bestand individueller Moral43. Die moderne Strafrechtsgesetzgebung im Besonderen Teil des StGB und im Nebenstrafrecht kriminalisiert im Wesentlichen „opferverdünnte Delikte“44. Das moderne Strafrecht stellt sich den Herausforderungen von Kontrolle und Zwang als Mittel der Lösung moderner Großprobleme45. Universalgüter sind in der jüngsten Strafrechtspolitik in den Vordergrund getreten. Wirtschaft, Umwelt und Datenverarbeitung werden zunehmend zu Problemfeldern des Strafrechts. Hierin ist eine kritisch zu würdigende „Modernisierung“ des Strafrechts im Sinne seiner „Anpassung an die gesellschaftliche Entwicklung, an den sozialen Wandel“46 zu sehen. Die Neuorientierung des materiellen Strafrechts kann als Ausdruck einer Politik der Reaktion auf gesellschaftliche Unsicherheit mit strafrechtlicher Daseinsvorsorge verstanden wer-
40 Vgl. zur „Komplizierung und Bürokratisierung der Lebensverhältnisse“ und deren Wirkung auf das Strafrechtssystem Dencker, Der Vergleich im Strafprozeß, S. 69; sowie Schroeder, NJW, 1983, 137, 138. 41 So Schünemann, in: Festschrift für Gerd Pfeiffer, 461, 471. 42 Vgl. Rönnau, Die Absprache im Strafprozeß, S. 44. 43 Vgl. Dencker, Der Vergleich im Strafprozeß, S. 69. 44 Zu den Problemen der opferverdünnten Delikte in Bezug auf die Rechtsgutslehre vgl. Hassemer, Grundlinien einer personalen Rechtsgutslehre, S. 85 ff. 45 Vgl. Hassemer, in: Festschrift für Roxin, S. 1001, 1006, der davon spricht, dass das moderne Strafrecht nicht reflektiere, ob es diese Großprobleme auch erfüllen kann. In Wirklichkeit könne es sie nicht erfüllen, und gebe so „ungedeckte Schecks“ aus; das Strafrecht „symbolisiert“ sich. 46 NK-Hassemer, vor § 1.
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den47. Die aufgezeigten neueren Tendenzen des materiellen Strafrechts realisieren sich vor allem in einer auffallenden Vorverlagerung der Rechtsgüterschutzes in den Gefährdungsbereich48, durch vermehrte Verwendung subjektiver Tatbestandsmerkmale und unbestimmter Rechtsbegriffe. Durch diese Praxis der Gesetzgebung entstehen im Hauptverfahren erhebliche Beweisschwierigkeiten. Naucke49 spricht in diesem Zusammengang von einer „Verschiebung von der Herrschaft des Gesetzes zur Herrschaft des Gesetzanwenders“. Hamm50 weist darauf hin, dass die meisten Beweisprobleme ihre Ursachen in rechtlichen Unklarheiten oder in der fehlenden Sensibilität des Gesetzgebers für verfahrenspraktische Gegebenheiten oder Notwendigkeiten hätten. Angesprochen ist damit das Problem, dass die gesetzlichen Tatbestände zunehmend so gestaltet werden, dass ihre forensische Reproduzierbarkeit erheblich erschwert, wenn nicht sogar gänzlich unmöglich gemacht wird51. Die Sachzwänge, die sich aus dieser Situation ergeben, haben dazu geführt, dass die Absprachen sich mehr und mehr etablieren konnten und zu einem probaten Mittel geworden sind, einen Verfahrensstau auf alternative Weise anzugehen. c) Konfliktverteidigung Zu den Beweisschwierigkeiten, die in der aufgezeigten Entwicklung immer größere Ausmaße annehmen, tritt ein weiterer, oft beklagter Aspekt, der in engem Zusammenhang mit den Sachzwängen aus objektiv schwieriger Beweisund Rechtslage entsteht. Gemeint sind Verteidigungsstrategien, die darauf abzielen, die genannten Schwierigkeiten auszunutzen und die Dauer der Verfahren durch Stellung immer neuer Beweisanträge in die Länge zu ziehen. In der ersten Hochkonjunktur der Diskussion um die Absprachen Ende der achtziger Jahre wurde ein zunehmender Wandel zu einer sog. Konfliktverteidigung konstatiert. So sei die Verteidigung damals dabei gewesen, die „Last vermeintlich 47 Vgl. hierzu ausführlich die Habilitationsschrift von Herzog: Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge; Hamm, ZRP 1990, 337, 341, erklärt diese Entwicklung des materiellen Strafrechts zur primären Ursache der Entstehung der Absprachen. 48 Vgl. kritisch zu dieser Entwicklung Frehsee, in: Konstruktion der Wirklichkeit durch Kriminlalität und Strafe, S. 14, 16 ff. 49 Naucke, KritV 1999, 336, 344. 50 Hamm, ZRP, 1990, 377, 341, ders., in: Festschrift für Meyer-Goßner, S. 33, 35, macht die Ausweitungen des materiellen Strafrechts verantwortlich für die Überlastung der Strafjustiz; sie müssten schließlich in die „Kapitulation im Kampf um die Rettung der wichtigsten Gerechtigkeitsprinzipien führen“. 51 Schünemann, in: Festschrift für Gerd Pfeiffer, S. 461, 473, spricht in diesem Zusammenhang von der „hermeneutischen Unschärferelation“ und macht diese am Tatbestandsmerkmal der „drohenden Zahlungsunfähigkeit“ in § 283 StGB deutlich. Der Tatbestand setzte hier eine Prognose voraus, die „relevante Interaktions- und Kommunikationszusammenhänge berücksichtigen muss“.
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notwendiger prozessualer Harmonie abzuschütteln“, und die Auffassung, durch konfliktbereite Verteidigung den Mandanteninteressen besser dienen zu können, habe an Bedeutung gewonnen52. Die Verantwortung für die Dauer der Verfahren wurde auf diesem Weg gerne der Verteidigung zugeschoben. Indes wird die empirische Haltbarkeit der These der Konfliktverteidigung und „Instanzenseeligkeit“53 zunehmend angezweifelt. Weder die massive Steigerung des Geschäftsanfalls noch die der Verfahrensdauer seien statistisch belegbar54. Was für die einen „querulatorische Spielchen“ sind oder gar missbräuchliche Herbeiführung von Beweisschwierigkeiten durch Ausnutzung der Schwachpunkte der Justiz55, ist für die anderen engagierte, selbstbewusste Verteidigung, die in alle gesetzlichen Freiräume vorstößt56. In diesem Spannungsfeld bewegt sich die sog. Konfliktverteidigung. Wenn es auch wohl zu kurz gegriffen ist, der Verteidigung den schwarzen Peter für die angeblich überlangen Verfahren zuspielen zu wollen57, so lässt sich aber doch konstatieren, dass Verteidigungsstrategien, die sich konfliktbereit ihrer Position durch das Beweisantrags- oder Ablehnungsrecht bewusst sind, einer fortschreitenden Absprachenentwicklung förderlich sind. Sie steigern die 52 Gatzweiler, NJW 1989, 1903, 1904.; vgl. auch Hanack, StV 1987, 500, 501, der die Entwicklung durch „einen neuen Typ des Strafverteidigers“ begünstigt sieht, der „Verteidigungsstrategien entwickelt, die gerade auf die typischen Schwachstellen unserer Justiz zielen“; vgl. Barton, MschrKrim 1988, 93, 103, der das „richtige‘ Maß an Konfliktbereitschaft und Engagement“ fordert, um positive Ergebnisse für den Mandanten zu erreichen. Die Frage, „was Ziel der Verteidigung ist“, bedürfe allerdings „einer auf Interaktion und Aushandlungsprozesse [. . .] abstellenden Analyse“; Hamm, StV 1982, 490, 495, sieht eine „optimale Effektivität der Verteidigung“ dann erreichbar, „wenn der Verteidiger schon auf den Inhalt der Ermittlungsakten versucht Einfluß zu gewinnen“; zum „Mißbrauch von Verfahrensrechten“ vgl. auch Rönnau, Die Absprache im Strafverfahren, S. 46. 53 Vgl. Meyer-Goßner/Ströber, ZRP 1996, 354, 356, die behaupten, der Strafprozess sei „nicht mehr Kampf um Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit, sondern zunehmend auch Kampf gegen Staatsanwalt und Richter“ und die Rechtsmittel würden über Gebühr in Anspruch genommen. 54 Barton, Rechtstatsachen zur Dauer von Strafverfahren und zu deren Gründen, StV 1996, 690 ff., der auf den zitierten Beitrag von Meyer-Goßner/Ströber mit gegenteiligen statistischen Daten reagiert, insbesondere zur vorgeworfenen „Prozesssabotage“ gebe es keinerlei objektive Daten, S. 694; eine Erwiderung von Meyer-Goßner/ Ströber auf die Erwiderung findet sich in StV 1997, 212 ff. 55 Janke, Verständigung und Absprache im Strafverfahren, S. 269. 56 Hanack, StV1987, 500, 501, zum „neuen Typ des Strafverteidigers“; Gatzweiler, NJW 1989, 1903, 1905; Kintzi JR, 1990, 309, 313; Nestler-Tremel, DRiZ 1988, 288, 289; Perron, ZStW 108 (1996), 128, 154, geht davon aus, dass der Streit um das Beweisantragsrecht und seinen angeblichen Missbrauch nicht Ursache, sondern lediglich Symptom sei, da „in unserem Verfahrensmodell die einseitige staatliche Machtausübung durch die Institution einer eigenverantwortlich agierenden Verteidigung lediglich ergänzt“ wurde, „ohne dem inquirierenden Gericht seine dominierende Stellung zu nehmen“. 57 Zu den „tiefergehenden Ursachen“ Kempff, StV 1997, 208.
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Kommunikationswilligkeit auf Seiten der Justiz, weil man ein ausuferndes streitiges Verhandeln in überlanger Verfahrensdauer meiden will. Selbstbewusste Verteidigung, die keine „Konfliktverteidigung“ – wobei der Begriff heute vielfach in entstelltem Sinn gebraucht wird – sein muss, kann der Schaffung einer Vertrauensbasis, auf der informelle Gespräche aufgenommen werden, durchaus zuträglich sein. d) Gedanke des Opferschutzes und der Wiedergutmachung In diesem Punkt sind nicht mehr die pragmatischen Aspekte im eigentlichen Sinn Gegenstand sondern vielmehr ein weiterer Komplex, der mit den gewandelten Vorstellungen von Strafe und Funktion des Strafverfahrens zusammenhängt. Angesprochen sind damit Ziele wie „Konfliktschlichtung“ und „Krisenintervention“58. Der Opferschutz hat als Thema in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. Auch die Politik schenkt dem Opferschutz ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit59. So kann ein weiterer Grund für Absprachen auch aus dem Bereich des Opferschutzes zu den bereits genannten hinzutreten. Den Opfern soll auf diese Weise die Aussage in der Hauptverhandlung erspart werden. Relevant wird dieser Aspekt insbesondere in einem so sensiblen Deliktsbereich wie dem der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass der Gedanke des Opferschutzes nicht als eine Entstehungsursache der Absprachen im eigentlichen Sinn bezeichnet werden darf, da die informelle Praxis sich zunächst gerade in „opferverdünnten“ Kriminalitätsbereichen ausgebreitet hat, in denen eine stärkere Einbeziehung des Verletzten nicht Thema war und ein gelockerter Umgang in der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs sich gerade nicht oder kaum mit verletzten Opferinteressen konfrontiert sah. Wenn der Opferschutz inzwischen doch auch als ein Aspekt für die Absprachenpraxis gesehen werden kann, dann folgt dies zunächst aus der Überlegung, dass die kooperative Prozesskultur in den Verständigungen die Akzeptanz des Urteils durch das Opfer, insbesondere durch ein Geständnis, gesteigert werden kann. Der Versuch einer prozessförmigen Schlichtung wird zunehmend ins Zentrum gerückt. So geht es nunmehr verstärkt darum, den Täter und die Gesellschaft bzw. den Täter und das Opfer wieder zu versöhnen60. In diesem Sinne ist 58 Diese Begriffe stehen bei Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren, S. 65, für eine veränderte Funktionsbestimmung des Strafverfahrens, zu der Konsens und Kooperation als „notwendige Elemente“ des Verfahrens dazugehören. 59 Vgl. nur das am 3.4.2004 vom Bundestag verabschiedete OpferRG, verkündet in BGBl. I 2004, Nr. 31, vom 30.6.2004. 60 Roxin, in: Gesamtreform des Strafverfahrens, S. 19.
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der Opferschutzgedanke zwar keine die Absprachenpraxis begründende Ursache, wohl aber auch ein Grund, diese Form informeller Verständigung von vielen Seiten zu verteidigen61. e) Tendenz zur Rechtsfrieden stiftenden Konsensorientierung Der Aspekt einer sich auch selbstständig legitimierenden Konsensorientierung ist in der Grundlegung bereits herausgearbeitet worden und soll an dieser Stelle im Rahmen der Gründe der Absprachen als einer unter vielen nur angedeutet werden; obwohl es sich hierbei um einen Gedanken handelt, der das in dieser Arbeit zu entwickelnde Konzept maßgeblich trägt62. Die Konsensorientierung wird nicht nur im Hinblick auf Wiedergutmachungsinteressen und Aussöhnung mit dem Opfer verfolgt, sondern ist darüber hinaus auch eigenständigen Werten verpflichtet, nämlich dem Gedanken, dass Konsens, auch unabhängig vom Ziel der materiellen Wahrheit, Rechtsfrieden stiften kann. Das kooperative Verfahren, das sich von den autoritären Strukturen des Strafprozesses bewusst löst, will auf kommunikativem Weg zu einem Interessenausgleich finden63. Hier sei nur angeführt, dass Siolek64 als eine mögliche Ursache oder doch zumindest „erwähnenswerten Nebeneffekt“ der Absprachenpraxis auch die „menschlichere Verfahrensgestaltung“ anführt. Vermehrt wird in der Hauptverhandlung das Rechtsgespräch gesucht als Ausdruck einer allgemeinen Tendenz zu mehr Kommunikation oder gar Kooperation65. In diese Richtung geht auch der Vorschlag von Wolter66, „Wahrheitserforschung, Bestrafung, Legalitäts- und Schuldprinzip zugunsten von Diversion, Konsens und Humanität“ zurückzudrängen. Die erhoffte Rechtsfrieden stiftende Funktion der Absprachen ist damit mehr als eine Ursache. Sie wird zu einer Rechtfertigung und ideologischen Stütze einer Praxis, die primär aus pragmatischen Zwängen entstanden ist.
61 So wertet beispielsweise auch Steinhögl, S. 95, den Deal als eine Möglichkeit, in der eine „dem Täter-Opfer-Ausgleich Raum gebende Konfliktlösung eher realisierbar“ ist. 62 Näher wird auf diesen Aspekt noch im Teil 4 eingegangen. 63 Schünemann, in: Festschrift für Gerd Pfeiffer, S. 461, 481, will das „neue Prozessmodell“ durch „Interaktion, Konsens, und strikte Neutralität“ legitimiert wissen. 64 Siolek, Verständigung in der Hauptverhandlung, S. 67: „die Mehrheit der Wirtschatfskammern des Landgerichts Hildesheim will gerade im zwischenmenschlichen Bereich erkennbar neue Maßstäbe der Verfahrensgestaltung setzen“ (S. 68). 65 Vgl. Weider, Vom Dealen mit Drogen und Gerechtigkeit, S. 146. 66 Wolter, Aspekte einer Strafprozessreform bis 2007, S. 20; vgl. dazu auch ders., GA 1985, 49 ff.; kritisch gegnüber dieser Tendenz Weigend, ZStW 104 (1992), 486, 497 ff.
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2. Die Interessen der Beteiligten an einvernehmlichen Absprachen Der deutsche Strafprozess verbindet Prinzipien des Inquisitionsprozesses mit solchen des reinen Anklageverfahrens. Auf das Akkusationsprinzip zurückzuführen ist die Trennung von Ermittlungs- und Urteilstätigkeit auf zwei voneinander unabhängige Behörden. Züge des Inquisitionsgrundsatzes bewahrt er insofern, als nach Anklageerhebung die Verfahrensherrschaft auf den Richter übergeht67. Der deutsche Strafprozess kann daher auch nicht als „kontradiktorisches Verfahren“ bezeichnet werden, da es einerseits nicht die Parteien sind, die den Prozess in den entscheidenden Stadien beherrschen und weil zudem die Staatsanwaltschaft nicht auf die Rolle des belastenden Anklägers beschränkt bleibt, sondern vom Gesetz gerade zur Unparteilichkeit verpflichtet ist. Der Strafprozess ist somit in der durch die StPO vorgegebenen Form kein Parteiprozess68. Die Rollen der Prozesssubjekte sind antagonistisch strukturiert, das Prozessmodell ein autoritäres, das durch den Rollengegensatz und die Letztentscheidung des Gerichts geprägt ist69. Aus dieser Struktur folgt eine schwierige Interessengemengelage der Verfahrenssubjekte. Die autoritäre Struktur des deutschen Strafprozesses macht zunächst eine kontradiktorische Parteiherrschaft, die über den Prozessgegenstand selbst verfügt, unmöglich. Die Staatsanwaltschaft ist weniger die gegnerische Partei, als vielmehr das auf Objektivität verpflichtete Organ, das die gleichmäßige Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu gewährleisten hat. Wenn im Strafverfahren, wie im Falle der Absprachen einvernehmlich vorgegangen wird, so werden diese grundsätzlichen Interessenstrukturen aufgeweicht. In welcher Form dies geschieht, soll nun untersucht werden. a) Die Interessen der Justiz Die Überlastung der Justiz – auch wenn der empirische Nachweis dem vielfach empfundenen und beklagten Ausmaßes nicht entspricht – ist bereits als eine Hauptursache angeführt worden. Dass die Gerichte bei der Durchführung von informellen Verständigungen somit Interessen verfolgen, die in engem Zusammenhang zu diesem Missstand zu sehen sind, versteht sich so gut wie von selbst. Mit Absprachen sind Zeitersparnisse und kontrollbezogene Arbeits67 Vgl. zum eigenständigen deutschen Prozesstyp, Roxin, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 5; Löwe-Rosenberg/Rieß, Einl. F Rn. 8, definiert den deutschen Strafprozess dementsprechend als „staatlich betriebenen Anklageprozess mit einer gerichtlichen Aufklärungspflicht“. 68 Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Einl. Rn. 9; vgl. auch Roxin, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 5. 69 Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 14.
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erleichterung durch den Rechtsmittelverzicht verbunden, der wiederum einen geringeren Begründungsaufwand für das Urteil nach sich zieht. Dies gilt umso mehr, als ein erheblicher Teil der richterlichen Arbeitskapazität gerade in die Urteilsbegründungen fließt, da die Anforderungen von den Revisionsgerichten immer höher geschraubt werden70. Hinzu kann eine mentale Entlastung treten, da der psychische Druck, den eine autoritäre Entscheidungsfindung in einem so in die Persönlichkeit eingreifenden Rechtsbereich wie dem Strafrecht mit sich bringt, durch einen entscheidungstragenden Konsens ersetzt wird. Ein sehr persönlicher Nutzen des Richters kann zudem in dem Fortfall der Revisionskontrolle durch den Rechtsmittelverzicht auch deshalb liegen, weil die justizinterne Karriere eines Instanzrichters durch eine häufige Aufhebung seiner Urteile im Rechtmittelzug negativ beeinflusst werden kann71. „Je ohnmächtiger sich die Justiz fühlt, umso eher lässt sie sich auf Deals ein.“72 Diese Tendenz leuchtet ein, erspart die einvernehmliche Verfahrensbeendigung doch viel juristischen Kraftaufwand. Ist die Beweislage besonders schwierig, türmen sich die Aktenberge und nimmt die Zahl der möglichen, zu vernehmenden Zeugen kein Ende, so ist leicht nachvollziehbar, dass ein Sondierungsgespräch in einer solchen Situation wohl besonders willkommen und der mögliche Nutzen für die Ressourceneinsparung nicht zu unterschätzen ist. Wichtig für die Beurteilung der Interessen der Justiz ist zudem, dass die Vorteile für Staatsanwaltschaft und Gericht weitgehend parallel laufen. Von der Verfahrensflut ist die Staatsanwaltschaft als vorgeschaltete Instanz sogar noch stärker betroffen73. Kapazitätsnöte werden sich also bei den Staatsanwaltschaften eher im Ermittlungsverfahren, bei den Gerichten eher in der Hauptverhandlung einstellen. Dass die Gerichte Verfahrenseinstellungen nach § 153a StPO so gut wie niemals verweigern, haben Untersuchungen gezeigt; dass umgekehrt die Staatsanwaltschaft Engpässe bei von den Gerichten angeregten Verständigungen kaum ignorieren wird, ist wahrscheinlich. Durch diese gegenseitige Nutzenopti70 Vgl, zu den revisionsrechtlichen Anforderungen an die Tatsachenfeststellungen in der Urteilsbegründung Dahs/Dahs, Die Revision im Strafprozess, S. 141 ff.; Löwe-Rosenberg/Hanack, § 337, Rn. 121, 123 131 ff. m. w. N. 71 Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 33; anschaulich auch die Formulierung, S. 120, der Richter gäbe seine „streitenthobene Stellung“ auf und begäbe sich als „Partei in die Arena“. 72 Lüdemann/Bussmann, KrimJ 1989, 54, 60; Schmidt-Hieber, NJW, 1990, 1884, 1885 verweist auf den „unverhohlenen Eigennutz“, mit dem die Strafjustiz Verständigungen betreibt und der ein „immer tieferes Unbehagen“ wecke, interessant ist seine Wertung insbesondere vor dem Hintergrund, dass er noch in seiner Monographie von 1986 zu der Verständigungsproblematik sich als klarer Befürworter der Praxis zu erkennen gegeben hatte und gerade auch auf den Umstand verwiesen hatte, dass „die Interessen der an einem Strafverfahren Beteiligten [. . .] nicht zwangsläufig entgegengesetzt sein [müssen], Verständigung im Strafverfahren, S. 1. 73 Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 33.
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mierung kann die vom Gesetz angelegte wechselseitige Kontrolle der Organe praktisch leer laufen74. Informelle Verständigungen bringen somit der Justiz insgesamt einen „massiven, multiplen und evidenten Nutzen“, „ins Gewicht fallende Nachteile“ sind hingegen nicht ersichtlich75. Hinzuweisen ist zudem auf „ein in der Praxis ausuferndes Bestreben von Staatsanwaltschaften und Gerichten, einen grundsätzlich geständnis- und absprachebereiten Angeklagten zu belastenden Aussagen gegen Dritte durch weitergehende Strafmilderung zu motivieren76. Der äußerst problematische „Deal zu Lasten Dritter“77 wird somit zu einem weiteren Interessenfeld, das Staatsanwaltschaft und Gericht gemeinsam verfolgen. Abschließend lässt sich festhalten, dass die Justiz durchaus eigene Interessen verfolgt, wenn sie auf eine informelle Verständigung hinwirkt. Zwar kann dieser „Eigennutz“ das Gefahrenpotenzial, das in einer unkontrollierten Praxis liegt, zusätzlich hervorheben; er ist indes für sich genommen noch kein die Möglichkeit „gerechter Absprachen“ vernichtendes Argument. Denn es bleibt bei der grundsätzlichen Feststellung, dass trotz regelmäßig entgegenlaufender Interessen im Strafverfahren diese in besonderen, kommunikativen und kooperativen Situationen sich durchaus einander annähern können. b) Die Interessen der Verteidigung Es wäre eine idealistische Verkürzung der Dinge, wollte man die Interessen der Verteidigung denen des Mandanten im Verfahren gleichstellen. Die Verteidigung verfolgt selbstverständlich auch eigene Interessen. Treibender Motor der Absprachen können somit seitens der Verteidigung auch solche Gesichtspunkte werden, die nicht unbedingt ebenso im Interesse des Beschuldigten liegen müssen. Termindruck, ökonomische Vorteile, das Bestreben nach einer möglichst hohen Erledigungsquote und die Vermeidung eines konfrontativen Verfahrens sind die Schlagworte in diesem Zusammenhang78. Die Thesen zur Strafverteidigung der Bundesrechtsanwaltskammer gehen von dem Grundsatz aus, dass die Verständigung mit Staatsanwaltschaft und Gericht sinnvolle Verteidigung sein kann79, da sie in geeigneten Fällen dem Mandanten 74
Vgl. hierzu Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 34. Schünemann, a. a. O., S. 35. 76 Weider, StV 2003, 266, Anmerkung zu BGH Beschl. v. 15.1.2003. 77 Zum Problem der Befangenheit des Gerichts in diesen Fällen eingehend Herzog, StV 1999, 455 ff. 78 Dies führt die Arbeitsgruppe 5 des 13. Strafverteidigertages, abgedruckt in StV 1989, 276 als „Interessengemengelage“ an. 75
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Vorteile für seine Verteidigungsziele bringen können, deren Erreichung sonst zweifelhaft sei; allerdings dürfe der Verteidiger nicht aus „purer Bequemlichkeit“ bessere Verteidigungsmöglichkeiten verspielen80. Die Tatsache, dass sich die Rechtsanwaltskammer veranlasst sah, ihr „Berufsethos“ im Hinblick auf die Absprachenpraxis besonders hervorzuheben, macht deutlich, wie groß die Gefahr einer Interessenverlagerung bei der Anwaltschaft zu Lasten des Beschuldigten sein kann. Für die Verteidigung kann sich die Strategie bequemer, schneller und im Zweifel auch lukrativer – durch schnelle Abwicklung des Verfahrens können möglicherweise mehr Mandate angenommen werden, was bei Honorarvereinbarungen auch von finanziellem Vorteil sein kann81 – gestalten, wenn Absprachen initiiert oder entsprechende Angebote der Justiz wahrgenommen werden82. Es gilt, dass eine vertrauensvolle Stellung des Verteidigers bei Gericht und Staatsanwaltschaft die Position in „Verhandlungen“ stärkt und die Verteidigung effizienter macht. Wie wichtig die Verständigung in der strafanwaltlichen Tätigkeit geworden ist, wird auch daran deutlich, dass Arbeitsgemeinschaften des DAV Schulungen für konsensuale Verfahrenserledigungen anbieten83 und entsprechende Hinweise in den Handbüchern für Fachanwälte immer ausführlicher ausfallen84. Neben dem finanziellen Nutzen darf die psychische Entlastung der Arbeitserleichterung auch bei den Anwälten nicht unterschätzt werden. Durch die Aufnahme kooperativer Beziehungen können Kon-
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Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung München 1992, S. 66. BRAK, a. a. O., S. 68. 81 Vgl. zu den ökonomischen Vorteilen bei einem Großteil der Verteidiger, Weider, Vom Dealen mit Drogen und Gerechtigkeit, S. 148, der geradezu von einer „neuen Generation“ von Verteidigern spricht, der es weniger um die Begrenzung staatlicher Grunderchtseingriffe, als vielmehr um „arbeitsökonomische und effektive Gestaltung der eigenen Tätigkeit geht“ (S. 187); vgl. auch Küpper/Bode, Jura 1999, 351. 355, die darauf hinweisen, dass gerade in Großverfahren häufig Honorarvereinbarungen geschlossen wurden, wodurch sich bei Absprachen trotz Zeitgewinn eine gleich bleibende Honorierung einstellt; gegen einen finanziellen Nutzen Dahs, NStZ 1988, 153, 158, der wirtschaftliche Nachteile aus der Reduzierung des Verhandlungsumfangs ableitet; hiergegen wiederum Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 44, der vor allem die Reduzierung des Arbeitsaufwands und den daraus resultierenden Gewinn ins Zentrum rückt; für eine gesetzliche Regelung auch der gebührenrechtliche Aspekte der Absprachen im Strafverfahren spricht sich Sinner, ZRP 2000, 67, aus. 82 So wurde bereits vor 25 Jahren konstatiert, dass zunehmend die Überzeugung entstehe, dass die Strafverteidigung sich erschöpfe in der „Kunst durch Gespräche ,außerhalb der Hauptverhandlung‘ Strafverfahren zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen“, vgl. Rückel, NStZ 1987, 297. 83 Vgl. hierzu Wagner, in: Festschrift für Gössel, S. 585, 589. 84 Beispielsweise sei verwiesen auf den Beitrag von Satzger, in: Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, S. 1357 ff., der den Absprachen im Strafprozess ein umfangreiches Kapitel widmet; zurückhaltender die Ausführungen bei Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 1999, Rz. 463. 80
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flikt und eventueller Misserfolg durch Konsens und sicheren Teilerfolg ersetzt werden85. Der Großteil der Absprachen wird in Abwesenheit des Beschuldigten getroffen; mehr noch: der Beschuldigte wird in der Regel nicht einmal für einen „adäquaten Verhandlungspartner“86 gehalten. Rund 40–50% der Verteidiger entscheiden sogar allein, ohne Konsultierung des Beschuldigten über die Aufnahme von Gesprächen87. Aus Verteidigersicht sei es oft schwer, bei dem Mandanten nicht das Gefühl aufkommen zu lassen, er werde durch die vertraulichen Gespräche zum Objekt des Verfahrens gemacht; gerade aus diesem Grunde sei es geboten, ihn nicht über die Details, sondern lediglich über die Ergebnisse und die „tragenden Überlegungen“ der Gespräche zu informieren88. Die Übergehung des eigentlich Betroffenen macht deutlich, dass die Interessen der Verteidigung sich mit denen des Beschuldigten nicht immer decken müssen. Weider89 stellt sogar eine gegenläufige Tendenz heraus, indem er eine Entwicklung konstatiert, an deren Beginn die Absprachen noch als Ausdruck einer engagierten, ihre Druckmittel bewusst einsetzenden Verteidigung gesehen werden konnten, die aber inzwischen die Absprachen zunehmend einem Funktionswandel unterziehe. Verständigungen seien heute weniger Ziel einer selbstbewussten Verteidigung, als vielmehr von Gericht und Staatsanwaltschaft dominiert, da diese weitgehend Bedingungen und Ergebnis bestimmten. Hinzukomme ein Art „Rollentausch“90 zwischen Gericht und Verteidiger. Dem Verteidiger käme durch das Aushandeln ohne den Mandanten quasi die Funktion zu, das Urteil zu verkünden und zu begründen und so die Akzeptanz des Mandanten zu erreichen; das bedeute einen partiellen Verlust der Beistandsfunktion des Verteidigers. Dass die Interessen der Verteidigung an Verständigungen sich mit denen des Beschuldigten nicht decken müssen91, ist offensichtlich, dass sie diesen auch zuwiderlaufen können, ist eine Gefahr, die nicht unterschätzt werden darf.
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Hierzu auch Schünemann, a. a. O., S. 46. Mit diesen Worten beschreibt Schmitt, GA 2001, 411, 412 zustimmend die regelmäßige Übergehung des Beschuldigten. 87 Von 40% geht Weider, Vom Dealen mit Drogen und Gerechtigkeit, S. 148, aus unter Rückgriff auf Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 43, der allerdings in seiner Umfrage festgestellt hat, dass sogar die Hälfte der Verteidiger über die Aufnahme von Gesprächen ganz allein entscheidet. 88 Dahs, NStZ 1988, S. 153, 158. 89 A. a. O., S. 155. 90 Weider, a. a. O., S. 156; von einer „Kapitulation der Verteidigung vor der [. . .] Übermacht der Jusitz“ durch die „Flucht in den Deal“ spricht Weider, a. a. O., S. 176. 91 So hat sogar die „Arbeitsgruppe 5“ des 13. Strafverteidigertag darauf hingewiesen, dass Absprachen eher den Interessen der Verteidiger als denen des Mandanten dienen würden, abgedruckt in StV 1989, 270. 86
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c) Die Interessen des Beschuldigten In der Diskussion um die Interessen des Beschuldigten an einer verfahrensbeendenden Absprache findet sich seit jeher ein eklatanter Widerspruch. Auf der einen Seite wird von allen Seiten stets die Wirkung der beträchtlichen Strafnachlasse hervorgehoben, die den größten Anreiz für den Beschuldigten darstellen dürften; auf der anderen Seite ist eines der Hauptargumente gegen die Absprachenpraxis gerade die Gefahr, dass essenzielle Verteidigungsrechte des Beschuldigten beschnitten würden. Wie verträgt es sich also, dass das Interesse des Beschuldigten einerseits in den milderen Strafen begründet sein soll, andererseits aber gerade diese milderen Strafen als Bedrohung seiner rechtsstaatlich geschützten Abwehrrechte und somit als seinen Interessen potenziell zuwiderlaufend begriffen werden? Wenn dieser Widerspruch sich auch nicht auflösen lässt, so lässt er sich doch recht einfach erklären. Die gemilderten Strafen als Interesse des Beschuldigten an einer Absprache können nur dann in die Waagschale geworfen werden, wenn vom schuldigen Angeklagten ausgegangen wird. Umgekehrt muss jede Absprache dann als Bedrohung der rechtsstaatlichen Garantien empfunden werden, wenn man sich vergegenwärtigt, dass zum Zeitpunkt einer Verständigung gerade noch nicht über Schuld und Unschuld entschieden ist. Stellte sich die Interessenlage der Justiz, sowie der Verteidigung noch relativ deutlich und homogen dar, so tritt bei der Bestimmung der Interessen des Beschuldigten dies schwerwiegende Problem hinzu. Begründet ist es in der Doppelseitigkeit der angeblichen Vergünstigung milderer Strafen. Das entscheidende Element der Absprachen ist nämlich nicht diese vordergründige Gewährung einer Vergünstigung, sondern die implizit damit verbundene Drohung92. Das grundlegende Problem liegt gerade darin, dass es hypothetische Vorteile in der Absprachenpraxis ohnehin nur für den geständnisbereiten Beschuldigten geben kann. Das ebenso denkbare Ziel eines Freispruchs, jede konfrontative Strategie muss durch die Anbahnung informeller Gespräche kompromittiert werden. Für einen Beschuldigten, der das konfrontative Verfahren mit dem Ziel eines Freispruchs anstrebt, muss daher der Versuch seitens der Justiz, zu einer außerprozessualen Einigung zu kommen, mit versteckten Nachteilen verbunden sein, weil ein abgelehntes Gesprächsangebot in der Regel nicht ohne Konsequenzen für den Fortgang des konfrontativen Verfahrens bleibt93. Dieser Aspekt einer absolut heterogenen Interessenlage, je nach „Schuldpositionierung“ des Beschuldigten im Verfahren, tritt häufig bei der Darstellung 92
Weigend, JZ 1990, 774, 778. Bei der Repräsentativumfrage von Schünemann haben von den Anwälten, die Angebote der StA oder des Gerichts als zu gering abgelehnt haben, etwa 55% persönlich eine negative Konsequenz erlebt, vgl. Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 42. 93
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der Nutzen in den Hintergrund. Das gesamte System der absprachebedingten Vergünstigungen kann schon konzeptionell nur für den schuldigen Beschuldigten gelten. Als üblicher Nutzen des konsensualen Verfahrens wird neben den Strafrabatten denn auch die Beschleunigung des Verfahrens, sowie die Senkung des Stress- und Kostenfaktors angeführt94. Nach der Devise „process is punishment“ soll schon die Vermeidung des konfrontativen Verfahrens als solche für den Beschuldigten von Nutzen sein. Dies kann aber nicht für denjenigen Beschuldigten gelten, dem es gerade auf eine konfrontative Verhandlung ankommt, weil seine Interessen mit denen der Staatsanwaltschaft unvereinbar bleiben. Doch bei näherem Hinsehen stellt sich selbst für die eindeutig „Geständniswilligen“ die Kosten-Nutzen-Rechnung in keiner Weise eindeutig dar. Entscheidend ist hier vielmehr ein Vergleich der hypothetisch bei Fortführung des konfrontativen Verfahrens verhängten Strafe und der nach Verständigung tatsächlich zugesprochenen Sanktion. Aus verschiedenen Gründen gibt es für diesen Vergleich jedoch keine zuverlässige Berechnungsgrundlage. Zunächst ist in diesem Zusammenhang die die Strafzumessungslehre beherrschende und in der Rechtsprechung praktisch ausschließlich vertretene „Spielraumtheorie“ 95 zu nennen. Diese ermöglicht es dem Richter, innerhalb eines erheblichen Schuldspielraums die Strafe im Einzelnen nach general- und spezialpräventiven Zwecken festzusetzen. Die Abwägung eröffnet ihm einen beträchtlichen Ermessensspielraum, der verlässliche Prognosen über den Strafrahmen in einem hypothetisch konfrontativen Verfahren nahezu unmöglich macht. Prognosen setzen zudem wegen der erheblichen Unterschiedlichkeit der Strafaussprüche je nach Region und Spruchkörper eine große Vertrautheit mit den Strafzumessungspraktiken des jeweiligen Spruchkörpers voraus96. Weider97 hat einen weiteren Aspekt hervorgehoben, der in der Kosten-Nutzen-Rechnung des Beschuldigten negativ zu Buche schlagen dürfte, nämlich die Tendenz der Staatsanwaltschaft, mehr als den Grundtatbestand anzuklagen, also beispielsweise Qualifikationen oder überflüssige Anklagepunkte, um so eine „Manövriermasse“ für Absprachen bereitzuhalten. Die Folgen der Verständigung in solchen Fällen beliefen sich so auf einen Strafrahmen, der gegenüber dem des Ergebnisses einer streitigen Hauptverhandlung nicht allzu unähnlich sein dürfte. 94
Tscherwinka, Absprachen im Strafprozess, S. 31 f. Vgl. zur Rechtsprechung BGHSt 20, 264, 266 f.; 24, 132, 133 f.; 29, 319, 321; BVerfGE 45, 187, 259 f.; 50, 1, 11; vgl. in der Literatur zustimmend zur Spielraumtheorie Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 105 ff.; kritisch Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, S. 31 f., der den Realitätsgehalt der Theorie als äußerst gering einschätzt; zweifelnd Schäfer, Praxis der Strafzumessung, Rn. 461 ff. 96 Schünemann, a. a. O., S. 38. 97 Weider, Vom Dealen mit Drogen und Gerechtigkeit, S. 149, und ders., in: Kreuzer Handbuch, § 15, Rn. 168. 95
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Spricht man von den Interessen des Beschuldigten, darf ein entscheidender Punkt nicht außer acht gelassen werden: dass nämlich jede Absprache die Gefahr des Scheiterns in sich birgt und dass der Beschuldigte durch seine Vorleistung alle vermeintlichen Nutzen verspielen kann, da ein Geständnis zwar frei widerruflich ist, es aus der freien Beweiswürdigung des Gerichts hingegen nicht mehr eliminiert werden kann. Selbst wenn noch kein Geständnis abgelegt ist, kann bereits die Bereitschaft zu Gesprächen einen Indizcharakter haben und somit jeder ergebnislose Abbruch einer Vorbereitung der Absprache für den Beschuldigten negative Konsequenzen in sich bergen. So ist es bezeichnend, dass Praktiker aus der Verteidigung verstärkt auf die Gefahren einer zu frühen Öffnung der Verteidigungslinie durch Aufnahme von Verständigungen hinweisen98. Und schließlich ist ein bedeutendes Problem der Verfahrenswirklichkeit zu berücksichtigen, das die Interessen des Beschuldigten aufs Empfindlichste beschneidet: die mangelnde Transparenz der Absprachenpraxis, die zu einem beträchtlichen Teil über den Kopf des Beschuldigten hinweg gehandhabt wird, ohne dass dieser hiervon überhaupt Kenntnis erlangt, geschweige denn auf das Ergebnis Einfluss nehmen kann. Aktiv beteiligt wird er so gut wie nie, noch wird auf eine hinreichende Transparenz der Aushandlungen für den eigentlich Betroffenen geachtet; in der Verständigungskommunikation bleibt seine Rolle als Verfahrenssubjekt äußerst marginal99. So hat die Repräsentativumfrage erschreckende Ergebnisse zu der Frage nach der wesentlichen Beteiligung der Verfahrenssubjekte an den Absprachen und zu der Information des Mandanten über die Absprachen durch den Verteidiger geliefert100. Unter Berücksichtigung der angesprochenen Punkte stellt sich die Interessenlage des Beschuldigten weitaus zweischneidiger dar als die der übrigen Verfahrensbeteiligten101. Die Kosten-Nutzen-Rechnung ist für ihn äußerst komplex und hängt von zahlreichen Faktoren ab. Den eventuellen Vorteilen stehen immense Risiken gegenüber, die vor allem in seiner Vorleistung begründet sind. Gerade die Informalität der Praxis und hierbei insbesondere die mangelnde gesetzliche Absicherung für den Fall des Scheiterns von Verständigungsgesprä98 Dahs, NStZ 1988, 153, 156, spricht in diesem Zusammenhang von einem „point of no return“, da bereits durch die Andeutung eines möglichen Geständnisses die uneingeschränkte Verteidigung gegen den Anklagevorwurf an Überzeugungskraft verliert, hierzu auch Widmaier, StV 1986, 357, 369; entsprechend auch These 39 der BRAK, die in Hinblick auf die „Preisgabe besserer Verteidigungsmöglichkeiten“ den Verteidiger davor warnt, ohne die Prozesssituation sorgfältig zu analysieren „allzu bereitwillig“ durch Eingehen auf Angebote der Justiz einen „baldigen (Teil)-Erfolg“ erreichen zu wollen, Thesen zur Verteidigung, S. 68 f. 99 Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 43. 100 Der Beschuldigte wurde im Rahmen der Repräsentativumfrage nur von 9,8% als wesentlich an den Absprachen beteiligt eingestuft; im Einzelnen nachzulesen bei Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 43. 101 Anders Schmitt, GA 2001, 411, 414.
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chen macht die derzeitige Form der Absprachen zu einem für den Beschuldigten äußerst heiklen Unterfangen. d) Die neue Interessenallianz im Verständigungsprozess Zwar wird gerne betont, dass Absprachen doch eigentlich allen Verfahrensbeteiligten nützen; allerdings gerät dabei aus dem Blick, dass Absprachen nur das Mittel zu Zielen sind, die unter den Verfahrenssubjekten deutlich variieren. Die antagonistischen Rollen des Verfahrens decken sich im konsensualen Vorgehen nur vordergründig. Der Beschuldigte ist in der Regel an einer möglichst milden Strafe interessiert, die Justiz an möglichst effizienter Verfahrensgestaltung. Es zeichnet sich zudem eine Wende in der Entwicklung der Verteidigerstrategien ab. War die unverhältnismäßige Konfliktverteidigung in den Anfängen der Absprachenpraxis noch gerne als eine der Ursache für die Ausbildung des Phänomens angeführt worden, wird heute das Augenmerk zunehmend auf die Gefahr des „Superschulterschlusses“102 zwischen den professionellen Akteuren des „Deals“ gelegt. Es kann daher der Eindruck entstehen, die Ursache der Konfliktverteidigung habe sich gewissermaßen durch die Praxis in ihr Gegenteil verkehrt. Die neue Rolle der Verteidigung im konsensualen Verfahren kann zu einer Isolierung des Beschuldigten führen, die ihn in eine ungewöhnliche Verfahrensposition rückt, in der er droht, zum Objekt des Verfahrens degradiert zu werden. Weider103 spricht sogar davon, dass diese neue Allianz der „Praktiker“ die gesamte Struktur des Strafprozesses mehr verändert habe als alle Änderungen durch den Gesetzgeber und die rechtsfortbildende Rechtsprechung der Revisionsgerichte. Verstärkt wird diese Tendenz durch die häufig mangelnde Transparenz der Aushandlungen. Die eigentlichen Interessendivergenzen zwischen Justiz und Beschuldigtem bleiben bestehen, werden nur durch vordergründige Einigkeit (oftmals nicht einmal reale, wenn der Beschuldigte im Unklaren gelassen wird) kaschiert und durch die „undurchsichtigere“ Rolle der Verteidigung, die gewissermaßen als „Doppelagent“104 auftritt, unterlaufen. Die „Bequemlichkeitsgefahr“ war bereits von den „Thesen zur Strafverteidigung“ der BRAK auch für die Anwälte angesprochen worden105. Dass sich das Gefahrenpotential für den Beschuldigten erhöht, wenn das informelle Verfahren für alle berufsmäßig mit dem Verfahren 102 Begriff von Schünemann, NJW 1989, 1895, 1901, auf das genannte Phänomen weist auch Weigend für den US-amerikanischen Prozess hin, Absprachen in ausländischen Strafverfahren, S. 54 f. 103 Vgl. Weider, Vom Dealen mit Drogen und Gerechtigkeit, S. 184. 104 Der Begriff stammt bezogen auf den Verteidiger im amerikanischen Strafprozessystem von Blumberg, StV 1988, 79, 82: „in seiner Rolle als Doppelagent“ erfülle der Verteidiger „eine vitale und delikate Mission für das Strafrechtssystem“. 105 Vgl. Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, S. 66.
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Befassten „bequem“ ist und doch ernst zu nehmende Beschneidungen seiner Rechte beinhaltet, dürfte einsichtig sein. Wo Eigennutz und Bequemlichkeit als zumindest drohende Primärinteressen dargelegt werden, kann von sich deckenden Interessen wohl kaum mehr die Rede sein und der Beschuldigte kann erheblichen Drucksituationen ausgesetzt werden106. Die Interessenlage der Beteiligten scheint in dieser Hinsicht einem Wandel unterworfen zu sein. Waren die Anfänge der Absprachepraxis wohl eher als die Reaktion der Justiz auf eine engagierte, konfliktbereite Verteidigung zu verstehen, so ist inzwischen auch von Seiten der Gerichte und Staatsanwälte eine ausgeprägte Tendenz zur Initiierung von verfahrensbeendenden Verständigungen zu verzeichnen, die ihrerseits die Vergleichsbereitschaft bei Verteidigern und Beschuldigten wecken soll107. Der Widerstreit der Interessen, der sich im abgesprochenen Verfahren durch die Einbindung der Verteidigung in die „gegnerische Seite“ anders darstellt als im konfrontativen Verfahren, geht in einem entscheidenden Punkt zu Lasten des Beschuldigten. Die Risikolast trägt er allein. Alle Beteiligten verfolgen unterschiedliche Ziele über das gleiche Mittel, nämlich die Absprachen. Alle versprechen sich erhebliche Vorteile. Doch auf Absprachen kann es keine Garantie geben, sie können fehlschlagen. Alle wollen aus vertrauensvoller Einigkeit Nutzen ziehen. Das Risiko des Scheiterns wird jedoch allein auf den Beschuldigten abgewälzt. Er befindet sich somit in einer isolierten Position, die durch das stärker werdende Zusammenspiel der professionell am Verfahren Beteiligten noch zusätzlich zugespitzt wird. Das ohnehin zwischen Staat und Beschuldigtem bestehende Machtgefälle in einem Strafprozess kann durch die beschriebene „neue Interessenallianz“ unter Umständen noch verschärft werden. 3. Das Risiko fehlgeschlagener Absprachen und Vertrauen als Grundlage der Absprachen Im Folgenden wird die Informalität der Praxis, die auf der einen Seite eine flexible Verfahrensgestaltung gestatten kann und daher auch zum Teil durchaus positiv bewertet wird108, auf einen entscheidenden Schwachpunkt hin unter-
106 Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren, S. 138, hebt hervor, dass es für die Komplexität des Problems bezeichnend sei, dass von Seiten der Absprachenkritiker stets der Beschuldigte in der Rolle des Genötigten gesehen werde, während Vertreter der Justiz gerade sich für das Nötigungsopfer hielten, das sich ausufernder Beweisanträge wegen in eine Absprache flüchten muss. Vor diesem Hintergrund sei die Position, der Beschuldigte befinde sich in einer Lage, die ihn wegen des Machtgefälles zu einer Unterwerfung zwinge, „sicher nicht in allen Fällen zutreffend“, es bleibe aber dennoch bei der Diagnose eines „unüberwindlichen Machtgefälles“ (S. 139). 107 Vgl. Terhorst, GA 2002, 600, 601; hierzu auch die Anmerkung von Kintzi zu BGH JR, 2001, 159, 162, spricht von Richtern, die auf „Biegen und Brechen“ zu einer Verständigung gelangen wollen.
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sucht. Es geht hierbei um den Fall der gescheiterten Absprache, der nicht zu unterschätzende Risiken für den Beschuldigten birgt109. Absprachen beruhen auf einem Austauschverhältnis. Ohne entsprechende Vertrauenstatbestände kann kein Austauschverhältnis begründet werden. Vertrauen bildet deshalb eine wesentliche Funktionsvoraussetzung des gesamten Absprachesystems110. Hierin besteht die gemeinsame Struktur sämtlicher unterschiedlicher Absprachetypen. Leistungen werden im Gegenseitigkeitsverhältnis auf Vertrauensbasis ausgetauscht. Vertrauen aber kann enttäuscht werden. Vertrauen wird gegenseitig gewährt, das „Vorleistungsrisiko“111 trägt aber der Beschuldigte allein. Dieses Risiko ist beträchtlich, denn Gründe für das Scheitern einer Verständigung sind in mehrfacher Hinsicht denkbar: so können einerseits „Mängel beim Vertragsschluss“112, wie Unzulässigkeit der Absprache113, Dissens zwischen den Beteiligten114 oder das Auftreten neuer Umstände oder schlicht „Vertragsuntreue“115 die Absprache zum Scheitern bringen. Des Weiteren können sich Leistungsstörungen bei der Abwicklung der Absprache ergeben, etwa weil ein Beteiligter sich aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen an der Einhaltung gehindert sieht oder weil ein einbezogener Dritter sich nicht an die Absprache hält.
108 Obwohl der Ruf nach dem Gesetzgeber immer lauter wird, gibt es noch immer Stimmen, die eine legislatorische Lösung für unnötig oder gar falsch halten, zu letzteren z. B. Kintzi, JR, 2001, 161, 162; Böttcher/Dahs/Widmaier, NstZ 1993, S. 375, 377; Steinhögl, S. 157, spricht sogar von einem „Trend [. . .] zur internen Lösung durch die Rechtsprechung“, so dass der „legislatorische Handlungsbedarf zunehmend für entbehrlich gehalten“ wird. Diese Wertung entspricht indes nicht der hier verfolgten Einschätzung, da die zunehmend vorgebrachten Kodifizierungsvorschläge wohl eher eine gegenteilige Tendenz vermuten lassen und die Stimmen gegen eine gesetzliche Regelung immer weniger sein dürften. 109 Vgl. zu dem umfangreichen Themenkomplex in rechtsvergleichender Hinsicht die Dissertation von Bömeke, Rechtsfolgen fehlgeschlagener Absprachen im deutschen und englischen Strafverfahren. 110 Kölbel, NStZ 2002, 74, 76; vgl. auch Gallandi, MDR, 1987, 801, für den das „Vertrauen als Grundelement jeder menschlichen Verständigung“ zu jeder Absprache gehört. 111 Zum Begriff Schünemann, StV 1993, 657, 663, und ders., Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 41. 112 Kuckein, in: Festschrift für für Meyer-Goßner, S. 63, 64 113 Unter diesen Fall fasst Schmidt-Hieber, NStZ 1988, 302, 303, all die Verständigungen, die daran scheitern, dass das Gericht den Eindruck erweckt hat, eine verbindliche Strafzusage machen zu können und sich damit im Bereich der unzulässigen Absprachen bewegt. 114 Zum Problem der wegen eines versteckten Dissenses von Anfang an gescheiterten Absprache, Beulke/Satzger, JuS, 1997, 1072, 1073. 115 Ausführlich zum möglichen „Wortbruch“ der Absprachebeteiligten, Gallandi, MDR, 1987, 801 f.
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Das Vorleistungsrisiko des Beschuldigten liegt in der Regel in seinem Geständnis. Das Geständnis soll nach überwiegender Auffassung der Rechtsprechung uneingeschränkt verwertbar bleiben116. Diese Risikoverteilung ist vor dem Hintergrund des „Superschulterschlusses“117 der professionellen Akteure des Verfahrens besonders bedenklich. Der schwächste und am schlechtesten informierte Beteiligte wird durch seine Leistung am stärksten durch das Risiko des Scheiterns der Gespräche belastet. „Geschäftsgrundlage“118 des Deals ist ein Vertrauenstatbestand, der entweder durch die Zusage eines bestimmten Strafmaßes119 durch das Gericht oder die Zusage einer bestimmten Anklage durch die Staatsanwaltschaft begründet ist. Diese Geschäftsgrundlage entfällt bei einer gescheiterten Verständigung. So wird im Schrifttum auch diskutiert, das Verfahren müsse bei fehlgeschlagener Absprache eingestellt werden, da durch das einmal abgelegte Geständnis das Gleichgewicht unwiederbringlich so gestört sei, dass ein faires Verfahren nicht mehr möglich sei120. Ebenso wird ein Verwertungsverbot in Fällen der „unerkannt fehlgeschlagenen Absprache“ (Fälle des versteckten Dissenses) aus dem Gedanken eines Eingriffs in den grundrechtlich geschützten nemo-teneturGrundsatz abgeleitet121. Ebenso wird erwogen, eine fehlgeschlagene Absprache als eigenständigen Strafmilderungsgrund zu werten122. Es bleibt in jedem Fall das Ungleichgewicht, das durch die Vorleistung des Beschuldigten entsteht. Trotz neuerer Tendenzen in der Rechtsprechung123, die die Position des Beschuldigten auch bei gescheiterten Gesprächen durch Hin116 BGHSt 38, 105; 1StR 662/93 = NStZ 1994, 196; 1 StR 12/97 = NStZ 1997, 561; auch nach Meinung der DRB-Kommission, abgedruckt bei Kintzi JR 1990, 309, 311; zu den Hinweispflichten des Gerichts bei gescheiterter Absprache vgl. BGH Beschl. vom 26.9.2001, NStZ 2002, 219, mit Anmerkung von Weider, NStZ 2002, 174 ff., der die Entscheidung „richtungsweisend“ nennt, da sie eine Bindungswirkung durch Schaffung eines Vertrauenstatbestandes auch im Falle gescheiterter Absprachen festschreibe und so die revisionsrechtliche Kontrolle stärke (S. 178); zum Problem der Verwertbarkeit unten V.3. noch ausführlich. 117 Begriff von Schünemann, in: Festschrift für Baumann, S. 361, 374. 118 Vgl. zur Terminologie des „Wegfalls der Geschäftsgrundlage“ bei gescheiterter Absprache, Weider, NStZ 2002, 174; Gutterer, S. 128. 119 Nach BGH ist nur die Zusage einer Strafobergrenze zulässig, vgl. die Grundsatzentscheidung BGHSt 43, 195. 120 So findet Gerlach, Absprachen im Strafverfahren, S. 143, den Gedaken eines Prozesshindernisses „reizvoll“, klare Bekenntnisse zu dieser Radikallösung finden sich allerdings nicht; gegen die Lösung des Prozesshindernisses wegen gescheiterten Deals statt vieler Beulke/Satzger, JuS 1997, 1072, 1074, und Bömeke, S. 111. 121 Köbel, NStZ 2003, 232, 236; für ein Verwertungsverbot auch Weigend, in: 50 Jahre BGH Festgabe, S. 1011, 1037. 122 Bömeke, S. 129, will diesen Gedanken nur für den Fall der „Prozessumfangsabsprachen“ gelten lassen; gegen die Lösung eines selbstständigen Strafmilderungsgrunds, Beulke/Satzger, JuS 1997, 1072, 1079. 123 Dazu ausführlicher unten unter IV.3.
II. Pragmatische Aspekte der Absprachen
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weispflichten des Gerichts stärken124 oder durch Unwirksamkeit eines vor Urteilsverkündung erklärten Rechtsmittelverzichts schützen125, bleibt ein grundsätzliches Problem: funktioniert die Absprache, gilt das Geständnis als Grundlage der im Einvernehmen „ermittelten“ Wahrheit, schlägt die Absprache fehl, ist von einvernehmlicher Wahrheit nicht mehr die Rede, das Geständnis soll aber dennoch als Element einer der Instruktionsmaxime verpflichteten Wahrheitsfindung herangezogen werden können. Die fehlgeschlagenen Absprachen bergen in jeder Konstellation Gefahren für den Beschuldigten, die mit seiner Vorleistung verbunden sind. Die rechtliche Unsicherheit, die dem Beschuldigten insbesondere aus der mangelnden Kodifizierung und der daraus resultierenden Ungewissheit hinsichtlich der Rechtsfolgen fehlgeschlagener Absprachen erwächst, stellt ein beträchtliches Gefahrenpotential der Verständigungspraxis dar. 4. „Klassenjustiz“ durch Absprachen In der für den Beschuldigten so zweischneidigen Natur der Absprachen, nämlich des Nutzens milderer Strafen auf der einen und des Verlustes rechtstaatlicher Verteidigungsrechte auf der anderen Seite, ist ein weiteres praktisches Problem angelegt. Denn es fragt sich, nach welchen Kriterien die Entscheidung für oder gegen ein konsensuales Verfahren getroffen wird. Wenn auch bereits darauf hingewiesen wurde, dass die Absprachenpraxis nicht mehr auf bestimmte Deliktsbereiche beschränkt ist, so kann doch daran festgehalten werden, dass bestimmte Deliktsbereiche der Informalität besonders zuträglich sind. Man kann wohl davon ausgehen, dass ein Zusammenhang zwischen Kooperationsbereitschaft der Justiz und dem „Typ“ des Beschuldigten besteht. Die Häufung der kooperativen Anreize beim sog. Wohlstandskriminellen ist nicht zufällig. Schon die Kommunikationsstruktur im Gerichtssaal variiert je nach Beschuldigtentyp. Der Eindruck einer „Privilegierung statushöherer Täter“126 kann sich leicht aufdrängen. So wird im Vergleich zu allgemeinen Prozessen nicht nur das „Verfahrensklima in Wirtschaftsprozessen“ als „besser“, sondern auch das „Machtgefälle zwischen Justiz und Verteidigung wird zudem als geringer eingeschätzt“127. Es scheint, als hinge die Menschlichkeit der Strafjustiz, Respekt und Höflichkeit vom „sozialen Habitus“ des Täters ab128. So kommt denn
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BGH NStZ 2002, 219, Anm. von Weider, NStZ 2002, 174. BGH StV 2000, 4, mit Anm. von Weigend, StV 2000, 63; auf die jüngsten Entwicklungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Rechtsmittelverzicht wird noch gesondert eingegangen unter IV.5. 126 Vgl. Steinhögl, S. 148; siehe auch die Wertung in „Der Spiegel“ Nr. 33 vom 12.8.2002, S. 70: „Die kleinen Gauner ereilt das Gesetzbuch“ . . . „Die großen Ganoven bekommen dagegen, was sie mit dem Gericht aushandeln“. 127 Bussmann/Lüdemann, KrimJ 1989, 54, 64. 128 Schmidt-Hieber, NJW 1990, 1884, 1886. 125
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Kap. 2: Rechtliche Würdigung der deutschen Absprachenpraxis
Schmidt-Hieber129, ursprünglich passionierter Verfechter konsensualer Verfahrensformen, zu dem vernichtenden Ergebnis, dass die Praktizierung der Urteilsabsprachen ungleich und willkürlich sei, weil sie ausschließlich auf Eigennutz basiere. Es ergibt sich somit eine doppelte Gefahr der Ungleichbehandlung vor der Strafjustiz. Zunächst ist überhaupt die Frage, wer in den „zweifelhaften Genuss“ eines kooperativen Verfahrens kommt, nicht ohne einen Blick in die Verfahrensrealität und das Übergewicht der „Wohlstandskriminellen“ in konsensualen Erledigungen zu beantworten, und zum anderen ist die Position des Beschuldigten im kooperativen Verfahren extrem von den Möglichkeiten und der „Vertrauensstellung“ seiner Verteidigung bei Gericht geprägt130. Informelle Verständigung ist angewiesen auf vertrauensvolle Verteidigung. Die Verteidigung muss das Vertrauen des Mandanten, des Gerichts und der Staatsanwaltschaft gleichermaßen genießen. Die Bedeutung der Kontakte, die die Verteidigung mit Gericht und Staatsanwaltschaft pflegt, steigt. Je angesehener der Anwalt und je bekannter seine „Vertrauenswürdigkeit“ umso besser die Verhandlungssituation; wer sich keinen entsprechend versierten Anwalt leisten kann, ist doppelt gestraft. Die Gefahr, dass konsensuale Erledigungsformen „zu erheblichen Vorteilen für begüterte Beschuldigte führen“ können, ist wohl nicht von der Hand zu weisen131. Auch die Rechtsfriedensfunktion des Strafrechts kann durch den berechtigten Vorwurf der „Klassenjustiz“132 einmal mehr gefährdet sein. Da die Absprachen doch gerade dem Rechtsfrieden dienen wollen, indem sie diesem durch schnelle und einvernehmliche Ergebnisse besser dienen können als langwierige Prozesse, kann der Einwand des Wohlstandsprivilegs zu einem „gefährlichen Bumerang“133 werden. Damit einhergehen kann zudem ein Autoritätsverlust des auf Konsens bedachten Gerichts134. 129
Schmidt-Hieber, NJW 1990, 1884, 1887. Vgl. Lüdemann/Bussmann, KrimJ 1989, S. 54, 57. 131 Gössel, in: Festschrift für Meyer-Goßner, S. 187, 194. 132 Diesen Begriff verwendet Bussmann, Die Entdeckung der Informalität, S. 79 ff.; wie auch im programmatischen Titel der Monographie von Lüdemann/Bussmann, Klassenjustiz oder Verfahrensökomie; schon früh sprachen dies. von „Diversionschancen der Mächtigen“, KrimJ 1989, S. 54; auch Eser bedient sich des Begriffs, ZStW 104 (1992), 361, 395; und Schmidt-Hieber, NJW 1990, 1884 vom „Privileg des Wohlstandskriminellen“. 133 Eser, ZStW 104 (1992), 361, 395; dieses Argument macht Ranft, Strafprozessrecht, Rn. 1227 denn auch dafür verantwortlich, dass durch Absprachen auch eines der Hauptziele des Strafverfahrens gefährdet werden könne, nämlich das Vertrauen der Bevölkerung in eine gleichmäßige und gerechte Strafrechtspflege; in diesem Sinn weist Schmidt-Hieber, Verständigung, S. 100 f., darauf hin, dass dem Bürger der Eindruck vermittelt werden könne: „Die Kleinen fängt man und die Großen lässt man laufen“. 134 Pfeiffer, Einl. Rn. 16. 130
II. Pragmatische Aspekte der Absprachen
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Das grundsätzliche Problem, das sich bei der Beurteilung der Wirkung von Absprachen auf das Vertrauen der Bevölkerung in die Strafrechtspflege stellt, liegt in deren schwieriger empirischen Nachweisbarkeit135. Die Reaktionen auf in der Presse groß herausgestellte Deals – ohnehin nicht repräsentativ – sind dermaßen schwankend, dass sich eine einheitliche Linie in Bezug auf die Normstabilisierungsfunktion kaum erkennen lässt. Plausibel scheinen die unterschiedlichsten Formen, in denen informelle Erledigungen in der Bevölkerung aufgenommen werden. Auf der einen Seite kann die „Sonderbehandlung“ als ungerecht empfunden werden, weil sich der „Prominentenbonus“, der in anderen Fällen zum „Wohlstandsbonus“ wird, auszahlt und dies zu Lasten der Gerechtigkeit geht. Auf der anderen Seite ist aber auch denkbar, ein solches Urteil als „gerecht“ anzunehmen, weil der Geständige, aktiv mit den Behörden Kooperierende, dadurch ein Unrechtsbewusstsein an den Tag legt, das einen entsprechenden Strafnachlass durchaus rechtfertigen kann. Darüber hinaus gewinnt der Gedanke immer mehr an Boden, dass der Konsens von Richter, Staatsanwalt und Verteidiger bereits ein gewichtiges Indiz dafür sei, dass eine „gerechte“ Entscheidung entsteht136. Über die empirische Nachweisbarkeit generalpräventiver Strafzwecke herrscht im Allgemeinen größte Ungewissheit, bzw. die Überzeugung, diese nicht nachzuweisen zu können; dies schlägt sich im Besonderen in der Beurteilung der Absprachenpraxis durch die öffentliche Meinung nieder, in der sich eine einheitliche Linie kaum erkennen lässt. 5. Ergebnis: Fragwürdiger „Siegeszug“ der Absprachen Die Darstellung der pragmatischen Aspekte der Absprachenrealität sollte vor Augen führen, wie unerlässlich der Ruf nach dem Gesetzgeber inzwischen geworden ist. Die Ursachen der Absprachenpraxis liegen zum einen in praktischen Engpässen, in denen sich die Justiz befindet, die sich sowohl aus Entwicklungen des materiellen Rechts ergeben wie auch aus selbstbewussten Verteidigungsstrategien, die das Prozessrecht für sich effektiv zu nutzen wissen. Dieser Ursachenkomplex hat gewissermaßen die Justiz in Zugzwang gesetzt und sie für informelle Praktiken zugänglich werden lassen. So standen am Beginn des „Siegeszuges“ der Absprachen diese auf den Effizienzgedanken zurückzuführenden Gründe im Vordergrund. Zu diesen hat sich aber ein weiterer Begründungskomplex gesellt, der weniger im Effizienzdenken verhaftet ist als vielmehr in dem viel beschworenen „Paradigmenwechsel“, der sich auch im Strafprozess abzeichnet und hinführt zu einer „Reprivatisierung“137 des Verfahrens 135
Vgl. z. B.: FOCUS Nr. 39/2000, S. 62 („Nicht im Hinterzimmer kungeln“). Gallandi, NStZ 1987, 420. 137 Der Begriff entstammt dem Titel eines Aufsatzes von Eser, ZStW 104 (1992), S. 361 ff.: „Funktionswandel strafrechtlicher Prozessmaximen: Auf dem Weg zur ,Re136
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Kap. 2: Rechtliche Würdigung der deutschen Absprachenpraxis
und damit zu mehr Konsensorientierung. Die Konsensorientierung droht jedoch, durch die „neue Interessenallianz“ der professionell am Verfahren Beteiligten sowie durch das Vorleistungsrisiko des Beschuldigten in eine bedenkliche Schieflage zu geraten. Hinzutritt eine unausgewogene Kommunikationssituation, die eine Gefahr in sich birgt, der nur durch die Ausgestaltung gesetzlicher Kautelen begegnet werden kann.
III. Absprachen im System des Strafverfahrens Die Literatur zur Frage möglicher Verstöße der Absprachenpraxis gegen fundamentale Grundsätze des deutschen Strafverfahrens und gegen verfassungsrechtliche Prinzipien ist seit dem schüchternen Beginn der wissenschaftlichen Diskussion138 um das Thema am Beginn der 80er Jahre derartig schnell und umfangreich angewachsen, dass an dieser Stelle nur ganz summarisch auf die Hauptproblemfelder von Kollisionspunkten der Verständigungspraxis mit geltenden Prozessgrundsätzen hingewiesen werden soll. Im Übrigen wird – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit – auf weiterführende Literatur verwiesen139. 1. Die Vereinbarkeit mit den Verfahrensgrundsätzen Unter Verfahrensgrundsätzen oder Prozessmaximen sollen hier in Abgrenzung zu den Verfahrenszielen alle jene Prinzipien und Regeln verstanden werden, die nicht selbst Verfahrensziel sind, sondern diesem zur Durchsetzung verhelfen. In privatisierung‘ des Strafverfahrens?“, der sich in der abschließenden Beurteilung dieser Tendenz noch sehr zurückhält (S. 396), aber auch davon ausgeht, dass diese Tendenz zwar zunächst „pragmatisch aufgezwungen gewesen sein mag“, sie aber „ideologisch auch kaum überraschen“ kann, da „dahinter doch auch eine Änderung der strafrechtsphilosophischen Grundvorstellungen“ stehe (S. 377), zum „Slogan von der ,Privatisierung‘ des Strafrechts“, der in „vieler Munde“ sei, vgl. auch Jung, in: Perspektiven der Strafrechtsentwicklung, S. 69 ff., m. w. N. 138 Für diese Schüchternheit bezeichnend ist der unter Pseudonym (Detelv Deal) erschienene Aufsatz von Weider, der eine „gewisse Scheu“ und „dezente Zurückhaltung“ der bis dato vorliegenden Literatur zu dem Thema konstatiert, Der strafprozessuale Vergleich, StV 1982, 545. 139 Für einen Gesamtüberblick sei auf die in Fn. 1 dieses Kapitels angegebenen Monographien, die sich alle mit der Frage der rechtlichen Zulässigkeit mehr oder minder ausführlich auseinandersetzen, verwiesen; für den Diskussionstand zu der Frage der rechtlichen Zulässigkeit ebenso mit jeweils weiteren Nachweisen auf die einschlägigen Kommentierungen: Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Einl. Rn. 119; LöweRosenberg/Rieß, Einl. Abschn G 58; SK/Schlüchter, vor § 213 Rn. 23 ff.; SK/Wolter, Rn. 66 ff. vor § 151; Pfeiffer, Strafprozessordnung, Einl. Rn. 16; KK/Pfeiffer, Einl. Rn. 29b; vgl. auch die zusammenfassenden Darstellungen in den Lehrbüchern: Ranft, Strafprozessrecht, Rn. 1237 ff., Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 395, Roxin, Strafverfahrensrecht, § 15, Rn. 8 ff.; auf die weiterführende Literatur in einzelnen Aufsätzen wird im Laufe dieses Abschnitts jeweils einzeln verwiesen.
III. Absprachen im System des Strafverfahrens
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den prozessualen Maximen setzen sich daher die Antinomien der Verfahrensziele fort140 und müssen in einem Abwägungsprozess zu einem Ausgleich gebracht werden. Die Verfahrensgrundsätze werden ihrerseits durch das oberste Prinzip der Rechtsstaatlichkeit beherrscht, dessen immanente Wesensmerkmale die Gerechtigkeit, die Rechtssicherheit und die Verhältnismäßigkeit des Mittels zum erstrebten Zweck sind141. Die strafrechtlichen Prozessmaximen unterliegen jedoch einem Funktionswandel142, der aus ihrer Anbindung an die Strafzwecke resultiert. Die Verfahrensgrundsätze sind dementsprechend in Relation zu den jeweiligen Strafzwecken zu beurteilen. Darüber hinaus werden sie durch gegenläufige Maximen relativiert und sind von Ausnahmen durchdrungen. Daher weisen auch die Verfahrensmaximen ein hohes Maß an „Relativität“ und „Defizite an scharfen Konturen“ auf143. Die Prozessmaximen sind in „praktische Konkordanz“ zueinander zu bringen. Auch das ist nur über einen Abwägungsprozess denkbar. Bei der Frage nach einzelnen etwaigenVerstößen, ist genau diesem Abwägungsprozess Rechnung zu tragen. Denn die Gewichtung der einzelnen Abwägungsposten hat sich entsprechend der Grundlegung dieser Arbeit gewandelt. Es ist daher nicht ausreichend, mögliche einzelne Verstöße gegen Verfahrensgrundsätze festzustellen, sondern die Feststellung derartiger Verfahrensverletzungen kann nur die Ausgangslage für die Beurteilung des Abwägungsprozesses im Lichte einer umfassenderen Idee der Strafgerechtigkeit liefern. a) Das Legalitätsprinzip Das Legalitätsprinzip bedeutet Verfolgungszwang und, wenn die Voraussetzungen dafür bestehen, Anklagezwang. Mit ihm sollen die Grundsätze der Gleichheit und der Gerechtigkeit im Rahmen des Möglichen verwirklicht werden144. Die StPO des reformierten deutschen Strafprozesses von 1877 hatte das Legalitätsprinzip fast noch uneingeschränkt verwirklicht145. Mit der EmmingerReform von 1924 setzte dann die Entwicklung zu einer immer stärker werden Durchbrechung durch das Opportunitätsprinzip ein146, die schließlich in den §§ 153 ff. StPO ihren gesetzlichen Höhepunkt fand, der in der heutigen Praxis durch Überdehnung der Vorschriften im Rahmen von Absprachen stetig überschritten wird. Dennoch soll der deutsche Strafprozess noch als vom Legalitäts140 141 142 143 144 145 146
Vgl. Eser, ZStW 104 (1992), 361, 363. Vgl. BVerfGE 7, 89, 92; BVerfG NJW 1969, 1059, 1061; BGHSt 18, 274, 279. Vgl. hierzu Eser, ZStW 104 (1992), 361. Kintzi, JR 1990, 309, 314. Meyer-Goßner, § 152 Rn. 2. Rieß, NStZ 1981, 2, 3. Rieß, a. a. O.; ders. in: Löwe-Rosenberg, § 153 Rn. 1.
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Kap. 2: Rechtliche Würdigung der deutschen Absprachenpraxis
prinzip beherrscht gelten147. Gesetzlich ist der Anklagezwang zwar in § 152 StPO explizit vorgeschrieben. Ob dieser Grundsatz aber angesichts zahlreicher positivrechtlicher Durchbrechungen und verfahrenspraktischer Umgehungen noch tatsächlich haltbar ist, scheint zunehmend fraglich. Die Vereinbarkeit von Absprachen mit dem Legalitätsprinzip ist in unterschiedlichen Zusammenhängen fraglich. Zunächst stellt sich das Problem vor allem im Bereich der durch Vereinbarung erwirkten Opportunitätseinstellung unter Überdehnung der §§ 153 ff. StPO Diese Absprachen sind nicht Gegenstand der Untersuchung und die Frage nach einer Aushöhlung des Anklagegrundsatzes auf diesem Weg kann daher an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Die Absprachen hingegen, die direkt den Prozessgegenstand betreffen, indem sie entweder in einvernehmlichem Weg zu einer neuen rechtlichen Wertung der Tat und somit zu einer minder schweren Tat kommen oder die Teile des Tatkomplexes nach §§ 154, 154a StPO einstellen und so den Prozessgegenstand minimieren, müssten dann gegen den Grundsatz verstoßen, wenn man diesen insoweit absolut versteht, als man lediglich die gesetzlich vorgesehenen Durchbrechungen zulassen will148. Wenn hingegen der Grundsatz selbst im Dienste präventiver Zwecke steht, und ein Absehen vom Verfolgen von Teilen einer Tat oder das Verständigen auf eine minder schwere Tat dazu führen kann, dass das Maß der Sanktionierungen gesteigert wird, so kann die Bewertung anders ausfallen, weil die konsequente Durchführung des Grundsatzes für die Erreichung der Strafzwecke kontraproduktiv wäre und gerade die Durchbrechung des Prinzips generalpräventive Zwecke steigern müsste149. Ein weiterer Weg, die Vereinbarkeit des Grundsatzes mit den informellen Verständigungen zu konstruie147 So die Wertung bei Döhring, Ist das Strafverfahren vom Legalitätsprinzip beherrscht?, S. 247 ff.; anders Kremer, Absprachen zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten im Strafprozess, S. 109, der explizit spricht von der „faktischen Geltung des Opportunitätsprinzips in weiten Teilen der StPO“ , die die Absprachen mit dem Legalitätsprinzip vereinbar machten, da sie der Struktur der Ausnahmen vom Prinzip entsprächen. 148 In diesem Sinn Dencker, Der Vergleich im Strafprozess, S. 52, der den Verstoß gegen das Legalitätsprinzip für offensichtlich hält, da der „Vergleich“ auf Konsens, nicht aber auf Gesetz beruhe; vgl. auch Nestler-Tremel, KJ1989, 448, 451; ähnlich aber mit anderem Ergebnis argumentiert Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren, S. 43 f., der die Absprachen gerade deshalb für weitgehend mit dem Legalitätsprinzip vereinbar hält, weil ihre Struktur der der gesetzlichen Ausnahmen so ähnlich sei; nach BGH NStZ 2000, 495 f. ist es in jedem Fall schon im Hinblick auf das Legalitätsprinzip ausgeschlossen, im Rahmen einer Absprache die Nichtverfolgung selbstständiger prozessualer Taten zuzusichern, die noch gar nicht bekannt, deshalb nicht bestimmbar sind und daher auch in ihrem Gewicht und Schuldgehalt nicht beurteilt werden können. 149 In dieser Richtung Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 90 ff., der herausstellt, dass das Legalitätsprinzip der Durchsetzung des materiellen Rechts zu dienen habe und ein schrankenlos gedachtes Prinzip mit der Ressourcenbegrenzung in eine „Pflichtenkollision“ geraten müsse.
III. Absprachen im System des Strafverfahrens
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ren, läuft über die Wechselwirkung, in der das Legalitätsprinzip zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Beschleunigung steht150. Ob also Absprachen gegen das Legalitätsprinzip verstoßen oder ob möglicherweise das Prinzip selbst aufgrund des Abschieds von den absoluten Straftheorien hinfällig geworden ist, kann nicht beantwortet werden, ohne die Gerechtigkeitsvorstellungen, auf denen das Prinzip ruht, in die Überlegungen einzubeziehen. Der Gerechtigkeitsgedanke hinter dem Legalitätsprinzip ist der des grundsätzlichen Gleichheitsgebotes. Dass es sich bei dieser Konkretisierung des Gleichheitsgebotes durch den Anklagezwang indes um kein absolutes Gerechtigkeitspostulat handelt, wird besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass zahlreiche Rechtsordnungen sich für das Opportunitätsprinzip entschieden haben und sich dennoch nicht weniger der Gerechtigkeit verpflichtet fühlen. Das Legalitätsprinzip ist in den absoluten Straftheorien verwurzelt und entspricht somit der Idee einer vergeltenden Strafgerechtigkeit, „derzufolge der Staat zur Herstellung einer absoluten Gerechtigkeit jede Übertretung des Strafgesetzes ohne Ausnahme zu bestrafen hat“151. Zweckmäßiges Absehen von Strafe kann es nach diesem Verständnis nicht geben. Durch den Wandel der Straftheorien tritt das Legalitätsprinzip jedoch zunehmend in eine Legitimationskrise. Vor dem präventiven Hintergrund relativer Straftheorien muss der Verfolgungszwang anders als aus seiner sich selbst genügenden Notwendigkeit begründet werden. Ein Wandel in der Konzeption der Straftheorien zieht daher auch eine neue Bewertung des Legalitätsprinzips nach sich. Bedeutung und Umfang des Prinzips werden denn auch inzwischen sehr kontrovers diskutiert152. Die materielle Legitimation wird heute, nach dem Zerfall des Schuldvergeltungsparadigmas, primär aus der Rechtsfrieden sichernden Aufgabe des Strafprozesses abgeleitet und steht damit auf einem, wie bereits erwähnt, empirisch sehr unsicheren und schwer nachweisbaren Fundament153. 150 So Kremer, S. 109; hier soll sich gerade aus der Wechselwirkung die Vereinbarkeit ergeben; das Legalitätsprinzip sei allerdings wegen der ohnehin starken Aushöhlung durch das Prozessrecht nur marginal berührt; so auch Janke, S. 272; für eine allenfalls „marginale“ Berührung des Legalitätsprinzips wegen des der Praxis ohnehin gegebenen „Spielraums“ auch Weigend, JZ 1990, 774, 777; Landau/Eschelbach, NJW 1999, 321, 324, die davon ausgehen, dass „das aktuelle Verständnis dieses Prinzips“ dadurch gekennzeichnet ist, dass das Prinzip selbst zunehmend durchbrochen wird. 151 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 14 A, Rn. 2. 152 Vgl. im Einzelnen Pott, Die Außerkraftsetzung der Legalität durch das Opportunitätsdenken in den Vorschriften der §§ 154, 154a StPO; Hassemer, Legalität und Opportunität im Strafverfahren, in: Freiheitliches Strafrecht, S. 71, 81; siehe auch Weigend, ZStW 109 (1997), 103, 118, der feststellt, dass die „neue Opportunität“ versucht, Kapazitäts- und Effizienzprobleme zu lösen, „indem sie die Gerechtigkeit preisgibt“. 153 Eine weitere Rechtfertigung des Prinzips nach Fall der absoluten Theorien kann sich aus generalpräventiv positiven Auswirkungen ergeben, die eine konsequente
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Kap. 2: Rechtliche Würdigung der deutschen Absprachenpraxis
Sämtliche Versuche, die Absprachenpraxis mit dem Legalitätsprinzip zu vereinen, laufen darauf hinaus, das Prinzip selber im Namen präventiver Strafzwecke zu öffnen. Absprachen können dann nur als eine Ausnahme von der Regel verstanden werden. Bezieht man aber ehrlicherweise die quantitativen und qualitativen Dimensionen ein, in denen heutzutage „gedealt“ wird, dann lässt sich die berechtigte Frage anschließen, ob nicht die Interpretation der Absprachen als Ausnahme von der Regel einem weiteren Selbstbetrug gleichkommt und ob nicht besser erneut über die Aufgabe des Prinzips nachgedacht werden sollte. Dies gilt umso mehr, als der Anklagezwang so tief im Vergeltungsgedanken verwurzelt ist, dass er seinem Wesen nach eigentlich „ausnahmefeindlich“ ist und schrankenlos gedacht sein will. Diese absolute Schrankenlosigkeit entspricht aber modernen Gerechtigkeitsvorstellungen im Strafverfahren nicht mehr, da sich jeder Verfahrensgrundsatz an den Strafzwecken orientieren muss. Bislang ist das Legalitätsprinzip durch die Anerkennung immer weiter ziehender Ausnahmen nur heimlich aufgegeben worden. Warum diese Möglichkeit gegenüber einem offenen Bekenntnis zum Opportunitätsprinzip vorzugswürdig sein soll, ist in einem modernen, präventiv orientierten Strafrechtssystem nicht mehr unbedingt einsichtig. b) Die Instruktionsmaxime Die Instruktionsmaxime verlangt, dass das Gericht den Sachverhalt selbst ermittelt und dabei an Anträge und Erklärungen der Prozessbeteiligten nicht gebunden ist154. Gesetzlich niedergeschlagen hat sie sich in §§ 155 II S1, 244 II StPO. Die Instruktionsmaxime begegnet uns auch als Prinzip der materiellen Wahrheit oder als Ermittlungsgrundsatz und ist nicht auf die Hauptverhandlung beschränkt, sondern beherrscht das Strafverfahren in allen Stadien155. Gericht und Staatsanwaltschaft sind dem Grundsatz, die materielle Wahrheit zu erforschen, gleichermaßen verpflichtet156. Für die Staatsanwaltschaft und ihre Organe ergibt sich die Pflicht zur Wahrheitserforschung aus §§ 155 II, 160, Durchführung des Anklagezwanges mit sich bringt, vgl. Rönnau, Die Absprache im Strafprozess, S. 113 m. w. N.; einen anderen Weg der Rechtfertigung geht Roxin, Strafverfahrensrecht, § 14 Rn. 2, wo er offen zugesteht, dass das Legalitätsprinzip seine theoretische Basis verloren habe, es aber dennoch nicht für überholt halten will, weil „Demokratie, Rechtsstaat, der Bestimmtheitsgrundsatz und auch der Gleichheitsgrundsatz verlangen, dass der Gesetzgeber die Voraussetzungen strafrechtlicher Ahndung prinzipiell selbst bestimmt und nicht den Strafverfolgungsbehörden die Entscheidung überlässt, wer im konkreten Fall bestraft werden soll“. 154 Vgl. statt vieler Löwe-Rosenberg/Rieß, Einl. Abschn. H, Rn. 32; KK/Pfeiffer, Einl. Rn. 7. 155 Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 84; Löwe-Rosenberg/Rieß, a. a. O., Rn. 33. 156 BVerfG NJW 1987, 419.
III. Absprachen im System des Strafverfahrens
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163 StPO. Dementsprechend berühren auch Absprachen, die im Vorfeld der Hauptverhandlung durchgeführt werden, den Instruktionsgrundsatz157. Bedroht wird der Ermittlungsgrundsatz in der Absprachenproblematik insbesondere durch die einvernehmliche „Sachverhaltskonstruktion“, die die Grundlage des abzugebenden Geständnisses bildet. Das Gericht muss in justizförmiger Weise all das aufklären, was zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist. Die Aufklärungspflicht ist in theoretischer Hinsicht die größte Hürde für die rechtliche Zulässigkeit der Absprachepraxis158, da das Grundmuster der Absprache heute nach der Devise „Tausche Geständnis gegen Bewährung“159 abläuft. Dem Richter kommt durch den Amtsermittlungsgrundsatz eine aktiv inquisitorische Rolle zu160. Gegen die Instruktionsmaxime werden schon im Allgemeinen berechtigte Einwände erhoben. Kritisch betrachtet wird die Instruktionsmaxime vor allem unter dem Blickwinkel, der das „psychologische Dilemma in den Vordergrund rückt, gleichzeitig ermitteln und entscheiden zu müssen“161. Diese Doppelrolle, die dem Gericht durch den Ermittlungsgrundsatz zugeschrieben wird, kann dem Beschuldigten insbesondere im Falle gescheiterter Verständigungsgespräche zum Verhängnis werden, birgt aber auch generelle Risiken einer Sachverhaltsverzerrung in sich. Ergebnisse einschlägiger Untersuchungen zu dem Thema ergeben die Bestätigung eines „Inertiaeffekts“ und des „Prinzips der selektiven Informationssuche“162. Der Trägheitseffekt besagt, dass solche Informationen, die eine für richtig gehaltene Hypothese bestätigen, systematisch überschätzt, während entgegengesetzte systematisch unterschätzt werden. Hinzu tritt die Selektivität der 157 Ausgeschlossen von einer möglichen Kollision mit der Wahrheitspflicht sind lediglich solche Absprachen, die nach Schuldspruchreife getroffen werden. Sie stellen allerdings auch die absolute Minderheit dar, da durch sie das Ziel einer Verfahrensbeschleunigung ohnehin nicht mehr erreicht werden kann. Sie schaffen vielmehr eine Verbindung von Inquisitionsprozess und Konsensprinzip, die von allen Beteiligten in der Regel als besonders befriedigende Form der Prozesserledigung empfunden wird, vgl. Schünemann, a. a. O., S. 81. 158 Anders Janke, S. 109 f., der davon ausgeht, dass der Aufklärungsgrundsatz keine lückenlose Aufklärung gebietet und dass daher der Rechtsgedanke der §§ 154 I, 154a I StPO auf den Umfang der Sachaufklärung übertragbar ist. 159 Formulierung von Zierl, Der Vergleich im Strafverfahren – Oder „Tausche Geständnis gegen Bewährung“, AnwBl. 1985, 505. 160 Auf die praktischen, empirisch nachweisbaren Einschränkungen dieser „unparteiischen“, nach Informationen suchenden Funktion des Richters hat Schünemann, in: Verfahrensgerechtigkeit, S. 215 ff., ausführlich hingewiesen. 161 Die Formulierung stammt von Lüderssen, abgedruckt im Tagungsbericht von Gropengießer, in ZStW 114, (2002), 941, 942. 162 Zur Versuchsgestaltung und -auswertung siehe Schünemann, in: Verfahrensgerechtigkeit, S. 215 ff.
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Kap. 2: Rechtliche Würdigung der deutschen Absprachenpraxis
Informationssuche, denn es wird zudem bevorzugt nach bestätigenden Informationen gesucht163. Das bedeutet, dass das Gericht durch die Aktenkenntnis bereits dermaßen „träge“ geworden ist, dass es gewissermaßen mit einem „Vorurteil“ belastet ist, das es in der Hauptverhandlung möglichst bestätigt wissen will. Dieses Phänomen kann bereits im Ermittlungsverfahren beobachtet werden, da die Zeugenaussagen als „Interaktionsprodukt zwischen Zeugen und Kriminalbeamten“ 164 von den Hypothesen der vernehmenden Beamten über den Tathergang beeinflusst sind. Die kurz dargestellten Effekte müssen für eine Relativierung der Garantie auf objektive Wahrheitsfindung durch die Instruktionsmaxime herangezogen werden, weil sie zu einer „systematischen Verzerrung der Informationsverarbeitung in der Hauptverhandlung zu Lasten des Angeklagten führen und damit also eine maximale Garantie für eine objektive Wahrheitsfindung gerade nicht besteht“165. Somit ist die Wahrheitspflicht bereits wegen psychologisch, erkenntnistheoretisch und methodisch166 begründeten Einwänden stark eingeschränkt. Hinzutreten rechtsstaatliche Erwägungen: dass die Wahrheitspflicht nicht uneingeschränkt gilt, versteht sich so gut wie von selbst, da das Strafverfahren neben der Erforschung der Wahrheit auch dem Schutz des Beschuldigten dient. Die Durchbrechung der Wahrheitspflicht manifestiert sich unter anderem an den Beweisverboten, die aus einem Ausgleich der widerstreitenden Interessen der Strafverfolgungsbehörden auf der einen und der Abwehrrechte des Beschuldigten auf der anderen Seite resultieren. Darüber hinaus können Einschränkungen der Wahrheitspflicht auch aus Gründen der Verfahrensökonomie und Prozessbeschleunigung hergeleitet werden, wie dies vor allem im Rahmen der §§ 154, 154a StPO der Fall ist167. Der Prototyp der Absprache will gerade dieses erreichen: durch Geständnis, dessen Wahrheitsgehalt in der Regel ungeprüft bleibt, eine Beschleunigung des Prozesses zu erwirken. Nun stellt sich aber die Frage, ob das im Rahmen einer Absprache abgelegte Geständnis für sich genommen eine weitere Wahrheitsermittlung im Sinne der Instruktionsmaxime hinfällig machen kann. Diese Frage ist vor dem Hintergrund der angeführten kritischen Einwendungen gegen den Amtsaufklärungssatz im Allgemeinen und unter besonderer Berücksichtigung der prozessualen Kommunikationssituation bei Absprachen im Besonderen zu beantworten. Das Problem des Beweiswertes und des Wahrheitsgehaltes eines auf dem Wege einer Absprache erlangten Geständnisses wird in der Literatur gerne diffe163 Schünemann, a. a. O., S. 218; ergänzt wird dieser Befund durch den psychologisch bestätigten primacy-effect, nach dem die erste von zwei widersprüchlichen Informationen besser behalten wird und bei der Überzeugungsbildung größeren Einfluss hat, vgl. hier zu Maisch, NJW, 1975, 566, 569 m. w. N. 164 Schünemann, StV 1998, 391, 394. 165 Schünemann, in: Verfahrensgerechtigkeit, 215, 229. 166 Dazu in der Grundlegung Kapitel 1 II. 2. 167 Vgl. Dahs, NStZ 1988, 153, 154.
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renzierter betrachtet, indem zwischen dem sog. qualifizierten und dem sog. schlanken Geständnis unterschieden wird168. Letzteres wird vom Verteidiger formuliert und vom Angeklagten nur bestätigt. Es ist allgemein anerkannt, dass das Geständnis in jedem Einzelfall auf seinen Beweiswert hin kritisch überprüft werden muss und sich nur dann eine weitere Beweisaufnahme erübrigt, wenn hiernach an seinem Wahrheitsgehalt keinerlei Zweifel mehr offen bleiben169. „Qualifiziert“ und damit der Aufklärungspflicht genügen soll ein Geständnis nur dann, wenn es den Tathergang so vollständig, anschaulich und kontrollierbar schildert, dass es aus sich heraus Gewissheit zu erzeugen vermag170. Diese Form des vollständigen Geständnisses berührt den Amtsermittlungsgrundsatz nicht, da eine weitere Beweisaufnahme nur überschießende Sachverhaltsaufklärung wäre. Sie ist jedoch in der Absprachenrealität eher selten der Fall171. Problematischer stellt sich die Situation bei einem „schlanken Geständnis“ dar172. In der Regel gibt ein solches Geständnis den Tathergang nicht erschöpfend wieder. Das schlanke Geständnis soll für die richterliche Überzeugung von der Schuld des Angeklagten keinerlei Basis bieten173. Diese Wertung entspricht der ganz herrschenden Ansicht in der Literatur, die einen Verstoß gegen die Instruktionsmaxime dann bejaht, wenn sich das Gericht ungeprüft zu eigen macht, was der Verteidiger im Rahmen des ausgehandelten Geständnisses als Tatsache anbietet174. Ob hingegen diese Wertung des schlanken Geständnisses als gänzlich ungeeignet für eine Urteilsgrundlage immer richtig sein muss, scheint bei einem weiteren Blick auf die Aufklärungspflicht nicht unbedingt zwingend. Es fragt sich nämlich, wie weit die gerichtliche Aufklärungspflicht geht, wenn man die 168 Von einem „schlank“ formulierten Geständnis spricht Dahs, NStZ 1988, 153, 155 f., ders., in: Absprache im Strafprozess – ein Handel mit der Gerechtigkeit, S. 192; so auch Kintzi, JR 1990, 309, 315; das „qualifizierte“ Geständnis ist eine Formulierung von Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 82; ders., NJW 1989, 1895, 1898; zur Differenzierung siehe auch Janke, S. 105 f. 169 Schünemann, Gutachten B 82; BGH NStZ 1987, 474, für den Fall einer Einlassung, die vom Gericht als gewissermaßen fahrlässiges Geständnis angesehen wird; anders Landau/Eschelbach, NJW 1999, 321, 324, die die Aufklärungspflicht auf die Überprüfung des Geständnisses beschränken wollen, wenn sich aus Akteninhalt oder Prozessgeschehen Zweifel an dessen Richtigkeit ergeben; ähnlich auch Dahs, NStZ 1988, 153, 154, der von der Überprüfung des Geständnisses ganz absehen will, wenn es den Richter überzeugt. 170 Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 82. 171 Schünemann, NJW 1989, 1895, 1898. 172 So bei Kintzi, JR 1990, 315, der in „schlanken Geständnissen“ „Anlass zu Vorsicht und Sekpsis“ sieht; vgl. auch Schlüchter, in: Festschrift für Spendel, S. 737, 750. 173 So Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 24. 174 Siehe Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 360 m. w. N.; Schünemann, Gutachten, a. a. O., S. 93, nennt es das „nicht-qualifizierte Geständnis“, das der Aufklärungspflicht nicht genüge und auf das nur eine echte „Verdachtsstrafe“ folgen könne.
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genannten methodischen Zweifel zugrunde legt und zugesteht, dass die Realität in ihrer Vollständigkeit ohnehin nicht erkennbar ist und zudem der relevante „Wirklichkeitsausschnitt“ bereits durch den materiellen Straftatbestand begrenzt wird. Aufklärung ist eben nur insoweit geboten, als die Tatsachen entscheidungserheblich sind, d.h. so weit sie zum Gebrauch von Beweismitteln drängen oder ihn nahe legen175. Voraussetzung für die Überzeugungsfindung des Gerichts ist, dass die zur rechtlichen Würdigung erforderlichen Tatsachen verfügbar werden. Grundsätzlich gilt die Pflicht zur bestmöglichen und vollständigen Sachverhaltsaufklärung176. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss sich das Gericht um den bestmöglichen Beweis bemühen, es muss „in die erkenntnismäßig bestmögliche Sachnähe zu den Tatsachen treten, die für Unrechtstatbestand, Schuld und Sanktion beweisrelevant sind177. Allerdings wird auch unter Herrschaft der Instruktionsmaxime der Umfang der Aufklärungspflicht des Gerichts vom Verhalten der anderen Verfahrensbeteiligten maßgeblich mitbestimmt178. Das Gebot der weiteren Wahrheitsermittlung kreuzt sich gerade da mit dem Verhalten der Prozesssubjekte, wo es von der Beweisaufnahme zur Beweiswürdigung übergeht. Die Beteiligten können durch ihr Verhalten Einfluss auf diesen Zeitpunkt ausüben, indem sie es unterlassen, dem Gericht Anhaltspunkte zum Erfordernis der weiteren Sachverhaltsermittlung zukommen zu lassen179. Die Vollständigkeit der von Amts wegen durchzuführenden Beweisaufnahme bemisst sich an der Beweisprognose eines erfahrenen und sorgfältig abwägenden Richters. Hat ein Gericht, „wenn ihm aus den Akten oder aus dem Stoff der Verhandlung noch Umstände oder Möglichkeiten bekannt sind, die bei verständiger Würdigung der Sachlage begründete Zweifel an der Richtigkeit der (auf Grund der bisherigen Beweisaufnahme erlangten) Überzeugung“ bestehen lassen, so ist es von Amts wegen verpflichtet weiter zu ermitteln180. Die gerichtliche Aufklärungspflicht soll dann sogar gegen den Willen der Parteien bestehen181. An dieser Stelle lässt sich jedoch die berechtigte Frage stellen, ob die Vernünftigkeit der Zweifel nicht nach solchen Kriterien bemessen werden darf, die der sich wandelnden Prozesskultur Rechnung tragen. Es ist ohnehin davon auszugehen „dass die Maßstäbe zur Beurteilung ,vernünftiger Zweifel‘ an der Schuld des Angeklagten unterschiedlich sein werden, je nachdem, ob er leugnet
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Meyer-Goßner, § 244 Rn. 12. SK-StPO/Schlüchter, § 244 Rn. 35. 177 BVerfGE 57, 250, 277 = NJW 81, 1719, 1722. 178 So auch Däubler-Gmelin, StV 2001, 359, 362; anders aber KK/Herdegen, § 244 Rn. 20. 179 Vgl. hierzu Schlüchter, in: Festschrift für Spendel, S. 737, 743. 180 BGH NStZ-RR 1996, 299. 181 Schlücher, in: Festschrift für Spendel, S. 737, 741. 176
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oder ein Geständnis ablegt“182. Bei einem geständigen Angeklagten werden „vernünftige Zweifel“ schon deshalb weniger aufkommen, weil es doch so einfach ist, den Prozess auf der Grundlage des Geständnisses zu Ende zu bringen. Was wie eine polemische Provozierung des gewissenhaft abwägenden Richters klingen mag, ist indes so zu verstehen, dass die Vorstellung in Frage gestellt werden soll, der Amtsaufklärung werde nur dann und unabhängig vom Prozessverhalten der Beteiligten Genüge getan, wenn „vernünftige Zweifel“ nicht mehr bestehen. Das konsensorientierte Prozessverhalten der „Parteien“ kann die Aufklärungspflicht folglich in der Form relativieren, dass es dieser „immanente Grenzen“ setzt. Beispielweise kann die Verteidigung ihre Strategie so wählen, dass sie eine Entlastung zugunsten einer anderen zurückhält, sodass sich dem Gericht Anhaltspunkte zur weiteren Aufklärung gerade nicht aufdrängen183. Diese strategische Überlegung lässt sich insoweit in das konsensorientierte Verhalten übertragen, als Einigungen zwischen den Parteien über das Beweisantragsverhalten Zweifel beim Gericht an der bisherigen Aufklärung gerade nicht aufkommen lassen. Geht man von der Prämisse aus, dass das Gericht ohnehin nur den entscheidungserheblichen „Wirklichkeitsausschnitt“ zu ermitteln hat, und dass dieser erst zu einem bestimmten rechtlich relevanten Sachverhalt zusammengefügt werden muss, so wird deutlich, dass der Prozessgegenstand in gewissen Grenzen eben doch notwendigerweise disponibel ist. Versteht man die Setzung der „immanenten Grenzen“ der Aufklärungspflicht nicht lediglich als einseitige Aktion184, sondern gerade als Ergebnis der konsensualen Kommunikation im Prozess, so wird die Aufklärungspflicht bereits über das Prozessverhalten der Parteien relativiert. An diese Feststellung schließt sich die weiterführende Frage an, ob unter den genannten Voraussetzungen überhaupt an der Aufklärungsmaxime festzuhalten ist oder ob es nicht „sinnvoller wäre, die Instruktionsmaxime als ein grundsätzlich verzichtbares Verfahrensrecht des Angeklagten zu begreifen“185. Darauf wird noch zurückzukommen sein; festzuhalten ist an diesem Punkt, dass es gerade Ziel der Absprachen ist, die Aufklärungspflicht des Gerichts – die ohnehin immanenten Grenzen und berechtigten Zweifeln ausgesetzt ist – zu umgehen186. 182
Eser, ZStW 104 (1992), 361, 390. Schlüchter, a. a. O., S. 737, 747, benutzt den Begriff der „immanenten Grenzen“, spricht diesem Prozessverhalten allerdings den konsensorientierten Charakter ab, weil es sich nicht um Interaktion, sondern um einseitige Aktion handele, bzw. einseitiges Unterlassen. 184 Wie bei Schlüchter, a. a. O. 185 So auch die Fragestellung bei Eser, ZStW 104 (1992), 361, 390. 186 In diesem Sinne hat Bussmann, Die Entdeckung der Informalität, S. 157 f., zu Recht festgestellt, dass, wenn die „Erforschung der prozessualen Wahrheit zum Leitmotiv des konsensualen Verfahrens“ erklärt wird, die eigentliche Problematik „pro183
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c) Der Öffentlichkeitsgrundsatz Der Öffentlichkeitsgrundsatz, gesetzlich verankert in § 169 GVG, zählt zu den grundlegenden Einrichtungen des Rechtsstaates187. Er gewährleistet über die jedermann mögliche Teilnahme in der Hauptverhandlung, dass der Strafprozess nicht geheim, sondern offen geführt wird188. Der Kontrolle der Hauptverhandlung durch die Öffentlichkeit kommt eine dreifache Aufgabe zu, die sich an der Funktion der staatlichen Strafe orientiert; sie dient den schützenswerten Belangen des Angeklagten, des Verletzten und der Allgemeinheit189. Gerade im Hinblick auf die generalpräventive Wirkung der Strafe ist die Öffentlichkeit der Strafjustiz erforderlich, da Normstabilisierung nur dann gelingen kann, wenn das Handeln der Justiz deutlich und getreu der Bevölkerung vermittelt wird190. Auch der Öffentlichkeitsgrundsatz gilt selbstverständlich nicht uneingeschränkt. Ein Absehen vom Erfordernis der Öffentlichkeit kann sich aus der Abwägung der im Strafverfahren widerstreitenden Interessen ergeben. Dass informelle Absprachen, die in der Hauptverhandlung nicht einmal mitgeteilt werden, den Öffentlichkeitsgrundsatz verletzen, wurde vom Beginn der wissenschaftlichen Diskussion an praktisch nicht ernsthaft in Zweifel gezogen191. Diesem Ansatz ist der BGH in seiner Grundsatzentscheidung192, in der das Gericht allgemeine Regeln für die „Verfahrensordnung für Absprachen“ aufgestellt hat, gefolgt. Es sei dementsprechend unbedingt erforderlich, dass die Absprache unter Mitwirkung aller Verfahrensbeteiligten in öffentlicher Hauptverhandlung stattfinde. Es kann nunmehr als etablierte Meinung gelten, dass ein Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz relativ leicht zu vermeiden ist, wenn der Inhalt der Gespräche in der Hauptverhandlung mitgeteilt und protokolliert wird. Neuerdings wird die Protokollierung auch von gescheiterten Absprachen gefordert, weil der Schutz durch die Hinweispflicht des Gerichts bei Abweichen vom in Aussicht gestellten Strafmaß Makulatur bliebe, wenn die gescheiterte Absprache nicht einer revisionsrechtlichen Kontrolle zugänglich gemacht würde193. Nur selten wird das Ergebnis der Absprache in der Hauptverhandlung mitgeteilt zessualer versus materieller Wahrheit“ nur auf einer „sprachlichen Ebene geglättet und geschönt“ wird. 187 BGHSt 2, 56 (57); 9, 280 (281) 22, 297 (301). 188 HK/Krehl, Einl. Rn. 27. 189 Vgl. Kargl/Sinner, Jura 1998, 231, 232. 190 Vgl. Hassemer, ZRP 1997, 316, 319. 191 Vgl. statt vieler Schmidt-Hieber, Verständigung im Strafverfahren, S. 91, ders., NJW 1982, 1017, 1021; wie auch ders., StV 1986, 355, 356, und ders., NStZ 1988, 302, 303; Dencker, Der Vergleich im Strafprozeß, S. 52; Rönnau, Die Absprache im Strafprozeß, S. 167; StPO-Kommission des DRB, DRiZ 1987, 244; Hanack, StV 1987, 500, 503. 192 BGHSt 43, 195. 193 Weider, NStZ 2002, 174, 177.
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und zudem in äußerst ungenügender Form, da der tatsächliche Inhalt und das Ergebnis der Vorgespräche einschließlich des Rechtsmittelverzichts in der Regel fehlen194. Zudem ist die Protokollierung der Absprachen von zweifelhaftem Nutzen, – sofern sie denn überhaupt erfolgt195 – wenn diesem Gebot nur das Verständigungsergebnis, nicht aber die Modalitäten der eigentlichen Aushandlung unterliegen. Da das Protokoll über die Umstände der Absprache in der Regel schweigt, kann es sich aufgrund der negativen Beweiskraft des Protokolls sogar als Revisionsfalle darstellen196. Da die Praxis sich vollkommen anders abspielt als die von der Rechtsprechung geforderten Kautelen es vorsehen, scheut man sich nicht, auch diese Missachtungen des Öffentlichkeitsgrundsatzes zu rechtfertigen. Denkbarer Ansatz einer solchen Rechtfertigung wäre eine rein formale Deutung des Öffentlichkeitsgrundsatzes, so dass man in ihn keinen Regelungsgehalt über die §§ 196 ff GVG hinaus hineinlesen dürfte, mit der Folge, dass er nur für die „öffentliche Verhandlung vor dem erkennenden Gericht“ (§ 169 GVG) gelte. Da die Absprachen überwiegend gerade nicht Gegenstand der öffentlichen Hauptverhandlung sind, könnte dieses formale Argument hinreichen, die Vereinbarkeit zu begründen197. Diese Deutung greift hingegen zu kurz; der Aushandlungsvorgang ist mindestens ebenso wichtig wie das Ergebnis198. Denn nur die Umstände eines „ausgehandelten Ergebnisses“ können Aufschluss über die Rechtmäßigkeit desselben ergeben und somit den notwendigen Kontrollschutz und die hinreichende Transparenz liefern. Welchen Interessen die „Heimlichkeit“ der Absprachen auf den Gerichtsfluren und die mangelhafte Protokollierung eigentlich zu dienen hat und ob diese gar schützwürdig sind, scheint äußerst zweifelhaft. So sieht Hassemer199 gerade in dem Ausblenden des „Lichtes der Öffentlichkeit“ ein Indiz für die „Arroganz der beteiligten Strafjuristen, die die Sache unter sich ausmachen wollen“ und
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Weider, Vom Dealen mit Drogen und Gerechtigkeit, S. 137. Äußerst skeptisch hierzu Siolek, in: Festschrift für Peter Rieß, S. 580, der aus eigener Erfahrung und Gesprächen mit Kollegen schließt, dass sich „niemand an die Vorgabe des Bundesgerichtshofs hält, Absprachen zu protokollieren“ 196 Kruse, StraFo, 2000, 146 f. 197 Vgl. für diese Tendenz nur die jüngere Entscheidung des BGH 3 StR 380/03. 198 Vgl. hierzu näher Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 89; weitergehend Kremer, S. 123, der den Öffentlichkeitsgrundsatz nur erfüllt sieht, wenn der gesamte Absprachevorgang in der Hauptverhandlung stattfindet; anders Hanack, StV 1987, 500, 503; er geht davon aus, dass dem Grundsatz Genüge getan ist, wenn das „Geständnis als solches, nicht aber die Einzelheiten seiner Vorgeschichte“ öffentlich gemacht werde; Braun, Absprachen im deutschen Strafverfahren, S. 66, sieht den Öffentlichkeitsgrundsatz zwar verletzt, will dies aber über „widerstreitende Interessen“ wie „Funktionstüchtigkeit“ und „Verfahrensökonomie“ rechtfertigen. 199 Hassemer, JuS 1989, 895. 195
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damit für einen „Rückfall in die Zeit des Inquisitionsprozesses, wo es heimlich, professionell, zielstrebig und ungestört zuging“. Vielfach wird auf die Heimlichkeit – oder positiver formuliert in der Sache aber ebenso kritisch – auf die Vertraulichkeit der Absprachen als notwendiger Voraussetzung dieser Praxis hingewiesen200. Eine Begründung für diese Notwendigkeit wird in der Regel nicht geliefert. Dieser Mangel in der Argumentation der Vertraulichkeit ist wohl kaum auf die Struktur der Absprachen als solche zurückzuführen. Denn warum sollte ein konsensuales Verfahren auf Vertraulichkeit nicht verzichten können? Die Vertraulichkeit muss vielmehr nur so lange als unabdingliche Voraussetzung behandelt werden, wie sich die Praktizierenden noch mit dem schlechten Gewissen plagen, im Grunde doch gegen geltende Prinzipien zu verstoßen und meinen, ihr Handeln daher verschleiern zu müssen201. Bei dem apodiktisch festgestellten Erfordernis der „verschlossen Türen“ kann es sich daher wohl nur um eine Konsequenz aus der Tatsache handeln, dass über die Zulässigkeit der Praxis eben noch immer nicht abschließend befunden wurde. Solange man sich in nicht kodifizierter Grauzone bewegt, ist die Heimlichkeit nichts weiter als ein Schutzmechanismus, der der Absicherung der Ergebnisse dienen soll, der aber in der Struktur der Absprachen hingegen in keiner Weise notwendig angelegt ist. Da gerade das justizförmige Zustandekommen der konsensualen „Wahrheitsfindung“ in den Absprachen, ganz besonders von den Umständen der Verständigung und insbesondere von der Freiverantwortlichkeit des Beschuldigten abhängt und eben nicht nur das Ergebnis einer Absprache entscheidend für deren Rechtmäßigkeit ist, kann die rechtliche Zulässigkeit von Absprachen nur dann gewährleistet sein, wenn sie einer Kontrolle zugänglich sind. Die Öffentlichkeit verbürgt hierbei die Kontrolle der Allgemeinheit und auch die Möglichkeit revisionsrechtlicher Überprüfung, weil nur sie die Beweisfähigkeit der Absprachen absichert. Gerade der Beschuldigte, der an den Gesprächen in der Regel nicht aktiv beteiligt ist, kann und muss in dieser heiklen Praxis durch eine rigorose und strenge Anwendung des Öffentlichkeitsgrundsatzes geschützt werden. Denn nur eine hochgradige Transparenz kann gewährleisten, dass er nicht zum „Objekt“ 200 So bspw. auch Gatzweiler, NJW 1989, 1903 u. 1906; der Bruch der Vertraulichkeit gelte als „Todsünde des Verteidigers“, so Hanack, StV 1987, 500, 501; zum Erfordernis der Vertraulichkeit und der „Eigendynamik“ der Absprachen, die sich einer gesetzlichen Regelung verschlösse, siehe auch Müller, in: Gesamtreform des Strafverfahrens, S. 115 f. 201 In diesem Sinn auch Siolek, in: Festschrift für Peter Rieß, S. 563, 580; Weider, in: Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts, § 15 Rn. 179, macht dagegen auf die absolut erforderliche Vertraulichkeit der Angaben des Beschuldigten über weitere Zusammenhänge der Tat besonders in großen Betäubungsmittelverfahren aufmerksam: „vertrauensbildende Maßnahmen durch den Verteidiger“ seien Voraussetzung für jedes Gespräch.
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des Handels gemacht wird. Einschränkungen des Öffentlichkeitsgrundsatzes in Bezug auf die Umstände einer Absprache sind daher nicht zu rechtfertigen. d) Der Unmittelbarkeitsgrundsatz Im Unmittelbarkeitsgrundsatz202 verschränken sich zwei Aspekte: die Unmittelbarkeit der Beweiserhebung und die Unmittelbarkeit des Beweismittels203. Der Grundsatz verlangt, dass der Richter sich aufgrund des persönlichen Eindrucks, den er vom Angeklagten und von den Beweismitteln gewinnt, sein Urteil bilden soll (§ 261 StPO)204. Ebenso fordert die Maxime, dass in der Regel der Angeklagte selbst in der Hauptverhandlung seine Erklärungen abgibt, und dass auf Akte, die außerhalb der Haupterhandlung erfolgt sind, in der Hauptverhandlung nur dann zurückgegriffen werden darf, wenn eine Einbringung in die Hauptverhandlung nicht oder nur mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten möglich ist205. Diese Erfordernisse scheinen allzu deutlich gegen die Vereinbarkeit der Absprachen mit dem Verfahrensgrundsatz der Unmittelbarkeit zu sprechen, da es doch gerade das Wesen der Praxis ist, dass die Verständigungen bewusst nicht in der Hauptverhandlung, sondern als geheime „Mauschelei“206 oder auch „Kungelei“207 außerhalb der Gerichtssäle ablaufen, und wenn überhaupt lediglich in Form des schließlich ausgehandelten Ergebnisses, nicht aber in ihrem konkreten Ablauf in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Gleichwohl hat die Rechtsprechung eine Verletzung des Grundsatzen mit dem Hinweis verneint, dass es dem Gericht nicht verwehrt sein könne, auch außerhalb der Hauptverhandlung mit den Prozessbeteiligten „Fühlung aufzunehmen“208. Der viel zitierte Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1987209, der wohl die erste höchstrichterliche Entscheidung zur Frage der Verständigungen war und der gerne als Absegnung der Zulässigkeit der Absprachen ins Felde geführt wird210, erachtete eine Beweiswürdigung nicht für lückenhaft, die bei der Beur202 Zur Wechselwirkung Unmittelbarkeits- und Mündlichkeitsprinzip vgl. Löwe-Rosenberg/Rieß, Einl. Abschn. H Rn. 54; Roxin, Strafverfahrensrecht § 44 Rn. 1, Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 23. 203 Löwe-Rosenberg/Schäfer, Einl. Kap. 13 Rn. 65. 204 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 15 Rn. 10. 205 Vgl. Löwe-Rosenberg/Rieß, Einl. Abschn. H Rn. 60. 206 Vgl. Bussmann, Die Entdeckung der Informalität, S. 171. 207 Vgl. Siolek, Die Verständigung in der Hauptverhandlung, S. 45. 208 BGHSt 43, 195, 206; der Ausdruck „Fühlung aufzunehmen“ stammt aus BGH, StV 1984, 459. 209 BVerfG, wistra 1987, 134, 135 = NStZ 1987, 419, 420, mit Anm. von Gallandi = DRiZ 1987, 196, 197; in diesem Sinne auch Cramer, in: Festschrift für Rebmann, S. 145, 149. 210 Vgl. Anm. von Gallandi, NStZ 1987, 420; anders Zschockelt, in: Festschrift für Salger, S. 435, 445.
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teilung des Beweiswertes des Geständnisses die Umstände nicht berücksichtigte, unter denen das Geständnis zustande kam211. Dieser Auffassung kann hier nicht gefolgt werden, denn ohne Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes können nur prozessuale Fragen in Vorgesprächen erörtert werden. Die Initiierung eines Geständnisses muss indes immer in der Hauptverhandlung erfolgen, da die Umstände des Zustandekommens für die Schuld- und Straffrage von Bedeutung sind212. In diesem Sinne stellt auch der BGH213 klar, dass die sog. „Fühlungnahmen“ außerhalb der Hauptverhandlung ausschließlich den Verfahrensablauf, nicht aber die Festlegung einer bestimmten Strafe betreffen dürfen. Die näheren Umstände des Zustandekommens des Geständnisses sind für die Feststellung von Schuld und Strafe vor allem dann von Bedeutung, wenn man die konsensuale Struktur des Verfahrenstyps einer Verständigung bedenkt. Gerade hier ist es von entscheidender Wichtigkeit, die Kommunikationsstruktur der Gespräche, die das Geständnis einleiten, dem Unmittelbarkeitsprinzip zu unterstellen. Heimlicher Kommunikation kann leicht der Beigeschmack eines „unfairen Abzockens“ anhaften. Durch offene Gespräche in der Hauptverhandlung könnte der erstrebte Nutzen ebenso erreicht und dem Unmittelbarkeitserfordernis dennoch Genüge getan werden. 2. Die Vereinbarkeit mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen In mehrfacher Hinsicht ist auch die Vereinbarkeit von Absprachen mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen des Strafverfahrens fraglich. Im Rahmen dieser Arbeit soll nur eine summarische Zusammenfassung der denkbaren Verstöße gegen verfassungsrechtliche Prinzipien gegeben werden. Schon ein kurzer Blick auf mögliche Kollisionspunkte kann verdeutlichen, welche Gefahren in einer Absprachepraxis lauern, die mehr oder minder sich selbst überlassen bleibt. a) Der Grundsatz des nemo tenetur se ipsum accusare Das nemo-tenetur-Prinzip bedeutet, dass niemand verpflichtet werden kann, sich selbst zu belasten. Es handelt sich um einen übergeordneten Rechtsgrundsatz214, den das Bundesverfassungsgericht mit Verfassungsrang ausgestattet und auf den Schutz der Menschenwürde zurückgeführt hat215. Die Prozessordnungs211
BVerfG, NStZ 1987, 419, 429; vgl. hierzu auch Zschockelt, NStZ 1991, 305,
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Vgl. Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 87. BGHSt 37, 298, 305. 214 Ranft, Strafprozessrecht, Rn. 292; eingehend zur funktionsorientierten Auslegung des Grundsatzes Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips aus verfassungsrechtlicher und strafprozessualer Sicht. 213
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widrigkeit der Absprachen wird häufig auf diesen allgemeinen Grundsatz oder auf die ihn konkretisierende Schutznorm des § 136a StPO gestützt216. § 136a I S. 3 StPO verbietet die Beeinträchtigung der Willensentschließungs- und -betätigungsfreiheit des Beschuldigten bei Vernehmungen durch das Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils. Die Vorschrift trifft damit genau den Nerv der Absprachenpraxis217. Eine Verletzung kann in den Varianten der Täuschung, der Drohung mit einer unzulässigen Maßnahme218 oder des Versprechens eines gesetzlich nicht vorgesehen Vorteils denkbar sein. Festzuhalten ist hier in aller Kürze nur, dass in der Praxis eine immense Sanktionsschere verblüfft, die sich zwischen konfrontativem und kooperativen Verfahren regelmäßig ergibt219. Die Vorteile die sich für einen kooperativen Beschuldigten aus den unverhältnismäßig hohen Strafrabatten ergeben können, die gegen ein Geständnis gerne angeboten werden, können über die Gefahren, die in dieser Praxis liegen, nicht hinwegtäuschen. Denn jedes in Aussichtstellen eines Rabatts beinhaltet die implizite Drohung einer strengeren Strafe für den Fall der Konfrontation220. Die begriffliche Verschleierung durch die Feststellung, dem Beschuldigten drohe keine Verschlimmerung, sondern es gehe lediglich um eine Vergünstigung, ist so nicht haltbar, da es keine „Normalstrafe“ gibt, die als Be215
BVerfGE 56, 37, 43. Eine Verletzung des § 136a StPO bejahen Rönnau, Die Absprache im Strafverfahren, S. 182 ff., der eine Verletzung sogar gegen mehrere Varianten des § 136a StPO vertritt, Dencker, Der Vergleich im Strafprozeß, S. 43 f.; Schmidt-Hieber, Die Verständigung im Strafverfahren, S. 113, für den Fall einer bindenden Zusage und des enttäuschten Vertrauens; Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren, S. 72, geht von einer häufigen Überschreitung der Grenze des § 136a StPO in der Praxis aus, will jedoch nach Einzelfall differenzieren; Steinhögl, S. 55, hält nur „eine in Aussicht gestellte, massiv strafmildernde Wertung des Geständnisses“ im Rahmen des § 136a StPO nicht mehr für rechtmäßig; Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 114, hält eine Verletzung in der Praxis wegen der „exorbitanten“ Rabatte, die versprochen oder vorgetäuscht werden müssen, für regelmäßig gegeben; eine Verletzung in der Regel verneinen Gerlach, S. 80, der sehr diplomatisch formuliert von der Vereinbarkeit ausgeht, solange die Kompetenzen nicht überschritten werden; ähnlich Janke, S. 163 ff.; nach der Entscheidung BGHSt 43, 195, 204, begründe die Tatsache, dass das Gericht für den Fall eines Geständnisses eine mildere Strafe in Aussicht stelle, für sich noch keine Verletzung des § 136a StPO; siehe hierzu auch Seier, JZ 1988, 683, 688; eine Verletzung des § 136a StPO kann nach einer jüngeren Entscheidung des 3. Strafsenates aber auch dann gegeben sein, wenn die Staatsanwaltschaft den Angeklagten durch „Androhung einer die Schuldangemessenheit übersteigenden Strafe“ zu einem Geständnis drängt, BGH StV 2005, 201. 217 Vgl. Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 99. 218 Vgl. zur unzulässigen Drohung mit der Invollzugsetzung eines Haftbefehls für den Fall des Festhaltens an einem bestimmten Beweisantrag, BGH 4 StR 84/04. 219 Verwiesen sei hier exemplarisch nur auf den Fall, in dem zwei Jahre Bewährungsstrafe in Aussicht gestellt und 7 Jahre nach gescheiterter Absprache verhängt wurden, BGH StV 2000, 556 f.; Prozessbericht von Weider, StV 2002, 397. 220 Siehe hierzu Dencker, Der Vergleich im Strafprozeß, S. 44, 54, ähnlich SchmidtHieber, DRiZ 1990, 321, 327. 216
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rechnungsgrundlage dienen könnte. Es gibt lediglich die in Aussicht gestellte Strafe x und die im konfrontativen Verfahren zu erwartende Strafe x+n. Gerade diese Strafmaßdifferenz stellt den unverzichtbaren Grundstein der Absprachenpraxis dar221. Hinzutritt ein dogmatisches Argument: denn wenn auch die gemilderte Strafe noch schuldangemessen sein muss, wie können sich dann die immensen Rabatte rechtfertigen, wie soll allein das kooperative Verhalten des Beschuldigten so auf die Schuldfrage einwirken können, dass sich die Sanktionsschere dermaßen weit öffnet, wie die Rechtsprechung das gerne praktiziert? Festzuhalten bleibt nach alledem, dass die in der Praxis zu konstatierenden Strafmaßdifferenzen nur als unzulässige Druckausübung gewertet werden können und damit gegen den nemo-tenetur-Satz und seine gesetzliche Ausformung in § 136a StPO in der Variante der unzulässigen Drohung verstoßen. Jüngst hat sich auch die höchstrichterliche Rechtsprechung zu dem Problem der zum Teil unbegreiflich weiten Sanktionsscheren geäußert und einen Verstoß gegen ein faires Verfahren zumindest dann in Erwägung gezogen, wenn die vom Gericht „ernsthaft aufgezeigten Strafgrenzen“ so weit auseinanderfallen, „dass die Willensfreiheit des Angeklagten ungebührlich beeinträchtigt wird222. b) Das Prinzip des gesetzlichen Richters und die richterliche Unabhängigkeit Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden223. Dieser Grundsatz ist in Artikel 101 I GG, § 16 S. 2 GVG gesetzlich niedergelegt und gibt einen grundrechtsähnlichen Anspruch darauf, dass der Staat im Rahmen einer allgemeinen Regelung möglichst eindeutig und im Voraus den für eine 221 Weigend, JZ 1990, S. 774, 778, Fn. 57; in diesem Sinn weist auch Kölbel, NStZ 2003, 232, 235, darauf hin, dass das Milderungsangebot nicht als reale Besserstellung (Geständnishonorar) bestätigt werden kann. 222 BGH 5 StR 579/03, StV 2004, 470, 471; zwar hatte der BGH in der bereits erwähnten Entscheidung 1StR 50/00 = StV 2000, 556 schon die Gelegenheit gehabt, zu dem Problem Stellung zu beziehen, da die Schere sich zwischen zweijähriger Bewährungsstrafe und schließlich verhängter siebenjähriger Freiheitsstrafe auftat; er hatte aber wegen materiellrechtlicher Gründe zurückverwiesen; Weider, StV 2002, 397, 398, strich daraufhin die dringende Erforderlichkeit einer höchstrichterlichen Entscheidung zu den „Sanktionsscheren“ heraus. Nunmehr hat der 5. Senat in dem hier zitierten Beschluss vom 9.6.2004, StV 2004, 470, 471, obwohl die Revision bereits mit der Sachrüge Erfolg hatte, Anmerkungen gemacht zum Verstoß gegen ein faires Verfahren wegen einer durch das Gericht bezeichneten Differenz von 2 Jahren Freiheitsstrafe mit Aussetzung zur Bewährung und 6 Jahren Freiheitsstrafe, die „nicht mehr mit der strafmildernden Wirkung von Geständnis und Schadenswiedergutmachung im Rahmen schuldangemessenen Strafens zu erklären“ sei, sondern nur als „massives Druckmittel“ verstanden werden könne. 223 Näher zum Grundsatz des gesetzlichen Richters siehe statt vieler Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, S. 200 ff.; Löwe-Riesenberg/Rieß, Einl. Abschnitt I Rn. 13 ff.
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einzelne Sache zuständigen Richter bestimmt224. Der Grundsatz des gesetzlichen Richters ist in Bezug auf die Absprachenpraxis in zweierlei Hinsicht gefährdet. Zum einen ist die Nichtbeachtung einzelner Mitglieder des Spruchkörpers, insbesondere der Schöffen bedenklich. Hier herrscht praktisch Einigkeit, dass die Schöffen in jedem Fall von der Verständigung in Kenntnis gesetzt werden müssen225. An diesem Erfordernis ist festzuhalten. Ein Ausschluss der Schöffen ist in keiner Weise zu rechtfertigen und höhlt die gesamte Funktion der Beteiligung von Laienrichtern aus. Der zweite Aspekt liegt in der Gefährdung der Alleinentscheidungsmacht des Richters. Durch informelle Verständigungen kann die Entscheidungsmacht des Gerichts insofern tangiert sein, als das Verfahrensergebnis bereits im Vorfeld ausgehandelt wird und dem Gericht somit nicht mehr die eigentliche Entscheidung zukommt. Dieser Einwand soll mit dem Argument der Unverbindlichkeit der richterlichen Zusage entkräftet werden, da auf diese Weise die Entscheidung letztlich beim Gericht verbliebe226. Allerdings ignoriert dieser Lösungsvorschlag nicht nur die Bedürfnisse sondern auch die Gepflogenheiten der Praxis. Zum Wesen der Absprache gehört nun einmal die Verbindlichkeit der Zusage; wenn sie auch keine rechtliche Bindung erzeugen kann, so will sie doch zumindest eine faktische Verpflichtung begründen, von der nur in Ausnahmefällen abgewichen wird. Das Prinzip des gesetzlichen Richters ist eng mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit verknüpft. Das Recht auf den gesetzlichen Richter beinhaltet nämlich ebenso, dass dieser im Voraus bestimmt sein muss, um objektiv und unabhängig sein zu können. Daher ist das Recht, einen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, ein Ausfluss der Garantie des gesetzlichen Richters. Die richterliche Tätigkeit erfordert Neutralität und Distanz des Richters zu den Verfahrensbeteiligten 227. Soll Rechtsprechung eine Kontrolle allein am Maßstab des Rechts sein, so ist unbedingt erforderlich, dass der Richter frei von jeglichen Machteinflüssen oder sonstigen Beeinflussungen Recht sprechen kann228. Schon die Tatsache, dass sich die Absprachenpraxis zu einem nicht unerheblichen Teil aus Sachzwängen der Verfahrenssituation heraus ergeben hat, kann einen Schatten auf das Unabhängigkeitsprinzip werfen. Denn, was
224
BVerfGE 22, 254, 258; BVerfG NJW 1971, 1029. Janke, S. 132, der davon ausgeht, dass die Schöffen nicht nur zu unterrichten sondern zu beteiligen sind; ebenso Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren, S. 47 f.; zu den Fehlentwicklungen in der Praxis hinsichtlich der Schöffenbeteiligung vgl. auch Siolek, in: Festschrift für Peter Rieß, S. 563, 577 ff. 226 Vgl. hierzu Janke, S. 129; der Verweis auf die Verbindlichkeit der Prognose, die zur Unzulässigkeit der Absprachen führe, sei ein „Zirkelschluss par Excellenze“, meint Schmidt-Hieber, NJW 1990, 1884, 1885. 227 BVerfGE 21, 139, 145 f. 228 So weist beispielsweise Dahs, NStZ 153, 159, darauf hin, dass die Ausnutzung echter Machtpositionen in der Praxis stattfindet. 225
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Kap. 2: Rechtliche Würdigung der deutschen Absprachenpraxis
überspitzt formuliert, heißt, „Erpressung gehöre zum Vergleich“229, bedeutet, zurückhaltender und neutraler ausgedrückt, nichts anderes als das naturgemäße Vorliegen einer reziproken Drucksituation. Diese Drucksituation kann dazu führen, dass der Richter seine streitenthobene Position aufgibt. Die bedeutenden eigenen Interessen der Justiz an einer konsensualen Einigung machen deutlich, dass das Gericht sich als ein seine eigenen Interessen verfolgender Beteiligter ins Verfahren begibt230. Gerade die frühe Initiierung eines Geständnisses durch das Gericht ohne ein zur Überführung des Angeklagten ausreichendes Beweisergebnis muss an der Position des unbeteiligten Dritten zweifeln lassen231. Gerade in einem konsensualen Verfahren, in dem der Wahrheitsfindung ein anderer Stellenwert und dem Gericht nicht mehr die Stellung des instruierenden Ermittlers zukommt, ist es von besonderer Bedeutung, dass das Gericht seine Position im „Wahrheitsfindungsprozess“ bewusst und rigoros gegen jede mögliche Aushöhlung der Unparteilichkeit wappnet. Ein vom Gericht mehr oder minder latent ausgeübter Geständnisdruck muss den „Superschulterschluss“ in unzulässiger Weise verstärken. Jedes Einwirken des Gerichts, das auf Ablegung eines Geständnisses gerichtet ist, muss daher gegen den Grundsatz der Unabhängigkeit des Gerichts verstoßen und Anlass zur berechtigten Besorgnis der Befangenheit sein. c) Die Unschuldsvermutung Der sachliche Gehalt der Unschuldsvermutung ist, von seinem Kernbestand des in-dubio-Satzes abgesehen, bis heute umstritten232. Der Grundsatz verbietet es, einen Betroffenen als schuldig zu behandeln, bevor seine Schuld in einem gesetzlichen geregelten, förmlichen Verfahren festgestellt ist233. Der Grundsatz ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip und ist durch Art. 6 II MRK auch in das positive Recht der Bundesrepublik eingeführt worden234. Die informellen 229
Dencker, Der Vergleich im Strafprozess, S. 97. Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 120. 231 Vgl. BGH NJW 1982, 1712; BGH StV 2000, 177, das Gericht bejaht hier die Gefahr der Befangenheit, für den Fall, dass eine Strafobergrenze ohne Rücksicht auf den Umfang des Geständnisses und den weiteren Gang der Hauptverhandlung gemacht wird; der BGH umschreibt die Grenzen der Zulässigkeit so, dass eine „Fühlungnahme“ sachlich geboten sein könne, der Richter aber die nötige Zurückhaltung wahren müsse, um jeden Anschein der Parteilichkeit zu vermeiden; siehe BGH NStZ 1985, 36, 37; BGH StV 1984, 449, 450; 1988, 417 f.; BGHSt 36, 210, 214. 232 Vgl. hierzu Roxin, Strafverfahrensrecht, § 11 Rn. 4; vgl. grundlegend zur Unschuldsvermutung: Krauß, in: Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 153; Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung; zur verfassungsrechtlichen Begründung der Unschuldsvermutung Frister, Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung als materielle Grundprinzipien des Strafrechts, S. 84 ff. 233 HK/Krehl, Einl. Rn. 14. 234 BVerfGE 19, 342, 347. 230
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Absprachen setzen ihrem Wesen nach eine „hinreichende Schuldvermutung“235 voraus. Die Anbahnung informeller Gespräche oder das Eingehen auf entsprechende Initiativen setzt voraus, dass das Gericht bereits vor Abschluss der Beweisaufnahme die Schuld vermutet. Eine Ansicht geht davon aus, dass die Absprache bei lückenhafter Beweislage, insbesondere der Handel „Geständnis gegen Strafmilderung“ stets gegen die Unschuldsvermutung verstoße, da die Schuld zur Überzeugung des Gerichts feststehen müsse, weil es sich andernfalls um eine unzulässige Verdachtsstrafe handele.236 Eine andere Meinung hingegen will auf die näheren Umstände des Zustandekommens der Absprache zurückgreifen. So soll lediglich die Teilnahme des Gerichts an einer Verständigung, die auf ein nicht-qualifiziertes Geständnis und damit auf eine Verdachtsstrafe gerichtet ist, die Unschuldsvermutung verletzen, wie auch die Initiierung eines qualifizierten Geständnisses durch das Gericht, da diese nicht auf eine objektive Verdachtserklärung abzielt, die nach beiden Seiten hin ausfallen kann, sondern auf dem direktesten Weg auf die Verurteilung237. Sie bringt vor allem den Unschuldigen in eine unzumutbare Prozesssituation. Durch die Initiierung gibt der Richter zu erkennen, dass er den Angeklagten für schuldig hält und die Prämisse der Schuld zur Richtschnur seines prozessualen Vorgehens macht238. Die Ansicht, die die informelle Verständigung grundsätzlich für vereinbar mit der Unschuldsvermutung hält, verweist auf die Parallelität zum Haftbefehlsverfahren, in dem ein Haftbefehl mit der Höhe der zu erwartenden Strafe begründet werden kann, ohne dass in dieser Verurteilungsprognose ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung gesehen werde. Daher sei auch die Aufnahme von Abspracheverhandlungen vor der Schuldspruchreife zulässig239. Allerdings verkennt dieser Ansatz, der von einschränkenden Kautelen im Abspracheverfahren zur Wahrung der Unschuldsvermutung gänzlich absieht, den entscheidenden Unterschied zum Haftbefehlsverfahren, das schon gesetzlich keinen Schuldnachweis, sondern lediglich dringenden Tatverdacht erfordert. Ein Geständnis wird hier gerade nicht gefordert oder initiiert.
235 Mit diesen Worten Dencker, Der Vergleich im Strafprozess, S. 94, denn ohne eine solche Umkehrung wäre jede Verhandlung schlechthin eine „sittenwidrige Zumutung“; von einer notwendigen Umkehrung der Unschuldsvermutung im Vergleichsprozess spricht auch Nestler-Tremel, KJ 1989, 448, 453; so auch Kremer, S. 143. 236 So Eser ZStW 104 (1992), 361, 373; im Ergebnis so auch Rönnau, Absprachen im Strafverfahren, S. 177. 237 Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 96. 238 Der BGH hat in NJW 1982, 1712 den Grundsatz herausgearbeitet, dass bereits die Aufforderung, die Ablegung eines Geständnisses zu überdenken – unabhängig vom Angebot einer Strafmilderung – erkennen lässt, dass das Gericht bereits von der Schuld überzeugt ist. 239 Tscherwinka, S. 99 ff.
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Geht man im Ergebnis davon aus, dass die Unschuldsvermutung bei Initiierung der Absprache durch das Gericht stets, bei Geständnisangebot des Angeklagten in der Regel nicht verletzt ist, so hält dieses Resultat auch einer dogmatischen Überprüfung im Sinne der Grundlegung stand. Denn wenn Schuld als vorwerfbare und funktionale Kategorie verstanden wird, dann kann ein Schuld eingestehendes, Verfahren verkürzendes Verhalten aus freiem Entschluss des Angeklagten auch ohne erschöpfende Ermittlung des gesamten Sachverhaltes „Schuldspruchreife“ begründen. Diese kann, sofern die Gespräche ohne Druckausübung durch das Gericht ablaufen, auch durch informelle Verständigung entstehen. Die freie Verständigung begründet dann die Schuldspruchreife. d) Der Gleichheitsgrundsatz Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz gebietet Rechtsanwendungsgleichheit als eine Grundvoraussetzung des Rechtstaates.240 Das bedeutet, dass die Gesetze nicht ohne sachlichen Grund unterschiedlich auf einzelne Personen angewendet werden dürfen. Bei Absprachen gewinnen zahlreiche Faktoren an Bedeutung, die im Gang einer streitigen Hauptverhandlung deutlich weniger ins Gewicht fallen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang der Zeitpunkt des Geständnisses, die Art der Verteidigung, der soziale Status des Angeklagten, die Art des angeklagten Delikts, die Kommunikation der Beteiligten und die Arbeitsbelastung des Gerichts241. Besonders deutlich werden diese Differenzierungskriterien in der Behandlung eines einzelnen Angeklagten in solchen Verfahren, in denen verschiedene Angeklagte vor demselben Gericht sich hinsichtlich ihrer Kooperationsbereitschaft unterschiedlich zeigen242. Die in der Regel deutlich härteren Strafen für diejenigen, die eine Verständigung ablehnen, ist mit sachlichen Gründen kaum mehr zu rechtfertigen. Eine weitere potenzielle Quelle für Ungleichbehandlungen liegt in der Tendenz, in großen Wirtschaftsprozessen, Steuerverfahren oder bei sonstigen Deliktstypen, die vor allem den „Wohlstandskriminellen“ treffen, gerne zu dealen, den Kleinkriminellen aber die ganze Härte der Strafprozessordnung spüren zu lassen243. Der nicht anwaltlich Vertretene bekommt noch nicht einmal die Chance eines informellen Gesprächs. Es besteht mithin die Gefahr vielfältiger Verstöße gegen den Gleichheitssatz, die durch sachliche Gründe nicht zu rechtfertigen sind244. Nicht alle 240
BVerfGE 66, 331, 335. Vgl. hierzu auch Rönnau, Die Absprache im Strafprozess, S. 206. 242 Zu der Besorgnis der Befangenheit beim Deal zu Lasten Dritter im Einzelnen Herzog, StV 1999, S. 455 ff. 243 Hierzu ist nach oben zu verweisen auf den Punkt II. 4.; insbesondere Lüdemann/ Bussmann, KrimJ 1989, 54 ff.; Schmidt-Hieber, DRiZ 1990, 321, 324; ders., NJW 1990, 1884, 1885. 244 Braun, Absprache im deutschen Strafverfahren, S. 77. 241
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haben gleichermaßen die Möglichkeit, das Verfahren in konsensuale Bahnen zu lenken. Die Absprachen in ihrer praktizierten, informellen Form verletzen den Gleichheitsgrundsatz. Ein Verstoß ist aber nicht schon notwendigerweise in ihrer Struktur angelegt. Eine Kodifizierung der Absprachen ist insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes erforderlich. e) Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs Nach Art. 103 I GG muss jeder Beteiligte eines Strafverfahrens die Gelegenheit erhalten, sich zu dem der gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt unmittelbar vor Erlass der Entscheidung zu äußern245. Der im Grundgesetz verbürgte Anspruch ist Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken; der einzelne soll mit Hilfe dieser Garantie Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen können246. Daraus folgt, dass der Angeklagte über den gesamten Verfahrensstoff informiert sein muss. In der Praxis stellt sich die Informationslage freilich anders dar, da der Beschuldigte häufig von den Absprachen noch nicht einmal in Kenntnis gesetzt, geschweige denn detailliert unterrichtet wird247. Eine dogmatische Begründung dieser mangelnden Information versucht der Ansatz, der aus Art. 103 GG kein Recht auf persönliches Gehör und auch keines auf Gehör in der mündlichen Verhandlung ableiten will248. Dieses Argument ist indes zu kurz gegriffen, denn wenn man sich mit nicht persönlichem, also vertretenem Gehör zufrieden gäbe, würde die eigentliche Beteiligungsfunktion gerade da unterlaufen, wo der Grundsatz sie garantieren will; denn eine „eigenmächtige“ Gesprächsaufnahme durch den Anwalt kann nicht als adäquater Ersatz für das persönliche Gehör gewertet werden. Das Recht muss den Angeklagten davor schützen, im Verfahren zum Objekt gemacht zu werden. Dass die Interessenlage in den Absprachekonstellationen sehr komplex ist, wurde dargelegt; gerade deshalb kann das Gehörtwerden des „Vertreters“ den Anforderungen des Art. 103 I GG nicht gerecht werden. Dass sich die Garantie auf die mündliche Verhandlung beziehen muss, ergibt sich ebenfalls aus der Schutzfunktion wie aus der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, dass dem Angeklagten „unmittelbar vor Erlass der Entscheidung“249 Gehör zu gewähren ist. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs kann nach alldem nur gewahrt sein, wenn der Angeklagte selbst an den Gesprächen beteiligt oder zumindest voll-
245 246 247 248 249
BVerfGE 1, 418, 429. BVerfGE 86, 133, 144. Vgl. hierzu die Zahlen oben unter III. 2. a). Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren, S. 53. BVerfGE 1, 418, 429.
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ständig über diese informiert wird und sich dann unmittelbar in der Hauptverhandlung zu der Absprache äußern kann250. f) Der Grundsatz des fairen Verfahrens Die generalklauselartige Maxime des fair trial ist Konsequenz aus den grundlegenden Entscheidungen für den Rechts- und Sozialstaat, wie sie in Art. 1, 20, 28 GG niedergelegt sind und gehört zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens251. Das fair-trial-Gebot beschränkt sich auf jene Aspekte, die nicht schon von speziellen Verfahrensgrundsätzen erfasst sind252. Daher entfaltet der Grundsatz umso stärker seine Wirkung, je weniger normativ strukturiert ein Verfahrensabschnitt ist253. Damit wird dieses Prinzip für die Absprachenpraxis besonders brisant. Bislang wurde der Gedanke des fair trial im Hinblick auf die Verständigungspraxis vom BGH254 vor allem unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes diskutiert und zur Grundlage der Hinweispflichten des Gerichtes gemacht, und zwar für den Fall, dass es von der Strafmaßprognose abweichen wolle. Ein Verstoß soll demzufolge durch entsprechende Hinweise des Gerichts, die das geweckte Vertrauen korrigieren, vermieden werden können. Dass aber auch unabhängig von der Garantie des Vertrauensschutzes gerade die Waffengleichheit, nach der ein „faires Verfahren“ stets verlangt255, durch die Absprachenpraxis empfindlich berührt sein kann, wird besonders deutlich, 250 So im Ergebnis auch Rönnau, Die Absprache im Strafverfahren, S. 202, der zur Vermeidung eines Verstoßes fordert, dass der Richter dem Angeklagten Gelegenheit gibt, sich gerade zu der Absprache zu äußern; wie auch Schmidt-Hieber, Die Verständigung im Strafverfahren, S. 77; Siolek, Verständigung in der Hauptverhandlung, S. 195; Küpper/Bode, Jura 1999, S. 351, 558. 251 BVerfGE 26, 66, 71; 38, 105, 111; 39, 238, 243; 40, 95, 99; 41, 246, 249; 46, 202, 210; kritisch zum fair trial-Grundsatz Sinner, Der Vertragsgedanke im Strafprozeß, S. 132 ff. m. w. N.; Hassemer, KritV 1990, 260, 270 f. 252 BVerfGE 63, 45, 60. 253 Rieß, in: Festschrift für Rebmann, 381, 395 f. 254 BGHSt 36, 210, 216, mit Anm. von Hassemer, JuS 1989, 890 ff., der nicht erst die Vertrauensverletzung rügen will, sondern bereits das Zustandekommen des „Vergleichs“ für eine „evidente Rechtsverletzung“ hält; siehe auch die Anmerkungen von Schünemann, JZ 1989, 984 ff. sowie von Strate, NStZ 1989, 439 ff., der von der Hinweispflicht absehen will, weil die Zusicherung ohnehin unstatthaft und damit ungeeignet gewesen sei, schutzwürdiges Vertrauen zu begründen; BGHSt 37, 10, 14, wo unter Hinweis auf das faire Verfahren ein wesentlicher Strafmilderungsgrund für den Fall statuiert wird, dass die Staatsanwaltschaft trotz Zusage einer Nichtverfolgung nach Rücknahme des Rechtsmittels in einem anderen Verfahren die Tat doch anklagt; durch die „Zusage“ werde Vertrauen erzeugt, der Bruch dieses Vertrauens verstoße gegen den Grundsatz; zustimmende Anmerkung von Gatzweiler, NStZ 1991, 46 f.; mit Einschränkungen zustimmende Anmerkung von Weigend, JR 1991, 257 ff. 255 BVerfGE 38, 105, 111; 63, 45, 61.
III. Absprachen im System des Strafverfahrens
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wenn man sich zum wiederholten Mal die schwierige Position des Beschuldigten verdeutlicht, der sich im Verfahren durch die konsensualen Strukturen praktisch isoliert wiederfinden kann. Ursprünglich war der Schutz der Waffengleichheit freilich so konzipiert, dass Verteidigung und Beschuldigter auf der einen, die Justiz auf der anderen Seite standen. Doch in welches Licht kann das Waffengleichheitsgebot geraten, wenn sich die adversativen Positionen nicht mehr so klar wie zuvor gegenüber stehen? Der Grundsatz des fairen Verfahrens soll überall dort als Auffangnorm fungieren, wo Verfahrenssituationen entstanden sind, in denen die Gesetze formal nicht verletzt wurden, im Ergebnis aber die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten in rechtsstaatlich bedenklicher Form eingeschränkt wurden256. Damit fragt sich, ob nicht auch die strukturell schwache Verhandlungsposition des Beschuldigten oder Angeklagten, gerade im Hinblick auf das Kooperieren der Verteidigung mit der Justiz über seinen Kopf hinweg, den Grundsatz der Waffengleichheit tangieren kann. Abschließend lässt sich festhalten, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes verletzt sein kann und dass Beeinträchtigungen der Waffengleichheit durchaus erwogen werden müssen. 3. Die Vereinbarkeit der Absprachen mit den Strafzumessungsgrundsätzen Berechtigte Kritik hat die Praxis der Absprachen insbesondere hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Strafzumessung hervorgerufen257. In diesem Zusammenhang kehrt das Problem wieder, das bereits unter dem Gesichtspunkt eines Verstoßes gegen § 136a StPO angesprochen worden ist, nämlich die allzu eklatante Sanktionsschere, die sich in der Praxis einvernehmlicher Verfahrenserledigung in der Regel auftut. Es ist bekannt, dass zum Verhandeln gehört, aufeinander zuzugehen, dass jeder etwas zu bieten haben muss. Die Justiz also bietet geminderte Strafen, kann dies aber nicht offen mit dem erzielten Konsens als solchem rechtfertigen, sondern muss auf andere „klassischere“ Wege ausweichen. Da bietet sich insbesondere die strafmildernde Wirkung des Geständnisses. Problematisch ist aber das abgesprochene Geständnis im Hinblick auf seine strafmildernde Wirkung ohnehin, da diese nach der in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen doppelspurigen Indiztheorie258 davon abhängt, ob das Geständnis von Reue und innerer Umkehr getragen ist259.
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Rönnau, Die Absprache im Strafprozess, S. 210. Vgl. insbesondere die Kritik der Rechtsprechung des BGH unter diesem Gesichtspunkt jüngst Moldenhauer, Eine Verfahrensordnung für Absprachen im Strafverfahren durch den Bundesgerichtshof, S. 180 ff. 258 Grdl. hierzu BGHSt 1, 105; BGHSt 14, 189; BGH StV 1981, 235; vgl. zur Indiztheorie Bruns, S. 220 ff. und zu deren psychologisch wie axiologisch höchst an257
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Dementsprechend vertritt der BGH grundsätzlich die Ansicht, dass das Prozessverhalten als Nachtatverhalten gewertet werden könne und Schlüsse auf die innere Einstellung des Täters zu seiner Tat erlaube. In der Grundsatzentscheidung zu den Absprachen von 1997 scheint der 4. Strafsenat260 allerdings einzusehen, dass ein ausgehandeltes Geständnis im Zweifel nicht auf einer „inneren Umkehr“ beruht, sondern, dass hier andere Kräfte im Spiel sind. Folgerichtig bemüht das Urteil für die Rechtfertigung der Strafmilderung auch gar nicht erst die Konstruktion eines „doppelspurigen Indizes“, sondern beschränkt sich nüchtern darauf, dass ein Geständnis grundsätzlich auch dann strafmildernd berücksichtigt werden kann, wenn es „nicht offensichtlich aus Schuldeinsicht und Reue, sondern aus verfahrenstaktischen Gründen im Rahmen der Verständigung“261 abgegeben worden ist. Einen anderen Weg der Versöhnung der Absprachen mit den Strafzumessungsgrundsätzen geht Schmidt-Hieber262, indem er das Geständnis unter die Vorschrift des § 46 Abs. 2, S. 2 StGB in Form der „verschuldeten Auswirkungen der Tat“ subsumieren will. Gerade im Rahmen der Strafzumessung wird aber „die Notwendigkeit der Gleichbehandlung verschiedener Täter“ immer wieder betont, „um eine Gleichmäßigkeit des Strafens und damit gerechte Strafen zu begründen263. Dass die in der Praxis häufig gewährten immensen Strafrabatte nicht mehr mit einer gerechten Strafzumessung zu vereinbaren sind, weil sie außer Verhältnis zu der strafmildernden Wirkung des kooperierenden Prozessverhaltens stehen, ist vielfach hervorgehoben worden264. Zunächst können sie destabilisierend auf das Rechtsfechtbaren These Dencker, ZStW 102 (1990), 51, 56 f.; kritisch zur strafmildernden Wirkung des Geständnisses bei Absprachen Jescheck/Weigend, § 83, IV 2. 259 Allerdings ist die strafmildernde Wirkung eines ausgehandelten Geständnisses in der Praxis praktisch die Regel; um die dogmatische Begründung oder die Aufnahme eines zusätzlichen Milderungsgrundes durch kooperatives Verhalten auf der Grundlage der doppelten „Indiztheorie“ bemüht sich BGH wistra 1997, 341, 345; da der Angeklagte durch die Ablegung des Geständnisses seine Verteidigungsmöglichkeiten einschränke, sei es nicht unbillig, wenn er zuvor erfahren möchte, wie das Gericht dieses bei der Strafzumessung bewerten würde. 260 BGHSt 43, 195, 209. 261 BGHSt 43, 195, 209; gegen die strafmildernde Berücksichtigung eines im Rahmen einer Absprache abgegebenen Geständnisses Kruse, StraFo, 2000, 146, 147 f., wie auch Bruns, S. 233, der ein Geständnis nur dann mildernd berücksichtigen will, „wenn es günstige Schlüsse auf die Persönlichkeit des Täters zulässt.“ 262 Schmidt-Hieber, Verständigungen im Strafverfahren, S. 78 ff. 263 Schäfer, Praxis der Strafzumessung, Rn. 477. 264 Eser, ZStW 104 (1992), 361, 373, sieht das Prinzip der gerechten Strafzumessung in Absprachen sogar schon dann verletzt, wenn das Geständnis nicht auf Reue beruht; vgl. hierzu auch Siolek, in: Festschrift für Rieß, S. 563, 572.; von „geradezu grotesk hohen Strafrabatten“ spricht Schünemann, in: Festschrift für Rieß, S. 525, 532; verwiesen sei hier nochmals auf den spektakulären Fall, BGH StV 2000, 556 f., Prozessbericht von Weider, StV 2002, 397; zur rechtlichen „Bedenklichkeit“ einer über-
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vertrauen der Allgemeinheit wirken, weil die Gleichheit in der Strafzumessung noch nicht einmal erstrebt, sondern bewusst der Prozessökonomie geopfert wird, und zum anderen sind sie geeignet, einen unzulässigen Druck auf den Angeklagten auszuüben, da die Höhe der in Aussicht gestellten Rabatte entscheidenden Einfluss darauf hat, ob dieser sich der „Versuchung des kooperativen Verfahrens“ entziehen kann. Auf diese Weise werden somit auf Kosten einer gerechten Strafzumessung die Ressourcen der Justiz geschont. Der Preis ist aber zu hoch, da es für die eklatanten Strafmilderungen kaum eine Rechtfertigung geben dürfte, die über das pragmatische Argument einer Verfahrensbeschleunigung hinausreichen kann. Die Strafzumessung ist aber ein besonders sensibler Bereich für die Rezeption von Strafgerechtigkeit. Ehrlich ist zwar die Wertung des Bundesgerichtshofs, für das im Rahmen einer Absprache abgegebene Geständnis keine „innere Umkehr“ zu fordern, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den unvertretbaren Ausmaßen der Rabatte steht allerdings noch aus. In der uferlosen Praktizierung der Strafzumessung im einvernehmlichen Verfahren bleibt von den anerkannten Strafzumessungsregeln nicht viel übrig. 4. Ansätze einer Rechtfertigung der informellen Verständigung Zahlreiche Verstöße gegen Verfahrensgrundsätze und Kollisionen mit verfassungsrechtlichen Garantien sind bis zu diesem Punkt festgestellt worden. Verschiedentlich ist der Versuch unternommen, diese Verfahrensverletzungen gewissermaßen zu „heilen“. Als „Heilungsmittel“ sollen sich insbesondere ein Abwägungsprozess im Dienste der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“, sowie die Disponibilität von Verfahrensrechten anbieten. a) Die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege als mögliche Rechtfertigung Die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ hat seit über zwanzig Jahren die Bedeutung eines rechtstaatlichen Grundsatzes, der durch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich zu Verfassungsrang erhoben worden ist. Die Idee der Gerechtigkeit verlange auch die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege, weil ohne diese „der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verhol-
proportional hohen Strafe bei ausgebliebenen Geständnis, die Frage im Ergebnis allerdings offenlassend auch BGH StraFo 2003, 97 ff., mit Anmerkung von Salditt, a. a. O., 98, der darauf verweist, dass in der Praxis der „Preisnachlass“ umso größer ausfällt, je gewichtiger die Zweifel an der Schuld des Angeklagten sind. Vgl. aber zur Anfechtbarkeit einer Verfahrensabsprache durch die StA wegen einer rechtsfehlerhaften Strafzumessungsentscheidung mit der Begründung, „der Boden des schuldangemessenen Strafens“ sei verlassen worden, KG, Urt. v. 23.3.2004, NStZ-RR 2004, 175 ff.
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fen werden könne“265. Die „funktionstüchtige Strafrechtspflege“ ist in zahlreichen Entscheidungen zu einem Topos prozessualer Argumentation avanciert266. In der Argumentation des Verfassungsgerichts muss der Gedanke der Prozessökonomie meist dann herhalten, wenn andere Argumente versagen. Ein wesentlicher Bestandteil der Gerechtigkeit sei die Autrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege, ohne die Gerechtigkeit nicht verwirklicht werden könne267. Obwohl dieser Topos in der Rechtsprechung des Verfassungsgericht untrennbar mit der Idee der Gerechtigkeit und diese mit dem Prinzip der materiellen Wahrheit verbunden ist268, wird über dieses nunmehr verfassungsrechtlich geschützte Prinzip versucht, eventuelle Verstöße durch Absprachen gegen Verfahrensgrundsätze zu rechtfertigen. Es wird in dem Zusammenhang sogar die Frage gestellt, ob dieser Verfassungsgedanke Absprachen nicht geradezu fordern könnte269. In diesem Sinn sah Weigend 270 schon vor über zehn Jahren für die Zukunft den Siegeszug des Topos von der Funktionstüchtigkeit voraus, die das Rechtsstaatsprinzip eines Tage derart dominieren würde, dass die „Hürden“ eventueller Verfahrensverstöße auf dem „Weg zur perfekten Verfahrenseffizienz beiseite geräumt werden können“. Doch fragt sich, ob der Gedanke der Funktionstüchtigkeit überhaupt taugen kann zur Rechtfertigung eventueller Verfahrensverstöße. Denn wenn dieser verfassungsrechtlich verbürgte Grundsatz für die Absprachen in Anspruch genommen wird, dann doch immer in der Bedeutung, dass Strafrechtspflege nur dann funktionstüchtig sein könne, wenn sie verfahrensökonomisch gestaltet wird. Verfahrenseffizienz kann aber nicht um ihrer selbst willen ein rechtfertigendes Rechtsgut sein. Eine funktionstüchtige Strafrechtspflege ist Voraussetzung staatlicher Strafverfolgung; sie ist Mittel nicht Zweck und somit nicht tauglich, legitimierend zu wirken. Zwar kann prozessökonomisches Vorgehen im Verfahren auf konsensuale Verfahrenserledigungen hinwirken und so die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ steigern, legitimierend kann dann aber nur der der 265
BVerfGE 33, 367, 383; 36, 174, 186. BVerfGE 33, 367, 383; 38, 105, 115 f.; 38, 312, 321; 41, 246, 250; 44, 353, 374, 378; 46, 214, 222; 51, 324, 343. 267 BVerfGE 33, 367, 383. Dieses Bekenntnis ist aber in sich nicht frei von einer gewissen Widersprüchlichkeit; denn entweder ist die Funktionstüchitgkeit Bestandteil der Gerechtigkeit oder aber Mittel zu deren Verwirklichung. Bestandteil und Mittel unterscheiden sich aber wesentlich von einander: der Bestandteil der Gerechtigkeit ist bereits Ziel, das Mittel zur Erreichung ist selbst noch in Funktion zum Ziel der Gerechtigkeit zu sehen. 268 Vgl. BVerfG NJW, 2000, 55, 65; BVerfGE, 80, 367, 375; 77, 65, 76; 33, 367, 383. 269 Die Frage wirft Rönnau, Die Absprache im Strafprozess, S. 212, auf, verneint sie aber wegen des allzu großen Verlustes an Rechtsstaatlichkeit und der Gefahren für den Beschuldigten. 270 Weigend, JZ 1990, 774, 781. 266
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Gerechtigkeit verpflichtete, freiverantwortliche Konsens, nicht aber die „Funktionstüchtigkeit“ wirken. Die Funktionstüchtigkeit kann noch nicht einmal einen Abwägungsposten darstellen in der Lösung eines Konflikts zwischen Strafverfolgungsinteresse des Staates auf der einen und Schutz des Beschuldigten durch verfahrensrechtliche Kautelen auf der anderen Seite. Die rechtstaatlichen Schutzrechte des Beschuldigten dürfen gerade nicht als „unliebsame Hindernisse“ auf dem Weg zur gerechten Entscheidung verstanden werden, sondern tragen selbst entscheidend dazu bei, dass eine „gerechte Entscheidung“ erst entsteht271. In die Abwägung können nur solche Gesichtspunkte eingehen, von denen jeder auf seine Weise der Idee der Gerechtigkeit verbunden ist. Das kann, wie gesagt, für die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege nicht gelten, weil sie vollkommen losgelöst ist von den Inhalten eines Strafverfahrens272. Die Funktionstüchtigkeit ist in diesem Sinne ein rein formaler Begriff, der an inhaltliche Werte nicht gebunden ist, und kann daher keine rechtfertigende Größe sein. Relevant wird sie nur insoweit, als es eines funktionierenden Strafverfolgungsapparates bedarf, damit der Staat überhaupt Straftaten in adäquater Weise sanktionieren kann. In diesem Sinne ist aber die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege im Grunde nichts anderes als eine banale selbstverständliche Voraussetzung für die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs. b) Die Disponibilität von Verfahrensgrundsätzen Jede Untersuchung der Vereinbarkeit der Absprachen mit den allgemeinen Verfahrensgrundsätzen muss sich auch der Frage der Disponibilität der Verfahrensrechte stellen273. Denn ein eventuell konstatierter Verfahrensverstoß könnte, wäre das Verfahrensrecht disponibel, durch entsprechende Erklärung oder entsprechendes Prozessverhalten gerechtfertigt sein. Rechtsprechung und Literatur behandeln die Frage sehr kontrovers. Der BGH274 sieht das Verfahren in seinen bestimmenden Grundsätzen der Willkür der Parteien und der Umgestaltung durch die Prozesssubjekte entzogen. Andererseits soll der Verzicht dann möglich sein, wenn es sich nicht um grundlegende Vorschriften handelt, die gerade
271 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 7, weist zu Recht darauf hin, dass eine rechtstaatliche Strafrechtspflege die „Funktionstüchtigkeit“ mit voller Wahrung der Justizförmigkeit verbinden muss. 272 Anders Rönnau, Die Absprache im Strafprozess, S. 215, Rn. 6, m. w. N. 273 Zur Bedeutung dieser Frage für die Verständigungsproblematik vgl. Siolek, Die Verständigung in der Hauptverhandlung, S. 101 ff. 274 BGHSt 17, 112, 121; so auch das OLG Frankfurt, JR 1987, 81, mit Anmerkung von Schlüchter; zustimmend auch Rönnau, Die Absprache im Strafverfahren, S. 86; Siolek, Die Verständigung in der Hauptverhandlung, S. 207, will eine Verfügungsmacht nur hinsichtlich des nemo-tenetur-Satzes anerkennen.
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das rechtsstaatliche Verfahren garantieren sollen275. Nach der vom BGH entwickelten Rechtskreistheorie276 bieten sich Anhaltspunkte für Dispositionen über die Verfahrensrechte auch im Bereich der Beweisverbote277. Solche Rechtspositionen, die ausschließlich dem Beschuldigten zustehen, sollen disponibel sein278. Eine weitere Ansicht will einen Verzicht auf Prozessmaximen unter bestimmten Kautelen zulassen und die entsprechenden Kautelen danach differenzieren, ob die jeweilige Maxime Verfassungsrang hat279. In die Differenzierung fließt dann die unvermeidliche Diskussion um die Verzichtbarkeit von Grundrechten ein. Die Vielfältigkeit der Stellungnahmen lässt sich auf einen Grundkonsens in Literatur und Rechtsprechung reduzieren280. Dieser unterteilt die StPO in verzichtbare und unverzichtbare Verfahrensnormen. Unverzichtbar sollen jene sein, die die Verfahrensvoraussetzungen regeln und deren Verletzung einen absoluten Revisionsgrund darstellen würde, sowie solche Normen, die allgemein die rechtsstaatliche Durchführung des Verfahrens garantieren sollen. Die wesentlichen Grundsätze des Verfahrens sind somit dem Parteiwillen entzogen281. Dies muss zumindest noch so lange gelten, bis der deutsche Strafprozess sich nicht offen zu einer „Wende“ bekennt, die das Unverzichtbare im Strafverfahren neu definiert. Über einen Verzicht der verletzten Verfahrensrechte lässt sich die Absprachenpraxis dementsprechend nach der geltenden Gesetzeslage nicht rechtfertigen.
275
OLG Hamm NJW 1956, 1330, 1331. BGHSt (GrS) 11, 213, 218. 277 Vgl. Siolek, Die Verständigung in der Hauptverhandlung, S. 105. 278 Bohnert, NStZ 1983, 344, 346, unter Hinweis auf verzichtbare Rechte wie das Recht auf das letzte Wort, die Bestellung eines Wahlverteidigers, Fragen an den Zeugen usw. 279 Eser, ZStW 104 (1992), 361, 391, der das eigentliche Problem des Verzichts auf Prozessmaximen nicht in dem „normativen Aspekt“ der Frage, sondern in dem „empirischen“ Aspekt, nämlich der „Feststellung der Freiwilligkeit“ sieht (S. 393) und letztlich für die „Disponierung über die Instruktionsmaxime“ durch den Angeklagten plädiert (S. 390). 280 So auch die Folgerung bei Siolek, Die Verständigung in der Hauptverhandlung, S. 107. 281 Vgl. Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren S. 39; Bohnert NStZ 1983, 344, 346, erklärt all die Rechte für verzichtbar, an deren Ausübung die Verfahrensordnung keine Folgen knüpft, Die Behandlung des Verzichts im Strafprozess; Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 121, schließt eine Heilung evtl. Verfahrensverstöße im Wege informeller Verständigung durch Einwilligung, Verzicht oder Verwirkung denn auch grundsätzlich aus, weil es sich bei den betreffenden Garantien durchweg um solche handele, die im öffentlichen Interesse liegen, über die der Beschuldigte daher nicht disponieren könne. 276
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5. Ergebnis: Die Absprachen und das geltende Prozessrecht – ein Versuch der „Quadratur des Kreises“ Der BGH wollte in seiner 1997 verkündeten Grundsatzentscheidung282 eine Verfahrensordnung für Absprachen entwickeln, bei deren konsequenter Beachtung Verstöße gegen geltende Grundsätze des Strafpozesssystems nicht zu besorgen wären. Dass eine solche Verankerung weder dogmatisch noch praktisch gelingen konnte, war hier darzulegen. Bis zu diesem Punkt lässt sich dementpsrechend festhalten, dass die Absprachenpraxis zwar gegen das Legalitätsprinzip verstoßen kann, dass aber fraglich ist, ob an diesem Grundsatz überhaupt unbedingt festgehalten werden muss. Des Weiteren ist festgestellt worden, dass Absprachen nicht nur gegen die Instruktionsmaxime verstoßen, sondern mehr noch gerade das Ziel verfolgen, diese zu umgehen. Es schließt sich in diesem Zusammenhang aber ebenso die berechtigte Frage an, ob der Amtsaufklärungsgrundsatz zu den unverzichtbaren Prinzipien des Strafverfahrens gehören muss. Öffentlichkeits- und Unmittelbarkeitsgrundsatz werden durch die „Heimlichkeit“ der Gespräche in der Regel verletzt. Die Drucksituation, die sich für den Beschuldigten wegen der in der Praxis vorkommenden extrem hohen Strafrabatte einstellen kann, verstößt gegen das nemo-tentetur-Prinzip. Die Unabhängigkeit des Gerichts kann dann nicht mehr voll gewährleistet sein, wenn das Gericht selbst im Rahmen von Absprachen aktiv wird; wenn es solche initiiert, ist zudem die Unschuldsvermutung regelmäßig verletzt. Da die Absprachen in ihrem konkreten Zustandekommen weitgehend noch auf Heimlichkeit basieren, ist regelmäßig zu befürchten, dass der Gleichheitsgrundsatz und der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht gewahrt werden können. Der Grundsatz des fairen Verfahrens ist unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes und der Waffengleichheit gefährdet. Die Strafzumessung in konsensualen Verfahren erfolgt nach eigenen Regeln, die sich mit den anerkannten Grundsätzen nicht vereinbaren lassen. Eine Rechtfertigung der zahlreich konstatierten Verstöße durch den Topos der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ oder über den Gedanken der Dispo-
282 BGHSt 43, 195 ff.; zahlreich sind die Kommentierungen der Entscheidung, einige Anmerkungen seien hier erwähnt: Kintzi, JR 1998, 249 ff., der der Entscheidung bescheinigt, „Kontrolle und Orientierung“ in die Absprachenpraxis gebracht zu haben; kritischer Rönnau, wistra 98, 49; unter dem programmatischen Titel „Eine Prozessordnung für abgesprochene Urteile“ Weigend, NStZ 1999, 57 ff.; siehe auch Herrmann, JuS 1999, 1162 ff.; ausführlich zum „dogmatisch gescheiterten Versuch des 4. Strafsenates des BGH, sie im geltenden Strafprozessrecht zu verankern“ Schünemann, in: Festschrift für Rieß, S. 525, 546, der die Leitentscheidung im Ergebnis als den Versuch einer „Quadratur des Kreises“ bezeichnet, S. 536, 546; ganz anders die Wertung bei Altenhain/Haimerl, GA 2005, 281, 306, die es für durchaus möglich halten, die Leitentscheidung in konkrete Handlungsanweisungen umzusetzen.
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nibilität von Verfahrensrechten scheidet aus. Aus all dem ergibt sich, dass Absprachen mit dem geltenden Recht in ihrer praktizierten Form unvereinbar sind.
IV. Absprachen im Spiegel der jüngeren höchstrichterlichen Rechtsprechung – Entwicklungen seit der Grundsatzentscheidung des BGH Da Sinn und Zweck der Absprachen neben der Verfahrensverkürzung auch die sofortige Rechtskraft des Urteils und so die Vermeidung des Instanzenzuges ist, versteht es sich von selbst, dass die Natur der Absprachen einer Kontrolle durch den Bundesgerichtshof nicht eben zuträglich ist. Es kann daher nicht verwundern, dass der Bundesgerichtshof nur relativ selten Gelegenheit hat, sich mit dem Problem zu befassen. Wenn auch gemessen an der Häufigkeit der Praktizierung von Absprachen die höchstrichterliche Rechtsprechung im Verhältnis zu anderen Themen noch eher gering ausfällt, so hat sich inzwischen doch eine umfangreiche, leider alles andere als einheitliche Sammlung an Entscheidungen zu den einzelnen Problembereichen der Absprachen ergeben283. Das Bundesverfassungsgericht hat nur zweimal zu der Frage Stellung genommen, und zwar in einer die Verfassungsbeschwerde verwerfenden Kammerentscheidung aus dem Jahr 1987284, die gerne für die grundsätzliche Vereinbarkeit der Absprachen mit der Prozessordnung ins Feld geführt wird, sowie in einem die Beschwerde ebenso verwerfenden Kammerbeschluss des 2. Senats vom 14.5.1999285.
283 Siehe für die umfassende Betrachtung und Würdigung der Rechtpsrechung des BGH die Dissertation von Moldenhauer, „Eine Verfahrensordnung für Absprachen im Strafverfahren durch den Bundesgerichtshof?“; eine „vorsichtige, notgedrungen verallgemeinernde Zwischenbilanz der Rechtsprechung“ findet sich auch bei Weigend, in: Festschrift aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens des BGH, S. 1011, 1017. 284 BVerfG NStZ 1987, 419, mit Anm. von Gallandi; die Entscheidung des Verfassungsgerichts lässt keine unmittelbaren Schlüsse auf die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Absprachenpraxis zu, da sie sich darauf beschränkt, Absprachen nicht grundsätzlich für unzulässig zu erklären und es für möglich erachtet, Verständigungen“ außerhalb der Hauptverhandlung aufzunehmen, sofern sie die richterliche Aufklärungspflicht, die rechtliche Subsumtion und die Grundsätze der Strafbemessung nicht ins Belieben der Verfahrensbeteiligten stellen. Konkrete Anforderungen an die Praxis lassen sich der Entscheidung nicht entnehmen. 285 BVerfG StV 2000, 3; die Verfassungsbeschwerde scheiterte bereits am Zulässigkeitserfordernis der Rechtswegerschöpfung. Der Angeklagte wollte die Zusicherung einer Strafobergrenze geltend machen, die jedoch nicht protokolliert war. Der Subsidiaritätsgrundsatz erfordere aber, dass alle prozessualen Mittel ausgeschöpft sind, dies sei nicht gegeben, da der Angeklagte nicht auf einer Protokollierung der Zusage bestanden habe. Hat der Vorsitzende die Protokollierung fehlerhaft unterlassen, so hat das Gericht nach § 238 Abs. 2 StPO zu entscheiden.
IV. Absprachen im Spiegel der jüngeren Rechtsprechung
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Grundlage der wissenschaftlichen Diskussion ist nach wie vor die Richtlinienentscheidung des BGH aus dem Jahr 1997286, in der der 4. Strafsenat gewissermaßen eine „Verfahrensordnung für Absprachen“ entworfen hat. Absprachen sollen hiernach nicht generell unzulässig sein, müssen aber gewisse Mindestanforderungen erfüllen: die Mitwirkung aller Verfahrensbeteiligten in öffentlicher Hauptverhandlung muss gewährleistet sein; das Gericht darf lediglich eine Strafmaßobergrenze zusagen, Abweichungen von dieser Grenze sind in der Hauptverhandlung mitzuteilen; die Strafe muss schuldangemessen sein und den allgemeinen Strafzumessungsregeln entsprechen; die Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts vor Urteilsverkündung ist unzulässig. An diesen Anforderungen bemisst sich noch immer jede revisionsrechtliche Überprüfung informeller Verständigung. Um das Revisionsbedürfnis beim Beschwerdeführer überhaupt zu begründen, muss die auf Konsens gerichtete Absprache gescheitert sein. Zu Beginn der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu dem Thema ging es um den Bruch von Zusagen287 oder die Frage, inwieweit Verständigungsgespräche die Befangenheit des Richters begründen können288. Im Laufe der Jahre traten zu diesen ersten Gründen der Revisionsbeschwerden weitere hinzu. So wurden zum Beispiel die mangelnde Offenlegung der Absprache in der Hauptverhandlung289 oder die fehlende Bekanntgabe des Abrückens von einer Absprache gerügt290. Weiter waren Gegenstand der Erörterungen die Frage der Verwertbarkeit von Geständnissen, die im Rahmen unzulässiger Absprachen abgegeben wurden291, sowie die Frage nach der Wirksamkeit eines im Rahmen einer Absprache erklärten Rechtsmittelverzichts und dessen möglicher Einfluss auf die Zulässigkeit der Absprache292.
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BGHSt 43, 195 ff.; vgl. zu den Kommentierungen der Entscheidung Fn. 282. BGH StV 1984, 449; LG Kassel StV 1987, 288; LG Koblenz, wistra 1988, 236; OLG Koblenz wistra 1988, 238; BGH StV 1989, 336; BGH NJW, 1990, 1921 und 1924; im Einzelnen wird zu den an dieser Stelle nur aufgeworfenen Fragen noch Stellung genommen. 288 BGH StV 1984, 318; OLG Bremen StV 1989, 145; BGH NJW 1990, 3030; BGH DRiZ 1991, 177. 289 BGHSt 38, 102 = NStZ 1992, 139; BGH StV 1999, 407. 290 BGHSt 26, 210 = NStZ 1989, 438, mit Anm. von Strate = StV 1989, 336 mit Anm. von Greeven. 291 BGHSt 38, 102, 104; 42, 191, 193; BGH NStZ 1997, 561; BGH StV 1998, 175. 292 BGH NStZ 1997, 611 = StV 1997, 572; abweichend BGHSt 43, 195; BGH StV 1999, 411 und 412; vgl. zu dieser Frage auch den Beitrag zum „vereinbarten Rechtsmittelverzichts“ von Rieß, in: Festschrift für Meyer-Goßner, S. 654 ff.; zur Frage der Zulässigkeit eines Rechtsmittelverzichts nach der jeweiligen „Drucksituation“ für den Angeklagten differenzierend Weider, in: Festschrift für Lüderssen, S. 773 ff. Erb, GA 2000, 511, 525, plädiert für eine Lösung, nach der ein unmittelbar nach Urteilsverkündung erklärter Rechtsmittelverzicht generell unwirksam sein müsste, „während ein am nächsten Tag schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle erklärter Rechtsmittel287
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Grundsätzlich stellt sich das Problem, dass die Praxis an den vom BGH in seiner Grundsatzentscheidung aufgestellten Kriterien „vorbei operiert“. Dies gilt umso mehr, als schon zuvor die mangelnde Umsetzung der „Richtlinien“ des BGH in der Praxis beklagt wurde293. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der 2. und 5. Senat der Absprachenentwicklung, die sich einer weitgehenden Akzeptanz bei den Instanzgerichten erfreut, tendenziell aufgeschlossen gegenüber stehen, während der 3. Senat eine eher kritische Position bezieht294. 1. Der Bruch von Zusagen Grundsätzlich ist auf einen beabsichtigten Bruch von Strafmaßzusagen hinzuweisen. Das hat die Grundsatzentscheidung des BGH295 explizit hervorgehoben: will das Gericht von seiner Zusage abweichen, so kann es dies nur, wenn sich nach der Absprache schwer wiegende neue Umstände ergeben. Es muss auf seine Absicht, von der Zusage abzuweichen, in öffentlicher Hauptverhandlung unter Darlegung der Umstände hinweisen. Diesen Grundsatz hat der 1. Strafsenat des BGH296 in einer Entscheidung aus 2001 erweitert, indem er die Hinweispflicht hinsichtlich eines Bruchs der Strafmaßzusage auch auf diejenigen verzicht auch dann wirksam sein soll, wenn er Gegenstand einer unzulässigen Verfahrensabsprache war“. 293 Zwar lauteten die Formulierungen und Postulate gerade der Grundsatzentscheidung des 4. Senats in BGHSt 43, 195 ff. anders, letztlich seien sie aber die Anerkennung der als unzulässig bezeichneten Absprachenpraxis; vgl. hierzu Weider, Vom Dealen mit Drogen und Gerechtigkeit, S. 134 f.; auf die Missachtung der höchstrichterlichen Verbote weist Hamm hin, in: Festschrift für Meyer-Goßner, S. 33, unter Rückgriff auf die „wechselseitige Bedingtheit der Verstöße gegen die Verbote“ (S. 45); ausführlich zur mangelnden Umsetzung der BGH-Leitlinien Siolek, in: Festschrift für Peter Rieß, S. 563, 568. 294 So die Wertung bei Weigend, StV 2000, 63, 67, Anmerkung zu BGH StV 2000, 4.; einen Überblick über die Haltung der einzelnen Senate zu den Absprachen bietet Weigend, in: Festschrift aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens des BGH, S. 1011, 1017. 295 BGHSt 43, 195, 210; vgl. zum impliziten Bruch von Zusagen auch die jüngere Entscheidung des 5. Senates, Beschluss vom 9.6.2004, StV 2004, 471 ff., die einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens dann bejaht, „wenn das Gericht unter irrtümlicher Annahme einer möglichen Gesamtstrafenbildung eine Obergrenze für die Gesamtstrafe zusagt, nach Feststellung der Unzulässigkeit der Gesamtstrafenbildung und eines entsprechenden Hinweises an den Angeklagten gleichwohl ohne Einbeziehung eine Freiheitsstrafe in Höhe der zugesagten Strafobergrenze verhängt“. 296 BGH Beschl. v. 26.9.2001 – 1StR 147/01, NStZ 2002, 219 f. (die mit Aktenzeichen angegeben Entscheidungen sind sämtlich im Internet unter der Seite www.bgh.de im umfassenden Verzeichnis der Entscheidungen des BGH seit 2000 abrufbar); befürwortende Anmerkung von Weider, NStZ 2002, 174 ff., der den Beschluss als „richtungweisend“ bezeichnet (S. 178); ein entsprechender Hinweis über die beabsichtigte Abweichung vom zugesagten Strafmaß ist auch „protokollierungspflichtig“, vgl. zur Angreifbarkeit der Absprache bei Umgehung der Protokollierungspflicht, BGH; Beschl. v. 21.1.2003 – 4 StR 472/02, StraFo 2003, 201, 202 = NJW 2003, 1404.
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Fälle ausdehnte, in denen die Absprache schon aus anderen Gründen297 fehlgeschlagen ist. Der Hinweis des Gerichts, die zugesagte Strafobergrenze zu überschreiten, ist protokollierungspflichtig298. Ein Bruch von Zusagen soll indes dann nicht vorliegen, wenn der Angeklagte vor oder in der Hauptverhandlung ein Geständnis ablegt im Vertrauen auf eine gerichtliche Zusage einer Strafobergrenze, die gegen den erklärten Widerspruch der Staatsanwaltschaft oder gar ohne deren Kenntnis erteilt wurde. In diesem Fall entstehe ein schützenswerter Vertrauenstatbestand gerade nicht299. Ein Vertrauenstatbestand könne auch dann nicht entstehen, wenn im Rahmen einer Absprache die Anwendung von Jugendstrafrecht vereinbart worden sein soll, da eine solche Vereinbarung nicht zulässiger Gegenstand einer Verständigung sein könne. Zwingend vorgeschriebene Rechtsfolgen seien einer Vereinbarung nicht zugänglich300. 2. Die Befangenheit von Richtern Grundsätzlich soll es keinen Anlass zur Besorgnis der Befangenheit liefern, wenn das Gericht für den Fall der Ablegung eines Geständnisses eine Strafobergrenze zusagt, „denn dass sich das Gericht während des Verfahrens – vorbehaltlich des weiteren Verfahrensgangs und des Beratungsergebnisses – eine Meinung über das mögliche Verfahrensergebnis bildet, ist der Strafprozessordnung nicht fremd“301. Konkretisiert wurde diese allgemein gehaltene Verneinung der Besorgnis der Befangenheit durch eine Entscheidung des 2. Strafsenats von 1999302. Die Besorgnis der Befangenheit soll dann gegeben sein, wenn das Ge297 Im konkreten Fall war die Absprache gescheitert, weil die Angeklagte keinen Rechtsmittelverzicht erklären wollte; im Ergebnis anders aber die Entscheidung 4 StR 371/03; der 4. Strafsenat stützt hier einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens nicht etwa schon darauf, dass das Gericht keinen Hinweis erteilt habe, von der Zusage abzuweichen, sondern der Verfahrensverstoß liege darin, dass die Strafzusage unzulässigerweise an die Bedingung des Ausgleichs einer Steuerschuld geknüpft worden sei (S. 7, zitiert – wie auch die Entscheidungen im Folgenden bei ausschließlicher Angabe des Aktenzeichens nach www.bundesgerichtshof.de). 298 Vgl. zu diesem Grundsatz die jüngere BGH-Entscheidung 2 StR 39/04, StV 2004, 417. 299 BGH Beschl. v. 23.10.2001 – 5 StR 433/01. 300 BGH Beschl. vom v. 15.3.2001 – 3 StR 61/01 = BGH NStZ 2001, 555, 556, mit kritischer Anmerkung von Eisenberg, a. a. O., S. 556 = StV 2001, 555 f.; vgl. auch die grundsätzlich zustimmende Besprechung von Noak, StV 2002, 445 ff. 301 BGHSt, 43, 195, 207. 302 BGHSt 45, 312 = StV 2000, 177 ff.; mit im Ergebnis zustimmender Anmerkung von Sinner, StV 2000, 289 ff. = JR, 2001, 159 ff., mit Anmerkung von Kintzi, S. 161 f.; im zitierten Fall hatte die StA Revision eingelegt und die Verwerfung eines Ablehnungsgesuchs gerügt, weil Gespräche zwischen den Verteidigern und den Berufsrichtern stattgefunden hätten; vgl. zu dieser Problematik auch die Rüge eines Versto-
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richt nach Vorberatungen den Eindruck erweckt, sich ohne Rücksicht auf den Umfang des Geständnisses und den weiteren Verlauf der Hauptverhandlung festgelegt zu haben. Weitergeführt wird diese Haltung durch eine jüngst vom 5. Strafsenat303 getroffene Entscheidung, nach der die „unfaire Nichtbeteiligung von Verfahrensbeteiligten an Vorbesprechungen zur Verfahrenserledigung“ oder die „Täuschung eines Verfahrensbeteiligten über die Verbindlichkeit einer derart unwirksamen Zusage“ einen Ablehnungsgrund wegen Besorgnis der Befangenheit begründen kann. 3. Pflicht zur Protokollierung der Absprachen Bereits in der Grundsatzentscheidung des 4. Strafsenats wurde die Protokollierungspflicht für Abspracheergebnisse verbindlich festgelegt304. Ist eine Absprache nicht ins Protokoll aufgenommen gilt sie als nicht zustande gekommen305. Dieses Erfordernis ist nun näher konkretisiert worden. In einem jüngeren Beschluss hat der 4. Strafsenat im Anschluss an die zitierte Entscheidung verlangt, dass der Hinweis des Gerichts, es sei an eine getroffene Absprache wegen sich neu ergebender schwerwiegender Umstände zu Lasten des Angeklagten nicht mehr gebunden, protokollierungspflichtig ist. Unterlässt es dies, kann der Angeklagte sich im Revisionsverfahren auf die protokollierte zulässige Vereinbarung, eine zugesagte Strafobergrenze werde nicht überschritten, berufen306. Die Protokollierungspflicht kann für den Beschuldigten aber auch eine gefährliche Kehrseite haben, indem sie sich als Revisionsfalle darstellen kann. Denn der BGH hat in einer Entscheidung vom 12.1.1999307 die negative Beweiskraft des Protokolls in Bezug auf die Absprachen erweitert. Die Rüge, der vom Angeklagten erklärte Rechtsmittelverzicht sei Teil einer unzulässigen Absprache gewesen, hielt der BGH für unerheblich, da diesem Einwand die negative Beweiskraft des Protokolls entgegenstehe. Die Protokollierung nur des Erßes gegen §§ 33, 261 StPO im Falle von Gesprächen zwischen Gericht und Verteidigung ohne Beteiligung der StA, BGHSt 42, 46. 303 Zur Besorgnis der Befangenheit des Gerichts, das unter Umgehung der Staatsanwaltschaft eine Strafmaßzusage gewährt hatte, BGH StV 2003, 481, mit im Wesentlichen zustimmender Anm. von Schlothauer, S. 481 ff. Entschieden gegen die Entscheidung hingegen Meyer-Goßner, StraFo 2003, 401, 402, der die Zustimmungspflichtigkeit durch die StA einer vom Gericht angebotenen Strafobergrenze strikt ablehnt. 304 BGHSt 43, 195, 206; diese Entscheidung erneut bestätigend BGH NStZ 2001, 555, 556. 305 Vgl. BGH StV 2001, 554, 555. 306 BGH NJW 2003, 1404; BGHSt 45, 227, 228 = StV 2000, 4; zur Protokollierungspflicht als wesentliche Förmlichkeit der Zusage auch BGH StV 2000, 408. 307 BGH, NStZ 1999, 364 f.
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gebnisses der Absprache ohne nähere Angaben zum Hergang der Verständigung will der BGH also genügen lassen, was sich für den Angeklagten durchaus als gefährlich erweisen kann. Unliebsame Überraschungen können sich für den Angeklagten auch dann aus der Protokollierungspflicht ergeben, wenn er es unterlässt, auf die Einhaltung der „Verfahrensordnung für Absprachen“ zu bestehen. Aus einer Entscheidung des 3. Strafsenats ist zu entnehmen, dass sich im Falle einer nicht erfolgten Protokollierung der Absprache, der Angeklagte ein absprachewidriges Urteil nicht wegen Nichteinhaltung der Absprache mit der Revision anfechten kann308. 4. Die beweisrechtliche Wertung „abgesprochener“ Geständnisse Die Frage nach der Verwertbarkeit des Geständnisses bei gescheiterter Absprache ist heftig umstritten309, die höchstrichterliche Rechtsprechung uneinheitlich, wenn auch in der Tendenz eher die Verwertbarkeit bejahend310, da durch das in Aussicht Stellen einer Strafmilderung die Entschließungsfreiheit des Angeklagten nicht beeinträchtigt sei. Eine Entscheidung des 5. Senats vom 17. Juli 1996311 hatte hingegen für zulässig befunden, dass die Vorinstanz aus dem Fairnessprinzip im Falle eines offen gelegten Dissenses im Rahmen der Absprache ein Geständnisverwertungsverbot folgerte. Das Verwertungsverbot solle allerdings nur zu Gunsten des Angeklagten gelten, so dass das Geständnis bei der Strafzumessung strafmildernd wirken könne, obwohl es für die Schuldfrage unverwertbar bleiben müsse. Ein weiteres geständnisspezifisches Problem stellt sich in den Fällen, in denen ein Angeklagter aufgrund von Geständnissen der Mitangeklagten, die Gegenstand einer verfahrensbeendenden Absprache waren, verurteilt wird. Einem Beschluss des 1. Senats312 zufolge muss die Glaubwürdigkeit des Geständnisses hier in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise gewürdigt werden. 308 In der Entscheidung vom 5.8.2003 – 3 StR 231/03 heißt es wörtlich: „Ein Vertrauenstatbestand ergibt sich nur aus einer in öffentlicher Hauptverhandlung protokollierten Zusage einer Strafobergrenze“, vgl. hierzu auch den Kommentar von Weider, StraFo, 2003, 406, 411. 309 Vgl. zu der Problematik auch den Besprechungsaufsatz zu BGHSt 42, 191 von Beulke/Satzger, JuS 1997, 1072. 310 Kuckein, in: Festschrift für Meyer-Goßner, S. 63, 66; in diesem Sinne BGHSt 38, 102, 105; BGH NStZ 1994, 196, mit zustimmender Anm. von Krekeler; BGH NStZ 1997, 561= StV 1998, 175 ff.; BGH, StV 2000, 407. 311 BGHSt 42, 191, 193, 194. 312 BGH, Beschl. v. 15.1.2003, StV 2003, 264 ff., mit zustimmender Anmerkung von Weider, a. a. O., 267 = NStZ 2003, 383 f., mit Anmerkung von Kargl/Rüdiger, a. a. O., 672 = StraFo 2003, 241, hier wird ausgeführt, dass zwar allgemein der Tatrichter nicht gehindert ist, ein Geständnis für glaubhaft zu halten, auch wenn der Tatvorwurf nur pauschal eingeräumt wird. Die Freiheit der Beweiswürdigung stoße aber da an ihre Grenzen, wo der Angeklagte sich auf ein „bloß prozessuales Anerkenntnis
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Dazu gehören insbesondere die Wertung von Zustandekommen und Inhalt der Absprachen. Die Problematik des Umfangs der Beweiswürdigung eines im Rahmen einer Absprache abgegebenen Geständnisses stellt sich indes nicht nur bei mehreren Angeklagten, sondern auch sonst im Fall gescheiterter Absprachen, da in der Revision geltend gemacht werden kann, die Beweiswürdigung habe sich unzulässig auf ein pauschales Geständnis gestützt313. 5. Der Rechtsmittelverzicht Es gehört zum Wesen der Absprache, dass von allen Beteiligten zumindest stillschweigend vorausgesetzt wird, das Urteil werde in Rechtskraft erwachsen. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Frage des im Rahmen einer Absprache erklärten Rechtsmittelverzichts zeichnete sich bislang vor allem durch ihre ausgesprochene Uneinheitlichkeit aus. Die einzelnen Senate verfolgten unterschiedliche Ansätze. Die Frage war wegen fortbestehender Differenzen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Jahr 2003 Gegenstand eines Anfragebeschlusses des 3. Strafsenates314 und ist dem Großen Senat für Strafsachen durch Beschluss vom 15. Juni 2004315 vorgelegt worden. Ob der Streit nunmehr durch den Antwortbeschluss des Großen Senates vom 3. März 2005316 als beigelegt gelten darf, bleibt abzuwarten. Grundsätzlich bestand zum Rechtsmittelverzicht bereits vor der Entscheidung des Großen Senates weitgehend Einigkeit insofern, als ein solcher vor Urteilsverkündung, selbst wenn er formgerecht erklärt ist, nicht wirksam sein kann317. Bereits kurz vor der Grundsatzentscheidung BGHSt 43, 195 ff. hatte der 2. oder eine nur formale Unterwerfung“ beschränke, StV 2003, 265, so auch BGH NStZ 1999, 92 ff. m. w. N. = StV 1999, 410 f. 313 Vgl. die Sachrüge unzureichender Beweiswürdigung verwerfend BGH StV 1999, 410 f.: „dass die gebotene Überprüfung unterblieben wäre, kann aber nicht schon daraus geschlossen werden, dass es in den Urteilsgründen an einer ausdrücklichen Erörterung der für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit des Geständnisses maßgeblichen Gesichtspunkte fehlt“ (S. 411). 314 Anfragebeschluss des 3. Strafsenates vom 24.7.2003, 3 StR 368/02 und 3 StR 415/02 = StV 2003, 544 ff., sowie den am 15.6.2004 erlassenen Vorlagebeschluss des 3. Strafsenates, 3 StR 368/02 und 3 StR 415/02 = StV 2004, 473. Eine Übersicht zur Rechtsprechung der einzelnen Senate liefert Meyer, Willensmängel beim Rechtsmittelverzicht des Angeklagten im Strafverfahren, S. 308 ff. 315 Vorlagebeschluss 3StR 368/02 u. 415/02, StV 2004, 473, in dem die Rechtsfrage unter drei Gesichtspunkten dem Großen Senat für Strafsachen unterbreitet wird: erstens zur Frage der allgemeinen Zulässigkeit einer Verzichtsvereinbarung im Rahmen einer Absprache, zweitens unter dem Aspekt, ob es zulässig sei, dass das Gericht im Rahmen einer Urteilsabsprache darauf hinwirkt, dass ein Rechtsmittelverzicht erklärt wird, und drittens unter dem Gesichtspunkt, ob auch ein solches Hinwirken zur Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts führt (S. 473). 316 BGH GSSt 1/04, StV 2005, 311 ff. (im Folgenden zitert nach www.bundesge richtshof.de).
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Strafsenat festgestellt, dass allein die Unzulässigkeit einer Absprache nicht die Wirksamkeit eines absprachegemäß erklärten Rechtsmittelverzichts berühre318. Ein in zulässiger Weise erklärter Rechtsmittelverzicht sei als Prozesserklärung grundsätzlich unwiderruflich und unanfechtbar. Entscheidend soll nach dieser Argumentation mithin allein sein, ob der Angeklagte bei der Ausübung seines Rechtmittelverzichts in seiner freien Willensentscheidung in unzulässiger Weise beeinflusst wurde319. Dem stand jedoch die Rechtsprechung des 5. Senates entgegen, nach der ein Rechtsmittelverzicht unter anderem ausnahmsweise dann angefochten werden kann, wenn die Verzichtserklärung auf schwerwiegenden Willensmängeln oder unzulässigen Absprachen beruht320. Diese Lösung schränkte der 5. Senat jedoch dahingehend ein, dass der nach Urteilsverkündung erklärte Rechtsmittelverzicht nicht schon deshalb unwirksam sein soll, weil er Gegenstand einer unzulässigen Absprache war, sondern nur dann, wenn „diejenigen Gründe, die der Zulässigkeit einer solchen Absprache entgegenstehen, zugleich auch zur rechtlichen Missbilligung des Rechtsmittelverzichts führen würden“321. Im Zusammenhang mit der Frage, inwieweit die Unwirksamkeit einer Absprache die Unwirksamkeit des darauf beruhenden Rechtsmittelverzichts nach sich ziehe, wurde auch der Einfluss der negativen Beweiskraft der Sitzungsprotokolls nach § 274 StPO diskutiert: Der Vortrag der Unzulässigkeit einer Urteilsabsprache, die nicht Eingang in das Sitzungsprotokoll gefunden hat, vermag nämlich nach Auffassung des 4. Strafsenats von vornherein die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts nicht in Frage zu stellen. Dem stehe, soweit es um Vorgänge in der Hauptverhandlung gehe, gemäß § 274 StPO die negative Beweiskraft der Sitzungsniederschrift entgegen322.
317 Vgl. hierzu nur Meyer-Goßner, § 302 Rn. 14, Löwe-Rosenberg/Hanack, § 302 Rn. 10; SK-StPO/Frisch, § 302 Rn. 9; so auch für die Absprachenpraxis BGHSt 43, 195, 205. 318 BGH StV 1997, 572 f. 319 Vgl. zu dieser Sicht bereits BGHSt 45, 51, 53; BGH StV 2001, 220; wie auch die jüngere Entscheidung 4 StR 84/04, in der die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts mit der „unzulässigen Willensbeeinflussung“ begründet wird, die darin liege, dass der Angeklagte die „insistierende Aufforderung“ des Vorsitzenden, als eine konkludente Drohung mit der Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls verstehen musste (S 10); siehe auch die Anmerkung zu dieser Entscheidung von Eidam, StV 2005, 201. 320 BGH StV 1999, 412, 413. Zur Frage, wie sich die Beteiligung an einer unzulässigen Abspache auf die Entscheidungsautonomie beim Rechtsmittelverzicht auswirkt, vgl. Meyer, Willenmängel beim Rechtsmittelverzicht des Angeklagten im Strafverfahren, S. 288 ff. 321 BGH StV 1999, 412, 413, mit zahlreichen Verweisen; vgl. auch den Beschluss des 5. Senates, BGH StV 2004, 360, 361, zur Unwirksamkeit eines Rechtmittelverzichts im Zusammenhang mit einer Erklärung der Staatsanwaltschaft zur Haftverschonung im Schlussvortrag mit der Begründung, dass „eine Verständigung in unstatthafter Weise mit der Zusage eines Rechtsmittelverzichts verknüpft werden sollte“.
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Kap. 2: Rechtliche Würdigung der deutschen Absprachenpraxis
Der 3. Senat des BGH bekräftigte in dem bereits erwähnten Anfragebeschluss eine im Verhältnis zur Rechtsprechung des 1. und 2. Senats strengere Haltung zum Rechtsmittelverzicht, indem er feststellte, dass die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts eine „zwangsläufige Folge“ sei, und zwar „des vorangegangenen Verstoßes gegen das Verbot, einen Rechtsmittelverzicht zum Bestandteil der dem Urteil vorausgehenden Absprache zu machen“323. Der 1. und der 2. Strafsenat hielten jedoch auch auf Anfrage des 3. Senates an ihrer entgegenstehenden Rechtsprechung fest. Die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts werde nicht schon dadurch ausgeschlossen, dass dieser im Rahmen einer Absprache in Aussicht gestellt worden sei, dass das Tatgericht auf ihn hingewirkt habe oder 322 Vgl. hierzu insbesondere BGH NStZ 1999, 364 f. = StV 1999, 411; hier stellt der 4. Strafsenat im Zusammenhang mit der von der Revision aufgeworfenen Frage, ob die dem Rechtsmittelverzicht zugrunde liegende Absprache möglicherweise unzulässig ist, fest, dass dieser Vortrag die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts nicht in Frage stellen könne, da dem die negative Beweiskraft des Sitzungsprotokolls nach § 274 StPO entgegenstehe. Diesen Ansatz einschränkend hebt der 4. Senat aber in einer folgenden Entscheidung hervor, dass die negative Beweiskraft des Protokolls sich nur auf die Verbindlichkeit der in der Hauptverhandlung getroffenen Absprache beziehe, nicht aber die freibeweisliche Feststellung eines rechtlich unzulässigen Geschehens, wie die Erklärung eines Rechtsmittelverzichts vor Urteilsverkündung, hindere, BGHSt 45, 227 = StV 2000, 4; mit grundsätzlich zustimmender („freilich nur im Sinne des geringsten Übels,“ S. 67) Anmerkung von Weigend, StV 2000, 63 ff.; siehe auch Anmerkung von Rieß, NStZ 2000, 96. 323 BGH, Anfragebeschluss des 3. Senates vom 24.7.2003, 3 StR 368/02 und 415/ 02, S. 12 = StV 2003, 544, 546 = StraFo 2003, 426, 428; zustimmend Meyer-Goßner, StraFo 2003, 401, 406; vgl. auch die ausführliche, im Wesentlichen zustimmende Anmerkung von Meyer, StV 2004, 41 ff.; differenzierend zwischen den beiden der Anfrage zugrunde liegenden Verfahren die Anmerkung von Grunst, NStZ 2004, 54; ablehnend hingegen Mosbacher, NStZ 2004, 52 ff., mit der Begründung, die Entscheidung überzeuge dogmatisch nicht und führe zu unlösbaren „Abgrenzungsproblemen“. Wenn Mosbacher dem 3. Strafsenat vorwirft, es scheine ihm weniger um die Frage unzulässiger Willensbeeinflussung zu gehen, als vielmehr um „die Schaffung eines neuen Instruments zur Sanktionierung fehlerhafter Verfahrensabsprachen und um die Erweiterung seiner Möglichkeiten, solche Verfahren trotz erklärten Rechtsmittelverzichts in der Revision überprüfen zu können“, so ist gerade dieses „Misstrauen gegenüber der tatrichterlichen Praxis bei Absprachen“ begrüßenswert, denn nur ein höheres Maß an Kontrolle kann gewährleisten, dass der Rechtsmittelverzicht nicht auf der Grundlage einer unzulässigen Willensbeeinflussung wirksam wird. Vgl. zur jüngeren, dem Anfragebeschluss entgegenstehenden Rechtsprechung des 1. Senates den Beschluss vom 30.3.2004, 1 StR 01/04, in dem festgestellt wird, dass die Unwirksamkeit eines im Rahmen einer Absprache erklärten Rechtsmittelverzichts nicht in Betracht käme, wenn „für die Annahme eines im Hinblick auf vorangegangenes Verfahrensgeschehen rechtserheblichen Willensmangels des Angeklagten bei Abgabe des Rechtsmittelverzichts kein Raum“ sei (S. 7). Die bisherige Rechtsprechung des 1. und 2. Strafsenates befürwortend, Schröder, StraFo, 2003, 412, 416, mit der Begründung „eine Lösung für die grundlegenden Probleme“ könne „nur im Selbstverständnis der Beteiligten gefunden werden“. Der 5. Senat hat durch Beschluss 5 Ars 61/03 = StV 2004, 4, mitgeteilt, dass er unter Aufgabe eigener entgegenstehender Rechtsprechung den im Tenor des Anfragebeschlusses bezeichneten Rechtssätzen zustimme. Der 4. Strafsenat 4 Ars 32/03 = StV 2004, 4, hat den Rechtssätzen ebenso zugestimmt unter dem Hinweis, dass eine eigene Rechtsprechung diesen nicht entgegenstehe.
IV. Absprachen im Spiegel der jüngeren Rechtsprechung
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dass er gar Teil einer Absprache gewesen sei. Die Unwirksamkeit sei vielmehr erst bei „schwerwiegenden Einwirkungen auf die Willensentschließungsfreiheit“ in Betracht zu ziehen324. Der Beschluss des Großen Senates in diesem äußerst prekären Bereich strafprozessualer Kommunikation hat zwar eine eindeutige Klärung zur Frage der Zulässigkeit von Rechtsmittelerklärungen gebracht, weiterführende Fragen jedoch weitgehend unbeantwortet gelassen. Die Entscheidungsformel liefert die folgenden Vorgaben: „1. Das Gericht darf im Rahmen einer Urteilsabsprache an der Erörterung eines Rechtsmittelverzichts nicht mitwirken und auf einen solchen Verzicht auch nicht hinwirken. 2. Nach jedem Urteil, dem eine Urteilsabsprache zugrunde liegt, ist der Rechtsmittelberechtigte, der nach § 35a S. 1 StPO über ein Rechtsmittel zu belehren ist, stets auch darüber zu belehren, dass er ungeachtet der Absprache in seiner Entscheidung frei ist, Rechtsmittel einzulegen (qualifizierte Belehrung). Das gilt auch dann, wenn die Absprache einen Rechtsmittelverzicht nicht zum Gegenstand hatte. 3. Der nach einer Urteilsabsprache erklärte Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels ist unwirksam, wenn der ihn erklärende Rechtsmittelberechtigte nicht qualifiziert belehrt worden ist.“325 Zwar ist die klare Positionierung des Großen Senates für die Unzulässigkeit eines Rechtsmittelverzichts, an dem das Gericht mitgewirkt oder auf den es gar hingewirkt hat, als ein wichtiger Schritt zu verstehen, der geeignet sein kann, die unzulässige Druckausübung auf den Angeklagten im Wechselspiel der gegenseitigen Versprechen einzudämmen. Es bleibt jedoch die Frage, wie die „qualifizierte Belehrung“ all das leisten können soll, was der Senat ihr abverlangt. Denn ein entsprechender Hinweis auf die weiterhin bestehende Möglichkeit der Rechtsmitteleinlegung soll für die Heilung eines etwaigen Verstoßes gegen das „Erörterungsverbot“ notwendig aber auch hinreichend sein. Zweifel, ob ein derartiger Hinweis den Anfoderungen an die Gewährleistung freier Willensentschließung gerecht werden kann, ergeben sich umso mehr, als der Senat selbst zugesteht, mit dieser Lösung einen nicht unerheblichen Teil revisions324 BGH, Beschl. vom 26.11.2003, 1 ARs 27/03 = StV 2004, 115 ff. = StraFo 2004, 57 ff., mit kritischer Anmerkung von Salditt, sowie BGH, Beschl. vom 28.01. 2004, 2 Ars 330/03. 325 BGH GSSt 1/04, S. 2; vgl. zu dieser Entscheidung auch die Stellungnahme in dem Beitrag „Modelle kensensualer Erledigung des Hauptverfahrens“ von Altenhain/ Haimerl, GA 2005, S. 281 ff.; die in dem vom Großen Senat aufgestellten Erfordernis einer „qualifizierten Belehrung“ eine Reduzierung des „Erörterungsverbotes“ auf ein „rechtliches Informiertsein“ sehen, da die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts nach dieser Entscheidung „vielmehr – ausschließlich – vom Ausbleiben der ,qualifizierten Belehrung‘“ abhinge (S. 298). Und in der Tat misst die Entscheidung der „qualifizierten Belehrung“ die Wirkung eines Allheilmittels gegen jedwede Form der Willensbeeinträchtigung bei, wenn eine Verzichtserklärung unter dieser Voraussetzung grundsätzlich wirksam und unwiderruflich sein soll, „weil sie in voller Kenntnis von Bedeutung und Tragweite des Verzichts abgegeben worden ist“ (a. a. O., S. 32).
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Kap. 2: Rechtliche Würdigung der deutschen Absprachenpraxis
rechtlicher Kontrolle dem Verantwortungsbereich der Tatgerichte zu überlassen. Bei den Tatrichtern liege es, dass das „Korrektiv der qualifizierten Belehrung nicht etwa nur als formelhafte, tatsächlich nicht ernstgemeinte Prozeßhandlung ausgestaltet wird.“326 Dass die „qualifizierte Belehrung“ eine ausreichende Sicherung gegen mögliche Willensbeeinträchtigungen darstellen kann, ist angesichts der allgemein wahrgenommenen Diskrepanzen zwischen den Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung und ihrer Umsetzung in der Praxis der Strafverfahren kaum zu erwarten. 6. Ergebnis: Das Dilemma der Rechtsprechung Die Rechtsprechung ist gefangen zwischen dem Bestreben, den unleugbaren Nutzen, den die informellen Vorgehensweisen für alle professionell am Verfahren Beteiligten mit sich bringt, zu legitimieren, und der nüchternen Erkenntnis, dass gerade die praktizierten Informalitäten vor dem Hintergrund der geltenden Prozessordnung wohl nicht zu legitimieren sind327. So ist zwar eine gewachsene, unter den einzelnen Senaten noch divergierende Sensibilität für die Gefahren der Praxis zu verzeichnen, doch die Grenzkriterien bleiben im Fluss. Anderes ist auch so lange nicht zu erhoffen, wie der BGH nicht das hehre Ziel aufgibt, die Absprachenpraxis mit der Aufklärungspflicht des Gerichts versöhnen zu können. Will die Rechtsprechung an dieser Voraussetzung ernsthaft festhalten, so müsste sie den wesentlichen Teil der Absprachenpraxis, und zwar gerade die „echten“ Verständigungen im Sinne dieser Untersuchung, für unzulässig erklären. Durch die Entscheidung des Großen Senates für Strafsachen zum Rechtsmittelverzicht ist der Ruf nach abschließender Klärung und Regelung der Absprachenpraxis sicher nicht obsolet geworden, sondern die unüberbrückbaren Wider326
BGH GSSt 1/04, S. 32. Vom „Dilemma der Rechtsprechung“ spricht Weider, Vom Dealen mit Drogen und Gerechtigkeit, S. 134, das darin liege, dass die Rechtsprechung im Bestreben, die Praxis der Absprachen „mit den Grundprinzipien der Strafprozeßorndnung in Übereinstimmung zu bringen“ sich selbst letztlich „trotz anders lautender Formulierungen und Postualte“ als die „Anerkennung der gerade als unzulässig bezeichneten Absprachenpraxis“ erweise. Nunmehr hat selbst der BGH in der bereits zitierten Entscheidung des Großen Senates für Strafsachen GSSt 1/04, anerkannt: „Die Strafprozessordnung in ihrer geltenden Form ist jedoch am Leitbild der materiellen Wahrheit orientiert, die vom Gericht in der Hauptverhandlung von Amts wegen zu ermitteln und der Disposition der Parteien weitgehend entzogen ist, Versuche der obergerichtlichen Rechtsprechung, Urteilsabsprachen, wie sie in der Praxis inzwischen in großem Umfang üblich sind, im Wege systemimmanenter Korrektur von Fehlentwicklungen zu strukturieren oder [. . .] unter Schaffung neuer, nicht kodifizierter Instrumentarien ohne Bruch in das gegenwärtige System einzupassen, können daher nur unvollkommen gelingen und führen stets an die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung (S. 34). 327
V. Ergebnis
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sprüche werden vielleicht sogar deutlicher als zuvor. Der große Senat bleibt der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung insofern verhaftet, als er für die Mindestbedingungen für eine zulässige Absprache an die Kriterien aus der Grundsatzentscheidung des 4. Senates von 1997 anknüpft und somit insbesondere das „Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung“ als einen den verfassungsrechtlichen Anforderung entsprechenden Grundsatz des rechtsstaatlich geordneten Strafverfahrens in den Vordergrund rückt328. Auf der anderen Seite weist die jüngste Entscheidung aber neue Wege auf. Eine der konsensualen Verfahrensgestaltung geschuldete Relativierung der Amtsaufklärungspflicht klingt hier nicht nur an, sondern der große Senat stellt vielmehr ausdrücklich die bahnbrechende Frage, „ob und in welchem Maße im Revisionsverfahren – mit Blick auf die Besonderheiten des Abspracheverfahrens, etwa unter dem Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens – bestimmte Verfahrensrügen, namentlich die Aufklärungsrügen ausgeschlossen sein können“329. Das Festhalten an der bestmöglichen Ermittlung des Sachverhaltes und somit an der Orientierung an einem im Wesentlichen materiell und außerprozessual begründeten Prozessgegenstand und die nunmehr ausdrückliche Erwägung eines Ausschlusses der Aufklärungsrüge wegen widersprüchlichen Prozessverhaltens, bleibt aber ein nicht zu lösender Widerspruch, in dem sich die Antinomien der höchstrichterlichen Rechtsprechung fortsetzen. Es bleibt nunmehr abzuwarten, ob die Öffnung hin zu einer Einschränkung der Aufklärungsrüge im konsensualen Verfahren möglicherweise einen Wendepunkt in der Behandlung des Ermittlungsgrundsatzes bei „abgesprochenenen“ Verfahren markieren wird.
V. Ergebnis: Absprachen als Zeichen eines gewandelten Strafprozesses Für die einen sind Absprachen die „Krise im Strafprozess“330, die „Maßnahmen zur Rettung des Strafprozesses“331 unbedingt erforderlich macht, für die anderen notwendiges Allheilmittel für die Entlastung der überforderten Justiz332. Gründe für die derart divergierenden Bewertungen der informellen Praxis 328
GSSt 1/04, S. 14 ff. GSSt 1/04, S. 18. 330 Vgl. den Titel des Aufsatzes von Schünemann: „Die informellen Absprachen als Überlebenskrise des deutschen Strafverfahrens“, in: Festschrift für Baumann, S. 361 ff. 331 Meyer-Goßner, DRiZ 1996, 180, 183. 332 In diesem Sinn insbesondere Böttcher/Dahs/Widmaier, NStZ 1993, 375 ff.; kritische Gegendarstellung zu dem zitierten Beitrag bei Schünemann, StV 1993, S. 657 ff.; als „das Mittel“ zur Reduzierung der Überlastung der Justiz insbesondere im Bereich der Wirtschaftskriminalität bezeichnet Dahs schon 1988, NStZ, S. 153, 159, die Absprachen; vgl. auch Gerlach, S. 209. 329
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Kap. 2: Rechtliche Würdigung der deutschen Absprachenpraxis
dürften insbesondere in der Zweischneidigkeit des Phänomens liegen. Wenn auch nicht bestritten werden kann, dass das stille Aushandeln auf den Fluren so manchem viel Arbeit erspart, so kann doch auch nicht verhehlt werden, dass diese Ökonomisierung des Strafverfahrens ohne gesetzliche Grundlage die Schutzfunktion des Prozesses unterlaufen kann, da sie für den Beschuldigten nicht zu unterschätzende Gefahren in sich birgt. Eine rechtliche Wertung der Absprachenpraxis muss dementsprechend auf der einen Seite den Bedürfnissen der Praxis insoweit Rechnung tragen, als diese das alltägliche Erscheinungsbild der Absprachen prägen. Es macht keinen Sinn, sich die Praxis im Sinne einer theoretischen Fundierung „schön zu reden“, wie es beispielsweise in der Formulierung von der „Unverbindlichkeit“ der Strafmaßprognosen immer wieder geschieht. Auf der anderen Seite muss sich auch jede praxisorientierte Wertung den berechtigten Zweifeln der Wissenschaft stellen. Die Verbindung dieser Aufgaben führt direkt an die Grundfeste des Strafprozesses, nämlich zur Pflicht der Wahrheitserforschung und ihrer Relativierung im neuen, konsensorientierten Strafprozess. So kann die Praxis Hinweise dafür liefern, dass das Verfahren sich „inoffiziell“ mehr und mehr auf den Konsens hin orientiert, und die Zweifel der Wissenschaft wiederum rufen zu den berechtigten Fragen nach dem zugrunde liegenden Gerechtigkeitsverständnis auf 333. Einigkeit besteht weitgehend darüber, dass Absprachen Ausdruck einer neuen Konsensorientierung im Strafprozess sind334. Konsensorientierung verträgt sich mit der Verpflichtung auf die materielle Wahrheit schlecht, denn jedes gemeinsame Suchen nach einem einvernehmlichen Ergebnis ist maßgeblich von den zugrunde liegenden Interessen geprägt, die sich gerade nicht notwendig an der materiellen Wahrheit orientieren müssen. Konsens ist in der Konzeption eines Parteienprozesses willkommenes Mittel zur Erforschung einer Wahrheit, die nicht notwendig auf die Rekonstruktion eines tatsächlichen Geschehens gerichtet sein muss; aus der Perspektive der Instruktionsmaxime hingegen wird das Einvernehmen zu einem systemfremden Kompromiss zwischen Wahrheitspflicht und Verfahrenseffizienz. Dass Misstrauen dem Konsens gegenüber ist so groß, dass die Einigkeit der Parteien nicht etwa die Überzeugung des Gerichts ersetzen können soll, sondern dass von all 333 Schünemann, StV 1993, 657, 662 hat den Wandel der Gerechtigkeitsvorstellungen, dessentwegen die Absprachen als legitim empfunden werden, zusammenfassend auf drei Phänomene zurückgeführt: erstens die „Entzauberung“ des Prozessziels der „materiellen Wahrheit durch die Hauptverhandlung“ durch moderne Erkenntnisse der Sozialwissenschaften und die Erfahrung mit „Monsterprozessen“, zweitens die fundamentale Neuorientierung des materiellen Strafrechts von einem Vergeltungsdenken zu einem zweckrationalen Präventionsprinzip und schließlich die gewachsene Anerkennung der Autonomie des Beschuldigten. 334 Vgl. den Titel der Dissertation von Steinhögl: Der strafprozessuale Deal, Perspektiven einer Konsensorientierung im Strafrecht; siehe auch Weßlau, Das Konsensprinzip, S. 85, Fn. 307; Sinner, Der Vertragsgedanke im Strafprozeß, S. 205 f.
V. Ergebnis
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denen, die die Absprachenpraxis in das herrschende Prozessverständnis integrieren wollen, in unehrlicher Verschleierung des Wesens einvernehmlicher Verfahrensbeendigung beteuert wird, dass eine Absprache den Amtsermittlungsgrundsatz nicht außer Kraft setzen darf und dies auch nicht etwa schon zwangsläufig tun muss. Der mehr oder minder als latent gewertete Widerspruch zwischen Konsensorientierung und Wahrheitspflicht zieht sich durch die gesamte Diskussion zu den Absprachen. Die Befürworter der Praxis fühlen sich im Rechtfertigungszwang, Wahrheit und Konsens zu versöhnen335, die Zweifler berufen sich gerade auf deren Inkompatibilität 336. Sämtliche Versuche, Wahrheitspflicht und Konsensorientierung über den Weg methodischer Erkenntnistheorie einander anzunähern und zu versöhnen gehen aber, wie erwähnt, an einem gewichtigen Punkt ins Leere. Konsensorientierung ist nicht immer und nicht notwendig auf materielle Wahrheit gerichtet; dies gilt es unmissverständlich einzugestehen. Konsensorientierung beinhaltet die Befugnis der Parteien, über den Verfahrensgegenstand zu verfügen. Unmittelbares Ziel eines Konsenses im Strafverfahren ist nicht unbedingt die Feststellung historischer Wahrheit, sondern insbesondere ein Interessenausgleich in seiner Rechtsfrieden schaffenden Funktion. Daher kann der Verweis auf andere Rechtsordnungen, in denen die Vorstellung vorherrscht, dass Wahrheit besser im freien Spiel der Kräfte, also in dem dialektischen Verhältnis von Verteidigung und Anklage, als durch richterliche Instruktion entstehe, zumindest für einen großen Teil der Absprachen nicht gelten. Hier geht es gerade nicht darum, dass die freie Verfügung durch die Parteien über den Verfahrensinhalt die beste Methode zur Findung einer materiellen Wahrheit sein soll, sondern darum, dass die freie Verfügung über den Verfahrensgegenstand auch bewusst gegen den Grundsatz der Ermittlung materieller Wahrheit eingesetzt werden kann. Alle Vorschläge einer Integrierung der Absprachen ohne ein neues Fundament des Strafprozesses gehen an dieser wesentlichen Eigenschaft der Absprachen vorbei und können damit nicht mehr als eine Scheinlösung sein. Aber der Ruf nach dem Gesetzgeber, die Absprachen positivrechtlich in das geltende Prozessmodell zu fügen, kann nicht hinreichen, sich dem Bereich unehrlicher Kompromisse zu entziehen. Gefordert ist vielmehr ein radikaler Schritt zum Bekenntnis einer großen Wende im Strafprozess. Erneut sei darauf hingewiesen, dass es nicht Ziel dieser Arbeit ist, rein funktionalistisch festzustellen, dass die Integrierungsvorschläge in den geltenden Strafprozess an der Realität vorbeigehen und es deshalb unvermeidlich ist, den Strafprozess zu „wenden“. Nicht weil 335
So z. B. Volk, in: Festschrift für Salger, S. 412; Honert, ZStW 106 (1994), 427,
442. 336
Vgl. Gössel, in: Festschrift für Meyer-Goßner, S. 186, 200.
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Kap. 2: Rechtliche Würdigung der deutschen Absprachenpraxis
der status quo der Praxis ist, wie er ist, sondern weil die Praxis sich nicht nur aus pragmatischen, sondern tiefer gehenden guten Gründen so entwickelt hat, ist darüber nachzudenken, wie ein gewandelter Strafprozess aussehen könnte. Ziel der Grundlegung war daher, den theoretischen Grundstein dafür zu legen, dass das Ergebnis der rechtlichen Würdigung, nämlich die Forderung nach einem grundlegenden Umdenken im Strafprozess, nicht funktionalistisch einer effizienten Praxis das Wort redet, sondern sehr wohl in einem gewandelten Gerechtigkeitsverständnis verankert ist. Unter dieser Prämisse kann die Aufgabe, den aufgezeigten Fehlentwicklungen in der Absprachenpraxis entgegenzuwirken, neu gestellt werden.
Kapitel 3
Rechtliche Würdigung des patteggiamento In Italien gilt seit 1989 eine neue Strafprozessordnung. Die Änderungen, mit denen die alte, als lang überholt wahrgenommene Verfahrensordnung dem modernen Verständnis eines rechtsstaatlichen Strafprozesses angepasst werden sollte, waren so tief greifender Natur, dass Einigkeit darüber bestand, eine grundlegende Reform und daher vollständige Neukodifizierung des gesamten Strafverfahrens sei erforderlich geworden. Im Rahmen dieser Neuorientierung des Strafverfahrens fand auch das so genannte patteggiamento, das den dieser Untersuchung zugrunde liegenden Absprachen am nächsten kommt, als eine Variante verschiedener konsensualer Möglichkeiten der Verfahrenserledigung, eine neue gesetzliche Form. Bevor sich die Untersuchung der konkreten italienischen Lösung näher widmet, ist es unerlässlich, zunächst einen kurzen historischen Abriss zur Entwicklung der geltenden italienischen Strafprozessordnung zu liefern. Denn nur aus dieser rechtshistorisch gewachsenen Perspektive und den aus ihr resultierenden Erwartungen an den neuen Prozess lässt sich verstehen, in welche Richtung die große Reform strebte und auf welche Abweichungen von dem 1989 eingeschlagenen Weg sie mehr und mehr geriet. Vornehmlich aus Gründen der Pragmatik und Effizienz wurde die Reform in ihrem kontradiktorischen Selbstverständnis Schritt für Schritt zurückgeschraubt, indem die Grundsätze eben dieses reformierten Modells zunehmend relativiert wurden. Es soll daher hier aufgezeigt werden, warum diese Entwicklung berechtigte Krtik heraufbeschworen hat und dies noch immer tut; es ist aber ebenso herauszuarbeiten, warum die Tendenz, in der sich der reformierte Prozess bewegt, durchaus auch solche Aspekte umfasst, die nicht nur aus Erwägungen der Verfahrensökonomie gerechtfertigt sind, sondern die dem Konsens im Strafverfahren eine neue, eigenständige – nicht nur pragmatisch zu rechtfertigende – Rolle beimessen.
I. Historischer Abriss zum italienischen Strafprozess Nur in ganz groben Zügen soll hier der Werdegang der großen Prozessreform von 1989 nachgezeichnet werden, um im Folgenden die Regelung des patteggiamento in das rechtshistorische und rechtspolitische Gesamtgefüge der Neugestaltung der Prozessordnung einordnen zu können.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
1. Der Codice Rocco von 1930 Bis 1989 war in Italien der Codice Rocco von 1930 in Kraft, benannt nach Alfredo Rocco, dem damaligen Justizminister. Das Gesetz entstammte der faschistischen Tradition und war gekennzeichnet durch seine inquisitorischen, autoritären Strukturen, die wichtige Errungenschaften zunichte machten, die die erste gesamtitalienische Strafprozessordnung von 1913 als ein klares Mischmodell mit bereits ausgeprägter Tendenz zu akkusatorischen Elementen auf der Grundlage des napoleonischen „code d’instruction criminelle“ geschaffen hatte. So wurde die Verteidigung aus dem nun wieder heimlich durchgeführten Vorverfahren durch den Codice Rocco vollkommen ausgeschlossen. Straftaten in erster Instanz und in Zuständigkeit des Amtsrichters wurden von diesem, der später selbst in der Sache entschied, angeklagt. Lediglich für die schwere Kriminalität war die Staatsanwaltschaft Anklagebehörde (Art. 74 c.p.p. 1930). Der Einzelrichter vereinte damit in einer Person Anklage, Ermittlungen und Urteil. Bei allen Straftaten, die nicht in der Zuständigkeit des Amtsrichters lagen, war der Untersuchungsrichter als Herr des Vorverfahrens zuständig für die Durchführung der Ermittlungen (Art. 296 c.p.p. 1930) und entschied auch über die Eröffnung des Hauptverfahrens (Art. 374 c.p.p. 1930). Das Hauptverfahren baute zwar auf den Maximen der Mündlichkeit und Öffentlichkeit auf, blieb in praktischer Konsequenz aber wesentlich von den geheimen Ermittlungen bestimmt, da es von den Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens bestimmt war und letztlich lediglich eine rein bestätigende Funktion hinsichtlich der zuvor gesammelten Beweise hatte. Das Urteil wurde nicht aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung, sondern aus dem Inbegriff der Anklage gewonnen. Der Untersuchungsrichter war zwar auf die Wahrheit verpflichtet (Art. 296, 299 c.p.p. 1930). Die Pflicht, auch zugunsten des Angeklagten zu ermitteln, war aber explizit nicht vorgesehen. Der Sprachgebrauch des Gesetzes, der schon in der Ermittlungsphase den „Angeklagten“ (imputato) kennt (Art. 365 ff. c.p.p. 1930), und als Aufgabe der Kriminalpolizei die Ermittlung der „Schuldigen“ vorsieht, zeugt von einer schon institutionell verstandenen Voreingenommenheit und somit mangelnder Objektivität des ermittelnden Organs, die darin ihren Höhepunkt erfährt, dass die Unschuldsvermutung nicht den „Rang eines Bürgerrechts“1 hatte. Formell handelte es sich zwar noch immer um ein Mischmodell, in der Sache überwogen indes eindeutig die inquisitorischen Elemente2. Es war ein Schritt zurück hinter die Grundlagen dessen, was die Aufklärung auch für das Verständnis des Strafprozesses gebracht hatte und damit hinter die Wurzeln des so genannten kontinentaleuropäischen Prozesses. 1 2
Stile, ZStW 104 (1992), 429. Tonini, Manuale di procedura penale, S. 29.
I. Historischer Abriss zum italienischen Strafprozess
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Das einheitliche Bild der faschistischen, reaktionären Strafprozessordnung beruhte im Wesentlichen auf dem Gedanken negativer Generalprävention3 und brach mit dem freiheitlichen Gedankengut, das den Strafprozess in seiner Doppelfunktion eben nicht nur als Strafverfolgungs-, sondern auch als Schutz- und Abwehrmittel versteht4. 2. Die Grundsätze des Strafprozesses in der Verfassung von 1948 Am ersten Januar 1948 trat die italienische Verfassung in Kraft. Sie markiert das entscheidende Datum der Rückkehr zur freiheitlich demokratischen Rechtsordnung. In diesem Bestreben verankerten die Verfassungsgeber auch wesentliche Garantien des Strafverfahrens. Dies bedeutete eine entscheidende Neuerung, da die Grundsätze des Strafverfahrens im Statuto albertino, der liberalen Verfassung, die König Karl Albert 1848 dem Königreich Sardinien-Piemont gegeben hatte und die sowohl in dem 1861 geeinigten Italien erhalten als auch in der faschistischen Diktatur Mussolinis formell in Geltung blieb, kaum Erwähnung fanden5. Die wesentlichen Garantien des Strafprozesses sollten nun verfassungsrechtlich abgesichert werden. Verfassungsrang erlangten das in jedem Zeitpunkt und Grad des Verfahrens unverletzliche Recht auf Verteidigung6, das Legalitätsprinzip7, und der Grundsatz des gesetzlichen Richters8. Gebrochen werden sollte mit der Tradition des Codice Rocco, der die Trennung der Verfahrensherrschaft im Ermittlungs- und Hauptverfahren nicht kannte. Entscheidende Innovation des verfassungsrechtlich gezeichneten Bildes vom Strafprozess ist also die Abkehr vom streng inquisitorischen System. Die nunmehr in der Verfassung garantierte Unschuldsvermutung vervollständigt dieses Bild9. Dass die Verfassung das Legalitätsprinzip ebenso berücksichtigt (Art. 112 cost.) ist als eine Wahl für ein gemischtes System zu verstehen, in dem die Gleichheit der Strafverfolgung durch den Anklagezwang gewährleistet werden soll.
3
Vgl. Stile, ZStW 104 (1992), 429. Vgl. zum „spirito reazionario“ des Codice Rocco insbesondere, Cordero, Procedura penale, S. 85 f. 5 Vgl. Tonini, Manuale di procedura penale, S. 31. 6 Art. 24 Abs. 2 cost. lautet im Original: „La difesa è diritto inviolabile in ogni stato e grado del procedimento“. 7 Art. 112 cost. lautet im Original: „Il pubblico ministero ha l’obbligo di esercitare l’azione penale.“ 8 Art. 25 Abs. 1 cost. lautet im Original: „Nessuno può essere distolto dal giudice naturale precostituito per legge“. 9 Art. 27 Abs. 2 cost.: „L’imputato non è considerato colpevole sino alla condanna definitiva.“ 4
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
Die Frage, ob sich die Verfassung von 1948 in ihrem Entwurf des Strafprozesses eher akkusatorisch oder inquisitorisch inspiriert sah, ist zwar immer wieder gestellt worden10 , eine klare Akzentsetzung für die akkusatorischen Elemente dürfte vor dem Hintergrund der historischen Situation, die einen deutlichen Bruch mit dem faschistisch geprägten Prozess erstrebte, jedoch in jedem Fall zu erkennen sein. Allerdings ist hervorzuheben, dass diejenigen Elemente akksuatorischer Prägung, die sich bereits in der Verfassung von 1948 finden, sämtlich auch im deutschen Strafprozess verankert sind. Verwiesen sei hier nur auf die Unschuldsvermutung und die Trennung der einzelnen Verfahrensstadien. Das führt dazu, dass die Mischformen der beiden Prozessmodelle vor der großen Reform von 1989 durchaus vergleichbar waren. Der in der Verfassung von 1948 gezeichnete Strafprozess war zwar akkusatorisch geprägt in dem Sinne, dass der Anklagegrundsatz verwirklicht war; aber er war ebenso wenig kontradiktorisch wie der geltende deutsche Strafprozess. Nun hat sich aber in der italienischen Wissenschaft mehr und mehr die Überzeugung durchgesetzt, dass das akkusatorische Modell ein kontradiktorisches Verfahren verlangt11 . Die Tendenz zu verfassungskonformer Auslegung im Sinne des Akkusationsprinzip lässt sich insbesondere an der Rechtsprechung des Verfassungsgericht verdeutlichen, das seit 1956 in mehr als hundert Fällen die Verfassungswidrigkeit von Normen des Codice Rocco, die eng mit dem Inquisitionsprinzip verbunden waren, erklärt hat12. 3. Das Ermächtigungsgesetz zur Reform des Strafprozesses von 1974 Die grundlegende Umgestaltung des Strafverfahrens brauchte Jahrzehnte. Sie begann vor rund vierzig Jahren mit einem ersten parlamentarischen Ermächtigungsgesetz, mit dem die Regierung mit der Reform des Strafprozesses betraut wurde. Bereits in diesem Gesetz 108/197413 zu einer Ermächtigung für eine grundlegende Reform des Strafprozesses fanden sich allgemeine Grundsätze zur 10
Vgl. Tonini, Manuale di procedura penale, S. 33. Zur Gleichstellung des akkusatorischen Prinzips mit kontradiktorischen oder dialektischen Verfahrensmethoden vgl. statt vieler, Tonini, a. a. O., S. 10, wo es heißt, dass das akkusatorische System auf einem dialektischen Prinzip basiere, das sich der „Grenzen der menschlichen Natur“ bewusst und der Überzeugung ist, dass „keine Person das Wahre und Gerechte verbürgen könne“; daher könne man die Wahrheit umso besser erreichen, je mehr die prozessualen Funktionen zwischen den Verfahrensbeteiligten aufgeteilt sind, die „entgegengesetzte Interessen verfolgen.“ 12 Vgl. Tonini, a. a. O., S. 33; Stile, ZStW 104 (1992), 97, 98, der die „Ausbesserungsarbeiten“ des Gesetzgebers, die Reaktion auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts waren, versteht als Grundlage eines „Inquisitionsprozesses, der dem Angeklagten bestimmte rechtliche Garantien gewährte“. 13 Veröffentlicht in der Gazz. uff. vom 26. April 1974, Nr. 108. 11
I. Historischer Abriss zum italienischen Strafprozess
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Neugestaltung mit stärker akkusatorisch geprägtem Charakter14. So war schon in diesen Vorschriften die Teilnahme der Anklage und Verteidigung als gleichberechtigte Parteien an jedem Abschnitt des Verfahrens vorgesehen, wie auch die Einführung des Mündlichkeitsprinzips. Auch die stärkere Bedeutung der Hauptverhandlung war ausgewiesenes Ziel der Reformermächtigung von 1974. In ihr sollten Unmittelbarkeits-, und Konzentrationsmaxime als deren Wesensmerkmale hervorgehoben werden. Damit sollte die Hauptverhandlung der eigentliche Verfahrensabschnitt für die Beweisaufnahme und die Überzeugungsbildung des Richters sein. Die Arbeiten zur Umsetzung der Ermächtigung, mit denen eine vom Justizministerium beauftragte Kommission seit dem Oktober 1974 beschäftigt war, wurden im März 1978 in einem neuen Gesetzentwurf vorgelegt15. Der grundsätzliche Defekt des Ermächtigungsgesetzes von 1974 bestand gerade in dem Gefälle zwischen erklärtem Ziel, nämlich stärkerer Ausrichtung zum akkusatorischen Modell, und der Beibehaltung von typischen Rechtsinstituten des gemischten Systems16. Eine weitere Schwäche bildete die Zentralisierung auf die Hauptverhandlung. Das System überforderte so sich selbst. Wenn alle Prozesse in die Hauptverhandlung münden sollen, weil sich in dieser die Garantien des Verfahrens konzentrieren, kann keine den dort geforderten rechtsstaatlichen Ansprüchen entsprechend zu Ende geführt werden, weil die Ressourcen des Justizwesens hoffnungslos überstrapaziert würden. Die Entwicklung hin zu einer Stärkung der Bedeutung der Hauptverhandlung, aus deren Inbegriff die Entscheidung zu fällen sei, fand 1978 eine jähe Unterbrechung. Einige Tage nach der Präsentation des Gesetzentwurfs im Frühjahr 1978 fand der terroristische Kampf in Italien in der Entführung Aldo Moros einen Höhepunkt. In diesem politischen Kontext blieb kein Raum für weitere Stärkungen kontradiktorischer Garantien. Die politische Stimmung hatte sich gedreht. Der Entwurf wurde nie Gesetz, blieb jedoch nicht ohne Einfluss auf die folgenden Reformvorhaben. 1980 legte der Justizminister der Justizkommission der Camera dei deputati17 einen Komplex von 40 Änderungsgesetzen vor, die praktisch eine „neue Ermächtigung“18 für eine Prozessreform enthielten. Eine neue Prozessstruktur 14 Für einen zusammenfassenden Überblick zur Entstehung des Gesetzes siehe Pisani, ZStW (94) 1982, S. 457, 467 ff. 15 Die Kommission war vom Justizminister unter dem Vorsitz von Pisapia eingesetzt worden. Der Text des „Vorentwurfs der Strafprozessordnung“ ist veröffentlicht und zusammenfassend erläutert von Pisapia in der Monographie: Lineamenti del nouovo processo penale; der Text des Entwurfs findet sich auf S. 101 ff. 16 Tonini, Manuale di procedura penale, S. 35; Cordero, Procedura penale, S. 89, spricht sogar davon, dass „das genetische Programm“ des Ermächtigungsgesetzes es unmöglich gemacht habe, dass hieraus ein taugliches Gesetzgebungswerk hätte entstehen können.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
wurde erarbeitet, die an den Prinzipien des akkusatorischen Modells, wie sie sich im vorangegangenen Entwurf niedergeschlagen hatten, anknüpfte: förmliche Beweisaufnahme nur in der Hauptverhandlung, Abschaffung des Ermittlungsverfahren als Teil des Prozesses und unter Herrschaft des Untersuchungsrichters zu Gunsten der Einführung von Vorermittlungen zur Einleitung eines Prozesses unter Herrschaft der Staatsanwaltschaft, Abschaffung des für Anklage und Ermittlungen gleichermaßen zuständigen Untersuchungsrichters, statt dessen ein Ermittlungsrichter ohne Beweiserhebungskompetenz, dessen Funktion in der Garantie der Abwehrrechte des Beschuldigten lag. Auch besondere Verfahren zur Vermeidung der komplexen Hauptverhandlung waren bereits vorgesehen. So war es auf der einen Seite die politisch angespannte Situation der Krisenjahre 1978–79 und auf der anderen die Notwendigkeit einer grundlegenden Revision des Strafprozesses, die schließlich zum zweiten Ermächtigungsgesetz führte. Bis zu diesem war es noch ein weiter Weg, aber der alte Codice Rocco von 1930 hatte durch zahlreiche einzelne Neuregelungen jegliche systematische, einheitliche Struktur verloren19. Die stückweise verabreichten Novellierungen hatten den Prozess mehr und mehr in Richtung des akkusatorischen Systems gedrängt. Diese Strukturen bildeten den Ausgangspunkt für das letzte definitive Ermächtigungsgesetz von 1987. 4. Das Ermächtigungsgesetz zur Reform des Strafprozesses von 1987 Das Ermächtigungsgesetz vom 16. Februar 198720 wies der Regierung für die Reform des Strafprozesses ambitionierte Aufgaben zu: das neue Gesetz sollte die akkusatorisch inspirierten Grundsätze der Verfassung von 1948 für das Strafverfahren in die Wirklichkeit des Verfahrens umsetzen, dieses an den Normen der internationalen Menschenrechtskonventionen ausrichten, die kontradiktorische Verfahrensform einführen und den Ablauf des Verfahrens beschleunigen21. Die Bedeutung des Ermächtigungsgesetzes für das Verständnis des neuen Prozesses ist nicht zu unterschätzen. Bereits in diesem Gesetz schlagen sich die 17 Auch das italienische Parlament besteht aus zwei Abstimmungsgremien, der camera dei deputuat und dem Senato della Repubblica, der auf regionaler Basis gewählt wird, vgl. Cost. it. Art. 55 ff. 18 Tonini, Manuale di procedura penale, S. 36. 19 Vgl. die amtliche Begründung zum definitiven Gesetzestext der neuen Strafprozessordnung, (relazione al testo definitivo del codice di procedura penale), abgedruckt in LEX 1988, parte II, 627, 634. 20 Legge delega, 16. Februar 1987, n. 81, suppl. ord. Gazz. uff. vom 16. März 1987, n. 62, sowie in LEX, 1987, I, 618 ff.; das Gesetz ist aber in der Regel ebenso im Anhang zu den gängigen Ausgaben der Strafprozessordnung abgedruckt. 21 Hierzu Chiaviaro, in: Commento al nuovo codice di procedura penale, Bd. I, 1989, S. 2, 15.
I. Historischer Abriss zum italienischen Strafprozess
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grundsätzlichen Kriterien nieder, die den künftigen Strafprozess beherrschen sollen; in diesem Sinne kann es als Auslegungshilfe dienen und wichtige Hinweise für die Gewichtung der einzelnen künftigen Verfahrensgrundsätze liefern22. Gerade im Vergleich zum Ermächtigungsgesetz von 1974, das noch die zentrale Rolle der kontradiktorischen Hauptverhandlung in den Vordergrund gerückt und den gesamten Bereich der Ermittlungstätigkeit deutlich reduziert hatte, fällt auf, dass den alternativen Verfahren zur „prozessökonomischen“ Vermeidung der Hauptverhandlung in dem jüngeren Gesetz ein dermaßen großer Raum zugemessen wird, dass sie konzeptionell nicht etwa die Ausnahme zum ordentlichen Verfahren bleiben, sondern vielmehr zu einem zentralen Bestandteil des neuen Prozesses werden sollen23. Der grundlegende Unterschied zum Gesetzesvorhaben von 1978 ist offensichtlich. Auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes Nr.108 von 197424 war die Zentralität der Hauptverhandlung in so großem Maße in den Vordergrund gerückt, dass praktisch die Funktionalität des gesamten Systems unter praktischen Aspekten lahm gelegt werden musste25. Effizienz und Ökonomie des Verfahrens rückten in dem neuen Ermächtigungsgesetz dementsprechend stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Ein Parteiprozess sollte geschaffen werden, der die Überzeugung von der dialektischen Struktur der Rechtsfindung im Allgemeinen mit den Bedürfnissen effizienter Verfahrensökonomie versöhnen sollte. Die Vorermittlungen sollten ausschließlich in der Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft liegen, die Waffengleichheit in höchstmöglichem Maß und das Recht, das Verfahren bei übereinstimmenden Willen schneller zu beenden, gewährleistet werden. Die essenziellen Bestandteile des neu zu gestaltenden Verfahrens wurden in Art. 2 des Ermächtigungsgesetzes von 1987 durch die Umsetzung der Eigenschaften des akkusatorischen Modells festgeschrieben. Die Charakteristiken dieses Prozesstyps – so kann man in der amtlichen Begründung zum definitiven Gesetzestext26 lesen – seien besser geeignet, Garantien und Effizienz des Strafverfahrens zu verbürgen. Die akkusatorische Entscheidung rechtfertige sich
22
So Conso, in: I riti differenziati nel nuovo processo penale, S. 267, 272. Vgl. Conso, a. a. O., S. 274, der sogar so weit geht, dass die neue Prozessordnung eine implizite Favorisierung des verkürzenden Verfahrens (giudizio abbreviato) gegenüber der ordentlichen Hauptverhandlung beinhalte (S. 278); vgl. zu dieser Tendenz auch in den deutschen Reformbemühungen Rieß, in: Gesamtreform des Strafverfahrens, S. 95, der den Begriff „Normalverfahren“ normativ verstehen und nicht ausschließen will, dass der quantitativ überwiegende Teil aller Verfahren summarisch erledigt wird. 24 Gazz. uff. vom 26. April 1974, Nr. 108. 25 Tonini, Giust. pen. 1988, 450, 460. 26 Relazione al testo definitivo del codice di procedura penale, LEX 1988, 627, 635. 23
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
nämlich nicht nur aus der traditionellen Idee, die das akkusatorische System den demokratischen Ordnungen besser zuordnet und das einzelne Individuum höher achtet, sondern auch aus dem Bewusstsein, dass nur dieses Modell Effizienz und Garantien gleichermaßen umsetzen könne27. Schwerpunkte in dem Reformvorhaben lagen hierbei in der klaren Differenzierung zwischen den Kompetenzen der Staatsanwaltschaft und denen des Gerichts, Aufhebung des Grundsatzes nicht zugänglicher Gerichtsakten und der Heimlichkeit der Beweisaufnahme im Ermittlungsverfahren, Stärkung der Stellung der Parteien und deren Gleichberechtigung, und schließlich eine Aufwertung der Hauptverhandlung und des Mündlichkeitsgrundsatzes. Dieser Entscheidung lag die Vorstellung zugrunde, dass die Wahrscheinlichkeit einer richtigen und gerechten Entscheidung sich in dem Maße erhöht, in dem auch die Dialektik in der Beweiserhebung sich steigert und nicht mehr, wie nach dem inquisitorischem Modell, auf die Erkenntnisse eines einzelnen Ermittlungsorgans zurückgegriffen wird, die bei dem Richter der Hauptverhandlung zu einer voreingenommenen Stellung führen können28. Erklärtes Ziel des Ermächtigungsgesetzes ist nach dem Wortlaut der ersten Richtlinie des Gesetzes die „maximale Vereinfachung des Verfahrens“29. Die Relevanz der besonderen Verfahren tritt somit von Beginn an in den Vordergrund. Die Richtlinien stellen die Weichen für die neue Prozessordnung deutlich in Richtung Stärkung des akkusatorischen Prinzips und konsensorientierter Elemente. Die konzeptionelle Aufwertung der Hauptverhandlung als eigentlicher Ort der Beweisaufnahme bedingt direkt das Erfordernis besonderer verkürzender Verfahren. Soll die Hauptverhandlung in ihrer Garantiefunktion gestärkt werden, dürfen nicht alle Verfahren bis in dieses Prozessstadium geführt werden, da eine Überlastung des Systems die zwangsläufige Folge wäre. Daher hat der Entwurf den alternativen Verfahren große Bedeutung beigemessen. Die Möglichkeit beschleunigter Verfahren zur Entlastung der Justiz sollte die Garantien einer ordentlichen Hauptverhandlung für die Fälle sichern, in denen die Beweisaufnahme nach kontradiktorischem Modell unbedingt erforderlich ist. Das ursprünglich deklarierte Ziel, die Hauptverhandlung als Inbegriff des Verfahrens zu konzipieren, verkehrte sich somit praktisch in sein Gegenteil. Das Gesetz sollte adäquate Möglichkeiten schaffen, möglichst häufig die Hauptverhandlung zu vermeiden, auch auf Kosten des als ideal gedachten kontradiktorischen Verfahrens und unter Aufgabe der Prinzipien des akkusatorischen Modells30. Diese Tendenzen im Ermächtigungsgesetz wurden denn auch als „inquisitorische Nostalgien“31 qualifiziert, die insbesondere auf die Probleme 27 28 29 30
Ebd. Ebd. Richtlinie 1 des Ermächtigungsgesetzes, LEX I, 1987, 618. Conso, Giust. pen. 1988, 513, 515.
II. Die reformierte Prozessordnung von 1989
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zurückgeführt wurden, die der Justiz durch die organisierte Kriminalität entstehen. Deutlich wird, dass die Bedürfnisse der Praxis und die Sorge, die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege nicht hinreichend gewährleisten zu können, bereits in der Geburtstunde des neuen Prozesses die theoretische Entscheidung für ein streng kontradiktorisches Verfahren erheblich relativiert haben.
II. Die reformierte Prozessordnung von 1989 Im folgenden Abschnitt sollen in Grundzügen die wesentlichen Prozessstrukturen dargestellt werden, die insbesondere für die systematische Einordnung des patteggiamento von Bedeutung sind. Freilich kann in diesem Zusammenhang in keiner Weise der Anspruch der Vollständigkeit erhoben werden. Die Arbeit beschränkt sich in diesem Zusammenhang auf die kursorische Darstellung der akkusatorisch kontradiktorischen Verfahrensgestaltung, so weit sie für die gesetzliche Einführung des patteggiamento verantwortlich ist. Am 24. Oktober 1989 ist die neue italienische Strafprozessordnung in Kraft getreten32. Die Reform hat das alte Prozessmodell bis in seine Grundzüge und tragenden Verfahrensprinzipien entscheidend geändert33. Die „unglücklichen Kombinationen“34 des gemischten Systems im Codice Rocco hatten in letzter Konsequenz zu einer Privilegierung der inquisitorischen Schemata geführt, wie sie in langen Ermittlungen und inkonsistenten Hauptverhandlungen zum Ausdruck kamen. Dieser Tendenz sollte durch die umfassende Neugestaltung des gesamten Strafverfahrens in einem offenen Bekenntnis zum akkusatorischen Prozess und zur kontradiktorischen Entscheidungsfindung begegnet werden. Änderungen an der geltenden Prozessordnung waren für nicht mehr hinreichend befunden worden, so dass eine vollkommene Neukodifizierung erforderlich geworden war.
31
Ferrua, in: Digesto delle discipline penalistiche, Bd. III, S. 466, 491. In der italienischen Literatur ist meist von der Reform von 1988 die Rede, da 1988 die reformierte Prozessordnung verabschiedet wurde; zuerst veröffentlicht in suppl. ord. alla Gazz. uff. Nr. 250 vom 24.10.1988; das In-Kraft-Treten der neuen Prozessordnung wurde auf ein Jahr nach der Veröffentlichung in der Gazzetta ufficiale und damit auf den 24. Oktober 1989 festgelegt. 33 Zu dem Einfluss der Prozessreform auf das materielle Strafrecht, vgl. Bricola, Ind. pen., 1989, 313 ff., der insbesondere auf den Mangel hinweist, dass die Prozessreform nicht mit einer Reformierung des materiellen Strafrechts einhergegangen ist (S. 317); wie auch Pagliaro, Riv. it. dir. e proc. pen., 1990, 36 ff. 34 Siracusano/Galati/Tranchina/Zappalà, Diritto processuale penale, Bd. I, S. 39. 32
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
1. Kontradiktorische Grundstruktur des neuen Strafprozesses Vor allem kontradiktorisch sollte der neue Prozess gestaltet werden; dementsprechend wurde er stärker ausgerichtet auf die Hauptverhandlung und die Beweiserhebung auf die Parteien verlagert (Artikel 190 c.p.p.35). Dies führte zu einer deutlichen Modifizierung der Rolle des Gerichts und der Parteien36. Um die dialektische Struktur des Verfahrens, die als Wesen des Strafprozesses hervorgehoben und in kontradiktorischer Umsetzung gestärkt werden sollte, bestmöglich zu fördern, ist das erkennende Gericht nicht dasselbe wie der Spruchkörper der Zwischenverhandlung, der über die Eröffnung des Hauptverfahrens entscheidet; Art. 34 c.p.p. stellt hier einen gesetzlichen Ausschlusstatbestand. Durch diese strikte Trennung der rechtsprechenden Funktionen soll etwaiger Voreingenommenheit auf Seiten der Richter vorgebeugt werden. Eine weitere Kautel gegen vorzeitige Beeinflussungen des erkennenden Gerichts durch Ergebnisse aus dem Ermittlungsverfahren liegt darin, dass das in der Hauptsache entscheidende Gericht die Ermittlungsakten nicht kennt. Da es einzig aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung entscheiden soll, werden der gerichtlichen Akte für die Hauptverhandlung nur die Anklageschrift beigelegt sowie die Protokolle der in der Hauptverhandlung nicht wiederholbaren Untersuchungshandlungen, die von Polizei oder Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren durchgeführt worden sind, sowie die Protokolle aus einem eventuellen Beweissicherungsver35 Nach der Begründung zum Entwurf der neuen Prozessordnung stellt diese Norm „das vielleicht emblematischste Prinzip des neuen akkusatorischen Prozesses“ dar, da hierin eine Umkehr des inquisitorischen Initiativrechts des Gerichts in der Beweisaufnahme liegt, vgl. Lattanzi/Lupo, Il nuovo codice di procedura penale, Art. 190, Ziff. 1. 36 Vgl. zum akkusatorischen System der neuen Prozessordnung die Grundsatzentscheidung der Corte cost., sent. 26. März 1993, n. 111, in Giur. cost., 1993, 901 ff., mit Anmerkung von Spangher, S. 919. (Zur Zitierweise gerichtlicher Entscheidungen sei hier angemerkt, dass die Wiedergabe in den einzelnen Zeitschriften hinsichtlich der Angaben der kalendermäßigen Daten nicht einheitlich ist. So wird mal das Verkündungs- und mal das Verhandlungsdatum, oder beide Daten angegeben; hier wird im Folgenden diese Uneinheitlichkeit übernommen, indem die jeweils angegebenen Daten wiedergeben werden, ohne darauf zu verweisen, ob es sich um Verkündungs- oder Verhandlungsdatum handelt; Verwirrungen sollen dadurch vermieden werden, dass zusätzlich die Seitenzahl stets angegeben wird, mangels amtlicher Entscheidungssammlungen in Italien lassen sich eventuelle Unstimmigkeiten in der Zitierweise der Daten aus den genannten Gründen jedoch kaum vermeiden.) In der zitierten Entscheidung wird darauf verwiesen, dass die Dialektik des kontradiktorischen Verfahrens und das Mündlichkeitsprinzip im neuen Prozess gewählt worden sind als diejenigen Kriterien, die besser geeignet seien, den Erfordernissen der Wahrheitssuche gerecht zu werden; das Beweisinitiativrecht des Richters sei ein das Parteirecht ergänzendes, aber kein außergewöhnliches (eccezionale), das die Beweise der Disposition der Parteien entziehe (S. 903), und das das Untätigbleiben der Parteien ausgleichen kann, damit der gesamte Verfahrensgegenstand geklärt werden kann (S. 904); diese Lösung steht im Einklang mit der Tendenz der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gegen die Verfügbarkeit des Verfahrensgegenstandes.
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fahren (Art. 431 c.p.p.). Das erkennende Gericht verfügt somit nicht über vollständige Aktenkenntnis, sondern hat sich seine Überzeugung möglichst unvoreingenommen erst aus der unmittelbaren Beweisaufnahme im Hauptverfahren zu bilden. a) Die „Vorermittlungen“ – zunächst kein kontradiktorisches Verfahren Das Untersuchungsverfahren des Codice Rocco im inquisitorischen Sinn, in dem inquirierende und richtende Gewalt zusammenfielen, ist komplett abgeschafft. Ersetzt wird es durch das Vorverfahren, in dem die sog. Vorermittlungen (indagini preliminari) durchgeführt werden. Der explizite Bezug zum Ziel der Wahrheitssuche, der sich noch in der alten Regelung zum Untersuchungsverfahren fand (Art. 299 c.p.p. von 1930), ist gestrichen. Gesetzliche Zielsetzung der Vorermittlungen ist lediglich, dass die Untersuchungen von Staatsanwaltschaft und Polizei hinreichen müssen für die Entscheidung, ob Anklage zu erheben ist oder nicht (Art. 326 c.p.p.). Zwar ist der Wahrheitsbegriff gänzlich aus dem gesetzlichen Wortlaut verschwunden, die „Rekonstruktion der Tatsachen“ (ricostruzione dei fatti) findet sich aber weiterhin als indirekte Zielsetzung des Vorverfahrens (Art. 358 c.p.p.). Herrin des Vorverfahrens ist jetzt die Staatsanwaltschaft (Artikel 327 c.p.p.). Neu eingeführt wird der Ermittlungsrichter, der als „Garant“ und „Kontrolleur“37 der Rechtmäßigkeit des Vorverfahrens auftritt. Er hat ausschließlich kontrollierende Funktion und ist nicht mehr selbst ermittelndes oder anklagendes Organ. Die ursprüngliche neue Prozessordnung von 1989 widmete im Rahmen der Vorermittlungen den Rechten der Verteidigung kaum Aufmerksamkeit; entsprechende Garantien wurden für nicht notwendig erachtet, da die Vorermittlungen ausschließlich der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung über die Anklageerhebung zu dienen hätten38. Die Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft ist öffentlich (eine Privatklage gibt es nicht), erfolgt außer in Ausnahmen von Amts wegen und ist obligatorisch (eine Durchbrechung des verfassungsrechtlich garantierten Legalitätsgrundsatzes durch Opportunitätserwägungen ist gesetzlich nicht vorgesehen). Hingewiesen sei noch auf eine Durchbrechung des akkusatorischen Grundsatzes, nach dem die Beweisaufnahme ausschließlich unmittelbar in der Hauptverhandlung durchzuführen ist. Die neue Strafprozessordnung sieht in den Art. 392 c.p.p. ff. ein Beweissicherungsverfahren (incidente probatorio) vor, in welchem sowohl der Beschuldigte als auch die Staatsanwaltschaft eine vorgezogene Beweisaufnahme beantragen können. Diesem Verfahren liegen jedoch enge Vo37 38
Bonavolontà, Il nuovo processo penale nel suo aspetto pratico, S. 151. Vgl. Tonini, Manuale di procedura penale, S. 303.
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raussetzungen zugrunde, die eine regelmäßige Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung als unmöglich oder gefährdet erscheinen lassen. Die entsprechenden Anträge müssen in der Geschäftsstelle des Gerichts hinterlegt und es muss der jeweils anderen Partei Gelegenheit gegeben werden, zu diesen Stellung zu nehmen (Art. 395 f. c.p.p.). Auf diese Weise kommt es zu einer Art vorgezogener kontradiktorischer Auseinandersetzung. Dementsprechend ist eine Verwertung der auf diesem Wege erlangten Beweise in der Hauptverhandlung nur gegenüber solchen Angeklagten zulässig, deren Verteidiger an dieser Beweisaufnahme teilgenommen haben (Art. 403 c.p.p.). Dieses antizipierte contradditorio bleibt aber nach der Konzeption des Reformgebers von 1988 die Ausnahme; in der Regel wird das Ermittlungsverfahren zunächst nur durch Untersuchungen der Staatsanwaltschaft bestimmt und dient damit der einseitigen Entscheidung, ob Anklage zu erheben ist. b) Die „Vorverhandlung“ – gedacht als „Filter“ des Verfahrens Eingeführt wird weiter die Vorverhandlung (udienza preliminare, Art. 416 ff. c.p.p.), dem deutschen Zwischenverfahren vergleichbar39. Das Gericht lädt die Parteien zur mündlichen Zwischenverhandlung und weist die Verteidigung auf ihr Recht hin, die Akten einzusehen und Schriftsätze, Beweisanträge oder sonstige Dokumente vorzulegen. Dem Verletzten teilt das Gericht den Verhandlungstermin mit (Art. 419 c.p.p.). In der mündlichen Verhandlung unter notwendiger Beteiligung der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung des Angeschuldigten (Art. 420 c.p.p.) entscheidet der Richter unter Ausschluss der Öffentlichkeit (Art. 418 c.p.p.) über Einstellung des Verfahrens (Art. 425 c.p.p.) oder Eröffnung der Hauptverhandlung (Art. 429 c.p.p.). Nach den Feststellungen zur Anwesenheit der Beteiligten erklärt der Richter die Verhandlung für eröffnet, die die Staatsanwaltschaft mit der Darlegung der Beweise, die die Anklageerhebung rechtfertigen, einleitet. Der Angeklagte kann darauf hin Erklärungen abgeben und beantragen, zur Sache vernommen zu werden. Danach wird der Verteidigung, einer etwaig sich im Verfahren bestellten Zivilpartei40 oder des zivilirechtlich für die Tat Haftenden, sofern sie erschienen sind, Gelegenheit zur Stellungnahme erteilt (Art. 421 Abs. 2 c.p.p.). Die Vorverhandlung sollte als ein weiterer Filter fungieren41, in dem ein von den Vorermittlungen unabhängiges Organ über die Eröffnung der Hauptver39 Die Begriffe werden im Folgenden hinsichtlich des italienischen Verfahrens synonym gebraucht. 40 Die parte civile, entsprechend Art. 74 f. c.p.p. ist nicht mit der Nebenklage der StPO zu vergleichen, sondern ist an die Geltendmachung zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche gebunden. 41 Vgl. statt vieler Stile, ZStW 104 (1992), 429, 437; Dalia, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, Bd. I, S. 3, 18.
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handlung entscheidet. Grundsätzlich werden im Zwischenverfahren keine Beweise aufgenommen, da die Beweisaufnahme wegen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes der Hauptverhandlung vorbehalten sein soll. Die theoretische Filterfunktion der Vorverhandlung wurde allerdings in der Praxis alsbald angezweifelt. Den Absichten des Gesetzgebers entgegen hat sich dieser Verfahrensabschnitt tatsächlich keineswegs als ein Entscheidungsmoment bewiesen. So wurde darauf verwiesen, dass der Richter eher auf notarielle Funktionen beschränkt sei, da eine sachliche Prüfung der staatsanwaltlichen Anklagerhebung kaum erfolge42. Das praktische Scheitern der Vorverhandlung als Institution, die nach Intention der Reform als Filter und Kontrolle über die Anklageerhebung hätte dienen sollen, veranlasste die Literatur dazu, die grundsätzliche Widersprüchlichkeit dieses Verfahrensabschnitts zu beklagen und teils dessen vollständige Abschaffung, teils dessen radikale Modifizierung zu verlangen43. Sollte die Vorverhandlung in den theoretischen Erwägungen des Gesetzgebers geeignet sein, unnötige Hauptverhandlungen zu verhindern, hatte sie in der Praxis keinerlei deflatorischen oder kontrollierenden Effekt aufweisen können. Folge dieser Entwicklung war die gesetzliche Neugestaltung44, in der es zu einer deutlichen Aufwertung der richterlichen Kompetenzen im Rahmen der Beweiserhebung in der Vorverhandlung kam. c) Die Hauptverhandlung – gedacht als „Zentrum“ des Verfahrens Die Hauptverhandlung (dibattimento, Art. 470 ff. c.p.p.) stellt den Kern des akkusatorisch geprägten Prozesses dar, da sich in diesem Verfahrensabschnitt die Garantien und Kriterien einer kontradiktorischen Verfahrensgestaltung unmittelbar verwirklichen45. Der Richter der Hauptverhandlung, der nicht mit dem 42 Stefani, La difesa attiva nel giudizio abbreviato e nel patteggiamento, S. 36; vgl. hierzu auch den Bericht zum Gesetzentwurf Nr. 1182, der Abgeordnetenkammer (camera dei deputati) von Saraceni vorgelegt am 23. Mai 1996 (zitiert nach Aprile, Giudice unico e processo penale, S. 98 Fn. 1), in dem darauf hingewiesen wird, dass die mangelnde Filter- und Kontrollfunktion der Vorverhandlung insbesondere darin zum Ausdruck komme, dass die Freispruchquote in der Hauptverhandlung extrem hoch sei, was darauf schließen lasse, dass zu häufig und unbegründet oder auf der Grundlage unzureichender Ermittlungen Anklage erhoben werde; zum Verlust der Filterfunktion der Vorverhandlung in der Praxis auch Spangher, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, Bd. III, S. 108. 43 Vgl. De Caro, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, Bd. 1 S. 388, m. w. N. 44 Durch die legge 479/1999; auf die Änderungen wird unten III. 3. noch detaillierter eingegangen. 45 Vgl. Tonini, Manuale di procedura penale, S. 444, der aber darauf hinweist, dass die Hautverhandlung des c.p.p. nicht etwa sämtliche Charakterisitiken des akkusatorischen Verfahrenstyps umsetze, da bewusst eine Ausgestaltung als „Parteiprozess“ im engeren Sinne, nämlich unter Einbeziehung eines verfügbaren Verfahrensgegenstandes, vermieden worden ist.
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Richter der Vorverhandlung identisch sein kann, kennt anders als Letzterer die Ermittlungsakten nicht in ihrem gesamten Umfang, sondern nur diejenigen Auszüge, die die Akte für das Hauptverfahren (fascicolo del dibattimento), Art. 431 c.p.p. bilden. Im Normalfall sollte diese Akte nach Intention des Reformgesetzgebers nichts außer dem Strafregister des Angeklagten enthalten46. Vorgesehen war allerdings schon in dieser ersten Fassung des Art. 431 c.p.p., dass Protokolle der von der Polizei und Staatsanwaltschaft durchgeführten, nicht wiederholbaren Maßnahmen sowie die Protokolle einer etwaig vorgezogenen Beweisaufnahme Bestandteil der Akte der Hauptverhandlung werden. Gerade die Zusammenstellung der Akte für die Hauptverhandlung hat in der gesetzlichen Entwicklung der reformierten Prozessordnung jedoch entscheidende Änderungen erfahren, die den Beweistransfer aus der Ermittlungsphase in die Hauptverhandlung durch die Aufwertung kontadiktorischer Elemente in der Vorverhandlung begünstigten47. Kennzeichnend für die Umsetzung akkusatorischer Prinzipien in der mündlichen Verhandlung im Hauptverfahren ist insbesondere, dass die Beweisaufnahme kontradiktorisch auf Initiative der Parteien erfolgt. Um die kontradiktorische Beweisaufnahme in höchstmöglichem Maß zu garantieren, war in der ursprünglichen Form der Hauptverhandlung in der Gesetzesfassung von 1989 die Verwertbarkeit von Beweisen, die außerhalb der Hauptverhandlung gewonnen worden waren, nur in äußerst eingeschränkter Form möglich48. In konsequenter Durchführung der kontradiktorischen Beweisaufnahme erfolgt die Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen im Kreuzverhör (Art. 498, 501 c.p.p.). Cordero findet für diesen Rollenwechsel die metaphorische Umschreibung, dass nach der alten Prozessordnung die Streitenden stille Zuhörer waren, nun aber selbst die „Partie spielen“, indem sie Zeugen und sonstige Verfahrensbeteiligte vernehmen49. Die Hauptverhandlung basiert auf dem Grundsatz der Öffentlichkeit und Unmittelbarkeit und ist an die Konzentrationsmaxime gebunden. Eine Durchbrechung des Grundsatzes der kontradiktorischen Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung liegt in den Vorhalten des Art. 500 c.p.p., da diese Norm eine Brücke schlägt zwischen den Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens und denen der Hauptverhandlung, indem sie es den Parteien gestattet, Widersprüche in einer Zeugenaussage gegenüber einer im Vorverfahren durch46
Vgl. die Einschätzung bei Stile, ZstW 104 (1992), S. 429, 441. Auf diesen Aspekt wird im Folgenden unter III. 2. noch einzugehen sein. 48 Die Vorschriften zur Einführung in die Hauptverhandlung von solchen Erklärungen oder Dokumenten, die im Vorfeld abgegeben oder zusammengestellt worden sind oder aus anderen Verfahren stammen, sind im Wesentlichen erst später eingeführt worden, nämlich durch zwei bedeutende Gesetze: das Gesetz vom 8. Juni 1992, n. 306, Gazz. uff. vom 8. Juni 1992, n. 133 sowie das Gesetz vom 16. Dezember 1999, n. 479, Gazz. uff. vom 18. Dezember 1999, n. 296. 49 Cordero, Procedura penale, S. 914. 47
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geführten Befragung aufzudecken und so auf die Wertung der Glaubwürdigkeit des Zeugen durch das Gericht Einfluss zu nehmen. Der Gegenstand der Vorhalte wird zugleich Bestandteil der Akte der Hauptverhandlung (Art. 500 Abs. 4 c.p.p.). Wichtig ist aber, dass auch diese Relativierungen nichts an dem Grundverständnis des Reformgesetzgebers ändern, nach dem die „zentrale Bedeutung“ der Hauptverhandlung gerade den Übergang von einem gemischten zu einem vornehmlich akkusatorischen Prozess kennzeichnet50. d) Die besonderen Verfahren – vordergründig nur „verfahrenseffiziente Mittel“ Die akkusatorische Grundstruktur, die das Schwergewicht auf die Trennung der Prozessphasen legt, wird durch die besonderen Verfahren (procedimenti speciali, Art. 438 ff. c.p.p.), auch als alternative oder summarische bezeichnet, durchbrochen51. Ihnen ist das sechste Buch der reformierten Strafprozessordnung gewidmet; systematisch gliedern sie sich in die Vorschriften über die Vorverhandlung und die Regeln der Hauptverhandlung. Es liegt eine gewisse Widersprüchlichkeit schon in dem ursprünglichen Konzept von Zweck und Notwendigkeit der alternativen Verfahren. War es erklärtes Ziel der Strafprozessreform, das kontradiktorische Verfahren in der Hauptverhandlung zu etablieren und die Garantien der strikten Trennung zwischen Ermittlungen im Vorverfahren und der eigentlichen Beweisaufnahme im Hauptverfahren zu festigen, so liegt in den besonderen Verfahren das Dilemma dieser Grundkonzeption. Denn die besonderen Verfahren wurden als Mittel zur Vermeidung gerade der Hauptverhandlung konzipiert, auf die das reformierte Verfahren doch ausgerichtet war und in der doch die Garantien des streitigen Verfahrens verbürgt sein sollten52. Dieser Ausweg aus der kontradiktorsichen Hauptverhandlung sollte durch zahlreiche Anreize möglichst attraktiv für den Beschuldigten gestaltet werden. Will das akkusatorische Verfahren die Rechte des Beschuldigten oder Angeklagten gerade durch besondere förmliche Anforderungen an die Beweisgewinnung und die Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung schützen, so führt es sich in jenen Engpass, der in der Überforderung der Justizressourcen liegt. Sollten alle Verfahren in eine akkusatorische Hauptverhandlung münden, so wurde eine hoffnungslose Überlastung der Justiz befürch50 Vgl. die amtliche Begründung zum Gesetzentwurf (relazione al progetto preliminare), LEX 1988, 331, 539. 51 Eine systematische Einordnung und gestraffte Darstellung der besonderen Verfahren findet sich bei Conso/Grevi, Compendio di procedura penale, 521 ff. 52 Stile, ZStW 104 (1992), 429 ff., spricht davon, dass es geradezu „paradox“ sei, „dass gerade weil der neue Prozess auf Hauptverhandlung zielt, ihr Gewicht nur noch in einer ganz geringen Zahl von Verfahren getragen werden kann“. Zu dem Ergebnis, dass sich „eine geradezu paradoxe Lage ergeben“ hätte, auch Moccia, in: Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften, S. 293, 294.
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tet. Dieser Besorgnis sollte durch die Kodifizierung summarischer Verfahrensformen begegnet werden. Dabei war erklärtes Ziel, dass der Großteil der Verfahren in beschleunigter Form beendet werden sollte53. Eingeräumt wurde zwar, dass das ordentliche Verfahren ein höheres Maß an Garantien gewährleiste, aber es sei zudem auch in vielen Fällen lähmend für den gesamten Justizapparat54. Eine effiziente Strafrechtspflege bedürfe besonderer Verfahren, und insbesondere konsensualer Formen, die geeignet seien, die Zahl der Hauptverhandlungen zu vermindern55. Entsprechend der gestiegenen Bedeutung, die den Parteien in einem akkusatorischen System zukommt, sollte auch der Parteiwillen gegenüber der richterlichen Entscheidungsautonomie gestärkt werden56. Die Bedeutung, die den besonderen Verfahren beigemessen, und die Erwartungen, die in diese gesetzt wurden, sind teilweise gerade deshalb kritisiert worden, weil sie die eigentliche Intention der Prozessreform zu konterkarieren drohten. So setze der Begriff „besondere Verfahren“ die Existenz eines ordentlichen Verfahrens voraus, das dem Regelfall einer Anklage vorbehalten sein solle. Anstatt die Hauptverhandlung, die die eigentliche „Essenz“57 der Rechtsprechung sei, zu stärken, sei man vornehmlich bemüht, Anreize für die Vermeidung derselben zu schaffen. Ziel war es, durch die besonderen Verfahren die Justiz deutlich zu entlasten, indem sie eine oder gar zwei Phasen des ordentlichen Prozesses überspringen. In ihnen sollte durch Einsparung prozessualer Kapazitäten das Prinzip der Prozessökonomie in den Vordergrund gerückt werden58. Von der Vorverhandlung (udienza preliminare) wird im sofortigen Hauptverfahren (giudizio immediato, Art. 453 ff. c.p.p.) sowie im Schnellverfahren (giudizio direttissimo, Art. 449 ff. c.p.p.) abgesehen59. Ohne Hauptverhandlung finden das abgekürzte Verfahren (giudizio abbreviato, Art. 438 ff. c.p.p.) und die Strafverhängung auf Antrag der Parteien (applicazione della pena su richiesta delle parti), untechnisch auch patteggiamento (Art. 444 ff. c.p.p.) statt. Das Strafbefehlsverfahren (procedimento per decreto, Art. 459 ff. c.p.p.) hingegen verläuft ganz ohne Vor- oder Hauptverhandlung. Darüber hinaus sind die Berufungsmöglichkeiten in den besonderen Verfahren deutlich eingeschränkt (Art. 448 Abs. 2; Art. 443 c.p.p.).
53 Vgl. die amtliche Begründung zum Gesetzentwurf (relazione al progetto preliminare del codice di procedura penale), LEX, 1988, 333, 522. 54 Bonavolontà, Il nuovo processo penale, S. 205. 55 Lozzi, Riv. it. dir. e proc. pen., 1989, 27 ff. 56 Vgl. Nappi, Guida al codice di procedura penale, S. 514. 57 Devoto, Dir. pen. e proc. 1997, 627, 629. 58 Chiliberti/Tuccillo, in: Manuale pratico dei procediementi speciali, S. 13. 59 Die Übersetzung der italienischen gesetzlichen Terminologie der einzelnen Verfahrenstypen entspricht hier und im Folgenden der zweisprachigen Ausgabe der italienischen Strafprozessordnung, Bozen 1991.
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Die Bindung der einzelnen Verfahrenstypen an inquisitorische bzw. akkusatorische Grundsätze fällt unterschiedlich aus60. So sind sie aber sämtlich, was die Frage des Beweistransfers betrifft, eher inquisitorisch inspiriert. Gemein ist den alternativen Verfahren weiter das konsensuale Element. Dass kontradiktorische und konsensuale Elemente gleichzeitig an Bedeutung gewinnen können, ist zwar insofern widersprüchlich, als das kontradiktorische Modell gerade auf dem Prinzip der adversatorischen Methode aufbaut, die in einem dialektischen Prozess zu einer Entscheidungsfindung führen soll. Aus einem anderen Blickwinkel ist aber die parallele Entwicklung kontradiktorischer und konsensualer Elemente nur allzu konsequent. Wenn sich nämlich die Entscheidung in dem Gegensatz der Parteien herauskristallisieren soll, dann ist es nur folgerichtig, dass ein etwaiger Konsens der Parteien zu einer vorzeitigen, gewissermaßen unstreitigen Entscheidung führen kann. Um dem erklärten Ziel, einer Verminderung der Zahl der Hauptverhandlungen, gerecht zu werden und die Attraktivität der besonderen Verfahren zu steigern, sind diese teilweise (ausgenommen sind nur das sofortige Hauptverfahren und das Schnellverfahren, die eine Hauptverhandlung im engeren Sinne weiterhin vorsehen und nur die Vorverhandlung überspringen) vom Gesetzgeber mit deutlichen Strafnachlässen und sonstigen Strafvergünstigen versehen worden. Die Wahlmöglichkeiten, die sich durch die besonderen Verfahren den Parteien eröffnen, werden auch als „Geschäftsautonomie der Parteien“ verstanden61. Die Idee beschleunigender Verfahren steht in Widerspruch zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben des ordentlichen Verfahrens. Problematische Berührungspunkte ergeben sich mit einigen verfassungsrechtlichen Grundsätzen, wie dem Legalitätsprinzip (Art. 112 cost.), der Unabhängigkeit der Richter, die nur dem Gesetz unterworfen sind (Art. 101 cost.), sowie dem gesetzlichen Bestimmtheitsgebot der Strafe (Art. 25 cost.). An diesen mussten sich die Regelungen der besonderen Verfahren in zahlreichen Entscheidungen des Verfassungsgerichtes messen62. In den Verfahren mit gesetzlicher Auswirkung auf das 60 Paolozzi, Giust. pen. 1989, 229, 232, macht dementsprechend deutlich, dass der neue Prozess auch durch die Existenz der besonderen Verfahren defintiv mit der Vorstellung breche, dass ein einziges Verfahrensmodell auf sämtliche Fälle, unabhängig von ihrer Komplexität Anwendung finden könne. 61 Mercone, Diritto processuale penale, S. 579, spricht von „autonomia negoziale delle parti“, auf der anderen Seite hebt er aber auch widersprüchlich die dienenede Funktion des Prozesses hervor („funzione servente“ S. 579), die es den Parteien verbiete, denselben zu benutzen, um die substantiellen Werte des materiellen Rechts zu unterlaufen; das Wort von der „rechtsgeschäftlichen Strafrechtspflege“ (giusitizia penale negoziata) wird nicht nur vereinzelt gebraucht; vgl. statt vieler Marzaduri, Costituzione, Diritto e processo penale, S. 85, 91; wie auch der gleichnamige Titel der Monographie von Marafioti, so auch Peroni, Dir. pen. e proc. 2003, 1068. 62 Hier sei nur auf einige wichtige Entscheidungen verwiesen: zum abgekürzten Verfahren (giudizio abbreviato): Corte cost. 10. November 1995, n. 484, Cass. pen. 1992, 2934, in dieser Entscheidung wurden Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des
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Strafmaß sollen gerade die Vergünstigungen in der Strafzumessung die Beschränkung der prozessualen Rechte ausgleichen63. Darüber hinaus bleiben Konflikte mit einigen Prozessprinzipen nicht aus. Der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens wird dadurch gefährdet, dass die Beweisaufnahme im Rahmen der beschleunigten Verfahren nicht zwangsläufig aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung gewonnen werden muss. Auch Unmittelbarkeitsprinzip und Öffentlichkeitsgrundsatz gelten im italienischen Strafprozess und bleiben von den besonderen Verfahren, wie unmittelbar einsichtig, nicht unangetastet. Gemeinsames Kennzeichen aller besonderen Verfahrens ist das voluntative Element der Parteien. Keines der Verfahren kann gegen den Willen beider Parteien (es müssen nicht zwangsläufig stets zweiseitige Übereinkünfte sein), oder auf Initiative des Gerichts eingeleitet werden64. Die besonderen Verfahren sind von Beginn als ein „Fremdköper“ im System des reformierten Prozesses verstanden worden, weil dieser gerade auf den Grundsätzen der akkusatorischen Trennung der Prozessphasen und des kontradiktorischen Prinzips in der Hauptverhandlung als Inbegriff des Prozesses basiere. Aus diesem Gedanken heraus sind die alternativen Verfahren auch als inquisitorisch inspiriert empfunden worden65. Doch in dem Maße, in dem konsensuale Verfahrensmodelle als systemfremde Ausnahmen konzipiert werden, wird ein wesentlicher Umstand der kontradiktorischen Grundstruktur ausgeblendet. Ein kontradiktorisches Verfahren kann nämlich – wie dem Begriff schon selbst zu eigen – nur so lange funktionieren, wie die Partein sich widersprechen, uneinig sind. Wo das kontradiktorische Potential ausgeschöpft und der Amtsermittlungsgrundsatz aufgehoben ist, bleibt schon methodisch kein Raum für eine „widerstreitende“ Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung. Wenn also die italienische Wissenschaft und Rechtsprechung die Einführung konsensualer Verfahrensformen primär auf den Gedanken der Verfahrenseffizienz zugiudizio abbreviato im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz und das Prinzip des gesetzlichen Richters (Artt. 3 und 25 cost. it) zurückgewiesen; hinsichtlich des Öffentlichkeitsgrudnsatzes vgl. Corte cost., 27. Juli 1992, n. 373, Cass. pen. 1992, 2984; auf die verfassungsrechtliche Rechtsprechung zum patteggiamento wird im Folgenden noch ausführlich eingegangen; bezüglich des sofortigen Hauptverfahrens (giudizio immediato), vgl. Corte cost., 22. Dezember 1992, n. 482, Cass. pen. 1993, 793; corte cost. 20. Juli 1990, Giust. pen. 1990, parte I, 321; hinsichtlich des Strafbefehlsverfahrens (procedimento per decreto), vgl. in Bezug auf geltend gemachte Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes und des Rechts auf Verteidigung (Artt. 3 und 24 cost. it.), das Urteil offensichtlicher Unbegründetheit des Verfassungsgerichts, Corte cost. 3. Juni 1999, n. 217, Cass. pen. 1999, 2818. 63 Vgl. Corte cost., ord. 27. September 1990, n. 420, Giur. cost., 1990, 253, 2533. 64 Eine vergleichende Wertung des konsensualen Aspektes in den einzelnen Typen der besonderen Verfahren findet sich bei Vigoni, L’applicazione della pena, S. 59 ff. 65 Vgl. statt vieler die Formulierung der „inquisitorischen Versuchungen“, mit der Moccia die konsensualen Verfahrensformen bedenkt, in: Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften, S. 293, 299.
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rückführt, übergeht sie genau diese innere Notwendigkeit konsensualer Verkürzungen im kontradiktorischen Verfahrenssystem. 2. Die kontradiktorisch am Verfahren Beteiligten Das erste Buch der alten Verfahrensordnung des Codice Rocco war überschrieben mit dem Titel „Allgemeine Vorschriften“. Bezeichnenderweise eröffneten diese allgemeinen Vorschriften die Bestimmungen über die Klageerhebung. Die Anklage stand somit als Mittel zur Erfüllung des Strafanspruchs am Beginn der gesamten Ordnung des Strafverfahrens. Dass der geltende Codice hingegen mit den Regeln zu den Verfahrensbeteiligten eingeleitet wird und hierbei an erster Stelle die Normen stehen, die Zuständigkeit, Zusammensetzung und Befangenheit des Gerichts regeln, ist als eine bewusste Entscheidung zu verstehen, die die „zentrale Bedeutung“ unterstreicht, die die „richterliche Entscheidungstätigkeit“ in einem Prozess ausmacht, der im Wesentlichen als ein „System von Garantien“66 konzipiert ist. Nicht mehr die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs steht nun systematisch im Vordergrund, sondern die Stellung der Verfahrensbeteiligten. Das Gericht als Verfahrensbeteiligter wird erst im Folgenden gesondert unter dem Aspekt der Wahrheitsverpflichtung interessieren, so dass die folgenden Ausführungen auf die Positionen der übrigen Verfahrensbeteiligten beschränkt werden. a) Die Doppelrolle der Staatsanwaltschaft – Hüterin des Legalitätsprinzips und Partei im Prozess Zunächst muss auf eine Besonderheit der institutionellen Stellung der Staatsanwaltschaft in Italien hingewiesen werden. Staatsanwaltschaft und Richteramt sind insoweit weniger strikt voneinander getrennt, als beide Institutionen gemeinsam die unabhängige magistratura bilden, beide nicht weisungsgebunden sind67, demselben Organ der Selbstkontrolle (Corte superiore della magistratura) unterstehen (Art. 104 cost.) und zwischen den Ämtern praktisch frei gewechselt werden kann (vgl. Art. 190 Abs. 2 ord. giud.). Diese Assimilierung der Ämter von Richter und Staatsanwalt liegt historisch in dem Bedürfnis des 66
Vgl. Della Casa/Voena, in: Compendio di procedura penale, S. 1, 2. Innerhalb der einzelnen Abteilungen der Staatsanwaltschaft sind aber, anders als in gerichtlichen Spruchkörpern, doch hierarchische Elemente zu verzeichnen, vgl. Tonini, manuale di procedura penale, S. 90; die innerbehördlichen Weisungen sind ausschließlich zum Ziel der funktionstüchtigen Organisation der Behörde einsetzbar, vgl. ebd. S. 92; diese gehen aber nicht so weit, dass der einzelne Sitzungsvertreter in der konkreten Ausübung seiner Funktion in der Verhandlung gebunden wäre; sie gelten mithin nicht nach außen, denn dagegen spricht schon der Wortlaut des Art. 53 Abs. 1 c.p.p., der von „voller Autonomie“ in der Verhandlung spricht. („Il magistrato del pubblico ministero esercita le sue funzioni con piena autonomia“). 67
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Verfassungsgebers von 1947 begründet, in Abkehr von der faschistischen Durchdringung des gesamten Justizapparates die Unabhängigkeitsgarantien der Justiz und damit auch der öffentlichen Anklage möglichst weit auszubauen68. Der einzelne Vertreter der Staatsanwaltschaft handelt in voller Unabhängigkeit. Seit langem und von unterschiedlicher Seite wird daher die „Trennung der Karrieren“69 gefordert, von der man sich unter anderem verspricht, dass die Unparteilichkeit des Richters, die das akkusatorische System fordert, besser gewährleistet werden kann. Durch die Reform ist die Bindung zwischen der Polizei, als Organ von Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft (polizia giudiziaria), und der öffentlichen Anklage enger geworden. Nach Art. 327 c.p.p. verfügt die Staatsanwaltschaft nunmehr direkt über die Polizei. Die Rolle des Staatsanwaltes hat sich graduell vom passiven Adressaten von Strafanzeigen und der anklagenden Instanz im anschließenden Prozess zu einem aktiven Betreiber der Ermittlungstätigkeit und Leiter der polizeilichen Maßnahmen entwickelt70. Das Legalitätsprinzip hat Verfassungsrang und die Staatsanwaltschaft keine Befugnis zu Opportunitätseinstellungen71. Auch die Einstellung des Verfahrens wegen Nichtvorliegens eines hinreichenden Anfangsverdachtes verfügt nicht die Staatsanwaltschaft, sondern der Ermittlungsricher auf Antrag (Artt. 408, 409 c.p.p.). Die öffentliche Anklage hat somit keinerlei Einstellungskompetenz. Die akkusatorischen Grundstrukturen, die insbesondere durch die Stellung des Richters als unparteiischem Dritten und die Rolle der Verteidigung und Anklage als sich kontradiktorisch gegenüberstehende Parteien gekennzeichnet sind, wird auch im reformierten Prozess durch zwei gesetzliche Komponenten unterlaufen. Zum einen wird die Rolle der Staatsanwaltschaft als Organ der Rechtspflege auch formell dadurch unterstrichen, dass diese nach Art. 358 c.p.p. auch zur Beschaffung von entlastendem Beweismaterial verpflichtet ist72. Diese Ob68
Liberati/Pepino, Giustizia e referendum, S. 32. 1997 war sogar ein Volksentscheid zur Frage der „Trennung der Ämterlaufbahnen („Separazione delle carriere“) durchgeführt worden, der allerdings nicht das erforderliche quorum erreichte; eine weitere Initiative zu einer Volksabstimmung zu dem Thema stammt aus 1999, vgl. Liberati/Pepino, Giusitzia e referendum, S. 11 f. 70 Liberati/Pepino, Giustizia e referndum, S. 44. 71 Allerdings wird in Bezug auf die einvernehmliche Verfahrenserledigung bereits offenkundig von der Aufgabe des Legalitätsprinzips gesprochen, vgl. hierzu ausführlich De Lalla Millul, Dir. pen. e proc. 1997, 621 ff., unter dem Titel: „Verrat des Legalitätsprinzips durch die patteggiamenti“; so im Ergebnis auch Spangher, Dir. pen. e proc. 2002, 1154, der von den Symptomen einer bereits „erfolgten Überwindung“ des Anklagezwangs spricht. 72 Zur Stellung der Staatsanwaltschaft als Organ der Rechtspflege und ihrer Verpflichtung auf die Suche der Wahrheit vgl. Morselli, pubblico ministero, in Dig. pen., Bd. X, S. 476, 501, der darauf verweist, dass der Staatsanwalt im Ermittlungsverfahren noch keine Parteistellung hat, sondern „dominus“ des Verfahrens sei; zur Stellung des Staatsanwalts vor der Einführung der neuen Prozessordnung und den Problemen 69
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jektivität, der die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren verpflichtet ist, könnte als widersprüchlich zu ihrer klaren Rolle als Partei im Hauptverfahren angesehen werden. Der Widerspruch soll indes nur ein scheinbarer sein73. Denn die korrekte Ausübung der Anklageerhebung wäre nicht denkbar ohne die Pflicht, auch die entlastenden Umstände zu ermitteln. So soll nach Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, gerade die Stellung der Anklage als öffentliche Partei im Ermittlungsverfahren deren Neutralitätspflicht erfordern74. Diese objektivierte Stellung soll allerdings nur im Ermittlungsverfahren gelten, während in der Prozessphase der Staatsanwalt seine ausschließliche Eigenschaft als Partei wiedererlange75. Die eindeutige Parteistellung führt dazu, dass die Handlungen des Staatsanwaltes als Partei im Prozess nicht durch die Gegenpartei im Wege der ordentlichen Rechtsmittel angefochten werden können; dies gelte, weil sie nicht Handlungen der rechtsprechenden Gewalt sind, die ausschließlich den Regeln über die Anfechtbarkeit unterliegen, Art. 568 c.p.p.76. In einem gewissen Widerspruch zu dieser als absolut verstandenen Parteistellung steht indes die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft in den gesetzlich vorgesehenen Fällen durch ihre Vertreter Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil auch zugunsten des Angeklagten einlegen kann gem. Art. 570, 568 Abs. 3 c.p.p.77. Abschließend ist festzuhalten, dass in der italienischen Rechtsordnung der Staatsanwalt einen dem Richter vergleichbaren unabhängigen Status hat78. Die gesetzliche Anerkennung der vollen Autonomie des einzelnen Sitzungsvertreters der Reform seiner Position im Ermittlungsverfahren, Scarpone, pubblico ministero (Dir. proc. pen.), in: Enciclopedia del diritto, Bd. XXXVII, S. 1094, 1106. 73 Verger, Le garanzie della persona sottoposta alle indagini, S. 212. 74 Vgl. Corte cost. ord. 11. April 1997, n. 96, Giur. cost. 1997, 953 ff.; in der Entscheidung wurde der Zweifel der Verfassungsmäßigkeit von Art. 358 c.p.p. insofern, als er keine Sanktionierung für den Fall vorsieht, in dem die Staatsanwaltschaft ihrer Pflicht, auch zugunsten des Beschuldigten zu ermitteln, nicht nachkommt, für offensichtlich unbegründet erklärt; verwiesen wurde auf die Funktion der genannten Pflicht, die in einer korrekten Anklageerhebung und Vermeidung überflüssiger Prozesse liege und mit der Stellung der Staatsanwaltschaft als öffentlicher Partei verbunden sei. 75 Conso/Grevi, Commentario breve al nuovo codice di procedura, Art. 326 Ziff. 2, (S. 1119) Padova 2002. 76 Vgl. hierzu Cassazione penale sezioni unite (im Folgenden abgekürzt: Cass. pen. sez. un.), 24. September 2001, in Arch. n. proc. pen. 2001, 596 ff. Dass die Entscheidung es für erforderlich erachtet, die Unanfechtbarkeit staatsanwaltlicher Handlungen im Prozess auf deren Parteistellung zu gründen, verdeutlicht, wie eng die magistratura als unabhängige Institution gesehen wird; vgl. zur Unanfechtbarkeit staatsanwaltlicher Maßnahmen im Wege der Rechtsmittel auch Lattanzi, codice di procedura penale, Art. 568, Ziff. 1 mit Hinweis auf weitere Fundstellen. 77 Vgl. hierzu Cordero, procedura penale, S. 1077, siehe auch Lattanzi, Codice di procedura penale, Art. 568, Ziff. 8, wonach sich ein Anfechtungsinteresse auf Seiten der Staatsanwaltschaft auch zugunsten des Angeklagten ergeben kann. 78 Vgl. Tonini, Manuale di procedura penale, S. 91.
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ist auch im Zusammenhang mit dem kontradiktorischen Verfahrensverständnis zu sehen. Denn dem Art. 52 c.p.p. liegt die Überlegung zugrunde, dass der Vertreter der Anklage die Möglichkeit haben muss, sich selbstständig dem Fortgang der mündlichen Verhandlung und deren „dialektischer Entwicklung“79 anpassen zu können. Dennoch sind auch in der institutionellen Position der Staatsanwaltschaft Relikte des inquisitorischen Prozessverständnisses insofern enthalten, als die Staatsanwaltschaft im Rahmen des Ermittlungsverfahrens ihre objektive Stellung beibehält, die sie dazu verpflichtet auch zugunsten des Beschuldigten zu ermitteln. Was auf den ersten Blick als eine Schutzfunktion für den Beschuldigten erscheinen mag, kann sich auf den zweiten jedoch als problematische Verknüpfung mit inquisitorischen Strukturen entpuppen. Denn wenn die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren eine Position als unabhängiges Organ der Rechtspflege innehat, das nicht „parteiisch“ ermittelt, so bedeutet dies in der Konsequenz, dass ihre den Angeklagten belastenden Ermittlungsergebnisse bei Gericht auch als „objektiver“ gewertet werden dürften, als die Resultate der Verteidigung, die von Beginn an ihrer Natur gemäß parteiisch sein muss. b) Verteidigung als notwendige Voraussetzung eines kontradiktorischen Verfahrens Der italienische Strafprozess misst der Verteidigung eine Rolle bei, die auch als „Ausdruck einer öffentlichen Funktion“80 verstanden wird, was mit dem grundsätzlich kontradiktorischen Verständnis vom Strafverfahren zusammenhängt. Wenn die Prämisse ist, dass im dialektischen Gegeneinander der Prozessparteien sich die Wahrheit eher ermitteln lässt als in einer vom Gericht gelenkten Beweisaufnahme, dann erhält die Verteidigung über ihre subjektive Schutzfunktion für den Beschuldigten hinaus auch eine objektiv erforderliche Stellung für die Wahrheitssuche im Prozess. Die Erforderlichkeit einer notwendigen Verteidigung erklärt sich mit dem Modell einer kontradiktorischen Entscheidungsfindung, in der die Wahrheitssuche nicht primär Aufgabe des Gerichtes ist, sondern der Initiative der Parteien obliegt (in der alten inquisitorischen Strafprozessordnung wurde in Fällen leichter Kriminalität vom Erfordernis der Verteidigung abgesehen (Art. 125 c.p.p. von 1930). Anders als im US-amerikanischen Modell, in dem eine notwendige Verteidigung aus dem Gedanken der Autonomie des Beschuldigten abgelehnt wird81, sieht die italienische Verfahrensordnung den Verfahrensbeitrag der Verteidigung für die Tatfeststellung in 79
Conso/Grevi, Compendio di procedura penale, S. 70. Vgl. Siracusano/Tranchina/Galati/Zappalà, Diritto processuale penale, S. 212. 81 Vgl. Herrmann, in: Der Strafprozess im Spiegel ausländischer Rechtsordnungen, S. 133, 144. 80
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einem kontradiktorischen Verfahren als unabdingbar vor. In der geltenden, reformierten Strafprozessordnung gilt daher uneingeschränkt die notwendige Verteidigung. Sofern der Angeklagte keinen Wahlverteidiger bestellt hat, wird ihm in jedem Fall ein Pflichtverteidiger gestellt (Art. 97 c.p.p.). Die Rolle der Verteidigung im reformierten Prozess ist im Ermittlungsverfahren deutlich gestärkt. Die Anwesenheitsrechte (Art. 365 c.p.p.) beschränken sich nicht nur auf richterliche Vernehmungen, sondern schließen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, wie Durchsuchung oder Beschlagnahme ein. Allerdings ist die praktische Relevanz dieser Anwesenheitsrechte geringer als es zunächst scheinen mag, da, um den Überraschungseffekt von Durchsuchungsmaßnahmen zu wahren, die Verteidigung zwar ein theoretisches Recht auf Anwesenheit, aber keinen Anspruch darauf hat, im Vorfeld über die Maßnahme informiert zu werden. Ebenso hat sie bei Ermittlungen auf Initiative der Polizei ein Anwesenheitsrecht, sofern es sich nicht um Spontanmaßnahmen am Tatort unmittelbar nach der Tat handelt (Art. 350 c.p.p.). Bestimmt der Beschuldigte auf Aufforderung der Polizei keinen Wahlverteidiger, wird ihm bereits zu diesem Zeitpunkt ein Pflichtverteidiger beigeordnet. Nach Art. 364 c.p.p. sind Vernehmungen, Durchsuchungen und Gegenüberstellungen dem Wahl- oder Pflichtverteidiger grundsätzlich 24 Stunden zuvor anzuzeigen und ihm ist in jedem Fall die Anwesenheit zu gewähren. Die Verteidigung hat darüber hinaus im Laufe der Ermittlungen das Recht, Schriftsätze einzureichen und schriftliche Anträge bei der Staatsanwaltschaft zu stellen (Art. 367 c.p.p.). Das Recht der Verteidigung auf Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren erstreckt sich nach Art. 366 c.p.p. auf alle Protokolle der von Staatsanwaltschaft oder Polizei durchgeführten Untersuchungsmaßnahmen, zu deren Beteiligung die Verteidigung berechtigt war. Das Recht auf eigene Ermittlungen war bis 2001 gesetzlich zwar nicht in der Prozessordnung selbst, wohl aber in den Ausführungsbestimmungen geregelt und ist nunmehr durch das Gesetz 397/2000 in die Prozessordnung in Art. 327 bis c.p.p. aufgenommen worden82. Das Ermittlungsverfahren läuft nur so lange geheim, bis eine Untersuchungsmaßnahme notwendig wird, die zur Anwesenheit der Verteidigung berechtigt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt erhält der Beschuldigte von der Staatsanwaltschaft die offizielle Mitteilung, dass gegen ihn ermittelt wird (informazione di garanzia, Art. 369 c.p.p.). Die Mitteilung enthält die vorgeworfenen Gesetzesübertretungen sowie Datum und Ort der Tat und die Aufforderung zur Bestellung eines Verteidigers. Dies soll eine frühzeitige Infor82 Art. 38 disp. att. (Ausführungsbestimmungen zum codice di procedura penale) bestimmt das Recht der Verteidigung, zur Verwirklichung des Anspruchs auf Beweiserhebung eigene Ermittlungen durchzuführen; durch das Gesetz n. 397 vom 7. Dezember 2000, in Gazz. uff., 3. Januar Nr. 2, 2001, ist auch Art. 233 Abs. 1 bis c.p.p. eingeführt worden, der bestimmt, dass die Verteidigung beim Gericht beantragen kann, die beschlagnahmten Gegenstände durch einen eigenen Sachverständigen untersuchen zu lassen; eingeführt wurde ebenso Art. 391 quater c.p.p., der das Recht gibt, Unterlagen im Besitz der öffentlichen Verwaltung einzusehen.
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mation des Beschuldigten83 über die gegen ihn laufenden Ermittlungen und die ihm vorgeworfenen Gesetzesverletzungen gewährleisten. Die Möglichkeit vollständiger Einsicht in die Akten der Staatsanwaltschaft erlangt er jedoch erst mit der durch die Staatsanwaltschaft schriftlich erteilten Anzeige des Abschlusses der Ermittlungen. Zu diesem Zeitpunkt muss die gesamte Dokumentation bei der Geschäftsstelle hinterlegt werden, um spätestens dann die Waffengleichheit zu verbürgen, die im Ermittlungsverfahren noch deutlich eingeschränkt war84. Abschließend sei hier nochmals die doppelte Funktion der Verteidigung hervorgehoben, deren Bedeutung sich nicht in der rechtsstaatlichen Garantie eines fairen Verfahrens für die Abwehrrechte des Beschuldigten erschöpft. Die notwendige Voraussetzung eines Verteidigers wird als ebenso wichtig erachtet für die kontradiktorische Konzeption der Wahrheitssuche und hat damit gleichermaßen einem objektiven Ziel des Strafprozesses zu dienen. c) Die Rolle des Opfers: Prozessuale Reduzierung auf das Entschädigungsinteresse Wie sich die akkusatorisch geprägte Gestaltung des Prozesses auf die Rolle des Opfers auswirken muss, kann durchaus unterschiedlich beurteilt werden. Einigkeit besteht weitgehend darüber, dass auch in diesem Punkt eine Wende vom alten, inquisitorisch geprägten Prozess erforderlich geworden war. Grundsätzlich legte der Codice Rocco dem Gericht die Pflicht auf, allein und unabhängig von den Initiativen privater Interessen des Opfers die Wahrheit von Amts wegen zu ermitteln. So war die abgeschaffte Prozessordnung gezeichnet von der Vorstellung, dass das Opfer insbesondere in der Funktion des Zeugen seinen Beitrag zur Findung der objektiven Wahrheit zu leisten habe85. Eine Stellung als Prozesssubjekt mit eigenen, vom objektiven Ziel der Wahrheitsfindung losgelösten Interessen wurde dem Opfer nur marginal zugestanden86. 83 Die neue Verfahrensordnung unterscheidet zwischen Beschuldigtem und Angeklagtem in der Form, dass die Eigenschaft als Angeklagter erst mit der Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft entsteht, Art. 60 Abs. 1 c.p.p. Die alte Prozessordnung kannte hingegen diese Differenzierung nicht und bezeichnete den Beschuldigten bereits im Ermittlungsverfahren als Angeklagten (imputato, Art. 365 c.p.p. von 1930). 84 Bonavolontà, Il nuovo processo penale nel suo aspetto pratico, S. 188, Fn. 71. 85 Vgl. Giarda/Spanher-Spangher, Codice di procedura penale commentato, Art. 90 V, Ziff. 1; so wurde das Opfer dementsprechend nach der alten Prozessordnung obligatorisch als Zeuge zur Hauptverhandlung geladen, vgl. Art. 408 c.p.p.abrogato. 86 Art. 306 der alten Strafprozessordnung (c.p.p.abr.) sprach dem Opfer einige verfahrensfördernde Rechte (das Vorlegen von Schriftsätzen, Hinweisen auf Beweiselemente oder das Anregen bestimmter Ermittlungen zu, änderte aber im Wesentlichen nichts an der grundsätzlichen Stellung des Opfers als einer Funktion des öffentlichen Interesses der „Wahrheitsfindung“, siehe Bresciani, in: Digesto delle discipline penalistiche, Bd. IX, S. 527, 534. Das Recht auf eine Mitteilung über ein laufendes Ermittlungsverfahren nach Art. 304 c.p.p.abr. kam dem Opfer lediglich in Bezug auf eine
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Die sich übernational abzeichnende Tendenz, den Rechten des Opfers im Strafverfahren mehr Bedeutung beizumessen, hat sich auch in der ialienischen rechtspolitischen Diskussion merklich niedergeschlagen. So ging die normative Entwicklung dahin, das Opfer aus seiner Randposition zu heben, die es im Codice Rocco innehatte, und zu einem mit „eigenen, starken Rechten ausgestatteten Verfahrenssubjekt“ aufzuwerten87. Wie sich nun aber die Stärkung der prozessualen Stellung des Tatopfers in ein kontradiktorisches Verfahrenssystem fügt, wird durchaus unterschiedlich bewertet. Zwar gehört es quasi zum Selbstverständnis eines kontradiktorisch geprägten Akkusationsprozesses, dass sein Ergebnis resultiert aus einer „aktiven Beteiligung aller Verfahrenssubjekte“, die „in jedem Moment der prozessualen Entwicklung aus unterschiedlichen Perspektiven intervenieren“88. Wer aber diese kontradiktorisch agierenden Verfahrenssubjekte idealiter sein sollten, darüber divergieren die Meinungen entschieden. So könnte auf der einen Seite eine kontradiktorische Verfahrensgestaltung nach einer stärkeren Prozessstellung des Opfers rufen, weil sie ihren Schwerpunkt auf das kommunikative Element der Rechtsfindung legt; auf der anderen Seite ist der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens eng mit dem Gedanken einer prozessualen Dialektik verbunden. Diese hat sich nun aber in der Auseinandersetzung der Parteien zu entfalten. Partei ist aber gerade nicht das Opfer, sondern die öffentliche Anklage. Das Hinzutreten Dritter in dieses adversatorische Streitgespräch, aus dem sich die gerechte Entscheidung herauskristallisieren soll, könnte so das ohnehin problematische Kräfteverhältnis zwischen den Parteien zusätzlich aus dem Gleichgewicht bringen. Die Frage der prozessualen Bedeutung des Opfers wurde dementsprechend auch in Italien kontrovers beantwortet. Wo die einen die Stellung des Opfers in der neuen Prozessordnung als nicht notwendig für die Entfaltung einer prozessualen Dialektik begreifen, weil deren konstitutive Teilhaber sich in den Parteien erschöpften89, sehen andere die Beteiligung des Opfers als unabdingbar für die Vollständigkeit eines kontradiktorischen Verfahrens90.
etwaige Stellung als Zivilpartei im Verfahren zu. So bezeichnet Cordero, Procedura penale, S. 271, das Opfer als „Bittenden“ (postulante) ohne Rechte. 87 Vgl. Quaglierini, Le parti private diverse dall’imputato e l’offeso dal reato, S. 155 f. 88 So die Formulierung bei Ubertis, Fatto e valore nel sistema probatorio penale, S. 93. 89 Bresciani, in: Digesto delle discipline penalistiche, S. 527, 539, Fn. 11; auf die Gefahr der Störung des kontradiktorischen Gleichgewichts macht auch Tonini, Manuale di procedura penale, S. 121, aufmerksam, der hierin die eigentliche Motivation des Gesetzgebers für die beschränkten Rechte des Opfers in der Hauptverhandlung sieht. So habe der Gesetzgeber mit der Reform grundsätzlich die Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche aus dem Strafverfahren heraushalten wollen.
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Der Gesetzgeber hat in dieser Auseinandersetzung gewissermaßen einen Mittelweg gewählt. Erklärtes Ziel der Prozessreform von 1988 war, die Rolle des Verletzten im Verfahren zu stärken und so seine stark objektivierte Funktion im Codice Rocco zu überwinden91. So sah bereits das Ermächtigungsgesetz von 1987 für das Opfer die Möglichkeit vor zu beantragen, dass die Einstellung des Verfahrens nicht ohne vorherige Mitteilung erfolge, sodass die Staatsanwaltschaft gezwungen werden konnte, das Opfer von einer möglicherweise bevorstehenden Einstellung in Kenntnis zu setzen. Darüber hinaus gewährte auch bereits das Ermächtigungsgesetz das Recht des Opfers, auf die entsprechende Mitteilung der Staatsanwaltschaft beim Gericht einen begründeten Antrag auf Terminierung einer Vorverhandlung zu stellen. Bereits systematisch sollte die gestärkte Position des Opfers zum Ausdruck kommen, indem der verletzten Person ein eigener Abschnitt im ersten Buch der Prozessordnung gewidmet wurde. Der Verletztenbegriff wurde ausgedehnt, die Beteiligungsrechte gestärkt und die Möglichkeit der Intervention auf das gesamte Verfahren erstreckt92. Von der Aufwertung der Stellung des Opfers im Verfahren kann man aber nur dann sachgerecht sprechen, wenn man seine Position klar von der Zivilpartei (parte civile) abgrenzt. Der Gesetzgeber hat die Stellung des Opfers nämlich klar danach differenziert, ob es im Verfahren zivilrechltiche Ausgleichsansprüche geltend macht oder aber sein Interesse sich auf die Strafverfolgung reduziert. Der durch die Straftat zivilrechtlich Geschädigte (danneggiato dal reato) kann zur Geltendmachung seiner Ansprüche im Strafverfahren als Zivilkläger auftreten (Art. 74)93. Das Adhäsionsverfahren hat in Italien eine weitaus größere Bedeutung als in Deutschland, da das Gericht nicht aufgrund von Ermessenserwägungen von einer Entscheidung über die Zivilklage absehen kann94.
90 G. Cordero, Cass. pen. 1989, 1115, 1124, die davon ausgeht, dass ein kontradiktorisches Verfahren nur dann vollständig ist, wenn es sich nicht nur die formalen Parteien, Anklage und Verteidigung einbezieht, sondern ebenso die materiellen Parteien, vermuteten Täter und vermutetes Opfer in einen kontradiktorischen Dialog führt. Dementsprechend sieht sie im Opfer auch ein „unverzichtbares Element der pozessualen Dialektik“ (S. 1123); in diese Richtung geht auch die Wertung bei Siracusano/ Galati/Tranchina/Zappalà, Diritto processuale penale, Bd. 1, S. 200, die es gerade als wesentliche Eigenschaft des akkusatorisch auf der Dialektik von Anklage und Verteidigung aufbauenden Prozesses verstehen, dem Opfer eine stärkere Rolle in der Unterstützung und Kontrolle der Anklage beizumessen, und die Rolle des Opfers in der reformierten Prozessordnung dementsprechend als deutlich aufgewertet verstehen. 91 Vgl. die amtliche Begründung zum Entwurf der Strafprozessordnung, LEX 1988, 333, 401 f. 92 Vgl. die Übersicht zu den durch die Reform eingeführten Opferrechten die amtliche Begründung zum Gesetzentwurf zur Reform der Strafprozessordnung, LEX 1988, 331, 402. 93 Zur rechtspolitischen Diskussion zur Frage des „Adhäsionsverfahrens“ im Vorfeld der Prozessreform vgl. die Nachweise bei Quaglierini, Le parti private diverse dall’imputato e la persona offesa dal reato, S. 21, Fn. 42.
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Dass Opferinteressen in der italienischen Prozessordnung im Wesentlichen mit zivilrechtlichen Ausgleichsansprüchen verbunden werden, wird vor allem deutlich in der ungleich stärkeren Position des Zivilklägers als Partei im Verfahren gegenüber der allgemeinen prozessualen Position des Verletzten. Die von einer etwaigen Zivilklage gelösten Genugtuungsinteressen des Opfers werden dagegen vor allem in der Eröffnung und Fortführung des Verfahrens gesehen95 und sind dementsprechend auf das Ermittlungsverfahren konzentriert. Das Opfer tritt in dieser Phase gewissermaßen als passive Kontrolle der Staatsanwaltschaft auf; ihm verbleibt nur die Möglichkeit, weitere Ermittlungen anzuregen96. Der Verletzte bleibt somit auch nach der Reform trotz der zahlreichen ihm gewährten Rechte ein „postulierender“ Verfahrensbeteiligter, „ohne die Befugnisse einer Partei“97, in einer der Staatsanwaltschaft gegenüber unselbstständigen Position. Die prozessuale Präsenz des Opfers kann man so auch nach der Prozessreform noch als „marginal“ bezeichnen98. Den Befugnissen, eine weitergehende Beweisaufnahme anzuregen, korrespondiert keine Pflicht der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts, diesen Anregungen Folge zu leisten (Art. 90 c.p.p.)99. Eine dem Nebenkläger entsprechende Figur gibt es in Italien nicht. Entweder das Opfer (im Falle des durch die Tat verursachten Todes dessen Angehörige, Art. 90 Abs. 3) tritt als Zivilpartei (parte civile) auf, oder es nimmt die allgemeine Rolle des Verletzten im Verfahren mit entsprechend gering gehaltenen Rechten ein100. Das Opfer ist mit der Ausübung seiner Rechte somit im We94 Der Ausschluss der Zivlipartei kann nur unter engen Vorausetzungen, die die Unrechtmäßigkeit der Stellung als Zivilpartei betreffen müssen, auf Antrag oder von Amts wegen verfügt werden, Art. 80, 81 ff. c.p.p. 95 Vgl. G. Cordero, a. a. O., S. 1115, 1125. 96 So kann das Opfer nach Art. 410 Abs. 1 c.p.p. im Falle eines von der Staatsanwaltschaft gestellten Antrags auf Einstellung des Verfahrens (Art. 408 c.p.p.) die Fortsetzung der Ermittlungen dann verlangen, wenn es den Gegenstand der ergänzenden Ermittlungen konkretisieren und die entsprechenden Beweismittel angeben kann. Führt die Staatsanwaltschaft keine weiteren Ermittlungen durch, beantragt sie beim Gericht die Einstellung des Verfahrens. Im Falle eines Widerspruchs des Opfers gegen die Einstellung beraumt das Gericht eine nicht öffentliche Verhandlung an, in der es über die Einstellung entscheidet. Der Einstellungsbeschluss ist dann nur in Fällen offensichtlicher Nichtigkeit beim Kassationsgericht anfechtbar, Artt. 409 Abs. 6, 127 c.p.p. 97 Cordero, Procedura penale, S. 273. 98 So Bresciani, a. a. O., S. 527, 544. 99 Art. 90 c.p.p. sieht vor, dass das Opfer neben den vom Gesetz ausdrücklich gewährten Rechten in jedem Moment und in jedem Grad des Verfahrens Schriftsätze einreichen und Beweismittel anzeigen kann. Diese Vorschrift war bereits im Ermächtigungsgesetz von 1987 in Art. 2, Punkt 3) aufgenommen worden. Diese Befugnis ist jedoch deutlich von dem Recht auf Beweisaufnahme zu trennen, das nach Art. 190 c.p.p. gerade nur den Parteien gewährt wird. Der Gesetzgeber gesteht also dem Opfer zu, beim Gericht oder der Staatsanwaltschaft anzuregen, was ihm selbst prozessual verwehrt ist.
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sentlichen auf das Ermittlungsverfahren beschränkt, während nach Erhebung der öffentlichen Anklage das Entschädigungsinteresse in den Vordergrund tritt, so dass in diesem Verfahrensstadium der Verletzte mit eigenen Rechten am Verfahren nur dann teilnehmen kann, wenn er als Zivilpartei seine Ansprüche im Prozess geltend macht. Die bewusste Trennung des Gesetzgebers zwischen den an die Anklageerhebung gebundenen Genugtuungsinteressen des Opfers und dem Interesse an einem materiellen Ausgleich schlagen sich so in der verfahrensrechtlichen Gestaltung der Beteiligungsrechte in den unterschiedlichen Verfahrensstadien nieder. Dem Opfer kommt eine Parteistellung im Verfahren unstreitig gerade nicht zu101. Die Genugtuungsinteressen des Opfers werden somit im Ergebnis der Ausübung der öffentlichen Klage untergeordnet und im Übrigen nach Anklageerhebung weitgehend mit der Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche indentifiziert; ein davon unabhängiges eigenes Strafverfolgungsinteresse wird nur sehr begrenzt wahrgenommen102. Deutlich wird dies auch daran, dass Rechtsinstitute, die der Privatklage oder dem Klageerzwingungsverfahren der StPO entsprächen, nicht vorgesehen sind. Das Opfer bleibt in der Wahrnehmung seiner über zivilrechtliche Ansprüche hinausgehenden Interessen ohne eigene das Verfahren betreibende Rechte auf ein akzessorisches Einwirken auf die Staatsanwaltschaft beschränkt und rückt erst nach Anklageerhebung aktiv ins Prozessgeschehen, wenn es als zivilrechtlicher Kläger auftritt.
100 Zu einer detallierten Darstellung der Opferrechte im Allgemeinen vgl. Giarda/ Spangher-Spangher, Codice di procedura penale commentato, Art. 90, VIII. 101 Vgl. Bresciani, in: Digesto delle discipline penalistiche, S. 527, 537; Giarda/ Spangher-Spangher, Codice di procedura penale commentato, Art. 90 V., Ziff. 5. Es wird aber von einer informazione di garanzia (Art. 369 c.p.p.), durch die der Beschuldigte erstmalig von der Staatsanwaltschaft über die gegen ihn laufenden Ermittlungen informiert wird, sowie von dem Termin der Vorverhandlung, sowie der Hauptverhandlung in Kenntnis gesetzt (Artt. 419, 465 c.p.p.). Streitig ist allerdings, ob das Opfer, das nicht als Zivilpartei auftritt, das Recht hat, an der Vorverhandlung teilzunehmen, vgl. zu dieser Auseinandersetzung Giarda/Spangher-Spangher, Art. 90 VIII, Rn. 19. 102 Nicht dem Ansatz dieser Arbeit entspricht daher die Wertung von Spangher, in: codice di procedura penale annotato, V. Ziff. 3, dass dem Opfer im reformierten Prozess praktisch die Rolle einer „privaten Anklage“ zukäme – wenn diese auch „akzessorisch“ zur öffentlichen Klage bleiben soll. Ganz auf der Linie der zurückgenommenen Rolle des Opfers im Sinne eines eigenen Strafverfolgungsinteresses weist G. Cordero, Cass. pen. 1989, 1114, 1122, darauf hin, dass im geltenden System die retributive Funktion der Strafe aus dem privaten Bereich ganz auf den öffentlichen übergegangen sei, was sich gerade im Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft niederschlage; ein eigenständiges Genugtuungsinteresse des Opfers, das über den Schadensersatz- oder Schmerzensgeldanspruch hinausgehe, hält sie folglich in einem modernen Strafsystem für nicht verankerbar; anders aber Quaglierini, Le parti private diverse dall’imputato e l’offeso dal reato, S. 7, 158, der die Genugtuungsinteressen des Opfers und die zivilrechtlichen Entschädigungsansprüche sehr wohl differenziert und ein eigens „Repressionsinteresse“ des Opfers bejaht.
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3. Instruktorische Relikte in der Rolle des Gerichts Es sollte deutlich werden, dass die Reform der Prozessordnung sich zum Ziel gesetzt hat, den neuen Strafprozess dem akkusatorischen Modell zu verschreiben und die kontradiktorische Entscheidungsfindung in der Hauptverhandlung als Inbegriff dieses Typs zu begreifen. Es liegt auf der Hand, dass der erstrebte radikale Bruch mit dem inquisitorischen System die Verpflichtung des Gerichts auf die Wahrheit nicht unberührt lassen kann. In der alten Strafprozessordnung fand sich in Art. 299 Abs. 1 noch der Begriff der „Feststellung der Wahrheit“ (accertamento della verità)103, mit dem das Ziel der Aufgaben des Untersuchungsrichters umschrieben wurde. In der gesetzlichen Ausgestaltung des reformierten Strafverfahrens findet sich der Wahrheitsbegriff nicht mehr104. Dennoch greifen Literatur105, Rechtsprechung106 und auch der Gesetzgeber im Ermächtigungsgesetz107 auf den Wahrheitsbegriff, bzw. die „Feststellung der Tatsachen“ zurück, die in der Hauptverhandlung zu erfolgen habe. In dem Festhalten am materiellen Wahrheitsbegriff lässt sich eine gewisse Scheu erblicken, das akkusatorische und kontradiktorische Prozessverständnis konsequent durchzudenken. So ist denn auch der vielfältige Rekurs auf die „Wahrheit“ von jeweils unterschiedlichen semantischen Konnotationen geprägt. Die einzelnen Positionen werden eingehender im Zusammenhang mit der eigentlichen Regelung des patteggiamento untersucht. Festzuhalten ist aber bereits hier, dass der Verzicht auf den Wahrheitsbegriff im Gesetz als eine – möglicherweise unbewusste – Einlei103 Art. 299 Abs. 1 der alten Prozessordnung im Original: „Il giudice istruttore ha obbligo di compiere prontamente tutti e soltanto quegli atti che in base agli elementi raccolti e allo svolgimento dell’istruzione appaiono necessari per l’accertamento della verità.“ 104 In den Richtlinien des Ermächtigungsgesetzes von 1974 war aber sehr wohl noch von „ricerca della verità“ die Rede, vgl. Art. 2, Nr. 73, in Suppl. ord. gazz. uff. vom 16. März 1987. 105 Beispielsweise seien hier folgende Autoren angeführt, die von der „Feststellung der Wahrheit“ (accertamento della verità) sprechen: Cremonesi, Il patteggaimento nel processo penale. S. 11; Stefani, l’accertamento della verità, so der Titel der gleichnamigen Monographie, Milano 1995; Baudi, in Arch. n. proc. pen., 1998, 487, 489, der von der materiellen Wahrheitssuche als eigentlichem Prozessziel spricht unter dem Hinweis darauf, dass in dem Dualismus materielle/formelle Wahrheit mit dem Begriff der „verità giudiziale“ vermittelt werde. 106 So hat das Verfassungsgericht erklärt, dass die Dialektik der kontradiktorischen Hauptverhandlung sowie das Mündlichkeitsprinzip gerade als Kriterien ausgewählt sind, die den Erfordernissen der Wahrheitssuche am besten gerecht werden, Corte cost. 26. März 1993, n. 111, in Giust. pen. 1993 I, 197 ff. = Giur. cost. 1993, 901, 903; in einer weiteren Entscheidung erklärte das Verfassungsgericht die Suche nach der Wahrheit sogar zum primären und unausweichlichen Ziel des Strafprozesses, Corte cost. 3. Juni 1992, n. 255, in Giust. pen. 1992 parte I, 230; zur erklärten Unvereinbarkeit dieses Grundsatzes mit dem Prinzip eines kontradiktorischen Parteiverfahrens vgl. Murone, Giust. pen. 2001, 225, 236. 107 Vgl. die Richtlinie n. 73 des Ermächtigungsgesetzes von 1987, LEX 1987, parte I, 618.
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tung für einen nicht ausdrücklich zugestandenen Wandel in der Vorstellung vom Prozessziel verstanden werden kann. Das Gesetz scheut den Begriff der materiellen Wahrheit aus gutem Grund, da er sich mit der Idee eines kontradiktorischen Verfahrens nicht vereinbaren lässt. Zur Veranschaulichung dieser These soll nun ein summarischer Blick auf das Beweisrecht der ursprünglichen reformierten Prozessordnung geworfen werden. Im Folgenden wird dann auf diejenigen gesetzlichen Änderungen einzugehen sein, die die deklarierte akkusatorische Intention des Gesetzgebers mehr und mehr unterlaufen haben. a) Das Beweisrecht – Stoffbeibringung durch die Parteien und Relikte der Amtsermittlung Die systematische Entscheidung für eine in sich geschlossene normative Regelung des Beweisrechtes in einem diesem eigens zugedachten, nämlich dem dritten Buch der Prozessordnung, entspringt einem zweiseitigen Bedürfnis. Zum einen sollte auf diese Weise die zentrale Bedeutung der Beweisgewinnung für den akkusatorischen Prozess unterstrichen, zum anderen der fragmentarische Charakter der Regeln zur Beweisaufnahme, wie er noch im Codice Rocco vorherrschte, beseitigt werden, da gerade dieser dazu geführt hatte, die Ermittlungsphase als das eigentliche Zentrum des Prozesses zu etablieren108. Der alte Prozess war noch bestimmt von gesetzlichen Beweisregeln, die nun im neuen zugunsten des Prinzips der freien Beweiswürdigung und Überzeugung des Gerichts abgeschafft wurden109. Beweis im rechtlichen Sinne ist nun ausschließlich die in der Hauptverhandlung oder ausnahmsweise im selbstständigen Beweissicherungs- (Art. 392 c.p.p.) oder im Zwischenverfahren (Art. 422 c.p.p.) durch das Gericht erlangte Überzeugung von einer den Tatvorwurf betreffenden Tatsache110. Weder Staatsanwaltschaft noch Polizei sind also im Ermittlungsverfahren zur Beweisaufnahme im eigentlichen Sinne des Begriffs imstande. Die Parteien beschaffen lediglich Beweiselemente (elementi di prova). Begrifflich unterschieden werden die Beweisquellen (fonti di prova) von den Beweismitteln (mezzi di prova111). Beweisquellen sind diejenigen Sachen, Urkunden oder 108
Grevi, in: Compendio di procedura penale, S. 275, 276; vgl. zum grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Prozessmodell und Beweisrecht auch Tonini, Manuale di procedura penale, S. 155 ff. 109 Der Begriff der „freien Beweiswürdigung“ findet sich zwar im Gesetz nicht, aber nach Art. 192 c.p.p. würdigt das Gericht die Beweise und begründet die Würdigung in den Entscheidungsgründen. 110 In der Definition von Bonavolntà, Il nuovo processo penale, S. 89, ist der Beweis die von den Parteien vor dem Gericht durchgeführte Rekonstruktion der Tatsache, die die richterliche Überzeugung zum Zweck der Entscheidungsfindung bildet. Ausführlich und kritisch zu diesen terminologischen Fragen des Beweisrechts Ubertis, Cass. pen. 2002, 1182 ff., der auch die Ermittlungsergebnisse der Kategorie der Beweise zuordnet und das Problem in den Bereich der Beweiswürdigung verlagert, S. 1182 f.
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Personen, auf denen der schließlich erlangte Beweis beruht; diese Beweisquellen existieren bereits in der vorprozessualen Phase und es ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft, die Quellen zu sichern. Die Eigenschaft als eigentlicher Beweis kann den Quellen aber erst vor dem Richter zukommen. Erst zu diesem Zeitpunkt lässt sich im technischen Sinne von Beweisaufnahme sprechen. Beweismittel (mezzi di prova, Art. 194 ff. c.p.p., Zeugenaussagen, Gegenüberstellungen, Gutachten etc.) hingegen sind diejenigen Instrumente, die direkt und unmittelbar den Beweis erzeugen, sie erlangen Bedeutung notwendigerweise erst in der Phase der Hauptverhandlung oder ausnahmsweise im Rahmen des Beweissicherungsverfahrens. Von ihnen zu unterscheiden sind die Mittel der Beweissuche (mezzi di ricerca della prova, Art. 244 ff. c.p.p.). Die Beweissuche findet vorwiegend in der vorprozessualen Phase und nur ausnahmsweise in der Hauptverhandlung statt112. Die Mittel zur Beweissuche zielen auf die Findung von Beweisquellen ab. Der Gesetzgeber hat, wie hieraus ersichtlich ist, viel Mühe darauf verwandt, die zentrale Bedeutung der Beweisaufnahme für das akkusatorische Modell terminologisch exakt auch hinsichtlich der Trennung der Prozessphasen zum Ausdruck zu bringen. Der Begriff des Beweises im strengen Sinne soll der Überzeugung des Gerichts vorbehalten bleiben113. Die 111 So unterscheidet der Gesetzeswortlaut auch terminologisch die einzelnen Handlungen zur Beweisgewinnung je nachdem, ob sie im Ermittlungs- oder im Hauptverfahren stattfinden, so z. B.: die „Informationen“ (informazioni, Art. 362 c.p.p.) von den „Zeugenaussagen“, (testimonianza, Art. 194 c.p.p.); die „Individualisierung“ (individuazioni, Art. 361 c.p.p.) von der „Wiedererkennung“ (ricognizione, Art. 213 c.p.p.); die technisch nicht wiederholbaren „Feststellungen“ (accertamenti tecnici non ripertibili, Art. 360 c.p.p.) vom „Sachverständigengutachten“ (perizia, Art. 220 c.p.p.). 112 So auch Corte di Cassazione, sez. IV, Urteil n. 2516 vom 11.3.1992 zur teleologischen Trennung von Mitteln der Beweissuche und Beweismitteln. 113 Vgl. die Begründung zum Vorentwurf (relazione al Progetto preliminare), LEX 1988, 333, 437. Das Bestreben des Gesetzgebers, die akkusatorische Gewichtung der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung in der freien Würdigung des Gerichts zu unterstreichen, ist allerdings nicht konsequent durchgehalten, was sich exemplarisch an zwei Punkten verdeutlichen lässt: zum einen spricht das Gesetz explizit von einem Verwertungsverbot von unrechtmäßig gewonnen Beweisen, Art. 191 c.p.p.; wenn nun aber die Trennung der Begriffe Beweis und Beweismittel stringent durchgeführt würde, wäre die Annahme einer unrechtmäßigen Beweisaufnahme durch das Gericht nicht logisch, da „Beweise“ als solche ja erst in der freien Überzeugung des Gerichts entstehen sollen und das Gericht unrechtmäßige Beweismittel nicht in seine Überzeugungsbildung aufnehmen darf. Mithin wäre nur von unrechtmäßig gewonnenen Beweismitteln zu sprechen. Zum anderen regelt das Gesetz die Mittel zur Beweissuche (mezzi di ricerca della prova), Art. 244 ff. c.p.p.; die sich insbesondere auf die Ermittlungsphase beziehen; dies setzt voraus, dass das Gesetz in diesen Fällen von Beweisen ausgeht, die unabhängig von der Überzeugung des Gerichts bereits vor der Verhandlung existieren; ebenso inkonsequent ist vor diesem Hintergrund die Formulierung in Art. 422 Abs. 1 c.p.p., nach der auch der Richter der Vorverhandlung eine Beweisaufnahme durchführen kann. Somit wird die als wesentlich für den neuen Prozess verstandene Bindung zwischen Beweis und Hauptverhandlung unterlaufen, vgl. zu dieser „untrennbaren Verbindung (legame inscindibile) die Begründung zum Gesetzentwurf, LEX 1988, 333, 436.
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gesetzlichen Regeln zur Beweisaufnahme sollen, obwohl von Beweisaufnahme im strengen Sinn nur in der Hauptverhandlung und im Beweissicherungsverfahren gesprochen werden kann, aber auch für die vorprozessuale Phase gelten114, so dass auch Staatsanwaltschaft und Polizei in ihren Ermittlungen an die allgemeinen Bestimmungen zum Beweisrecht gebunden sind115. Diese Bindung folgt zum einen aus der Tatsache, dass gewisse Ermittlungsergebnisse (Art. 431 c.p.p.) in den Akten der Hauptverhandlung gesammelt werden und diesen möglicherweise durch Verlesung in der Hauptverhandlung (Art. 511 c.p.p.) dann Beweiswert zukommt; zum anderen ist sie allgemein aus dem Umstand abzuleiten, dass es aufgrund der besonderen, verfahrensabkürzenden Verfahren vom Konsens der Parteien abhängt, ob den Ermittlungsergebnissen auch ohne Eintritt in die Hauptverhandlung Beweiswert in einer Sachentscheidung des Gerichts zukommen kann. Zwar kommt den Akten formell auch in den besonderen Verfahren keine Beweiskraft zu; das Gericht entscheidet in diesen Fällen aber auch zur Schuld- und Straffrage auf Grundlage der Untersuchungsakten, und daher sollen sich diese im Hinblick auf die Überzeugungsbildung des Gerichts auf dem „Niveau von Beweisen“116 befinden. Aus diesem Grund müssen staatsanwaltliche und polizeiliche Ermittlungen an die allgemeinen Bestimmungen (Artt. 187–193 c.p.p.) des Beweisrechts gebunden sein. Die klare Trennung von Beweisen im eigentlichen Sinne und den Beweisquellen, die lediglich deren vorprozessuale Grundlage bilden, wurde jedoch durch das Verfassungsgericht und entsprechende gesetzliche Änderungen des Beweisrechts deutlich relativiert. Von grundlegender Bedeutung in diesem Zusammenhang ist die Entscheidung von 1993117, die den Grundsatz der kontradiktorischen Methode des Strafverfahrens dadurch aufweicht, dass sie das „Prinzip des Nichtverlustes von Beweisen“ (principio di non dispersione delle prove) als notwendiges Korrektiv für das kontradiktorische Verfahren verfassungsrechtlich verankert. Die Etablierung dieses ungeschriebenen Verfassungsgrundsatzes führte zu verschiedenen Gesetzesmodifizierungen, die den Beweistransfer aus der Ermittlungsphase in die Hauptverhandlung deutlich erleichterten118. Begründet wurde diese Notwendigkeit mit dem unwiderlegbaren Ziel der Wahrheitssuche119. 114
Grevi, in: Compendio di procedura penale, S. 275, 279. Grevi, a. a. O., S. 281. 116 Grevi, a. a. O., S. 281. 117 Corte cost. sent. n. 111, 26. März 1993, Giur. cost. 1993, 901 ff.; die Entscheidung wurde wegen ihrer Relativierung der akkusatorischen Grundsätze des reformierten Prozesses heftig kritisiert, vgl. hierzu Ferrua, Quest. giust. 1992, 227 ff. m. w. N. 118 Vgl. zu den gesetzlichen Konsequenzen insbesondere Art. 513 c.p.p., der die Verlesung von Aussagen des Angeklagten aus dem Ermittlungsverfahrens bzw. der Vorverhandlung regelt; gefördert wurde diese Tendenz durch zwei wichtige Entscheidungen des Verfassungsgerichts, Corte cost., sent. 3. Juni 1992, n. 255, in Giur. cost. 1992, 1961 ff., mit Anm. von Illuminati, ebd. S. 1973; so auch Corte cost., sent. 2. 115
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Ganz im Zeichen der akkusatorischen Struktur liegt die Initiative zur Beweisaufnahme bei den Parteien, sie haben einen „Beweisanspruch“ (diritto alla prova, Art. 190). Auf Antrag der Parteien werden die Beweise zugelassen. Das „Beweisrecht“ steht den Parteien, wenn auch nicht explizit, ebenso im Beweissicherungs- wie im Zwischenverfahren zu, wenn auch die Zulassungsvoraussetzungen für die beantragten Beweise in der Vorverhandlung deutlich strenger sind, da offensichtliche Entscheidungserheblichkeit erfordert ist120. Das Beweisrecht der Parteien ist nunmehr in Art. 111 Abs. 3 cost. verfassungsrechtlich verankert. Das kontradiktorische Grundverständnis des Beweisrechtes kommt insbesondere in der direkten Zeugenvernehmung durch die Parteien im Wege des Kreuzverhörs zur Geltung; allerdings ist auch in diesem Zusammenhang einschränkend darauf hinzuweisen, dass Relikte des Amtsermittlungsgrundsatzes sich auch in dieser Regelung finden: so ist das Gericht nach Art. 506 Abs. 1 c.p.p. befugt, nach der Vernehmung des Zeugen durch die Parteien diese auf weitere Beweisthemen hinzuweisen, die es im Hinblick auf die Vollständigkeit der Zeugenbefragung für nützlich befindet. Nach Abs. 2 kann das Gericht nach durchgeführter Befragung durch die Parteien selbst ergänzende Fragen an den Zeugen richten. Die Parteien sind, wenn auf Antrag ein Beweismittel in Form der Zeugenbefragung zugelassen wurde, für die Ladung des Zeugen selbst verantwortlich. Kommen die Parteien dieser Pflicht nicht nach, so bedarf es keiner richterlichen Verfügung zur Rücknahme der Zulassung des Beweismittels, sondern die Partei macht durch ihr Unterlassen konkludent von ihrem Recht zur Disposition über den Beweis Gebrauch, das in Art. 190 Abs. 1 c.p.p. konstituiert ist121.
November 1998, n. 361, in Giur. cost. 1998, 3083, mit Anm. Scarpone, ebd. S. 3148 und Anm. von Gemma/Pellati, ebd. S. 3153 ff., in denen zum einen die Gefahr des Verlustes von Beweismaterial aus dem Ermittlungsverfahren sowie die Möglichkeit der Vorhalte dem schweigenden Mitangeklagten gegenüber zu Prinzipien erhoben wurden, die der Ausbreitung von Regeln, mit denen die Trennung der Prozessphasen relativiert wurde, Tür und Tor öffneten. 119 Corte cost. sent. n. 111, 26. März 1993, Giur. cost. 1993, 901, 915; in diesem Sinn in aller Deutlichkeit auch die Entscheidung der Corte cost., sent. vom 2. November 1998, n. 361, Giur. cost. 1998, 3083, in der ausdrücklich das „essentielle Ziel des Strafprozesses“ in der „Suche nach der Wahrheit und einer gerechten Entscheidung“ gesehen wird (S. 3086). Wie sehr dabei die Gerechtigkeit einer Entscheidung mit der Suche nach der materiellen Wahrheit verknüpft ist, wird in der bereits zitierten Entscheidung n. 111/1993 des Verfassungsgerichts deutlich, wenn die Feststellung des „historischen Geschehens“ als notwendige Voraussetzung einer „gerechten Entscheidung“ verstanden wird, Giur. cost. 1993, 901, 915. 120 Vgl. Grevi, in: Compendio di procedura penale, S. 294; Art. 422 Abs. 1 c.p.p. erfordert für die Beweisaufnahme in der Vorverhandlung, dass die Entscheidungserheblichkeit der Beweise „evident“ ist. 121 Conso/Grevi, Commentario breve als nuovo codice di procedura penale, Art. 190 II, Ziff. 1.
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Die Beweiswürdigung muss nach Art. 192 c.p.p. in den Urteilsgründen insoweit nachvollziehbar dargelegt sein, als sie die aufgenommenen Beweise sowie die angewandten Wertungskriterien enthalten muss122. Die Beweiswürdigung bezieht sich allgemein nur auf die verfügbaren, von den Parteien beigebrachten Beweismittel. Ein Beweisinitiativrecht des Richters besteht nur in Ausnahmefällen. Der Grundsatz der Unparteilichkeit des Gerichts gebiete, dieses von der Beweisinitiative im Regelfall auszuschließen; denn andernfalls käme man zu der „absurden Konsequenz“, dass das Gericht über solche Tatsachen zu urteilen habe, die von ihm selbst vorgebracht und in den Prozess eingeführt worden sind. Daher solle auch das integrative Beweisrecht auf solche Beweisfragen beschränkt bleiben, die den von den Parteien bereits eingeführten Prozessstoff betreffen123. Regel ist somit die Beweisermittlung auf Initiative der Parteien, und doch sind – dem Grundsatz der Parteiermittlung zum Trotz – einige Untersuchungstätigkeiten des Gerichts von Amts wegen weiterhin vorgesehen124. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang vor allem Art. 507 c.p.p., der die Zulässigkeit neuer Beweiserhebung von Amts wegen auch in der Hauptverhandlung für den Fall vorsieht, dass es nach Beweisaufnahme durch die Parteien „absolut notwendig“ ist, weitere Beweise aufzunehmen125. Conso/Grevi126 versuchen dieses 122 Die rechtlichen Grenzen der freien Beweiswürdigung bestimmen, dass eine Tatsache nicht aus einfachen Indizien gefolgert werden darf, sofern sie nicht „schwerwiegend, genau und übereinstimmend“ sind (Art. 192 Abs. 2 c.p.p.), und dass Zeugenaussagen des Mitangeklagten oder eines Angeklagten in einem verbundenen Verfahren nur gemeinsam mit weiteren Beweismitteln die Glaubwürdigkeit bestätigen (Art. 192 Abs. 3 und 4 c.p.p.). Gewissermaßen wird hier eine Vermutung der Unglaubwürdigkeit von Zeugen, die in das Verfahren als Mitangeklagte verwickelt sind, begründet. 123 Lozzi, i principi dell’oralità e del contradditorio, S. 36. 124 Die gesetzlichen Ausnahmen betreffen das Erfordernis gutachterlicher Feststellung der Prozessfähigkeit des Angeklagten (Artikel 70 c.p.p.), der Feststellung der Vernehmungsfähigkeit von Zeugen und der Gründe, die die Zeugeneigenschaft ausschließen (Artikel 195, 196 c.p.p.). Das Gericht kann weiter von Amts wegen die Hinzuziehung von Schriftstücken des Angeklagten fordern, auch wenn diese von anderen beschlagnahmt oder von anderen hergestellt sind (Artikel 237 c.p.p.). Es kann Durchsuchungen von Personen, Räumen oder Sachen anordnen, um, wenn erforderlich, Spuren der Straftat zu sichern (Artikel 244 c.p.p.). Von Amts wegen verfügt das Gericht die Ladung des Sachverständigen, der in einem Beweissicherungsverfahren während der Ermittlungsphase benannt worden ist (Artikel 468 c.p.p.). 125 Vgl. zu diesem Problem Giarda, in: Le ragioni del diritto, Scritti in onore di Luigi Mengoni, S. 1871, 1873, der auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts und des Kassationsgerichts verweist, die die Norm – entgegen der Intention des Gesetzgebers – zu einem Einfallstor überwunden geglaubter inquisitorischer Beweisaufnahme ausgedehnt hätten. 126 Conso/Grevi, commentario breve al codice di procedura penale, Art. 507 Abs. 3, Ziff. 4; in diesem Sinn auch eine Entscheidung des Kassationsgerichtshofes, Cass. pen. 1995, 1877; zur grundsätzlichen Unverträglichkeit des Art. 507 c.p.p. mit dem kontradiktorischen Prinzip, vgl. Sammarco, Metodo probatorio e modelli di ragionamento, S. 187 ff.
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integrative Beweiserhebungsrecht mit dem Grundsatz der Beibringung durch die Parteien dadurch zu versöhnen, dass das Recht des Gerichts nicht dazu missbraucht werden dürfe, eine „außerprozessuale“ Wahrheit zu suchen, sondern es müsse auf die Fälle beschränkt werden, in denen der unterbereitete Sachverhalt auf der Grundlage der vorgelegten Beweiselemente nicht erschöpfend festgestellt werden kann. Auch in dieser Formulierung zeigt sich der wenig aussichtsreiche Versuch, das Vermeiden eines Rekurses auf die außerprozessuale Wahrheit mit der Anerkennung einer gerichtlichen Beweisaufnahme ex officio zu vereinen. Von besonderer Bedeutung ist auch die 1999 neu eingeführte Vorschrift des Art. 422 c.p.p.127, nach der auch das Gericht der Vorverhandlung von Amts wegen die Aufnahme solcher Beweise verfügen kann, deren Entscheidungserheblichkeit für einen möglichen Freispruch nach Art. 129 c.p.p. offensichtlich ist. Diese Befugnisse, auch von Amts wegen in die Beweisaufnahme einzugreifen, sind als ein Relikt zu verstehen, dessen Beibehaltung in den Besonderheiten des italienischen Strafsystems wurzelt: den Ausnahmen vom Akkusationsprinzip, nämlich dem Legalitätsprinzip, sowie dem zumindest deklarierten Grundsatz der Unverfügbarkeit des Prozessgegenstandes128. Es ist an diesem Punkt bewusst die Einschränkung zu machen, dass das Prinzip der Indisponibilität zwar auch in der italienischen Rechtswissenschaft und -anwendung immer wieder heraufbeschworen wird, aber nach der hier vertretenen Auffassung in inkonsequenter Weise. Denn ob sich der Grundsatz vom unverfügbaren Verfahrensgegenstand in der reformierten Prozessordnung tatsächlich behaupten kann oder soll, muss aus einer Gesamtbetrachtung des reformierten Prozesses geschlossen werden und kann nicht apodiktisch dem neuen Modell eines Parteiprozesses vorangestellt werden. b) Die freie richterliche Beweiswürdigung und ihr Verhältnis zur prozessualen Wahrheit Der Begriff der freien Beweiswürdigung, (libero convincimento) findet sich zwar in der Prozessordnung nicht129, ist aber fester Bestandteil der ständigen 127 Eingeführt wurde die Vorschrift durch die legge Carotti vom 16. Dezember 1999, n. 479; auf das Gesetz und die zitierte Vorschrift wird im Folgenden unter III. noch detaillierter eingegangen. 128 Zum Grundsatz des unverfügbaren Verfahrensgegenstandes, Cordero, procedura penale, S. 608; vgl. auch zum „Nichtvorliegen einer Dispositionsbefugnis der Parteien im Rahmen der Beweisausnahme“, die sich wesentlich auf Art. 507 c.p.p. stützt, der dem Richter ein ergänzendes Beweiserhebungsrecht zuspricht, Corte cost. sent. 26. März 1993, Giur. cost. 1993, 901, 903. 129 Art. 192 Abs. 1 c.p.p. legt insoweit nur fest, dass der Richter den Beweis würdigt, indem er in den Entscheidungsgründen die erlangten Ergebnisse und die angewendeten Kriterien darlegt.
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höchstrichterlichen Rechtsprechung130 und ein selbstverständliches Stichwort in den gängigen Lehrbüchern131. Nach Cordero wird das Prinzip der freien Beweiswürdigung zum Einfallstor für eine inquisitorische Beweiswürdigung, die alle Elemente in ihren Erkenntnisprozess einbezieht, ohne Rücksicht auf die Modalitäten ihrer Gewinnung, und damit die als untrennbar konzipierte Verbindung zwischen Beweisaufnahme und Hauptverhandlung untergräbt132. Die freie Beweiswürdigung stößt in der Pflicht, das Urteil zu begründen (Art. 546 c.p.p.), sowie in den gesetzlichen Bestimmungen zur Beweiswürdigung (Art. 192 c.p.p.) an ihre Grenzen. Dass das Gericht überhaupt im Rahmen der Beweisaufnahme das Recht zu eigenen Anregungen, Fragen oder Hinweisen hat, deutet darauf hin, dass es doch einer Wahrheit verpflichtet sein soll, die jenseits des von den Parteien Vorgetragenen, jenseits der Disposition der Parteien liegt. Allerdings ist auffällig, dass ein Rückgriff auf den Begriff der „Wahrheit“ in der gesetzlichen Regelung vermieden wird133. Weiterhin nicht ohne Bedeutung für die Frage der Wahrheitspflicht ist, dass Art. 507 Abs. 1 c.p.p. ein Recht des Gerichts auf weitere Ermittlungen, nicht aber eine solche Pflicht statuiert. Zwar solle dieses Recht nach einschlägigen Kommentierungen Teil der Aufgabe des Gerichts sein, die Wahrheit zu erforschen und daher auch nicht dem freien Ermessen unterliegen, sondern an eine Würdigung der Notwendigkeit gebunden sein134, doch kann auch diese Interpretation nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Gesetzgeber jede explizite Bezugnahme auf die Wahrheit in der reformierten Pro130 Vgl. statt vieler die bei Gaito, Codice di procedura penale annotato con la giurisprudenza, unter Art. 192, Ziff. 2 zitierten Entscheidungen zum Grundsatz des „libero convincimento“. 131 Vgl. statt vieler Dalia/Ferraioli, Manuale di diritto processuale penale, S. 627 f.; Grevi, in: Compendio di procedura penale, S. 275, 277. 132 Vgl. Cordero, procedura penale, S. 594; in diesem Sinn auch Murone, Giust. pen. 2001, 225, 238 ff., der insbesondere darauf hinweist, dass das Prinzip der freien richterlichen Überzeugung dann logisch in das akkusatorische Modell integriert werden kann, wenn es auf die „Wertung“ des Beweismaterials beschränkt wird, und nicht dazu herangezogen wird, die Erkenntnisgrundlage durch Aufweichung der Beweisgrundsätze zu erweitern; nur rechtmäßig erhobene Beweise könnten Gegenstand der „freien Überzeugung“ sein (S. 241). 133 Allerdings teilt die amtliche Begründung zum Gesetzentwurf der Reform einschränkend mit, dass diese Vermeidung nicht der Idee Vorschub leisten wolle, der neue Prozess strebe nicht nach der Wahrheit, relazione al progetto preliminare, LEX, 1999, 333, 438; Art. 189 c.p.p. bspw. nennt indirekt die „Feststellung der Tatsachen“ als Ziel der Beweisaufnahme. 134 Conso/Grevi, commentario breve al nuovo codice di procedura penale, Art. 507 Abs. 3; kritisch zu dieser Vorschrift als Einbruch inquisitorsicher Strukturen und für eine restriktive Auslegung als Ausnahmevorschrift Murone, Giust. pen. 2001, 225, 265 ff.; das Verfassungsgericht versteht Art. 507 Abs. 1 c.p.p. hingegen nicht als Ausnahme von der Regel, sondern begründet sie vielmehr gerade damit, dass den Parteien keine Dispositionsbefugnis über die Beweise zukomme, Corte cost. sent. 26. März 1993, n. 111, in Giur. cost. 1993, 901, 903.
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zessordnung vermieden hat. Allerdings kennt das Gesetz zahlreiche ausdrückliche Durchbrechungen des Prinzips der Parteiendisposition über die Beweise135. Darüber hinaus lässt sich auch die Bedeutung des Geständnisses anführen als ein Element, das gegen die freie Dispositionsbefugnis der Parteien spricht. So soll allein das Geständnis nicht geeignet sein, die Anklage ihrer Beweislast zu entheben; aufgrund des Wesens des Interessenskonflikts im Strafprozess sei hier – anders als im Zivilprozess – stets eine Überprüfung des Geständnisses gefordert136. Diese Verschränkungen von Untersuchungs- und Verhandlungsgrundsatz lassen sich nur schwer in Einklang bringen. Die Regel des Beibringungsgrundsatzes wird so zahlreich durchbrochen, dass darin die Widersprüchlichkeit der italienischen Regelung deutlich zur Geltung kommt. Der Richter hat sich zwar zurückzuhalten, um nicht in alte inquisitorische Methoden zu verfallen, aber er darf auch nicht gänzlich schweigen, und fatalistisch sein Urteil auf „falsche oder unvollständige Voraussetzungen“ stützen137. Falsch oder unvollständig kann in diesem Sinn nur sein, was an einer außerprozessualen Wahrheit gemessen wird. Die konsequente Vermeidung des Wahrheitsbegriffes in der reformierten Prozessordnung ist als ein programmatischer Aufbruch zu verstehen, der jedoch die gesetzliche Ausgestaltung der Rolle des Gerichts nur sehr bedingt gefolgt ist. Auch der Rückgriff auf die „freie richterliche Beweiswürdigung“ tritt somit in gewisser Weise genau in jene Lücke, die der Reformgesetzgeber bewusst gelassen hat, indem er den entscheidenden Begriff der „verità“ nicht in die neue Prozessordnung übernommen hat. 4. Ergebnis: Parteiprozess auf halbem Weg Die Entwicklung vom Codice Rocco zur geltenden Strafprozessordnung ist in ihren Grundzügen gekennzeichnet durch die graduelle Stärkung akkusatorischer Elemente, die durch die Reform von 1989 in der Einführung eines akkusatorischen Parteiverfahrens mündete. Das entscheidende Trennungskriterium der beiden Prozesstypen wird daher auch in der im reformierten Prozess vorgesehenen Trennung der Verfahrensphasen gesehen138.
135 Beweiserhebungen von Amts wegen nach den Art. 195 Abs. 2, 224 Abs. 1, 508 Abs. 1, 237, 501 Abs. 2, 507, 511, 603 c.p.p. 136 Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 154 f.; Gianniti, Crit. pen. 2002, 23, verweist dementsprechend auf die ständige Rechtsprechung, nach der ein Geständnis nur dann hinreichenden Bewies liefern kann, wenn das Gericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung, die objektiven und subjektiven Umstände berücksichtigt, die zu dem Geständnis geführt haben und seine Überzeugung von der Glaubwürdigkeit des Geständnisses entsprechend begründet. 137 Cordero, procedura penale, S. 918. 138 Lattanzi, in: oralità e contradditorio nei processi di criminalità organizzata, S. 157.
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Der neue Strafprozess hat die Rollen der Prozessbeteiligten entscheidend verändert und verlangt daher auch nach neuen berufsethischen Grundsätzen, die sich nur graduell wandeln können139, was zu Divergenzen in der Akzeptanz insbesondere der „besonderen Verfahren“ geführt hat. Der Richter, nunmehr in der Rolle des absolut unparteiischen Dritten, die Staatsanwaltschaft als Partei, im Vergleich zu vorher entmachtet, nunmehr ganz ohne die Befugnis autonomer Entscheidungen, die sie zuvor im Ermittlungsverfahren noch innehatte, die Verteidigung als wichtige Teilhaberin an der Suche nach der „Wahrheit“ und der Aufnahme von Beweisen. Eine zumindest theoretisch manifestierte Ausrichtung des Strafprozesses hin zu einem zivilprozessualen Verständnis der Sachverhaltskonstruktion ist nicht zu leugnen140. Zwar ist konzeptionell nach akkusatorischen Prinzipien die Hauptverhandlung der eigentliche Kern des Verfahrens, jedoch hat der italienische Gesetzgeber die entscheidende Bedeutung, die dem Ermittlungsverfahren in all jenen Fällen zukommt, die auf die Vermeidung der öffentlichen Hauptverhandlung zielen, mehr und mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und war daher bemüht, möglichst weit gehende Waffengleichheit schon im ersten Ermittlungsstadium zu gewährleisten, was auch durch das gesetzliche Erfordernis einer Verteidigung bei grundrechtsrelevanten Ermittlungsmaßnahmen deutlich wird (Art. 97 Abs. 4 c.p.p.). Notwendig wird die Stärkung der Verteidigung bereits in der vorprozessualen Phase insbesondere dadurch, dass die Hauptverhandlung idealiter zwar im Zentrum des Verfahrens steht, systematisch durch die „besonderen Verfahren“ praktisch aber an den Rand gedrängt wird141. Zusammenfassend lässt sich an diesem Punkt festhalten, dass die Reform des Strafprozesses viele Frage offen gelassen hat, die in dem nicht klar definierten Verhältnis von intendiertem Parteiprozess und Relikten des Amtermittlungsgrundsatzes begründet sind. Ein offenes Bekenntnis zur Dispositionsbefugnis über den Verfahrengegenstand wird weitgehend gescheut; das Gesetz macht aber in Art. 190 c.p.p. die Beweisbeibringung durch die Parteien zur Regel und lässt eine integrative Beweisermittlung durch das Gericht nur in Ausnahmefällen zu142. Diese unglückliche Verbindung ist wohl auch dafür verantwortlich, dass man seit den Anfängen des neuen Prozesses von einem sistema accusatorio all’europea gesprochen hat143. 139
Bonavolonà, Il nuovo processo penale nel suo aspetto pratico, S. 17. Vgl. Conso, in: I riti differenziati nel nuovo processo penale, S. 267, 279. 141 Vgl. Conti-Macchia, Il nuovo processo penale, S. 7, setzen der „centralità ideale“ die „perofericità sistematica“ gegenüber. 142 In diesem Sinn auch Amodio, ZStW 102 (1990), 171, 182. 143 Vgl. Valentini Reuter, Giur. it. 1991, II, Sp. 237, 239; ganz in diesem Sinn beurteilt Machhia, Arch. n. proc. pen. 2003, 183, die allgemeine Tendenz der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zur Frage der Dispositionsbefugnis der Parteien so, dass „das Hereindrängen in die prozessuale Entwicklung von Einigungen, Rechtsge140
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Die Besonderheit des reformierten italienischen Strafprozesses als „Parteiprozess auf halben Weg“ entfaltet sich daher gerade in dem Spannungsfeld zwischen einem programmatischen Bekenntnis zum akkusatorischen Prozess und dem „konservativen“ Festhalten an eben dieser kontinentaleuropäischen Tradition der Verpflichtung auf die „eine“ Wahrheit. Der italienische Reformgesetzgeber von 1988 hatte sich ein akkusatorisches Grundverständnis vom Strafprozess so weit zu eigen gemacht, dass auf die normative Verankerung der Wahrheitsverpflichtung des Gerichts verzichtet wurde144; die auf den großen Umbruch folgende legislatorische Entwicklung sowie die Tendenzen in der Rechtpsrechung haben diese Distanzierung vom Prinzip der materiellen Wahrheit jedoch merklich relativiert. Diese Relativierung war aber in gewisser Weise in der Reform selbst angelegt. Denn der tief greifendende innere Widerspruch, der zwischen der Entscheidung des Reformgesetzgebers für die Wahl eines kontradiktorischen Verfahrens als „gerechtere Methode“ des Strafprozesses145 und der Beibehaltung von Relikten des Amtsermittlungsgrundsatzes liegt, kennzeichnete die Neuorientierung des Strafverfahrens von Beginn an146. Dies wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass durch das Gesetz selbst eingestanden wird, dass der Amtsermittlungsgrundsatz im Zweifelsfall die Erforschung der Tatsachen eher gewährleistet, was sich in dem integrativen Beweiserhebungsrecht des Gerichts widerspiegelt. Auf der anderen Seite wird aber immer wieder hervorgehoben, dass dann, wenn das Gericht eigenständig die Rekonstruktion des Falles betreibt, und sich dabei über die Interessen und Wertungen der Parteien hinwegsetzt, dieses zu einem Prozessergebnis führt, das die Bedeutung der „prozessualen Dialektik“ verkennt147. Der Rückgriff auf das viel bemühte Wort von der „proschäften und einzelnen Dispositionsbefugnissen latu sensu [. . .] nicht etwa gleichbedeutend ist mit der Entscheidung für ein System des dispositiven Modells“. 144 Gegenstand der Beweiserhebung ist nicht mehr, wie noch im Codice Rocco die Feststellung der Wahrheit (l’accertamento della verità). Art. 299 c.p.p. von 1930 sah vor, dass der Ermittlungsrichter die Pflicht hat, „unverzüglich all jene Handlungen vorzunehmen, die auf der Grundlage des vorliegenden Materials und entsprechend dem Stand des Ermittlungsverfahrens erforderlich erscheinen für die „Feststellung der Wahrheit“, sondern der Gegenstand der Beweisaufnahme beschränkt sich nach dem Wortlaut des Gesetzes auf diejenigen Tatsachen, die sich auf die Anklage, die Strafbarkeit und die Strafzumessung oder auf die Maßregeln der Sicherheit beziehen (Art. 187 c.p.p.). 145 Dass das kontradiktorische Modell die bessere Methode zur Wahrheitsermittlung ist, erklärt das Verfassungsgericht ausdrücklich, vgl. corte. cost. sent. n. 111/1993, Giur. cost. 1993, 901, 903. 146 So bezeichnet Coco, Temi romana 1990, 333, 339, die Reform als den „missglückten Versuch“, in einer Prozessordnung traditionelle Prinzipien der Unverfügbarkeit mit einer Dispositionsbefugnis der Parteien im Dienste der Effizienz des Verfahrens unter formeller, aber logisch unmöglicher Beibehaltung der Prozessgrundsätze zu vereinen, indem zahlreiche Ausnahmen eingefügt worden seien, die den Grundsätzen diametral entgegengesetzt seien.
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zessualen Dialektik“ gerät so immer wieder in Widerspruch zum beharrlichen Festhalten am inquisitorischen Ziel der materiellen Wahrheit, dem die Beweisermittlung von Amts wegen verpflichtet sein soll148. Teile der italienischen Wissenschaft gehen einen kritikwürdigen Mittelweg, wenn sie den kontradiktorischen, dialektischen Prozess der Wahrheitsfindung zur besseren Methode erklären, „ein historisch Geschehenes“149 zu rekonstruieren. Auf diese Weise versuchen sie einen Balanceakt, der nicht gelingen kann, nämlich die Verbindung eines neu geschaffenen Parteiprozesses unter Beibehaltung des Grundsatzes der Unverfügbarkeit des Verfahrensgegenstandes. Die Parteien haben das Recht „im Prozess“ zu verfügen, nicht aber sollen sie „über den Prozess“ verfügen dürfen150. Dies bedeutet nach dem aus der Grundlegung folgenden Verfahrensverständnis einen unüberbrückbaren Widerspruch, der sich auch in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts wiederfindet151. Ein adversatorischer Prozess impliziert notwendig die Dispositionsbefugnis der Parteien über den Prozessgegenstand152. Das jedoch wagt in Italien kaum jemand offen zu sagen153. Diese Widersprüchlichkeit ergibt sich daraus, dass die Etablierung 147 Dalia/Ferraioli, Manuale di diritto processuale penale, S. 125; vgl. zum Grundsatz der „prozessualen Dialektik“ auch corte cost. sent n. 111/1993, in Giur. cost. 1993, 901, 903; wie auch Ubertis, Giust. pen. 1994, III, S. 97 ff.; sowie ders., Principi di procedura penale europea, S. 35 ff. 148 Gerade in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts findet sich eine eindeutige Beschränkung der Dispositionsbefugnis zugunsten der grundsätzlichen Unverfügbarkeit des Prozessgegenstandes; zu einer umfassenden Wertung der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung im Hinblick auf die Dispositionsbefugnis der Parteien, Macchia, Arch. n. proc. pen. 2003, 183 ff. 149 So Murone, Giust. pen. 2001, 225, 246; ebenso Balsamo, Cass. pen. 2002, 387; wie auch Lozzi, in: Principi dell’oralità e del contradditorio, S. 36, 43; in diesem Sinne für eine Wertung des kontradiktorischen Verfahrens als „Mittel zur Feststellung der Wahrheit, zur korrekten Rekonstruktion der Tatsachen“, auch Ferrua, in: La regola del caso, 337, 340; im Ergebnis so auch das Verfassungsgericht in der zitierten Entscheidung sent. n. 111/1993, Giur. cost. 1993, 901, 903; anders aber Mambriani, S. 70, der das Prozessziel der Wahrheit für aufgegeben hält, und nicht den Anspruch erhebt, dass das kontradiktorische Verfahren die beste Methode zur Wahrheitsfindung beinhalte. Sondern er hebt vielmehr hervor, dass es lediglich der Streitschlichtung diene, die das eigentliche Prozessziel sei. 150 Macchia, Arch. n. proc. pen. 2003, 183; Mercone, Diritto processuale penale, S. 581. 151 Vgl. hierzu insbesondere Corte cost., sent 3. Juni 1992, n. 255, Giust. pen. 1992, I, 230; die Entscheidung setzt das primäre Ziel der Wahrheitssuche gerade in Opposition zur „Dialektik des kontradiktorischen Verfahrens“, was in offenem Widerspruch zur einer Entscheidung desselben Gerichts steht, siehe sent. Corte cost. 26. März 1993, n. 111, Giur cost. 1993, 901, 903, in der die Dialektik der Hauptverhandlung als Kriterium gewertet wird, das am besten geeignet ist, das Ziel der Wahrheitssuche zu verfolgen. 152 So explizit Weigend, Absprachen in ausländischen Strafverfahren, S. 49. 153 Für die notwendige Verbindung eines konsequenten Parteiprozesses mit der Anerkennung eines interessengeleiteten Prozesses aber Mambriani, insbesondere S. 72,
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prozessualer Begriffe und Ideen wie der „Dialektik des Prozesses“ oder des „kontradiktorischen Verfahrens“ zwar die entscheidende Bedeutung von prozessualer Kommunikation für den Rechtsfindungsprozess anerkennt, nicht aber den weiteren Schritt geht, den Interessenausgleich als eigenständiges Ziel auch des Strafprozesses der Wahrheitssuche an die Seite zu stellen. Im Ergebnis bleibt also der Widerspruch, dass der Grundsatz der Disposition in der Beweisbeibringung unter Beibehaltung der Indisponibilität des Verfahrensgegenstandes eingeführt werden soll. Das Prinzip der Stoffbeibringung durch die Parteien ist aber schon erkenntnistheoretisch und erst recht verfahrenspraktisch an die Disposition über den Verfahrensgegenstand gebunden154.
wo es ausdrücklich heißt, dass in einem konsequenten Parteiprozess die „Wahrheit weder eine zentrale Bedeutung noch primäre und entscheidende Relevanz für die Struktur des Prozesses“ habe. „Es wird noch nicht einmal vorausgesetzt, dass die angewendete Methode die beste für die Findung der Wahrheit sei, letztere wird einfach betrachtet als ein dem primären Ziel, nämlich Streitschlichtung, untergeordnetes Element, ein Element unter anderen, das auf dem Tisch des Prozesses gespielt werden kann im Hinblick auf die Verwirklichung des vorrangigen Zwecks“. Mambriani selbst schätzt eine derartige Prozessstruktur, die den Prozess zu einem „Spiel“ reduziert, als absolut ungenügend ein (S. 92). Dementsprechend definiert er das Ziel des Prozesses als „Verwirklichung der Gerechtigkeit durch die Feststellung der Tat“. 154 In diesem Sinn hat entgegen der herrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Lehre Amdodio, ZStW 102 (1990), 171, 182, explizit anerkannt: „Im Strafprozeß von 1989 ist tatsächlich der Gedanke des Parteiprozesses und der Dispositionsmaxime in der Beweisaufnahme verwirklicht, vgl. auch Lorusso, S. 46, der feststellt, dass sich der traditionelle Gegensatz zwischen Zivil- und Strafprozess gerade durch die Einführung des neuen Beweisrechts aufweicht und der ebenso zugesteht, dass hinsichtlich der Beweisbeibringung der Strafprozess das Dispositionsprinzip verinnerlicht habe. Entsprechend sieht auch Sinner, Der Vertragsgedanke im Strafprozeß, S. 236, den materiellen Wahrheitsbegriff im italienischen Prozess bereits durch einen formellen ersetzt. Auch Cordero, Procedura penale, S. 39, sieht in den Ergebnissen von patteggiamenti „konventionale Wahrheiten“. Wenn Ferrua, in: La regola del caso, S. 337, 340, kritisiert, dass der akkusatorisch kontradiktorische Prozess zu häufig als „pure Lösung von Konflikten zwischen den Parteien, beherrscht von einer überzogenen Verfügbarkeit der Beweise“ konzipiert worden ist, so wird diese Ansicht hier insofern nicht geteilt, als genau dieser, nach dem Verständnis dieser Arbeit notwendige Schluss von der überwiegenden Meinung gerade nicht gezogen wird. So hat das Verfassungsgericht, Corte cost., 26. März 1993, sent. n. 111, Giust. pen. 1993 I, Sp. 197 ff. = Giur. cost. 1993, 901, 903, 917, erklärt, dass die Dialektik der kontradiktorischen Hauptverhandlung sowie das Mündlichkeitsprinzip gerade als Kriterien ausgewählt sind, die den Erfordernissen der Wahrheitssuche am besten gerecht werden. Was wie ein Bekenntnis zu einem formellen Wahrheitsbegriff anmuten kann, will das Verfassungsgericht indes in keiner Weise als ein solches verstehen. In derselben Entscheidung unterstreicht das Gericht, dass die kontradiktorische Methode gerade nicht gleichbedeutend sei mit der Befugnis der Parteien, über die Beweise frei zu disponieren.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
III. Das verfassungsändernde Gesetz von 1999 und die „legge Carotti“ 479/1999 – akkusatorisches Lippenbekenntnis und inquisitorische Umsetzung Zu einer erneuten, im Ergebnis aber nur formalen Aufwertung der akkusatorischen Grundsätze kam es durch das verfassungsändernde Gesetz vom 23. November 1999155, das den Art. 111 der italienischen Verfassung um fünf Absätze erweiterte. Es ist die erste verfassungsrechtliche Reform im Bereich des Strafprozesses. Die umfassende Neufassung des Artikels, der die Vorschriften über die Rechtsprechung einleitet, erklärt sich aus dem gesteigerten Bedürfnis, Klarheit zu schaffen in einer Entwicklung, die durch einige gesetzliche Neuerungen, die ihrerseits auf wenig linearen Entscheidungen des Verfassungsgerichtes beruhten, immer mehr Unstimmigkeiten zwischen den ursprünglichen Intentionen des Gesetzgebers von 1988 und der folgenden Ausgestaltung erzeugt hatte. Die gesetzlichen Novellierungen der reformierten Prozessordnung galten weitgehend als „nostalgisch inquisitorisch“156 inspiriert; dieser Entwicklung sollte durch die Erweiterung des Art. 111 cost. Einhalt geboten und das System in sich geschlossener werden. Das Bekenntnis zum akkusatorischen Strafprozess sollte nun auch verfassungsrechtlich abgesichert werden. Das Verfassungsgesetz war Anlass für weitere konkrete Gesetzesänderungen, die vor allem die Rolle der Verteidigung stärkten und das Beweisrecht modifizierten und in der legge Carotti ihren Höhepunkt fanden157. Zum Teil verbarg 155 Legge costituzionale n. 2 vom 23. November 1999, Gazz. uff. vom 23. Dezember 1999, n. 300. 156 Siracusano/Galati/Tranchina/Zappalà, Diritto processuale penale, S. 40; durch das Gesetz 356/1992 wurde z. B. die ursprünglich im reformierten Prozess äußerst begrenzte Verwertbarkeit von Protokollen aus der Ermittlungsphase deutlich ausgeweitet; vgl. zu dieser Tendenz auch den Kommentar zu einem Reformprojekt von 1997 von D’Angelo/Bertorotta, in: Studi in ricordo di Pisapia, S. 237 ff., die ihren Kommentar programmatisch betiteln: „Der neue Strafprozess an der Kreuzung: zwischen den Gründen rechtsstaatlicher Garantien und dem Mythos der Effizienz“; zur Nostalgie nach der Instruktionsmaxime in den auf die Reform folgenden Änderungsgesetzen auch Cordero, procedura penale, S. 880. 157 Vgl. hierzu das Gesetz 479/1999 (legge Carotti), Gazz. uff. vom 18. Januar 2000, n. 13; auf dieses Gesetz wird im Foglenden noch gesondert eingegangen; wie auch das Gesetz 397/2000, LEX 2001, 16 (indagini difensive), das die Möglichkeit eigener Ermittlungen der Verteidigung gesetzlich absichert; das Gesetz 63/2001, LEX 2001, 1404 ff., ändert Art. 500 c.p.p., der die Vorhalte in der Zeugenvernehmung regelt und die Verwertbarkeit der vorgehaltenen Aussagen von der Zustimmung des Zeugen abhängig macht, wenn dieser die Vernehmung gegenüber einer der Parteien im Kreuzverhör verweigert; Cordero, procedura penale, S. 697, wertet den neu gefassten Art. 500 c.p.p. als Folge eines falschen Garantieverständnisses, das wenig mit der „Ideologie und Syntax eines akkusatorischen Prozesses“ zu tun habe und die Bedeutung des Kreuzverhörs verkenne; zu verweisen ist auch auf das Gesetz 89/2001, LEX 2001, 1661 ff., das einen Schadensausgleich wegen Verletzungen des verfassungsrechtlich verankerten Rechts auf einen zügigen Prozess vorsieht.
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sich hinter diesen die Verfassungsänderung konkretisierenden Gesetzen jedoch eine Tendenz, die der bereits in der Reform von 1989 angelegten Widersprüchlichkeit weiteren Vorschub leistete und neuen Rückschritten in inquisitorische Eigenheiten des Strafprozesses den Weg bereitete158. Angelegt ist dieses Auseinanderfallen von idealen Zielen und realer Umsetzung bereits im Verfassungsgesetz selbst. Art. 111 cost. trägt einen paradoxen Ansatz insoweit bereits in sich, als er verfassungsrechtlich das akkusatorische Prinzip und die kontradiktorische Hauptverhandlung absichern will, im gleichen Atemzug aber die kontradiktorischen Grundzüge einschränkt, da er auch den Ausnahmen von der kontradiktorischen Beweisaufnahme Verfassungsrang zuteil werden lässt. Das geschieht dadurch, dass ein Gesetzesvorbehalt zur Regulierung derjenigen Fälle vorgesehen ist, in denen die Beweisaufnahme nicht im kontradiktorischen Verfahren erfolgt. Einfachgesetzliche Regelungen sollen die Fälle umfassen, in denen der Angeklagte auf das kontradiktorische Verfahren verzichtet oder in denen ein solches objektiv unmöglich ist. Das kontradiktorische Verfahren zur Beweisaufnahme wird somit zwar verfassungsrechtlich verankert, sein Wert aber zugleich deutlich relativiert159. Diese Relativierung des Grundsatzes der kontradiktorischen Verhandlung auf verfassungsrechtlicher Ebene wird nach Art. 111 Abs. 5 cost. jedoch – wenn auch noch verhalten – bereits auch durch die legitimierende Funktion des Konsenses kompensiert. Denn der Konsens des Angeklagten wird zu einem verfassungsrechtlich gesicherten Grund für das Absehen von einer kontradiktorische Hauptverhandlung. 1. Das faire Verfahren des Art. 111 cost. Die durch das Verfassungsgesetz n. 2 vom 23. November 1999 hinzugefügten fünf Absätze haben überwiegend mehr deklaratorischen als innovativ regelnden Charakter160. Der Gesetzgeber wollte wohl explizit in der Verfassung verankern, was eigentlich schon längst Teil der Rechtsordnung war; sei es aufgrund der EMRK, die in Art. 6 das Recht auf ein faires Verfahren festschreibt, sei es aufgrund des Ermächtigungsgesetzes von 1987, das den Gesetzgeber verpflichtet, sich an den internationalen Bestimmungen zu orientieren.
158 In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf die sog. legge Carotti, l. 479/ 1999, a. a. O. veröffentlicht, zu verweisen. 159 Dalia, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, Bd. I, S. 3, 29, sieht diese Widersprüchlichkeit des Verfassungsgesetzes gerade darin, dass das „kontradiktorische Verfahren keinen absoluten Wert mehr darstellt“; für die These, dass die verfassungsrechtliche Fixierung der Ausnahmen vom contradditorio das Gegenteil des Beabsichtigten, nämlich die Aushöhlung des Prinzips bewirkt, siehe auch Ferrua, Diritto e giustizia 2000/1, 78, 81. 160 Zu einer kritischen Betrachtung des verfassungsändernden Gesetzes im Einzelnen, vgl. Ferrua, a. a. O., S. 78 ff.
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Der neue Art. 111 cost. wird mit der Präambel eingeleitet, die Rechtsprechung vollziehe sich durch einen durch einfaches Gesetz näher geregelten „gerechten Prozess“ (giusto processo). Diese rein deklaratorische Formulierung entbehrt einer konkreten Bedeutung, da ein faires Verfahren bereits in sich birgt, dass gesetzliche Vorschriften den Verlauf des Verfahrens reglementieren. Im Weiteren heißt es161, jeder Prozess verlaufe im kontradiktorischen Verfahren zwischen gleichberechtigten Parteien vor einem dritten und unparteiischen Richter. Das Gesetz soll zudem eine vernünftige Dauer des Verfahrens garantieren. Auch soll gewährleistet sein, dass die Person, die einer Straftat beschuldigt ist, schnellstmöglich über Wesen und Gründe der Beschuldigungen benachrichtigt wird. Das kontradiktorische Verfahren garantiere ebenso, dass der Beschuldigte über hinreichende Zeit und notwendige Bedingungen verfügt, um seine Verteidigung vorzubereiten; dass er die Möglichkeit hat, vor dem Gericht Personen, die gegen ihn aussagen, zu befragen oder befragen zu lassen und Personen zu seiner Entlastung zu denselben Bedingungen, die auch für die Anklage gelten, laden und vernehmen zu lassen. Die Beweisaufnahme im Strafverfahren erfolgt nach Absatz 4 kontradiktorisch. Die Schuld des Angeklagten kann nicht aufgrund von Aussagen festgestellt werden, die von Personen gemacht wurden, die sich aus freier Entscheidung und willentlich der Vernehmung durch den Angeklagten oder durch seinen Verteidigter entzogen haben. Abs. 5 bestimmt, dass durch einfaches Gesetz geregelt wird, in welchen Fällen die Beweisaufnahme aufgrund der Zustimmung des Angeklagten oder wegen festgestellter objektiver Unmöglichkeit der Beweiserhebung oder wegen nachgewiesener Rechtswidrigkeiten im Rahmen der Beweisermittlung nicht kontradiktorisch stattfindet. Dass Waffengleichheit und Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens untrennbar miteinander verknüpft sind, versteht sich praktisch von selbst, da letzteres ohne gleichberechtigte Parteien nicht denkbar ist. Art. 111 cost. ist so zu verstehen, dass er dem kontradiktorischem Verfahren zwei voneinander unabhängige inhaltliche Komponenten zuschreibt: auf der einen Seite wird das kontradiktorische Verfahren als Erkenntnismethode verstanden und auf der anderen Seite ist es Ausfluss der Garantie des unverletzlichen individuellen Rechts auf Verteidigung162. So wird dem kontradiktorischen Verfahren in dieser Form sowohl eine subjektive als auch eine objektive Funktion beigemessen163.
161 Es handelt sich bei der folgenden um eine freie und zusammenfassende Übersetzung der einzelnen Absätze des Art. 111 cost. 162 Valentini, Cass. pen. 2002, 2225, 2232; zur subjektiven und objektiven Komponente der Garantie des kontradiktorischen Verfahrens vgl. auch Tonini, in: Giusto processo, S. 1, 15; wie auch Ubertis, Principi di procedura penale europea, S. 35 f., der das „contradditorio“ sowohl als juristisches wie epistemologisches Prinzip begreift. 163 Der Kristallisationspunkt der subjektiven Komponente des kontradiktorischen Verfahrens liegt in dem verfassungsrechtlich garantierten Recht des Angeklagten, diejenigen Zeugen selbst zu befragen, die gegen ihn aussagen, um sich so direkt und
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Das Gebot des Richters als unparteiischem Dritten ist in einem grundsätzlich kontradiktorischen Verfahren wohl eine Selbstverständlichkeit164. Das Gebot des Verfahrens mit „vernünftiger Dauer“ wurde infolge zahlreicher Verurteilungen Italiens durch den Europäischen Gerichtshof wegen überlanger Verfahren eingeführt. Auch dieser Bestimmung fehlt im Grunde jeglicher regelnde oder auch nur programmatische Charakter. Die Vermeidung ausufernder Verfahrensdauer lässt sich kaum durch abstrakte Normen garantieren, sondern wird vielmehr primär von der konkreten Fallgestaltung und der gesetzlichen Konzeption des Verfahrens bestimmt. Die Formulierung „vernünftig“ will wohl klarstellen, dass im Konflikt der Interessen zwischen erhöhter Verfahrenseffizienz durch schnellere Verfahren und Wahrung der Interessen des Angeklagten, die Garantien des Angeklagten nicht beschnitten werden dürfen165. Auf diese Bestimmungen berufen sich auch Tendenzen in der Rechtswissenschaft, die sich für die Abschaffung der Rechtsmittelinstanz der Berufung zugunsten erweiterter Prüfungskompetenzen des Kassationsgerichts aussprechen166. Dementsprechend ist vorgeschlagen worden, die neue verfassungsrechtliche Richtlinie mehr als eine Aufforderung an den ordentlichen Gesetzgeber, denn als Prüfungsmaßstab für das Verfassungsgericht zu verstehen. Der Gesetzesvorbehalt in Absatz 5, der Abweichungen vom Prinzip des kontradiktorischen Verfahrens zulässt, kann für die kosensorientierten Elemente als Grundlage dienen. Zur Stellung des Opfers sieht die neue verfassungsrechtliche Absicherung des kontradiktorischen Verfahrens nichts vor. Nicht unbeachtete Stimmen beklagen so auch diese einseitige Ausrichtung auf die Beschuldigtenperspektive in der Ausgestaltung der prozessualen Garantien167. waffengleich mit der Anklage zu messen, vgl. hierzu Tonini, Manuale di procedura penale, S. 479. 164 Zum Vorwurf der Redundanz dieser Regelung vgl. Ferrua, Diritto e giustizia, 2000/1, 4, 78; Frigo, Guida al diritto, 1999/48,16. 165 Dagegen Grevi, Alla ricerca di un processo penale „giusto“, S. 327, der das Gebot strikt als objektive Verfassungsgarantie verstanden wissen will und dieser eine erhöhte Priorität gegenüber den anderen verfassungsrechtlich garantierten subjektiven Garantien des Beschuldigten bzw. Angeklagten einräumt. Diese Sicht der Norm muss sich jedoch den Einwand entgegensetzen lassen, dass das Recht auf Verteidigung verfassungsrechtlich als unverletzbar eingeordnet wird, und somit, wenn es in Konflikt mit dem Gebot des zügigen Verfahrens treten sollte, diesem nicht einfach geopfert werden darf. 166 Vgl. hierzu Costabile, Arch. n. proc. pen, 2002, 615 ff. m. w. N.; anders die Bedeutung des erstinstanzlichen Urteils stärken will Nappi, Cass. pen. 2002, 3624, 3626, indem er die Instanzgerichte auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle der Entscheidung ohne Prüfung in der Sache beschränken und ihnen somit die ursprüngliche Funktion des Kassationsgerichts zusprechen will. 167 So insbesondere Grevi, Alla ricerca di un processo penale giusto, S. 319, der die These vertritt, die Ausgestaltung des Art. 111 cost. habe nicht so sehr zum Ziel, die Garantien eines „giusto processo“ in objektiver Hinsicht zu sichern, sondern sie beschränke sich vielmehr auf die Sicherung der Rechte des Angeklagten, ohne die not-
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
2. Die gestärkte Rolle der Verteidigung im Ermittlungsverfahren Die Rolle der Verteidigung sollte durch die so genannte legge Carotti vom 16. Dezember 1999 n. 479168 entsprechend der nunmehr gemachten verfassungsrechtlichen Vorgaben gestärkt werden. Das Gesetz wurde kurz nach der Verfassungsänderung zum fairen Verfahren verabschiedet und steht ganz im Geiste einer Umsetzung der Verfassungsmodifizierungen169. Das Gesetz weist in seinen einzelnen Vorschriften, vor allem im Bereich der Vorverhandlung und der besonderen Verfahren, wichtige Gemeinsamkeiten in seiner Zweckrichtung auf. Ziel war es erklärtermaßen, eine Entscheidung in der Sache auch vor durchgeführter Hauptverhandlung zu fördern und so den Arbeitsanfall in der Justiz zu mindern. Zu unterstreichen ist in diesem Zusammenhang, dass die Ausweitung der Rechte der Verteidigung vor allem im Rahmen des Ermittlungsverfahrens mit der gesteigerten beweisrechtlichen Relevanz der Ermittlungsergebnisse einhergeht. Das verfassungsrechtlich statuierte Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren erstreckt sich nicht nur auf die Hauptverhandlung, sondern erfasst auch die Rechte der Verteidigung im Vorverfahren. Ein konsequent kontradiktorisches Verfahren verlangt die Waffengleichheit insbesondere auch im Ermittlungsverfahren, da die Ermittlung und Beschaffung der Beweisquellen bei den Parteien liegt und die Amtsermittlung die Ausnahme bleibt. Die Rolle der Verteidigung im Vorverfahren wird insofern gestärkt, als sie bei der Suche nach Beweismitteln im Ermittlungsverfahren gesetzlich den Untersuchungsbehörden theoretisch gleich gestellt ist. Allerdings wird kein Gesetzgeber, nicht einmal der, der sich die weitestmögliche Umsetzung kontradiktorischer Grundsätze auf die Fahne geschrieben hat, die Gleichstellung der Parteien in der Ermittlungsphase wörtlich nehmen können, da viele Anklageerhebungen gar nicht erst möglich würden, wenn von Beginn an mit offenen Karten gespielt würde170. Die Staatsanwendigen Voraussetzungen der Wahrheitssuche, die doch das institutionelle Ziel des Strafprozesses sei, hinreichend zu berücksichtigen. 168 Legge n. 479/1999, Gazz. uff. vom 18. Januar 2000, n. 13. 169 Vgl. zu den Grundlinien der Reform durch die legge Carotti, Amodio, in: Giudice unico e garanzie difensive, S. 1 ff. Durch das Gesetz wurden drei Pfeiler des Systems geändert: Gerichtsverfassung, Zwischenverfahren und alternative Verfahren: Es wurde die amtsgerichtliche Zuständigkeit (pretura) abgeschafft und statt dessen der Einzelrichter beim Landgericht eingeführt, die Vorverhandlung aufgewertet und die besonderen Verfahren zur Vermeidung der Hauptverhandlung gestärkt, vgl. hierzu zusammenfassend auch Spangher, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, Bd. III, S. 99 f. 170 Vgl. Cordero, Procedura penale, 2001, S. 876; so hat die Staatsanwaltschaft nach dem neuen Art. 391-quinquies c.p.p. die Möglichkeit, den während des Ermittlungsverfahrens vernommen Personen eine Schweigepflicht aufzuerlegen, eingeführt durch das Gesetz 397/2000, Gazz. uff. v. 3. Januar 2001 n. 2 = LEX, 2001, I, S. 16, 18.
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waltschaft kann sich der Polizei, die Verteidigung privater Ermittler bedienen171. Die aktive Verteidigung im Ermittlungsstadium soll eine offensive Beweisverteidigung ermöglichen. Die Ergebnisse der Ermittlungen der Verteidigung werden aktenkundig gesammelt und können so durch den Verteidiger sowohl dem Ermittlungsrichter als auch der Staatsanwaltschaft zugänglich gemacht werden. Neben der staatsanwaltlichen Ermittlungsakte entsteht so eine Ermittlungsakte der Verteidigung (fascicolo del difensore)172, die dem Grundsatz der Waffengleichheit im Ermittlungsverfahren Rechnung tragen soll und dem Ermittlungsrichter in jeder Lage des Verfahrens neben der Akte der Staatsanwaltschaft zur Verfügung steht173. Die Verwertbarkeit der Akten aus dem Ermittlungsverfahren in der Hauptverhandlung richtet sich für beide Parteien nach denselben gesetzlichen Bestimmungen, so dass sie insofern formal gleichgestellt sind174. Vor Zusammenstellung der gerichtlichen Akte für die Hauptverhandlung existieren dementsprechend zwei getrennte Akten bei der Geschäftsstelle, aus denen sich die „Akte der Hauptverhandlung“ (fascicolo per il dibattimento, Art. 431) bildet, die für das erkennende Gericht die Quelle seiner eingeschränkten Aktenkenntnis ist. Ursprünglich sah die reformierte Prozessordnung vor, dass in die Akte der Hauptverhandlung nur solche Protokolle aufgenommen werden, deren Wiederholbarkeit in der Hauptverhandlung unmöglich ist, oder die im Rahmen eines Beweissicherungsverfahrens erstellt wurden oder Urkunden, die mittels Rechtshilfeersuchen im Ausland erlangt wurden, sowie das corpus delicti oder mit diesem verbundene Gegenstände. Nach dem neuen, durch die legge Carotti175 geänderten Art. 431 c.p.p. wird die Akte nun nicht mehr auf Anweisung des Gerichts durch die Geschäftsstelle zusammengestellt, sondern das Gericht der Vorverhandlung sorgt im kontradiktorischen Verfahren der Parteien, unmittelbar nach Erlass des Eröffnungsbe171 Nunmehr ist dies durch Art. 327 bis c.p.p. in die Strafprozessordnung aufgenommen durch das zitierte Gesetz 397/2000. 172 Vgl. den durch das Gesetz 397/2000 eingeführten Art. 391 octies c.p.p. Gazz. uff. n. 2 vom 3. Januar 2001, mit freier Übersetzung der Verfasserin abgedruckt im Anhang, der die „Akte der Verteidigung“ regelt, die diese während des Ermittlungsverfahrens, sowie während der Vorverhandlung dem Gericht vorlegen kann, um die kontradiktorische Entscheidungsgrundlage des Gerichts bereits in diesem Verfahrensstadium zu gewährleisten. 173 Ein praxisorientierter Überblick zu der neuen Regelung findet sich bei Filippi, in: Processo penale: il nuovo ruolo del difensore, S. 291 ff.; gegen einen effektiven Nutzen dieser Regelung für die Verteidigung argumentiert Dalia, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, S. 22 f. 174 Zum Problem des möglicherweise geringeren Beweiswertes der informellen Ermittlungen durch die Verteidigung für die Überzeugungsbildung des Gerichts vgl. Presutti, in: Studi in ircordo di Pisapia, S. 607 ff. 175 Zu einer summarischen Wertung der Wirkung der legge 479/1999 auf das patteggiamento, vgl. Bricchetti, Guida al diritto, 2000/1, S. LXIV.
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schlusses (decreto che dispone il giudizio, Art. 429 c.p.p.) selbst für die Zusammenstellung der Akte. Einvernehmlich können die Parteien nunmehr auch die Aufnahme solcher Urkunden in die Akte bestimmen, die von Gesetzes wegen nicht vorgesehen sind, beispielsweise weitere Unterlagen aus den staatsanwaltlichen oder von der Verteidigung angestellten Ermittlungen176. Diese Modifizierung bedeutet auf der einen Seite eine weitere Steigerung der Dispositionsbefugnis der Parteien, ganz im Sinne des akkusatorischen Prinzips und fördert auf der anderen Seite in der Tradition des abgeschafften inquisitorischen Modells die fortschreitende Erosion der Trennung der prozessualen Phasen zugunsten einer direkten Verwertung des Ermittlungsmaterials in der Hauptverhandlung177. So mutiert die Zusammenstellung der Akte der Hauptverhandlung von einem durch die Geschäftsstelle ausgeführten, rein verwaltungstechnischen Akt zu einer vorgezogenen Gelegenheit, bereits in frühem Verfahrensstadium für die Hauptverhandlung beweisrelevantes Material zu formieren178. Die Bestimmung gliedert sich somit in die umfassende Tendenz, den unmittelbaren Einfluss der Vorverhandlung auf den weiteren Prozess zu stärken. Mit Blick auf die direkte Beweiserheblichkeit der Ermittlungsergebnisse für die konsensualen, frühzeitigen Verfahrensbeendigungen sollte dafür vorgesorgt sein, dass die Staatsanwaltschaft der Verteidigung zumindest ihre Akten zur Verfügung stellen und die Ermittlungen gegebenenfalls auf Antrag der Verteidigung ausweiten muss179. Durch den 1999 ebenfalls neu eingeführten Art. 415 bis c.p.p., der die Staatsanwaltschaft verpflichtet, dem Beschuldigten den Abschluss der Ermittlung mittels schriftlicher Zustellung mitzuteilen, kann der Beschuldigte von der Staatsanwaltschaft verlangen, dass diese weitere Ermittlungen durchführt. Die Norm bezweckt eine Vorverlagerung der aktiven Verteidigungsmöglichkeiten, die nach der Prozessordnung von 1989 eigentlich der Vorverhandlung vorbehalten waren180. Nunmehr werden kontradiktorische Elemente in die vorprozessuale Phase eingeführt, um so der Verteidigung zu ermöglichen, durch ihre Gegendarstellung oder weitere Ermittlungsanträge der 176 Vgl. zu der neuen Regelung des Art. 431 Abs. 2 Manuali, Arch. n. proc. pen, 2002, 11, 15, die in diesem Zusammenhang erwähnt, dass die Regelung auch als „patteggiamento über die Beweise“ bezeichnet wurde; vgl. im Einzelnen zur kontradiktorischen Zusammenstellung der Akte der Hauptverhandlung auch Scella, in: Il processo penale dopo la riforma del giudice unico, S. 421 ff.; Pansini, diritto e giustizia 2000/2, 60, 61, sieht in dieser Norm den entscheidenden Punkt, der die akkusatorischen Elemente des neuen Prozesses retten könne. 177 Garuti, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, Bd. 1 S. 529, 557. 178 Ausführlich zur Änderung des Art. 431 c.p.p. vgl. Garuti, a. a. O., S. 529 ff. 179 Dalia, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, Bd. I, S. 3, 7. 180 Art. 415 bis c.p.p. soll allerdings in den besonderen Verfahren, dementsprechend auch im Rahmen des patteggiamento, in der Ermittlungsphase überflüssig sein, da seine Garantiefunktion durch den Konsens der Parteien hinfällig würde, so Corte cost. ord., 16. Mai 2002, n. 203 in Cass. pen. 2002, 3736 ff. mit Anm. von Nuzzo.
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Anklageerhebung zuvorzukommen. Entgegen dem ersten Anschein scheint der Zweck des Gesetzes weniger eine aktive Beteiligung der Verteidigung am Ermittlungsverfahren zu sein – betrachtet man den fortgeschritten Zeitpunkt, in dem der Hinweis erfolgt und die kurze Frist für weitere Ermittlungsanträge –, sondern eher in einem Anreiz für die alternativen prozessualen Verfahren zu liegen. Ebenso können auf diese Weise die Möglichkeiten gesteigert werden, unnötige Anklageerhebungen zu vermeiden, indem das Verfahren wegen Unbegründetheit des strafrechtlichen Vorwurfs nach Art. 408 c.p.p. eingestellt wird. Vordergründig wird zwar die Rolle der Verteidigung im Ermittlungsverfahren gestärkt und so das Gesetz im Lichte akkusatorischer und kontradiktorischer Grundsätze modelliert. Auf der anderen Seite muss aber die Stärkung der Verteidigung als Legitimierung für die weitere Aufweichung der Trennung der Prozessphasen herhalten. In diesem Sinne ist die legge Carotti auch als eine „inquisitorische Wende“ bezeichnet worden181. So kann sich über die beabsichtigte Stärkung der Verteidigung das einschleichen, was durch die Reform von 1988 gerade verhindert werden sollte, nämlich dass die Ermittlungsphase zur eigentlichen Beweisaufnahme aufgewertet, und die Hauptverhandlung zu einer Kontrollfunktion degradiert wird182. 3. Die aufgewertete inquisitorische Bedeutung der Vorverhandlung Ebenso auf die legge Carotti von 1999 ist eine weitere einschneidende Änderung in der Gestaltung der Vorverhandlung zurückzuführen: gleichzeitig mit der Stärkung der Verteidigung ist das Initiativrecht des Richters der Vorverhandlung hinsichtlich der Vervollständigung der Beweisaufnahme deutlich gesteigert worden. Eingeleitet wurde diese Aufwertung des Gerichts der Vorverhandlung durch ein Gesetz von 1998183, das in Art. 34 Abs. 2 bis c.p.p. eine neue Ausschließungsregel für den Richter der Vorverhandlung einführte. Ursprünglich konnte der Ermittlungsrichter (g.i.p. giudice delle indagini preliminari) auch die Funktion des Richters der Vorverhandlung bekleiden und somit im „Zwischenverfahren“ entscheiden. Infolge der neu eingeführten Norm 181 So die Formulierung bei Spangher, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, Bd. III. S. 115. 182 Vgl. hierzu auch Dalia, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, I, S. 3, 10; anders beurteilt Verdoliva, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, I, S. 69, 88, die Konsequenzen der Gesetzesmodifizierung, indem er in der Stärkung der Beteiligung der Verteidigung ein Element sieht, das die Akzeptanz des Urteils auf Seiten des Beschuldigten steigert; in diesem Sinn auch Spangher, Studium Juris 2001, 418, 421; ders., die Aufwertung der udienza preliminare (Vorverhandlung) zu einer udienza predibattimentale (Vorhauptverhandlung) insgesamt positiv bewertend, in: Il patteggiamento, S. 99, 163. 183 Decreto legislativo vom 19. Februar 1998, n. 51, Gazz. uff. vom 20. März 1998, n. 66.
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kann der Ermittlungsrichter nach Art. 34 Abs. 2 bis c.p.p. nicht mehr Richter der Vorverhandlung in demselben Verfahren sein. Zwischen diesen beiden Funktionen besteht nunmehr gesetzliche Unvereinbarkeit. Auch diese Novellierung ist als zweischneidige Reglung zu verstehen, da auf der einen Seite zwar die Unabhängigkeit des Richters der Vorverhandlung garantiert werden soll, auf der anderen damit aber konsequenterweise die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens verstärkte Bedeutung erlangt und damit sich die Gefahr erhöht, dass das erkennende Gericht durch einen Eröffnungsbeschluss bereits hinsichtlich der Tat- und Schuldfrage voreingenommen wird. Darüber hinaus kann mit Einführung des Art. 421 bis c.p.p. durch die legge Carotti der Richter der Vorverhandlung, sofern er die Ermittlungsergebnisse für unvollständig hält, eine weitere Beweisaufnahme verfügen und eine entsprechende Frist für die Beibringung der weiteren Ermittlungen auferlegen. Von Amts wegen kann er nun selbst zur Aufnahme solcher Beweise schreiten, die für die Entscheidung über eine Einstellung des Verfahrens von „evidenter Relevanz“ sind (Art. 422 Abs. 1 c.p.p.). Das Initiativrecht beschränkt sich also auf die weitere Beweisaufnahme zugunsten des Angeklagten. Es beinhaltet jedoch eine Widersprüchlichkeit mit der von Art. 425 Abs. 3 c.p.p. vorgesehenen Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens wegen ungenügender, widersprüchlicher und ungeeigneter Beweismittel. Der Anwendungsbereich dieser Einstellungsnorm wird durch die Beweisinitiative des Richters der Vorverhandlung praktisch und theoretisch unterlaufen184. War im Rahmen der Vorverhandlung nach dem ursprünglichen Modell der Reform von 1988 zunächst gefordert, dass die Prüfung des Richters sich auf die „Offensichtlichkeit“ (evidenza) des Nichtvorliegens solcher Gründe beschränkt, die eine Einstellung des Verfahrens rechtfertigen, so bedeutete dies mit anderen Worten eine sehr reduzierte Prüfungskompetenz des Gerichtes. Die Regel für eine mögliche Einstellung durch Entscheidung des Gerichts in der Vorverhandlung war äußerst streng: erforderlich war, dass aus den Ermittlungen der Beweis der Nichtverantwortlichkeit des Beschuldigten resultiert, widersprüchliche oder nicht erschöpfende Beweiselemente waren indes für den Erlass eines Eröffnungsbeschlusses durchaus hinreichend185. Mithin musste das Gericht der Vorverhandlung die Anklage auch an das erkennende Gericht und damit in die Hauptverhandlung weiterleiten, wenn es begründete Zweifel an derselben hatte und eine widersprüchliche Beweislage vorlag, mit anderen Worten, auch dann, wenn es der Meinung war, ein Freispruch sei 184 Ausführlich zu diesem Problem De Caro, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, Bd. I, S. 385, 422 ff.; zum geänderten Einstellungsurteil nach Art. 425 vgl. Bene, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, Bd. I, S. 439 ff. 185 Bochicchio, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, Bd. I, S. 121, 138 f.
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wahrscheinlich186. Eine derart gering gehaltene Prüfungskompetenz des Richters der Vorverhandlung konnte selbstverständlich keine signifikante deflatorische Wirkung für die Hauptverhandlung haben; eine Entlastung der Gerichte durch Reduzierung der Hauptverhandlung war auf diesem Weg nicht realisierbar. Das neu eingeführte Kriterium der „Unvollständigkeit“ der Ermittlungen, das der Richter durch weiterführende Beweisanregungen oder gar durch Beweiserhebungen von Amts wegen korrigieren kann, wirft die Frage auf, welcher Maßstab für die Frage der Vollständigkeit denn angelegt werden soll. Mit anderen Worten bleibt zu klären, wann die Ermittlungen ausgeschöpft sind und Entscheidungsreife über Einstellung oder Eröffnung des Verfahrens erreicht ist187. Zu Recht ist der Einwand erhoben worden, dass das Vollständigkeitskriterium – ohnehin äußerst vage – zunehmend kritikwürdig wird vor dem Hintergrund der gesetzlichen Novellierung, die als erklärtes Ziel die Vermeidung der Hauptverhandlung in den Vordergrund rückt188. Mit der Aufwertung der Vorverhandlung gerät auch das Vollständigkeitskriterium in ein neues Licht, das die akkusatorische Trennung der einzelnen Verfahrensstadien zu untergraben droht. Es ergibt sich ein fast auswegloses Dilemma: ein vages Vollständigkeitskriterium wird der gesteigerten Bedeutung der Vorverhandlung nicht mehr gerecht, ein – wie teilweise gefordert189 – in Richtung Wahrheitsfeststellung ausgedehnter Maßstab führt zurück in inquisitorische Strukturen190. Die ratio dieses Eigeninitiativrechts des Gerichts im Stile des Amtermittlungsgrundsatzes liegt vornehmlich in dem Bestreben, eventuelle Lücken in der Beweiskette zu füllen. Darüber hinaus soll dem Bedürfnis Rechnung getragen werden, zum Schutz der Verteidigungsposition einer möglicherweise beabsichtigten unvollständigen Offenlegung der Beweislage durch die Staatsanwaltschaft zu begegnen, indem von Amts wegen weiter ermittelt wird191. Über die Verwertbarkeit der nach Art. 422 c.p.p. verfügten Beweisaufnahme in einer eventuell sich anschließenden Hauptverhandlung besteht keine Einigkeit. Zwar spricht das Gesetz von Aufnahme von „Beweisen“ und beschränkt sich nicht auf den
186
De Caro, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, Bd. I, S. 385,
392. 187
Vgl. zu dieser Frage De Caro, a. a. O., S. 419. Vgl. Potetti, Arch. n. proc. pen. 2001, 463, 466. 189 So z. B. Potetti, a. a. O., S. 466, der von einer „funktionalen Ausweitung der Vorermittlungen in Richtung besondere Verfahren“ um der „Funktionalität des Systems“ willen spricht, und dabei nicht scheut, die Ermittlungsphase als auf materielle Wahrheitsfindung gerichtet zu verstehen. 190 Zu der Wiederaufwertung inquisitorischer Strukturen gerade durch die Einführung der integrativen Amtsermittlung in der Vorverhandlung vgl. Pansini, diritto e giustizia 2000/2, 60 f. 191 Vgl. hierzu die Stellungnahme von Carotti in einer Sitzung der Deputiertenkammer vom 3.2.1999, wiedergegeben bei De Caro, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, Bd. I, S. 385, 405. 188
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weiteren Begriff der „Ermittlungen“, aber der verfassungsrechtliche Grundsatz des akkusatorischen Prinzips in Art. 111 cost. verlangt, dass die Beweisaufnahme ausschließlich in der kontradiktorischen Hauptverhandlung erfolgen darf. Ausnahmen sind nur möglich, wenn das Gesetz sie explizit gestattet. Ob der neue Art. 422 c.p.p. die akkusatorischen Strukturen so weit aufweichen kann, dass er als gesetzliche Ausnahme gilt, ist umstritten192. Sicher ist aber, dass die Verwertbarkeit von Aussagen des Beschuldigten in der Vorverhandlung nach Art. 421 Abs. 2 c.p.p., wenn sie den gesetzlichen Anforderungen des Kreuzverhörs (Art. 498, 499 c.p.p.) genügen, in der Hauptverhandlung nach Art. 514 c.p.p. verlesen werden können; darüber hinaus verbleibt stets die Möglichkeit des Einbringens der Äußerungen in die Hauptverhandlung nach Art. 500 c.p.p. im Wege des Vorhalts. Es liegt also auf der Hand, dass die neue Ausgestaltung der Vorverhandlung der Verwertung von in diesem Verfahrensstadium gemachten Aussagen Vorschub leisten193. Die Entscheidungsbefugnis des Richters der Vorverhandlung geht somit weit über die Frage der Erforderlichkeit einer Hauptverhandlung oder der Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung hinaus. Sein Beweisinitiativrecht übertrifft das des in der Hauptverhandlung erkennenden Gerichts194. Diese Konsequenzen der Novellierung der Reform zehn Jahre nach ihrem In-Kraft-Treten entsprechen der Absicht, die Vorverhandlung zu einer antizipierten Sachinstanz aufzuwerten. Mit der Stärkung der Ermittlungsbefugnisse des Richters der Vorverhandlung wird die akkusatorische Inspiration der Prozessreform von 1989 im Ergebnis deutlich relativiert195. Besonders eklatant wird diese „systemfremde“ neue Gewichtung des Gerichts der Vorverhandlung vor dem Hintergrund, dass das Gericht in dieser Phase, anders als das Gericht der Hauptverhandlung, über volle Aktenkenntnis verfügt, da ihm sämtliche Ermittlungsakten von der Staatsanwaltschaft in Verbindung mit dem Antrag auf Eröffnung der Hauptverhandlung vorgelegt werden (Art. 416 c.p.p.). Die Vorverhandlung nimmt so mehr und mehr die Bedeutung einer antizipierten Hauptverhandlung an196. Hierdurch wird die Trennung der Spruchkörper im Ermittlungs- und Hauptverfahren in gewis192 Vgl. hierzu De Caro, a. a. O., S. 430 f. m. w. N. zu den gesetzlichen Voraussetzungen des Beweissicherungsverfahrens als Ausnahme vom Unmittelbarkeitsgrundsatz. 193 Vgl. Galantini, in: Giudice unico e garanzie difensive, S. 93, 114, wie auch Lozzi, in: Oralitá e contradditorio nei processi di criminalità organizzata, S. 31, 61. 194 Hierzu Amodio, in: Giudice unico e garanzie difensive, S. 1, 25. 195 Von einem „Rückschritt der Prozessordnung in das inquisitorische Schema“ spricht explizit Pansini, Diritto e Giustizia, 2000/2, S. 60, so auch die Wertung bei Campoli, Arch. n. proc. pen. 2002, 123, 124, der die Funktion des Richters der Vorverhandlung nicht mehr als eine kontrollierende, sondern bereits als klar inquisitorische Intervention versteht; vgl. hierzu auch Fn. 156. 196 Vgl. zu dieser Entwicklung mit Unterstüzung der verfassunsgrechtlichen Rechtsprechung die Anmerkungen zur Entscheidung corte cost. 18. Juli 2002, n. 355 von Capitta, Cass. pen. 2003, 3357 ff. sowie von Casati, Cass. pen. 2003, 3368 ff.
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sem Maße wieder unterlaufen. Sofern der Angeklagte in der Hauptverhandlung keine neuen, bislang unbekannten Entlastungsbeweise wird vorlegen können, ist eine von der Entscheidung der Vorverhandlung differierende in der Hauptverhandlung erkennende Entscheidung höchst unwahrscheinlich197. 4. Ergebnis der legislatorischen Entwicklung: Die schleichende Gegenreform Der neue Art. 111 cost., sowie die legge Carotti198 bedeuten im Ergebnis für die Beweisgewinnung und -verwertung einen starken inquisitorischen Ruck199. Durch die gesetzliche Neuregelung wurde die gerichtliche Prüfungskompetenz weiter ausgebaut, und somit die ursprünglich den Parteien eingeräumte Dispositionsfreiheit über eine konsensuale Erledigung der Sache weiter eingeschränkt. Bereits die Einschränkung kontradiktorischer Beweisaufnahme unter Aufwertung der Position des Gerichts durch das Verfassungsgericht wurden damit begründet, dass die methodische Wahl für die „Dialektik eines kontradiktorisches Verfahren“ nicht darüber hinwegtäuschen dürfe, dass „erstes und unabdingliches Ziel des Strafprozesses nichts anderes bleiben kann als die Suche nach der Wahrheit“200. Diese Entscheidung ebnet der Abwägung der kontradiktorischen Grundsätze mit dem Ziel der materiellen Wahrheit und folglich mit inquisitorischen Elementen des Beweistransfers aus der Ermittlungsphase in die Hauptverhandlung verfassungsrechtlich den Weg. Sie ist damit als einer der Grundsteine für die legge Carrotti zu sehen. Die innere rechtstheoretische Widersprüchlichkeit, auf der das gesamte System beruht, tritt in der zitierten Entscheidung besonders offen zu Tage. Auf der einen Seite soll die kontradiktorische Methode der Suche nach der Wahrheit am besten gerecht werden, auf der anderen soll sie gerade um des Zieles der Wahrheit willen durch den Grundsatz des „Nichtverlustes von Beweismaterial“ eingeschränkt werden müssen201. Der Versuch, in 197
Vgl. Dalia, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, Bd. I, S. 3,
13. 198
Legge n. 479/1999, Gazz. uff. vom 18. Januar 2000, n. 13. Ferrua, in: La regola del caso, 337, 385, sieht diesen Rückschritt sogar hinter die Grundstrukturen des Codice Rocco zurücktreten, da der Beweistransfer aus dem Vorverfahren in die Hauptverhandlung nunmehr auch die Verlesung von Aussagen zulasse, die nur vor den Ermittlungsbehörden gemacht worden sind und keinerlei gerichtlicher Kontrolle unterlegen sind. 200 Corte cost. sent. n. 111, 26. März 1992, Giur. cost. 1993, 901, 915; die Entscheidung betonte die Notwendigkeit eines integrativen Beweiserhebungsrechts des Gerichts und unterstrich die „Inexistenz einer Befugnis der Parteien, über die Beweise zu verfügen“, unter Verweis auf corte cost. sent. n. 255, 1992. 201 Corte cost. sent. n. 111, 26. März 1992, Giur. cost. 1993, 901, 903. Entsprechend lautet die zusammenfassende Wertung der gesetzlichen Entwicklung bei Moccia, in: Festschrift für Roxin, S. 1487, 1496, „dass das reine Anklageverfahren verdrängt wurde, um im Strafprozeß die Suche nach der Wahrheit zu bevorzugen und 199
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
der kontradiktorischen Methode eine objektive erkenntnistheoretische und eine subjektive Schutzkomponente für den Angeklagten gleichermaßen zu vereinen, muss somit als gescheitert gelten. Denn in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung zum Grundsatz des notwendigen Erhaltes von Beweisen, die nicht in kontradiktorischer Hauptverhandlung gewonnen worden sind, wird deutlich, wie die objektive und subjektive Funktion des kontradiktorischen Verfahrens gegeneinander ausgespielt werden und schließlich die außerprozessuale Wahrheit als übergeordnetes Ziel bestehen bleibt. Genau in dieser Gegenüberstellung der kontradiktorischen Methode und des Zieles der Wahrheit als Gegensätze sieht Ferrua202 das grundsätzliche Missverständnis, das die Entwicklung des neuen Prozesses negativ geprägt habe. Zwar war die Reform theoretisch von dem Gedanken inspiriert, dass Verfahrensmethode und Verfahrensziel untrennbar miteinander verbunden sind203, jedoch zeichnete sich in der folgenden gesetzlichen Entwicklung mehr und mehr ab, dass diese innere Verbundenheit eher ein programmatischer Ruf als eine wirkliche Überzeugung war. Die gesetzlichen Änderungen im System des reformierten Strafprozesses sind zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass das kontradiktorische Verfahren als Gegensatz zum eigentlichen Ziel des Prozesses gesehen wird. Der Grundsatz der Beweisbeibringung soll nicht etwa so verstanden werden, dass auch der Verfahrensgegenstand in die Disposition der Parteien gestellt würde204. Ein Parteiprozess aber, der die den Prozeß von ,fruchtlosen‘ lästigen Formalismen zu befreien. Amodio, in: Giudice unico e garanzie difensive, S. 1, 15, hat in Bezug auf die Änderungen durch die legge Carotti auf eine weitere systemimmanente Widersprüchlichkeit hingewiesen: ein kontradiktorisches Verfahren vor einem dritten und streitenthobenen Gericht dürfe nicht den Einzelrichter zu seiner Regelzuständigkeit erklären, da gerade die dialektische Gegenüberstellung der Parteien zur Vermeidung von stereotypen Beeinflussungen der richterlichen Überzeugung die Garantie eines kollegialen Spruchkörpers verlange. 202 Ferrua, in: La regola del caso, S. 337, vgl. auch die grundsätzliche Kritik an dieser Gegenüberstellung inbesondere in Bezug auf das integrative Beweisantragsrecht des Gerichts bei Sammarco, S. 187 ff. 203 So heißt es in der amtlichen Begründung, LEX 1988, 333, 539: „Prozess, Hauptverhandlung und akkusatorisches System erschienen als untrennbar miteinander verbundene Realitäten und die zentrale Bedeutung der Hauptverhandlung war der vollkommene Ausdruck dieser nicht fungiblen Verbindungen“; so im Ergebnis auch die Wertung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zum „processo giusto“ bei Di Chiara, in: Il giusto processo, S. 227, 230, wenn er in dieser den Grundsatz verankert sieht, dass die „gerechte Entscheidung“ nicht nur „externes“ Ziel des „gerechten Prozesses“, sondern selbst integraler Bestandteil desselben ist. 204 So das widersprüchliche Verständnis der Dispositionsmaxime z. B. bei Lozzi, oralità e contradditorio nei processi di criminalità organizzata, S. 31, 34, wenn er auf der einen Seite zwar ausdrücklich erklärt, dass durch die vom Gesetzgeber in Art. 190 c.p.p. vorgesehene Beweisbeibringungsregelung, die diese in die Hände der Parteien legt, der Dispositionsgrundsatz unmissverständlich dem italienischen Prozess zugrunde gelegt wurde; auf der anderen Seite hält er aber daran fest, dass die Wahl für die Dispositionsmaxime nicht einhergehen müsse mit der Aufgabe der Suche nach der materiellen Wahrheit, da auch das akkusatorische Modell nach der historischen Wahrheit strebe (S. 43); dementsprechend kritisiert er heftig die Tendenz, dass sich die
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Stoffbeibringung durch die Parteien zu seinem erkenntnistheoretischen Fundament deklariert, kann nicht, ohne sich in Widersprüchen zu verlieren, an der Suche nach einer materiellen Wahrheit als dem primären Ziel des Verfahrens festhalten205. Ein weiteres Kennzeichen der legislatorischen Entwicklung des reformierten Prozesses ist das Bestreben, das Verfahren möglichst effizient zu gestalten. Schon der Gesetzgeber von 1989 war sich durchaus bewusst gewesen, dass eine konsequente Anwendung des akkusatorischen Systems unter Wahrung sämtlicher kontradiktorischen Garantien in der Hauptverhandlung sich mit den praktischen Bedürfnissen der Prozessökonomie nur schwerlich vereinbaren lasse. Hierauf hatte bereits das Ermächtigungsgesetz von 1987 die Notwendigkeit der Einführung besonderer Verfahren gestützt. Dieser Hintergrund ist stets zu beachten, will man die besonderen konsensualen Verfahren im Gesamtgefüge des Prozesssystem betrachten. Einvernehmliche Verfahrenserledigung wird ausdrücklich vor allem auf den Gedanken eines ökonomischen Verfahrens gestützt. Die Vorverhandlung ist durch die legge Carotti, die auf das verfassungsändernde Gesetz zurückzuführen ist, ihrer eigentlichen Filterfunktion enthoben und hat sich quasi zu einem Alternativinstitut der kontradiktorischen Hauptverhandlung entwickelt206. Die Deflationierung der Hauptverhandlung wird durch die Stärkung des Richters in der Vorverhandlung erkauft. War früher im Rahmen der Vorverhandlung für die Frage der Eröffnung des Hauptverfahrens lediglich eine Prognose ohne weitergehende Prüfung gefordert, wird nunmehr eine umfassende Wertung nach Aktenlage verlangt. Der Preis ist eine Aufweichung des Grundsatzes der unmittelbaren, kontradiktorischen Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung. Die Vorverhandlung hat sich so mehr und mehr zu einem Prozessabschnitt entwickelt, in dem über die sachliche Begründetheit der Anklage entschieden wird207. Die Aktenlage kann nunmehr zum Ausgangspunkt Rechtsprechung in der Praxis damit zufrieden gebe, dass in einem patteggiamento nach der „historischen Wahrheit“ nicht einmal gestrebt werde, Riv. it. dir. poc. pen. 1998, 1396, 1403. 205 Anders aber Mambriani, S. 107, der die Verbindung zwischen materieller Wahrheit und inquisitorischem System für überholt hält und auch den akkusatorischen Prozess an der materiellen Wahrheit ausgerichtet wissen will. 206 Dalia, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, Bd. I, S. 3, 12; im Einzelnen zur neuen Ausgestaltung der Vorverhandlung, Garuti, in: Il processo penale dopo la riforma del giudice unico, S. 353 ff. 207 Amodio, in: Giudice unico e garanzie difensive, S. 1, 5, spricht von einer „Hauptverhandlung in Miniatur“; Galantini, S. 93, 101, von einer präventiven Hauptverhandlung über die Schuld- und Straffrage, deutlich werde die Verkehrung der Bedeutung von Vor- und Hauptverhandlung auch durch die Tatsache, dass Förmlichkeiten und Rechtsinstitute, die ursprünglich der Hauptverhandlung vorbehalten waren, nunmehr in den gesetzlichen Kontext der Vorverhandlung integriert sind und in den Bestimmungen über die Hauptverhandlung nur noch auf diese zurückverwiesen wird (Art. 484 Abs. 2 bis c.p.p.). Diese Antinomie präzise herausstellend spricht Tonini, in:
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integrativer Beweiserhebungen auch innerhalb der Vorverhandlung oder der besonderen Verfahren werden. Rechtspolitisches Ziel dieser Vorverlagerung ist die unaufhaltsam an Bedeutung gewinnende Prozessökonomie. Der zunehmende Rekurs auf den Gedanken der Prozessökonomie ist den ursprünglichen Intentionen des akkusatorischen Prozesses in seiner kontradiktorischen Ausgestaltung diametral entgegengesetzt.208 Die Stärkung der Verteidigung im Ermittlungsverfahren und der kontradiktorischen Strukturen im Allgemeinen auch im vorprozessualen Stadium sind also auf die Intention des Gesetzgebers zurückzuführen, möglichst viele Verfahren bereits im Vorverfahren, durch ein Ausweichen auf die besonderen Verfahren zu beenden. Obwohl die große Reform von 1989 ganz in der Perspektive akkusatorischer und kontradiktorischer Strukturen stand, hat die verfassungsrechtliche Verankerung dieser Grundsätze in Art. 111 cost. diese Prinzipien selbst deutlich relativiert, indem das kontradiktorische Verfahren nicht als ein unverfügbares, essenzielles Recht in jedem Grad des Verfahrens konzipiert worden ist, sondern lediglich als ein relativer Wert, der mit anderen abgewogen werden kann209. Kontradiktorische Methode und Suche nach der Wahrheit werden als zwei gegensätzliche Positionen eines Abwägungsprozesses verstanden. Diese Widersprüchlichkeit ist von der italienischen Lehre immer wieder in den Vordergrund und von den Kritikern gewissermaßen als Geburtsfehler der legge Carotti bezeichnet worden210. These für den Fortgang der Untersuchung ist nun, dass die kritische Reaktion in weiten Teilen der italienischen Wissenschaft auf die Stärkung der Zwischenverhandlung sowie auf das Bestreben, den Anwendungsbereich der alternativen Studi in ricordo di Gian Domenico Pisapia, S. 727, 735, von der „Einzigartigkeit“ des italienischen Gesetzgebers, der 1989 das akkusatorische System eingeführt hat und 1999 diejenigen Institute aufnehmen wolle, die gerade für das Mischsystem typisch seien. 208 Marx/Grilli, GA 1990, 506, sehen daher den nahe liegenden Verdacht, dass auf diese Weise die rechtsstaatlichen Bemühungen des Gesetzgebers im Sinne des akkusatorisch-adversatorischen Prozesses durch das ebenso ausgeprägte legislatorische Bedürfnis, der Prozessökonomie zu dienen, zunichte gemacht werden könnten. 209 Vgl. Dalia, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, Bd. I, S. 1, 22. 210 De Caro, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, Bd. I S. 385, 408, spricht von einem „evidenten Bruch, den die Reform im akkusatorischen System hinterlässt“ und dem daraus resultierenden „makroskopischen Widerspruch“; als weiteres heimliches Argument für die Neuerung führt er an, dass die Aufwertung der Vorverhandlung auch mit dem Bestreben zusammenhänge, schleichend eine Art neuer Entscheidung in der Sachfrage in erster Instanz einzuführen, und so langsam die Garantie der Berufung als zweiter Sachinstanz zu delegitimieren (S. 433); auch Amodio, in: Giudice unico e garanzie difensive, S. 1, 4, sieht das Gesetz von einer „doppelten Seele“ beseelt, die „ratio“ der prozessökonomischen Vorteile solle durch die „ratio“ der Garantien der gestärkten Verteidigerposition kompensiert werden, bestreitet aber (S. 11), dass die Reform von 1999 das Maß der gewährten Garantien und das Mündlichkeitsprinzip, die „eigentliche Seele“ des akkusatorische Systems, beschneide.
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konsensualen Verfahren weiter zu fördern, entgegen ihrem Auftreten nicht wirklich das Wesen des akkusatorischen Parteiprozesses verteidigt, sondern im Ergebnis selbst in einem inquisitorischen Gedankengerüst verhaftet bleibt. Selbst inquisitorisch inspiriert ist diese Ablehnung des vermeintlichen „inquisitorischen Rückschritts“ insoweit, als sie der Parteiendisposition, sofern sie konsensual verläuft, grundsätzlich misstraut und am Prozessziel der materiellen Wahrheit festhält. Der Kern der Kritik liegt in der Annahme, dass ein Konsens der Parteien, der auf die Hauptverhandlung verzichtet, zu Lasten eines gerechten Ergebnisses gehen muss. Dieses Gerechtigkeitsdefizit wird in der Aufwertung der Beweisquellen aus dem Vor-, und Zwischenverfahren zur nunmehr „beweiskräftigen“ Aktenlage gesehen. Die Kritik verkennt indes die eigenständige Bedeutung materieller Verfahrensgerechtigkeit211, die sich in einem Konsens sehr wohl verwirklichen kann. Ein kontradiktorisches Verfahren birgt schon aufgrund seiner Struktur als Parteiprozess die Möglichkeit einer konsensualen Verfahrenserledigung in sich, weil der Grundsatz der Beweisbeibringung durch die Parteien einschließt, dass auch im Wege eines Konsenses über den Verfahrensgegenstand verfügt werden kann212. Berechtigt bleibt die Kritik hingegen dort, wo sie die erleichterte Verwertung der im Ermittlungsverfahren gewonnenen Beweise in der streitgen Hauptverhandlung anprangert, da hierin eine Aufweichung der Trennung der Prozessphasen zu sehen ist, die auf Kosten rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien einzig der Prozessökonomie dienen soll und hierbei die kontradiktorische Grundstruktur der Beweisgewinnung konterkariert. Die Zweifel an der „schleichenden Gegenreform“ sind mithin insoweit zu teilen, wie die Gesetzesänderungen dem Beweistransfer in das streitige Hauptverfahren Vorschub leisten, und in dem Maß, in dem sie die gerichtlichen Prüfungskompetenzen unter Einschränkung der konsensualen Dispositionsbefugnis stärken.
211 Für die dieser Arbeit zugrunde liegende Idee einer eigenständigen materiellen Verfahrensgerechtigkeit vgl. zusammenfassend in der Grundlegung [Kapitel 1, I. 3. b)]. 212 Genau dieser Aspekt fehlt auch in der Beurteilung von Dalia, in: Le recenti modifiche al codice di procedura penale, Bd. I, S. 3, 26, dass sich in der gesetzlichen Entwicklung insbesondere durch die legge Carotti das Recht auf ein justizförmiges Verfahren, in dem die Beweisaufnahme, wie verfassungsrechtlich verankert, in einer kontradiktorischen Hauptverhandlung zu erfolgen habe, von einem unverfügbaren prozessualen Grundrecht zu einem der Abwägung zugänglichen, verzichtbarem Recht gewandelt habe.
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IV. Das patteggiamento als Konsens im Dienste der Prozessökonomie – eine strafprozessuale Antinomie Das patteggiamento ist das Verfahren, das zur Verhängung einer bestimmten, von einer oder beiden Parteien gemeinsam beantragten Strafe führt. Es ermöglicht den Parteien, die Höhe der Strafe selbst zu bestimmen. Der hierfür vom Gesetz verwendete Terminus ist „Strafverhängung auf Antrag der Parteien“ (applicazione della pena su richiesta delle parti). In Lehre und Rechtsprechung hat sich der Begriff patteggiamento von Beginn an behauptet. Im allgemeinen Sprachgebrauch definiert sich ein solches als „meist langwierige und aufwendige Verhandlung, die mit einem Kompromiss abschließt“213. Schon die amtliche Begründung des Gesetzentwurfs von 1985214 hatte darauf aufmerksam gemacht, dass der äußerst „signifikante“ Begriff sich durchgesetzt hat, obwohl er eigentlich nicht wirklich passend sei. Nach der Konzeption des Gesetzes geht es gerade nicht um langwierige Verhandlungen, sondern um einen ein- oder zweiseitigen Antrag auf Verhängung einer bestimmten Strafe zum Zweck der Beschleunigung des Verfahrens. Entsprechend wurde deshalb auch teilweise der zivilrechtlich geprägte Ausdruck „Vergleich“ (transazione) bevorzugt215, konnte sich dauerhaft aber nicht durchsetzen. Es soll nun die gesetzliche Konzeption des patteggiamento vorgestellt werden; hierbei gilt es, die strafprozessuale Antinomie aufzudecken, die sich – in dem oben dargelegten Widerspruch zwischen akkusatorischer Inspiration der Reform von 1988 und der dann einsetzenden „schleichenden Gegenreform“ begründet – in dem konsensualen Rechtsinstitut aufs Deutlichste niedergeschlagen hat. 1. Die erste Form des patteggiamento in dem Gesetz 689/1981 Eine erste verhaltenere Form des patteggiamento war in Italien bereits vor der großen Prozessreform, nämlich 1981 im Rahmen eines Änderungsgesetzes zur Strafprozessordnung216 eingeführt worden. Das Gesetz regelte die Einfüh213 Allgemeine Definition des patteggiamento in: Il grande dizionario Garzanti: „trattativa per lo più lunga e laboriosa e conclusa con un compromesso.“ 214 Begründung zum Gesetzentwurf von 1985 (relazione), Riv. it. dir. proc. pen., 1985, 945, 973; kritisch zum Begriff des patteggiamento z. B. Pagliaro, Dir. pen. e proc. 1995, 110, 111 der den Begriff lieber durch „transazione penale“ (strafrechtlicher Vergleich) ersetzen möchte. 215 So bspw. Pittaro, in: Il patteggiamento, S. 5, 7. 216 Legge n. 689/1981, in LEX, 1981, I, 2817 ff.; vgl. die ausführliche Kommentierung der Regelung der Ersatzstrafen im Gesetz 689/1981 insbesondere im Hinblick auf Aspekte der Auslegung, Systematik und Kriminalpolitik von Dolcini, Riv. it. dir. proc. pen. 1982, 1390 ff.
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rung von so genannten Ersatzstrafen217. Es stand mithin ganz im Zeichen der Krise der kurzen Freiheitsstrafen, deren kriminogener Faktor zunehmend ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt war. Im Falle minder schwerer Kriminalität konnte das Gericht nach dem neuen Gesetz Freiheitsstrafen durch mildere Sanktionen, wie den „Halbfreiheitsentzug“ (semidetenzione), die „kontrollierte Freiheit“ (libertà controllata) oder durch Geldstrafe ersetzen218. Diese neu gestalteten Ersatzstrafen sollten auch auf Antrag des Beschuldigten verhängt werden können. So entstand eine erste Form des patteggiamento. Der einschlägige Artikel 77 des Gesetzes 689/1981219 enthielt eine „embryonale Form des akkusatorischen Stils“220 insofern, als er erstmalig die Möglichkeit einführte, dass die Parteien dem Gericht ausgehandelte Alternativen zur Freiheitsstrafe vorlegten. Die Entstehung dieser ersten Form des patteggiamento ist zwar auch im Zusammenhang mit den Bedürfnissen der Praxis und dem Arbeitsanfall in der Justiz zu sehen, der Anreize schaffen wollte, von einer zeit- und arbeitsintensiven Hauptverhandlung abzusehen. So ist auch das Gesetz 689/1981 vor dem Hintergrund des steigenden Arbeitsanfalls in der Justiz zu sehen, dem es sowohl auf dem Wege der Depönalisierung wie der Einführung neuer prozessualer Techniken begegnen wollte221. Es muss aber in den Vordergrund gerückt werden, dass es sich beim patteggiamento in seiner Geburtsstunde der Struktur nach um eine Strafvergünstigung handelte, die der Angeklagte auf Antrag erhalten konnte, nicht aber um ein konsensuales Rechtsgeschäft zwischen zwei Prozesspar217 Kritisch zum System der Ersatzstrafen, Dolcini, in: Festschrift für Roxin, S. 1505 ff. 218 Art. 53 des Gesetzes 689/1981 bestimmt, dass das Gericht, wenn es Freiheitsstrafe von unter einem Jahr vorsieht, diese mit der Ersatzstrafe der semidetenzione, und wenn es einen Freiheitsentzug von unter sechs Monaten verhängen will, diesen durch die libertà controllata ersetzen kann; sind weniger als drei Monate Freiheitsstrafe angemessen, ist Ersatz durch Geldstrafe möglich. Im Rahmen seines Ermessens war der Richter an die Zumessungskriterien des Art. 133 c.p. gebunden (Art. 58 des Gesetzes 681/1981). 219 Art. 77 Abs. 1 des Gesetzes 689/1981 lautet nach freier Übersetzung der Verfasserin: Im Lauf des Vorverfahrens und bis zum ersten Abschluss der förmlichen Einleitung des Hauptverfahrens kann das Gericht, sofern es aufgrund der Aktenlage und nach dem Stand der eventuell verfügten Feststellungen, der Auffassung ist, dass solche Umstände vorliegen, die die Verhängung einer Ersatzmaßnahme, der kontrollierten Freiheit oder Geldstrafe begründen, entscheiden, dass auf Antrag des Angeklagten und mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft die Ersatzmaßnahme verhängt wird, unter Ausschluss jeglicher Nebenstrafen oder Sicherungsmaßnahmen; unberührt bleibt nur die Beschlagnahme nach Art. 240 II c.p. In einem solchen Fall erklärt es in demselben Urteil die Straftat wegen der Anwendung der Ersatzmaßnahme auf Antrag des Angeklagten für erloschen. 220 Cordero, Procedura penale, S. 1005; auffällig auch hier, dass der „akkusatorische Stil“ gleichgesetzt wird mit der Disposition der Parteien über die Tat- und Straffrage und somit im Grunde ein kontradiktorisches Verfahren meint. 221 Vgl. Lorusso, S. 28.
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teien222. Die Anwendung der Ersatzstrafen vor Beginn der Hauptverhandlung auf Antrag war bindend von der Zustimmung der Staatsanwaltschaft abhängig. Die Verfassungsmäßigkeit des Zustimmungsbedürfnisses als Voraussetzung für das alternative Verfahren hatte das Verfassungsgericht in dem Urteil n. 120/ 1984223 ausdrücklich anerkannt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Verfassungsgericht die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verfahrens damit ausräumte, dass die mangelnde Zustimmung der Staatsanwaltschaft nur für die prozessuale Frage über die Anwendungsmöglichkeit des verkürzten Verfahrens bindend war, aber für die Sachentscheidung des Gerichts keinerlei Bindungswirkung entfaltete. Im Rahmen der Hauptverhandlung hingegen konnte das Gericht dem Antrag des Angeklagten im Sinne des Art. 77 auch ohne Rücksicht auf die Zustimmung der Staatsanwaltschaft entsprechen. Der Staatsanwalt wurde dann zwar noch gehört, aber seine Stellungnahme war nicht mehr bindend (Art. 78 Abs. 2 Gesetz 689/1981). Subjektive Ausschließungsgründe fanden sich in Art. 80 c.p.p. Das verkürzte Verfahren konnte dann nicht angewendet werden, wenn es zugunsten des Angeklagten bereits schon einmal angewandt worden war oder wenn er schon einmal zu Haftstrafe verurteilt worden war. Mit der Einführung des patteggiamento wurde der Parteiwillen in zweifacher Hinsicht bedeutsam: prozessual, weil er ein verkürztes Verfahren ermöglichte, materiell, weil er eine gerichtliche Entscheidung nach sich zog, die trotz Verhängung einer Sanktion, zum Teil andere Rechtsfolgen als die eines Schuldurteils entfalte224. Vornehmliches legislatorisches Ziel der neuen Regelung war die Eindämmung der Freiheitsstrafen für den Bereich der „Kleinkriminalität“, die das soziale Rechtsempfinden weniger erschüttert225. Auch von einer prozessualen Depönalisierung war in diesem Zusammenhang die Rede226. Bereits diese erste Form des patteggiamento gab Anlass, über die rechtliche Natur der dem Antrag stattgebenden Entscheidung nachzudenken. Die Diskussion zu diesem Thema wird nicht abreißen und stellt bis heute ein Kernproblem der Verfahrensbeendigung durch Konsens im patteggiamento dar. Das Verfassungsgericht verstand die Anwendung des Art. 77 als eine prozessuale Verständigung zu Zwecken der Deflation des ordentlichen Verfahrens. Das Verfas222
Vgl. Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 5. Corte cost. sent. 30. April 1984; zitiert nach Macchia, Il patteggiamento, S. 111 ff.; zu entscheiden hatte das Gericht hier insbesondere über gerügte Verstöße der Norm gegen das Gleichheitsgebot, Art. 3 cost. sowie die ausschließliche Bindung des Richters an das Gesetz, Art. 101 Abs. 2 cost. 224 Die amtliche Begründung (relazione) zum Gesetzentwurf von 1985 ist abgedruckt in: Riv. it. dir. proc. pen. 1985, 954, 974. 225 Sez. un. sent. 12.10.93, Foro it., 1993, II, 339. 226 Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 4 m. w. N. 223
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sungsgericht hob den „atypischen“ Charakter der Entscheidung nach Art. 77 in Bezug auf das Erlöschen der Straftat durch Verhängung der Ersatzstrafe auf Antrag hervor227. Die sezioni unite228 des Kassationsgerichtshofes sahen in der Rechtsnatur der Entscheidung keine Verurteilung, sondern gaben ihr vielmehr den Charakter eines Freispruchs wegen Erlöschens der Straftat229. In der Literatur gab es wieder andere Meinungen zur Rechtsnatur der Entscheidung. So hielten die einen das Urteil für eine administrative Maßnahme230, andere plädierten für die Einordnung unter ein tertium genus231, und schließlich gab es auch solche Stimmen, die den strafrechtlichen Charakter der Sanktion in den Vordergrund rückten232. Um die Garantien der Unschuldsvermutung nicht zu verletzen, wurde jedoch von verschiedener Seite gefordert, dass auch im Rahmen der Antragsstrafe die volle Feststellung der Verantwortlichkeit erforderlich sei233. Zumindest nach dem Wortlaut des Art. 77 schien es zweifelhaft, ob wirklich von dem Erfordernis einer Festsstellung der Verantwortlichkeit ausgegangen werden konnte. Die Norm spricht lediglich von „Elementen“, die nach Aktenlage und nach „eventuellen“ Ermittlungen durch den Richter, hinreichen müssen, um eine Ersatzstrafe zu verhängen. Da nur das Vorliegen von „Elementen“ für die Ersatzstrafe überprüft werden muss, wurde hieraus auch gefolgert, dass vom Erfordernis einer vollständigen Feststellung der Tatverantwortlichkeit keine Rede sein könne, sondern erforderlich sei lediglich „eine summarische Überprüfung“ der „Umstände“ gewesen, die für das Anordnen einer Ersatzstrafe nach Art. 77 sprächen234. Inwieweit eine summarische Prüfung den verfassungsrechtlichen Vor-
227 Siehe hierzu Entscheidung 120/1984, zitiert nach Machhia, Il patteggiamento, S. 111, 116. 228 Die sezioni unite entsprechen dem Großen Senat des BGH, mit dem Unterschied, dass bei zwischen den sezioni divergierenden Rechtsansichten keine Vorlagepflicht, sondern lediglich eine Vorlagebefugnis besteht. 229 Cass. Sez. un., 23. März 1989, Cass. pen. 1989, 971, 972; nach diesem Urteil führt die sentenza ex Art. 77 weder zur Verurteilung der Prozesskosten noch zum Schadensersatz an den Nebenkläger, da diese einen Schuldspruch voraussetzen, das Urteil nach Art. 77 des Gesetzes 689/1981 hingegen ein Freispruch sei, unter Hinweis auf die Tatsache, dass der Gesetzgeber traditionelle Kategorien gebrochen habe, indem er das Erlöschen der Straftat der freiwilligen Annahme einer Sanktion unterstellte. 230 Vor allem Amodio, Cass. pen. 1983, 2114, 2119; Molari, Arch. pen. 1984, 64 ff. 231 So Ghiara, Giust. pen. 1982, III, 588, 592, der in der Entscheidung einen Freispruch sieht, der gewisse Pflichten auferlegt die strafrechtlich sanktioniert sind; Lattanzi, Riv. it. dir. e proc. pen. 1985, 1059, 1067. 232 Bertoni, Cass. pen. 1982, 659, 660; Nobili, Pol. dir. 1982, 373, 383, der zu dem paradoxen Schluss kommt, es handele sich um eine Entscheidung, die Freispruch und Schuldspruch zugleich sei, die aber in jedem Fall zu einer strafrechtlichen Sanktion führe. 233 So Lozzi, Leg. pen. 1982, 378. 234 Budde, ZStW 102 (1990), 196, 208.
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gaben genügen kann, wird noch Thema sein. An dieser Stelle soll genügen, dass die Problematik der Feststellung strafrechtlicher Verantwortlichkeit bereits in der ersten Fassung des patteggiamento ein Kernpunkt der rechtlichen Diskussion darstellte und weder einheitlich noch zufriedenstellend gelöst werden konnte. Unter pragmatischen Gesichtspunkten der Effizienz war das Verfahren nach Art. 77 nicht sonderlich erfolgreich. Das Ziel gesteigerter Verfahrensökonomie wurde verfehlt, da verhältnismäßig selten auf den Antrag zurückgegriffen wurde. Der Anteil von Verfahren vor den Amtsgerichten, die im Wege des patteggiamento beendet wurde, belief sich in den ersten sieben Monaten nach der Einführung des Instituts auf 0,78%, im folgenden Jahr auf 2,5%235. Diese Zahlen blieben weit unter den Erwartungen, die man an die neue Verfahrensart gestellt hatte. Zum einen dürfte hierfür der gesetzlich sehr beschränkte Anwendungsbereich des Instituts, auf das nur im Rahmen von Ersatzstrafen, also im Bereich der Bagatellkriminalität zurückgegriffen werden konnte, verantwortlich gewesen sein. Zum anderen bestanden für den Angeklagten keine großen Anreize, die alternative Verfahrensform zu wählen, da diese für ihn mit Risiken verbunden war. Die notorische Überlastung der Justiz hatte derartige Ausmaße angenommen, dass viele Beschuldigte auf einen glimpflichen Verfahrensausgang einzig aus dem Umstand hoher Freispruchquoten hofften236. Die Stellung des Antrags konnte, obwohl sie formal einem Geständnis nicht gleichkam, eine Voreingenommenheit auf Seiten des Gerichts begründen. Die Ablehnung durch die Staatsanwaltschaft bedurfte vor der Hauptverhandlung nicht einmal einer Begründung237. Der Beschuldigte befand sich somit in einer äußerst schwachen Position, weil die Ablehnung durch den Staatsanwalt in eine Hauptverhandlung mündete, in der die Stellung des Beschuldigten durch den zuvor gestellten Antrag bereits geschwächt sein konnte. Diese Tendenz wurde durch ein praktisches Problem noch deutlich verschärft. Während es im Hauptverfahren keine großen Schwierigkeiten machte, 235 Siehe die amtliche Begründung zum Gesetzentwurf Nr. 2609 vom 1.3.1985 (relazione ministeriale), mit dem die Regelung des Art. 77 reformiert und der Anwendungsbereich deutlich ausgeweitet werden sollte; der Entwurf wurde jedoch nie verwirklicht, wohl weil das Ermächtigungsgesetz von 1987 für die Gesamtreform des Strafprozesses der Umsetzung zuvor kam, abgedruckt in: Riv. it. dir. proc. pen. 1985, 945, 974. 236 Marx/Grilli, GA 1990, 495, 499 weisen unter Rückgriff auf den Corriere della sera vom 11.1.1990 darauf hin, dass die Überlastung der Justiz dazu beitrug, die Verurteilungsquote drastisch zu senken; so hätten 1988 über 50% der verhandelten Fälle zum Freispruch geführt. 237 Verfassungsrechtliche Zweifel, die den Gleichheitsgrundsatz dadurch verletzt sahen, dass die mangelnde Begründungspflicht für eine staatsanwaltliche Ablehnung, zu einer Ungleichbehandlung von Anklage und Beschuldigtem führen könne, wurden durch das Verfassungsgericht in der zitierten Entscheidung n. 120/1984 widerlegt; hier zitiert nach Macchia, Il patteggiamento, S. 111, 118.
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vor Stellung eines Antrags die Meinung des Staatsanwaltes einzuholen, war es im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nahezu unmöglich, zuvor in Erfahrung zu bringen, wie der Staatsanwalt auf einen Antrag des Beschuldigten reagieren würde. In aller Regel wurden die Ermittlungen selbstständig von dem Amtsrichter durchgeführt. Nur in Ausnahmefällen bei Sachzusammenhang mit einer Straftat, die in die Zuständigkeit eines tribunale (dem Landgericht vergleichbar) fiel, wurde ein Untersuchungsrichter eingeschaltet. Die Staatsanwaltschaft war an den Untersuchungen grundsätzlich nicht beteiligt. Die Staatsanwaltschaft war noch nicht einmal in Kenntnis des Untersuchungsstandes, da die Akten in der Regel erst zum Zwecke einer Stellungnahme zu einem Antrag nach Art. 77 des Gesetzes 689/81 der Staatsanwaltschaft vorgelegt wurden. Da zu diesem Zeitpunkt der Beschuldigte durch Stellung des Antrags seine Schuld schon quasi zugestanden hatte, käme ein Sondierungsgespräch mit dem Staatsanwalt zu spät. Zwischen Beendigung des Untersuchungsverfahrens und Abschluss der förmlichen Einleitung des Hauptverfahrens blieb zwar theoretisch noch Zeit für die Stellung eines Antrags, die Gefahr, dass dieser durch die Staatsanwaltschaft abgelehnt würde, wurde aber dadurch erhöht, dass die Ermittlungen zu diesem Zeitpunkt ohnehin abgeschlossen waren, und eine relevante Verfahrensabkürzung kaum mehr zu erreichen war238. Als ein weiterer Grund für das praktische Scheitern der Regelung wurden „kulturelle und in der Tradition der Rechtsprechung liegende Widerstände“ angeführt239. Die weit verbreitete Zurückhaltung in den Reihen der Justiz gegenüber der „Philosophie“ der neuen Verfahrensformen wurde vor allem auf die Angst zurückgeführt, die Gerichte könnten sich ihrer rechtsprechenden Unabhängigkeit beraubt und den Befugnissen der Parteiinitiative unterworfen sehen240. Dieser Aspekt stellt einen direkten Übergang in die Problematik der geltenden Fassung des patteggiamento dar, weil sich in ihm der prinzipielle Konflikt um das gesamte Thema kristallisiert, nämlich die grundsätzliche Frage, welche Rolle den Parteien und welche dem Gericht in den Fällen konsensualer Verfahrenserledigung zukommt. 2. Grundzüge des patteggiamento der geltenden Art. 444 ff. c.p.p. Die Artikel 77–80 des Gesetzes 689/1981 sind durch die Übergangsbestimmungen zur neuen Strafprozessordnung241 aufgehoben worden. Die Differenzen 238
Budde, ZStW 102 (1990), 196, 207. Neppi Modona, in: Studi in Ricordo di Gian Domenico Pisapia, S. 447, 459; von einem „substanziellen Scheitern des alten patteggiamento“ spricht Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 27. 240 Neppi Modona, a. a. O., S. 447, 462. 239
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zwischen dem „alten“ und dem „neuen“ patteggiamento sind so grundsätzlicher Natur, dass der Gesetzgeber konsequent die Neugestaltung mit der Aufhebung des alten Instituts einhergehen ließ. Nach dem geltenden Art. 444 c.p.p.242 können der Beschuldigte und die Staatsanwaltschaft beim Gericht ein bestimmtes Strafmaß beantragen, das nach Minderung um ein Drittel fünf Jahre Freiheitsentzug nicht übersteigen darf. Diese Voraussetzung des Maximalstrafmaßes ist erst durch das Gesetz 134/2003 von zwei auf fünf Jahren angehoben worden243. Wenn die Zustimmung der jeweils anderen Partei zum Antrag vorliegt, hat das Gericht die rechtliche Würdigung der Tat, die Anwendung und Abwägung der strafzumessungsrelevanten Umstände, sowie die Angemessenheit der Strafe zu prüfen244 und bei positivem Ausgang der Kontrolle dem Antrag zu entsprechen. In diesem Fall verhängt es das beantragte Strafmaß und verweist in dem Urteil ausdrücklich auf den Antrag. Das patteggiamento in der Ausgestaltung der geltenden Artikel 444 ff. stellt im Gegensatz zu Art. 77 l. 689/81 ein wirklich alternatives Verfahren zur Hauptverhandlung und nicht mehr eine bloße Strafvergünstigung dar245. Gerade in dem rechtsgeschäftlichen Charakter des Prozessinstituts, der in der Begründung zum Gesetzentwurf explizit hervorgehoben wird, schlägt sich der Gedanke 241
Art. 234 n. coord. c.p.p. Die Art. 444–448 c.p.p. sind im Anhang im Original und mit freier Übersetzung der Verfasserin abgedruckt. 243 Durch die legge n. 134 vom 12. Juni 2003, in Gazz. uff. Nr. 136 vom 14. Juni 2003; zunächst war eine Anhebung des Strafrahmens auf drei Jahre diskutiert worden, vgl. Repubblica vom 6.2.2003; verfassungsrechtliche Zweifel an dem Gesetz sind durch die Entscheidung des Verfassungsgericht, sent. vom 9. Juli 2004, Cass. pen. 2004, 3608 ff. als unbegründet zurückgewiesen worden; in der Literatur ist das Gesetz durchaus heftig kritisiert worden, vgl. Vigoni, Diritto e giustizia 2002/31, 19; Pezzella, ebd. 2002/31, 15 ff.; Ferrua, ebd. 2003/8, 8; siehe auch zu den grundlegenden Differenzen zwischen altem und neuem patteggiamento, Cremonesi, Dir. e giust. 2003/24, 14. Das Gesetz ist in den juristischen Alltagsgebrauch unter dem Namen der „Reform des erweiterten patteggiamento“ eingegangen, vgl. Peroni, Dir. pen. e proc. 2003, 1068. Die Erweiterung war bereits seit einigen Jahren diskutiert worden. Die Anfänge dieser Tendenz werden gern mit der „Notsituation“ von „Tangentopoli“ in Verbindung gebracht, vgl. Peroni, a. a. O., 1068, 1069; zu verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Erweiterung des materiellen Anwendungsbereiches durch das zitierte Gesetz siehe Tribunale di Roma, ord. 1. Juli 2003, Arch. n. proc. pen. 2003, 479 ff., mit ablehnender Anmerkung von Di Dedda, ebd. S. 482 ff., der insbesondere darauf verweist, dass keine verfassungsrechtlichen Gründe die materielle Begrenzung des patteggiamento erforderten. Das Gericht erhebt die Frage der Verfassungsmäßigkeit u. a. insofern, als durch die Erweiterung de facto die Regel eingeführt werde, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht mehr positiv festgestellt werden müsse und dass so der Verfassungsgrundsatz in Art. 111 cost., dass die Entscheidung aus einer kontradiktorischen Hauptverhandlung gewonnen wird, praktisch unterlaufen werde, S. 481. 244 Das Erfordernis der Prüfung der Angemessenheit der Strafe wurde erst 1999 durch die lege Carotti (l. 479/1999) als Umsetzung des verfassungsgerichtlichen Urteils sent. n. 313/1990, Foro it. 1990, 2385 ff. eingeführt. 245 Vgl. Lattanzi, Cass. pen. 1989, 2105, 2107. 242
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eines alternativen Verfahrens nieder. Dies wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, dass nach dem ersten Modell von 1981 nur der Angeklagte antragsberechtigt war. Da das patteggiamento in seiner frühen Form noch als reine Strafvergünstigung konzipiert war, trug man konsequenterweise hinsichtlich der Antragstellung nur eventuellen Interessen des Beschuldigten Rechnung. Nach dem neuen Modell, das in erster Linie eine Entlastung des gesamten Justizapparats bezweckt, können Anklage und Verteidigung gleichermaßen an der Durchführung interessiert sein. Diese Interessenlage führt insbesondere zu der neu eingeführten Antragsberechtigung der Staatsanwaltschaft. Im Folgenden ist nun die Regelung des patteggiamento im Einzelnen zu untersuchen und hierbei sind vor allem die wichtigen Änderungen zu unterstreichen, die die Regelung durch die legge Carotti246 sowie durch das Gesetz 134/ 2003 erfahren hat; dies insbesondere unter Berücksichtigung der hier hauptsächlich interessierenden Frage, inwieweit der Verfahrensgegenstand im Rahmen der konsensualen Verfahrenserledigung nach dem Modell der Artikel 444 ff. c.p.p. disponibel werden darf bzw. inwieweit er seiner Natur nach in einem konsensual verlaufenden Parteiprozess bereits verfügbar sein muss. a) Erweiterter Anwendungsbereich und Ausschlusstatbestände Voraussetzung für das patteggiamento ist nunmehr, dass die beantragte Strafe nach Berücksichtigung der mildernden Umstände und der Reduzierung um ein Drittel fünf Jahre Freiheitsstrafe nicht überschreiten darf oder es sich um eine Geldstrafe handeln muss, Art. 444 Abs. 1 c.p.p. Nach dem durch das Gesetz 134/2003247 neu eingeführten Art. 444 Abs. 1 bis c.p.p. ist neben der Erweiterung des Anwendungsbereichs durch Anhebung der Strafmaßgrenze auch ein materiellrechtlicher Ausschluss für einige besonders schwere Delikte vorgesehen. Einem Antrag nicht zugänglich sind danach Strafen für den Tatbestand der „Bildung einer mafiösen Vereinigung“, (associazione di tipo mafioso), Art. 416 bis c.p., sowie für Taten, die im Rahmen einer solchen Vereinigung begangen werden. Ebenso „unverhandelbar“ bleibt der Tatbestand der „Entführung zum Zwecke der Erpressung“ (Sequestro di persone a scopo di estorsione), Art. 630 c.p. Vom alternativen Verfahren des patteggiamento ausgeschlossen sind auch 246 Zu einer summarischen Wertung der Wirkung der legge n. 479 vom 16. Dezember 1999, Gazz. uff. vom 18. Januar 2000, n. 13. auf das patteggiamento vgl. Bricchetti, Guida al diritto, 2000/1, S. LXIV. 247 Gesetz vom 2. Juni 2003, Nr. 134, Gazz. uff. 14. Juni 2003, Nr. 136; vgl. die umfassenden Darstellungen des erweiterten patteggiamento (patteggiamento allargato) in den Sammelbänden „Pattegiamento ,allargato‘ e giustizia penale“, hrsg. von Peroni, sowie „Patteggiamento allargato e sistema penale“, hrsg. von De Caro; eine äußerst kritische Wertung der Gesetzesänderungen liefert Suraci, Arch. n. proc. pen. 2004, 382 ff., vgl. auch die differenzierte Kommentierung bei Amodio, Cass. pen. 2004, 700 ff.; wie auch den Beitrag von Vigoni, ebd. S. 710 ff.
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terroristisch motivierte Taten248. Somit liegt nunmehr ein materiellrechtlicher Katalog von Ausschlusstatbeständen für einige besonders schwere Delikte vor. Die subjektiven Ausschlussgründe, die noch in Art. 80 des Gesetzes 689/ 1981 den strafbegünstigenden Charakter der Norm hervorgehoben hatten, wurden zunächst im Einklang mit der Bestimmung als grundsätzlich alternativem Verfahren aufgehoben. Durch das zitierte Gesetz 134/2003 sind jedoch neben den genannten objektiven auch subjektive Ausschlussgründe wieder eingeführt worden. So können Gewohnheits-, Wiederholungs- oder berufsmäßige Täter dann keine Strafe nach Art. 444 c.p.p. beantragen, wenn das antragsgemäß zu verhängende Strafmaß zwei Jahre, und somit den Anwendungsbereich des „alten“ patteggiamento vor 2003 übersteigt. Diese subjektiven Ausschlussgründe gaben berechtigten Anlass, die Vereinbarkeit der neuen Vorschrift mit dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 cost. in Zweifel zu ziehen249. Damit ist die Anwendbarkeit des patteggiamento zwar nicht mehr auf bestimmte Kriminalitätsbereiche beschränkt; das Institut hat jedoch nunmehr seine einheitliche Struktur eingebüßt. Das Strafmaß von zwei Jahren bildet die klare Trennlinie. Was der Termininologie des „erweiterten patteggiamento“ folgend sich lediglich als Ausdehnung eines bestehenden Rechtsinstitutes darstellt, entpuppt sich in der Sache als die Schaffung einer neuen, eigenen Voraussetzungen und Rechtsfolgen unterworfenen Regelung des Antrags auf Strafverhängung von über zwei Jahren Freiheitsentzug. Der Anwendungsbereich erstreckt sich im Ergebnis auf Taten der schweren Kriminalität. Dies galt eingeschränkt aber im Grunde bereits vor Einführung der Erweiterung der Höchststrafe auf fünf Jahre. Auch in den restriktiveren Anwendungsbereich der alten Regelung konnten im Falle von zwei aufeinander treffenden mildernden Umständen solche Delikte fallen, für die ein Mindeststrafmaß von bis zu sechs Jahren und zehn Monaten vorgesehen ist250. Nach der neuen Regelung können nun aber unter Anrechnung mildernder Umstände 248 Durch Verweis aus Art. 51 Abs. 3 quater c.p.p.; von einem geradezu „willkürlichen“ Straftatenkatalog, der nach dem Gesetz 134/2003 die von der Möglichkeit eines patteggiamento ausgeschlossenen Taten bestimmt, spricht De Caro, in: Patteggiamento allargato e sistema penale, S. 2, 24. 249 Vgl. Palumbo, Guida al diritto 2003/28, 12. Problematisch ist insbesondere, dass der Straftatenkatalog sich aus einem Verweis auf eine prozessuale Vorschrift, nämlich Art. 51 c.p.p. ergibt, in der die genannten schweren Taten in Bezug auf funktionale Aspekte im Ermittlungsverfahren aufgezählt sind, und somit einem grundsätzlich anderen prozessualen Zusammenhang zuzuordnen sind. Es ergeben sich daher Zweifel an der Vergleichbarkeit der dem Verweis zu Grunde liegenden legislatorischen Ziele. Darüberhinaus ist kritisiert worden, dass durch den Straftatenkatalog letztlich der Staatsanwaltschaft die Möglichkeit gegeben wird, in bestimmten Fällen selbstständig über die Anwendbarkeit des Instituts zu entscheiden, indem sie die Möglichkeit habe, die Tat als eine aus dem Katalog zu bezeichnen und als solche anzuklagen, vgl. zu dieser Argumentation Cremonesi, Diritto e giustizia 2003/24, 14.
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und des Strafrabatts auch solche Tatbestände „verhandelt“ werden, für die ein Strafrahmen von bis zu elf Jahren einschlägig ist251. Die Ausweitung auf fünf Jahre ist als deutliches Zeichen zu verstehen, dass kein Kriminalitätsbereich, außer der ausdrücklich in Art. 444 Abs. 1 bis c.p.p. genannten Delikte, schon wegen seiner Schwere von dem alternativen Verfahren ausgeschlossen bleiben soll. Die gesetzliche Ausweitung des Anwendungsbereichs ist auch in das allgemeine Bestreben eingeordnet worden, die konsensualen Vorgehensweisen im Prozess nicht mehr als die alternativen, sondern vielmehr als das ordentliche Verfahren zu begreifen252. Die Erweiterung des patteggiamento ist somit gewissermaßen zu einem Symbol für das Scheitern des ordentlichen Prozesses geworden253. b) Inhalt der Übereinkunft oder das Spannungsfeld zwischen Verfügungsbefugnis und richterlicher Prüfung Unzweifelhaft ist Gegenstand der Übereinkunft das für die in der Anklageschrift bezeichnete Tat zu verhängende Strafmaß.254 Im Antrag wird dementsprechend das defintive auf der gesetzlichen Grundlage des Art. 444 c.p.p. kalkulierte Strafmaß angegeben.255 Das Gericht entspricht nach Art. 444 Abs. 2 c.p.p. dem Antrag dann, wenn die Zustimmung der anderen Partei vorliegt, kein Freispruch nach Art. 129 c.p.p. auszusprechen ist und es auf Grundlage der Akten die rechtliche Würdigung der Tat sowie die Anwendung und Abwägung der strafzumessungsrelevanten Umstände für korrekt erachtet256. Die Dispositions250 Cordero, Procedura penale, S. 1007, der weiter darauf verweist, dass im Falle von drei mildernden Umständen nach Art. 62 bis c.p., der Anwendungsbereich theoretisch auch auf Taten bis zu einem Mindeststrafmaß von 10 Jahren ausgedehnt ist. 251 Vgl. Peroni, Dir. pen. e proc. 2003, 1068, 1070. 252 Ferrua, Diritto e giustizia 2003/8, 8, 10 ff., der diese Tendenz im Ergebnis als „beunruhigend“ wertet. 253 Zu dieser Wertung siehe Auszüge aus der stenographischen Mitschrift der Assembela Senato 28. Juni 2003, abgedruckt bei Carcano, Cass. pen. 2003, 2148, 2155. 254 So bei Orlandi, in: Compendio di procedura penale, S. 521, 532; vgl. auch Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 179. 255 Vgl. die Formularvordrucke bei Nigro, S. 304 ff.; Bonavolontà, Formulario del processo penale, S. 378 ff. 256 Vgl. zur Einschränkung der Dispositionsbefugnis unter dem Aspekt der Prüfung nach Aktenlage die Grundsatzentscheidung des Verfassungsgerichts, Corte cost. Entscheidung vom 2. Juli 1990, n. 313, Riv. it. proc. pen. 1990, 1588 ff., mit Anm. von Gallo = Foro it. 1990, 2385 ff. mit Anmerkungen von Fiandaca, 2385 ff. und Tranchina, 2394 ff. = Cass. pen. 1990, II, 221 = Arch. n. proc. pen., 1990, 363. Nach dieser Entscheidung gelangt der Richter aus der Aktenlage zu einer eigenen freien Würdigung des Sachverhaltes und nicht etwa schon aus der Art und Weise, in der die Parteien ihn im Antrag darlegen. Somit liege eine eigenständige Wertung des Tatgeschehens vor, die essenzieller Teil der Bindung des Richters an das Gesetz sei, vgl. zu diesem Aspekt den Entscheidungsabdruck bei Macchia, Il patteggiamento, S. 127; in diesem Sinn auch Lozzi, Riv. it. dir. proc. pen., 1989, 42 f.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
befugnis der Parteien wird somit eingeschränkt, denn dem Gericht ist die Überprüfung der Abwägung der strafzumessungsrelevanten Umstände vorbehalten. Über diese können die Parteien dementsprechend nicht frei verfügen, sondern sie nur dann für die beantragte Strafe zu Grunde legen, wenn sie durch die Aktenlage hinreichend gestützt werden257. Von Amts wegen wird zunächst geprüft, ob einer der gesetzlichen Gründe fehlender Strafbarkeit des Art. 129 c.p.p. vorliegt und das Gericht daher unabhängig von den Erklärungen der Parteien den Beschuldigten freizusprechen hat. Art. 129 Abs. 1 c.p.p. nennt als Strafausschließungsgründe, dass entweder die Tat gar nicht geschehen oder vom Angeklagten nicht begangen worden ist oder dass sie keine Straftat darstellt oder vom Gesetz nicht als solche vorgesehen ist; letzter Ausschließungsgrund ist schließlich das Erlöschen der Straftat. Entscheidend für die Wertung der Strafausschließungsgründe sind ausschließlich die Akten; das Gericht prüft hier von Amts wegen, der Parteikonsens soll in diesem Zusammenhang vollkommen irrelevant bleiben258. Das hat zur Folge, dass im Rahmen einer Parteivereinbarung festgelegte strafmildernde Umstände, die zu milderen Strafrahmen und damit zu eventuell kürzeren Verjährungsfristen führen, nur dann durch das Gericht im Hinblick auf einen Freispruch oder eine Einstellung nach Art. 129 c.p.p. berücksichtigt werden dürfen, wenn deren tatsächliches Vorliegen durch die Ermittlungsakten bestätigt wird259. Die Vorschrift bedeutet somit eine problematische Verschränkung von Dispositionsbefugnis, die einerseits nach rechtsgeschäftlichem Muster dem Willen der Parteien anvertraut ist und andererseits der Zuständigkeit des Gerichts für die Überprüfung fehlender Strafbarkeit260. Überwiegend gilt, dass das Gericht von Amts 257 Zu einer Ablehnung des Antrags auf Strafverhängung wegen unkorrekter Bemessung der Strafzumessungsumstände vgl. Cass. pen. sez. IV, 26. April 1993, Giur. it. 1994, 736, mit Anmerkung von de Donno, ebd. 258 In diesem Umstand sieht Furgiuele, S. 45, einen der entscheidenden Unterschiede zur amerikanischen Regelung des plea bargaining; vgl. hierzu auch Cass. pen. sez. un., 21. Juni 2000, Giur. it., 2001, 797 ff., mit kritischer Anmerkung von Tiberi; im konkreten Fall wurde eine Revision zurückgewiesen, die eine Verjährung geltend gemacht hatte, die ausschließlich aus den im Rahmen der Übereinkunft festgelegten Strafmilderungsumständen, nicht aber bereits aus der Aktenlage resultierte; Cass. pen. sez. un. 25. November 1998, Cass. pen. 1998, 1746 ff., hatte den Grundsatz festgelegt, dass sich die Feststellung der Strafausschließungsgründe nach Art. 129 c.p.p. ausschließlich auf Basis der Aktenlage, nicht aber aus der Übereinkunft zu erfolgen habe, vgl. in diesem Sinne zu dieser Konstellation auch Cass. pen. sez. VI, 4. Januar 1996, Dir. pen. e proc. 1996, 611, mit Anm. von Peroni, S. 615. 259 Montagni, Giur. merito, 2001, 1204, 1214. 260 Vgl. hierzu die Entscheidungen Cass. sez. un., 28. Mai 1997, Foro it. 1997, II, S. 670 ff.; Cass. sez. un. 25. November 1998, Foro it. 1999, II, 217, 220, wo formuliert wird, dass es sich bei der Prüfung des Art. 129 c.p.p. um eine „negative Feststellung“ handele, die für sich genommen nicht schon ein positive Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bedeute – in beiden Entscheidungen wird es dem Richter verwehrt, die Verjährung aufgrund mildernder Umstände auszusprechen, die nur aus dem Parteiwillen, nicht aber aus der Aktenlage resultieren; siehe zum Prüfungs-
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wegen zur Prüfung nach Art. 129 c.p.p. verpflichtet ist und ein Hinweis der Parteien auf mögliche Gründe, die die Strafbarkeit ausschließen, nicht erforderlich ist261. Besonders deutlich wird die Brisanz dieses Spannungsverhältnisses zwischen Parteidisposition und Amtsermittlung, wenn man die Möglichkeit in Betracht zieht, dass ein Strafausschließungsgrund, wie beispielsweise die Verjährung, der zum Erlöschen der Straftat führt (Art. 157 c.p.) Ergebnis der Disposition der Parteien sein kann, ohne einer Überprüfung nach dem Stand der Akten standzuhalten. Bestimmen beispielsweise die Parteien einvernehmlich gewisse mildernde Umstände, die das Strafmaß so weit senken, dass eine kürzere Verjährung gilt, dann fragt sich, ob das Gericht bei seiner Überprüfung an die Aktenlage oder aber an die Parteivereinbarung gebunden ist262. Die sezioni unite263 des Kassationsgerichts haben in diesem Fall einen Freispruch nach Art. 129 c.p.p. ausgeschlossen und somit die richterliche Entscheidungskompetenz der Dispositionsbefugnis der Parteien übergeordnet. Im Ergebnis stützt sich die Entscheidung auf den Gedanken, dass der Inhalt der Übereinkunft im patteggiamento ganz in der Disposition der Parteien steht, Art. 129 c.p.p. der Dispositionsbefugnis aber gerade entzogen sein soll und daher die Voraussetzungen, die für einen Freispruch nach Art. 129 c.p.p. vorliegen müssen, unabhänmaßstab des Art. 129 c.p.p. bei einem patteggiamento auch Cass. pen. sez. II, 22. Januar 2004, Arch. n. proc. pen. 2005, 368. 261 Cass. sez. VI, 18. April, 1991, Giur. it. 1992, II, 503; Cass. sez. IV, 12. Januar 1993, Cass. pen. 1994, 998; Cass. sez. I, 23. April. 1993, Cass. pen. 1995, 650; Cass. sez. VI, 28. Juni 1994, Giur. it. 1996 II, 30, 33. 262 Cass. pen. sez. IV, 7. Juni 1994, Arch. n. proc. pen. 1995, 479; Cass. pen. sez. V, 10. Mai 1993, Arch. n. proc. pen. 1994, 93; die Entscheidungen lehnen die Anwendbarkeit strafmildernder Umstände, die nur aus der Übereinkunft resultieren ab; anders aber: Cass. pen., sez. IV, 5. November 1993, Arch. n. proc. pen. 1994, 543 = Cass. pen. 1995, 132 ff.; gegen einen Ausschluss der Anwendbarkeit der Verjährungsvorschriften auch Cass. pen. sez.VI, 23. Oktober 1995, Dir. pen. e proc. 1995, 1383; die Fälle betrafen Konstellationen, in denen es gerade die im Rahmen der Übereinkunft „ausgehandelten“ mildernden Umstände waren, die zu einer Verjährung geführt hatten, die aber durch die Aktenlage in keiner Weise gestützt wurden; der Meinungsstreit wurde im Rahmen der höchstrichterlichen Rechtsprechung äußerst kontrovers geführt, exemplarisch für die Möglichkeit der Verjährung vgl. Cass. sez. IV, 7. November 1996, Riv. pen. 1997, 512; Cass. sez. IV, 18. Januar 1996, Cass. pen. 1997, 496, 497 mit Anmerkung von Carcano; gegen die Möglichkeit der Verjährung aufgrund der Parteivereinbarung haben nach Vorlage wegen abweichender Rechtsprechung innerhalb der einzelnen sezioni die sezioni unite entschieden, Cass. sez. un., Cass. pen. 1997, 3341, mit Anm. von Carcano, 3348; andere Konstellation in Cass. pen. sez. VI, 4. Januar 1996, Dir. pen. e proc. 1996, 611, mit abweichender Anmerkung von Peroni; im konkreten Fall hatten die sez. un. die Verjährung ausgeschlossen, nicht weil sie auf in der Vereinbarung ausgehandelten Umständen beruhte, sondern weil sie erst im Laufe der zweiten Instanz wegen Fristablauf geltend gemacht werden konnte, die Strafverhängung nach Art. 444 c.p.p. aber nicht vereinbar sei mit anderen Wirkungen als die der vereinbarten Strafe und somit die Regeln über die Verjährung nicht zur Anwendung kämen. 263 Cass. sez. un., 28. Mai 1997, Cass. pen., 1997, 3341 ff., mit Anm. von Carcano.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
gig von der Übereinkunft bereits durch die Akten bestätigt werden müssen. In dieser Entscheidung werden somit zwei unterschiedliche Bereiche in der richterlichen Überprüfung der Übereinkunft differenziert. Die Frage eines Freispruchs nach Art. 129 c.p.p. fällt somit vollständig in die ausschließliche Entscheidungskompetenz des Gerichts und wird zunächst als erster Schritt der Entscheidung auf Grundlage der Akten beurteilt. Der zweiten Phase, die streng an die Übereinkunft gebunden ist, verbleibt somit die Prüfung der von den Parteien vorgenommenen rechtlichen Subsumtion. Der Unterschied zum ordentlichen Verfahren ist evident. Wenn in der kontradiktorischen Hauptverhandlung der Richter die Aufgabe hat, aus den verschiedenen rechtlichen Würdigungen der Tat diejenige herauszufinden, die sich am besten auf das historische Geschehen anwenden lässt, so ist seine rechtliche Prüfung im Rahmen des patteggiamento auf die Kontrolle des Parteienvorschlags beschränkt. Das Gericht hat in dieser Prüfungsphase auf der Grundlage der Akten die von den Parteien vorgebrachten Tatsachen vorauszusetzen und die Kontrolle lediglich auf Aspekte der rechtlichen Würdigung zu beziehen264. Allerdings hat die Grundsatzentscheidung 313/1990265 des Verfassungsgerichts die Dispositionsbefugnis der Parteien weiter eingeschränkt, indem das Gericht festgestellt hat, dass die gerichtliche Prüfung der rechtlichen Würdigung nicht nur die Kontrolle einer „logisch-juristischen Operation“ sei, sondern dass das Gericht seine Überzeugung gerade aus den Ergebnissen der Aktenlage gewinne und „nicht schon aus der Art und Weise, in der die Parteien diese gewertet haben, so dass es sehr wohl feststellen kann, dass die rechtliche Würdigung, zu der die Parteien gelangt sind, nicht diejenige ist, die effektiv aus der Aktenlage 264 Vgl. zum Problem der rechtlichen Würdigung im patteggiamento, Daniele, Indice pen. 2001, 815 ff.; wie weit die Prüfung der rechtlichen Würdigung auch eine Prüfung auf Tatsachenebene beinhalten darf oder muss, ist Gegenstand der kontroversen Auseinandersetzung um die Frage nach der Rechtsnatur der Entscheidung, auf die im Folgenden noch gesondert eingegangen wird, vgl. an dieser Stelle nur die Entscheidung Cass. pen. sez.. IV, 28. April 2000, Giur. it. 2002, 372 ff. mit Anmerkung von del Coco, in der festgestellt wird, dass die Prüfung der rechtlichen Würdigung des strafmildernden Umstandes der Schadenswiedergutmachung beinhaltet, dass die tatsächlichen Voraussetzungen der Wiedergutmachung geprüft werden; für den Fall, dass die rechtliche Würdigung von den Parteien im Antrag nicht übereinstimmend vorgenommen wird, vgl. Cass. pen. sez. III, 28. September 2001, Cass. pen. 2002, 2846. 265 Corte cost. sent. 2. Juli 1990, n. 313, Riv. it. dir. e proc. pen. 1990, 1588 ff., mit Anm. von Gallo = Foro it. 1990, 2385 ff. mit Anmerkungen von Fiandaca, Sp. 2385 ff. und Tranchina, 2394 ff. = Cass. pen. 1990, II, 221 = Arch. n. proc. pen., 1990, 363. 266 Corte cost. sent. 2. Juli 1990, n. 113, zitiert nach dem Abdruck bei Macchia, Il patteggiamento, S. 121, 127. Dieser Linie konsequent folgend hat das Verfassungsgericht in der zitierten Grundsatzentscheidung ebenso die Zweifel an der Vereinbarkeit des Instituts mit dem Grundsatz, dass die Rechtsprechung ausschließlich den Gerichten vorbehalten ist (Art. 102 Abs. 1 cost.), zurückgewiesen. Der Einwand, dass nicht das Gericht, sondern im Ergebnis die Parteien selbst die Strafe verhängten, wird mit dem formalen Argument zurückgewiesen, dass nicht schon die Einigung, sondern erst
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zu folgern ist“266. Das Gesetz bindet die Kontrolle des Gerichts an die „Aktenlage“ (Art. 444 Abs. 2 c.p.p.). Daraus hat man in weitgehender Einigkeit geschlossen, dass dem Gericht jegliche weitere Beweiserhebung verwehrt ist, da die Erkenntnisgrundlage auf die Aktenlage beschränkt ist267. Die Prüfung der rechtlichen Würdigung soll im Ergebnis verhindern, dass die Parteien einvernehmlich zu juristischen „Deklassifizierungen“ der Tatsachengrundlage gelangen268. Der Antrag kann gem. Art. 444 Abs. 3 c.p.p. an die Strafaussetzung zur Bewährung gebunden werden. Das Gericht kann den Antrag nur in toto annehmen oder ganz ablehnen. Eine Modifikation des von Parteien unterbreiteten Konsenses ist ihm in jeglicher Hinsicht verwehrt269. Begründet hat das Kassationsgericht diesen Grundsatz mit einem Rückgriff auf das zivilprozessuale Verbot des ne ultra petita.270 Dies gilt selbst dann, wenn im Rahmen einer Revisionsprüfung festgestellt wird, dass die Übereinkunft teilweise rechtswidrig war. Auch der Urteilsspruch die sanktionierenden Rechtsfolgen entfalte; mit einer ähnlichen Argumentation wurden Zweifel an der Vereinbarkeit mit der Unverletzlichkeit der persönlichen Freiheit (Art. 13 Abs. 2 cost.), sowie mit der Unverletzlichkeit des Rechts auf Verteidigung in jedem Grad des Verfahrens (Art. 24 Abs. 2 cost.) zurückgewiesen, siehe die zitierte Entscheidung 313/1990, Giur. cost. 1990, 2385, 2399, in diesem Sinne auch Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 124, der anführt, dass die Unschuldsvermutung lediglich besage, dass nicht ohne Beweise verurteilt werden dürfe, dass sie aber nichts über das erforderliche quantum der Beweise aussage. Es werde dem einfachen Gesetzgeber überlassen, gewisse „Variablen“ einzuführen, die die strenge Beziehung zwischen Schuld und Strafe auflockern können. Die rechtsgeschäftliche Einigung der Parteien bedeute in diesem Sinn eine Herabsenkung des quantum an Sachverhaltskenntnis und schließlich an Beweisen, die jedoch in der Lage ist, die ursprüngliche Unschuldsvermutung zu überwinden; dagegen fasst Nappi, Guida al codice di procedura penale, S. 512, die Kritik am patteggiamento unter dem Aspekt der Unschuldsvermutung so zusammen, dass das patteggiamento sogar sein „logisches und juristisches“ Fundament gerade in einer Schuldvermutung finde, die der Gesetzgeber an die Stellung des Antrags im Sinne eines Zugeständnisses der Tat binde. 267 Bei Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 280, finden sich zahlreiche Verweise auf die einschlägige Rechtsprechung zu der unstreitigen Beschränkung der Kontrollbefugnis auf die Aktenlage. 268 So bestätigt die Entscheidung Cass. pen., 4. August 2000, Arch. n. proc. pen. 2000, 509, die Kompetenz des Richters, die rechtliche Würdigung der Einigung insbesondere in Bezug auf die Aktenlage zu überpüfen, und zwar auch hinsichtlich Abweichungen in der Anklage. Das Instanzgericht hat entsprechend die Prüfung der rechtlichen Wertung der Tat umfassend zu begründen, vgl. Cass. pen. sez. VI, 14. Januar 2003, Arch. n. proc. pen. 2004, 104. Hält das Gericht eine andere rechtliche Würdigung für geboten, so hat es den Antrag abzulehnen, vgl. Cass. pen. sez. VI, 17. Februar 2004, Arch. n. proc. pen. 2005, 368. 269 Ständige Rechtsprechung: Cass. pen. sez. IV, 19. Juni 2003, Cass. pen. 2004, 2947; Cass. pen. sez. VI, 13. Februar 1998, Cass. pen. 1999, 1893; Cass. pen. sez. III, 21. März 1996, Cass. pen. 1996, 3127; Cass. sez. III, 17. November 1992, Cass. pen. 1994, 694. 270 Vgl. Cass. pen. sez. un. 11. Mai 1993, Cass. pen. 1993, 2256; Cass. pen. sez. fer. 21. August 1990, Cass. pen. 1990, II, 336.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
in einem solchen Fall hat das Kassationsgericht die Entscheidung nicht nur teilweise aufgehoben, sondern hat sie vollständig annulliert, da die Übereinkunft keiner gerichtlichen Änderung zugänglich ist271. Nicht einmal Modifikationen an der Wertung der Strafzumessungsumstände, selbst wenn sie am definitiven Strafmaß nichts ändern, sollen zulässig sein272. Ist der Antrag an die Strafaussetzung zur Bewährung gebunden, darf entsprechend das Gericht den Antrag nur annehmen, wenn es die Strafaussetzung für gerechtfertigt hält, andernfalls hat es den Antrag abzulehnen273. An die Möglichkeit der Bedingung einer Strafaussetzung im Antrag schließen sich diverse Folgeprobleme über die Reichweite der Dispositionsbefugnis hinsichtlich des Inhalts der Übereinkunft an: so beispielsweise die Unklarheit, ob der Richter die Aussetzung zur Bewährung auch dann aussprechen darf, wenn der Antrag diese nicht als Bedingung vorsieht, das Gericht die Voraussetzungen jedoch für gegeben erachtet274. Weitere Auseinandersetzungen liefert auch der Fall der verweigerten Zustimmung der Staatsanwaltschaft zu einem Antrag auf Strafaussetzung, sowie die Frage, ob auch die öffentliche Anklage berechtigt ist, den Antrag von der Gewährung der Strafaussetzung abhängig zu machen275. Es wird, anders formuliert, danach gefragt, ob die Strafaussetzung zur Bewährung in die Disposition der Parteien fällt oder der ausschließlichen Kompetenz des Gerichtes zugeordnet wird. Auch zu dieser Frage ist der Meinungsstreit nicht abschließend geklärt; denn die sezioni unite des Kassationsgerichts vertreten nur tendenziell die Argumentation, dass das Gericht die Übereinkunft in keiner Weise verändern und somit bei abweichender Ansicht hinsichtlich einer möglichen Strafaussetzung den Antrag ganz zurückweisen muss. Es bleiben aber auch hier viele Detailfragen offen, und die Rechtsprechung ist alles andere als einheitlich276. 271
Cass. pen. sez. VI, 2. Juni 2000, n. 6580, Arch. n. proc. pen. 2001, 200. Cass. pen. sez. III, 22. Mai 2000, n. 1191, Arch. n. proc. pen. 2001, 338. 273 Ständige Rechtsprechung des Kassationsgerichts, vgl. statt vieler m. w. N.: Cass. pen. sez. III, 19. Mai 2001, n. 20383, Riv. pen. 2002, 163; insbesondere darf das Gericht die Aussetzung zur Bewährung nicht an Auflagen binden, die nicht Gegenstand der Übereinkunft sind, siehe Cass. pen. sez. VI, 7. Januar 2003, Cass. pen. 2004, 2116; zuletzt auch Cass. pen. sez. I, 4. Februar 2005, Arch. n. proc. pen. 2005, 317. 274 Vgl. zum frühen Meinungsstreit Macchia, Il patteggiamento, S. 45, die Möglichkeit einer Strafaussetzung verneinend: Cass. sez. fer. 21. August 1990, Cass. pen. 1990, II, 336, und Cas. pen. 1991, II, 117, mit Anmerkung von Adriani; gegen die Strafaussetzung zur Bewährung ex officio argumentieren wegen des Verbotes des ne ultra petita, Cass. sez. IV, 22. April 1992, Cass. pen. 1994, 997; Cass. sez. un. 11. Mai 1993, sowie Cass. pen. sez. IV, 14. August 2003, Arch. n. proc. pen. 2005, 368; anders hingegen, weil die Entscheidungsbefugnis des Gerichts durch die Parteien nicht einschränkbar sei: Cass. sez. I, 1. März 1991, Cass. pen. 1992, 1292, 679; Cass. sez. V, 4. Mai 1992, Riv. pen. 1992, 947; einen Spielraum selbstständiger Entscheidung will auch Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 175, dem Gericht zugestehen. 275 In diesem Sinne zustimmend Peroni, Cass. pen. 1993, 1199, 1120; anders Tassi, Giur. it. 1991, II, 341. 272
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Die Dispositionsfreiheit der Parteien hinsichtlich des Antrags nach Art. 444 c.p.p. geht so weit, dass im Falle von Divergenzen zwischen dem Verhandlungsprotokoll, das den Konsens wiedergibt, und dem Urteil die Angaben im Protokoll entscheidend sein sollen. Im Zweifel soll die Übereinkunft gelten und das richterliche Urteil im abweichenden Punkt nach Art. 130 c.p.p.277 korrigiert und so in Einklang mit der Parteiendisposition gebracht werden278. Nach herrschender Auffassung beinhaltet die Übereinkunft kein, auch kein implizites, Geständnis279. Theoretisch könnten der Antrag auf Strafe oder die Zustimmung zu diesem sogar von einer Unschuldserklärung des Beschuldigten begleitet sein280. Vorstellbar ist eine solche Konstellation für den Fall, in dem der Beschuldigte es bevorzugt, eine leichte, ungerechte Verurteilung hinzunehmen, als sich der Stigmatisierung durch eine öffentliche Hauptverhandlung zu unterziehen281 oder in denen er sich nicht in der Lage sieht, seine Unschuld zu 276 Vgl. zu dem Problem mit ausführlichen Rechtsprechungsnachweisen, Vigoni, a. a. O., S. 164 ff. 277 Art. 130 c.p.p. sieht vor, dass solche Fehler in Urteilen, die nicht zu deren Aufhebbarkeit führen und deren Beseitigung keine substanzielle Änderung bedeutet, auch von Amts wegen durch den Richter verfügt werden, der das Urteil erlassen hat, oder im Falle der Anfechtung des Urteils durch den Richter der Rechtsmittelinstanz. 278 Cass. pen. sez. III, 6. August 2001, n. 30505, Arch. n. proc. pen. 2001, 521 ff., im konkreten Fall wurde die Strafaussetzung zur Bewährung, die Teil der Übereinkunft war, im Urteil aber nicht verfügt wurde, im Wege des Art. 130 c.p.p. ergänzt, weil die Urteilsbegründung keine Erwägungen zu der Frage enthielt und keine Hinderungsgründe vorlagen; in diesem Sinn auch Cass. pen. sez. IV, 1. Juni 1999, n. 220, Arch. n. proc. pen. 2000, 307; anders gegen die Anwendbarkeit von Art. 130 c.p.p. Cass. pen. sez. VI, 29. März 1999, Arch. n. proc. pen. 2001, 198. 279 Vgl. gegen den Geständnischarakter des Antrags ausdrücklich Cass. pen. sez. un. 8. Mai 1996, Dir. pen. e proc. 1996, 1227, 1229; das Verfassungsgericht sent. 2. Juli 1990, n. 313, foro it, 1990, 2385, 2400, spricht von einer prozessualen Wahl, die den Verzicht auf Widerlegung der Anklage bedeutet, ohne dass dies eine Verletzung der Unschuldsvermutung bedeute; Gianniti, Ciritica penale 2002, 23, 29, der ablehnt, dass der Antrag auf Strafverhängung als implizites Geständnis verstanden werden könne; Montagni, Il patteggiamento della pena, S. 40, der weder Antrag noch Zustimmung einem Geständnis mit gesetzlichem Beweiswert gleichstellen will; auch Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 156, lehnt den Geständnischarakter ab, bejaht aber widersprüchlicherweise die Erklärung über die Verantwortlichkeit hinsichtlich der angeklagten Tat; vgl. gegen den Geständnischarakter ausdrücklich auch Vigoni, L’applicazione della pena, S. 151, sowie Maccarrone, Giust. pen., 1994, 413, 415; anders Cass. sez. un. ud. 27. März 1992, Cass. pen. 1992, 2060, aus der Zustimmung wird hier eine implizite Erklärung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit gefolgert, die den vollen Schuldnachweis ersetze (S. 2063); ausführliche Analyse der „Geständnisthese“ bei Taormina, Giust. pen. 1990, 276 ff. 280 Aitàla, Giur. it. 1917, 1920; in diesem Sinn auch Furgiuele, S. 95, der den Antrag in eine strategische Sicht des Rechts auf Verteidigung einordnet; Lozzi, Riv. it. dir. e proc. pen. 1990, 1600, 1601; Macchia, Il patteggiamento S. 30; Bogner, Absprachen im deutschen und italienischen Strafprozessrecht, S. 184; anders z. B. Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 78, der im patteggiamento ein konkludentes Eingeständnis der strafrechtlichen Verantwortlichkeit sieht. 281 Vgl. hierzu Lozzi, Riv. it. dir. e proc. pen., 1998, 1396, 1399.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
beweisen und daher aufgrund einer Abwägung der Wahrscheinlichkeitsprognosen die Strafmilderung eines patteggiamento der streitigen Hauptverhandlung vorzieht282. Diese Interpretation wird auch durch den gesetzlichen Wortlaut gestützt, da Art. 446 Abs. 5 c.p.p. bestimmt, dass der Richter, sofern er an der Freiwilligkeit des Antrags zweifelt, die Anhörung des Beschuldigten anordnen kann. Dem Richter verbleibt also ein Prüfungsrecht hinsichtlich der Freiwilligkeit, nicht aber hinsichtlich der Gründe des Antrags283. In der Entscheidung darf dementsprechend auch die Schuld des Angeklagten oder Beschuldigten nicht festgestellt werden284. Findet sich im Rahmen eines patteggiamento im Urteilstenor oder in der -begründung dennoch eine Schuldfeststellung, so kann das Urteil angegriffen werden. Aufgehoben wird es in diesen Fällen allerdings nicht, sondern das Kassationsgericht erklärt lediglich die Schuldfeststellung für unwirksam, der Rest des Urteils bleibt hingegen von der Anfechtung unberührt285. Der Inhalt der Übereinkunft ist aber darüber hinaus insoweit durch das Gericht überprüfbar, als es nach der bereits zitierten Grundsatzentscheidung des Verfassungsgerichts286 die Kompetenz haben muss, die Angemessenheit der beantragten Strafe zu überprüfen, was durch die legge Carotti nunmehr auch von Gesetzes wegen gefordert ist. Die Entscheidung hatte die Vorschrift insoweit für verfassungswidrig erklärt, als sie nicht vorsah, dass dem Gericht die Überprüfung der Angemessenheit der beantragten Strafe verbleiben müsse287. Wie tief 282
Maccarrone, Giust. pen. 1994, 413, 415. Anders Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 179, der die Prüfung des Richters auf die Tatbestandsmerkmale erstreckt und nicht auf die Freiwilligkeit beschränkt wissen will. 284 Cass. sez. I, 19. Februar 1990, Cass. pen. 1990, II, 44, 47. 285 Cass. pen. sez. IV, 30. Oktober 1997, Cass. pen. 1998, 626; sez. V, 24. Januar 1994, Cass. pen. 1995, 1941, Cass. pen. sez. I, 22. Februar 1993, Cass. pen. 1994, 692; zur offensichtlichen Unbegründetheit der Frage der Verfassungsmäßigkeit des Instituts insoweit, als das patteggiamento keinen Schuldspruch in seinem Urteil vorsieht, Corte cost., ord. n. 399, 11. Dezember 1997, Cass. pen., 1998, 1061. 286 Corte cost. n. 313/1990, foro it. 1990, 2385. 287 Abgeleitet wurde diese verfassunsgrechtliche Unvereinbarkeit aus Art. 27 Abs. 3 cost. und dem dort verankerten Resozialisierungszweck strafrechtlicher Sanktion, vgl. corte cost. sent. 313/1990, foro it. 1190, 2385, 2401. Zwar habe der Richter Kontrollmöglichkeiten bei der Wertung des Antrags. Da ihm jedoch nach Art. 444 Abs. 2 c.p.p. eine eigenständige Prüfung der Angemessenheit verwehrt ist, verstoße die Norm in diesem Teil gegen das Strafzweckprinzip des Art. 27 Abs. 3 der Verfassung. Besonders dieser Teil der Begründung des Verfassungsgerichts erregte Erstaunen. Zunächst war verwunderlich, dass das Gericht gerade den Art. 27 Abs. 3 cost. verletzt sah, der doch explizit durch die vorlegenden Instanzgerichte gar nicht gerügt worden war. Die durch die Instanzgerichte hingegen tatsächlich gerügte Verletzung des Art. 27 Abs. 2, also der Unschuldsvermutung, wurde dafür in der Begründung des Verfassungsgerichts praktisch übergangen; zu der Frage, inwieweit die Verfassungsrichter überhaupt über solche Fragen zu entscheiden haben, die von den vorlegenden Richtern nicht explizit gerügt worden sind, vgl. Fiandaca, foro it. 1990, 2385, 2390. Zum anderen erweiterte 283
IV. Das patteggiamento im Dienste der Prozessökonomie
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der Bruch ist, den diese Entscheidung gegenüber der ursprünglich vom Reformgesetzgeber konzipierten Form des patteggiamento bedeutet, wird insbesondere dann deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Begründung zum Gesetzentwurf explizit hervorgehoben hatte, dass „dem Gericht keine Prüfung der Angemessenheit der beantragten Strafe zuerkannt wird, da es sich hierbei um eine Materie handelt, die ausschließlich der Disposition der Parteien vorbehalten ist“288. Auch in diesem Sinn stellt die Prüfungskompetenz des Gerichts in gewissen Grenzen eine Relativierung der Dispositionsbefugnis der Parteien dar289. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung des Antrags nur auf Grundlage der Akten gefällt werden kann und dem Gericht eine weitere amtliche Beweisaufnahme verwehrt ist290. Fällt die Angemessenheitsprüfung negativ aus, wird der Antrag abgelehnt und das Verfahren tritt in sein ursprüngliches Stadium zurück291. Damit wird die zuvor eher passiv ausgestaltete und nahezu nur notarielle Funktion des Gerichts eindeutig gestärkt. c) Die Beteiligten oder der Ausschluss des Verletzten vom Einigungsprozess Die Einigung findet zwischen Beschuldigtem und Staatsanwaltschaft statt. Das Gericht ist nach dem Wortlaut des Gesetzes ausschließlich Adressat des Antrags, an der Übereinkunft im Übrigen aber in keiner Weise aktiv beteiligt. Der Antrag und die Zustimmung sind nach unstreitiger Auffassung292 höchstpersönliche Handlungen, die der Beschuldigte selbst oder durch einen Prozessdas Gericht damit seine eigene Rechtsprechung, da bis dato der verfassunsgrechtliche Resozialisierungsgedanke auf die Phase des Strafvollzugs beschränkt und somit ohne Wirkung auf die Strafzumessung im Prozess ausgelegt worden war, Corte cost. 30. Juli 1984, n. 237, Giur. cost. 1984, I, 1690; Corte cost. 4. April 1985, n. 102, a. a. O., 1985, I, 630; Corte cost. 25. Mai 1985, n. 169, a. a. O. 1985, I, 1985; Corte. cost. 9. November 1988, n. 1023, a. a. O. 1988, I, 4914. 288 Begründung zum Gesetzentwurf (relazione al progetto preliminare del codice di procedura penale), LEX 1988, S. 530. 289 Zum Prüfungsmaßstab der Kontrolle der Angemessenheit, Cass. pen. sez. V, 11. Februar 1997, Dir. pen. e proc. 1997, 420. 290 Cass. sez. VI, 16. November 1993, Cass. pen. 1995, 122, in dieser Entscheidung wird unterstrichen, dass das Gericht keine Maßnahmen zur Tatsachenfeststellungen verfügen kann; Cass. sez. V, 5. März 1992, Giust. pen. 1992, III, 521, wo wiederholt explizit herausgestellt wird, dass die Überprüfung ausschließlich auf Grundlage der Akten erfolgen dürfe. 291 Je nach Gewichtung der Dispositionsbefugnis wird das Prüfungsrecht des Richters enger oder weiter ausgelegt; für eine lediglich gemäßigte Negativkontrolle, die nur verhindern soll, „dass offensichtlich unangemessene Strafen ausgesprochen werden, die aber nicht erfordere, dass das Gericht sich die von den Parteien vorgenommene Strafzumessung zu eigen mache, siehe Blaiotta, Cass. pen. 1995, 445, 447.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
bevollmächtigten mit Sondervollmacht vornimmt (Art. 446 Abs. 3 c.p.p.)293. Das Erfordernis einer Sondervollmacht ist eine deutlich gesetzte Kautel gegen die Gefahr, dass über den Kopf des Beschuldigten hinweg entschieden werden könnte. Die Staatsanwaltschaft muss Antrag oder Zustimmung nicht begründen. Die Verweigerung der Zustimmung durch die Staatsanwaltschaft unterliegt indes einer Begründungspflicht und kann jedes Element der Übereinkunft betreffen. Verweigert hingegen der Angeklagte die Zustimmung zu einem von der Anklage gestellten Antrag, so ist er nicht verpflichtet, die Gründe darzulegen, da die Verweigerung als Ausübung seines verfassungsrechtlich garantierten Rechts (Art. 24 cost.) auf Verteidigung verstanden wird und daher nicht überprüfbar ist294. Die zurückgenommene Rolle des Gerichts im „Handel“ über die Strafe ist nicht eindeutig geklärt. Das Gesetz behält ihm auf der sachlichen Grundlage der Akten lediglich ein rechtliches Prüfungsrecht über den von den Parteien unterbreiteten Antrag vor. In der Praxis geschieht es hingegen, dass die Parteien bereits nach Aufnahme ihrer „Verhandlungen“ auf informellem Weg das Gericht ersuchen, sich über den Antrag und insbesondere über die Angemessenheit der beantragten Strafe zu äußern. Erst nach positiver Stellungnahme des Gerichts wird dann der förmliche Antrag gestellt295. In der Rechtsprechung finden sich Tendenzen, die diese Aufwertung des Gerichts, das so gewissermaßen zu einem informellen Teil der Übereinkunft wird, stützen296. Die gesetzliche Konzeption ist aber eindeutig eine andere, da das Gericht nur Adressat der Einigung, nicht aber deren Initiator sein soll, da sich dies mit seiner streitenthobenen Rolle als schlichtender Dritter schlecht vertrüge. Die Stellung des mutmaßlichen Opfers ist im patteggiamento eindeutig zurückgedrängt. Die untergeordnete Rolle soll bereits aus der Struktur des Instituts einer konsensual vereinbarten Strafe resultieren297. Die gesenkten Anforderungen an die Wahrheitsfindung und die Ausgestaltung als Parteiverfahren, die 292 Cass. sez V, 30. Oktober 1996; Riv. pen. 1997, 758; Cass. sez. III, 10. Oktober 1995, Cass. pen. 1996, 3420; Cass. sez. VI, 9. Juli 1993, Cass. pen. 1995, 127; Cass. sez. VI, 25. Januar 1993, Cass. pen. 1994, 690. 293 Die Sondervollmacht erfordert die klare und eindeutige Willenserklärung des Beschuldigten, den Bevollmächtigten mit der Stellung eines patteggiamento-Antrags zu bevollmächtigen, vgl. Lattanzi, Codice di procedura penale annotato con la giurisprudenza, Art. 446, Ziff. 2. Da eine Sondervollmacht stets erforderlich ist, ist ein Urteil nicht wegen der Abwesenheit des Angeklagten revisibel, Cass. pen. sez. III, 13. Juni 2003, Dir. pen. e proc. 2003, 1093. 294 Statt vieler Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 191. 295 Zu dieser Praxis vgl. Sturiale, Giur. merito, 1991, IV, S. 206; wie auch Di Chiara, in: Il patteggiamento, S. 23, 38 f. 296 Vgl. Cass. pen. sez. I, 13. Dezember 1991, Arch. n. proc. pen., 1992, 752. Die Entscheidung sieht explizit vor, dass das Gericht gleichzeitig mit Ablehnung des Antrags vor Beginn der Hauptverhandlung die Parteien zur Stellung eines erneuten Antrags auffordern kann.
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die Entscheidungskompetenz des Richters an deren Antrag bindet, ließen keinen Raum für eine eigenständige Rolle des Opfers298. Der Geschädigte ist grundsätzlich an einer konsensualen Verfahrenserledigung im Weg des patteggiamento dementsprechend nicht direkt beteiligt. Ihm verbleiben nur die allgemeinen Rechte nach Art. 90 c.p.p., so dass er in seiner Einflussnahme auf die Einigung darauf beschränkt ist, Schriftsätze einzubringen, in denen er Ausführungen zur Zulässigkeit des Antrags, der rechtlichen Würdigung oder der Angemessenheit der Strafe machen kann. Die Wirkung einer derartigen Intervention beschränkt sich aber auf allgemeine Anregungen, deren mangelnde Berücksichtigung in keiner Weise prozessual geltend gemacht werden kann. Der Verletzte ist im konsensualen Verfahren auch dann in seinen Rechten deutlich beschränkt, wenn er als Partei auftritt und zivilrechtliche Ansprüche geltend macht. Denn, obwohl er sich in diesem Fall als prozessuale Partei konstituiert hat, kann er dennoch niemals Partei der Übereinkunft sein299. Über eventuell bereits geltend gemachte Schadensersatzansprüche kann nach Annahme des Antrags durch das Gericht nicht mehr entschieden werden (Art. 444 Abs. 2, S. 2)300. Diese Vor297 Vgl. Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 99, der darauf verweist, dass sich eine etwaige Intervention der Zivilpartei schon deshalb schlecht mit dem patteggiamento vereinbaren lasse, weil die Zivilpartei eine Prozessbeteiligte sei, die „dem schwierigen Interessenausgleich, der im Strafverfahren typischerweise zwischen Angeklagtem und öffentlicher Anklage“ ausgetragen werde, „vollkommen fremd“ ist; in diesem Sinn auch Orlandi, in: Compendio di procedura penale, 521, 542. 298 Orlandi, a. a. O., S. 542, sieht die Rolle des Opfers schon aus der Struktur des patteggiamento als „Zweierpartie zwischen Angeklagtem und Staatsanwaltschaft“, vollkommen an den Rand gedrängt; vgl. hierzu die Entscheidung des Verfassungsgerichts, sent. vom 12. Oktober 1990, n. 443, abgedruckt bei Macchia, Il patteggiamento, S. 135, 140; so im Ergebnis auch die Wertung bei Valentini Reuter, Giur. it. 1991, II, Sp. 237 ff. Auch Peroni, Dir. pen. e proc. 2003, 1067, 1073, sieht das Opfer schon „institutionell“ aus der in Übereinkunft gefundenen Verfahrenserledigung ausgeschlossen; vgl. zur Probelmatik der weiter zurückgedrängten Position des Opfers im „erweiterten patteggiamento“ auch Kostoris, Guida al diritto 2003/25, 10. 299 Vgl. Cass. pen. sez. VI, 11. Januar 2001, Dir. pen. e proc. 2001, 1120 f., mit Anmerkung von Gialuz, 1121 ff.; hier wird darauf hingewiesen, dass die Kosten der Zivilpartei nicht Teil der Übereinkunft zwischen den Parteien sind; zu der Frage des Abschlusses eines zivilrechtlichen Vergleichs über den Schadensersatz im Rahmen eines patteggiamento Cass. pen. sez. IV, 11. Februar 2003, Arch. n. proc. pen. 2003, 355 ff. Es gibt jedoch Reformbestrebungen, das patteggiamento grundsätzlich von einem Schadensausgleich unter Einbeziehung des Opfers abhängig zu machen, vgl. Rigo, in: Il patteggiamento, 67, 89. Eine derartige Lösung liefe der Struktur als zweiseitiges Rechtsgeschäft aber eindeutig zuwider. 300 Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts Corte cost. sent. 26. September 1990, n. 443, Giur. cost. 1990, 2633 ff., hat der Angeklagte jedoch die der Zivilpartei entstandenen Kosten des Verfahrens zu tragen. Dass über materielle Ersatzansprüche nicht entschieden werde, resultiere zum einen aus prozessökonomischen Erwägungen und zum anderen aus dem grundsätzlich der neuen Prozessordnung zu Grunde liegenden Bestreben, zivil- und strafrechtliche Verfahren zu trennen, aus dem favor separationis.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
schrift bildet die Ausnahme zum grundsätzlichen Recht auf ein Adhäsionsverfahren, die für den Angeklagten einen weiteren Anreiz liefern soll, auf das konsensuale Verfahren zurückzugreifen. Das in Italien vor der Reform praktisch den Regelfall darstellende Adhäsionsverfahren findet dann nicht mehr statt und das Opfer wird mit seinen Schadensersatzansprüchen auf das Zivilverfahren verwiesen301. Es ist jedoch ständige Rechtsprechung302, dass ein zivilrechtlicher Anspruch auch nach Zustandekommen der Übereinkunft geltend gemacht werden kann, weil der Geschädigte ein Interesse daran haben kann, zu jeder Frage, die der Wertung des Antrags durch das Gericht unterliegt, gehört zu werden. Es muss ihm daher die Möglichkeit verbleiben, als parte civile im Verfahren aufzutreten. Die Einwände des Geschädigten im kontradiktorischen Verfahren können Einfluss auf eine eventuelle Ablehnung des Antrags durch das Gericht haben. Daher soll die Stellung der parte civile geschützt werden und deshalb seien die Rechte des Geschädigten auch im Verfahren des patteggiamento zu wahren303. Dementsprechend gilt es als selbstverständlich, dass der Verletzte, der als Zivilpartei auftritt, in Vor- und Hauptverhandlung das Recht hat, zum Antrag auf Strafverhängung Stellung zu nehmen, denn nur so könne er seine Stellung im Prozess verteidigen304. Die Einflussnahme des Opfers ist somit im Ergebnis an sein Auftreten als Zivilpartei gebunden. Eine konsensuale Verfahrenserledigung verhindern kann es aber auch in dieser Position nicht, sondern es ist darauf beschränkt, indirekt Einfluss auf die Staatsanwaltschaft oder das Gericht nehmen. Im Fall eines patteggiamento bereits im Ermittlungsverfahren nach Art. 447 Abs. 1 c.p.p.305, in dem der Antrag bereits vor Anklageerhebung gestellt wird, hat das Opfer zudem keinen Anspruch, von der Antragstellung in Kenntnis gesetzt zu werden; dementsprechend ist das Erscheinen der verletzten Person in 301 Erst durch die Reform von 1989 wurde dem durch die Straftat Geschädigten in Art. 75 Abs. 2 c.p.p. die Möglichkeit eröffnet, unabhängig vom Ausgang des Strafverfahrens, die Zivilklage zu verfolgen und so der Grundsatz des favor separationis etabliert. Art. 24 der abgeschafften Prozessordnung sah nämlich noch vor, dass ein etwaig vor Einleitung des Strafprozesses angestrengter Zivilprozess für die Dauer bis zur rechtskräftigen Verurteilung im Strafverfahren ausgesetzt wird. Abgesehen von diesem ausdrücklichen Ausschluss der Möglichkeit, zivilrechtliche Ansprüche im Rahmen eines patteggiamento geltend zu machen, weist Valentini Reuter, Giur. it. 1991, 137, darauf hin, dass der Reform allgemein die Tendenz zu Grunde gelegen habe, den Geschädigten mit seinen Ansprüchen auf das Zivilverfahren zu verweisen. Die Regel soll die Durchführung zweier unabhängiger Prozesse sein, vgl. Pisanelli, Cass. pen. 1992, 525, 526. 302 Vgl. hierzu, Cass. sez. V, 1. Juli 1996, Cass. pen., 1998, 893. 303 Di Chiara, in: Il patteggiamento, S. 37; gegen diesen Ansatz aber die jüngere Entscheidung Cass. pen. sez. V, 27. Februar 2002, Dir. pen. e proc. 2002, 590, die den Zivilkläger aus einem im Rahmen der Vorermittlungen geschlossenen patteggiamento in einer Verhandlung ad hoc nach Art. 447 c.p.p. gänzlich ausschließt. 304 Cordero, Procedura penale, S. 1015. 305 Hierauf wird im folgenden Punkt noch genauer einzugehen sein.
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der ad hoc-Verhandlung nach Art. 447 Abs. 1 c.p.p., in der über den Konsensualantrag entschieden wird, nicht vorgesehen306. Das Kassationsgericht hat bekräftigt, dass das Nichterscheinen des Opfers in der Verhandlung für die Entscheidung unerheblich ist und keinerlei Gesetzesverletzung begründet307. Diese äußerst beschränkt gehaltene Mitwirkung des Opfers an der konsensualen Verfahrensgestaltung wurde wegen der Verkennung generalpräventiver Ziele des Strafverfahrens, für die die Rücksicht auf Opferbelange entscheidend sei, heftig kritisert308. Kassiert wurde die Vorschrift durch das Verfassungsgericht309 jedoch nur insoweit, als das Opfer bzw. die Zivilpartei ihre marginale Rolle im konsensualen Verfahren noch dadurch zusätzlich belastet sah, dass ihr nach der ursprünglichen Fassung des Gesetzes zudem auch noch die von ihr verursachten Kosten auferlegt wurden. Der Gesetzgeber hat die Entscheidung in der Form umgesetzt, dass nach Art. 444 Abs. 2 c.p.p. der Angeklagte im Rahmen einer patteggiamento-Entscheidung nunmehr auch zur Tragung der Kosten der Zivilpartei verurteilt wird.310.
306 Filippi, Il patteggiamento, S. 82; ob das Opfer überhaupt das Recht hat, an der ad hoc Verhandlung teilzunehmen, ist strittig, zum Meinungsstreit und die Frage selbst verneinend Macchia, Il patteggiamento, S. 83 f. 307 Cass. pen. 25. November 1993, Cass. pen., 1995, 1009. 308 So beklagt Furgiuele, S. 438, die Tendenz der letzten zwanzig Jahre in der Gesetzgebung hin zu einer Strafvergünstigung für Kooperation im Verfahren (legislazione premiale), da sie die Strafbarkeit einer Tat als eine Variable behandele, die von der Verletzungshandlung unabhängig ist, und daher die Belange des Opfers nicht berücksichtigt. Generalpräventive Strafziele könnten so nicht realisiert werden. 309 Corte cost, sent. 12. Oktober 1990, n. 443, Cass. pen. 1990, II, 372, zustimmende Anmerkung zu der Entscheidung von Pisanelli, Cass. pen. 1992, 525; zur Kostentragungspflicht vgl. auch Cass. pen. sez. IV, 7. Juni 996, Dir. pen. e proc., 1996, 959. In dem Urteil wurde zur Begründung angeführt, die Vorschrift verstoße gegen Art. 24 Abs. 1 cost., der vorsieht, dass jedermann seine Rechte vor Gericht geltend machen kann. Dass über die zivilrechtlichen Ansprüche des Zivilklägers im Verfahren des patteggiamento nicht entschieden werden könne, rechtfertige nicht, dass auch die Prozesskosten nicht getragen werden müssten. Denn über die Ansprüche werde nur aufgrund der Verfahrenswahl der Parteien und wegen der besonders gestalteten Tatsachenfeststellung nicht entschieden. Die Zivilpartei sei hierfür in keiner Weise verantwortlich, also seien die Prozesskosten für eine eventuell im Rahmen des Strafverfahrens erhobene Schadensersatzklage vom Angeklagten zu tragen. 310 Der Antrag auf Verurteilung zu den Prozesskosten muss seitens der Zivilpartei im Prozess unmittelbar nach Kenntnis der Übereinstimmung gestellt werden, ein späteres Vorbringen im Prozessverlauf wird nicht berücksichtigt, Cass. pen. sez. VI, 27. September 2001, n. 35213, Arch. n. proc. pen. 2002, 594; eine zusammenfassende Übersicht der Rechtsprechung zu diesem Punkt findet sich bei Leo, Dir. pen. e proc. 2002, 725 f.; findet das patteggiamento im Rahmen der Voruntersuchung nach Art. 447 c.p.p. statt, kann die Zivilpartei dem Verfahren nicht beitreten und dementsprechend auch keine Verfahrenskosten geltend machen, vgl. hierzu Cass. pen. sez. V, 27. Februar 2002, Dir. pen. e proc. 2002, 590.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
Die zurückgenommene Rolle des Opfers erklärt sich aus der grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzgebers, die Opferinteressen weitgehend mit dem Ausgleich zivilrechtlicher Ansprüche zu verbinden. Um zusätzliche Anreize für das verkürzende Verfahren zu schaffen und aufgrund der summarischen Entscheidung soll das Opfer mit der Geltendmachung dieser Ansprüche auf den Zivilrechtsweg verwiesen werden. Dass der Ausschluss des Opfers aber auch im Hinblick auf seine Genugtuungsinteressen, insbesondere bei schweren Gewaltdelikten, problematisch sein kann, hat in der Diskussion kaum Raum eingenommen. Dies mag daran liegen, dass der gesetzlichen Konzeption des italienischen Strafverfahrens der grundsätzliche Gedanke zugrunde zu liegen scheint, dass Genugtuungsbelange weitgehend an den Ausgleich von Schaden und Wiedergutmachung gekoppelt sind, weniger aber in einem „zweckgelösten“ Vergeltungsgedanken verankert sind. d) Die Entscheidung über den Antrag als Ausschlussgrund Problematisch ist insbesondere, inwieweit die Entscheidung des Gerichts über den Antrag, zum Ausschluss oder zur „Unvereinbarkeit“ (incompatibilità), wie der italienische Gesetzgeber in Art. 34 c.p.p. formuliert311, führt. Das Verfassungsgericht312 hatte sich 1992 erstmalig mit dieser Frage in Bezug auf das patteggiamento auseinanderzusetzen und erklärte in diesem Zusammenhang Art. 34 c.p.p., der die Befangenheitsvorschriften umfasst, insoweit für verfassungswidrig, als er nicht vorschreibt, dass der Ermittlungsrichter, der einen Antrag im patteggiamento abgelehnt hat, wegen „Unvereinbarkeit“ nicht an der sich anschließenden Hauptverhandlung teilnehmen kann.
311 Art. 34 c.p.p. regelt die „Unvereinbarkeit“ wegen vorangegangener Mitwirkung (incompatibilità determinata da atti compiuti nel procedimento). Die Vorschrift will die strikte Trennung der Spruchkörper in den einzelnen Phasen des akkusatorischen Prozesses gewährleisten und verbietet somit demjenigen Richter die Ausübung seiner rechtsprechenden Gewalt, der in demselben Verfahren bereits in dieser Funktion in Erscheinung getreten ist. 312 Corte cost. sent. 25. März 1992, n. 124, Giur. cost. 1992, 1064, 1065; diese Entscheidung bekräftigend auch Corte cost. sent. 22 April 1992, n. 186, Giur. cost. 1992, 1343; diese Rechtsprechung ausdehnend corte cost. sent. 20. Mai 1996, n. 155, Giur. cost. 1996, 1464 ff., indem die Entscheidung Art. 34 Abs. 2 c.p.p. auch insoweit für verfassungswidrig erklärt, als die Vorschrift nicht vorsieht, dass das Prinzip der Unparteilichkeit des Gerichts erfordere, dass ein Richter, der im Ermittlungsverfahren eine persönliche Sicherungsmaßnahme verfügt hat, im Folgenden nicht eine Strafverhängung auf Antrag der Parteien verfügen kann, da dessen Unparteilichkeit durch die vorangegangenen Maßnahme nicht mehr gewährleistet ist. Das Verfassungsgericht stellt allerdings heraus, dass die Unvereinbarkeit nicht schon aus der Aktenkenntnis als solcher resultiere, sondern erst aus dem Umstand, dass das Gericht eine Sachentscheidung getroffen habe, und somit nicht mehr als unvoreingenommen gelten könne.
IV. Das patteggiamento im Dienste der Prozessökonomie
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Der Ausschluss des Richters kann auch aus der Zustimmung zu einem patteggiamento zu Lasten eines Dritten resultieren313. Nach Art. 448 c.p.p. kann der Angeklagte einen in der Vorverhandlung abgelehnten Antrag einmal in der Hauptverhandlung wiederholen. Die Ablehnung dieses erneuten Antrags soll ebenso zur Befangenheit des Gerichts führen314, das über den Antrag entschieden hat, verhindert aber eine erneute Stellung des gleichen Antrags vor einem neuen unbefangenen Spruchkörper, Art. 448 Abs. 1, S. 3. Diese gesetzliche Regelung war erforderlich, da andernfalls die „Unvereinbarkeit“ zu unbegrenzten Wiedereinbringungen desselben Antrags und somit zur vollständigen Blockierung des Verfahrens führen könnte. Im Falle mehrerer Angeklagter in einem Verfahren hat das Verfassungsgericht entschieden, dass die Stellung eines Antrags nur durch einen der Angeklagten automatisch zur Abtrennung des Verfahrens führt315. Die Gefahr, dass das Gericht durch die Stellung eines Antrags auf Strafverhängung seitens eines Angeklagten voreingenommen im Hinblick auf die Mitangeklagten sein könnte, soll auf diesem Wege gebannt werden316. Da der Inhalt eines patteggiamento beschränkt ist auf die subjektive Position des einen antragstellenden Angeklagten, kann dieser nicht „verhandeln“, wenn damit die Bedingung verknüpft wird, dass auch für eventuelle Mitangeklagte im Wege des alternativen Verfahrens entschieden wird. Eine anderslautende Klausel in der Übereinkunft wäre unwirk313 Vgl. Cass. pen. sez. V, 5. März 2001, n. 9239, Arch. n. proc. pen. 2002, S. 108 f. m. w. N.; in der Entscheidung wird die Gefahr der Voreingenommenheit durch ein patteggiamento in Bezug auf einen Mitangeklagten bestätigt, da als Nebeneffekt der Übereinkunft die Position des Dritten tangiert werden könne. 314 Corte di appello di Venezia, sez. I, ord. vom 18. März 2003, Arch. n. proc. pen. 2003, 631 ff., die Unvereinbarkeit des Richters, der einen Antrag in der Hauptverhandlung abgelehnt hat, wird mit der Tatsache begründet, dass dieser in der ablehnenden Entscheidung auch eine Wertung in der Sachfrage getroffen habe; im Ergebnis so auch Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 230. 315 Corte cost. sent. n. 266/1992, Giur. cost. 1992, 2050 ff., in der Entscheidung wird ausdrücklich ausgeführt, dass die Abtrennung des Verfahrens nach einem in der Hauptverhandlung gestellten Antrag nicht etwa nach den allgemeinen Regeln zur Verfahrenstrennung des Art. 18 c.p.p. und den entsprechenden Ausschlussgründen folge, sondern bereits „automatische Konsequenz der Zulässigkeit des alternativen Verfahrens“ sei (S. 2051); Anmerkung von Garofoli, S. 2054 ff., der die Trennung gerade auf den Charakter des Parteiprozesses zurückführt, da die Wahl des einen Angeklagten nicht die Wertung der Aussagen anderer Mitangeklagter berühren dürfe, S. 2057. Zu dem Streit, ob die Abtrennung nach einem in der Vorverhandlung gestellten Antrag nach Art. 18 c.p.p. erfolgen muss, oder ob sie direkt aus der Einigung der Parteien resultieren soll, vgl. Giarda/Spangehr-Cassibba, Codice di procedura penale, Art. 18, V. Rn. 1. 316 Das Gericht bedürfe einer extrem „großen Fähigkeit zur Abstraktion“ , um sich durch den Antrag nicht beeinflussen zu lassen, Chiliberti/Roberti, Manuale pratico dei procedimenti speciali, S. 275, 293; zu dem Thema im allgemeinen: Vanni, Cass. pen. 1991, 683, 599; für die Wertung der Wirkung eines patteggiamento auf dritte Mitangeklagte im jeweiligen Einzelfall ohne generelle Aussage Cass. pen. sez. V, 9. Februar 2001, Giur. it. 2001, 1915.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
sam, weil sie außerhalb der Inhaltsbestimmungen des Art. 444 c.p.p. läge317. Über die Frage, wie sich die Abtrennung auf die Frage der Befangenheit des Gerichts auswirkt, besteht indes keine Einigkeit. Grundsätzlich liege die Situation bei mehreren Angeklagten anders, als in den Fällen des Art. 34 c.p.p., der für die „Unvereinbarkeit“ des Gerichts eine Entscheidung in der gleichen Sachfrage in einem früheren Stadium des Verfahrens vorsehe. Bei mehreren Angeklagten liege nicht notwendig die gleiche Sachfrage zugrunde, da jedem einzelnen Angeklagten durchaus einzelne Handlungen zur Last gelegt werden könnten, die selbstständige Gegenstände der gerichtlichen Würdigung bilden. Hieraus wurde zunächst gefolgert, dass die Abtrennung des Verfahrens nicht per se zum Ausschluss des Gerichts in der streitigen Hauptverhandlung gegen die übrigen Angeklagten führt318. Durch eine Entscheidung des Verfassungsgerichts von 1996 wurde dieser Grundsatz jedoch eingeschränkt319 und zumindest bei Taten der notwendigen Beteiligung die Pflicht des Gerichts erkannt, sich für befangen zu erlären, sofern nur ein Teil der Tatbeteiligten konsensual verhandelt. Die sich anschließende Frage der Befangenheit eines Spruchkörpers, der gegen einzelne Mitangeklagte im Wege des patteggiamento entschieden hat, wurde zunächst in der Rechtsprechung nicht nur sehr verhalten, sondern auch nicht grundsätzlich oder eindeutig geklärt. Nunmehr ist es aber gefestigte Rechtsprechung, dass das auf einen Konsensualantrag ergangene Urteil sowohl zur Abtrennung des Verfahrens gegen die übrigen Angeklgten als auch auch zur Unvereinbarkeit des Gerichts mit der Durchführung der sich anschließenden streitgen Hauptverhandlung führt320. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die Gefahr der Voreingenommenheit des Gerichts durch Mitwirkung an einer konsensualen Verfahrensbeendigung vom Verfassungsgericht alsbald gesehen und vom Gestezgeber umgesetzt worden ist. 317 Cass. pen. sez. IV, 7. Juni 2001, Riv. pen. 2002, 79. Aus dem Umstand, dass in Art. 18 c.p.p., der die Verfahrensabtrennung regelt, der Fall nicht vorgesehen ist, dass von mehreren Angeklagten nur einer einen Antrag nach Art. 444 c.p.p. stellt, ist gefolgert worden, dass die Abtrennung dieses Verfahrens automatisch erfolgen müsse, Garofoli, Giur. cost. 1992, 2054; anders die Ansicht, dass es einer förmlichen Abtrennung nicht bedürfe, sondern im Falle einzelner Anträge gegen die Antragsteller unmittelbar Urteil ergehen und gegen die übrigen im Rahmen desselben Verfahrens weiter verhandelt werden könne, Coppi, Giur. it. 1990, II, 329, 331; einen dritten Weg geht schließlich die Ansicht, dass es einer förmlichen Abtrennung durch das Gericht bedürfe, Macchia, Il patteggiamento, S. 19; Vigoni, in: I procedimenti speciali in materia penale, S. 109, 216. 318 Vgl. Rigo, in: Il patteggiamento, S. 67, 95. 319 Corte cost. sent. 2. November 1996, n. 371, Cass. pen. 1997, 660; für eine Bestätigung dieses Grundsatzes siehe aber Cass. pen. sez. II, 23. September 2003, wie auch Cass. pen. sez. VI, 31. Juli 2003, beide in Arch. n. proc. pen. 2004, 574. 320 Vgl. zu dieser Entwicklung in der Rechtsprechung Giarda/Spangher-Rigo, Codice di procedura penale, Art. 444, I, Ziff. 4.
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e) Der Antrag im Gang des Verfahrens oder die Vermeidung der Hauptverhandlung Grundsätzlich konnte der Antrag nach der Reform von 1989 bis zur Eröffnung der Hauptverhandlung (Artikel 492 c.p.p.) gestellt werden. Nach der Novellierung des patteggiamento durch die legge Carotti von 1999321 ist in Artikel 446 c.p.p. die letzte Möglichkeit für die Antragsstellung auf den Schluss der Vorverhandlung vorverlegt worden. Entscheidender Zeitpunkt sind hierbei die abschließenden Stellungnahmen zu den Ergebnissen aus dem Ermittlungsverfahren seitens Staatsanwaltschaft und Verteidigung (Artikel 421 Abs. 3 und Art. 422 Abs. 3 c.p.p.)322. Durch die Vorverlagerung in die Endphase des Zwischenverfahrens wird prozessökonomisch die förmliche Einleitung der Hauptverhandlung (Art. 465 ff. c.p.p.) bis zur Eröffnungserklärung eingespart. So war auch diese Gesetzesänderung darauf gerichtet, die Anzahl der in die Hauptverhandlung mündenden Verfahren zu verringern323. Die Zustimmung zum Antrag kann innerhalb der genannten Frist erfolgen, auch wenn sie zuvor verweigert worden ist (Art. 446 Abs. 4 c.p.p.). Der erstmögliche Zeitpunkt wird im Gesetz nicht genannt. Damit sind einer Antragsstellung des Beschuldigten in dieser Hinsicht keine Grenzen gesetzt; das heißt, er kann eine Strafe beantragen, sobald er von den Ermittlungen gegen ihn in Kenntnis gesetzt ist – was nach Artikel 369 c.p.p. dann geschieht, wenn die Staatsanwaltschaft eine Handlung vornimmt, bei der der Verteidiger ein Anwesenheitsrecht hat. Für die Durchführbarkeit des verkürzenden Verfahrens durch Antrag auf Strafverhängung soll jedoch notwendigerweise erforderlich sein, dass der Ermittlungsstand so weit fortgeschritten ist, dass er den beim Richter gestellten Antrag rechtfertigt324.
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Legge n. 479 vom 16. Dezember 1999, Gazz. uff. vom 18. Januar 2000, n. 13. Zu dem Problem des möglichen Verlustes des Rechts auf ein patteggiamento in dem Fall, in dem auf eine Einstellungsentscheidung nach Art. 129 c.p.p. des erstinstanzlichen Gerichts die Staatsanwaltschaft eine Sprungrevision einlegt und die Sache nach Art. 569 Abs. 2 c.p.p. an das Berufungsgericht zurückverwiesen wird, vgl. Benenati, Dir. pen. e proc. 1997, 728 ff. Da Art. 446 c.p.p. den letztmöglichen Zeitpunkt in die Vorverhandlung verlegt, stellt sich für den zunächst freigesprochenen Angeklagten bei Rückverweisung an das zweitinstanzliche Gericht die Situation so dar, dass er nach der aktuellen Rechtslage der Möglichkeit eines patteggiamento beraubt ist und sich der ordentlichen Hauptverhandlung zu stellen hat. Diese Situation kann verfassungsrechtliche Zweifel aufkommen lassen. 323 Capitta, in: Giudice unico, S. 143, 144; nach der neuen Regelung ist die Antragstellung bis zur Eröffnungserklärung der Hauptverhandlung nur dann zulässig, wenn es sich um ein beschleunigtes Verfahren gegen einen auf frischer Tat Ertappten (giudizio direttissimo) in erster Instanz handelt, da in diesem Verfahrenstyp eine Zwischenverhandlung gerade nicht stattfindet. Die gegenläufige Tendenz des Gesetzes, rechtsstaatliche Garantien zu stärken (wie die gesteigerte Möglichkeit von erneuten Einbringungen des Antrags nach Eintritt ins Hauptverfahren) geht jedoch zu Lasten der beschleunigenden Wirkung des Instituts, vgl. Peroni, in: Il processo penale dopo la riforma del giudice unico, S. 515. 322
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Die Antragstellung bereits im Ermittlungsverfahren ist dementsprechend auch explizit in Art. 447 c.p.p. geregelt. Die Vorschrift regelt im Grunde drei verschiedene Konstellationen. Es kann sowohl gemeinsam von den Parteien ein Antrag beim Ermittlungsrichter eingebracht werden als auch ein einseitiger Antrag mit oder ohne Zustimmung der anderen Partei. In den beiden ersten Fällen beraumt der Richter direkt Termin für eine adhoc-Verhandlung an, in der über den Antrag entschieden wird325. Im dritten Fall setzt der Richter der anderen Partei eine Frist, dem Antrag zuzustimmen. In der eigens zur Entscheidung über ein patteggiamento anzuberaumenden Verhandlung werden nach dem Wortlaut des Gesetzes nur die Verteidigung und der Vertreter der öffentlichen Anklage gehört, sofern sie erscheinen; eine Anwesenheitspflicht ist mithin nicht vorgesehen und eine mündliche Verhandlung dementsprechend nicht grundsätzlich erforderlich. Dass im Wortlaut der Regelung nur Anklage und Verteidigung erwähnt werden, hat Macchia326 dazu veranlasst, die Anwesenheit des Angeklagten, außer in den Ausnahmefällen des Art. 446 Abs. 5 c.p.p., in denen das Gericht zur Überprüfung der Freiwilligkeit bei der Antragstellung das persönliche Erscheinen des Angeklagten anordnet, ganz ausschließen zu wollen. Die überwiegende Ansicht geht indes von einem Anwesenheitsrecht des Angeklagten aus; allerdings soll dieses nach vereinzelter Ansicht den Anspruch, gehört zu werden, nicht einschließen327. Die ad hoc-Verhandlung im Rahmen des Vorverfahrens nach Art. 447 c.p.p. findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt (Art. 127 c.p.p. camera di consiglio)328. Aus der besonderen Struktur eines patteggiamento, das eine Einigung 324 Macchia, Il patteggiamento, S. 79 f.; hieran schließt sich das Wertungsproblem, nach welchen Kriterien der erforderliche Stand der Ermittlungen festgestellt werden soll. 325 Zum Begriff der ad hoc-Verhandlung vgl. die Begründung zum Gesetzentwurf, LEX 1988, S. 331, 531; wie auch statt vieler Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 250. 326 Macchia, Il patteggiamento, S. 83; die herrschende Meinung und Rspr. will an dem Anwesenheitsrecht des Beschuldigten jedoch festhalten, Cass. sez. fer., 21. August 1990, in Cass. pen. 1990, II, 419, 420; Cass. sez. VI, 4. November 1992, in Cass. pen. 1994, 1590. 327 Chiliberti/Roberti, Manuale pratico, S. 275, 375; im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zur legge Carotti, war zeitweilig auch die Beteiligung des Zivilklägers an der ad hoc-Verhandlung diskutiert, der Vorschlag aber alsbald abgelehnt worden, vgl. Spangher, in: Il patteggiamento, S. 99, 105. 328 Verfassungsrechtliche Zweifel ergaben sich, weil die ad hoc-Verhandlung im Rahmen des Vorverfahrens nach Art. 447 c.p.p. nicht öffentlich ist (Art. 418 c.p.p.). Verfassungsrechtlich sei aber gefordert, dass die patteggiamento-Entscheidung in einer öffentlichen Verhandlung ergehen müsse. Das Verfassungsgericht ist diesen Zweifeln nicht gefolgt und hat den Ausschluss der Öffentlichkeit mit der besonderen Natur der Entscheidung gerechtfertigt, die gerade die Charakteristiken eines Schuldurteils, nämlich vollständige Feststellung der Begründetheit der Anklage vermissen lasse. Zwar könne der Öffentlichkeitsgrundsatz nicht in die Disposition der Parteien gestellt werden, da mit diesem auch ein objektives Interesse der sozialen Kontrolle über den Pro-
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zwischen den beiden widerstreitenden Parteien ist, folgt, dass von dem Termin einer einvernehmlichen Verhandlung keine weiteren Verfahrensbeteiligten in Kenntnis zu setzen sind. Der Verletzte hat somit keinerlei Anspruch, an der mündlichen Verhandlung, in der über die Verhängung einer Konsensualstrafe entschieden wird, beteiligt zu werden. Im Ergebnis bedeutet dies, dass das Einvernehmen der Parteien zur Auflösung des antagonistischen Prozessverhältnisses zwischen den Parteien führt, so dass das Erscheinen weiterer am Verfahren beteiligter Personen für nicht erforderlich erachtet wird329. Die einseitige Antragstellung während des Ermittlungsverfahrens ist nach zivilistischem Förmlichkeitsmuster geregelt, indem sie vom Antragsteller verlangt, die richterliche Verfügung über die Anberaumung der ad hoc-Verhandlung dem Gegner zuzustellen. In Ausnahme zur Regel liegt somit die Zustellungspflicht nicht beim Gericht, sondern bei der antragstellenden Partei. Der zivilprozessuale Charakter wird zusätzlich dadurch gestärkt, dass der Richter nach der Vorschrift des Art. 447 c.p.p. die Anberaumung des Termins direkt durch Anmerkung auf dem Antrag der Partei verfügt330. Spätestens drei Tage vor dem anberaumten Termin muss die Staatsanwaltschaft die Akten bei Gericht hinterlegen, so dass zu diesem Zeitpunkt die discovery gewährleistet ist. Gericht und Verteidigung können sich demenstprechend durch Akteneinsicht auf die Verhandlung vorbereiten. Ein einseitig durch die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren gestellter Antrag auf Strafverhängung muss formal die Anklageschrift enthalten; durch die Stellung des Antrags wird somit förmlich die Anklage im Sinne des Art. 405 c.p.p. erhoben331. Daraus müsste folgen, dass bei Ablehnung des Antrags durch das Gericht oder bei verweigerter Zustimmung durch den Beschuldigten die Wiederaufnahme der Ermittlungen unmöglich gemacht würde, da bereits förmlich Anklage erhoben worden ist und somit die Ermittlungen abgeschlossen zess verbunden sei; Abweichungen von dem Grundsatz könnten aber durch den Parteiwillen des Angeklagten gerechtfertigt werden, insbesondere wenn sie geeignet sind, Anreize zu schaffen für die Wahl des Angeklagten zugunsten des alternativen Verfahrens, Corte cost. sent. 6. Juni 1991, n. 251, Giur. cost., 1991, 2056, 2061. 329 Vgl. hierzu Cass. sez. V, 25. November 1993, Cass. pen. 1995, 1009; wie auch Cass. pen. sez. V, 12. Mai 2004, Arch. n. proc. pen. 2005, 369; hierzu auch Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 252 f.; Chilibert-Roberti, L’applicazione della pena su richiesta, S. 374, die aber für die Möglichkeit des Verletzten sprechen, nach Art. 90 c.p.p. durch das Einbrigen von Schriftsätzen zu intervenieren. 330 Zur Betonung des dispositiven Charakters der Antragstellung durch die zivilprozessualen Förmlichkeiten siehe Rigo, in: Il patteggiamento, S. 67. 331 Vgl. Rigo, in: Il patteggiamento, S. 67, 76; Macchia, Il patteggiamento, S. 82; kritisch zu dieser Konstruktion Cordero, Procedura penale, S. 1011, der dementsprechend die einzigartige Besonderheit der ad hoc Verhandlung insbesondere darin sieht, dass über die Anwendung einer Strafe entschieden werde, ohne dass ein Angeklagter vorhanden sei.
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sind. Um das Verfahren aber dennoch ins Ermittlungsstadium zurückversetzen zu können, hat man dieses Problem dahingehend gelöst, dass der einseitige Antrag nur als „bedingte Anklage“ zu werten ist, die von der Zustimmung abhängig ist. Erst in der erfolgreich vollzogenen Einigung soll dementsprechend eine wirksame Anklageerhebung und der Abschluss der Ermittlungen liegen332. Lehnt also das Gericht den Antrag in der ad hoc-Verhandlung ab, so werden die Akten an die Staatsanwaltschaft zurückgesandt und das Verfahren tritt in die Ermittlungsphase zurück. Über die Möglichkeit eines Antrags im Rahmen des Ermittlungsverfahrens hinaus können die Parteien einzeln oder gemeinsam im Lauf der Vorverhandlung (udienza preliminare) einen Antrag auf Strafverhängung stellen. Im Rahmen der Verhandlung wird der Antrag mündlich gestellt, im Übrigen muss er schriftlich erfolgen (Art. 446 Abs. 2 c.p.p.). Liegt im Fall eines einseitigen Antrags die Zustimmung der jeweils anderen Partei vor und entspricht das Gericht dem Antrag, so verkündet es unmittelbar das entsprechende Urteil; im Tenor wird auf den Antrag zur Strafverhängung verwiesen. Lehnt das Gericht den Antrag ab, so tritt das Verfahren in die ordentliche Vorverhandlung zurück mit der Konsequenz, dass auch ein abgeänderter Antrag auf Strafverhängung erneut gestellt werden kann333. Nach der Novellierung der Regelung des patteggiamento von 1999 kann der Angeklagte, sowohl wenn die Staatsanwaltschaft nicht zugestimmt hat als auch wenn der Ermittlungsrichter den Antrag abgelehnt hat, bis zur Eröffnungserklärung durch den Richter der Hauptverhandlung den Antrag erneut stellen, Art. 448 Abs. 1 S. 2334. Hält das Gericht den Antrag für begründet, verkündet 332 Vgl. zu diesem Aspekt Rigo, in: Il patteggiamento, S. 67, 77; ein weiteres Argument für die Möglichkeit der Wiederaufnahme der Ermittlungen wird darin gesehen, dass die Anklage duch die Staatsanwaltschaft an das Gericht gesandt wird mit dem Zweck, eine Sachentscheidung durch das Gericht zu erwirken; bei Ablehnung des Antrags erfolge einer derartige Sachentscheidung gerade nicht. Für die Möglichkeit der Wiederaufnahme der Ermittlungen entsprechend auch Cordero, Procedura penale, S. 967; so auch Giarda/Spangher-Rigo, Codice di procedura penale commentato, Art. 447, Rn. 6. 333 Streitig ist, in welcher Form die Ablehnung des Antrags zu erfolgen hat; so gibt es Ansichten insbesondere in der Literatur, die einen förmlichen Beschluss (ordinanza) für erforderlich halten, vgl. Macchia, Il patteggiamento, S. 29, Fn. 59; Chiliberti/Roberti, in: Manuale pratico die procedimenti speciali, S. 275, 378 ff.; die Rechtsprechung vertritt weitgehend, dass es keiner besonderen Förmlichkeiten bedürfe, sodass der Antrag auch mündlich abgelehnt werden könne, vgl. Cass. sez. II, 10. November 1993, Cass. pen. 1995, 1940, 1193. 334 Die aufgehobene Regelung war insofern kritisiert worden, als sie Asymmetrien in der Möglichkeit des erneuten Einbringens eines Antrags hervorgerufen hatte, da eine solche nur bei verweigerter Zustimmung durch den Staatsanwalt, nicht aber bei Ablehnung durch den zuständigen Richter (G.i.p.) möglich war; dieser Ungleichbehandlung sollte durch die neue Bestimmung abgeholfen werden; vgl. hierzu Cipolla, Giur. merito, 1996, 329, 333 f. Streitig ist im Zusammenhang mit der Regelung des
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es unverzüglich das Urteil, in dem es die beantragte Strafe verhängt. Für die Beurteilung der Begründetheit des Antrags greift das Gericht auf die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft zurück335. Ist der Antrag erneuert worden und kommt das Gericht ihm nicht vor Eröffnung der streitigen Verhandlung nach, so verkündet es nach Art. 448 Abs. 1, Satz 4 c.p.p. nach Abschluss der Verhandlung das Urteil mit der beantragten Strafe, sofern es die Zustimmungsverweigerung zum Antrag aus dem Vorverfahren durch die Staatsanwaltschaft für unbegründet hält. Durch diese Vorschrift wird der konsensuale Charakter der Regelung relativiert. Das Urteil nach Art. 448 c.p.p. gründet sich demzufolge nicht auf eine konsensuale Übereinkunft, sondern basiert vielmehr auf einer im Rahmen einer streitigen Hauptverhandlung zu findenden plena cognitio336. Um die rechtlichen Garantien des Angeklagten im Falle einer kooperativen Verteidigungsstrategie zu wahren, ist also bei verweigerter Zustimmung oder nicht erfolgter Annahme des Antrags dieser am Beginn der Hauptverhandlung wiederholbar. Dem Gericht wird durch die Novellierung die Möglichkeit einer freien Überprüfung des Antrags des Angeklagten eingeräumt, ohne an die Entscheidung der Staatsanwaltschaft gebunden zu sein. Damit werden die EntArt. 448 c.p.p., ob der vor dem erkennenden Gericht der Hauptverhandlung erneut gestellte Antrag dem zuvor in das Verfahren eingebrachten entsprechen muss oder ob auch die Stellung eines abgeänderten Antrags zulässig sein soll, vgl. zu den unterschiedlichen Positionen, Di Dedda, Il consenso delle parti nel processo penale, S. 129 f. Unberührt von dieser Vorschrift bleibt die grundsätzliche Möglichkeit, einen durch das Gericht der Vorverhandlung abgelehnten Antrag in abgeänderter Form im Laufe der Vorverhandlung erneut zu stellen, vgl. Capitta, in: Giudice unico e garanzie difensive, S. 143, 147 m. w. N. aus der Rechtsprechung; nicht möglich ist aber weiterhin, während der Eröffnung der Hauptverhandlung erstmalig einen Antrag nach Art. 444 c.p.p. zu stellen, Cass pen. sez. VI, 4. Dezember 2003, Arch. n. proc. pen. 2005, 86. 335 Nach Art. 135 disp. att., ordnet das Gericht die Vorlage der staatsanwaltlichen Akten an. Wird der Antrag angenommen, werden die Akten der Akte der Hauptverhandlung beigelegt, wird dem Antrag nicht stattgegeben, werden sie unverzüglich an die Staatsanwaltschaft zurückgeführt. Letzteres ändert indes nichts an der Tatsache, dass das Gericht von ihnen Kenntnis erlangt hat und somit der Grundsatz, dass das Gericht keine Aktenkenntnis haben soll, tangiert ist. Erst seit der Novellierung durch die l. 479/1999 muss das Gericht die Akten hinzuziehen, zuvor war dies eine Ermessensentscheidung. Nach einer Entscheidung der Corte di appello di Venezia (Berufungsinstanz, die im konkreten Fall über einen Befangenheitsgesuch zu entscheiden hatte), sez. I., ord. vom 18. März 2003, Arch. n. proc. pen. 2003, 631 ff., mit zustimmender Anmerkung von Ravagnan, S. 633 ff., ist die Ablehnung eines nach Art. 448 Abs. 1 c.p.p. vor Eröffnung der Hauptverhandlung erneut gestellten Antrags eine Sachentscheidung, die die „Unvereinbarkeit“ des Richters begründet, die Hauptverhandlung fortzuführen. 336 So die Beschreibung der Erkenntnisgrundlage des Gerichtes in der kassationsgerichtlichen Entscheidung Cass. pen. sez. III, 17. April 2002, Cass. pen. 2004, 2479. Das Verfassungsgericht hat die Frage der Verfassungswidrigkeit dieser Redimensionierung der Position der Staatsanwaltschaft in der Entscheidung cost. ord. n. 127/1993, Giur. cost. 1993, 1026 ff., für offensichtlich unbegründet erklärt mit der Begründung, dass das Gericht gerade erst nach Abschluss der Hauptverhandlung entscheidet.
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scheidungsbefugnisse des Gerichts im Rahmen des ursprünglich konsensualen Verfahrens offenkundig gestärkt. Nachdem das Gericht die Hauptverhandlung für eröffnet erklärt hat, ist der Antrag indes grundsätzlich nicht mehr wiederholbar (Art. 448 Abs. 1)337. Eine zweiseitige Erklärung ist in bestimmten Fällen mithin nicht erforderlich und damit die Regel des rechtsgeschäftlichen Charakters des Instituts durchbrochen. Sofern das Gericht der Hauptverhandlung den Antrag trotz verweigerter Zustimmung der Staatsanwaltschaft als begründet ansieht, wird gem. Art. 448 Abs. 1 c.p.p. eine Strafe verhängt, die unter dem nach den allgemeinen Strafzumessungsregeln angemessenen Maß liegen kann, ohne dass in den genannten Ausnahmefällen ein Konsens der Parteien Grundlage dieser Strafmilderung ist. Dann handelt es sich im Ergebnis nicht um ein verfahrensverkürzendes patteggiamento, sondern einzig um eine Strafbegünstigung. Die Doppelnatur des Instituts als beschleunigendes und begünstigendes Verfahren verkürzt sich in diesen Fällen auf die Strafmilderung338. Keine Einigkeit besteht in der Frage, ob der gesetzlich letzte Zeitpunkt für die Antragstellung auch für verspätete Antragsannahmen gelten soll. Da das Gericht sich nach Art. 448 c.p.p. am Ende der Hauptverhandlung über die verweigerte Zustimmung der Staatsanwaltschaft hinwegsetzen kann, und so auch einseitig dem Antrag entsprechen kann, spräche nichts dagegen, auch bei verspäteter Annahme des Antrags, von der Fortführung der streitigen Verhandlung abzusehen und unverzüglich die beantragte Strafe zu verhängen. Die „rechtsgeschäftliche“ Einigung mache die Befolgung der strengen Förmlichkeiten des kontradiktorischen Verfahrens überflüssig und rechtfertige eine frühzeitige Beendigung des Verfahrens339. Ist hingegen bis zum Abschluss der Vorverhandlung kein Antrag gestellt worden, soll ein solcher verspätet in der Hauptverhandlung auch dann nicht zulässig sein, wenn erst in diesem Rahmen neue, weitere Taten zur Anklage kommen340. 337 Gegen weitere verfassungsrechtliche Zweifel an der Vorschrift auch Corte cost. ord. 4. Juli 1997, Dir. pen. e proc. 1997, 1071; zur verfassungsrechtlichen Frage des Art. 448 c.p.p. hinsichtlich der nicht vorgesehenen Möglichkeit, dass das Gericht sich nach dieser Vorschrift auch im Rahmen eines „abgekürzten Verfahrens“ über die verweigerte Zustimmung der Staatsanwaltschaft hinwegsetzen kann, vgl. Macchia, Diritto e giustizia, suppl. settminale, 45/2002, S. 24 ff. 338 Nappi, Guida al codice di procedura penale, S. 514. 339 In diesem Sinn Cordero, Procedura penale, S. 100; wie auch Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 61; anders Capitta, in: Giudice unico e garanzie difensive, S. 143, 146; Nappi, Guida al codice di procedura penale, S. 516; Cass. pen. Sez. VI, 24. April 1997, Dir. pen. e proc. 1997, 805, hier wird argumentiert, dass wenn eine Zustimmung erst nach Ablauf der Frist erteilt wird, sich die günstigen Rechtsfolgen eines Urteils nach Art. 444 bzw. 448 c.p.p. nicht mehr einstellen dürfen, weil eine Einigung erst am Ende der Hauptverhandlung mit Sinn und Zweck des Instituts nicht vereinbar wäre, da eine Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens nicht mehr zu erreichen ist.
IV. Das patteggiamento im Dienste der Prozessökonomie
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Somit lässt sich abschließend festhalten, dass die Übereinkunft in der Regel entweder in einer hierfür eigens eingerichteten Verhandlung im Rahmen des Ermittlungsverfahrens oder innerhalb der Zwischenverhandlung und nur ausnahmsweise in der Hauptverhandlung stattfindet. Die Einführung des Art. 415 bis c.p.p.341, der die „antizipierte discovery“ regelt, und bereits im Ermittlungsstadium eine Art vorgezogenes kontradiktorisches Verfahren ermöglicht, ist zu einem äußerst wichtigen Kristallisationspunkt des Verfahrens geworden, in dem sich gute Anlässe für Sondierungsgespräche hinsichtlich einer einvernehmlichen Einigung ergeben342. f) Unwiderruflichkeit der Einigung durch den Verweis auf zivilistische Regeln Inwieweit die Parteien an ihre Erklärungen hinsichtlich eines Antrags auf Strafverhängung gebunden sind, ist streitig. Zu unterscheiden ist in diesem Zusammenhang die Situation einer bereits vollzogenen Einigung von der eines erst einseitig gestellten Antrags. Da es sich nach ständiger Rechtsprechung des Kassationsgerichtes beim patteggiamento um ein prozessuales Rechtsgeschäft handelt, soll dieses nach vollzogener Einigung grundsätzlich nicht einseitig widerrufen werden können343. Dies soll auch für einen im Rahmen des Vorverfahrens von den Parteien gemeinsam eingebrachten Antrag gelten344.
340 Dagegen argumentiert, Retico, Giur. cost. 1994, 2166, 2170, indem er für den Fall, dass die Anklage sich im Rahmen der Hauptverhandlung ändert, die Fristen für die Antragstellung nicht anwenden will, da es an den Voraussetzungen der Ausübung des Antragsrechts fehle. Die Präklusion wurde verfassungsrechtlich beanstandet unter dem Gesichtspunkt der ungleichen Behandlung im Verhältnis zu denjenigen Fällen, in denen eine verspätete Übereinkunft bei Änderung der Anklage im Hauptverfahren gestattet sein soll. Das Verfassungsgericht, Corte cost. sent. 23. Mai 1997, n. 146, Giur. cost. 1997, 1604, bestätigte indes die Ungleichbehandlung wegen Unvergleichbarkeit der Situationen, da der Ausschluss im Falle einer zusätzlichen Anklageerhebung in der Hauptverhandlung sich aus der Betrachtung heraus rechtfertige, dass es sich bei der erweiterten Anklage um eine „nicht unübliche und nicht unvorhersehbare offensichtliche Möglichkeit der Hauptverhandlung“ handele, deren Risiko der Angeklagte bei der Entscheidung für das konfrontative Verfahren in Kauf nehmen müsse, während die verspätete Antragstellung in den Vergleichsfällen nur zugelassen worden ist, weil es sich bei der erweiterten Anklage in der Hauptverhandlung um ein Fehlverhalten der Staatsanwaltschaft handelte. 341 Vgl. auch oben unter III. 2. 342 Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 249; nach dem durch die l. n. 397/2000 geänderten Art. 419 Abs. 3 c.p.p., muss die Mitteilung des Termins der Vorverhandlung die Aufforderung enthalten, Unterlagen, die etwaige, nach der Anklageerhebung durchgeführte Ermittlungen betreffen, einzureichen. Daraus wird geschlossen, dass die Partei, die sich in der Vorverhandlung im Hinblick auf Anträge an das Gericht auf derartige Ermittlungen stützen will, diese zuvor vorlegen muss., um eine „par condicio“ in der „discovery“, sowie „Überraschungsbeweise“ zu vermeiden, vgl. Filippi, in: Processo penale, il nuovo ruolo del difensore, S. 291, 304.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
Zur Erläuterung wird auch in diesem Zusammenhang auf die zivilistischen Regeln der Vertragsschließung durch Angebot und Annahme verwiesen oder auf das prozessuale Prinzip: „electa una via non datur recursus ad alteram“345. Ist der Antrag im Rahmen der Vorverhandlung einseitig gestellt und die Zustimmung noch nicht erfolgt, soll indes der Antrag frei widerruflich sein346. Nahezu unstreitig ist indes, dass ein einvernehmlicher Rücktritt im Wege des contrarius consensus beider Parteien stets möglich sein soll, solange keine richterliche Entscheidung ergangen ist. Ein einseitiger Widerruf einer bereits vollzogenen Einigung ist indes nach ganz herrschender Meinung nicht möglich347.
343 Vgl. Cass. pen. sez. VI, 6. Februar 2004, Arch. n. proc. pen. 2005, 240; Cass. pen. sez. VI, 17. Januar 2002, Dir. pen. e proc. 2002, 295; Cass. pen. sez. III, 1. Mai 2001, n. 18735, Arch. n. proc. pen., 2002, 218; Cass. pen. sez. II, 9. Januar 1998, Cass. pen. 1999, 3197; Cass. pen. sez. III, 9. Dezember 1997, Cass. pen. 1999, 1890. 344 Vgl. Cass. pen. sez. III, 27. März 1992, Riv. it. dir. proc. pen. 1993, 1418, mit im Ergebnis zustimmender Anmerkung von Cenci, S. 1420; Cass. sez. V, 22. Dezember 1998, Gazz. giur. 1999, n. 13, 29, nach dieser Entscheidung soll der Antrag auch nach Zustimmung im Laufe der Voruntersuchungen nicht frei widerruflich sein. Seitens der Literatur und auch von Teilen der Rechtsprechung wird indes für die freie Widerruflichkeit argumentiert. Diese Meinung gelangt zur grundsätzlichen Widerruflichkeit auch des beidseitig gestellten Antrags aus Art. 447 Abs. 3 c.p.p., der den Fall regelt, dass ein Antrag auf Strafverhängung einseitig im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gestellt worden ist. Nach dieser Vorschrift setzt der Richter der anderen Partei im Fall der Antragstellung im Vorverfahren eine Frist, um den Antrag anzunehmen oder abzulehnen; vor Ablauf dieser Frist ist der Antrag unwiderruflich. Diese Norm habe Ausnahmecharakter und wolle lediglich die Durchführung des Verfahrens sicherstellen, indem er verhindere, dass die Partei, die das Verfahren selbst initiiert hat, dieses nun wieder behindert. Antrag und Konsens seien also für beide Parteien außer in dem Ausnahmefall des Art. 447 Abs. 3 frei widerruflich, unabhängig davon, ob eine Zustimmung bereits vorliege oder nicht, vgl. Cass. pen. sez. I, sent. 7. November 1991, Arch. n. proc. pen. 1991, 732; im Ergebnis auch Macchia, Il patteggiamento, S. 26, 75 f., der die freie Widerruflichkeit auch nach Erreichen des Konsenses als Regel bezeichnet; weitere Nachweise für die These der Widerruflichkeit aus der Literatur bei Cenci, Riv. it. dir. pen. e proc., 1420, 1421. 345 Santangelo, Crit. dir. 1990, 75, 76. 346 Cordero, procedura penale, S. 1008, der hierfür auf die zivilistische Regel des Artikel 1328 codice civile zurückgreift; gegen die Heranziehung zivilistischer Kriterien im patteggiamento Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 276, vgl. hierzu auch Cass. sez. I, 24. Juni 1991, Cass. pen. 1992, 715; Cass. pen. sez. V, 23. April 2004, Arch. N. proc. pen. 2005, 240. 347 Cordero, procedura penale, S. 1009; so auch, Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 95, der einen einseitigen Widerruf nur im Falle essenzieller Willensmängel für möglich hält, S. 98.; Mercone, Arch. n. proc. pen. 1990, 575, 576; Santangelo Crit. dir. 1990, n. 4/5, 75; Selvaggi, Cass. pen. 1992, 715, 719; anders für die einseitige Widerruflichkeit: Lattanzi, Cass. pen. 1989, 2105, 2110, Macchia, Il patteggiamento, S. 27; Marini, Arch. pen. 1996, 271 f.; zu den praktischen problematischen Konsequenzen einer einseitigen Widerruflichkeit und deren Unvereinbarkeit mit dem Prinzip der „Nichtrücknehmbarkeit der Strafklage (irretrattabilità dell’azione penale e di non regressione del procedimento), Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 274.
IV. Das patteggiamento im Dienste der Prozessökonomie
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g) Eingeschränkte Anfechtbarkeit der Einigung als Zugeständnis an die Prozessökonomie Grundsätzlich ist das in einem patteggiamento ergangene Urteil nicht im Wege der Berufung anfechtbar, Art. 448 Abs. 2 c.p.p. Lediglich eine Ausnahme vom Grundsatz der Unanfechtbarkeit kennt das Gesetz. Es ist dies die Konstellation, in der ein Konsens gerade nicht zustande gekommen ist. Anfechtbar durch die Staatsanwaltschaft ist nämlich dasjenige Urteil, durch das das Gericht der Hauptverhandlung die Strafe auf Antrag des Angeklagten nach unbegründeter Zustimmungsverweigerung durch die Staatsanwaltschaft verhängt hat. Nicht aber kann der Verurteilte, auf dessen Antrag das Gericht nach Durchführung der Hauptverhandlung die enstprechende Strafe verhängt hat, das Urteil anfechten348. Die eingeschränkte Anfechtbarkeit ist Konsequenz der vom Gesetzgeber intendierten Struktur und Funktion des besonderen Verfahrens349 und ist mit den Verfahrensgrundsätzen insofern vereinbar, als vielfach darauf hingewiesen wurde, dass die Prozessordnung keine Garantie der doppelten Sachinstanz vorsehe. Angreifbar ist eine im Wege des patteggiamento erzielte Entscheidung dementsprechend nur über die Revision. Revisibel sind aber nur solche schwer wiegenden Verletzungen prozessualer Normen, die die Aufhebbarkeit der Entscheidung zur Folge haben (Art. 606 c.p.p.). Nicht möglich ist es, eine Revision auf Mängel in der Willensbildung zu stützen, wie beispielsweise die Tatsache, sich der Konsequenzen des Antrags nicht bewusst gewesen zu sein350. Mängel in der Willensbildung sollen deshalb nicht geltend gemacht werden können, weil für die Aufklärung der Mängel Ermittlungen in der Sache angestellt werden müssten, das Kassationsgericht aber eine reine Rechtsinstanz ist351. Ebenso unzulässig soll die Geltendmachung von Zweifeln an der Angemessenheit der Strafe sein352. 348
Vgl. Cass. pen. sez. IV, 17. März 2003, Dir. pen. e proc. 2003, 570. Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 216; allgemein zum Zusammenhang zwischen Unschuldsvermutung und Anfechtungsinteresse im patteggiamento Di Chiara, in: Percorsi di procedura penale. Il processo come garanzia: tra crisi e valori del sistema, S. 209 ff. 350 Cass. pen. sez. III, 18. März 1997, Giur. it. 1998, 1917, mit Anmerkung von Aitàla, in der Entscheidung wird die Unerheblichkeit der Gründe, die zum Konsens führen, für die Entscheidung über die Wirksamkeit der Einigung hervorgehoben, da der Richter nur über die Freiwilligkeit des Antrags nicht aber über dessen Motive zu befinden habe (S. 1920), ebenso wenig soll die Entscheidung wegen der vor der Einigung eingetretenen Verjährung anfechtbar sein, da in der Übereinkunft ein unwiderruflicher Verzicht auf die Verjährung liege, Cass. pen. sez. II, 27. Januar 2004, Arch. n. proc. pen. 2005, 240. 351 Zur Unerheblichkeit eventueller Willensmängel, im Besonderen zum Kalkulationsirrtum hinsichtlich des beantragten Strafmaßes, siehe Cass. sez. V. 27. September 2002, n. 35594, Guida al diritto, 3/2003, 78. 349
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
Die Strafminderung wird auf das von den Parteien nach Abwägung der strafrelevanten Umstände vereinbarte Strafmaß angewandt. Eventuelle Kalkulationsirrtümer können daher ebenso wenig durch Anfechtung des Urteils geltend gemacht werden, da die Vereinbarung sich nicht auf die anfänglich indizierte Strafe und die möglichen sich anschließenden arithmetischen Rechnungen zur Stabilisierung des definitiven Strafmaßes beziehe, sondern die richterliche Kontrolle vielmehr erst das Endresultat des beantragten Strafmaßes erfasse353. Ausgeschlossen sein sollte zunächst ebenso die Möglichkeit, im Wege der Revision die falsche rechtliche Beurteilung der Tat geltend zu machen. Ausdrücklich wurden nur unheilbare und absolute Verfahrensfehler als zulässige Revisionsgründe anerkannt354. Von dieser Rechtsprechung ist das Kassationsgericht355 nunmehr abgerückt, indem es die Revisibilität der falschen rechtlichen Würdigung der Tat356 sowie der nicht korrekten Abwägung der Strafzumessungsumstände für zulässig erachtete. Nach Art. 444 Abs. 2 c.p.p. ist die rechtliche Subsumtion des Sachverhaltes sowie die Anwendung und Abwägung der strafzumessungsrelevanten Umstände der Disposition der Parteien explizit entzogen. Somit unterliege die Verständigung in diesem Bereich der Kontrolle durch das Revisionsgericht357. Die Wiederaufnhame des Verfahrens nach einem Urteil im Wege eines patteggiamento sollte nach Auffassung des Kassationsgerichts nicht zulässig sein, da der Angeklagte durch den konsensualen Antrag sich der Möglichkeit beraubt 352
Cass. pen. sez. III, 16. Februar 1999, Giust. pen. 2000, 115. Cass. pen. sez. VI, sent. 18. Juni 1992, Giur. it. 1994, Sp. 122, mit Anmerkung von Romano, ebd. Sp. 121; diese Rechtsprechung bestätigend Cass. pen. sez. II, 19. April 2004, Arch. n. proc. pen. 2004, 410, vgl. zur Angreifbarkeit von Kalkulationsfehlern im Übrigen auch Cass. pen. sez. VI, 21. April 2004, Arch. n. proc. pen. 2005, 368. 354 Cass. pen. sez. V, 23. Juni 1998, Cass. pen. 1999, 3196; die Revision könne indes nicht auf die mangelnde Überprüfung der Sachfragen gestützt werden, die rechtliche Qualifikation der Tat sei nicht revisibel, Cass. pen. 7. Januar 1993, Giur. it. 1994, II, 693, 696, mit Anmerkung von Paulesu; im konkreten Fall war die nicht durchgeführte Einführung der vom Gericht zwecks Entscheidung über den Antrag eingesehen Ermittlungsakten in die Akte der Hauptverhandlung gerügt worden. 355 Cass. sez. un. 28 April 2000, Giur. it. 2002, 372 ff., mit Anmerkung von Del Coco, in dieser Entscheidung wurde die Revisibilität der nicht erfolgten Kontrolle der vereinbarten Strafzumessungsumstände durch das Gericht anerkannt; Cass. sez. III, 19. April 2000, Giust. pen. 2002, III, 41; Cass. pen. sez. VI, 4. März 1998, Cass. pen. 1999, 1891, hier ist das Urteil aufgehoben worden, da die falsche rechtliche Würdigung dazu führe, dass die Einigung auf einem rechtlichen Irrtum in einem essenziellen Punkt beruhe. 356 Cass. sez. IV, 28. September 1999, Arch. n. proc. pen. 2000, 308; Cass. sez. VI. 24. Juni 1998, Arch. n. proc. pen. 1998, 872; Cass. sez. V, 9. Oktober 1996, Arch. n. proc. pen. 1997, 37; nach Cass. pen. sez. VI, 29. Juli 2003, Arch. n. proc. pen. 2005, 368, soll die Anfechtbarkeit allerdings auf Fälle „offensichtlicher Inkongruenz“ beschränkt bleiben. 357 Del Coco, Giur. it. 2002, 372, 373. 353
IV. Das patteggiamento im Dienste der Prozessökonomie
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habe, sich durch neue Beweise zu verteidigen oder sich auf die Unschuldsvermutung zu berufen358. Nunmehr ist aber durch Einführung eines entsprechenden passus in Art. 629 c.p.p. (Condanne soggette a revisione) durch das Gesetz 134/ 2003359 die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens ausdrücklich in der Prozessordnung verankert. Die Vereinbarkeit der Einführung dieses außerordentlichen Rechtsbehelfs der Wiederaufnahme mit der Struktur des einvernehmlichen Verfahrens ist aber angesichts der kosensualen Entscheidungsgrundlage durchaus fraglich360. h) Die Rechtsfolgen als Anreize für die Verfahrensökonomie Grundsätzlich soll nach Art. 445 c.p.p. die gerichtliche Entscheidung, die einen Antrag auf Strafverhängung annimmt, einem Schuldspruch gleichgestellt sein. Die gesetzlichen Abweichungen sind in Art. 445 c.p.p. als besondere Vergünstigungen des Verfahrens geregelt. Allerdings ist durch das Gesetz 134/2003 die Einheitlichkeit der Rechtsfolgen aufgehoben worden. Die Strafvergünstigungen unterteilen sich nunmehr in zwei Kategorien. So gelten die Vergünstigungen auf der Rechtsfolgenebene nach Art. 445 Abs. 1 c.p.p. nur für den Anwendungsbereich des „alten“ patteggiamento innerhalb eines Strafrahmens von bis zu zwei Jahren. Eine dogmatische Begründung dieser Differenzierung der Rechtsfolgen eines Konsualantrages, die allgemeine Anerkennung genießen könnte, scheint indes noch nicht gefunden. Zunächst sieht das Gesetz in Art. 445 Abs. 1 c.p.p. die Freistellung von der Pflicht vor, die Kosten des Verfahrens zu tragen. Nach Art. 444 Abs. 2 c.p.p. fallen unter die Kosten, von deren Tragung der im patteggiamento Verurteilte befreit ist, nicht solche, die einer dem Verfahren beigetretenen Zivilpartei ent358 Cass. pen. 24. März 1993, Arch. n. proc. pen. 1993, 611; Cass. 16. April, 1993, Arch. n. proc. pen. 763; so auch Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 149, der darauf hinweist, dass bei Zulassung der Revision zu Fragen der Tatwertung der Ausschluss der Berufung, der sich gerade auf den konsensualen Charakter des Verfahrens stützt, unterlaufen würde. 359 Legge n. 134/2003, Gazz. uff. n. 136 vom 14. Juni 2003. 360 Zu den problematischen praktischen Folgen dieser Vorschrift siehe Peroni, Dir. pen. e proc. 2003, 1067, 1074, der darauf hinweist, dass es gerade im Wesen einer Entscheidung im patteggiamento liege, dass sie auf einer unvollständigen Beweisgrundlage basiere. Daher werde es schwierig, eine Wiederaufnahme nach Art. 630c c.p.p., der die Möglichkeit der Wiederaufnahme für die Fälle vorsieht, in denen nach Verurteilung neue Beweise entdeckt werden, auch für den Fall begründeter Antragsstrafen auszuschließen. So sieht Cremonesi, Diritto e giustizia 2003, 24, 15, die Vorschrift als „unlogisch“, da in dem besonderen konsensualen Verfahren die zweite Sachinstanz durch die Nichtanfechtbarkeit im Wege der Berufung gerade ausgeschlossen sein soll und nun durch ein außerordentliches Rechtsmittel wie die Wiederaufnahme doch zugelassen werde; einen umfassenden Überblick zu der neuen Vorschrift liefern auch Scalfati, in: Patteggiamento allargato e giustizia penale, S. 47 ff.; sowie Cappa, in: Patteggiamento allargato e sistema penale, S. 153 ff.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
standen sind. Die Vorschrift geht auf eine Entscheidung des Verfassungsgerichts zurück, die die Entbindung von der Tragung dieser Kosten als verfassungswidrig erklärte361. Weitere besondere Rechtsfolgen, die sich bereits im „alten“ patteggiamento von 1981 fanden, sind der Ausschluss von Nebenstrafen und Sicherungsmaßnahmen. Verwaltungsrechtliche Sanktionen, die von Gesetzes wegen folgen, werden indes nicht ausgeschlossen, sondern folgen vielmehr automatisch362. Die abschließende Regelung der abweichenden Rechtsfolgen stößt besonders dort auf schwierige Interpretationsfragen, wo sie sich ungenauer Rechtsbegriffe bedient. Das materielle italienische Strafrecht bestimmt den Begriff der Nebenstrafen nicht eindeutig. Daher hat sich die Rechtsprechungen in zahlreichen Entscheidungen mit der Frage auseinandersetzen müssen, welche Sanktionen unter diesen Begriff fallen und somit dem Angeklagten nicht auferlegt werden können363. Einheitlich ist die Rechtsprechung zu diesem Thema nicht. Darüber hinaus sieht das Gesetz den Ausschluss von Sicherungsmaßnahmen vor364. In der alten Regelung des patteggiamento in dem Gesetz von 1981 war 361
Corte cost. sent. 26. September 1990, n. 443, Cass. pen. 1990, 372. Montagni, Giur. merito, 2001, 1204, 1219, wie bspw. der Entzug der Fahrerlaubnis, Cass. sez. un. 27. Mai 1998, CED (Centro elettronico documentazione), Cass. n. 210981, oder die Ausweisung (espulsione) oder der Abriss missbräuchlicher Bauten, Cass. sez. un. 27. März 1992, Cass. pen. 1992, 2060; vgl. auch Cass. pen. sez. I, 13. Feburar 2002, n. 5936, Riv. pen. 2002, 831; im konkreten Fall „espulsione“; Cass. pen. sez. IV, 13. Juli 2001, n. 3096, Riv. pen. 2002, 270; zu dem Problem der außerstrafrechtlichen Rechtsfolgen nach dem Gesetz 134/2003 vgl. Carrata, in: Patteggiamento „allargato“ e giustizia penale, S. 93 ff. 363 An dem Beispiel des Einzugs der Fahrerlaubnis lässt sich die doppelte Problematik erläutern. Zunächst muss der Einzug rechtlich qualifiziert werden, da das Gesetz ihn nicht definiert. Das Verfassungsgericht, Corte cost., 5. Juni 1996, n. 184, Cass. pen. 1997, 2975, mit Anmerkung von Nuzzo, hat sich für den verwaltungsrechtlichen Charakter ausgesprochen. Ein Zweifel aus dem Weg geräumt, taucht ein nächster auf. Handelt es sich nicht um eine Nebenstrafe, bleibt immer noch die Frage, ob eine verwaltungsrechtliche Sanktion im Wege des patteggiamento verhängt werden kann, oder ob es hierfür nicht auch einer positiven Schuldfeststellung bedarf. Auch zu dieser Frage liefert die Rechtsprechung viel Widersprüchliches. So hat das Kassationsgericht in einer Entscheidung, Cass. pen. sez. V, 30. Oktober 1996, Cass. pen. 1998, 205, betont, dass für den Einzug des Führerscheins eine positive Feststellung der Straftat erforderlich sei, und dass eine solche im patteggiamento nicht erfolge, und daher im Rahmen dieses abgekürzten Verfahrens die Verwaltungssanktion nicht verhängt werden könne. In einer späteren Entscheidung der sezioni unite desselben Gerichts, Cass. pen. sez. un., 27. Mai 1998, Cass. pen. 1999, 840, blieb das Gericht zwar der rechtlichen Qualifizierung der Sanktion treu, schloss aber einen neuen Kunstgriff an, um deren Anwendung auch im patteggiamento zu ermöglichen. Zwar beinhalte die Verfahrensbeendigung durch das vereinfachte Verfahren keine Schuldfeststellung. Dies sei jedoch nicht unvereinbar mit Verwaltungssanktionen. Da für letztere lediglich die Beziehung zwischen Sachverhalt und Verletzung des öffentlichen Interesses entscheidend sei und es auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit demnach gar nicht ankäme. Diese Kategorie sei den Verwaltungssanktionen vielmehr vollkommen fremd. 362
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dieser Ausschluss weniger bedeutend, da die Anwendung des patteggiamento auf die Zuständigkeit des Amtsrichters und die Verhängung von Ersatzstrafen beschränkt war und sich somit auf die leichtere Kriminalität konzentrierte. Nach der Reform ist der Anwendungsbereich jedoch so ausgeweitet, dass er nicht mehr nur die leichte Kriminalität umfasst. Vor diesem Hintergrund wird der Ausschluss vor allem der persönlichen Sicherungsmaßnahmen prekär365. Die Relevanz sozialer Gefährlichkeit tritt hinter die Bedürfnisse der Prozessökonomie zurück366. Auch ist eine Interpretation, die dem Gericht die Möglichkeit gibt, den Antrag dann abzulehnen, wenn er eine Sicherungsmaßnahme für notwendig hält, dadurch verwehrt, dass im Strafbefehlsverfahren in Art. 459 Abs. 4 c.p.p. eine solche Lösung explizit festgelegt ist. Wäre es Absicht des Gesetzgebers gewesen, im patteggiamento ebenso zu verfahren, hätte er wohl auch hier eine solche Regelung vorgesehen. Maßnahmen der Sicherung können daher im Verfahren des patteggiamento grundsätzlich nicht verhängt werden. Sollte es sich hierbei lediglich um einen prozessualen Anreiz für den Angeklagten handeln, wäre dies gemessen an dem Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft eine zweifelhafte Vorschrift. Einsichtiger wird der Ausschluss, wenn man ihn auf die beschränkte Tatsachenfeststellung in der Entscheidung zurückführt. Eine weitere Besonderheit im Rahmen der Rechtsfolgen ergibt sich dadurch, dass das Urteil nach einem patteggiamento, auch wenn es, wie im Fall des Art. 448 c.p.p. erst nach Abschluss der Hauptverhandlung verkündet wird, nach Art. 445 c.p.p. keine Feststellungswirkung in Zivil- oder Verwaltungsverfahren entfaltet. Diese Vergünstigung gilt unabhängig von der Höhe des verhängten Strafmaßes und erfasst somit auch das erweiterte patteggiamento. Die Grundregeln über die Feststellungswirkung des strafrechtlichen Urteils stellen die Art. 651, 654 c.p.p. auf. Danach hat das rechtskräftige Strafurteil, das am Ende einer kontradiktorischen Hautverhandlung ergangen ist, Feststellungswirkung in sachlicher und rechtlicher Hinsicht in einem zivil- oder verwaltungsrechtlichen Prozess (Art. 651 Abs 1 c.p.p.). Folglich ist selbstverständlich, dass das Urteil nach einem patteggiamento, das bereits im Laufe der Vorermittlungen oder der Zwischenverhandlung stattgefunden hat, schon nach den allgemeinen Regeln keine Feststellungswirkung entfaltet, weil es gerade nicht nach einer streitigen Hauptverhandlung ergeht. Art. 445 c.p.p. konstituiert aber inso364 Ausgenommen von diesem Grundsatz ist allerdings die Konfiszierung nach Art. 240 c.p. von mit der Straftat oder den aus dieser gezogenen Gewinnen in Verbindung stehenden Gegenständen, die als Ausnahmefall auch nach einem patteggiamentoUrteil zur Anwendung kommt, Art. 445 Abs. 1 c.p.p. 365 Verfassungsrechtliche Zweifel am Ausschluss der Sicherungsmaßnahmen hat die Corte cost. mit Beschluss vom 20. Juni 1995, n. 271, Dir. pen. e proc. 1995, 1150 f. für offensichtlich unzulässig erklärt, da die vorgelegte Frage nur scheinbar eine Aufhebungsentscheidung, in der Sache aber die Einführung einer vom Gesetz nicht vorgesehenen Sicherungsmaßnahme bezwecke. 366 Macchia, Il patteggiamento, S. 57.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
weit eine weitere Ausnahme für die Rechtfolgen des patteggiamento-Urteils, als nach dieser Vorschrift auch die Urteile nach Art. 448 c.p.p. keine Feststellungswirkung haben und somit weder in Bezug auf die zu Grunde liegenden Tatsachen noch im Hinblick auf deren Rechtswidrigkeit bindend sind367. Auch diese Sonderregeln zur Feststellungswirkung lassen sich auf den Mangel an vollständiger Sachverhaltsaufklärung und Schuldfeststellung zurückführen368. Ein weiterer nicht minder zu Buche schlagender Grund dürfte indes ein zusätzlicher Anreiz für den Beschuldigten sein, auf das verkürzende Verfahren zurückzugreifen. Der Ausschluss der Feststellungswirkung wird nunmehr durch legislatorisches Eingreifen aufgeweicht. Mit Gesetz vom 27. März 2001369 wird die Feststellungswirkung des Urteils explizit auf Disziplinarverfahren ausgedehnt. Cremonesi370 beurteilt diesen Schritt als ein Anzeichen dafür, dass man durch das Fenster das eintreten lasse, was durch die Tür aufgrund der mit einem patteggiamento verbundenen Vergünstigungen nicht eintreten dürfe. Der Grundsatz, dass das Urteil keine außerprozessuale Feststellung bewirken darf, wird deutlich eingeschränkt. Das ausgehandelte Urteil wird einem ordentlichen, am Ende einer streitigen Hauptverhandlung erkannten Urteil auch auf normativer Ebene weiter angenähert und der Grundsatz, dass die Feststellungen im konsensualen Verfahren von „selbstständiger und andersartiger“371 Natur sind, weiter ausgehöhlt. 367 Allerdings können sämtliche Urteile zu Beweiszwecken nach Art. 328 bis c.p.p. in andere auch zivilrechtliche Verfahren eingeführt werden und unterliegen dann der freien Beweiswürdigung des Gerichts. 368 In diesem Sinn auch Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 483; vgl. auch Corte cost., 11. Dezember 1995, n. 499, Giur. cost. 1995, 4256, wo die beschränkte Feststellung explizit damit begründet wird, dass das Urteil nicht die Natur eines „wirklichen Schuldspruchs“ habe; dies gelte sowohl wegen des konsensualen Inhalts als auch wegen der nicht erfolgten vollständigen Tatsachen- und Beweiswürdigung. 369 Gesetz vom 27. März 2001, n. 97, Gazz. uff. n. 80 vom 5. April 2001; durch das zitierte Gesetz ist Art. 653 c.p.p. um den Absatz 1 bis erweitert worden, der die Rechtskrafterstreckung des Urteils für Disziplinarverfahren auch in Bezug auf die Feststellungswirkung der Tat und deren Rechtswidrigkeit vorschreibt. Durch das Gesetz n. 134/2003 wurde diese Neuerung auch direkt in Art. 445 c.p.p. durch die Einführung des Abs. 1 bis integriert. Durch eine Entscheidung des Verfassungsgerichts, corte. cost. sent. 25. Juli 2002, n. 349, Arch. n. proc. pen. 2003, 105, ist das Gesetz n. 97/2003 insoweit für verfassungswidrig erklärt worden, als es die Feststellungswirkung für das Disziplinarverfahren auch mit Rückwirkung für Verfahren vor Einführung des Gesetzes vorsah. Zur Diskussion um die Auswirkungen auf eventuelle Disziplinarverfahren vor Gesetzesänderung vgl. Peroni, La sentenza di patteggiamento, S. 133 f.; zu den Konsequenzen auf familienrechtliche Streitigkeiten, ders., a. a. O., S. 136 f. 370 Cremonesi, Giust. pen. 2001, 724, 729. 371 So die Wertung bei Cremonesi, a. a. O.: „. . . gli accertamenti probatori erano distinti ed autonomi“.
IV. Das patteggiamento im Dienste der Prozessökonomie
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Eine weitere gesetzlich vorgesehene Rechtsfolge ist das Erlöschen der Straftat. Mit dem Erlöschen der Tat ist diese nicht mehr strafbar. Das materielle Recht sieht in den Artikeln 150–170 c.p. verschiedene Erlöschensgründe vor, unter die beispielsweise die Verjährung und die Strafaussetzung zur Bewährung (Artikel 163 ff. c.p.) fallen. In der ersten Form des patteggiamento von 1981 erklärte das Gericht nach Art. 77 Abs. 1 l. 689/1981 mit der Verhängung der beantragten Strafe die Straftat für erloschen. Diese Lösung erschien als zu weit gehend und wurde nicht beibehalten. In der aktuellen Fassung ist die Regelung des Erlöschens den Bestimmungen über die Strafaussetzung zur Bewährung nicht unähnlich. Die Tat gilt als erloschen, wenn der Täter über fünf Jahre im Falle eines Deliktes oder über zwei Jahre im Falle einer Kontravention nicht ein weiteres Delikt oder eine weitere Kontravention der gleichen Art begeht372. Die gesetzliche Ausweitung des Anwendungsbereichs des patteggiamento durch das Gesetz 134/2003 auf einen Maximalstrafrahmen von fünf Jahren erstreckt sich allerdings auch hier in den Rechtsfolgen nicht bis auf die Erlöschensgründe nach Art. 445 Abs. 2 c.p.p. So hat das zitierte Gesetz ausdrücklich in Art. 445 Abs. 2 die Erlöschenswirkung auf die Fälle beschränkt, in denen die beantragte und somit verhängte Freiheitsstrafe zwei Jahre nicht übersteigt. Nach Ablauf der Bewährungsfrist erlischt die Straftat, wenn der Verurteilte keine Straftat derselben Art begangen und den Auflagen entsprochen hat (Art. 167 c.p.). Nach Art. 445 Abs. 2 c.p.p. erlischt nicht nur die Tat, sondern auch jede Rechtsfolge der Tat, was beim Erlöschen nach Ablauf der Bewährungsfrist nicht der Fall ist. Was das Erlöschen der Rechtsfolgen im konkreten Fall beispielsweise in Bezug auf die Rückfallregeln, die Beurteilung der Gefährlichkeit des Täters oder die subjektiven Bedingungen für die Verhängung von Ersatzstrafen bedeutet, ist sehr umstritten und die Rechtsprechung in diesen folgenschweren Fragen nicht einheitlich373. Das Erlöschen aller Rechtsfolgen soll aber dazu führen, dass ein Urteilsspruch nach einem patteggiamento nicht dazu führen kann, dass ein zuvor in einem anderen Verfahren erklärter Straferlass zurückgenommen werden kann374. Diese Regel soll also einen weiteren Anreiz für den Beschuldigten schaffen, auf das verkürzende Verfahren zurückzugreifen375. In die gleiche Richtung geht
372 Die Kategorien der „delitti“ und der „contravvenzioni“ sind denen von Verbrechen und Vergehen vergleichbar, aber nicht deckungsgleich. Die Strafen für den jeweiligen Typ der Straftat sind in den Artikeln 17 ff. c.p. geregelt. 373 Macchia, Il patteggiamento, S. 65, will ein patteggiamento-Urteil im Hinblick auf die genannten Fragen nicht berücksichtigen; dieser Wertung in Bezug auf die Rückfallregeln voll entsprechend, Cass. pen. 12. September 1996, CED Cass. n. 205575; anders aber z. B. in Bezug auf die Frage der Wiederholungstäterschaft, Cass. pen. sez. III, 3. April 1998, Cass. pen. 1999, 3194. 374 Vgl. Cass. pen. 16. Oktober 1995, Cass. pen. 1996, 3422; die Entscheidung bekräftigend auch Cass. pen. 20. März 1997, Cass. pen. 1998, 1434.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
auch die gesetzliche Vorschrift, dass die Entscheidung eines patteggiamento nicht im polizeilichen Führungszeugnis eingetragen wird376. Abschließend lässt sich jedoch festhalten, dass weder Rechtsprechung noch Literatur sich darin einig sind, wie weit die Folgen eines Urteils im patteggiamento reichen. Die Tendenz geht aber wohl dahin, dass der ausgehandelten Entscheidung im Zweifelsfall feststellende Wirkung zukommen soll. Das lässt sich auch aus dem jüngeren Gesetz von 2001, das die Wirkungen auf Disziplinarverfahren regelt, herauslesen und in zahlreiche Entscheidungen des Kassationsgerichts zu den indirekten Rechtsfolgen hineinlesen377. 3. Der Strafnachlass des patteggiamento Das materielle italienische Strafrecht gibt Sanktionsrahmen vor. Über die Strafzwecke schweigt das Strafgesetzbuch (codice penale). Die Verfassung hingegen bestimmt in Art. 27 Abs. 3 cost., dass die Strafe keine Maßnahmen beinhalten dürfe, die gegen die Menschlichkeit verstoßen, und dass sie der rieducazione378 dienen müsse. In der ersten verfassungsrechtlichen Voraussetzung rechtsstaatlich legitimierter Strafe werden Zugeständnisse an die Vergeltungstheorien gesehen, in dem Gebot der rieducazione sollen indes spezialpräventive Strafzwecke ihren Niederschlag finden379. Die ausdrückliche Erwähnung des Resozialisierungsgedankens in der Verfassung kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die italienische Rechtswissenschaft fest in den Vergeltungstheorien verankert ist380. Das Verfassungsgericht geht inzwischen von plurifunktionalen Strafzwecken aus, nachdem es in seinen ersten Entscheidungen eindeutig eine retributive Straftheorie vertre375 Zu den Rechtsfolgen und ihrem Verhältnis zum materiellen Recht unter besonderer Berücksichtigung des „Erlöschens der Tat“ und der „Bindung an die Strafaussetzung zur Bewährung“ siehe, Antonini, Studium Juris, 1999, 1395 ff. 376 Zwar wird die Entscheidung im Strafregister eingetragen, aber in den polizeilichen Führungszeugnissen, die der Betroffene bei Bedarf beantragt, wird die „Verurteilung“ nach Art. 689 Abs. 2a Nr. 5 und b c.p.p. nicht aufgeführt. 377 Auf die gesetzlich nicht geregelten Rechtsfolgen und die diesbezügliche Rechtsprechung wird noch im Folgenden unter V. 3. gesondert eingegangen. 378 In diesem Begriff steckt sowohl der Erziehungs- als auch der Resozialisierungsgedanke, vgl. hierzu Pittaro, in: Il patteggiamento, S. 5, 13. 379 So Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 20; Pittaro, in: Il patteggiamento, S. 5, 13. 380 So urteilt auch Furgiuele, S. 40, der insbesondere davon ausgeht, dass auch die verfassungsrechtliche Formulierung die „objektivistische“ Ausrichtung der Prozessordnung, nach der das Recht zu strafen aus dem Tatunrecht folgt, nicht umkehrt; zum Vergeltungsgedanken als ein der Strafe grundsätzlich eigenes Prinzip, vgl. Eusebi, Riv. it. dir. e proc. pen., 1983, 1315 ff.; zu einer soziologisch fundierten Konzeption des Vergeltungsgedanken im Strafrecht, Ronco, Il Problema della pena, S. 198 ff.
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ten hatte381. Grundsätzliche Unverträglichkeiten des patteggiamento mit dem materiellen Strafrecht werden vor allem im Bereich der Strafzumessung gesehen382. a) Unverträglichkeit mit den materiellen Strafzumessungsvorschriften Im Rahmen eines patteggiamento einigen sich die Parteien auf ein Strafmaß, das als Vergünstigung für kooperatives Verhalten um bis zu einem Drittel der schuldangemessenen Strafe gemindert wird; die Möglichkeit dieser Reduzierung ist in Art. 444 c.p.p. ausdrücklich verankert. In dieser gesetzlich vorgeschriebenen Strafmilderung liegt einer der hauptsächlichen Anreize für die Wahl des summarischen Verfahrens383. Der durch Art. 444 c.p.p. gewährte Strafnachlass kommt erst zur Anwendung, wenn das konkrete Strafmaß durch die Parteien bereits bestimmt ist384. Einigt man sich auf eine für die der Einigung zugrunde liegende Tat angemessene Strafe, so wird von dieser bis zu einem Drittel abgezogen. Die Rechtsprechung ist sich inzwischen einig, dass die Minderung nicht aus einem strafmildernden Umstand im Sinne des materiellen Strafrechts resultieren kann, sondern als ein rein prozessuales Rechtsinstitut zu verstehen ist385. Zunächst hatte man versucht die Strafminderung materiellrechtlich über Art. 133 Abs. 2 Nr. 3 c.p. zu rechtfertigen, der das Verhalten zur Tatzeit oder nach der Tat als strafmaßrelevant berücksichtigt386. Eine Eingliederung des einvernehmlich bestimmten Strafmaßes in die gesetzlichen Vorgaben wurde so über das 381
Vgl. zu dieser Tendenz Pittaro, in: Il patteggiamento, S. 5, 16. Pittaro, a. a. O., S. 22 konstatiert Irrationalitäten, Widersprüche und Antinomien im Strafrechtssystem als ganzem, die darauf zurückzuführen sind, dass die Reformen der einzelnen Bereiche des Prozesses, Vollzugs und materiellen Strafrechts nicht konsequent aufeinander abgestimmt sind. 383 Zunächst hatte die Formulierung „diminuita fino ad un terzo“ Diskussionen um deren semantischen Gehalt ausgelöst, da eine Interpretation sowohl im Sinne einer Reduzierung „um ein Drittel“ als auch einer Minderung „auf ein Drittel“ möglich ist. Der Streit galt jedoch bald als entschieden, da eine Reduzierung auf ein Drittel den Rahmen der angemessenen Strafe verlassen müsste, vgl. hierzu Lattanzi, Cass. pen. 1989, 2105, 2106. Diese Auslegung wurde durch eine frühe Entscheidung der sezioni unite des Kassationsgerichtshofes bestätigt, Cass. pen. sez. un., 24. März 1990, Cass. pen. 1990 II, 118, sodass nunmehr Einigkeit in Literatur und Rechtsprechung besteht. 384 Vgl. Cass. pen. sez. un., Giur. it. 1992, II, 242. 385 Vgl. Lattanzi, codice di procedura penale, Art. 444, Ziff. 5; so auch schon Tafi, Arch. n. proc. pen. 1993, 491, 492, mit weiteren Rechtsprechungshinweisen. In diesem Sinn auch die schon früh erfolgte eindeutige Wertung des Kassationsgerichts, Cass. pen. sez. un., 1. Oktober 1991, Foro it. 1992, II, 15, dass die Strafmilderung unabhängig von der Tat und der Persönlichkeit des Täters erfolge, sondern sich ausschließlich auf die „die prozessuale Verdienstlichkeit“ beziehe. 386 Vgl. hierzu. Padovani, Riv. it. dir. e proc. pen. 1989, 916, 933 ff. 382
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Nachtatverhalten als Zumessungskriterium versucht387. Gegen diese Lösung wurde jedoch eingewandt, dass die gesetzlichen Kriterien dazu dienen sollen, das Ermessen des Richters im Rahmen des Strafmaßspielraumes zu leiten und daher keine Abweichungen vom gesetzlich vorgesehenen Strafrahmen legitimieren können388. Einigkeit besteht darüber, dass die gesetzlichen Strafvergünstigungen in erster Linie dazu dienen, zusätzliche Anreize für die Wahl der besonderen Verfahren zu schaffen, und somit pragmatisch motiviert sind. b) Von einer materiellen zu einer prozessualen Strafzumessungslehre Die Berührungspunkte, die das patteggiamento mit der Lehre von der Strafzumessung aufweist, stellen die zentrale Verbindung zwischen prozessualen und materiellen Aspekten der Regelung dar. Das Problem der gesetzlichen Strafmilderung bildete den Dreh- und Angelpunkt der inneren Logik der „ausgehandelten Gerechtigkeit“389. Zum einen führt das materielle Strafrecht in Art. 133 c.p. einige Parameter der Strafzumessung auf, zum anderen ist anerkannt, dass das Gericht in der Strafzumessung im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben über einen gewissen Ermessensspielraum verfügt390. Allerdings ist man sich in Lehre und Rechtsprechung weitgehend einig, dass die Strafmilderungen eines patteggiamento nicht unter die allgemeinen gesetzlichen materiellrechtlichen Strafmilderungsgründe subsumiert werden können, da sie in keiner inneren Beziehung zur vorgeworfenen Tat stehen391. Ob sich die Strafmilderungen, die das patteggiamento gewährt, noch mit den anerkannten Strafzwecken vereinbaren lassen, wird zum Teil durchaus bezweifelt392. Zunächst war man versucht, die Strafmilderungen über generalpräventive Aspekte zu rechtfertigen. Da sie durch die Entlastung der Gerichte von 387 Vgl. Padovani, a. a. O., 933, der von einer „Kapitulation“ des Angeklagten vor dem staatlichen Strafanspruch spricht. 388 Furgiuele, S. 41. 389 Marafioti, La giusitzia penale negoziata, S. 434. 390 Pittaro, in: Il patteggiamento, S. 9; Art. 133 Abs. 1 c.p. bezieht sich auf die Schwere der Tat, Abs. 2 hingegen macht die „Verbrechensgeneigtheit“ (capacità a delinquere) zum Gegenstand. Das Gesetz sieht mithin sowohl retributive als auch präventive Strafzwecke vor. 391 Marafioti, a. a. O.; eine weitere, in sich widersprüchliche Anbindung der Strafmilderung an die gesetzlichen Zumessungsregeln hat Furgiuele, S. 43, über Art. 62 bis c.p. versucht, der die allgemeinen strafmildernden Umstände bestimmt. 392 Von der Unvereinbarkeit der Strafmilderung mit den „klassischen Funktionen“ der Strafe spricht bspw. Donini, Non punibilità ed idea negoziale (unveröffentlichter Vortrag), zitiert von Pavarini, in Montagni: il patteggiamento della pena, S. 5.
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zeitaufwendigen Hauptverhandlungen der Effektivität der Strafverfolgung zu dienen haben, seien sie die Antwort auf typische generalpräventive Bedürfnisse393. Es wird darauf hingewiesen, dass retributive Strafzwecke in eine konsensuale Strafmaßbestimmung nur schwer einfließen können394. Grundsätzliche Kritik mit Blick auf die Straftheorien übt Montagni395. Folge man der Rechtsprechungstendenz, dass das Urteil keinen Schuldspruch beinhaltet, könne die verhängte Sanktion weder präventiv noch retributiv nützlich sein. Die zunehmende Durchsetzung des Prozessrechtes mit rechtsgeschäftlichen Orientierungen führe vielmehr zu einer wachsenden Ineffektivität und Unsicherheit in der staatlichen Sanktionierung strafrechtlich relevanten Verhaltens.396 Da sich unüberwindbare dogmatische Schwierigkeiten stellten, den Strafnachlass über die traditionell etablierten Strafzwecke zu rechtfertigen, hat man auch den entgegen gesetzten Weg beschritten, indem die Funktionalität der Vergünstigung in den Vordergrund gerückt wurde. Anstatt eine Strafe zu verhängen, die sich an der Schwere der Tat ausrichtet, verspräche Art. 444 c.p.p. eine Strafe, die sich nach den Bedürfnissen der Funktion der Prozessökonomie bestimme397. Legitimiert werden soll diese Form der Sanktionsbestimmung durch den übereinstimmenden Willen der Parteien, der die Interessengegensätze überwinde398. Die Dispositionsbefugnis der Parteien soll allerdings auch nach diesem Verständnis durch die Kontrollzuständigkeit des Richters abgeschwächt werden. Das eigentliche Novum an der konsensualen Strafmaßbestimmung sei das Hereinbrechen einer Logik der Prozessökonomie in die Strafzwecke, indem es möglich werde, dass sich die Strafzumessung an die ausgehandelte Lösung von Interessenkonflikten zwischen den Parteien bindet399. Mit anderen Worten 393 Padovani, Riv. it. dir. proc. pen., 1989, 933; in diesem Sinn auch Bonavolontà, Il nuovo processo penale nel suo aspetto pratico, S. 206. 394 Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 169; Montagni, Il patteggiemanto della pena, S. 77. 395 Montagni, Il patteggiamento della pena, S. 77. 396 Furgiuele, S. 43. 397 Dolcini, Riv. it. dir. e proc. pen. 1990, 797, 805; von einer „Pseudozumessung“ der Strafe sprechen in diesem Zusammenhang Monaco/Paliero, Riv. it. dir. e proc. pen. 1994, 421, 445; da Grundlage der Strafzumessung im patteggiamento lediglich die Anklage nicht aber eine bewiesene Tat sei, fehle jede „seriöse Bedingung für die justizielle Individualisierung der Strafe“. 398 Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 170; einen anderen Weg der Rechtfertigung geht Montagni, Il patteggiamento della pena, S. 79, indem er die Legitimierung des patteggiamento in einem „typisch prozessualen Bereich“ ansiedelt, nämlich in dem „praktischen Bedarf“ an Entlastung des Justizsystems. 399 Pavarini, in: Il patteggimaneto della pena, S. 5, der von einer neuen „realtà della pena“ spricht, in der die Unterscheidung zwischen „gerechter Strafe“ (pena giusta) und „nützlicher Strafe (pena utile) nicht mehr geeignet ist, über Strafe zu philosophieren, weil sie der Vergangenheit des Strafrechts angehört (S. 6).
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werden neue Parameter der Strafzumessung zugelassen. Ein prozessual geprägter funktionaler Zumessungsmaßstab wird nunmehr ausdrücklich anerkannt400. c) Ergebnis: Prozessökonomische Strafzumessung Dass die Rechtfertigung des Strafnachlasses die italienische Wissenschaft vor so schwer wiegende dogmatische Zweifel gestellt hat, macht deutlich, dass auch in diesem Zusammenhang die deklarierte Etablierung des akkusatorischen Systems nicht zu einem grundsätzlichen Umdenken geführt hat. Vereinzelt wird zwar das Hereinbrechen funktionalistischer Erwägungen in die Strafzumessungskriterien in den konsensualen Verfahren als ein Fortschritt bewertet, der den Strafnachlass selbstständig zu legitimieren vermag. In der Regel wird dieses eigenständige Legitimierungsmoment allerdings in der Prozessökonomie und nicht in dem „gerechten“ Konsens selbst gesehen, und damit bleibt es bei einer Funktionalität nur um der Effektivität willen. Dies zeigt, wie weit der italienische Strafprozess noch immer von einem wirklichen Parteiprozess entfernt ist. Der funktionale Strafnachlass wird weitgehend noch nicht in Bezug zu einem gerechten, sondern lediglich zu einem prozessökonomischen Ergebnis gesehen. 4. Der praktische Misserfolg des patteggiamento Die starke Resonanz, die das patteggiamento in Rechtsprechung und Lehre gefunden hat, steht in keiner Relation zu der quantitativ spärlichen Anwendung. Zeigte sich die Prozessrechtswissenschaft nach Verabschiedung der Novellierung noch sehr zuversichtlich401, so wuchs mit den Jahren die Kritik an der neuen Prozessordnung und mit dieser die Aufweichung der akkusatorischen Grundstruktur. Zahlreich sind die Entscheidungen des Kassations- und Verfassungsgerichts zur konsensualen Verfahrenserledigung im patteggiamento, verhält400 Für eine Öffnung der Strafzumessungskriterien unter Bemühung eines Bildes aus der Wirtschaft, in dem sich zwei gleichermaßen heterogene Größen wie Tat und Strafe gegenüberstehen vor bereits über zwanzig Jahren Pagliaro, Riv. it. dir. e proc. pen. 1981, 25, 33: so wie die Entsprechung von Ware und Preis sich in einem praktischen Urteil reguliere, könne sich auch das Verhältnis von Strafe und Tat in der Praxis der Rechtsprechung regulieren; auch Monaco/Pagliaro, Riv. it. dir. e proc. pen. 1994, 421, 454 f. sehen die Strafzumessung im patteggiamento als „eine Sache der Parteien“, die „weniger den Zielen von Vergeltung und Prävention dient, als vielmehr von den Erfordernissen der Prozessökonomie abhängt“. 401 Amodio, ZStW 102 (1990), 181, 195 erklärte, dass die italienische Prozessrechtswissenschaft große Genugtuung darüber empfinde, „dass sie zum ersten mal ein Strafprozesssystem hervorgebracht hat, das in einem einheitlichen und völlig neuen Modell das kontinentale Erbe mit dem für das akkusatorische Verfahren typischen Parteiprozess verschmilzt“; vgl. zur anfänglich positiven Resonanz auch die Darstellung bei Neppi Modona, in: Studi in ricordo di Pisapia, 447, 452.
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nismäßig gering ist jedoch die Anwendung in den Sachinstanzen402. Die erhoffte Entlastung für das Justizwesen ist nicht in erwartetem Maß eingetreten. In den offiziellen Berichten der Staatsanwaltschaften zum Gerichtsjahr 2000403 werden die unhaltbaren Zeiträume bemängelt, die zwischen Begehung der Tat und Entscheidung über die Tat liegen. Die Schwächen des Systems werden vor allem der Ineffizienz der neuen Strafprozessordnung im Allgemeinen und dem Misserfolg der alternativen, beschleunigten Verfahren im Besonderen angelastet. Die Anwendung dieser Verfahren sei so gering, dass die beabsichtigte entlastende Wirkung für die Justiz, nämlich die Deflation der Hauptverhandlung, verfehlt würde404. Die Voraussetzung für einen funktionierenden akkusatorischen Prozess, dass die förmliche Hauptverhandlung die Ausnahme und nicht die Regel sein muss, habe sich praktisch in ihr Gegenteil verkehrt405. So wurden denn auch 2003 noch verstärkt Forderungen an den Gesetzgeber gestellt, weitere Anreize für das patteggiamento zu schaffen406. Verschiedene Gründe werden für die geringe Anwendung der alternativen Verfahren angeführt. Aus anwaltlicher Sicht wird teilweise die Meinung vertreten, ein Rückgriff auf die alternativen Verfahren käme einer Schmälerung der eigenen Professionalität gleich, weil man sie für eine inaktive Form der Verteidigung hält, der die „Theatralität“ eines abschließenden Plädoyers fehle407. Die guten Absichten des Gesetzgebers seien durch die Gesetzesanwender – und unter diesen vor allem durch die Vertreter der Verteidiger – praktisch verraten worden, weil die Anwälte es nicht verstanden hätten, den neu geforderten Typ des Verteidigers, der selbst aktiv in frühem Stadium ermittelt, umzusetzen408. 402 Statistische Daten bei Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, 601 ff. und in monitoraggio ministeriale, Ministero di Grazia e Giustizia, Direzione generale degli Affari Penali, Nuovo codice di procedura penale – Monitoraggio (Oktober 1989–Dezember 1997), Roma, novembre 1998. 403 Relazioni per l’anno giudizairio 2000 a cura dei procuratori generali, abzurufen über die Internetseite des italienischen Justizministeriums www.giustizia.it. 404 Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. XI; die durchschnittliche Verfahrensdauer ist 2002 gegenüber den Vorjahren noch weiter angestiegen, vgl. Negri, Guida al diritto, 2003/3, S. 11. 405 Relazione sull’amministrazione della giustizia dell’anno 1999 di Antonio La Torre, Procuratore generale presso la Suprema Corte di Cassazione, Roma, 12. Januar 2000, abzurufen über www.giustizia.it; die überlange Verfahrensdauer wird zudem ausufernden Rückgriffen auf die Rechtsmittel durch die Rechtsanwälte angelastet, hierzu Randazzo, Il sole 24 ore, 3/2003, S. 20. 406 Negri, Guida al diritto, 2003/3, 11; diese Forderungen mündeten in das bereits mehrfach zitierte Gesetz n. 134/2003, Gazz. uff. n. 136 vom 14. Juni 2003; kritisch zu der Tendenz, den Anwendungsbereich immer wieder auszudehnen, De Lalla Millul, Dir. pen. e proc. 1997, 621, 622. 407 Stefani, S. XVI. 408 Stefani, S. 38, der an das Bewusstsein einer erforderlichen „Mentalitätsumstellung aller professionell am Verfahren Beteiligten“ appelliert, ohne jedoch je auf mögliche Drucksituationen für den Beschuldigten hinzuweisen.
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Daneben wird auch das Zusammentreffen verschiedener in der Rechtskultur Italiens wurzelnder Faktoren angeführt: wie die geringe Neigung zum Pragmatismus, die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen und gesetzgeberischen Aktivitäten zur Stärkung der rechtsstaatlichen Garantien sowie die leicht zu Verjährung führende Verfahrensdauer409. Insbesondere wird herausgestellt, dass die Aussicht auf eine gewisse und vorhersehbare, wenn auch reduzierte Strafe dann an Attraktivität einbüßt, wenn im ordentlichen Verfahren darauf spekuliert werden kann, dass durch überlange Verfahren auf Verjährung zu hoffen ist oder durch sonstige Strafvergünstigungen, wie Amnestie, Straferlass, Strafaussetzung oder sonstige strafmildernde Umstände die Ungewissheit der Strafe für den Angeklagten höhere Anreize bietet410. Die überlange Dauer der ordentlichen Verfahren und die damit verbundenen indirekten Strafvergünstigungen werden damit zu einem Hauptgrund für das Scheitern der verkürzten Verfahren erklärt. Dazu trat ein weiterer Aspekt, der eher mit dem rechtskulturellen Hintergrund des Strafprozesses verbunden ist. So weist Neppi Modona411 darauf hin, dass die weit verbreitete Zurückhaltung in den Reihen der Justiz gegenüber der „Philosophie“ der neuen Verfahrensformen sich in zahlreichen Vorlagen der kritischen Richter an das Verfassungsgericht manifestiert. 5. Ergebnis: Systemwidrige Reduzierung des Konsenses auf die Prozessökonomie Dass die Parteien über den Antrag auf Strafverhängung insoweit disponieren können, als es dem Gericht verwehrt ist, den Antrag abzuändern, sondern es diesen nur ganz annehmen oder ablehnen kann, ändert nichts an der vorherrschenden Überzeugung in der italienischen Wissenschaft und Rechtsprechung, dass es prinzipiell unmöglich bleiben soll, über die Tat als solche zu disponieren. Diese Entwicklung steht aber nicht in Einklang mit der ursprünglichen „Weichenstellung“ des Gesetzgebers. Die amtliche Begründung zum Entwurf 409 Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 607, unter Verweis auf die relazione del Procuratore Generale della Core d’appello di Milano. So hatte die notorische Überlastung der Justiz derartige Ausmaße angenommen, dass viele Beschuldigte auf einen glimpflichen Verfahrensausgang einzig aus diesem Grund hoffen konnten; Marx/Grilli, GA 1990, 499, weisen darauf hin, dass die Überlastung der Justiz dazu beitrug, die Verurteilungsquote drastisch zu senken; so hätten nach Angaben des Corriere della sera vom 11.01.1990 im Jahr 1988 über 50% der verhandelten Fälle zum Freispruch geführt. 410 Vgl. relazione del procuratore generale della Corte d’appello di Caltanissetta, abzurufen über www.giusitzia.it. 411 Neppi Modona, in: Studi in ricordo di Pisapia, S. 447, 462, mit Zusammenfassung zur verfassunsgrechtlichen Rechtsprechung zum patteggiamento.
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der neuen Strafprozessordnung hatte sich eindeutig für den rechtsgeschäftlichen Charakter des Instituts ausgesprochen und dementsprechend die den gesamten Prozessgegenstand umfassende Dispositionsbefugnis der Parteien gegenüber den Prüfungskompetenzen des Gerichts in den Vordergrund gerückt412. Die Überprüfung des Antrags durch das Gericht teilt sich nach nunmehr überwiegender Auffassung praktisch in zwei Phasen413. Zunächst ist von Amts wegen auf Grundlage der Akten zu klären, ob ein Freispruch nach Art. 129 c.p.p. auszusprechen ist; erst im Folgenden wird die Prüfung der Annahme oder Ablehnung des Antrags durch den Inhalt des konkreten Antrags begrenzt. Die erste Phase, die der Prüfung möglicher Strafbarkeitsausschließungsgründe gilt, ist von den sezioni unite des Kassationsgerichtshofs direkt auf das „höhere Erfordernis materieller Gerechtigkeit“ zurückgeführt worden. Die Funktionalität der zweiten Phase liege hingegen ausschließlich in prozessökonomischen Erwägungen, da auf diesem Weg ein Urteil ergehen könne, das keinen Ausspruch über die strafrechtliche Verantwortlichkeit beinhalte414. Somit soll der Effizienz-
412 Amtliche Begründung zum Gesetzentwurf der neuen Strafprozessordnung (relazione al progetto preliminare del codice di procedura penale), Lex, 1988, 333, 530; explizit ausgeschlossen wurde das Erfordernis der Feststellung der Verantwortlichkeit und das Prüfrecht über die Angemessenheit der Strafe, weil es sich hierbei um solche Aspekte handelte, die der Entscheidung der Parteien vorbehalten sein sollten. Der definitive Gesetzestext weist aber in Art. 448 Abs. 1 c.p.p. eine Ergänzung gegenüber dem Entwurf hinsichtlich der gerichtlichen Prüfung der Angemessenheit auf. Für den Fall, dass die Staatsanwaltschaft ihre Zustimmung verweigert und das Gericht am Ende der Hauptverhandlung dem Antrag entgegen der Verweigerung entspricht, verbleibt ihm die Prüfungskompetenz für die Angemessenheit der Strafe. Dies wurde in der amtlichen Begründung zum definitiven Gesetzestext (relazione al testo definitivo del codice di procedura penale), LEX 1988, 627, 684, damit begründet, dass das Nichtvorliegen der Zustimmung eine Stärkung der gerichtlichen Prüfung rechtfertigt. Die Dispositionsfreiheit der Parteien über die Bestimmung der angemessen Strafe erforderte somit den Konsens der Parteien; von einer „Gegentendenz“ in diesem Sinn spricht auch Lorusso, Provvedimenti „allo stato degli atti“ e processo penale di parti, S. 65. Ebenso hebt Marzaduri, in: Costituzione, diritto e processo penale, S. 85, 92, hervor, dass die ursprüngliche Form des patteggiamento in der Reform von 1988 – anders als in der späteren Entwicklung – der Parteienübereinkunft die das Verfahren „bestimmende Rolle“ überließ und die richterliche Überprüfung „extrem reduziert“ worden war. 413 Zur „biphasischen“ Konstruktion der Entscheidung vgl. auch Cass. pen. sez. un., 25. November 1998, Cass. pen. 1999, 1746, 1749, sowie die Anmerkung von Peroni, ebd., S. 1755, 1756; gegen die Unterteilung in zwei Phasen mit unterschiedlichen Erkenntnismaßstäben Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 290 ff. 414 Cass. pen. sez. un., 25. November 1998, Cass. pen. 1999, 1746, 1749. Die gerichtliche Kontrolle soll aber eine reine „Negativprüfung“ sein und bedeute nicht etwa, dass das Vorliegen strafrechtlicher Verantwortlichkeit auf diesem Wege bejaht würde, a. a. O., S. 1759. Zur äußerst kontrovers diskutierten Frage, ob und inwieweit das Urteil eines patteggiamento einen Ausspruch über die strafrechtliche Verantwortlichkeit beinhaltet, ausführlich sogleich im nächsten Punkt (V.).
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gedanke zu einem eigenständigen Legitimierungsfaktor für die summarischen Verfahren avancieren415. Da aber die Prüfung der rechtlichen Subsumtion sowie der Abwägung der strafzumessungsrelevanten Umstände und der Angemessenheit der Strafe nicht auf die Grundlage der im Antrag formulierten Einigung beschränkt bleibt, sondern die Aktenlage den Prüfungsmaßstab bildet, ist auch in dieser zweiten Phase die Dispositionsbefugnis durch das Ergebnis der Ermittlungsakten eingeschränkt416. Der Konsens allein ist mithin nicht hinreichend, um die Strafverhängung zu legitimieren, sondern eine etwaige Abweichung im Antrag von der ursprünglichen rechtlichen Würdigung der Tat in der Anklage muss durch die Aktenlage, die die objektive Richtigkeit der Entscheidung verbürgen soll, gestützt werden417. 415 Vgl. zu dieser Tendenz Grevi, Alla ricerca di un prcesso penale „giusto“, S. XX f., der den Effizienzgedanken praktisch auf das Argumentationsniveau der „gerechten Entscheidung“ erhebt, den prozessualen Beschuldigtengarantien hingegen rein instrumentellen Charakter zuspricht (S. 306); Bricola, Ind. pen., 1989, 313, 331, weist auf die Rechtsprechung der corte cost. hin, die die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege in Abwägung mit gegenläufigen prozessualen Belangen mit eigenständigem Verfassungsrang ausgestattet hat; corte cost. 20. Juli 1990, n. 355, giur. cost. 1990, 2220, 2221; in dieser Entscheidung wird explizit das patteggiamento über den verfassungsrechtlichen Grundsatz der „Funktionstüchtigkeit der Justiztätigkeit“ (buon andamento dell’attività giudiziaria) gerechtfertigt; anders aber Tranchina, in: Studi in ricordo di Pisapia, S. 745, 749, der feststellt, dass die Infragestellung grundsätzlicher Verfahrensrinzipien im Namen der Verfahrenseffizienz mit sich bringe, dass die Bedeutung der gesamten Strafrechtsprechung aufs Spiel gesetzt würde. Marafioti, La giustizia penale negoziata, S. 450, definiert das Wesen der Prozessökonomie unter Rückgriff auf den Titel eines Aufsatzes von Schumann, Prozessökonomie als rechtsethisches Prinzip, in Festschrift für Larenz, S. 277 ff., als ein „Prinzip juristisch-ethischer Natur“, das „auf prozessualer Ebene die Manifestierung der verfassungsrechtlichen Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und des Gleichheitsgebots darstellt“; gegen die Stilisierung des Effizienzgedanken zu einem absoluten Wert, vgl. auch Arcese, leg. e gius. 1990, 108, 112, der dem Effizienzgebot nur insoweit die Bedeutung eines Grundsatzes anerkennt, als er geeignet ist, den verfassungsrechtlichen Grundsätzen zum Durchbruch zu verhelfen. 416 Vgl. die Entscheidung Cass. sez. II. 27. Mai, 1992, Riv. pen., 1993, 1147; das Gericht hatte hier dem strafschärfenden Umstand der gemeinschaftlichen Tatbegehung Rechnung getragen, obwohl der Umstand nur aus den Akten, nicht aber aus dem Antrag resultierte und den Antrag dementsprechend abgelehnt; besonders deutlich wird diese Einschränkung in einer Entscheidung des Kassationsgerichts Cass. pen. sez. V, 16. Januar 2002, n. 18122, Arch. n. proc. pen., 2002, S. 594 = Riv. pen. 2002, 831, die den Fall betrifft, in dem die rechtliche Würdigung der Tat, wie sie aus dem konsensualen Antrag resultiert, nicht mit derjenigen übereinstimmt, die der ursprünglichen Anklage zugrunde lag. Das Gericht könne bei Abweichung dem Antrag nur dann entsprechen, wenn es die Abweichung, nachdem es die Ermittlungsakten hinzugezogen hat, angemessen begründen kann; vgl. in diesem Sinn auch Cass. pen. sez. II, 12. Mai 2000, Giust. pen. 2002, III, 39. 417 Entspricht die gerichtliche Begründung eines patteggiamento-Urteils, nicht den Anforderungen, Abweichungen in der rechtlichen Qualifikation der Tat hinreichend zu erklären, so ist nach einem Urteil des Kassationsgerichtshofs das Urteil aufzuheben, vgl. Cass. pen. sez. I, 24. November 2001, n. 42738, Riv. pen. 2002, 503.
IV. Das patteggiamento im Dienste der Prozessökonomie
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Der Inhalt der Übereinkunft soll somit im Ergebnis nicht zur Disposition der Parteien stehen418. Hierin aber liegt die prozessuale Antinomie, da doch eine vollständige Schuldfeststellung gerade nicht gefordert wird und das Einvernehmen der Parteien die Grundlage des Urteils bildet. Eine konsensuale Entscheidung soll somit an Maßstäben der Ergebnisrichtigkeit gemessen und dennoch eine positive Tatsachenfeststellung durch das Gericht entbehrlich werden. Wird aber dem Konsens eigene legitimatorische Wirkung verwehrt und die einvernhemliche Verfahrensabkürzung auf den Gedanken der Prozessökonomie reduziert, so muss nach inquisitorischem Muster das Ermittlungsmaterial der „Aktenlage“ mit „verkappter“ Beweisqualität ausgestattet werden. Diese Aufwertung der Aktenlage ist verantwortlich für den Vorwurf eines systemwidrigen „inquisitorischen Rückschritts“419 und verkennt die eigentliche Bedeutung des Konsenses im einvernehmlichen Verfahren. Dass die Konzeption des Reformgesetzgebers die dargestellte Antinomie zugunsten eines auch legitimatorisch wirkenden Konsensprinzips gelöst wissen wollte, ergibt sich zudem aus einem weiteren gesetzlichen Detail. Denn die Überprüfung der Einigung anhand der Aktenlage wird schon dadurch relativiert, dass das dem Gericht durch die Parteien zur Verfügung gestellte Aktenmaterial seinerseits in die Disposition der Parteien fällt. Diese Besonderheit des patteggiamento lässt sich besonders gegenüber dem verfahrensabkürzenden giudizio abbreviato, der einen Konsens lediglich über die Entbehrlichkeit der Hauptver418 Die Kodifizierung des patteggiamento wird dementsprechend auch als Garant dafür verstanden, dass das Verfahren nicht in Konflikt mit den tragenden Prozess- und Verfassungsgrundsätzen tritt, vgl. zu diesem Argument, Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 6 f.; in dieser Argumentation, wird die „Gewissensberuhigung“, die in der Beibehaltung des Grundsatzes eines „indisponiblen Verfahrensgegenstandes“ liegt, besonders deutlich. Denn gerade die Indisponibilität verhindere, dass sich in das italienische System ein wirkliches Vergleichsgeschäft mit vollständiger Dispositionsbefugnis für die Parteien einschleiche. Aufgrund des Legalitätsprinzips kollidiert demnach eine vollständige Dispositionsbefugnis der Parteien über den Verfahrensgegenstand mit den Grundsätzen des Verfahrens. Die Notwendigkeit gerichtlicher Kontrolle als Auswirkung des Legalitätsprinzips mache jede Einigung „hinter verschlossenen Türen“ mit dem Angeklagten zu einem rechtswidrigen Unterfangen, (S. 7). 419 So weist auch Ferrua, Studi sul processo penale, II, 33, darauf hin, dass „wenn sich die Dispositionsbefugnisse der Parteien verflüchtigen, sich im Gleichschritt der Eintritt und die Beteiligung des Gerichts in die rechtsgeschäftliche Logik abzeichnet, und das Institut im inquisitorsichen Sinn verdreht“; siehe hierzu auch Orlandi, ZStW 116 (2204), 120, 127, dem die „heutige italienische Gesetzgebung im Bereich der ,konsensualen Strafjustiz‘ eher das Zeichen einer inquisitorischen Erbschaft, ja Nostalgie zu sein“ scheint „als das Ergebnis einer rationalen Wahl, die mit der Kultur des ,adversary system‘ in Einklang steht“; hierbei bezieht er sich insbesondere auf „die Gefahr, von den konsensualen Verfahrensarten übermäßigen Gebrauch zu machen“, um dem politischen Bedürfnis entsprechend „so viele Straftaten wie möglich zu verfolgen“; vgl. zum inquisitorischen Ruck durch die Aufwertung der Zwischenverhandlung auch oben III. 3.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
handlung fordert, darlegen. Für letzteres Verfahren, in dem sich der Konsens auf prozessuale Aspekte beschränkt, ist unabdingbare Voraussetzung eine Erklärung des Gerichts, nach der es in der Lage ist, auf Grundlage der Akten zu entscheiden. Im patteggiamento ist eine entsprechende Erklärung gerade nicht erforderlich. Dementsprechend sind es die Parteien, die die „factual basis“ verbindlich bestimmen, über die das Gericht in einer rechtlichen Würdigung zu entscheiden hat420. Die Reduzierung des patteggiamento auf seine verfahrensbeschleunigende Funktion, die in der Rechtsprechung und weiten Teilen der Literatur zu verzeichnen ist, wird der ursprünglichen Reformkonzeption der Einigung nicht gerecht. So führen auch die Versuche, das besondere Verfahren aus dem Gedanken der Prozessökonomie zu rechtfertigen, nicht aus der prozessualen Antinomie eines indisponiblen Verfahrensgegenstandes auf konsensualer Entscheidungsgrundlage heraus421.
V. Die ausgehandelte Entscheidung: Schuldspruch oder Urteil eigener Art? – Eine exemplarische Grundsatzfrage zum reformierten Strafprozess Das patteggiamento zwischen den Parteien findet in der richterlichen Entscheidung, der sentenza, seinen prozessrechtlichen Abschluss. In den Auseinandersetzungen über die rechtliche Qualifizierung dieser Entscheidung kristallisiert sich die gesamte Diskussion um die systematische Einordnung des Instituts. Durch die Erweiterung des Anwendungsbereichs des patteggiamento durch das Gesetz 134/2003 und die somit erfolgte Differenzierung in zwei Verfahrenstypen hat das Problem an Brisanz noch gewonnen. Die Frage, wie die Rechtsnatur der gerichtlichen Entscheidung zu werten ist, ist weit mehr als ein terminologisches Problem. Sie berührt das Kernthema der eigentlichen Funktion des alternativen Verfahrens, ob nämlich das Urteil eine Tatsachen- und Schuldfeststellung durch das Gericht impliziert oder die Parteivereinbarung als sachliche Grundlage hinreichen soll, um die Strafverhängung zu legitimieren422. 420
Di Chiara, in: Il patteggiamento, S. 25, 46. Zur Verfahrensökonomie als untauglichem Rechtsfertigungsmaßstab schon oben Kapitel 2 III. 4. a); eine grundsätzliche Infragestellung der tragenden Grundsätze des Strafverfahrens fordert auch Ruggiero, in: Patteggiamento allargato e sistema penale, S. 35, 77 ff. 422 Zu einer zusammenfassenden Wertung der Tendenzen in Rechtsprechung und Lehre, Vigoni, in: I procedimenti speciali in materia penale, 236 ff.; wie auch dies., L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 308; zu der spezifischen Problematik der Rechtsnatur nach der Gesetzesnovelle 134/2003 siehe Fischetti, Arch. n. proc. pen. 2004, 11, 15, der die These aufstellt, dass nunmehr von zwei unterschiedlichen Typen der Rechtsnatur auszugehen ist, je nachdem ob es sich um einen Strafrahmen von über oder unter zwei Jahren handelt; in diesem Sinn auch Amodio, Cass. 421
V. Die Entscheidung: Schuldspruch oder Urteil eigener Art?
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Von der Lösung des Problems der Rechtsnatur hängen so wichtige Aspekte ab wie die formellen und inhaltlichen Voraussetzungen der Entscheidung und ihrer Begründung sowie die Frage der Rechtsfolgen und der möglichen Anfechtung423. Ebenso wird die Frage der Rechtsnatur entscheidend für die Rechtskrafterstreckung. Anknüpfungspunkt der gesamten Diskussion zur Rechtsnatur des Urteils ist auch hier das Problem, wie weit die Dispositionsbefugnis der Parteien reichen darf. Mit der Frage nach der Rechtsnatur der Entscheidung ist das Problem der rechtlichen Qualifizierung der Einigung zwischen den Parteien verbunden. Die Frage – Schuldspruch, Freispruch oder Urteil sui generis424. kann nicht ohne eine Klärung über die rechtliche Qualifizierung der prozessualen Einigung beantwortet werden. 1. Die Einigung als prozessuales Rechtsgeschäft In den ersten Jahren nach Einführung der gesetzlichen Regelung des patteggiamento schloss die Rechtsprechung den rechtsgeschäftlichen Charakter der Einigung weitgehend aus, da es sich um zwei einseitige Willenserklärungen handele, deren Übereinstimmung erst im Urteil des Richters vollzogen wird. Die Einigung sei zwar Grundlage der Entscheidung und limitiere die Entscheidungsgewalt des Gerichts, bleibe aber für die Entscheidung eine externe Vo-
pen. 2004, 700, 702, der das „erweiterte patteggiamento“ als ein neues eigenständiges Institut versteht. 423 Vgl. statt vieler Peroni, La sentenza di patteggiamento, S. 1; wie auch Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 308 f.; ebenso Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 145; so sieht auch Furgiuele, L’applicazione della pena su richiesta, S. 117, in der Frage der Rechtsnatur das Resultat der Auseinandersetzung in Lehre und Rechtsprechung zu dem allgemeinen Problem der Verfassungsmäßigkeit des Instituts; anders aber Nappi, Guida al codice di procedura penale, S. 516, der festhält, dass es sich im Grunde lediglich um eine terminologische Differenz handelt. 424 An dieser Stelle sei nur eine kurze einführende Zusammenstallung der Rechtsprechung zur Frage der Rechtsnatur angegeben: vgl. zu Entscheidungen der Corte di cass. für die Wertung als Schuldspruch: Cass. sez. fer. 6. September 1990, Giur. it. 1991, II, 218; sez. VI, 7. Mai 1991, Riv. pen. 1992, 593; Cass. sez. I, 8. Juli 1991, Riv. pen. 1992, 492; gegen Schuldspruch, Cass. sez. un. 27. Oktober 1999, Cass. pen. 2000, 1154; Cass. sez. I, dep. 25. März 1995, 1995, CED, Cass. n. 200503; Cass. sez. VI, 12. Juli 1991, Riv. pen. 1992, 679; Cass sez. VI, 26. Mai 1992, Riv. pen. 1993, 625; von der „diversità ontologica“ zwischen Schuldspruch und Urteil gem. Art. 444 c.p.p. spricht die Entscheidung, Cass. sez. un., dep. 8. Juli 1998, Arch. n. proc. pen. 1998, 375 ff.; für die Wertung als Urteil eigener Art in Form einer „pronuncia giurisdizionale senza giudizio“: Cass. sez. un., 8. Mai 1996, in Dir. pen. e proc. 1996, 1227, 1229, mit Anm. von Peroni, (S. 1230); Cass. sez. un.; 18. April 1997, Dir. pen. e proc. 1997, 1484, 1485, mit Anm. von Trevisson Lupacchini, ebd., S. 1489 ff.; gegen Schuldspruch in der Literatur: Romajoli, I procedimenti speciali nel codice di procedura penale, S. 89.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
raussetzung425. Von dieser Auffassung hat man sich in den folgenden Jahren jedoch weitgehend entfernt. Gefestigte und ständige Rechtsprechung des Kassationsgerichts ist nun vielmehr, dass es sich bei der Einigung in einem patteggiamento um ein prozessuales Rechtsgeschäft handele426, in dem zwei einseitige Willenserklärungen zur Deckung kommen427. Im Ergebnis kann die Lösung so verstanden werden, dass der entscheidende Unterschied zwischen einem materiellen und einem prozessualem Rechtsgeschäft darin bestehen soll, dass ein materielles zivilistisches Rechtsgeschäft die Rechtsfolgen bereits an die Einigung knüpft und materiellrechtlich wirkt. Diese unmittelbare Wirkung soll beim patteggiamento als einem prozessual formalen Rechtsgeschäft nicht eintreten. Grundlage der Sanktion ist somit nicht schon die Einigung selbst, sondern erst der richterliche Urteilsspruch. Auch in diesem Erklärungsmodell der rein prozessualen Natur der Einigung findet genau jenes „Innehalten auf halbem Wege“ statt, das bereits in der Darstellung der Gesamtreform herauszuarbeiten war. Auf der einen Seite wird mutig der rechtsgeschäftliche Charakter der Einigung herausgestellt und somit der Parteiendisposition das Wort geredet, auf der anderen Seite hindert 425 Cass. sez. I, 24. Juni 1991, Cass. pen., 1992, 715; vgl. hierzu auch Montagni, Il patteggiamento della pena, S. 25; sowie zu den zwei einseitigen Willenerklärungen auch Di Chiara, in: Il patteggiamento, S. 30 f.; von einer „prozessualen Voraussetzung“ in diesem Sinn spricht auch Cenci, Riv. it. dir. e proc. pen., 1993, 1420, 1423. 426 Nach Cass. pen. sez. V, 11. November 1999, n. 5054, in Arch. n. proc. pen., 2002, 95, sollen etwaige Kalkulationsirrtümer (errori nei calcoli intermedi) unerheblich sein, wenn der tatsächliche Wille (volontà sostanziale) noch zum Ausdruck käme; in diesem Sinne auch Cass. pen. sez. IV, 12. April 2000, n. 518, in Arch. n. proc. pen. 2001, 199; extremer in den Konsequenzen die Entscheidung Cass. pen. sez. VI, 2. Juni 2000, Arch. n. proc. pen., 2001, 200, nach der der Mangel fehlender Übereinstimmung zwischen Willen und Erklärung nicht als Anfechtungsgrund geltend gemacht werden kann, da auf das prozessuale Rechtsgeschäft des patteggiamento nicht die materiellrechtlichen, zivilistischen Regeln über Willensmängel, sondern die prozessualen Anfechtungsregeln anwendbar sind, die entsprechende Willensmängel nicht vorsehen; explizite Benennung als „negozio giuridico processuale“ ist ständige Rechtsprechung des Kassationsgerichts, vgl. statt vieler: Cass. pen. sez. III, 19. April 2000, Giust. pen. 2002, III, 41; Cass. pen. sez. VI, 11. Januar 2001, n. 3057, Riv. pen. 2002, 269; Cass. pen. sez. III, 9. Mai 2001, n. 18735, Riv. pen. 2002, 270; Cass. pen. sez. I, 14. März 1995, Cass. pen. 1996, 1910; Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 95, bezeichnet das patteggiamento als prozessuales Rechtsgeschäft mit materiellrechtlichen Auswirkungen. 427 Cass. pen. sez. VI, 20. März 1991, Cass. pen. 1993, 1198, 1199, nach dieser Entscheidung ist die Einigung ein „prozssuales Rechtsgeschäft, was so viel bedeutet, wie ein Aufeinandertreffen zweier Willenserklärungen, das darauf gerichtet ist, das staatliche Interesse an einem schnellen Strafprozess zu realisieren; Cass. pen. 24. Juni 1991, Cass. pen. 1992, 715, vgl. auch Lattanzi, Codice di procedura penale annotato con la giurisprudenza, Art. 444, Ziff. 2; Lattanzi/Lupo-Carcano, Art. 444, 2, S. 132; so auch Chiliberti/Roberti, in: Manuale pratico dei procedimenti speciali, S. 275, 354; anders aber die Wertung bei Conso/Grevi, Compendio di procedura penale, S. 531, die in der Einging eine „freiwillige Unterwerfung des Angeklagten unter die strafrechtliche Sanktion“ sehen.
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die Scheu vor der eigenen Courage die Anerkennung einer auch materiell wirkenden Einigung, so dass als Notbremse das rein prozessuale Wesen der Einigung herhalten muss, um die Dispositionsbefugnis in ihre Schranken zu weisen. Das prozessuale Rechtsgeschäft bedarf mithin stets der gerichtlichen Überprüfung, um materiell zu wirken. Nicht abschließend geklärt ist auch innerhalb der Rechtsprechung des Kassationsgerichts die Frage, ob die Stellung des Antrags auf Strafverhängung ein konkludentes Eingeständnis strafrechtlicher Verantwortung428 oder aber nur die prozessuale Erklärung bedeutet, dass man sich nicht verteidigen wolle und eine Strafe annehme, „die im Gegenzug für eingesparte Ressourcen und Zeit im allgemeinen Interesse der Justizkapazitäten gemildert worden sei“429. Auch in diesem Punkt sind Widersprüchlichkeiten nicht zu übersehen; denn wenn der prozessuale Charakter der Einigung dazu führt, dass diese selbst nicht unmittelbare Grundlage des Urteilsspruchs sein kann, so müsste klar daraus folgen, dass die Einigung als Prozesserklärung auch keine bindende Wirkung für ein Geständnis haben kann. Dass aber ein konkludentes Geständnis durchaus diskutiert und teilweise vorausgesetzt wird430, hängt unmittelbar damit zusammen, dass die Frage der Rechtsnatur des Urteils in keiner Weise abschließend geklärt ist. 2. Die Grundpositionen zur Rechtsnatur des Urteils Die Frage um die Rechtsnatur der Entscheidung ist in der Sache nichts anderes als der Streit darum, ob in der Verurteilung die Schuld des Verurteilten festgestellt wird oder ob sich das Strafurteil auf anderem Wege legitimiert. Im Wesentlichen lässt sich der Streit um die Rechtsnatur des nach einem patteggiamento ergangenen Urteils dementsprechend auf zwei Grundpositionen reduzieren: die erste sieht in der Entscheidung, die die beantragte Strafe verhängt, ein Schuldurteil, die zweite spricht von einem Urteil sui generis. Zwar läuft die Trennungslinie zwischen Vertretern der einen oder anderen Ansicht nicht wirklich parallel zu der Aufteilung in Lehre und Rechtsprechung. Und doch zeichnet sich eine gewisse Tendenz ab, dass die Stimmen in der Literatur und Rechtsprechung des Verfassungsgerichts eher der These vom Schuldurteil zuneigen431 und 428 So Cass. pen. 14. Mai 1991, Riv. pen. 1992, 491, indem der Angeklagte darauf verzichte, die Anklage zu bestreiten, gestehe er „per facta concludentia“ seine strafrechtliche Verantwortlichkeit zu. 429 So Cass. pen. 27. November 1995, Cass. pen. 1997, 1831. 430 Vgl. hierzu Coco, Temi Romana 1990, 333, 355; zur Wertung in dieser Tendenz auch Carrata, Riv. it. dir. e proc. pen., 2001, 439, 447, der im patteggiamento eine explizite Anerkennung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit sieht. 431 Verwiesen sei an dieser Stelle auf nur Fanchiotti, Cass. pen. 1991, 29 ff., ausführlicher zur These vom „Schuldurteil“ noch unter 2.a); auch wenn das Verfassungsgericht die explizite Klassifizierung des Urteils stets gemieden hat, tritt in der vom
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Vertreter der Interpretation als tertium genus432 vor allem in der Rechtsprechung des Kassationsgerichts zu finden sind. Auf die einzelnen Orientierungen innerhalb der Diskussion um die Rechtsnatur der Entscheidung wird noch gesondert einzugehen sein. An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, dass sich die höchste Rechtsprechung in dieser Frage nicht einig ist. Das verwundert besonders, wenn man sich der gravierenden Konsequenzen bewusst wird, die mit der unterschiedlichen Qualifizierung der Rechtsnatur und der Frage der Schuldfeststellung einhergehen. Da es am italienischen Kassationsgericht gemäß Art. 618 c.p.p. keine Vorlagepflicht gibt, wenn ein Senat von der Rechtsprechung eines anderen Senats abweichen will, sondern nur eine Vorlagebefugnis433, ergibt sich das Resultat erheblich divergierender Entscheidungen innerhalb der höchsten Rechtsprechung und damit eine hochgradige Rechtsunsicherheit.
Verfassungsgericht geforderten Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit als Voraussetzung eines Urteils im patteggiamento der Charakter eines impliziten Schuldurteils hervor, vgl. hierzu insbesondere die Entscheidung der Corte cost. sent. n. 155, 20. Mai 1996, Giur. cost. 1996, 1464, 1474. 432 Die Auffassung vom tertium genus, weil Urteil ohne Schuldfeststellung, vertreten vor allem die sezioni unite, vgl. z. B. Cass. pen. sez. un. 21. Juli 1998, Arch. n. proc. pen. 1998, 555, 558 (mit zahlreichen Nachweisen weiterer Entscheidungen); Cass. pen. sez. un., sent. 8. Juli 1998, Arch. n. proc. pen., 1998, 375; Cass. pen. sez. un., 18. April 1997, Dir. pen. e proc. 1997, 1484 ff.; Cass. pen. sez. un., 4. Juni 1996, Dir. pen. e proc. 1996, 1227 ff.; ältere Entscheidung Cass. pen. sez. I, 9. März 1990 (dep.), Cass. pen. 1990, II, 44; vgl. auch Cass. sez. un., 27. Oktober 1999, Cass. pen. 2000, S. 1148, 1154, in diesem Urteil wird der innere Widerspruch besonders deutlich: die Falschheit eines Dokumentes soll gem. Art. 537 c.p.p. nur durch den Richter festgestellt werden können, allerdings nicht aufgrund der Natur der Entscheidung, die eben kein Schuldspruch sei und keine strafrechtliche Verantwortlichkeit feststelle, sondern allein wegen der Feststellung der Tatsachen, die in der Entscheidung sehr wohl enthalten sei (S. 11543 f.); Montagni, Il patteggiamento della pena, S. 77, spricht von gefestigter Rechtsprechung der sezioni unite, die im Urteil eines patteggiamento-Verfahrens keine Schuldfeststellung sieht, sondern lediglich eine Entscheidung, die die Tat einzig auf der Grundlage der Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft feststelle; Altieri, Arch. n. proc. pen., 2002, 387, geht von der „einfachen Betrachtung aus, dass die konsensuale Strafe außerhalb jeglicher Feststellung strafrechtlicher Verantwortlichkeit verhängt wird“; für Einordnung als „tertium genus“ in der Literatur siehe auch Fanizzi, Riv. pen. 1994, 117 ff.; Maccarrone, Giust. pen. 1994, 413, 416, der im patteggiamento eine Aussetzung der Verhandlung über die Feststellung strafrechtlicher Verantwortlichkeit sieht; gegen die Einordnung als „tertium genus“ Cremonesi, Arch. n. proc. pen. 2002, 619, 622. 433 Auch wenn vereinzelt darauf hingewiesen wurde, dass sich aus Art. 618 c.p.p. eine Vorlagepflicht herauslesen lasse für die Fälle, in denen die Streitfrage selbst zu divergierenden Ansichten in der Rechtsprechung geführt hat oder führen kann, vgl. Gaito, codice di procedura penale annotato con la giurisprudenza, Art. 618, indem er die Entscheidung der sez. VI vom 12.10.1993, Mass. uff. 1960, 29, zitiert, so muss doch festgehalten werden, dass in der Frage der Rechtsnatur der Entscheidung von einer Rechtssicherheit schaffenden abschließenden Entscheidung der sezioni unite nicht die Rede sein kann.
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a) Das Schuldurteil Sieht man in der Entscheidung des Gerichts ein Schuldurteil, so folgt dies aus der Überlegung, dass für eine Verurteilung die Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit unabdinglich ist. Dass die gesetzlich vorgesehene Gleichstellung mit einem Schuldurteil sich nicht auf die Rechtsfolgenseite beschränken und von der Feststellung auch der Tat- und Schuldfrage nicht absehen kann, wird insbesondere mit der grundsätzlichen Untrennbarkeit von Strafverhängung und Schuldfeststellung begründet434 oder abgeleitet aus der Unmöglichkeit, dass das Gericht, über die rechtliche Würdigung der Tat und das Nichtvorliegen von Strafausschließungsgründen nach Art. 129 c.p.p. sowie über die Angemessenheit der Strafe befinden kann, wenn es nicht zuvor die strafrechtliche Verantwortlichkeit festgestellt hat435. Weitere Begründungsmodelle für die Wertung als Schuldurteil folgen aus dem von einer Mindermeinung vorausgesetzten Geständnischarakter der Antragstellung oder der Zustimmung zu einem entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft436. Auch auf die Unschuldsvermutung wird das Erfordernis der Schuldfeststellung zurückgeführt, da diese verlange, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten stets bewiesen werden müsse, während die Unschuld auch aus Mangel an Beweisen erklärt wird. Das bedeute, dass ein Minimum an Beweisen für ein Urteil auch im Wege des patteggiamento erforderlich sei437. Obwohl das Verfassungsgericht mehr als das Kassationsgericht dem Erfordernis der Tat- und Schuldfeststellung anhängt438, hat es eine Verfassungsfrage, die Art. 444 c.p.p. insoweit rügte, als 434 Fiore, in Giust. pen. 2001, 220, 223, der auf die paradoxe Konsequenz verweist, dass die herrschende Meinung in der Rechtsprechung, die den Charakter eines Schuldurteil verneint, die Wiederaufnahme des Verfahrens grundsätzlich für unzulässig erklärt, und damit ein Urteil, das kein Schuldurteil ist, unangreifbarer wird als ein ordentlicher Schuldspruch; siehe auch Peroni, La sentenza di patteggiamento, 325 f., Segreto, Arch. n. proc. pen., 2000, 114, 118; so im Ergebnis auch Vigoni, L’applicazione di pena su richiesta delle parti, S. 345, 512; so weist Tonini bereits in einer Kommentierung zum endgültigen Gesetzentwurf, Giust. pen., 1988, 460, darauf hin, dass „klargestellt werden müsse, dass die Vereinfachung im Verfahren, nicht aber in der Entscheidung liege, die weiterhin gerichtet auf und getragen von einer seriösen Tatsachenfeststellung sein müsse; anders aber Lattanzi, Cass. pen. 1989, 2109, der das Absehen vom Erfordernis der Tatsachenfeststellung im Einklang mit dem System sieht, diese Position aber relativierend, stellt er fest, dass das Absehen von Sachverhaltsfeststellung auch ein Absehen von diesbezüglichen Ausführungen in der Begründung nicht aber ein Absehen vom Erfordernis der richterlichen Überzeugung bedeute. 435 Aitàla, Giur. it., 1998, 1920. 436 Coco, Temi Romana 1990, S. 355; zur Wertung in dieser Tendenz auch Carrata, Riv. it. pen. e proc., 2001, 439, 447, der im patteggiamento eine explizite Anerkennung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit sieht. 437 Lozzi, Riv. it. dir. e proc. pen., 1998, 1396, 1398, der sich darauf stützt, dass nicht die vollständige Feststellung der Wahrheit erforderlich sei und diese auch ausschließlich auf den Vorermittlungen basieren könne, welche durch impliziten Verzicht auf das kontradiktorische Verfahren Beweiswert erlangten (S. 1400).
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er keine Schuldfeststellung vorsieht, für offensichtlich unzulässig erklärt439. Das Verfassungsgericht geht also einen etwas scheuen Mittelweg, indem es sich einerseits für das Erfordernis der Tatsachenfeststellung ausspricht440, andererseits aber zugesteht – zumindest soweit es den eingeschränkten Anwendungsbereich des „alten“ patteggiamento vor 2003 betraf –, dass es sich um keine vollständige Schuldfeststellung handele441. Es bleibt der Widerspruch, dass die Entscheidung nach Art. 444 c.p.p. vom Beweis der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nicht absehen darf442, eine vollständige Feststellung der Schuld aber nicht gefordert wird443. Farbe bekennt das Verfassungsgericht nicht, doch nostalgische Töne, die nach dem starken Gericht und den Schranken der Parteiendisposition rufen, sind nicht zu überhören. So sieht Giarda den „Clou“ der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen gerade in der „Rückbesinnung auf die zentrale Funktion des 438 Vgl. Corte cost. sent. n. 155, 20. Mai 1996, Giur. cost. 1996, 1464, 1474: „in gewisser Weise setzt es doch immer die Verantwortlichkeit voraus [. . .] wenn auch unleugbar eine vollständige Feststellung der Verantwortlichkeit fehlt“. 439 Corte cost. ord. n. 399, 11. Dezember, 1997, Giur. cost. 1997, 3733; die Unzulässigkeit wurde dadurch begründet, dass die Lösung der erhobenen Verfassungsfrage – nämlich dass nach Ansicht des vorlegenden Instanzgerichtes die Regelung des Art. 444 c.p.p. insoweit verfassungswidrig sei, als sie nicht vorsähe, dass im Urteil ein Schuldspruch erfolge – grundlegende Fragen der Struktur des Rechtsinstituts erfasse, die nicht verfassungsrechtlich bindend und somit dem Ermessen des Gesetzgebers vorbehalten sind. In dieser Entscheidung liegt aber im Grunde auch eine über die formale Zulässigkeit hinausgehende Begründung, da die Frage, ob eine Schuldfeststellung gesetzlich gefordert sein müsse, gerade für nicht verfassungsrechtlich bindend angesehen wird. Das liegt auf der Linie, dass das Verfassungsgericht am Erfordernis der Schuldfeststellung festhält, auch wenn es dies nicht explizit de lege lata fordert; hierzu widersprüchlich aber die Entscheidung Corte cost., 11. Dezember 1995, Foro it. 1996, I, 1152 = Dir. pen. e proc., 1996, 162, wo die beschränkte außerprozessuale Feststellungswirkung damit begründet wird, dass dem Urteil nicht die Natur eines Schuldspruchs zugesprochen werden kann. 440 Vgl. die Entscheidung n. 251 aus 1991, Giur. cost. 1991, 2056, 2061, in der die Hervorhebung des rechtsgeschäftlichen Charakters eines patteggiamento-Urteils, durch die Betonung, dass „primäre Grundlage des Urteils die Einigung zwischen den Parteien“ sei, mit der Bekräftigung einhergeht, dass die Bedeutung der Einigung nicht etwa das Erfordernis der Tatsachenfeststellung tangiere. 441 Corte. cost. 6. Juni 1991, n. 251, Giust. pen., 1991, I, Sp. 299 = Cass. pen. 1991, II, 708 = Giur. cost. 1991, 2056 ff., in dieser Entscheidung wird explizit darauf hingewiesen, dass es sich nicht um eine vollständige Schuldfeststellung handele, sondern dass das patteggiamento-Urteil seine primäre Grundlage in der Einigung zwischen den Parteien finde, Giur. cost. 1991, 2056, 2061; Corte cost. 11. Dezember 1995, n. 499, Foro it. 1996, I, Sp. 1152 = Dir. pen. e proc., 1996, 162; vgl. auch Corte cost. 20. Mai 1996 n. 155, Cass. pen. 1996, 2861. 442 Vgl. statt vieler Corte cost. sent. 124 aus 1992, Giur. cost. 1992, 1064, 1065, wie auch Corte cost. sent. n. 313 aus 1990, Foro it. 1990, 2385, 2401, in beiden Entscheidungen fällt die Formulierung, dass auch ein patteggiamento „von den Beweisen der Verantworlichkeit nicht abesehen kann“. 443 Vgl. statt vieler Corte cost. sent. n. 155, 20. Mai 1996, Giur. cost. 1996, 1464, 1474.
V. Die Entscheidung: Schuldspruch oder Urteil eigener Art?
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Gerichts“ und in der Redimensionierung des Prinzips der Parteiendisposition über den Verfahrensgegenstand444. Es sei bereits hier angemerkt, dass es auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Kassationsgerichts nicht an solchen Entscheidungen fehlt, die von der Orientierung der sezioni unite abweichen und dementsprechend die Entscheidung klar als eine Verurteilung im Sinne eines Schuldspruchs definieren445. Begründet wird das Feststellungserfordernis mit der Pflicht des Richters, die Angemessenheit der Strafe zu prüfen; eine derartige Angemessenheitsprüfung setze die Schuldfeststellung voraus. Der Antrag auf Strafverhängung beinhaltet nach dieser Argumentation ein implizites Eingeständnis der strafrechtlichen Verantwortlichkeit446. Es handelt sich hierbei aber eher um vereinzelte Entscheidungen, da die Orientierung in der Rechtsprechung des Kassationsgerichts, insbesondere der sezioni unite, im allgemeinen ein anderes Lösungsmodell anbietet, wonach das auf ein patteggiamento ergehende Urteil weder ein Schuld-, noch ein Freispruch, sondern vielmehr ein Urteil eigener Art sei. b) Urteil eigener Art ohne Schuldfeststellung Zahlreiche Entscheidungen des Kassationsgerichts, insbesondere der sezioni unite447 stellen ausdrücklich heraus, dass es sich bei der Strafverhängung, die auf der Vereinbarung der Parteien beruht, nicht um ein Schuldurteil handele. Und doch kann trotz der klaren Aussagen der sezioni unite der Streit in der Rechtsprechung nicht als beigelegt gelten, sondern ist durch die Erweiterung des patteggiamento neu belebt worden448.
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Giarda, in: Le ragioni del diritto, S. 1871, 1872. Ausführlicher Verweis auf die entsprechenden Entscheidungen bei Cremonesi, S. 150 Fn. 22, der sogar davon ausgeht, dass diese Rechtsprechung einzelner sezioni entgegen der Tendenz der sezioni unite wohl die überwiegende Orientierung darstelle; für eine frühe Entscheidung sogar der sezioni unite pro Schuldspruch vgl. Cass. pen. sez. un. 27. März 1992, Cass. pen. 1992, 2046, 2051, wo es heißt, dass das Urteil in die Kategorie der Schuldurteile eingeordnet werden müsse, auch wenn es einige atypische Rechtsfolgen aufweise, jüngst ausdrücklich in Bezug auf den erweiterten Anwendungsbereich auch Cass. pen. sez. IV, 5. November 2003, Cass. pen. 2004, 3407. 446 Cass. pen. 13. Oktober 1993, Giust. pen. 1994, III, Sp. 464. 447 Verwiesen sei exemplarisch auf Cass. sez. I, 9. März 1990, Cass. pen. 1990, II, 44, 47; Anm. zu dieser Entscheidung von Fanchiotti, ebd., 1991, II, S. 29 ff. = Giust. pen. 1990, III, 271, mit Anm. von Taormina; Cass. pen. sez. un. 25. November 1998, in Cass. pen. 1999, 1746, 1749. 448 Nappi, Guida al codice di proceudra penale S. 525; unter Hinweis auf die noch immer kontroverse Rechtsprechungspraxis; vgl. zu der durch das Gesetz 134/2003 neu entfachten „Krise der Rechtsnatur der Entscheidung“ Vigoni, Cass. pen. 2004, 710, 713; siehe zu dem Streit auch Cecanese, in: Patteggiamento allargato e sistema penale, S. 127, 147, der auch für den erweiterten Anwendungsbereich eine positive Schuldfeststellung nicht für erforderlich hält. 445
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Die Ablehnung der Wertung als Schuldurteil gründet sich insbesondere auf die Überlegung, dass an die Urteilsbegründung geringere Anforderungen zu stellen seien; diese erschöpften sich nämlich in der positiven Feststellung, dass die Vereinbarung im Sinne der gesetzlichen Voraussetzungen vorliegt449. Da es sich um eine gerichtliche Entscheidung handele, die ihren Ursprung in der Übereinstimmung der von den Parteien geäußerten Willenserklärungen habe, könne von einem Schuldspruch im eigentlichen Sinne nicht die Rede sein. So lautet die gängige Argumentation etlicher Entscheidungen höchstrichterlicher Rechtsprechung450. Es handele sich mithin um eine Entscheidung, auf die nur diejenigen Rechtsfolgen angewendet werden dürften, die keine explizite Schuldfeststellung erfordern, und somit mit dem Wesen der Urteilsform des patteggiamento vereinbar sind451. Diese prozessuale Sonderform setze gerade keine positive gerichtliche Feststellung der Straftat voraus und lasse somit auch bewusst die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit offen452. Ein weiteres Argument nimmt sich des 449 Zu den Erfordernissen an die Urteilsbegründung in einem patteggiamento vgl. Corte cost. sent. 313/1990, Foro it. 1990, I, 2385, 2399, das Verfassungsgericht stellt hier fest, dass das Urteil im besonderen Verfahren des patteggiamento der Begründungspflicht genüge, da die Billigung der von den Parteien vorgenommenen rechtlichen Würdigung der Tat und der Abwägung der Strafzumessungsgründe in der Urteilsbegründung darzulegen sind. Das Erfordernis eine Entscheidung in rechtlicher und sachlicher Hinsicht zu begründen, sei nicht unvereinbar mit dem summarischen Verfahren, müsse aber an dessen Eigenheiten angepasst werden; dagegen argumentiert Tranchina, Foro it, 1990 I, 2396, da der Richter in einem patteggiamento schon aufgrund der Natur der rechtlichen Entscheidung keine „angemessene rationale Rechtfertigung der Entscheidung“, sondern lediglich eine Darstellung der „realen Gründe der Entscheidung“ liefern könne. In einer jüngeren Entscheidung hat das Kassationsgericht zu den Anforderungen an die Begründung hinsichtlich der Angemessenheit der Strafe Stellung genommen und dabei die uneingeschränkte Pflicht zur Kontrolle des Antrags hervorgehoben, deren Erfüllung aus der Urteilsbegründung ersichtlich sein müsse, Cass. pen. sez. IV. 4. Oktober 2002, Dir. pen. e proc. 2002, 1470. 450 Vgl. Cass. pen. sez. un., 27. März 1992, Cass. pen. 1992, S. 2060; Cass. 20. Mai 1992, Giur. it., 1993, II, Sp. 531; so im Ergebnis auch Corte cost. sent. n. 251, 6. Juni 1991, Giur. cost. 1991, 2057, 2061. 451 So in Cass., sez., un., 8. Mai 1996, Dir. pen. e proc. 1996, 1227, 1230, mit Anm. von Peroni, (S. 1230 ff.); ebenso in Cass. sez. un. 26. Februar 1997, Cass. pen. 1997, 2666 mit Anmerkung von Carcano. 452 Zu dieser Argumentation ausdrücklich Cass. pen. sez. un., 18. April 1997, Dir. pen. e proc. 1997, 1484, und jüngst auch Cass. pen. sez. VII, 4. März 2004, Riv. it. di. dir. e proc. 2004, 668, 670, mit Anmerkung von Lozzi, ebd., S. 671 ff. In der letztgenannten Entscheidung wird entschieden der Auffassung entgegengetreten, dass durch die Änderung des Art. 629 c.p.p. durch das Gesetz 134/2003 (vgl. hierzu Fn. 359 f.) und somit durch die Einführung der Angreifbarkeit eines auf einem patteggiamento ruhenden Urteils im Wege der Wiederaufnahme des Verfahrens die Frage der Rechtsnatur der Entscheidung zugunsten eines „Schuldurteils“ entschieden sei; vielmehr sei auch die Gesetzesnovelle ein weiteres Indiz für die eigenständige Rechtsnatur der Entscheidung, da sie ausdrücklich zwischen den Urteilen nach Art. 444 ff. c.p.p. und sonstigen Urteilen differenziere. Andererseits hebt die sezione IV des Kassa-
V. Die Entscheidung: Schuldspruch oder Urteil eigener Art?
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Charakters der prozessualen Erklärung an. Da der Beschuldigte oder Angeklagte lediglich den Verzicht der Garantien des kontradiktorischen Verfahrens erkläre, könne nicht von der Vollständigkeit einer objektiv erlangten prozessualen Gewissheit ausgegangen werden453. In der Argumentationslinie, die das Urteil als eine Entscheidung sui generis vertritt, hat sich die fragwürdige, teilweise auch vom Kassationsgericht gestützte Orientierung herauskristallisiert, die eine neue Kategorie definiert, unter die auch die auf einem patteggiamento basierende Entscheidung falle. Für diese neu geschaffene Urteilskategorie hat sich der Begriff „hypothetische Entscheidungen“ etabliert, und im besonderen Fall des patteggiamento wird von einer „Entscheidung zur hypothetischen Verantwortlichkeit“454 gesprochen. Der hypothetische Charakter der Entscheidung soll durch die konsensuale Einigung, auf der die Entscheidung primär beruht, kompensiert werden. Im Ergebnis wird hier also eine Abwägung zwischen den Legitimierungsmomenten Konsens und Feststellung der Verantwortlichkeit vorgenommen, ohne dass ein solcher Abwägungsprozess explizit zugestanden würde. Das Kassationsgericht hat folgerichtig im Wege der Revision die Möglichkeit zuerkannt, die erfolgte Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Rahmen eines patteggiamento zu rügen, und hat ein entsprechendes Urteil teilweise, nämlich genau insoweit, als es in den Gründen ausdrücklich die Schuld
tionsgerichts aber ebenso hervor, dass durch die Erweiterung des patteggiamento in der Frage nach den Anforderungen an die gerichtlichen Feststellungen differenziert werden müsse, je nachdem ob es sich um den alten oder aber den erweiterten Anwendungsbereich handelt. Denn im Falle eines Strafrahmens von über zwei Jahren sei die Feststellung sowohl der Tatsachen als auch der strafrechtlichen Verantwortung erforderlich. Die Feststellung soll sich allerdings in einem Rückgriff auf die Aktenlage erschöpfen können, Cass. pen. sez. IV, 5. November 2003, Cass. pen. 2004, 3407. 453 Vgl. Cass. sez. un., 8. Juli 1998, Arch. n. proc. pen. 1998, 375, 377; Cass. Sez. un. 26. Februar 1997, Dir. pen. e proc. 1997, 1484, 1485. 454 Im Wortlaut „in ipotesi di responsabilità“, so Cass. pen., 19. Februar 1990, Giust. pen. 1990 III, 271, 283 = in Cass. pen. 1990 II, 44, 47; Cordero, Procedura penale, S. 1016, spricht vom „juristisch verbalen Äther“, in dem sich die Formulierungen verlieren aus Scheu, die Entscheidung als einen Schuldspruch zu qualifizieren, und weil die Bezeichnung als Freispruch einer Verdrehung des Wortsinnes gleichkäme; vgl. auch Cass. pen. sez. un., 27. März 1992, Cass. pen. 1992, 2060; die Entscheidung spricht von einer „impliziten Feststellung“, die kein Schuldurteil im eigentlichen Sinne sei (S. 2063); Cass. pen. sez. VI, 4. Januar 1996, Dir. pen. e proc. 1996, 611, hier wird explizit von einer Entscheidung „in ipotesi“ gesprochen, da sie primär in den übereinstimmenden Absichten der Parteien begründet sei (S. 612); gegen diese Konzeption, Peroni, Dir. pen. e proc. 1996, 615 ff., der die Entscheidung des patteggiamento nicht nur formal, sondern auch substanziell als Schuldurteil versteht und sich hierfür auf die verfassungsrechtlichen Grundsätze beruft, die mit einer Verurteilung ohne Schuldfeststellung nicht vereinbar wären und insbesondere auf die Unverfügbarkeit des Verfahrensgegenstandes verweist (S. 615); gegen die These der „sentenza in ipotesi“ auch Boschi, Gius. pen. 1990, 645, 647, der aber ein Urteil ohne Schuldfeststellung vorsieht.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
feststellte, ohne Zurückverweisung aufgehoben455. Dies ist als deutliche Absage an den „Schuldcharakter“ der Entscheidung zu verstehen. Eine weit darüber hinaus gehende extreme Position spricht der Entscheidung sogar vollständig den Urteilscharakter ab, und vergleicht sie mit einer „archetypischen Form rechtsgeschäftlicher Übereinkunft“, die in prozessualer Hinsicht einer „rechtlichen Einstellungsverfügung“ gleichwertig ist456. Eine vermittelnde Ansicht spricht dem Urteil die Schuldfeststellung ab, und gründet die Entscheidung auf den Verzicht des Angeklagten sich zu verteidigen, der auf verschiedensten Umständen beruhen könne457. Mit anderen Worten bedeutet die Annahme eines Urteils eigener Art, dass es sich bei dem Antrag auf Strafverhängung lediglich um eine Prozesserklärung handele, die keine direkten Rückschlüsse auf die Schuld- und Tatfrage zulasse. c) Der verbleibende Widerspruch Auffällig in der Diskussion um die Rechtsnatur der Entscheidung ist, dass stets zwischen „Feststellung der Verantwortlichkeit“ (accertamento della responabilità) und Schuldurteil (condanna) differenziert wird. Die verfassungsrechtliche Rechtsprechung fordert die Feststellung der Verantwortlichkeit auch im Rahmen eines patteggiamento458. Von einem „Schuldurteil im eigentlichen Sinne“459 will das Verfassungsgericht indes nicht sprechen. Die Differenzierung in „Schuld“ und „Verantwortlichkeit“ ist vor diesem Hintergrund weniger dogmatisch fundiert, als vielmehr eine Folge des Kompromisses, der in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts liegt und symptomatisch für die innere Widersprüchlichkeit der angebotenen Lösung ist. Die Verantwortlichkeit soll zwar festgestellt werden müssen, aber welche Maßstäbe für diese Feststellung anzusetzen sind, soll nicht schon verfassungsrechtlich vorgegeben sein, so dass im Ergebnis die Konstruktion einer „nicht vollständigen Feststellung der Verantwortlichkeit“460 herhalten muss, um die Verhängung der beantragten strafrechtlichen Sanktion zu legitimieren. Die Bezeichnung „nicht vollständige Feststellung der Verantwortlichkeit“ ist aber ein Widerspruch in sich, wenn die Kategorie der „strafrechtlichen Verantwortlichkeit“ dogmatisch nicht als selbstständige 455
Cass. sez. V, 24. Januar 1994, Riv. pen., 1994, 1254. So Altieri, Arch. n. proc. pen., 1992, 325, 326, der eine Entscheidung auf Grund eines patteggiamento nur dann für verfassungsgemäß hält, wenn sie mit der Strafaussetzung zur Bewährung notwendig verbunden ist, weil eine Freiheitsstrafe eine positive Schuldfeststellung erfordere, die in der konsensualen Entscheidung gerade nicht gegeben sei. 457 Chiliberti/Roberti, in: Manuale pratico dei procedimenti speciali, S. 275, 317. 458 Corte cost. sent. n. 155, 20. Mai 1996, Giur. cost. 1996, 1464, 1474. 459 Corte cost. sent. n. 251, 6. Juni 1991, Giur. cost. 1991, 2057, 2061. 460 Vgl. statt vieler Corte cost. sent. n. 155, 20. Mai 1996, Giur. cost. 1996, 1464, 1474. 456
V. Die Entscheidung: Schuldspruch oder Urteil eigener Art?
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Größe neben der Schuldfeststellung etabliert wird. Da aber die prozessuale Schuldfeststellung nach wie vor am objektiven Ziel der materiellen Wahrheit ausgerichtet bleibt, wie es die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts noch immer verlangt461, und das Ausweichen auf die „unvollständige Feststellung der Verantwortlichkeit“ nicht etwa eigenständig über den erzielten Konsens legitimiert wird, bleibt es dabei, dass es sich hierbei um eine lediglich terminologische Verschleierung handelt. „Verantwortlichkeit“ und „Schuld“ werden nicht etwa ausdrücklich als zwei Kategorien unterschiedlicher Legitimierung von strafrechtlich relevanter Zurechnung etabliert, sondern es wird nur vergeblich versucht, begrifflich über die Antinomie der Feststellung materieller Schuld auf konsensualer Tatsachenbasis hinwegzutäuschen. So lange das kontradiktorische Verfahren „nur“ als bessere Methode zur Findung der einen Wahrheit konzipiert wird, bleibt für die dogmatisch widerspruchsfreie Einordnung des patteggiamento und seiner konsensualen Entscheidungsfindung kein Raum. So lange auch ein Urteil auf Grund eines patteggiamento über den Beweiswert der Aktenlage und nicht über den Konsens der Parteien legitimiert wird, bleibt der Widerspruch, dass der zwischen den Parteien erzielte Konsens scheinbar an einer materiellen Wahrheit ausgerichtet bleibt und nicht schon selbst legitimierend wirkt. Es bleibt ein nicht zu lösender Widerspruch, wenn das Verfassungsgericht auf der einen Seite anerkennt, dass die Strafe auf Antrag der Parteien „ihr primäres Fundament in der Einigung“462 zwischen den Parteien und nicht in der vollständigen Feststellung der Verantwortlichkeit findet, und auf der anderen Seite fordert, dass das besondere Verfahren „nicht vom Beweis der Verantwortlichkeit absehen kann“463. Entsprechendes gilt auch für die Position, die ein Urteil sui generis vertritt. Denn das Konstrukt eines Urteils eigener Art wird dann in sich widersprüchlich, wenn es nicht explizit die Verbindung zwischen Strafverhängung und Schuldfeststellung auflöst. Denn worin liegt der eigene semantische Gehalt der neuen Kategorie eines „Urteils eigener Art“, wenn die objektive Feststellung der Tatsachen doch noch immer als Voraussetzung der Strafverhängung gefordert wird und lediglich die Anforderungen an die Beweisqualität gesenkt werden? Das „Urteil eigener Art“ liefe nach diesem Verständnis auf eine Verdachtsstrafe hinaus, der aber ebenso wenig eine eigenständige konsensuale Legitimierung zur Seite gestellt würde. Was der Rückgriff auf den Terminus „Urteil sui generis“ suggeriert, dass es sich nämlich um ein dem Schuldspruch wesensfremdes Urteil handele, das seine Legitimierung primär im Konsens der Parteien finde, wird von der Rechtsprechung des Kassationsgerichts selbst wie461 Grundlegend zum Ziel der Wahrheitssuche in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, Corte cost. sent. n. 111, 26. März 1993, Giur. cost. 1993, 901 ff. 462 Corte cost. sent. 6. Juni 1991, n. 251, Giur. cost. 1991, 2056, 2061. 463 Corte cost. sent. 124 aus 1992, Giur. cost. 1992, 1064, 1065, wie auch Corte cost. sent. n. 313 aus 1990, Foro it. 1990, Sp. 2385, 2401.
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der in Abrede gestellt. Was die sezioni unite als Urteil sui generis bezeichnen, ist in der Sache nichts anderes als die Umschreibung für ein „Schuldurteil“ mit gesenkten Anforderungen an die Beweislage. Demzufolge löst auch das Kassationsgericht die unabdingliche Verbindung zwischen Tatsachenfeststellung und Strafe nicht auf. Dass es die Kategorie des „Urteils eigner Art“ bemüht, ist mehr als eine Rechtfertigung der geringeren Anforderungen an die Beweisqualität, als eine Etablierung neuer Gerechtigkeitsmaßstäbe zu verstehen. Der Aktenlage wird entgegen dem akkusatorischen Grundsatz, dass die Prozessphasen strikt voneinander zu trennen sind, im Ergebnis direkter Beweiswert beigemessen. Der Richter hat seine Entscheidung im Wege des patteggiamento in rechtlicher und sachlicher Hinsicht zu begründen464. Die sachliche Grundlage bildet die Aktenlage, der im Falle konsensualer Verfahrenserledigung Beweiswert zukommt, wenn auch im Vergleich zu in der Hauptverhandlung gewonnen Beweisen in geringerem Maße465. Damit wird ebenso wie in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts ein außerprozessualer Bezugspunkt vorausgesetzt. Den Vorwurf der Widersprüchlichkeit muss dementsprechend auch die Orientierung der sezioni unite gegen sich gelten lassen, wenn sie als rein sprachliches Zugeständnis vom Erfordernis der „Feststellung der Verantwortlichkeit“ absieht, in der Sache die Feststellung der Tatsachen nur unter geringeren Beweisanforderungen als unabdingliche Voraussetzung der Strafverhängung aber beibehält466. In der Sache liegen die Unterschiede in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts und des Kassationsgerichts dementsprechend mehr in Fragen der „Etikettierung“ des Urteils, als in divergierenden Ansichten zu den tatsächlichen Anforderungen an das sanktionierende Urteil. So wird von beiden Seiten eine – wenn auch nicht vollständige – Feststellung der Tatsachen gefordert. Beide Deutungsmodelle bleiben also im Ergebnis die Antwort schuldig, wie die konkreten Anforderungen an eine „unvollständigen Feststellung“ zu definieren sind. Das Paradoxe, das in dieser Formulierung liegt, wird nicht aufgelöst: entweder hat der Prozess nach der Feststellung einer außerprozessualen Wahrheit zu streben, dann kann es keine intendierte „Unvollständigkeit“ in der prozessualen Feststellung geben, weil dann keine Entscheidungsreife erreicht wäre, 464
Cass. pen. sez. un. 27. März 1992, Cass. pen. 1992, 2060, 2064. Zur Kontrolle der Einigung anhand der im Ermittlungsverfahrens gewonnenen „Beweiselemente“ (elementi di prova) vgl. statt vieler Cass. pen. sez. un. 25. November 1998, Cass. pen. 1999, 1746, 1749 m. w. N. 466 Jescheck, in: Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 659, 673, sieht entgegen der hier vertretenen Deutung die Einführung des patteggiamento als einen Schritt, der einerseits weit über „alle kontinentalen Rechtsordnungen“ hinausgeht, indem die konsensuale Lösung einen von den Parteien präsentierten Stafzumessungsantrag zulässt; auf der anderen Seite bleibe sie aber hinter dem angloamerikanischen Modell zurück, indem sie „dem Richter die Verantwortung für die Angemessenheit der Strafvereinbarung auferlegt und dem Urteil nicht den Charakter eines Schuldspruchs beimisst.“ Die These, dass es sich bei dem Urteil nicht um ein Schuldurteil handeln soll, kann indes nicht als unstrittige Wertung in der italienischen Diskussion behandelt werden. 465
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oder aber ein Prozessergebnis kann sich selbst durch den erreichten Konsens legitimieren, dann wäre die Kategorie der „unvollständigen Feststellung“ bedeutungslos, weil es keinen tauglichen Maßstab für die Vollständigkeit der Feststellung gäbe. 3. Die gesetzlich nicht geregelten Rechtsfolgen als Problem der Rechtsnatur Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die rechtliche Qualifizierung der Entscheidung nicht nur ein dogmatisches Problem darstellt, sondern darüber hinaus erhebliche praktische Konsequenzen im Hinblick auf die gesetzlich nicht geregelten Rechtsfolgen der Entscheidung hat. Gesetzlich bestimmt sind einige unmittelbare Rechtsfolgen für eine Strafverhängung von nicht mehr als zwei Jahren in Art. 445 c.p.p.467. Sofern gesetzliche Bestimmungen nichts anderes regeln, ist das Urteil im Übrigen „einem Schuldurteil gleichgestellt“ (Art. 445 Abs. 1 bis c.p.p.). Diese Formulierung hat mehr für Meinungsverschiedenheiten gesorgt, als dass sie vermocht hätte, klärend zu wirken. So wurde zum Teil bereits aus dem Wortlaut gefolgert, dass das Urteil eines patteggiamento seiner rechtlichen Natur nach schon kein Schuldurteil sein könne, weil gleichgestellt nur das werden könne, was ungleich sei468. Aus den gesetzlich geregelten Rechtsfolgen können jedoch keine direkten Rückschlüsse auf die Rechtsnatur der Entscheidung gezogen werden, da sie als besondere begünstigende Wirkungen eines ausgehandelten Urteils zu verstehen sind, die nichts über die regelmäßigen Rechtsfolgen aussagen469. Die Regel ist aber in ihrer Formulierung der „Gleichstellung“ der Entscheidung mit einem Schuldspruch alles andere als eindeutig formuliert. Die am Wortlaut orientierte Auffassung, dass es sich um eine abschließende Aufzählung abweichender Bestimmungen handele und damit für das von der Norm nicht Erfasste die Bestimmungen über den Schuldspruch gelten müss467
Vgl. oben IV. 2. h). So auch Romajoli, S. 88; anders Cremonesi, S. 157, der davon ausgeht, dass aufgrund der Gleichstellung die Urteilsform des patteggiamento substantiell der eines Schuldspruchs im Sinne des Gesetzes gleich sei; es handele sich nur insoweit um ein „atypisches Schuldurteil“ als das Gesetz auch solche Rechtsfolgen vorsehe, die nach Schuldspruch im ordentlichen Verfahren nicht ergehen. Geradezu spitzfindig hat auch Peroni, La sentenza di patteggiamento, S. 150, versucht, sich die Bedeutung des Begriffes Gleichstellung gefügig zu machen. Man könne den Begriff nämlich anstatt dynamisch auch statisch auslegen. Dann hieße das, die Gleichstellung sei das Resultat der genannten Angleichung und beschreibe somit nunmehr Gleiches. 469 Vgl. Peroni, in: Il patteggiamento, S. 119, 121; allerdings weist Furgiuele zu Recht darauf hin, dass die gesetzlichen Rechtsfolgen für die Frage der Rechtsnatur der Entscheidung im Wege einer hermeneutisch fundierten Lösung des Problems durchaus von Bedeutung seien. 468
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ten470, übergeht die Frage nach den grundsätzlichen Differenzen zwischen dem alternativen, konsensualen und dem ordentlichen Verfahren in kontradiktorischer Hauptverhandlung. Nicht das dogmatische Problem der Rechtsnatur der Entscheidung soll hier erheblich für die Rechtsfolgen sein, sondern allein der gesetzliche Wortlaut der „Gleichstellung“ mit dem Schuldurteil. So wird dementsprechend von anderer Seite darauf hingewiesen, dass gerade die grundsätzlichen Unterschiede zum eigentlichen Schuldurteil in den abweichend geregelten Rechtsfolgen zum Ausdruck kämen. Sie dürften bei der Frage nach den nicht geregelten Rechtsfolgen nicht übergangen werden. Entscheidendes Kriterium müsse die Vereinbarkeit jeder einzelnen Rechtsfolge mit dem besonders gestalteten Urteil des patteggiamento sein471. Das bedeutet, dass die Gleichstellung nur dann gelten soll, wenn die Rechtsnatur der besonderen Entscheidung eine Gleichstellung zulässt. Nach der Theorie, die auf die notwendige Vereinbarkeit jeder einzelnen Rechtsfolge mit der besonderen Form der Entscheidung verweist, ist der Ausschluss von Rechtsfolgen, die dem Wesen der Entscheidung nicht entsprechen, in den enumerativ aufgeführten Ausschlusstatbeständen des Art. 445 c.p.p. deshalb nicht aufgeführt, weil er sich von selbst verstehe472. Das Kassationsgericht hat sich in Abweichung von seiner ursprünglichen Rechtsprechung dahingehend geäußert, dass die gesetzlich gesondert geregelten Rechtsfolgen sich daraus erklärten, dass sie solche Abweichungen vorsehen, die an die Form der Strafe und nicht etwa an die Schuldfrage anknüpfen. Abweichungen von einem Schuldspruch hingegen, die die Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit betreffen, sollen ohnehin nicht erforderlich sein, da eine solche Feststellung im patteggiamento gerade nicht erfolge473. 470 So die anfänglich herrschende Rechtsprechung des Kassationsgerichts am Beispiel des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung wegen späterer Verurteilung in einem patteggiamento, Cass. pen. sez. I, 26. März 1991, Riv. pen. 1992, 395; gegen die Argumentation eines numerus clausus von abweichenden Rechtsfolgen, sowie die automatische Geltung sonstiger Rechtsfolgen eines Schuldspruchs später vor allem die sezioni unite des Kassationsgerichts, Cass. pen. sez. un., 8. Mai 1996, Dir. pen. e proc. 1996, 1227. 471 Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 501, unter Rückgriff auf die Rechtsprechung der sezioni unite des Kassationsgerichtshofs und dem Hinweis, dass gerade die Frage der jeweils zu prüfenden Vereinbarkeit zu erheblicher Rechtsunsicherheit führen kann. 472 Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 506; jüngere Entscheidungen zur Nichtanwendbarkeit des Widerrufs: Cass. sez. I, 3. Oktober 1997, Cass. pen. 1998, 3362, 1785; Cass. sez. I., 30. März 1999, Arch. n. proc. pen., 1999, 371. 473 Vgl. Cass. pen. sez. un. 18. April 1997, Dir. pen. e proc. 1997, 1484, 1487 f., in dieser Entscheidung wird vielleicht am vehementesten von den sezioni unite bestritten, dass es sich bei einen patteggiamento-Urteil um einen Schuldspruch handele. Folgerichtig wird abweichend von der anfänglichen Rechtsprechung das Urteil nicht als Widerrufsgrund für eine zuvor gewährte Strafaussetzung auf Bewährung gesehen.
V. Die Entscheidung: Schuldspruch oder Urteil eigener Art?
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In der Konsequenz bedeutet dies, dass auf ein konsensuales Urteil solche Rechtsfolgen nicht angewandt werden dürfen, die eine positive Schuldfeststellung erfordern. Das Problem der gesetzlich nicht geregelten Rechtsfolgen stellt sich in zahlreichen Zusammenhängen, so beispielsweise in Bezug auf die Frage des Widerrufs eines zuvor in anderer Sache ergangenen Straferlasses nach Art. 174 c.p. In der Regel ist ein strafrechtliches Urteil, sofern es ein gewisses Strafmaß nicht unterschreitet, Grund für den Widerruf eines früher erteilten Straferlasses474. Damit wird fraglich, ob die Entscheidung in einem patteggiamento-Verfahren einen Grund für einen Widerruf des Straferlasses darstellt. Rechtsprechung und Literatur sind auch hier entsprechend der Differenzen über die Rechtsnatur des Instituts nicht einig. Von einer herrschenden Tendenz kann kaum die Rede sein475. Entsprechendes gilt für die Frage, ob eine Strafaussetzung zur Bewährung wegen einer Entscheidung im patteggiamento zu widerrufen ist476. Aus der gesetzlichen Gleichstellung des Urteils mit einem Schuldspruch hat das Kassationsgericht zunächst geschlossen, dass der Widerruf automatisch aus der Verfahrensbeendigung im Wege des patteggiamento folge477. Die sezioni unite des 474
Peroni, La sentenza di patteggiamento, S. 165. Auch die Entscheidungen, die sich klar für einen Widerruf aussprechen, schwächen dessen praktische Wirkung mit Rücksicht auf die gesonderten Erlöschensregeln des patteggiamento ab. Die Umsetzung des Widerrufs und damit der Strafvollzug soll solange aufgeschoben werden, bis die Erlöschensfrist abgelaufen ist. Endet die Frist, und erlischt damit die Tat, verliert auch der Widerruf jede Wirkung. Es kommt damit trotz Widerruf nicht zum Strafvollzug, vgl. Peroni, La sentenza di patteggiamento, S. 166, m.w. Rechtsprechungsnachweisen. 476 Durch Gesetz n. 128 aus 2001, Gazz. uff. n. 91 vom 19. April 2001 ist Art. 168 c.p. insoweit erweitert worden, als er nun explizit festlegt, dass der Widerruf der Aussetzung zur Bewährung auch dann erfolgt, wenn die Strafaussetzung in Verstoß gegen die Ausschließungsgründe des Art. 164 Abs. 4 c.p. erfolgt ist. Diese Vorschrift sieht vor, dass die Strafaussetzung nicht häufiger als einmal ausgesprochen werden darf. Dies gilt nach gesetzlichem Wortlaut auch dann, wenn die Bewährung auf Antrag in einem patteggiamento gewährt worden ist. Das heißt, dass die Aussetzung zur Bewährung, auch wenn sie Teil einer Übereinkunft der Parteien ist, von Amts wegen durch das Vollzugsgericht widerrufen und somit der Antrag durch gerichtliche Entscheidung abgeändert werden kann. Diese neue Regelung stellt nach Altieri, Arch. n. proc. pen. 2002, 387 einen „logischen Sprung“ dar, da der Grundsatz durchbrochen wird, dass die konsensual beantragte Strafe, sofern sie an einen Antrag auf Strafaussetzung gebunden ist, nur in toto angenommen oder zurückgewiesen werden kann; dementsprechend sieht er in der Vorschrift die unzulässige Einführung einer Strafverhängung sine iudicio; Cremonesi, Giust. pen. 2001, Sp. 724, 736, zieht in Bezug auf die zitierte gesetzliche Neuregelung den Vergleich, dass es mit dieser Vorschrift „ein bisschen so sei, als bäte man Truthähne und Lämmer sich selbst ihr Weihnachts- oder Ostermahl zu bereiten, in denen sie dann die Hauptrolle spielen werden“. Er bezieht dies auf die Absicht, die der Gesetzgeber wohl verfolgt habe. So habe dieser bezweckt, dass der Angeklagte mit der Justiz zusammenarbeite, um eine „gerechte“ Strafe und nicht etwa weitere ungerechtfertigte Strafaussetzungen zu erhalten. Daher zwinge man ihn, sein strafrechtliches Vorleben offenzulegen, indem auch nach Ausspruch eines ausgehandelten Urteils der Widerruf etwaiger Strafvergünstigungen von Amts wegen ergehe. 475
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
Kassationsgerichts haben sich dann von der ursprünglichen Auffassung der einzelnen sezioni gelöst und in nunmehr gefestigter Rechtsprechung die automatische Widerrufswirkung eines patteggiamento-Urteils für die Strafaussetzung zur Bewährung verneint und dies mit der Unvergleichbarkeit einer solchen Entscheidung mit einem Schuldurteil begründet478. Ebenso wird das ungeklärte Rechtsfolgenproblem relevant für die strafschärfende Wertung qualifizierter Delinquenz, wie „gewohnheitsmäßig“, „professionell“ oder sonst „deliktgeneigt“ begangener Kriminalität, sowie hinsichtlich der Rückfallregeln479. Die besondere eingeschränkte Form der Tatsachenfeststellung führt denn auch einen Teil der Rechtsprechung480 zu dem Ergebnis, das patteggiamento sei grundsätzlich unvereinbar mit der Erklärung qualifizierter Delinquenz. Allerdings wird auch hier das Gegenteil in der höchstrichterlichen Rechtsprechung vertreten481. Gleichermaßen problematisch ist die Rechtsfolgenfrage in Hinblick auf den Widerruf von Ersatzstrafen und vollzugsrechtlichen Vergünstigungen482. Äu477 Cass. sez. II, 4. November 1992, Cass. pen., 1994, 1008; Cass. sez. V, 24. April 1992, ebd. 1993, 2361; Cass. sez. II, 5. Dezember, 1991, Arch. n. proc. pen. 1992, 567; Cass. sez. II, 14. März 1991, Cass. pen., 1993, 1201; die Begründungen variierten vom Vorliegen einer Schuldfeststellung, die die Grundlage des Widerrufs sei, vgl. Cass. sez. I, 26. Mai 1991, Riv. pen. 1992, 395; Cass. sez. IV, 1. April 1994; ebd. 1995, 71, über die Gleichstellung der Entscheidung mit einem Schuldurteil, die alle Rechtsfolgen, die nicht explizit ausgeschlossen sind, mit einschließen muss, vgl. Cass. sez. I, 22. Juni 1992, Cass. pen., 1994, 367 = Riv. pen. 1992, 748; so auch Cass. pen. sez. VI, 7. Mai 1991, Riv. pen. 1992, 593; anders aber Cass. sez. un., 26. Februar 1997, Gazz. giur. 1997, n. 21, 53; Cass. sez. un., 18. April 1997, Dir. pen. e proc. 1997, 554, in dieser Entscheidung wird der Grundsatz bestätigt, dass auf ein patteggiamento-Urteil kein Widerruf einer zuvor erteilten Strafaussetzung zur Bewährung erfolgt; vgl. auch die Entscheidung: Cass. sez. un., 7. Mai 2000, Dir. pen. e proc, 2001, 720, die ein zur Bewährung ausgesetztes Urteil nach Art. 444 c.p.p. als einen Hinderungsgrund für eine erneute Aussetzung in einem folgenden Verfahren versteht, obwohl die sentenza ex Art. 444 c.p.p. grundsätzlich kein Widerrufsgrund für eine vorangegangene Aussetzung sein soll. 478 Vgl. Cass. sez. un., 18. April 1997, Dir. pen. e proc. 1997, 1464; Cass. sez. un., 4. Juni 1996, Dir. pen. e proc. 1996, 1227, mit Anmerkung von Peroni; da eine vollständige Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit gerade nicht erfolge, könne ein patteggiamento-Urteil keinen Grund für den Widerruf einer zuvor gewährten Strafaussetzung darstellen, Cass. pen. sez. I, 13. Februar 2002, Dir. pen. e proc. 2002, 465; Cass. pen. sez. un., 3. Mai 2001, Arch. n. proc. pen. 2001, 269. 479 Vgl. zu den strafschärfenden Zumessungsvorschriften Libro 1, Capo II des codice penale. 480 Cass. sez. V, 8. Juni 1998, CED Cass. n. 211615; Cass. sez. V, 20. Januar 1994, Cass. pen. 1994, 1590. 481 Argumentiert wird insbesondere mit der Überschreitung der eingeschränkten richterlichen Kompetenzen im konsensualen Verfahren des patteggiamento und damit, dass nur von Gesetzes wegen eintretende Rechtsfolgen mit dem Urteil verbunden sein können, Cass. sez. IV, 26. Juli 1994, Cass. pen. 1996, 591; Cass. sez. V, 6. November 1991, Arch. n. proc. pen., 1992, 564; Cass. pen. sez. IV, 14. Dezember 1996, Dir. pen. e proc. 1997, 1099 ff. mit abweichender Anmerkung von Peroni.
V. Die Entscheidung: Schuldspruch oder Urteil eigener Art?
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ßerst kontrovers wird auch die Frage diskutiert, inwieweit verwaltungsrechtliche Sanktionen, die von Gesetzes wegen auf einen strafrechtlichen Schuldspruch folgen, auch auf ein Urteil im patteggiamento Anwendung finden483. Die Handhabung insbesondere der gesetzlich nicht geregelten Rechtsfolgen in der Praxis macht deutlich, dass die Rechtsprechung von einer einheitlichen Wertung der Rechtsnatur des Urteils weit entfernt ist. Die Entwicklung der Rechtsprechung des Kassationsgerichtshofs lässt keine eindeutigen Aussagen zu, da die Unterschiede in den jeweiligen Argumentationsmustern derart tief greifend sind, dass sie keine klare Klassifizierung der Orientierungen in der Rechtsprechung erlauben484. Das Gesetz 134/2003 wird diese Tendenz noch zusätzlich fördern. Die Differenzierung in den gesetzlichen Rechtsfolgen nach den Anwendungsbereichen des „alten“ und „neuen“ patteggiamento anhand der Trennlinie des Strafmaßes von zwei Jahren Freiheitsentzug kann nicht ohne Auswirkung auf die Frage der gesetzlich nicht geregelten Rechtsfolgen bleiben. Grundsätzlich muss die Frage nach den Rechtsfolgen die Bestimmung der Natur des Urteils voraussetzen485. Dogmatisch haltbar ist die Anwendung bestimmter, nicht gesetzlich geregelter Rechtsfolgen nur dann, wenn sie sich nach der Rechtsnatur der Entscheidung richten486. Wenn aber gerade die Frage der Rechtsnatur aus dem Gesetz nicht eindeutig beantwortet werden kann, fehlen 482 Die durch das Gesetz 689/1981, LEX, 1981, I, 2817 ff., eingeführten Ersatzstrafen können nach Art. 72 c.p. widerrufen und in Freiheitsstrafen umgewandelt werden. Danach wird die Ersatzstrafe widerrufen, wenn der Begünstigte durch einen Schuldspruch verurteilt wird, der die Anwendung einer Ersatzstrafe (Art. 59 Gesetz 689/ 1981) verhindert, oder wenn der Schuldspruch sich auf eine Straftat bezieht, die nach Verhängung der Ersatzstrafe begangen wurde und mit Freiheitsentzug geahndet wird. Liegen die Voraussetzungen vor, erfolgt der Widerruf nach Art. 66 c.p. automatisch durch gerichtliche Verfügung. Aufgrund dieses Automatismus tendiert die Rechtsprechung dazu, die Entscheidung des patteggiamento in vollem Umfang für den Widerruf zu berücksichtigen, vgl. Cass. sez. III, 3. April 1998, CED Cass. n. 210606; Cass. sez. I, 17. Januar 1997, CED Cass. n. 206951. 483 Zu dieser Frage hat sich in Bezug auf den Einzug der Fahrerlaubnis auch das Verfassungsgericht geäußert, siehe Corte cost. ord., 18. April 2000, Giur. cost. 2000, 987, die Entscheidung erklärt die Rüge der Verfassungswidrigkeit hinsichtlich der Vorschrift der Straßenverkehrsordnung (codice della strada), die den Einzug der Fahrerlaubnis explizit auch für den Fall eines patteggiamento vorsieht, für offensichtlich unbegründet; in diesem Sinn auch Corte cost. ord., 23. Juni 1999, Giur. cost. 1999, 2228 ff.; Corte cost. ord., 5. Februar 1999, Giur. cost. 1999, 171 ff. 484 So auch die Wertung bei Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 317; eine zusammenfassende Darstellung der widersprüchlichen Entscheidungen innerhalb der Rechtsprechung der sezioni unite – die doch eigentlich Rechtssicherheit schaffen sollte – findet sich bei Scardaccione, Cass. pen. 1999, 782, 783 f. 485 Vigoni, a. a. O., S. 507. 486 Anders aber Furgiuele, S. 183, der in der Methode, zunächst die Rechtsnatur nach bekannten Schemata zu definieren und aus dieser die Rechtsfolgen abzuleiten, gerade den grundsätzlichen Fehler auch in der Rechtsprechung des Kassationsgerichts sieht. Die Rechtsnatur aus bekannten Kategorien bestimmen zu wollen, verkenne die Möglichkeit, neue Wege aufzuzeigen, wie die konzeptionelle Trennung zwischen
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
die entscheidenden Anhaltspunkte für die Bestimmung der gesetzlich nicht geregelten Rechtsfolgen, was zu einer hochgradigen Rechtsunsicherheit führt. Vigoni487 weist zu recht darauf hin, dass die unterschiedlichen grundsätzlichen Entscheidungen zur Rechtsnatur ihre jeweiligen Begründungen eher in apodiktischen Aussagen zur Frage der Autonomie der Parteien bzw. des Gerichts fänden denn in Argumenten der Auslegung wie Wortlaut oder Systematik der entscheidenden Normen. Im Ergebnis wird dort, wo es der Verfahrensökonomie dient, die Disposition der Parteien in den Vordergrund gerückt und die Anwendung ungünstiger, gesetzlich nicht geregelter Rechtsfolgen gemieden, indem die besondere Rechtsnatur488 des Urteils herausgestellt wird. In dogmatisch haltbarer Weise geklärt ist die Frage nicht, was sich auch in der extrem uneinheitlichen Rechtsprechung besonders deutlich niederschlägt. 4. Ergebnis: Die Entscheidung als Ausspruch kommunikativer Schuldzuschreibung Die Darstellung der heterogenen Deutungsmodelle zur Frage der Rechtsnatur der auf einem patteggiamento beruhenden Entscheidung sollte verdeutlicht haben, dass der italienische Strafprozess ein durchaus ambivalentes Verhältnis zu den strafrechtlich fundamentalen Kategorien von Schuld und Wahrheit hat. Auffällig an der umfangreichen Diskussion zum Thema der Rechtsnatur der Entscheidung ist die Scheu, Schuld und Wahrheit in ihrer noch dem alten Codice Rocco verpflichteten Tradition vor dem Hintergrund des neu geschaffen akkusatorischen Prozessmodells grundsätzlich in Frage zu stellen489. Dass mit dem Wandel der Verfahrensmethode auch das Ziel des Prozesses nicht unverändert bleiben kann, wollten weder die Rechtsprechung noch der Gesetzgeber offen zugestehen490.
Schuldfeststellung und Schuldspruch. Der Richter verkünde gerade keinen Schuldspruch, sondern wende die Strafe lediglich an. 487 Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 167. 488 Sei es nun ein Urteil „eigener Art“ oder ein Urteil auf der Grundlage einer „unvollständigen Feststellung der Verantwortlichkeit“. 489 So weist Lozzi, Riv. it. dir. e proc. pen., 1990, 1600 darauf hin, dass die verfassungsrechtliche Wertung solcher Rechtsinstitute, die erst durch die Prozessreform von 1989 eingeführt wurden, sich dem grundsätzlichen Problem zu stellen habe, dass sämtliche verfassungsrechtlichen Normen, die den Strafprozess zum Inhalt haben – zumindest vor Einführung des erneuerten Art. 111 cost. – für den alten Codice Rocco, und somit für ein eindeutig inquisitorisch geprägtes Prozesssystem konzipiert waren. 490 So ist die Einführung konsensualer Elemente, insbesondere des patteggiamento, auch immer wieder als systemfremd, als „Bruch mit der Tradition“ (strappo alla tradizione) gewertet worden, so die Formulierung bei Macchia, Arch. n. proc. pen. 2003, 183, 188. Für eine durch „die ausgehandelte Jusitz“ erforderlich gewordene „dogma-
V. Die Entscheidung: Schuldspruch oder Urteil eigener Art?
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Immer kehrt im Zusammenhang mit der konsensualen Entscheidung eines patteggiamento der Begriff der „unvollständigen Sachverhaltsfeststellung“ wieder, die das besondere Charakteristikum der Entscheidung im Wege eines patteggiamento sei. Vorausgesetzt wird dabei, dass Ziel der kontradiktorischen Hauptverhandlung die „vollständige Feststellung“ der Tatsachen sei. „Vollständige Feststellung“ kann aber nichts anderes sein als eine Parafrasierung der materiellen Wahrheit. Denn die Vollständigkeit der Tatsachengrundlage hat sich nach wie vor an einem außerprozessualen Maßstab zu orientieren. Dieses Vollständigkeitskriterium kann aber, wie in der Grundlegung dargelegt, kein tauglicher Maßstab sein für einen Parteiprozess. Denn Stoffbeibringung durch die Parteien ist ohne die Anerkennung eines disponiblen Verfahrensgegenstandes, der sich gerade ausschließlich innerprozessual bestimmt, nicht denkbar. Für das kontradiktorische Verfahren in der Hauptverhandlung wird dennoch weitgehend an einem materiellen Wahrheitsbegriff festgehalten. Legislatorisch hat sich diese Tendenz durch die stetige Aufwertung der Beweiserhebung durch das Gericht durchgesetzt. Zum anderen wurde sie auch durch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, insbesondere durch die verfassungsrechtliche Verankerung des Beweistransfers zu Zwecken der Warhehitsfindung, gestützt. Im konsensualen Verfahren des patteggiamento hat sich hingegen der Grundsatz der Parteiendisposition insoweit verwirklicht, als die Entscheidung unter Anerkennung gewandelter Gerechtigkeitsmaßstäbe ergeht. Zwar wird diese These nicht ausdrücklich durch die Rechtsprechung zur Rechtsnatur der Entscheidung bestätigt, wohl aber macht implizit die Flucht in neue Begriffe wie das „Urteil eigener Art“ oder der „Schuldspruch ohne vollständige Feststellung der Tatsachen“ deutlich, dass im alternativen Verfahren mit anderem Maß gemessen wird, und dass dem Konsens eine eigenständige Bedeutung zukommt. Die Stärkung der gerichtlichen Befugnisse, die Einigung der Parteien zu prüfen, ist nur vor dem Hintergrund zu verstehen, dass die Rechtsprechung nach wie vor ein unüberwindbares Problem darin sieht, die Besonderheiten des alternativen Verfahrens in das Gesamtgefüge der Prozessordnung zu integrieren491. Anstatt einen Schritt nach vorn zu gehen und die „Andersartigkeit“ auch der Legitimationsgrundlage anzuerkennen, hat man sich mit der Aufwertung der gerichtlichen Kontrolle für einen Schritt nach hinten entschieden.
tische Infragestellung der Kategorien des Prozesses“ aber Marafioti, La giustizia penale negoziata, S. 469. 491 Hierin sieht auch Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 145, den eigentlichen Grund für die divergierende Rechtsprechung zur Frage der Rechtsnatur der Entscheidung. In dem schwierigen Verhältnis zwischen Schuldfeststellung und patteggiamento sieht auch Peroni, Dir. pen. e proc. 1996, 1230, die Probleme der höchstrichterlichen Rechtsprechung begründet, „die verfassungsrechtliche Unschuld des Instituts“ im Wege der Auslegung zu gewährleisten.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
Die Widersprüche dieses Rückschritts resultieren daraus, dass an einem materiellen Wahrheitsverständnis festgehalten wird492, auf der anderen Seite aber zugestanden werden muss, dass ein Verfahren im Wege eines patteggiamento von anderen Erwägungen als denen der materiellen Wahrheitsfindung geleitet sein kann. Daraus folgt, dass implizit eine funktionale Schuldzuschreibung anerkannt wird, die die Feststellung der Tatsachen nicht mehr unbedingt voraussetzt493. Dennoch aber soll die Tatsachengrundlage einer gerichtlichen Überprüfung unterworfen sein. Da diese Verbindung nicht glücken kann, hat die Rechtsprechung bislang noch zu keiner widerspruchsfreien einheitlichen Lösung der Frage der Rechtsnatur der Entscheidung gefunden. Die Schuldfeststellung im patteggiamento ist auch ihrer Natur nach etwas anderes als die eingeschränkte Überprüfung der Schuldfrage in einem Strafbefehlsverfahren. Im zweiseitigen, gegenseitigen konsensualen Verfahren ist die Feststellung „unvollständig“, im Unterwerfungsverfahren des Strafbefehls handelt es sich hingegen um eine „summarische“ Überprüfung, die aber zumindest theoretisch zu einer „vollständigen“ Schuldfeststellung führen muss. In der Vorstellung, das konsensuale Wesen des patteggiamento habe lediglich Einfluss auf das Vollständigkeitskriterium der Feststellung strafrechtlicher Veranwortlichkeit, berühre aber die Eigenschaft des Schuldurteils nicht494, liegt im Grunde bereits ein – wenn auch nur implizites – Bekenntnis zu einem vordringlich funktionalen Schuldbegriff495.
492 Der materielle Wahrheitsbegriff als eigentliches Ziel des Strafverfahrens wird gern als unabdingbare Prämisse vorausgesetzt, eine Stütze im Gesetz nicht einmal gesucht; so bei Dalia/Ferraioli, S. 189; vgl. Mercone, Diritto processuale penale, S. 50, der die Suche nach der materiellen Warheit als das unumgängliche Ziel des Strafverfahrens bezeichnet; so explizit auch die Entscheidungen des Verfassungsgerichts, sent. vom 3.6.1992, n. 254, sowie das Urteil vom 26. März 1993, n. 111, Giur. cost. 1993, 901 ff.; so Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 174. 493 Im Hinblick auf die funktionale Dimension strafrechtlicher Schuld sieht Fiandaca, Riv. it. dir. e proc. pen. 1987, 863, 872, das eigentliche Problem in der strafrechtlichen Schulddiskussion darin, „die allgemeinen Bedingungen des Gebrauchs des Schuldkonzeptes zu spezifizieren und zu konkretisieren: dies habe unter Berücksichtigung der diversen Zurechnungsprobleme zu geschehen, die je nach Fall in einem Urteil über die Schuld inbegriffen sind.“ Die Abwägung des „garantistischen und des funktionalen Moments im Schuldkonzept“ könne von den spezifischen Interessen der Beteiligten nicht absehen. Dementsprechend sucht er eine Synthese „zwischen den beiden Dimensionen der Schuld, der funktionalen und der individuelle Garantien gewährenden“ (S. 875). 494 So ständige Rechtsprechung der corte cost. und statt vieler an dieser Stelle nur Segreto, Arch. n. proc. pen. 2000, 114, 117. 495 In Bezug auf die deutsche Situation spricht auch Wagner, in: Festschrift für Karl Heinz Gössel, S. 585, 587, von einer „Anpassung“ des Schuldprinzips an die Absprachenpraxis; nur mithilfe dieser sei es dem BGH gelungen, in einer „Quadratur des Kreises“ die Absprachen mit den Anforderungen eines rechtstaatlichen Verfahrens in Einklang zu bringen.
V. Die Entscheidung: Schuldspruch oder Urteil eigener Art?
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Daran kann auch die Tatsache nichts ändern, dass das Kassationsgericht die Anwendung des Begriffes „Schuldurteil“ auf die Anwendung der Entscheidung im patteggiamento scheut. Denn der Widerspruch, dass einerseits eine strafrechtliche Sanktion nicht ohne Schuldfeststellung ergehen darf, andererseits aber für die Entscheidung sui generis ausdrücklich keine eigenständige Legitimierungsgrundlage gefunden ist, ist von der Rechtsprechung nicht einheitlich gelöst worden. Die geforderte gerichtliche Überprüfung der Einigung ist indes eine Verankerung in inquisitorischen Methoden der Beweisgewinnung um der vermeintlich notwendigen Wahrung des Prinzips der materiellen Wahrheit willen. Es handelt sich hierbei um einen systemwidrigen Eingriff in das akkusatorische Prozessmodell, in dem die Beweiskraft einzig aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung erwachsen soll. Nach dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Verständnis einer materiellen Verfahrensgerechtigkeit, innerhalb derer sich materielle und formelle Wahrheit als zwei eigenständige Ziele des Prozesses etabliert haben, bedarf es dieses Eingriffes nicht, der nur zu unüberbrückbaren Antinomien innerhalb des Systems führt. Es ist hier festgestellt worden, dass das explizite Bekenntnis zum formellen Wahrheitsbegriff in Italien eher die Ausnahme denn die Regel ist496, es wird aber daran festgehalten, dass der Streit um die Rechtsnatur der auf einem patteggiamento beruhenden Entscheidung letztlich darin begründet liegt, dass Wissenschaft und Rechtsprechung sich noch scheuen, ausdrücklich anzuerkennen, was längst Bestandteil des Systems ist, nämlich die Etablierung einer kommunikativen Schuldzuschreibung in einem die Strafe legitimierenden Konsens. Wie ist vor diesem Hintergrund die gesetzliche Gleichstellung eines Urteils im patteggiamento mit einem Schuldurteil zu verstehen? Legt man ein durch prozedurale Kommunikation geprägtes Verständnis von Schuld zugrunde, so kann sich die Gleichstellung darauf beziehen, dass das Urteil in einem patteggiamento, obwohl es keinen positiven Nachweis der Tatsachen und damit der Urheberschuld erfordert, dennoch ein Schuldurteil ist, weil in der Entscheidung eine Zurechnungsschuld festgestellt wird, die Ergebnis der Verantwortungsübernahme ist, die in dem Antrag auf Strafverhängung zu sehen ist. Die Gleichstellung kann auf diese Weise als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass sich ein gerechtes Ergebnis mit zweierlei Maß messen lässt. Die Zurechnungsschuld, 496 Für die Öffnung des Wahrheitsbegriffes durch die Garantien des kontradiktorischen Verfahrens, vgl. Lorusso, S. 22 m. w. N. aus der Literatur, der aber bezeichnenderweise die Einschränkungen der prozessualen Wahrheit gegenüber der materiellen Wahrheit noch als „Preis“ des akkusatorischen Systems und nicht etwa schon als Ausdruck einer eigenständigen Verfahrensgerechtigkeit versteht; explizit zur Abkehr vom Ziel der materiellen Wahrheit auch ebd. S. 52, 55. Dass sich Lorusso aber schon sehr weit in Richtung eines von der Wahrheit gelösten Gerechtigkeitsverständnisses im Strafprozess vorwagt, wird insbesondere daran deutlich, dass er „die agonistische (und antagonistische) Konzeption des Prozesses“ als eine Dimension versteht, die „idealiter eine Anknüpfung an die Quellen unserer Rechts“ darstellt, a. a. O., S. 66.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
die im konsensualen Verfahren entsteht, wird der Feststellung materieller Urheberschuld im konfrontativen Verfahren gleichgestellt 497.
VI. Ergebnis: Materielle Verfahrensgerechtigkeit im Konsensprinzip des patteggiamento Der Widerspruch des reformierten Prozesses, der den Grundsatz der Parteiendisposition über die Beweise mit der Unverfügbarkeit des Verfahrensgegenstandes vereinen will, findet sich sowohl im konfrontativen als auch im konsensualen Verfahren. In der Konfrontation der kontradiktorischen Hauptverhandlung hat dieser Widerspruch in der gesetzlichen Entwicklung zu einer Wiederbesinnung auf das Prinzip der materiellen Wahrheit geführt, indem die ursprünglich als Ausnahme vorgesehene Amtsermittlung stetig ausgebaut und somit die Rolle des Richters zunehmend aktiver gestaltet wurde. Im konsensualen Verfahren des patteggiamento hat sich hingegen unter dem Deckmantel sprachlicher Verdrehungen und entgegen anders lautender Beteuerungen de facto ein formeller Wahrheitsbegriff weitgehend durchgesetzt, der sich zwar nicht ausdrücklich über den Parteienkonsens legitimiert. Die grundsätzliche Andersartigkeit eines konsensualen Urteils wird aber stets hervorgehoben. Konsensuale Verfahrenserledigung verlangt schon ihrer methodischen Natur nach die Dispositionsmaxime. Dieser Aspekt kommt in dem Rückgriff auf den „atypischen Charakter“ konsensualer Entscheidungsfindung zum Tragen. Damit führt der unauflösliche Widerspruch zur impliziten Anerkennung einer zweifach geprägten Verfahrensgerechtigkeit, die im konfrontativen Verfahren von der Suche nach der materiellen Wahrheit bestimmt ist, und in der konsensualen Entscheidungsfindung über die legitimierende Funktion der prozessualen Einigung erreicht wird498. Es soll an diesem Punkt offen eingestanden werden, 497 Diese Interpretation findet eine zusätzliche Stütze in der legislatorischen Tendenz, in Fragen der gesetzlichen Rechtsfolgen, das aufgrund eines patteggiamento verkündete Urteil einem am Ende einer ordentlichen Hauptverhandlung ergangenen mehr und mehr anzugleichen, vgl. zu den einzelnen gesetzlichen Modifizierungen und dem „Ruck“ des patteggiamento in Richtung ordentliches Schuldurteil, Macchia, Arch. n. proc. pen. 2003, 183, 189. 498 Vgl. zur Annäherung der Prozesssysteme unter diesem Gesichtpunkt auch Trüg, Lösungskonvergenzen trotz Systemdivergenzen im deutschen und US-amerikanischen Strafverfahren, S. 486, der zu dem Ergebnis kommt, dass beide Prozesstypen nunmehr Mischsysteme in der Form darstellen, dass in ihnen entweder einem formalisierten Wahrheitsverständnis gefolgt oder ein materielles Wahrheitsverständnis angelegt wird, wobei letzteres einer Hauptverhandlung zugrunde liegt, die dann entsprechend inquisitorische Züge trägt. Anders aber die Wertung bei Sinner, Der Vertragsgedanke im Strafprozeß, S. 256, der das „Vertragselement“ im italienischen Prozess nicht auf eine eigene Legitimationsgrundlage stellt, sondern es ausschließlich an ein „Notstandsar-
VI. Ergebnis
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dass sich die Einschränkung der Parteiendisposition im konsensualen Verfahren durch die gerichtliche Überprüfung des Antrags in sachlicher Hinsicht anhand der Aktenlage nicht in ein legitimierendes Konsensprinzip eingliedern lässt und dementsprechend nach dem hier entwickelten Ansatz als unversöhnlicher Fremdkörper im System gelten muss. Genau dieses ungeklärte Spannungsfeld zwischen richterlicher Prüfungskompetenz und der Dispositionsbefugnis der Parteien hat aber zu der in hohem Maße divergierenden Rechtsprechung geführt. So ergibt sich im Ergebnis, dass der italienische Strafprozess in zwei grundlegend unterschiedliche Verfahrensmodelle untergliedert ist: Wahrheit und Schuld werden im alternativen konsensualen Verfahren nach anderen Parametern bestimmt als in der kontradiktorisch konfrontativen Hauptverhandlung. In diesem Sinn versucht auch Fracanzani499, die Aporie des neu geschaffenen Prozesses dadurch zu überwinden, dass er für das kontradiktorische Verfahren in der Hauptverhandlung ausdrücklich einen anderen Wahrheitsmaßstab ansetzt als für das konsensuale Verfahren in einem patteggiamento. Der Gesetzgeber habe für die Hauptverhandlung eine „prozessuale Wahrheit“ als Ziel vorgesehen, für das konsensuale Verfahren hingegen eine „Wahrheit der Parteien“, die die „prozessuale Wahrheit“ noch nicht einmal erstrebe500. So weist auch Ferrua501 darauf hin, dass wenn der Prozess mehr und mehr seine Funktion der Tatsachenrekonstruktion verliere, man fragen müsse, ob er dementsprechend nicht dahin tendiere, „Konflikte zwischen Parteien zu lösen [. . .] ohne sich zu sehr die Frage nach der ,historischen‘ Tat zu stellen, für die bestraft wird“. So lässt sich festhalten, dass die gesetzliche Möglichkeit konsensualer Entscheidungen in einem patteggiamento überwiegend auf das prozessökonomische Erfordernis eines „zügigen Verfahrens“502, vereinzelt aber doch auch schon aus-
gument“ knüpft. Ähnlich auch die Argumentation bei Moccia, in: Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften, S. 293, 296 f. 499 Fracanzani, Dir. pen. e proc. 1997, 1259, 1264, die „prozessuale Wahrheit“ ist in diesem von Fracanzi gebrauchten Sinn als die an der materiellen Wahrheit orientierte „forensische Wahrheit“ im Sinne unserer Grundlegung zu verstehen, vgl. Kap. 1, Fn. 239. In diesem Sinn weist auch Marafioti, Cass. pen. 2002, 2933, 2945, darauf hin, dass „im Grunde die Rechtsordnung, indem sie eine Beendigung des Verfahrens auf übereinstimmender Basis akzeptiere, die Straße für eine prozessuale Erscheinungsform öffne, die über das Konzept hinausgeht, das die Entscheidung einem Wahrscheinlichkeits- anstatt einem Wahrheitsurteil anvertrauen will“. Es werde vielmehr „die Idee legitimiert, dass die Parteien sich über eine Tatsachenfeststellung einigen können, die per Definition nicht der Wahrheit entsprechen muss, sondern das Ergebnis einer Entscheidung sein kann, nur weil diese es ,bevorzugen‘, dass das Verfahren ,auf Basis einer bestimmten Einigung beendet‘ wird“. 500 Fracanzani, a. a. O., S. 1262. 501 Ferrua, Studi sul processo penale III, S. 133 ff.
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Kap. 3: Rechtliche Würdigung des patteggiamento
drücklich auf das eigenständige Konsensprinzip503 oder auf den Gedanken einer „Theorie der Konflikte“504 zurückgeführt wird. Der innere Widerspruch der geltenden italienischen Strafverfahrensordnung, den neu geschaffenen Prozess an den hehren Ansprüchen von Schuld und Wahrheit zu orientieren, ist im Ergebnis dahingehend aufzulösen, dass eine Schuldfeststellung im konsensualen Verfahren nicht mehr notwendig an die Idee der Ergebnisrichtigkeit geknüpft und die Gerechtigkeitsfrage von der materiellen Wahrheit gelöst wird. Dass diese rechtstheoretische Auflösung der strafprozessualen Antinomie der Kodifizierung des patteggiamento zugrunde liegt – auch wenn Rechtsprechung und legislatorische Entwicklung andere Akzente gesetzt haben – ist an diesem Punkt Ergebnis der Untersuchung.
502 Vgl. die Nachweise bei Marafioti, La giustizia penale negoziata, S. 448, Fn. 252; Corte cost. 28. Dezember 1990, n. 593; Giur. cost. 1990, 3309, 3310, hier wird insbesondere das „abgekürzte Verfahren“ nach Art. 438 ff. c.p.p. über den Grundsatz des zügigen Verfahrens gerechtfertigt, dieser Gedanke aber auf die besonderen Verfahren im Allgemeinen ausgedehnt; corte cost., 27. September 1990, n. 421, a. a. O., 2534, 1535, auch hier wird der Strafnachlass im abgekürzten Verfahren über die Beschleunigungsfunktion des Verfahrens legitimiert; wie auch in corte cost. 31. Mai 1990, n. 277, a. a. O., 1673; so im Ergebnis auch Peroni, dir. pen. e proc., 2003, 1067, 1078, wenn er von dem alternativen Verfahren als „strategischem Faktor für das Gesamtgleichgewicht des Strafprozesssystems“ spricht. 503 So heißt es beispielsweise bei Marzaduri, in: Costituzione, Diritto e processo penale, S. 85, 91, die freie richterliche Überzeugung werde praktisch durch „den Konsens oder durch das Resultat eines Kompromisses der Parteien“ ersetzt. 504 Vgl. hierzu unter Rückgriff auf die deutsche Absprachendiskussion Marafioti, La giustia penale negoziata, S. 463, der die „Theorie der Konflikte“ in Zusammenhang setzt zu der Idee der Rechtsanwendung als „kommunikatives Moment“, und sich hierfür insbesondere auf Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“ bezieht (Fn. 29). Dass sich der Strafprozess von dem „falsch verstandenen Gegensatz zwischen Inhalt und Form“ lösen müssen hat Ubertis, in: La conoscenza del fatto nel processo penale, S. 1, 38 eindringlich dargelegt, wenn er von einer „judiziellen Wahrheit“ spricht, die nicht „nach einem letzten und absoluten Ziel“ streben kann, dem alles untergeordnet wäre, sondern die betrachtet werden muss als „das Resultat eines Parallelogramms von individuellen und kollektiven Kräften, die im prozessualen Verfahren interagieren“.
Kapitel 4
Das patteggiamento als Modell für eine kodifizierte Absprache? – Der Versuch eines Ausblicks Die Untersuchung hat im ersten Kapitel zu dem Ergebnis geführt, dass Schuld und Wahrheit im Verfahren funktionalisiert werden können, ohne dass das Prozessziel einer gerechten Entscheidung aufgegeben werden müsste. Des Weiteren war aus dem zweiten Kapitel der Schluss zu ziehen, dass die Absprachen sich nicht widerspruchsfrei in die Grundsätze der Strafprozessordnung integrieren lassen. Der Blick nach Italien im dritten Teil hat nun gezeigt, dass das dort kodifizierte Modell der konsensualen Verfahrenserledigung sich vom materiellen Wahrheitsbegriff verabschiedet hat und eine Schuldfeststellung eigener Art zugrunde legt. Nunmehr ist die Frage zu stellen, ob das patteggiamento als Modell für eine Kodifizierung der Absprachen dienen kann. Dabei ist auszugehen von der Prämisse, dass der italienische, reformierte Strafprozess als ein akkusatorisch kontradiktorisches Verfahren konzipiert ist, der deutsche Strafprozess aber als ein inquisitorisch inspirierter Anklageprozess verstanden wird1. Es bleibt also zunächst zu fragen, wie sich konsensuale Entscheidungsfindung in die abstrakten Prozessmodelle und deren jeweilige Umsetzung in den konkreten Verfahrensordnungen fügt. Sodann sind wichtige Strukturunterschiede der konsensualen Verfahrenserledigung aufzuzeigen. So lässt sich das entscheidende Differenzierungskriterium herleiten, ohne das die Frage einer etwaigen Übertragbarkeit des italienischen Rechtsinstituts in die deutsche Prozessordnung nicht beantwortet werden kann. Abschließend soll ein rechtspolitischer Ausblick gewagt werden.
I. Das Konsensprinzip als systemimmanenter Bestandteil von Parteiverfahren und kontradiktorischer Verfahrensmethode Ein Zusammenhang zwischen der Anerkennung des Konsensprinzips und der Stärkung der Autonomie der antagonistischen Verfahrenssubjekte lässt sich 1 Das ergibt sich daraus, dass im deutschen Strafprozess sowohl das Akkusationsprinzip als auch gleichermaßen die Instruktionsmaxime verwirklicht ist, vgl. hierzu statt vieler KK-Pfeiffer, Einleitung Rn. 3, 5; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 17; Rn. 5, Löwe/Rosenberg-Rieß kennzeichnet den deutschen Strafprozess als „staatlich betriebener Anklageprozeß mit einer gerichtlichen Amtsaufklärung“.
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Kap. 4: Das patteggiamento als Modell für eine kodifizierte Absprache?
recht einfach herstellen. Wo die gegnerischen Prozesssubjekte ins Zentrum des Verfahrens treten und die richtende Instanz nicht mehr autoritär das Verfahren lenkt, sondern als unbeteiligter Dritter aus einer streitenthobenen, distanzierten Position einen fairen Wettkampf beurteilt, entsteht wie von selbst die Möglichkeit einvernehmlicher, den Streit beendender Lösung. Dann liegt es auf der Hand, den Konsens als ein natürliches Element des akkusatorisch inspirierten Parteiverfahrens zu verstehen. So gilt denn auch das anglo-amerikanische Verfahren als die Heimat eines konsensorientierten Strafprozesses. Dass aber das Konsensprinzip ein gewissermaßen notwendiger Bestandteil des akkusatorischen Prozesstyps und in einer kontradiktorischen Verfahrensführung bereits angelegt ist, soll hier zusammenfassend dargelegt werden. Erst nach dieser Einordnung des Konsensprinzips in die abstrakten Prozessmodelle und Verfahrensmethoden sollen die Konvergenzen in der Beurteilung konsensualer Verfahrenserledigungen der beiden Prozesstypen herausgestellt werden, die in Bezug auf den Verfahrenszweck bestehen – trotz deklarierter Differenzen, hier der instruktorisch geprägte Prozess mit Anklagegrundsatz, dort das akkusatorische Parteiverfahren. 1. Akkusatorisches und inquisitiorisches Modell als Idealtypen der „Strafkultur“ Besonders in rechtsvergleichenden Studien gewinnt der theoretische Gegensatz von akkusatorischem und inquisitorischem Prozessmodell an Bedeutung, da sich in ihm gewissermaßen die Grundhaltung des sanktionierenden Staates zur Legitimierung seines Strafanspruchs widerspiegelt: auf der einen Seite tritt der Staat als unbeteiligter, schlichtender Dritter in Erscheinung, auf der anderen kommt ihm eine aktive, auch eigene Interessen verfolgende Funktion zu. Ergebnisoffener Streit steht autoritärer Wahrheitssuche gegenüber. Es bleibt nun zunächst die Frage, wie sich das Konsensprinzip in den Gegensatz dieser beiden abstrakten Prozessprinzipien theoretisch einordnen lässt. Wenn das zunehmend in Mode gekommene Wort vom „Paradigmenwechsel“ mehr und mehr um sich greift und auch auf den Strafprozess verstärkt Anwendung findet, dann zeichnet sich darin eine Tendenz ab, die die Abkehr vom autoritären Modell eines inquisitorisch inspirierten Verfahrens fordert. Schlagkräftige Attribute wie „dialogisch“, „partizipatorisch“, „konsensorientiert“ und „kontradiktorisch“ kennzeichnen die Diskussion um eine Reform des Strafverfahrens. Diese Entwicklung lässt sich zusammenfassen in den viel beschworenen „Reprivatisierungstendenzen“2, die als modernes gesellschaftliches Phäno-
2 Diese sind insbesondere auch darauf zurückzuführen, dass das Ziel des Verfahrens verstärkt in der Herstellung von Rechtsfrieden durch Partizipation und Konsensfindung gesehen wird, vgl. Schünemann, NJW 1989, 1895, 1898; zur „Reprivatisierung des Strafverfahrens“ siehe auch Eser, ZStW 104 (1992), 361, 377.
I. Das Konsensprinzip als systemimmanenter Bestandteil
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men das Verhältnis von Staat und Individuum zunehmend prägen und so merklich auch auf das Strafverfahren als einem hochsensiblen Bereich des Ausgleichs zwischen staatlich wahrgenommenen Interessen der Allgemeinheit und den Freiheitsrechten des Einzelnen durchschlagen. Mit der Betonung der kommunikationsgeprägten Eigenschaften des Verfahrens ist eine Abkehr von der inquisitorisch geprägten, autoritären Wahrheitssuche durch das Gericht hin zu mehr offener Kommunikation praktisch notwendig verbunden3. Wenn sogar der Richterbund eine „prozessuale Streitkultur“ fordert, hierin aber keine Abstriche vom Prinzip der materiellen Wahrheit zulassen will4, so ist dies als Scheu vor der eigenen Courage zu verstehen, die in genau jene Antinomien mündet, die anhand des italienischen reformierten Prozesses aufgezeigt werden sollten. Wird die Idee einer Streitkultur in der ganzen Bandbreite der damit verbundenen Konsequenzen wirklich verinnerlicht, dann muss zugleich anerkannt werden, dass der prozessuale Streit per se die Möglichkeit einer prozessualen „Versöhnung“ in Form des gegenseitigen Einvernehmens in sich birgt. Eine rechtstheoretisch fundierte und nicht nur rechtspolitischen Strömungen oder dem Zeitgeist folgende Anerkennung des Konsensprinzips lässt sich systemgerecht nur in ein akkusatorisches Prozessmodell einordnen. An diesem Punkt muss jedoch begrifflich unterschieden werden zwischen dem akkusatorischen Prozesstyp als Idealmodell und dem Anklagegrundsatz als einer konkreten Verfahrensmaxime, die die Wirklichkeit sowohl des italienischen als auch des deutschen Strafprozesses prägt. Mit der Bezeichnung „akkusatorischer Prozesstyp“ ist in diesem Sinn freilich mehr gemeint als der Anklagegrundsatz, der unstreitig auch im deutschen Mischprozess eigener Prägung verwirklicht ist5. Der akkusatorische Prozess in Reinform ist ein Idealtypus, der den Normbruch als einen Streit konzipiert, der in einem geregelten Parteiverfahren zu schlichten ist. Der Akkusationsprozess als ideale Reinform basiert auf einer „ergebnisoffenen“ Streitkultur. Dementsprechend muss das Konsensprinzip als Legitima3 Die diesbezüglichen Bestrebungen in der Rechtspraxis fasst Wassermann, in: Gesamtreform des Strafverfahrens, S. 25, 31, dergestalt zusammen, dass sie „unter dem Stichwort ,Vermenschlichung des Gerichtsverfahrens‘ auf verbesserte Kooperation, Kommunikation und Kompensation im Gerichtsverfahren“ zielen. [. . .]. Mit der Zurücknahme der richterlichen Suprematie im Prozess soll eine vermehrte Partizipation der anderen Verfahrensbeteiligten einhergehen. 4 Vgl. den Beitrag des Deutschen Richterbundes und des Deutschen Anwaltsvereins „Für Streitkultur im Strafverfahren“, DRiZ 1997, 491, 492, wo es heißt, dass es Ziel des Verfahrens sei, „die Wahrheit [. . .] und damit den Rechtsfrieden durch Freispruch, Einstellung oder Verurteilung wiederherzustellen“. 5 So weist auch Löwe/Rosenberg-Rieß, Einl. F Rn. 8, daraufhin, dass die ein Prozessmodell kennzeichnenden Elemente oft den sog. Prozessmaximen oder Prozessgrundsätzen zugeordnet werden können, dass sich deren Bedeutung aber „freilich nicht damit erschöpft“.
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Kap. 4: Das patteggiamento als Modell für eine kodifizierte Absprache?
tionsstufe in einen Parteiprozess nicht erst gewissermaßen von außen in das akkusatorische Modell eingeführt werden, sondern es ist bereits notwendiger Bestandteil dieses Prozesstyps. Das Wesen akkusatorischen Prozesses erschöpft sich gerade nicht in dem Grundsatz, dass anklagende und richtende Behörde zwei verschiedene, sich gegenseitig kontrollierende Instanzen sind, sondern erfasst darüber hinaus auch gerade die „Streitkultur“ im Strafverfahren. Genau in diesem Punkt unterscheidet sich die Rezeption über die wesentliche Bedeutung der beiden Verfahrensprinzipien in der deutschen und italienischen Strafrechtswissenschaft. In Italien wird das Akkusationsmodell „in seiner genuinsten Form“ charakterisiert vor allem durch die Vorstellung „zweier sich gleichberechtigt gegenüber stehender Parteien“6. In der deutschen Diskussion wird hingegen das wesentliche Merkmal des Anklagegrundsatzes vornehmlich in der Trennung der Prozessphasen und der anklagenden und urteilenden Instanz gesehen, sowie im System wechselseitiger Abhängigkeit der beiden Behörden7. Damit wird die Tragweite des Anklageprinzips auf die „kontinentaleuropäische“ Wurzel des deutschen Amtsaufklärungsprozesses reduziert. Vor dem Hintergrund aber, dass der Idealtypus des akkusatorischen Prozesses weiter greift und dass zum akkusatorischen Grundverständnis die zurückgenommene Rolle des Gerichts in der Lösung eines komplexen Interessenausgleichs gehört, fügt sich das Konsensprinzip als Legitimationsstufe wie von selbst in ein akkusatorisch geprägtes Strafverfahren. Somit sind konsensuale Verfahrensformen nicht als ein drittes, dem akkusatorisch und inquisitorischen Prozesstyp gegenüberstehendes Verfahrensmodell zu verstehen8, sondern in ihnen ist vielmehr eine notwendige Konsequenz der Anerkennung einer akkusatorischen Streitkultur im Verfahren zu sehen.
6 Siracusano/Galati/Tranchina/Zappalà, Diritto processuale penale, Bd. 1, S. 35; Cordero, Procedura penale, S. 96, sieht den stile accusatorio vor allem als dialektisches Schauspiel, wettstreitende Spannung, offene Partie (spettacolo dialettico, tensione agonistica, partita aperta). 7 So die Beschreibung der wesentlichen Merkmale des Akkusationsprinzips bei Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 158; auch bei Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 82, reduziert sich das Akkusationsprinzip im Wesentlichen auf den Anklagegrundsatz, und damit auf die Notwendigkeit, „dass Richter und Ankläger nicht dieselbe Person sind“. So definiert beispielsweise Löwe/Rosenberg-Rieß, Einl. Absch. F 9, das deutsche gegenwärtige Strafprozessmodell als „staatlich betriebener Anklageprozess mit einer gerichtlichen Aufklärungspflicht“, was auch durch den Begriff der Inquisitionsmaxime zum Ausdruck gebracht werden könne. 8 Die Einteilung bei Weigend, Die Reform des Strafverfahrens, ZStW 104 (1992), 154, 157, der inquisitorischen und akkusatorischen Verfahrenstyp gegenüberstellt und als dritte Größe das konsensuale Verfahren in die Gegenüberstellung einführt, geht nach unserem Ergebnis an der zentralen Bedeutung des Konsenses als Kommunikationsergebnis vorbei.
I. Das Konsensprinzip als systemimmanenter Bestandteil
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2. Das kontradiktorische Verfahren als konsensoffene Methode Wenn das Konsensprinzip hier als Bestandteil eines akkusatorischen Prozessmodells vorgestellt wurde, so ist das nicht zuletzt in einer methodischen Überlegung begründet. Ein akkusatorisches Strafverfahren basiert auf einer offenen Streitkultur, in der dem Gericht eine schlichtende Funktion zukommt. Methodisch bedeutet dies, dass das Verfahren kontradiktorisch oder – hier synonym zu gebrauchen – adversatorisch9 durchgeführt wird. Kontradiktorisch bedeutet in diesem Zusammenhang mehr, als dass die Beweisaufnahme durch die Parteien erfolgt; es heißt nämlich ebenso, dass die sich selbst regulierende Dialektik des Prozesses besser geeignet ist, eine Rechtsfrieden stiftende „Wahrheit“ hervorzubringen, als die autoritäre Struktur eines inquisitorisch auf dem Amtsaufklärungsgrundsatz basierenden Prozesses. Der Begriff des „kontradiktorischen“ Verfahrens umschreibt dementsprechend zunächst nicht mehr als eine Methode, die ein gerechtes Urteil verbürgen soll und Partizipation im Verfahren zwingend voraussetzt. Zwar klingt in den Begriffen „kontradiktorisch“ und „adversatorisch“ an, dass es sich um entgegengesetzte Interessen handelt, die in einem Verfahren des Austauschs widerstreitender Argumente zu einer gerechten Lösung geführt werden sollen. Jedoch ist im Rahmen dieser Untersuchung bereits festgehalten worden, dass eine gerichtliche Entscheidung wesentlich von der Kommunikationssituation geprägt ist. Kommunikation im Strafprozess kann entweder streitig oder aber einvernehmlich verlaufen. Nicht etwa ist ein kontradiktorisches Verfahren notwendig mit einer streitigen Verhandlung verbunden. „Kontradiktorisch“ ist ein „verfahrensorientierter Begriff und damit ergebnisoffen“10. „Konsens“ ist hingegen ein „ergebnisorientierter Begriff“11, der eines kontradiktorischen Verfahrens zwingend bedarf. Damit steht ein konsensuales Verfahren nicht in einem Oppositionsverhältnis zum kontradiktorischen Verfahren12. 9 Jung, GA 2003, 191, 203 zieht aus einer Bilanz der Rechtsprechung des EGMR zu dem Thema den Schluss, dass sich „– jedenfalls in der prozessualen Rhetorik – das Modell eines adversatorischen Verfahrens mehr und mehr durchsetzt“. 10 Diese Terminologie findet sich bei Krause, AnwBl 2002, 36, der sie auf das Verhältnis von Partizipation und Konsens anwendet: „Jeder Konsens als Einvernehmen in der Sache setzt für sein Zustandekommen Partizipation voraus [. . .] Umgekehrt aber gilt: Partizipation führt keineswegs zwingend oder nur wahrscheinlich zum Konsens. Partizipation ist verfahrensorientiert und damit ergebnisoffen“. 11 Krause, AnwBl, 2002, 36. 12 Vgl. für den anglo-amerikanischen Raum auch die Wertung von Vogler, ZStW 116 (2004), 129, 148: „Konsensuale Erledigung ist das ideologische Herzstück eines Systems, das den Angeklagten als aktiven Teilnehmer, nicht als passives Objekt des Strafverfahrens behandelt. Es entspricht auch dem Wesen des adversatorischen Systems, denn im common-law-Bereich gibt es adversatorische Konfrontation auch schon im Ermittlungsverfahren, und ein plea bargaining ist gewöhnlich das Ergebnis
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Kap. 4: Das patteggiamento als Modell für eine kodifizierte Absprache?
Im Ergebnis lässt sich somit festhalten, dass die konsensuale Verfahrenserledigung im Sinne des einvernehmlichen Absehens von weiterer Sachverhaltserforschung eine mögliche systemimmanente Konsequenz einer kontradiktorischen Verfahrensmethode ist. Konsens kann das Ergebnis kontradiktorischer Methode sein, nicht aber eines instruktorischen Verfahrens, da hier die Überzeugung des Gerichts auf einen außerprozessualen Bezugspunkt gerichtet bleiben muss, der nicht durch den Parteienkonsens ersetzt werden kann. Der Instruktionsprozess verlangt die Annäherung an das außerprozessuale Geschehen, der rein kontradiktorische Prozess schafft sich seinen Prozessgegenstand selbst. Anders formuliert: Ein kontradiktorisches Verfahren kann, braucht aber nicht zum Konsens zu führen, ein Konsens braucht aber unbedingt ein kontradiktorisches Verfahren13. 3. Ergebnis: Die verhaltene Öffnung des italienischen Systems Nachdem ausgeführt worden ist, dass konsensuale Verfahrenserledigung sich als eine in der Natur des kontradiktorischen Verfahrens liegende Ausprägung eines akkusatorischen Prozessmodells darstellt, soll nun unter Rückgriff auf die Ergebnisse des dritten Kapitels untersucht werden, warum der verfahrensbeendende Konsens dennoch auch im italienischen, erklärtermaßen nach akkusatorischen Grundsätzen reformierten Verfahren als ein Fremdkörper im System verstanden wird, der nur schwierig mit der Prozessordnung in ihrem Gesamtgefüge in Einklang gebracht werden könne. Gerne wird in diesem Zuammenhang auf die dem Konsens- und Dispositionsgedanken fremde, andere kulturelle und wissenschaftliche Tradition verwiesen14.
harter und kompromissloser Verhandlungen, die oft in feindseliger Atmosphäre stattfinden.“ Anders aber die wohl überwiegende Ansicht, in der deutschen Diskussion vgl. bespielsweise Schöch, in: Gesamtreform des Strafverfahrens, S. 99, stellt die Opposition kontradiktorisch/kooperativ auf. Auch diese Begriffe stehen sich aber nicht etwa als Gegensätze gegenüber, sondern auch Kooperation im Prozess, die sich nicht in Unterwerfung erschöpft, verlangt die Möglichkeit der Mitwirkung und somit ein in der Methode kontradiktorisches Verfahren; hier wird der Gegensatz unterschiedlicher Kommunikationssituationen, nämlich kooperatives und konfrontatives Prozessverhalten, mit einem methodischen Gegensatz vermengt. Auch Weigend, ZStW 104 (1992), 486, 500, versteht Kooperation ausschließlich als „Unterwerfung des Beschuldigten“ und führt dies auf das „unüberwindliche Machtgefälle zwischen dem Staat und jedem seiner Bürger“ zurück. Salditt, in: Gedächtnisschrift für Ellen Schlüchter, 65, 72, spricht in Bezug auf die Fehlentwicklung der „Sanktionsscheren“ in der Absprachenpraxis davon, dass sich „die konsensuale Alternative – ohne schamhafte Verschleierung – von der kontradiktorischen Regel“ löse. Das konsensuale Vorgehen ist aber, sofern es nicht auf Zwang, Druck oder Täuschung beruht, nach der hier vertretenen Auffassung gerade keine Alternative zum kontradiktorischen Verfahren, sondern ein Bestandteil dieser Methode. 13 So auch Steinhögl, S. 141, wenn sie feststellt: „Von der Normstruktur her muss ein konsensuales Verfahren gleichzeitig ein kontradiktorisches sein“.
I. Das Konsensprinzip als systemimmanenter Bestandteil
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Zwar setzt die italienische Wissenschaft wie auch die Rechtsprechung den akkusatorischen Prozess praktisch mit einem Parteiverfahren gleich und zählt zu den wesentlichen Elementen des Akkusationsprinzips auch gerade das methodische Moment eines kontradiktorischen Verfahrens. Dennoch bewegt man sich, in unauflösbaren Aporien verharrend, auch in Italien in weiten Teilen der wissenschaftlichen Diskussion noch auf dem Boden der Idee eines der „Ergebnisrichtigkeit“ verpflichteten Strafprozesses. Wenn in Deutschland vom Anklagegrundsatz die Rede ist, bezeichnet dies nur einen Teil dessen, was die italienische Diskussion mit dem Begriff accusatorio umschreibt, da der italienische Gebrauch des Terminus „akkusatorisch“ sich an dem idealen Prozesstyp orientiert, der als ein Parteiverfahren ausgestaltet sein muss, dass also akkusatorisches und kontradiktorisches Verfahren untrennbar miteinander verbunden sind15. Dass diese Verbindung aber nur „halbherzig“ vollzogen worden ist, hängt damit zusammen, dass sich insbesondere nach zahlreichen Entscheidungen des Verfassungsgerichts auch der reformierte Prozess weiterhin der „kontinentaleuropäischen Tradition“, die auf dem Axiom der „materiellen“ Wahrheit beruht, verpflichtet fühlt16. In der italienischen Diskussion überwiegt dementsprechend die Vorstellung, dass ein kontradiktorisches Verfahren nur dasjenige ist, in dem streitig in der Hauptverhandlung verhandelt wird. Kontradiktorisch wird damit nicht als ergebnisoffene Methode verstanden, sondern als eine auf die materielle Wahrheit gerichtete, konfrontative Dialektik der Entscheidungsfindung. Folglich wird der Konsens nicht als mögliches Ergebnis eines kontradiktorischen Verfahrens begriffen, sondern gerade zu diesem in Opposition gesetzt. Darin kommt wiederum zum Ausdruck, dass contraddito14 Auf diesen Umstand führen die sezioni unite des Kassationsgerichtshofes sämtliche Wertungsprobleme zurück, die im Zusammenhang mit dem patteggiamento auftreten, Cass. pen. sez. un., Cass. pen. 1997, 3343, Entscheidung vom 28. Mai 1997; in der Entscheidung heißt es ausdrücklich, dass die einzige Rechtfertigung des Rechtsinstituts innerhalb der italienischen Rechtsordnung in den im Hinblick auf die Hauptverhandlung deflatorischen Anwendungsperspektiven liege. („Le prospettive applicative in chiave deflativa hanno rappresentato l’unica ragione giustificatrice della sua ammissibilità nel nostro ordinamento“). 15 Vgl. Tranchina, in: Diritto processuale penale, Bd. 1, S. 35, der zu den wesentlichen Eigenschaften des accusatorio in seiner „genuinsten Form“ zählt, dass die Tatsachenfeststellung auf die freie Initiative der Parteien zurückzuführen ist, und dass das Gericht von jedem Initiativrecht in der Beweisgewinnung ausgeschlossen wird. In der hiesigen Diskussion wird der Begriff kontradiktorisch freilich auch nicht einheitlich verwendet: wo die einen ausdrücklich ablehnen, dass es sich beim deutschen Strafprozess um ein kontradiktorisches Verfahren handelt, setzen andere den Begriff praktisch mit einem streitigen Verfahren gleich. Von einem kontradiktorischen Verfahren könne nicht gesprochen werden, da der Staatsanwaltschaft keine Parteistellung zukomme, sondern diese vielmehr im Laufe des gesamten Verfahrens der Objektivität verpflichtet sei, vgl. Löwe/Rosenberg-Rieß, Berlin 1999, Einl. Absch. I, Rn. 47; in diesem Sinn auch Roxin, § 17, Rn. 5; anders aber Krause, AnwBl. 2002, 36, der im deutschen Strafprozess bereits ein kontradiktorisches Verfahren verankert sieht. 16 Vgl. hierzu oben Kapitel 3 II. 4.
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Kap. 4: Das patteggiamento als Modell für eine kodifizierte Absprache?
rio nicht als Idee einer Interessen ausgleichenden Gerechtigkeit konzipiert wird, sondern „nur“ als die den rechtsstaatlichen Garantien genügende Verfahrensmethode, die im Zweifel im Dienste der Wahrheitsfindung durch den Grundsatz der Amtsaufklärung ergänzt werden muss, was sich in den stetig aufgewerteten Beweiserhebungsrechten des Gerichts widerspiegelt. Einvernehmliche Kommunikation wird nicht als Bestandteil eines kontradiktorischen Verfahrens anerkannt. In diesem Punkt liegt die entscheidende Gemeinsamkeit in der Beurteilung konsensualer Verfahrenserledigung in Deutschland und Italien. Die Konvergenz der Systeme ruht damit in ihrer gemeinsamen Wurzel, die das Strafverfahren mehr der Wahrheitssuche als einem Interessenausgleich verpflichtet sieht. Dabei wird aber in der italienischen Diskusison der Umstand nicht hinreichend gewürdigt, dass ein kontradiktorisches Verfahren schon methodisch an die Interessen der „Widerstreitenden“ gebunden ist. Diese Interessen müssen in der Kommunikationssituation des Verfahrens aber nicht zwangsläufig divergieren. Wenn hier das Wesen konsensualer Verfahrenserledigung sowohl im patteggiamento als auch in der deutschen Absprachenpraxis in dem einvernehmlichen Absehen von weiterer Sachverhaltsermittlung gesehen wird, dann ergibt sich genau aus diesem Aspekt die „systematische Schieflage“ im Gesamtgefüge beider auf dem Axiom der materiellen Wahrheit ruhenden Prozessordnungen17. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, dass die italienische rechtswissenschaftliche Diskussion den reformierten Prozess als akkusatorische Überwindung des inquisitorischen Verfahrens in Anerkennung der „prozessualen Dialektik“ gefeiert hat18, nahezu einstimmig aber der Überzeugung ist, dass sich gerade in den besonderen Verfahren – und hier vor allem im patteggiamento – alte, überwunden geglaubte inquisitorische Strukturen wieder Bahn brechen19. Das konsensuale Verfahren wird in dieser Lesart auf den inquisitori17 Der Aspekt, dass im patteggiamento von der Erforschung der Wahrheit gerade abgesehen wird, führt in Italien auch zu heftiger Kritik. So mündet beispielsweise die Fundamentalkritik an der patteggiamento-Praxis bei Devoto, Dir. pen. e proc. 1997, 628, in den Worten, dass der Prozess immer weniger einen Akt der Rechtsprechung darstelle, sondern mehr und mehr zu einem Verfahren werde, das lediglich die Anzeige einer Straftat „verwalte“ und auf eine Einigung außerhalb der Hauptverhandlung angelegt sei. Moccia, in: Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften, S. 293, 296, weist auf die faktische Aufgabe der Erkenntnisfunktion des Verfahrens durch konsensuale Beendigungen hin, denn: „in erkenntnistheoretischer Hinsicht muss besonders hervorgehoben werden, dass die (versuchte) Förderung verkürzter Verfahren darauf hinausläuft, die traditionelle Erkenntnisfunktion des Verfahrens preiszugeben. Ganz bewusst scheint die Aufklärung des Geschehens nicht mehr im Mittelpunkt des prozessualen Interesses zu stehen.“ Dieser Aspekt wird hier aber sehr kritisch gesehen und nicht etwa auch als „Chance“ eines modernen Strafprozesses verstanden. 18 Vgl. hierzu die Begründung zum definitiven Text der reformierten Prozessordnung (relazione al testo definitivo del codice di procedura penale), LEX 1988, 633, 635.
II. Unterschiede zwischen Absprachenpraxis und patteggiamento
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schen Beweistransfer in einer Entscheidung „nach Aktenlage“ reduziert. Übergangen wird, dass legitimierend nicht die Übereinstimmung der Entscheidungsgrundlage mit der Aktenlage – denn diese wird gerade nicht „vollständig“ festgestellt – sondern nur der zwischen den Parteien erreichte Konsens wirken kann. Wenn entsprechend der Grundlegung nach der hier vertretenen Auffassung das konsensuale Verfahren als eine mögliche konsequente Ausprägung einer akkusatorischen Grundstruktur, und nicht etwa als ein dritter Prozesstyp neben akkusatorischen und inquisitorischem Modell zu verstehen ist, so muss an diesem Punkt festgehalten werden, dass auch in Italien diese Form der „Streitkultur“, die dem Konsens eigene legitimierende Wirkung beimisst, nicht verinnerlicht ist. In der Aufwertung des Konsenses zum Legitimationsprinzip liegt die Anerkennung, dass ein Konsens als mögliche Folge eines „Interessenstreits“ ebenso zu einer akkusatorischen Streitkultur gehört, wie die konfrontativ durchgeführte Hauptverhandlung. Dieser Schritt ist in Italien nicht gegangen worden, warum auch dort die konsensuale Verfahrenserledigung als ein Fremdköper im System gewertet wird. Wenn also der Einbruch konsensualer Beendigungsformen in beiden Verfahrensordnungen als nicht systemkonform erachtet wird, so schließt sich an diese Übereinstimmung doch ein wesentlicher Unterschied. Die prozessuale Ausgestaltung des „Fremdköpers“ im System folgt in Italien konsequent dem Konzept der „Andersartigkeit“, und in dieser Abkehr von der Tradition ist die gesetzliche Regelung in Italien deutlich weiter gegangen als die Absegnung der Abpsrachenpraxis durch die Rechtpsrechung des Bundesgerichtshofs. Dass innerhalb des konsensualen Instituts durch gesetzliche Normierung ein großer Schritt auf dem Weg zur Anerkennung des Konsenses als Legitimationsgrundlage eines Strafurteils gegangen worden ist, soll nun anhand einer Gegenüberstellung der wichtigen Strukturunterschiede im einvernehmlichen Verfahren in Deutschland und Italien aufgezeigt werden.
II. Wichtige Strukturunterschiede zwischen Absprachenpraxis und patteggiamento Die Darlegung der wichtigen Strukturunterschiede zwischen Absprachenpraxis und patteggiamento soll das wesentliche Differenzierungskriterium erkennen lassen. Vorangestellt sei die These, dass die prozessuale Struktur des patteggiamento Rückschlüsse darauf zulässt, dass die italienische Prozessordnung im konsensualen Verfahren der Strafverhängung auf Antrag bereits einen disponiblen Verfahrensgegenstand zugrunde legt und prozedurale Gerechtigkeitspara19
Vgl. hierzu oben Kapitel 3, Fn. 419.
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Kap. 4: Das patteggiamento als Modell für eine kodifizierte Absprache?
meter etabliert hat. Ein vergleichender Blick auf die wesentlichen strukturellen Elemente der Institute soll verdeutlichen, dass die gesetzliche Konzeption des italienischen Konsensualantrags in ihrer impliziten Anerkennung eines verfügbaren Verfahrensgegenstandes der deutschen Absprachenpraxis viel näher ist, als die in der Grundsatzentscheidung BGHSt 43, 195 entworfene „Verfahrensordnung für abgesprochene Urteile“ glauben lassen will. 1. Zweiseitiger Antrag gegenüber dreiseitiger Aushandlung Das patteggiamento ist als „bilaterales“ Rechtsgeschäft zwischen Beschuldigtem und Staatsanwaltschaft ausgestaltet. In der Praxis kommt es zwar auch vor, dass vor den Verhandlungen inoffizielle Stellungnahmen des Gerichts eingeholt werden20, die eigentlich förmliche Konzeption ist aber eine eindeutig zweiseitige. Das Gericht ist nur Adressat, ansonsten aber nicht involviert, wenn sich die Parteien zur Stellung eines Konsensualantrags entschließen. In Deutschland ist indes die Regel, dass das Gericht in den Verständigungsprozess miteinbezogen wird, wenn nicht von diesem sogar die Initiative ausgeht. Ein patteggiamento wird überwiegend auf Initiative des Beschuldigten eingeleitet 21. Die Problematik einer Beteiligung des Gerichtes liegt auf der Hand. Wird der urteilende Spruchkörper einbezogen, kann der Druck auf den Angeklagten wachsen. Es muss sich ihm der Eindruck aufdrängen, das Gericht habe sich bereits insoweit eine Meinung gebildet, als es einen Freispruch nicht mehr für möglich hält. Verhandlungsangebote, die vom Gericht ausgehen, können einen größeren Zwang zur Kooperation ausüben, als solche, die nur von der Anklage herrühren. Hinzutritt der bedenkliche Umstand, dass die Beteiligung des Richters allzu leicht seine Unparteilichkeit beeinträchtigt22. Dass das Gericht von den „Verhandlungen“ ausgeschlossen bleibt, wird in Italien nicht nur positiv bewertet. So ist beispielsweise der Vorschlag gemacht worden, das Gericht in die Gespräche einzubeziehen und ihm auf diese Weise die Möglichkeit zu geben, die Diskussion zu lenken, in ihre Schranken zu weisen, formale und materielle Fehler in der Übereinkunft zu beanstanden und so als „synthetisches Moment“ der Interessengemengelage, unter Rücksichtnahme 20 Vgl. Sturiale, Giur. merito, 1991, IV, 206; zur Stellung des Gerichts als „informelle Partei“ der Einigung auch, Di Chiara, in: Il patteggiamento, S. 23, 38 f., wo sich ein Verweis darauf findet, dass bereits vom „trilateralen Geschäft“ gesprochen werde (S. 39); vgl. zu der Konstellation, dass das Gericht nach Ablehnung eines Antrags die Parteien auffordert, erneut einen entsprechend der Ablehnung abgeänderten Antrag zu stellen Cass. sez. I, 13. Dezember 1991, Riv. pen. 1993, 481. 21 Manozzi, razionalità e giustizia nella commisurazione della pena, S. 140. 22 Vgl. hierzu Damaska, StV 1988, 398, 399; entschieden negativ wertet hingegen Weigend, JZ 1990, 774, 779 die Zweiseitigkeit des Antrags, da der Einfluss des Richters zu gering werde und die Verteidigung in eine „Doppelrolle“ gerate.
II. Unterschiede zwischen Absprachenpraxis und patteggiamento
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auch auf das Opfer, zu fungieren23. In diese Richtung geht auch die Entwicklung der Praxis, in der nach der Grundsatzentscheidung des Verfassungsgerichts von 1990 die Rolle des Gerichts in dem „Aushandeln“ einer Einigung stetig an Bedeutung gewann24. Die grundsätzliche Entscheidung des Reformgesetzgebers für die Zweiseitigkeit des Instituts ist aber als Ausdruck des rechtsgeschäftlichen Charakters zu verstehen. Die in der Praxis zu beobachtende Aufwertung der Rolle des Gerichts auch im Bereich bilateraler Konsensualanträge fügt sich in die Tendenz, die als „schleichende Gegenreform“ bezeichnet worden ist. Hier findet gewissermaßen eine Annährung der italienischen Praxis an die hiesigen Gepflogenheiten statt, die jedoch in den gesetzlichen Bestimmungen keinerlei Grundlage findet. Dass gerade die Initiierung verfahrensbeendender Absprachen durch das Gericht zu einer erheblichen Drohkulisse für den Beschuldigten werden kann, stellt einen wesentlichen Angriffspunkt der deutschen Absprachenpraxis dar. Der italienische Reformgesetzgeber hatte sich dementsprechend für eine zivilprozssual geprägte bilaterale Ausgestaltung entschieden. Trotz des Einwands, die Praxis entferne sich zuenhmend von der gesetzlichen Konzeption, ist die zweiseitige Struktur des Antrags im italienischen Verfahren konsequent. Die allgemein im System des reformierten Prozesses ursprünglich zurückgenommene Rolle des Gerichts vertrüge sich schlecht mit einem Initiativrecht für konsensuale Verfahrenserledigungen. 2. Prozessualer Antrag gegen materielles Geständnis In der informellen Absprachenpraxis, wie sie in deutschen Gerichten praktiziert wird, ist ein Geständnis notwendige Voraussetzung für den Eintritt in „Verhandlungen“. Die Auseinandersetzung um die Mindestanforderungen an ein solches „verfahrensorientiertes“ Geständnis, das in der Regel „schlank“ formuliert und direkt Teil eines Aushandlungsprozesses ist und vom Verteidiger formuliert wird, schärft zwar das Bewusstsein dafür, dass es sich bei einem „abgesprochenen“ Geständnis um etwas wesentlich anderes handelt als um ein streitig gewonnenes Beweismittel. Die Diskussion zeigt aber auch, dass sie sich stets im Bereich der Wertung eines materiell-rechtlich wirkenden Schuldeingeständnisses bewegt. Das „Vorleistungsrisiko“ trifft den Angeklagten allein25. In Italien hat hingegen der Antrag auf Strafverhängung oder die Zustimmung zu einem von der Staatsanwaltschaft gestellten rein prozessualen Verfügungscharakter. Dies gilt, obgleich die Rechtsprechung zum Teil bemüht ist, in die pro23
Campoli, Arch. n. proc. pen., 2002, 123, 126. Vgl. zu dieser Tendenz, Di Chiara, in: Il patteggiamento, S. 23, 38; zur eine Einigung anregenden Rolle des Gerichts auch Cass. pen. sez. I., 13. Dezember 1991, Arch. n. proc. pen. 1992, 752. 25 Vgl. hierzu oben Kapitel 2 III. 1. b); wie auch insbesondere Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 40 ff. 24
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Kap. 4: Das patteggiamento als Modell für eine kodifizierte Absprache?
zessuale Verfügung und dem damit verbundenen prozessualen Verzicht auf Verteidigung ein materielles Schuldeingestehen hineinzuinterpretieren26. In der gesetzlichen Ausgestaltung des Antrags findet sich eine Stütze für diese Wertung nicht. Im Gegenteil ist die prozessual-rechtsgeschäftliche Natur des Antrags immer wieder in den Vordergrund gerückt worden, so dass eine etwaige Rücknahme des Antrags vor Zustimmungserklärung durch die Staatsanwaltschaft zum Übergang ins streitige Verfahren vor einem anderen Spruchköper führt, und sich die Frage der Verwertbarkeit des Einlassens auf die Einigung gar nicht erst stellt. Als rein prozessuale Erklärung entfaltet der Antrag keine Beweiswirkung in einem etwaigen, streitig geführten Folgeverfahren. Die unterschiedliche Wertung der Einlassung einmal als prozessualer Antrag und daneben als ein Geständnis, das zwar weitgehend ein „schlankes“ sein dürfte, aber dem dennoch materiellrechtliche Wirkung zugesprochen wird, lässt Rückschlüsse auf die unterschiedliche Konzeption der Schuldkategorie zu. Die Idee strafrechtlich relevanter Schuld wird über den kommunikationstheoretischen Aspekt des prozessualen Antrags funktionalisiert. Durch die Ausgestaltung als rein prozessuale Verfügung wird in Italien das Vorleistungsrisiko gebannt. Die strengen Regeln zum gesetzlichen Ausschluss von Richtern sollen ihrerseits garantieren, dass die Stellung eines Antrags bei Scheitern der Verständigung gerade nicht zur Verwirklichung eines Vorleistungsrisikos führt. Es lässt sich somit zusammenfassend feststellen, dass von einer Vorleistung im italienischen Modell nicht gesprochen werden muss, da der einen Antrag ablehnende Richter für die streitige Hauptverhandlung ausgeschlossen ist, da die Ablehnung des Antrags regelmäßig in der Hauptverhandlung gerichtlich überprüfbar bleibt, und weil schließlich der prozessualen Erklärung kein Geständnischarakter für ein sich anschließendes Hauptverfahren zukommt. Ihrer Natur als rein prozessuale Verfügung entsprechend wird ein durch das Gericht abgelehnter Antrag auch nicht in die Akte für die Hauptverhandlung eingeführt27. Das Gericht der Zwischenverhandlung lässt die Klage zur Hauptverhandlung zu, ohne dass für das Gericht der Hauptverhandlung ersichtlich wäre, ob im Zwischenverfahren versucht worden ist, das Verfahren einvernehmlich zu beenden, da das Protokoll der Zwischenverhandlung nicht in die Akte für die Hauptverhandlung eingeführt wird. Das Gericht der Hauptverhandlung erlangt Kenntnis von dem Antrag nur dann, wenn der Angeklagte diesen zum Auftakt der Hauptverhandlung nach Art. 448 c.p.p. erneut stellt. 26 Vgl. Cass. sez. un., ud. 27. März 1992, Cass. pen. 1992, 2060; im Übrigen ist hinsichtlich der Diskussion um den Geständnischarakter nach oben zu verweisen, siehe Kapitel 3. IV. 2. b). 27 Die Zusammenstellung der Akte für die Hauptverhandlung ist in Art. 431 c.p.p. geregelt.
II. Unterschiede zwischen Absprachenpraxis und patteggiamento
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Dass die Wertung des Antrags als prozessuale Verfügung die einzig „ehrliche“ Qualifizierung des Einlassens auf eine konsenusale Verfahrensbeendigung ist, belegt die deutsche Diskussion um das „schlanke Geständnis“. Geht es doch in konsensualer Entscheidungsfindung gerade nicht um ein materielles Geständnis, das die Überzeugung des Gerichts vom pauschal zugestandenen Sachverhalt begründet, sondern nur um ein prozessuales Nichtbestreiten. Die italienische Regelung, die sich für einen „prozessualen Antrag“ entschieden hat, trägt somit dem dispositiven Charakter des Instituts dort Rechnung, wo die deutsche Rechtsprechung und Wissenschaft sich die Absprachen noch weitgehend als verfahrensfördende, materielle Geständnisse „schönreden“. 3. Prozessuale Strafzumessung gegen materielle Strafmilderung Im Rahmen eines patteggiamento wird das Strafmaß gemeinsam beantragt und ist somit Teil der Übereinkunft der Parteien. Erst seit der richtungweisenden Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichts28 ist die Prüfungskompetenz des Gerichtes auf die Frage der Angemessenheit der Strafe ausgedehnt worden. Jescheck29 gelangt dementsprechend zu dem Schluss, dass sich im konsensualen Verfahren italienischer Prägung die Kriminalstrafe in eine Konventionalstrafe gewandelt habe, die nicht mehr das Gericht als verdient auferlege, sondern die von den Parteien ausgemacht und vom Gericht nach summarischer Prüfung akzeptiert werde. Der Wertung als „Konventionalstrafe“ widerspricht aber, dass das Verfassungsgericht die richterliche Prüfungskompetenz hinsichtlich der Angemessenheit der Strafe als unabdingbar erklärt hat. Zwar ist die Bestimmung des Strafmaßes weitgehend in die Hände der Parteien gelegt. Disponibel wird sie indes nicht, da das Gericht nunmehr von Gesetzes wegen verpflichtet ist, die Angemessenheit der Strafe zu überprüfen. Es wird somit zwar weitgehend seines Ermessens in der Strafzumessung beraubt30, behält aber seine Kontrollfunktion. Entscheidend für den Wandel im Strafzumessungsrecht ist aber, dass das Gesetz ausdrücklich die Minderung der Strafe um ein Drittel vorschreibt und somit neue Strafzumessungskriterien anerkennt. Von einer regelrechten „Umkehr des Verhältnisses von Sanktion und Prozess“ spricht daher auch Kalb, denn nicht der Prozess sei Instrument für die Anwendung einer Sanktion, sondern vielmehr stelle sich die Sanktion als ein Anwendungsmittel prozessualer Rechtsinstitute dar31. Mannozzi sieht patteggiamento 28
Corte cost. sent. n. 313/1990, Foro it. 1990, 2385 ff. Jescheck, in: Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 659, 678. 30 Vgl. zu diesem Aspekt Manozzi, S. 409. 31 Kalb, in: Studi in ricordo di Giandomenico Pisapia, S. 379, 386; in die gleiche Richtung geht der Kommentar bei Orlandi, in: L’effettività della sanzione penale, 29
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und giudizio abbreviato als die Schöpfer „selbstständiger Strafzumessungsregeln“32. Ausdrücklich haben auch die sezioni unite des Kassationsgerichtshofs darauf verwiesen, dass es sich bei der Strafminderung ex Art. 444 c.p.p. nicht um eine materielle Zumessungsvorschrift im Sinne des Art. 70 c.p. handele, sondern dass die Minderung rein „prozessualer Natur“ sei33. Die Strafrabatte können weder an der retributiven, noch an der spezialpräventiven Funktion der Strafe anknüpfen34. Ob sie sich aber mit der Idee der gerechten Strafe vereinen lassen, wird durchaus unterschiedlich bewertet35 und hängt von der eingangs gestellten Frage nach den Gerechtigkeitsmaßstäben im Strafverfahren ab. Festzuhalten bleibt, dass Einigkeit darüber besteht, dass der Strafrabatt des patteggiamento nicht von den materiellrechtlichen Strafzumessungskriterien erfasst werde, sondern dass in der Milderung vielmehr ein eigenständiger prozessualer Strafzumessungsfaktor zur Geltung komme. Dementsprechend muss sich auch der Maßstab für die gerichtliche Angemessenheitsprüfung verfahrensorientiert ändern. Die funktionale Strafmilderung ist nicht vollkommen in die Disposition der Parteien gestellt, sondern bereits gesetzlich festgesetzt. Den Parteien verbleibt aber ein theoretischer Ermessensspielraum, der sich in der Formulierung der Strafmilderung „um bis zu einem Drittel“ äußert, in der Praxis aber kaum zum Tragen kommen dürfte, da der Antrag wohl stets das gesetzliche Höchstmaß an Milderung beinhaltet. Aufgrund der Informalität der deutschen Absprachen und der damit verbundenen Unsicherheitsfaktoren in der Strafzumessungspraktik ist die Auseinandersetzung um die Vereinbarkeit mit den Regeln der Strafzumessung eine in hohem Maße unehrliche Angelegenheit. Das Geständnis allein soll die Strafmilderung
S. 37, 43, der eingesteht, dass mit der Strafzumessung im patteggiamento eine Grenze überschritten werde, die verbunden war „mit der klassischen Vorstellung der Beziehung von Prozess und Sanktion“. Das alternative Verfahren werde nunmehr zu einem Mittel, das dazu tendiere, „die Sanktion den Bedürfnissen des prozessualen Systems anzupassen, sei es auch unter der Voraussetzung gesetzlich bestimmter Paradigmen“. Nicht mehr der Prozess fungiere als Mittel, um die Strafe durchzusetzen, sondern die Strafe sei gewissermaßen das Instrument, das den Prozess erst ermögliche (S. 49). 32 Manozzi, S. 389; das Strafzumessungssystem könne nicht mehr als einem „einheitlichen Paradigma“ untergeordnet verstanden werden (S. 415). 33 Cass. sez. un., 1. Oktober 1991, Foro it. 1992, 11, 15; so auch Cass. pen. sez. VI, 2. April 1996, Riv. pen. 1996, 1367; so auch Furgiuele, S. 40. 34 So auch Bricola, Indice penale 1989, 313, 332. 35 Bricola, a. a. O., 332, z. B. argumentiert gegen die Vereinbarkeit des Strafnachlasses mit der Idee der „gerechten Strafe“; ganz anders indes Pagliaro, Riv. it. dir. e proc. pen, 1990, 36 ff., der die pena giusta an das Konzept der positiven Generalprävention anbindet und somit von dem rein retributiven Vorverständnis löst; für die prozessualbegünstigende, von materieller Zumessung gelöster Funktion des Strafnachlasses auch Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 162; kritisch zum Strafnachlass aus dem Aspekt einer Verletzung des Gleichheitsgebotes, Pittaro, in: Il patteggiamento, S. 5, 17.
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rechtfertigen. Diese materiellrechtliche Wirkung des „Einlassens auf den Deal“ ist dogmatisch nicht haltbar36. Die unvertretbare Sanktionsschere, die in zahlreichen Fällen gescheiterter Absprachen offenbar geworden ist, ist ein gravierendes Symptom der mangelnden Auseinandersetzung mit der Frage der Strafzumessung im konsensualen Verfahren. Wenn der in der Grundlegung vorgenommenen Trennung in Zurechnungsund Urheberschuld37 gefolgt wird, dann erschließt sich der gesetzlich vorgesehene Strafnachlass über den Gedanken einer durch das Prozessverhalten verringerten Strafzurechnungsschuld, da im Wesen dieses Schuldmaßstabes liegt, dass funktionale Aspekte hierin Berücksichtigung finden. Im Bereich „ausgehandelter Schuld“ (und um nichts anderes kann es gehen, will man nicht selbstbetrügerisch einen wesentlichen Aspekt der Absprachen leugnen) müsste dann aber offen zugestanden werden, dass auch die Strafbegründungschuld funktionalisiert wird. Genau dieser Schritt wird implizit in Italien auch gegangen, wenn mehrheitlich anerkannt wird, dass eine vollständige Feststellung der Tat- und Schuldfrage gerade nicht erforderlich ist. Dass sich auch die im Rahmen informeller Absprachen gewährten Strafmaßnachlässe materiellrechtlich nicht begründen lassen, dürfte ein offenes Geheimnis sein. Wird dennoch auf die materiellrechtliche Wirkung eines „schlanken“ Geständnisses verwiesen, so erweist sich dies als eine unehrliche Konstruktion, die die prozessuale Dynamik der Absprachen bewusst verschweigt. 4. Prozessuales Rechtsgeschäft gegen materielles Rechtsgespräch Aus der Zusammenschau der aufgeführten einzelnen Unterschiede ergibt sich, dass es sich beim patteggiamento um ein verbindliches prozessuales Rechtsgeschäft mit bindender Wirkung (Ablehnung oder Annahme) handelt, das mit entsprechenden prozessualen Absicherungen ausgestaltet ist. Das Institut ist geprägt von seiner prozessual-materiellen Doppelnatur: ein prozessualer Antrag, der anderes sein soll als ein Geständnis, bestimmt die materiellrechtliche Sanktion. Das Stellen eines Antrags oder die Zustimmung zu einem solchen seitens des Angeklagten sind ausschließlich Willenserklärungen mit der Folge, dass sie, sofern eine Einigung nicht erzielt wird, nicht als Beweise zu Lasten des Angeklagten verwertet werden dürfen38. Eine prozessuale Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit ohne materielle Tatsachenfeststellung führt zu einem 36
Vgl. hierzu oben Kapitel 2 III. 3. Vgl. hierzu oben Kapitel 1, II. 1. d); zur Begrifflichkeit von „Strafzumessungsschuld“ und „Strafbegründungsschuld“ siehe Schäfer, Praxis der Strafzumessung, Rn. 309 ff. 38 Giarda/Spangher-Rigo, Codice di procedura commentato, Art. 444 Ziff. 2. 37
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Urteil, das im Ergebnis ein Schuldspruch mit besonderen Rechtsfolgen ist. Und nicht zuletzt basiert auch die Strafzumessung auf dem prozessualen Rechtsgeschäft. Sämtliche Ansätze in der deutschen Diskussion, die bestrebt sind, die informelle Praxis mit den Grundsätzen des Strafprozesses zu vereinen, beruhen hingegen gerade auf dem Gedanken, dass Verständigung im Strafprozess als ein kommunikativer Prozess zu werten ist, der die Wahrheitsfindung nicht aufgibt, sondern lediglich erleichtert, da im Geständnis des Angeklagten ja gerade der materiellrechtliche Anknüpfungspunkt für die vom Gericht zu entscheidende Schuld- und Straffrage liege. Eine so verstandene Form des Rechtsgespräches kann aber nur die Funktionstypen von Absprachen erfassen, die rechtstheoretisch unproblematisch sind, weil sie unter dem Vorzeichen der „faktischen Gewissheit einer ohne sie zu erwartenden Verurteilung ergehen“ und damit als lediglich „verfahrensökonomische Erledigung“ zu werten sind39. Sie bezeichnen also nur die Kommunikationssituation mit einem kooperativen Beschuldigten bei einer die Überzeugung des Gerichts auch im Übrigen hinreichend stützenden Beweislage. Dass sich jedoch in dieser Form kooperativer Kommunikation die Absprachenpraxis nicht erschöpft, ist offensichtlich. Vielmehr geht es bei den hier interessierenden Verständigungen gerade darum, die Aufklärungspflicht des Gerichts durch ein meist „schlank“ bleibendes Geständnis bewusst einzuschränken. Dann aber kann nicht mehr die Rede sein von einer Kommunikationssituation, die verfahrensfördernd wird, weil sie in der Sache unnötige weitere Beweisanträge vermeidet, sondern dann handelt es sich um ein „verfahrensbeendendes Rechtsgespräch“, dessen Ergebnis materiellrechtlicher Wert in der Strafzumessung beigemessen wird, obwohl es sich in der Sache in einer prozessualen, strategischen Erklärung erschöpft. Die Konstruktion eines unverbindlichen Rechtsgespräches, das seine Wirkung nur über den materiellrechtlichen Aspekt des Geständnisses und die hierauf gründende Überzeugung des Gerichts entfaltet, muss im Ergebnis als gescheiterter Selbstsbetrug gelten. So liegt auch in der Gesamtschau der strukturelle Unterschied weniger in der Sache der konsensualen Entscheidungsfindung als vielmehr in dem Umgang mit dem Einbrechen rein prozessualer Kriterien in die Entscheidungsgrundlage.
39 So die Umschreibung bei Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 21, für den gesetzlich definierten Bereich von Absprachen im Rahmen des § 153a StPO in Abgrenzung zum anderen Funktionstyp der Absprachen, der eine „echte Verdachtsstrafe“ sei.
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5. Ergebnis: Die Dispositionsbefugnis als Anerkennung eines „zweiten Gleises“ im Strafverfahren Die Darstellung der Strukturunterschiede zwischen dem gesetzlich normierten patteggiamento und den informellen Absprachen sollte das wesentliche Differenzierungskriterium erkennen lassen. Dort, wo die deutsche Strafrechtswissenschaft und Rechtsprechung stets bemüht ist, das Absprachenphänomen mit den „hehren“ Grundsätzen des Strafprozesses zu vereinen, ist die italienische Diskussion geprägt von der vagen, viel Interpretationsspielraum lassenden Formulierung des „atypischen Charakters“40, den das patteggiamento aufweise und der zu der Sonderstellung führe, die das alternative Verfahren im Gesamtgefüge der Prozessordnung einnehme. Die gesetzliche Struktur des Instituts kann keinen Zweifel daran lassen, dass in dem kodifizierten konsensualen Verfahren mit der „kontinentaleuropäischen Tradition“ des Strafprozesses gebrochen wird. Dass das Urteil eines Strafprozesses auf einem prozessualen Rechtsgeschäft beruhen kann, geht weit über das gemeinsame Erbe, das das Prinzip der materiellen Wahrheit gewissermaßen als Axiom an die Grundfeste des Strafprozesses stellt, hinaus41. Wenn dennoch in der italienischen Wissenschaft auf die „tief greifenden Differenzen“42 zwischen dem anglo-amerikanischen und dem italienischen Strafprozess hingewiesen wird, so bezieht sich dies auf das entscheidende Differenzierungskriterium, nämlich auf die Frage des verfügbaren Verfahrensgegenstandes. Dass sich der italienische Prozess in seiner ambivalenten Stellung zwischen Anerkennung der kontradiktorischen Verfahrensmethode und der Rückbesinnung auf die Idee der historischen Wahrheit und des unverfügbaren Verfahrensgegenstandes in ausweglosen Antinomien verliert, sollte im 3. Kapitel dargelegt wer40 Vgl. zum „untypischen Charakter“ des Urteils (atipicità) Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 323, die abhänge von verschiedenen Besonderheiten des Verfahrens: „es fehle die richterliche Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit [. . .]“, die Feststellung werde vielmehr ersetzt durch „die Anerkennung der Einigung, die zwischen den Parteien hinsichtlich der Tatfrage des Prozesses und der zu verhängenden Strafe erfolgt ist“; siehe zu den „besonderen Eigenschaften“ auch Cremonesi, Il patteggiamento nel processo penale, S. 145; in der Rechtsprechung siehe zur Randstellung des Instituts im Verhältnis zur gesamten Prozessordnung (eccentricità) statt vieler insbesondere, Cass. pen. sez. un. sent. 21. Juni 2000, Giur. it. 2001, 797, 801; sowie zu den „besonderen Charakteristiken“ im Verhältnis zum „ganzen geltenden normativen System“, Cass. pen. sez. un., sent. 28. Mai 1997, Cass. pen. 1997, 3341, 3343. 41 So stellt auch B. Neuhaus, StraFo 2003, 121, 122 heraus, dass es zum „Axiom“ der „kontinentalen Tradition und Denkstruktur gehöre, dass es so etwas wie die „objektive Wahrheit“ gibt. 42 Fanchiotti, Cass. pen. 1991, 32; vgl. zu den „makroskopischen Differenzen“, die den „Kern und das Wesen“ des Verfahrens betreffen auch Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 11; zu den grundsätzlichen Unterschieden auch Macchia, Il patteggiamento, S. 5.
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den. Diese ungeklärte Positionierung zwischen kontradiktorischer Methode und inquisitorischem Ziel einer zunehmend auch instruktorisch festzustellenden materiellen Wahrheit haben zu einer stetigen Aufwertung des gerichtlichen Beweisinitiativrechts geführt und somit den vom ursprünglichen Reformgesetzgeber eingeschlagenen Kurs deutlich abgeschwächt. Diese rückläufige Tendenz ändert jedoch nichts daran, dass die gesetzliche Ausgestaltung des patteggiamento nur auf der Grundlage der Dipositionsmaxime haltbar ist. Die aufgeführten Strukturunterschiede belegen, wie stark das italienische gesetzliche Modell des patteggiamento von dem Grundsatz einer prozeduralen Gerechtigkeit getragen ist, die sich konsequent nur vor dem Hintergrund der Dispositionsmaxime, die im konsensualen Verfahren keinen außerprozessualen Bezugspunkt zulässt, erklärt43. Ein prozessuales Rechtgeschäft wird zur Grundlage eines Urteils, eine Einigung zwischen den Parteien macht eine „vollständige“ Feststellung der Tatsachen entbehrlich44. Damit etablieren sich entsprechend der Grundlegung zu dieser Arbeit Schuld, Wahrheit und Strafzumessung als prozessual geprägte Größen und der Verfahrensgegenstand wird im konsensualen Verfahren des patteggiamento weitgehend in die Disposition der Parteien gestellt45. Die anglo-amerikanische Inspiration des Instituts ist nicht zu verkennen und die deklarierte Andersartigkeit im Verhältnis zur übrigen Verfahrensordnung unterstreicht gerade diesen dispositiven Charakter des alternativen Verfahrens. Die für das kontinentaleuropäische Verfahren „atypische Natur“ der Regelung ist ein Indiz für die bereits erfolgte Zweiteilung des italienischen Strafprozesses in konsensual und konfrontativ geführte Verfahren. Es handelt sich hierbei nicht nur um die faktische Trennung unterschiedlicher Verfahrensformen, die auch in der deutschen Diskussion zunehmend in den Vordergrund tritt, sondern die Aufspaltung des Verfahrens erfasst auch die rechtstheoretischen Grundlagen der 43 Die amtliche Begründung zum Gesetzentwurf von 1985, disegno di legge n. 2609, (der nicht Gesetz wurde) erwähnte sogar explizit die doppelte Relevanz des Parteiwillens für das patteggiamento, nämlich sowohl in prozessualer als auch in materieller Hinsicht, „prozessual, weil er ein abgekürztes Verfahren ermögliche, materiell, weil er Entscheidung begründet, die, obwohl sie eine Sanktion verhängt, andere Rechtsfolgen als ein Schuldspruch nach sich zieht [. . .], relazione ministeriale, Riv. it. dir. e proc. pen. 1985, 954, 974. 44 Vgl. zur Rechtsprechung der nicht erforderlichen plena cognitio statt vieler, Cass. sez. un. 26. Februar 1997, Dir. pen. e proc. 1997, 1484, 1485; Cass. pen. sez. un., 28. Mai 1997, Cass. pen. 1997, 3341, 3344; Cass. pen. sez. un. 25. März 1998, Arch. n. proc. pen. 1998, 375, 377. 45 Bereits im Zusammenhang mit der ersten Form des patteggiamento in der l. 689/ 1981 stellte Lattanzi, Riv. it. dir. e proc. pen. 1985, 1059, 1060, dementsprechend fest: „[. . .]; es gibt eine Vision der Strafgerechtigkeit als ein Phänomen, das materielle und prozessuale Aspekte miteinander kombiniert, diese nicht mehr als getrennt, sondern vielmehr als integrative Bestandteile begreift, so dass eine Verbindung zwischen Verfahren und Sachentscheidung entsteht; es ist eine Aufwertung der Parteien nach akkusatorischen Schemata zu verzeichnen, die dahin tendieren, eine notwendig antagonistische Konzeption des Prozesses zu überwinden, [. . .]“.
III. Die Übertragbarkeit der Dispositionsmaxime
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Entscheidungsfindung. Zu Recht weist daher Sinner darauf hin, dass der Vertragsgedanke durch die Disposition über den Verfahrensgegenstand bereits Einzug in den italienischen Strafprozess erhalten habe46. Die entscheidende Gegenüberstellung im Hinblick auf die Frage der Integrierbarkeit konsensualer Verfahrenserledigungen liegt demzufolge weniger in dem Gegensatz der vornehmlich akkusatorisch oder inquisitorisch geprägten Prozessmodelle, sondern vielmehr in der Opposition von Dispositionsmaxime und Unverfügbarkeit des Verfahrensgegenstandes47. Zwar soll das „Normalverfahren“ auch weiterhin auf dem Grundsatz der Unverfügbarkeit des Verfahrensgegenstandes ruhen. Doch im besonderen Prozedere des patteggiamento wird der Verfahrensgegenstand nach der gesetzlichen Konzeption des Instiuts disponibel. In der gesetzlichen Verankerung des patteggiamento hat sich somit ein „zweigleisiges“ Prozessmodell bereits etabliert. Es ist herausgearbeitet worden, dass zwar diese implizite Anerkennung des Verfügungsgrundsatzes auch in Italien nur halbherzig erfolgt ist. Da aber in dieser Arbeit ein offenes Bekenntnis zum verfügbaren Verfahrensgegenstand im Rahmen einer gesetzlichen Regelung der Absprachenpraxis für unabdingbar gehalten wird, ist an diesem Punkt der Untersuchung zu fragen, ob sich der Dispositionsgrundsatz in das deutsche Prozesssystem übertragen lässt, ohne in die Antinomien des italienischen Modells zu verfallen. Die rechtstheoretische Grundlegung sollte das Fundament dafür gelegt haben, dass an diesem Punkt bewusst das Gerechtigkeitsproblem von der Wahrheitsfrage gelöst werden kann.
III. Die Übertragbarkeit der Dispositionsmaxime Zusammenfassend lässt sich in diesem Stand der Untersuchung festhalten, dass das italienische Modell die Verfahrensordnung in ein konsensuales und ein konfrontatives Modell getrennt hat, deren wesentlicher Unterschied in der Frage der Verfügbarkeit des Verfahrensgegenstandes liegt. In Kapitel 3 war darzulegen, warum für das patteggiamento entgegen anders lautender Entscheidungen des Verfassungsgerichtes von einem verfügbaren Verfahrensstoff auszugehen ist. Dieser Wertung liegt das ursprüngliche Verständnis in der Intention des Reform46 Weiterführend zum Vertragsgedanken im italienischen Strafprozess vgl. Sinner, Der Vertragsgedanke im Strafprozeß, S. 232 ff., der das Vertragsmodell an ein Notstandsargument knüpft und kontraktuale Elemente daher nur in zwei Ausnahmen vom ordentlichen Prozess erblickt: einmal in den besonderen Verfahren, die verhindern sollen, dass das akkusatorische System sich selbst ad absurdum führt, und zum anderen in solchen Kronzeugenregelungen, die Beweisnotstände aufheben sollen (S. 256 f.). 47 Ähnliches meint wohl auch Steinhögl, S. 91, wenn sie darauf hinweist, dass entscheidend nicht die Wahl eines Prozessmodells sei, sondern die Trennung von „factfinding“ und „decision making“.
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gesetzgebers von 1988 zugrunde, das im konsensualen Verfahren des patteggiamento den rechtsgeschäftlichen Charakter in der Disposition der Parteien stark hervorgehoben hatte48. Die nach der hier vertretenen Auffassung systemwidrige Aufwertung der gerichtlichen Überprüfung der Einigung soll an diesem Punkt vernachlässigt werden49. Denn im jetzigen Stand der Untersuchung geht es nicht um eine Kritik am italienischen Modell, sondern es interessiert vor allem, ob und gegebenenfalls wie der Grundgedanke eines disponiblen Verfahrensgegenstandes in unser Strafprozesssystem übertragbar ist. Die einfache Implementierung einer der italienischen Lösung entsprechenden Regelung ist aus mehreren Gründen weder möglich noch wünschenswert50. Denn eine Übertragung konsensualer Elemente, die blind ist gegenüber den grundlegenden Eingriffen, die eine solche bedeutet, ist entweder nichts anderes als der hoffnungslose Versuch der „Quadratur des Kreises“ in der Form der Anerkennung des Konsenses als Legitimationsgröße bei gleichzeitigem Festhalten an der Indisponibilität des Verfahrensgegenstandes oder aber das aussichtslose Bestreben, erkenntnistheoretisch zu versöhnen, was rechtstheoretisch unvereinbar ist, indem Konsensfindung als Methode zur Wahrheitsfindung verstanden wird. Diese immer wiederholten Versuche tragen aber dem praktischen Umstand nicht Rechnung, dass die Parteien bewusst einen interessengeleiteten Konsens eingehen, um von der weiteren Erforschung des Sachverhalts einvernehmlich abzusehen. Der Prozess ist nun einmal kein herrschaftsfreier Diskurs, indem der Konsens das Wahrheitskriterium sein könnte. Diese Wertung ist aber nicht nur als resignative Fügung in die Kraft des Faktischen zu verstehen, sondern es soll zum wiederholten Mal hervorgehoben werden, dass es auch gerade 48 Verwiesen sei hier nur auf die amtliche Begründung zum Gesetzentwurf, LEX, 1988, 333, 528, in der es heißt, dass es sich bei dem neuen patteggiamento nicht mehr um eine Vergünstigung, sondern um ein „spezielles Verfahren“ handele, das „an eine Einigung zwischen Angeklagtem und Staatsanwalt über die Verhängung der Strafe gebunden ist“. Die Einigung „betrifft folglich die Sachfrage und spiegelt sich wider in der Verfahrensweise, anders als im Fall des abgekürzten Verfahrens, das ausschließlich die Verfahrensweise betreffe“. 49 Insbesondere durch die Grundsatzentscheidung des Verfassungsgerichts n. 313/ 1990, foro it. 1990, 2385 ff.; vgl. hierzu oben Kapitel 3, IV. 2. b). 50 So aber der grundsätzliche Vorschlag von Bogner, S. 247 ff., der am Ende seiner rechtsvergleichenden Untersuchung zu dem Ergebnis kommt, „dass ein konsensuales Verfahren, an dessen Ende die Verhängung einer Strafe steht und in dem die Verfahrensbeteiligten die Entscheidungsgrundlage bestimmen, mit dem Strafprozessrecht vereinbar ist“ (S. 265). Vgl. in diesem Sinn auch die rechtsvergleichende Untersuchung von Festa, S. 179, der sich ausspricht für „die Einführung einer Verfahrensart wie der des Patteggiamento in den deutschen Strafprozeß“ und herausstellt, dass eine solche „nicht gegen die geltenden Prozessmaximen verstoßen würde“, sondern im Gegenteil „in vielerlei Hinsicht eine Verbesserung der Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten bedeuten und zudem das Ungleichgewicht zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung bzw. Beschuldigtem im Ermittlungsverfahren etwas ausgleichen“ würde.
III. Die Übertragbarkeit der Dispositionsmaxime
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in der Natur des Rechts begründet ist, dass der Prozess ein interessengeleitetes Verfahren ist, in dem die Wahrheitssuche nicht zum Selbstzweck werden darf. Wenn Konsens im Strafverfahren also methodisch nicht als ein Indiz für das Erreichen einer „materiell“ gedachten Wahrheit verstanden werden darf, so bleibt doch die berechtigte Frage, ob die Konsensfindung ein selbstständiges, von der Wahrheit losgelöstes Gerechtigkeitsmoment sein kann51. Dass dies möglich ist, sollte in der Grundlegung dargelegt werden. Wenn sich die Arbeit also nun konkret der Frage zuwendet, ob ein disponibler Verfahrensgegenstand übertragbar ist, so sollen zunächst zwei bereits in der Grundlegung angesprochene Aspekte aufgegriffen werden, die einer Öffnung des Verfahrensrechts hin zu einem verfügbaren Verfahrensgegenstand gewissermaßen den Weg bereiten. Da ist zum einen der kommunikationstheoretische Aspekt des Verfahrens und zum andern die Rechtsfriedensfunktion des Verfahrens zu beleuchten. Daran anschließend soll der in der Grundlegung bereits ebenfalls angeklungenen Frage nach den Grenzen der Dispositionsbefugnis nachgegangen werden.
1. Kooperative Kommunikation als Einfallstor der Disponibilität des Verfahrensgegenstandes Der Gegenstand des Verfahrens entsteht erst in und durch die prozessuale Kommunikation. Wo in einer Interessenkollision kommuniziert wird, ist immer auch bereits die Möglichkeit einer Einigung angelegt. Dass es Kooperation auch im Strafverfahren gibt, versteht sich von selbst, ist das Verfahren im Wesentlichen doch Kommunikation. Das war schon immer so, auch bevor über Absprachen gesprochen wurde. Es ist aber zu trennen zwischen prozessualer Kooperation, die sich methodisch nicht unbedingt von einem außerprozessualen Bezugspunkt lösen muss52
51 Ob man diese Form der Konsensfindung noch mit dem „Begriff der formellen Wahrheit“ bezeichnen will, oder diesen Terminus den erkenntnistheoretischen Konsens- und Diskurstheorien vorbehalten will, ist letztlich eine Frage, die nur auf einem Nebenschauplatz zu diskutieren wäre und für die hier anzustellende Untersuchung in der Sache nicht relevant wird. 52 Diese meint Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren, S. 14, wenn sie feststellt, „konsensuale Verfahrenserledigung“ sei deutlich von dem in diesem Zusammenhang häufig verwendeten Begriff der „Kooperation“ abzugrenzen. Unter Kooperation könne mithin eine Situation verstanden werden, „in der ein Beschuldigter oder Angeklagter an der Aufklärung des Sachverhalts bzw. der für die strafrechtliche Sanktion erheblichen Umstände aktiv mitwirkt“. Als „Einfallstor der Dispositionsmaxime“ wertet sie vielmehr – und dies in äußerst kritischer Form – „Bagatellverfahren und Strafbefehlsverfahren“, ZStW 116 (2004), 150, 162.
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Kap. 4: Das patteggiamento als Modell für eine kodifizierte Absprache?
(so im Falle eines durch das Gericht anhand weiterer Indizien überprüfbaren Geständnisses), und Kooperation, die bewusst die Erforschung einer außerprozessualen Tat vermeidet. Nur letztere interessiert im Rahmen dieser Arbeit. Interessenausgleichende Kooperation im Strafverfahren, ausschließlich an innerprozessualen Bezugspunkten orientiert, sollte als mögliche Folge von Kommunikation unter den Prozessbeteiligten, die ein entscheidender Teil aller Rechtsfindung ist, nicht schon per se als unseriöses Schachern in Verruf geraten. Das entscheidende Gefährdungspotential für eine als gerecht empfundene Strafrechtspflege, das von dieser Form einvernehmlicher Erledigungen ausgeht, liegt darin, wie sie funktionieren, nicht darin, dass es sie gibt. In der Natur von Kooperation im Verfahren liegt es, dass diese den Verfahrensstoff begrenzen kann. Einigen sich die Parteien auf einen bestimmten Sachverhalt, so können sie unter Umständen dem Gericht Anhaltspunkte weiterer Amtsermittlung nehmen53. Das gilt nicht nur für die „aushandelnde, zweiseitige konsensuale Kommunikation“, sondern ebenso für ein einseitiges Kooperieren des Beschuldigten durch Einräumung des Tatvorwurfs. Damit ist der kommunikative Aspekt aller Sachverhaltskonstruktion im Verfahren angesprochen54. Zwar ist denkbar, dass auch einseitige prozessuale Kooperation die Instruktion des Gerichts fördern oder ihr parallel laufen kann, wie es etwa im Fall „echter“, nicht in einem Austauschverhältnis stehender Geständnisse sein kann. Auch diese Form der Kommunikation, die zwar der Ergebnisrichtigkeit verpflichtet bleibt, begrenzt aber die Aufklärungspflicht gerade dadurch, dass sie weitere Anhaltspunkte für das Gericht nicht entstehen lässt. Und genau in diesem Punkt gerät die theoretische Trennung zwischen dem Grundsatz materieller Wahrheit und der Dispositionsbefugnis ins Wanken. In diesem kommunikationsgeprägten Moment aller Sachverhaltsfeststellung im Verfahren sind die Grenzen zwischen disponiblem und unverfügbarem Verfahrensgegenstand gewissermaßen fließend. Wenn es im Prozess nicht mehr nur ausschließlich um autoritäre Wahrheitssuche geht, sondern Kommunikation als ein notwendiges Element der Rechtsfrieden stiftenden Funktion des Strafverfahrens begriffen wird, dann wird die Indisponibilität des Verfahrensgegenstandes nicht absolut gedacht, sondern ist von der Kommunikationssituation geprägt.
53 Vgl. hierzu schon oben Kapitel 2 III. 1. b); und insbesondere Schlüchter, in: Festschrift für Spendel, S. 737, 743; kritisch zu einer Einschränkung des Aufklärungsgrundsatz durch das Prozessverhalten der Beweisantragsberechtigten unter revisionsrechtlichen Aspekten, Conen/Tsambikakis, GA 2000, 372, 375, die feststellen, „dass die Verfahrensbeteiligten dem Tatgericht durch ihr Verhalten hinsichtlich der von Amts wegen zu erhebenden Beweise keinen Dispens erteilen können“, diese generelle Äußerung aber im Zusammenhang mit der ausschließlich revisionsrechtlichen Problematik verstehen, dass das Unterlassen eines Beweisantrages nicht zu einer Präklusion der Aufklärungsrüge führen dürfe. 54 Hierzu ausführlicher oben Kapitel 1 II. 2. c) bb).
III. Die Übertragbarkeit der Dispositionsmaxime
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Diese in der Natur des Verfahrens als kommunikationsgeprägtem Verstehensprozess liegende Einschränkung der Instruktionsmaxime entlarvt den Gedanken der absoluten Unverfügbarkeit bereits als eine Illusion. Die Einsicht, dass juristische Sachverhaltskonstruktion im Kommunikationsprozess etwas grundsätzlich anderes ist als der Versuch eines „Wirklichkeitsabbildes“, begründet die notwendige Relativierung des Unverfügbarkeitsgrundsatzes. Sie öffnet somit gewissermaßen die Tore für das Einbrechen neuer Legitimierungsmaßstäbe im Strafprozess. Sie darf aber keineswegs selbst mit der Etablierung des Konsensprinzips als Legitimationsgröße gleichgesetzt werden. Denn ein ausgehandelter Konsens ist nicht etwa nur ein graduelles „mehr“ an einer ohnehin im Verfahren angelegten dispositiven Grundstruktur, sondern der nach einer im Gegenseitigkeitsverhältnis stehenden Absprache erzielte Konsens ist ein echtes „aliud“ zum einseitigen kooperativen Geständnis. In der echten „zweiseitigen“ konsensualen Entscheidungsfindung geht es nicht um Geständnisse, die etwaige Anhaltspunkte für weitere Sachverhaltsaufklärung zurückhalten, sondern es geht gerade um „bilaterale Sachverhaltskonstruktion“, die nicht mehr notwendig an einem außerprozessualen Bezugspunkt orientiert ist. Es ist dies aber im Grunde die Fortführung einer schon verfahrenstheoretisch begründeten Begrenzung der Amtsaufklärung, die in jeder nicht konfrontativ geführten prozessualen Kommunikation angelegt ist. Damit ist für die Frage der Übertragbarkeit grundsätzlich festzuhalten, dass kooperative Kommunikation ein universales Phänomen ist, das auch im Strafprozess die an der materiellen Wahrheit orientierte Aufklärungspflicht einschränken kann. Entscheidend ist aber, dass das Wesen der Absprachenpraxis deutlich über diese an der „Ergebnisrichtigkeit“ orientierte Einschränkung der Sachverhaltserforschung hinausgeht. Denn Absprachen wollen die Sachverhaltsaufklärung nicht unbedingt erleichtern, sondern unter Umständen gerade verhindern. Der Verfahrensgegenstand wird somit nicht „parallel“ zur Amtsaufklärung disponibel, sondern die Verfügbarkeit folgt anderen, eigenen Gerechtigkeitsmaßstäben, nämlich dem Prinzip vom legitimierenden Konsens. Kooperation beschreibt mithin eine Verfahrenssituation, die durch einen kommunikationsfördernden Verhandlungsstil gefördert werden kann, aber per se noch nicht die in der Tradition des inquisitorischen Prozesses liegende Legitimationsgrundlage der Wahrheitssuche preisgeben muss, sondern nur den Grundgedanken des indisponiblen Verfahrensgegenstandes relativiert. Bei der Frage um konsensuale Verfahrenserledigung im hier verstandenen Sinn geht es aber um deutlich mehr, als um kooperatives Verhalten. Konsens ist nicht nur eine „höhere“ Stufe prozessualer Kooperation, sondern seinem Wesen nach etwas anderes, das darüber hinausgeht. Denn Konsens ist nicht notwendigerweise verbunden mit einer Mitwirkung an der Sachverhaltsfeststellung55. Da55
So auch Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren, S. 14.
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her kann das Argument, dass jede kommunikative Sachverhaltskonstruktion schon methodisch am Grundsatz der Unverfügbarkeit des Verfahrensgegenstandes rüttelt, hier nur als „Einfallstor“ für die Bedeutung des Konsenses im Verfahren verstanden werden. Denn es geht bei der Frage nach der Verfügbarkeit des Verfahrensgegenstandes um die Etablierung des Konsenses außerhalb der Legitimationsgrundlage der Wahrheitssuche. 2. Die Dispositionsmaxime als Folge der Rechtsfriedensfunktion des Strafverfahrens Die Einsicht, dass der Grundsatz der Unverfügbarkeit des Verfahrensgegenstandes kein absoluter sein kann, ist aber allein nicht hinreichend für die Beantwortung der Frage, ob sich ein disponibel gedachter Verfahrensgegenstand auf der Grundlage des Konsensprinzips in das deutsche Strafprozesssystem übertragen lässt. Hier bedarf es eines weiteren Schrittes. Denn die grundsätzlichen Erwägungen zur verfahrensgestaltenden Wirkung kooperativer Kommunikation im Prozess bedeuten lediglich eine Aufweichung des Grundsatzes vom unverfügbaren Verfahrensgegenstand, lassen aber die Frage nach der Legitimationskraft des Konsenses unbeantwortet. Dass grundsätzlich Konsens auch im Strafverfahren die Sanktion legitimieren kann, hat die Grundlegung als Ergebnis geliefert. Aus dem Ziel des Strafverfahrens, Rechtsfrieden in einem gerechten Interessenausgleich zu schaffen, wurde das Legitimationsmoment konsensualer Verfahrenserledigung hergeleitet. Wird anerkannt, dass der „Rechtsfrieden“ als Verfahrensziel von einem Interessenausgleich abhängt, der wiederum von der Kommunikationssituation im Verfahren entscheidend geprägt ist, dann ist die eigentliche Frage nicht mehr, ob sich die Dispositionsmaxime ins deutsche Strafverfahren übertragen lässt, sondern dann impliziert bereits die Rechtsfriedensidee die Anerkennung eines in konsensualer Kommunikation disponibel werdenden Verfahrensgegenstandes. Unsere These ist daher nicht, dass die Verfügungsbefugnis übertragbar ist, sondern vielmehr, dass die von der konkreten Kommunikationssituation abhängende Dispositionsmaxime notwendiger Bestandteil eines dem interessenausgleichenden, Rechtsfrieden verpflichteten Strafprozess ist. In diesem Sinn sollte die Verfügbarkeit des Verfahrensgegenstandes mit Hilfe der Grundlegung als ein schon im Verfahren selbst angelegter Grundsatz entdeckt und durch das Konsensprinzip belebt werden56. Die in der Grundlegung entwickelten Argumente 56 Im Ergebnis so auch Jahn, GA 2004, 272, der anlässlich der Überlegung: „Die Diskurstheorie des Rechts als Paradigma des neuen konsensualen Strafverfahrens“, die These verfolgt, „dass die Kommunikation in der Hauptverhandlung schon de lege lata als Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses begriffen werden kann“. „Die Rechtswirklichkeit der Absprachen bestätigt in dieser Sicht entgegen der bislang fast
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für die Anerkennung des Konsensprinzips sprechen dafür, der Unehrlichkeit im Umgang mit dem „hehren“ unverfügbaren Verfahrensgegenstand, der entgegen aller Theorie schon lang zum „formbaren Objekt“ der Aushandlungspraxis geworden ist, ein Ende zu setzen und den Dispositionsgrundsatz aus einem ungerechtfertigten Schattendasein ans Licht einer Verfahrensreform zu holen. 3. Grenzen der Parteiendisposition Nachdem festgestellt worden ist, dass die Dispositionsmaxime einem kontradiktorischen Verfahren in einer konsensualen Kommunikationssituation immanent ist, stellt sich nun die Frage nach den Grenzen der Parteiendisposition im Strafverfahren57. Unvermeidbar wird diese Frage, da das Strafverfahren in der kontinentaleurpäischen Tradition nicht nur eine Zwangsordnung gegen den Angeklagten entwirft, sondern auch dem sanktionierenden Staat gegenüber zwingend wirkt, indem dieser nicht frei über seinen Strafanspruch verfügen kann. Gerade das Spannungsfeld zwischen Parteiendisposition und richterlicher Prüfungskompetenz, also die Frage nach den Grenzen der Verfügungsbefugnis, stellt in Italien den zentralen Ausgangspunkt für die gesamte rechtswissenschaftliche Diskussion um die Einordnung der konsensualen Verfahrenserledigung in das Prozesssystem. Diese entscheidende Frage ist aber nach dem Ansatz dieser Untersuchung im italienischen Modell nicht zufriedenstellend gelöst. Kritk ist geboten, wo die gerichtliche Überprüfung der Einigung anhand der Aktenlage gefordert ist, da hierin eine zum Scheitern verurteile Verknüpfung der Dispositionsmaxime mit dem Grundsatz der materiellen Warheit zu sehen ist.
einmütigen Lesart des § 244 Abs. 2 StPO die prinzipielle Offenheit des deutschen Verfahrensrechts für einen rein prozeduralen Legitimationstypus.“ 57 Die Frage nach den Grenzen des Verfügbaren im Strafprozess wird im Zusammenhang mit der Entwicklung einer zunehmenden „Privatisierung des Strafverfahrens“ immer häufiger gestellt. So begibt sich auch Weigend auf die „Suche nach Unverzichtbarem“, siehe den Beitrag „Welche Grundprinzipien und sonstigen rechtsstaatlichen Anforderungen des Strafverfahrens sind unverzichtbar“, in: Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften, S. 257, 264; vgl. auch SK-Wolter, vor § 151, Rn. 130 ff. und seinen „Gesamtüberblick: ,Unverfügbares im Strafverfahren‘ (Art. 1I, 79 III GG)“, der einen „abwägungsfesten“ Kern allerdings nur in den Freiheitsrechten des Beschuldigten, nicht aber in den Strafverfolgungsinteressen des Staates sucht; auch Hassemer sucht „Unverfügbares im Strafverfahren“, in: Festschrift für Werner Maihofer, S. 183 ff. Von den Wertgrenzen, die bei einem Deal sichtbar werden, spricht auch Lüderssen, in: Abschaffen des Strafens, S. 22, 26 und davon, dass sich auf dem Beharren „unverzichtbarer Minima“ (S. 26), ein „Mindestbestand objektiver, der Disposition entzogener Überzeugungen“ manifestiert (S. 27). Wolter, Aspekte einer Strafprozessreform bis 2007, S. 23 ff., sucht „Unverfügbares im Strafprozess“ über die Menschenwürdegarantie in Art. 1 S. 1 GG; vgl. auch Kapitel 1 Fn. 5.
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Soweit die italiensiche Vorschrift die Prüfung der rechtlichen Würdigung der angeklagten Tat und die Angemessenheit der Strafe betrifft, ist ihr indes zuzugestehen, dass sie hierin „unverfügbare Eckpfeiler“ des öffentlichen Strafanspruchs umschreibt. Der das Verfahren beendende Konsens der Parteien erfasst in der Regel die Tatsachengrundlage, die rechtliche Würdigung der Tat, sowie das zu verhängende Strafmaß. Ohne die Bestimmung unverzichtbarer Grenzen wäre die Rechtsprechungsgewalt des Gerichts in der Tat, wie in der italienischen Diskussion mehrfach hervorgehoben58, auf rein notarielle Funktionen beschränkt. Den Parteien wäre es so möglich, auf der Grundlage eines allumfassenden Konsenses die Strafe selbst zu verhängen. Nur die Verkündung des Urteils wäre noch formell der rechtsprechenden Gewalt vorbehalten. Der staatliche Strafanspruch hätte sich im konsensualen Verfahren selbst aufgelöst59. Dass das nicht sein darf, wird auf einer rein intuitiven Ebene schon darin offensichtlich, dass das Unbehagen in Bezug auf den heimlichen Handel in den Gerichtsfluren insbesondere dann um sich greift, wenn es um die Aburteilung schwerster Gewaltdelikte und die sich in unvertretbarem Maße öffnende Sanktionenschere geht. Die genannten Eckpfeiler des staatlichen Strafanspruchs fordern aber nicht zwingend die vollständige Verdrängung des Konsensprinzips aus diesem Kernbereich strafrechtlicher Rechtsprechung, sondern hier ist vielmehr eine Abwägung geboten. Wie das Konsensprinzip in Grenzen auch für die Aburteilung schwerster Gewaltverbrechen, für die rechtliche Würdigung der Tat und die Strafzumessung herangezogen werden kann, soll im Folgenden in Grundzügen bestimmt werden. Es können hierbei jedoch nur Thesen umrissen werden, die
58 Die Grundsatzentscheidung des Verfassungsgerichts, vom 2. Juli, 1990, n. 313, Foro it. 1990, 2385 ff., hatte entgegen der Auffassung der Instanzrichter herausgehoben, dass es sich bei der richterlichen Entscheidung im patteggiamento gerade aufgrund der Prüfung der Strafzumessung sowie der rechtlichen Würdigung nicht um eine auf „notarile“ Funktionen beschränkte Entscheidungsbefugnis handele. 59 Lüderssen, StV 1990, 415, 419, hofft auf das Ende des staatlichen Strafanspruchs, wenn er die Zeit dafür, „aus den Trümmern der informellen Absprachen das Konsensprinzip zu bergen“ (unter Verweis auf Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 167) erst dann für gekommen sieht, wenn sich die Einsicht durchgesetzt haben wird, „dass generell die inquisitorischen Momente des Strafprozesses zu beseitigen sind“. Dafür müsse allerdings erst die „Verabschiedung des ,öffentlichen Strafanspruchs‘“ in Sicht sein. Das Ende des Strafanspruchs erhofft Lüderssen im Wesentlichen auch deshalb, weil er davon ausgeht, dass es dem Einzelnen, und damit der Allgemeinheit als den „vielen einzelnen“ nicht um Genugtuung oder Abschreckung, sondern nur um Ausgleich des erlittenen Schadens gehe, vgl. ders., in: Abschaffen des Strafens, S. 22, 50. Entsprechend drängt sich ihm die Frage auf, ob das, was die „Befürworter einer Opferbeteiligung am Strafrecht unklar artikulieren, in Wahrheit nicht in einem allerdings stark verbesserungs- und erweiterungsbedürftigen nicht-strafrechtlichen Ausgleichssystem, mit klarer und legitimer Interessenzuweisung, untergebracht werden kann.“, in: Festschrift für Hirsch, S. 879, 889.
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Ansätze liefern sollen für die Bestimmung von Grenzkriterien für die Dispositionsbefugnis der Parteien im Strafverfahren. a) Beteiligung mutmaßlicher Opfer schwerer Gewaltverbrechen – Unverfügbares der Konfliktbewältigung „Die Aufgabe des Strafrechts ist es, die ihm zugewiesene Konfliktbewältigung im höchstmöglichen Maß zu formalisieren. Diese Aufgabe ergibt sich unmittelbar aus dem Auftrag des Rechtsgüterschutzes bei schwersten Konfliktsituationen. Denn in diesen Situationen sind die Interessen der am Konflikt Beteiligten (nicht nur des Beschuldigten) am stärksten bedroht“60.
Im Verfahren konkretisiert sich diese Formalisierung der Konfliktverarbeitung. Grundsätzlich ist es daher Aufgabe des Verfahrens, auf die Belange aller am Konflikt Beteiligten Rücksicht zu nehmen. In welchem Maß die jeweiligen Interessen der einzelnen Verfahrensbeteiligten in einem Prozess geregelter Konfliktverarbeitung Berücksichtigung finden können oder dürfen, hängt primär davon ab, wie die Zwecke des Strafverfahrens definiert werden. Nur vor dem Hintergrund des Verfahrenszieles lassen sich die Rollen der Beteiligten bestimmen. Zwar hat „wegen des heutigen Verständnisses vom Strafrecht als einer öffentlichen Aufgabe der Rechtsgemeinschaft“ das Genugtuungsinteresse im Verfahren eine nur untergeordnete Rolle61. Dass das auch folgerichtig ist, beruht auf dem Grundsatz, dass der Rechtsstaat in Form des Strafrechts eine Zwangsordnung gegen den Täter entwirft, grundsätzlich aber das Opfer in die Zwangsordnung gegen den Täter nicht einbezogen ist62. Da sich aber gerade im Verletzten die abstrakte Rechtsgutsverletzung in der Person konkretsiert, kann seine Bedeutung für die Rechtsfriedensfunktion des Strafverfahrens auch im konsensualen Verfahren nicht ausgeblendet werden63. 60
NK-Hassemer, vor § 1, Rn. 310. Löwe/Rosenberg-Rieß, Einl. Abschn. I, Rn. 119. 62 Vgl. Krauß, in: Festschrift für Lüderssen, S. 269; Löwe/Rosenberg-Hilger, Vorbem. 5. Buch, Rn. 1: „Die Unterstützung oder gar die Durchsetzung der Interessen des Verletzten gehört nicht zu den eigentlichen Zwecken des Strafverfahrens; [. . .]“. 63 Entsprechend kommt auch die Wertung eines Arbeitskreises der Strafrechtslehrer, nachzulesen bei Freund, GA 2002, 82, 88, zu dem Ergebnis, dass der Konsens besonders da „fragwürdig“ werde, wo „berechtigte Genugtuungsinteressen des übergangenen Opfers und nicht zuletzt berechtigte Strafverfolgungsinteressen der Allgemeinheit“ auf der Strecke blieben; anders aber die Wertung der AG 1 des 28. Strafverteidigertages 2004, StV 2004, 290, 292: „Genugtuung ist Vergeltung, die im modernen Strafverfahren keinen Platz hat.“ Es ist der zitierten Stellungnahme sicher zuzugestehen, dass die Rolle des Opfers im Strafverfahren zu Recht auf eine Randposition beschränkt ist, und die allseits geforderte Aufwertung der Verletztenposition im Verfahren wohl auch als eine dem Zeitgeist entspringende „Modeerscheinung“ zu werten ist, so ist es doch ein die Rechtsfriedensfunktion verkennender Fall ins andere Extrem, wenn die Besinnung auf die Opferinteressen im Verfahren grundsätzlich damit abgebügelt werden 61
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Auch wenn dem Opfer zu Recht kein eigener Platz in der „Zwangsordnung“ zukommt, so kann es doch teilhaben an der Kommunikationssituation des „szenischen Verstehens“ im Strafverfahren. In Hassemers Konzeption ist die „Ermöglichung und Sicherung szenischen Verstehens unter Wahrung der Rechte aller Verfahrensbeteiligten“ die „Formalisierung des Verfahrens64“. In einem konsensualen Verfahren aber, das den Verletzten nicht als Partei des Verfahrens konzipiert, muss diese Formalisierung auch ohne Einbindung des Opfers möglich sein. In einem konfrontativ geführten Kommunikationsprozess des Verfahrens kann das Opfer auf das „szenische Verstehen“ Einfluss nehmen, indem es an der Kommunikation teilhat, und so seinen Beitrag zur Wahrheitsfindung leisten. In dem hier zu entwerfenden konsensualen Verfahren geht es aber gerade um die Vermeidung einer instruktorischen Wahrheitssuche zugunsten einer konsensualen Tatsachenkonstruktion. Damit liegt es in der Struktur dieses Verfahrenstyps, dass das Opfer nicht nur seine Rechte im Verfahren weitgehend einbüßen, sondern insbesondere auch seine Stellung als Beweismittel verlieren kann65. Die komplexe kommunikative Grundlage des Verfahrens wird verkürzt auf einen zweiseitigen Verständigungsprozess. Wenn im instruktorischen Verfahren das Gericht mit der Wahrheitsfindung beauftragt wird, so dient es damit auch den Genugtuungsinteressen des Verletzten. Dieser Aspekt fehlt im konsensualen Verfahren. Das Gericht sucht nicht selbst nach der Wahrheit, sondern die Parteien konstituieren die Tatsachengrundlage. Ein etwaiges Opfer ist an diesem Prozess nicht beteiligt. Man hat es soll, dass das Genugtuungsinteresse im Verfahren keine Grundlage habe, und deshalb in diesem nicht berücksichtigt werden könne. Ob es sich bei der Besinnung auf die Opferinteressen um eine „Modeerscheinung oder Tendenzwende“ handele, fragte Schünemann schon im Zusammenhang mit den legislatorischen Vorstößen zu einer Verbesserung der Verletztenstellung in den achtziger Jahren, NStZ 1986, 193, 194; Hassemer, in: Verbrechensopfer Gesetz und Gerechtigkeit, S. 14, spricht in diesem Zusammenhang von einem „Paradigmawechsel unserer politischen Gefühlswelt“, der das Opfer mehr und mehr in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücke. Heute assoziiere man – anders noch als vor einigen Jahren – wenn es im Strafrecht um Schutz gehe vor allem die virtuellen Opfer und nicht etwa den Täter, der dem Staat gegenüber geschützt werden müsse. Gewiss handelt es sich bei der zunehmenden Besinnung auf die Opferbelange auch um eine „Modeerscheinung“, die in Grenzen dem Zeitgeist geschuldet ist; doch geht es in der Sache um mehr. Denn gerade die Berücksichtigung des Opfers ist an die materielle vergeltende Gerechtigkeitsidee geknüpft. 64 Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 136. 65 Zum grundsätzlichen Ausschluss des Verletzten von der Einigung im italienischen Verfahren und der Gewährung einer „indirekten Einflussnahme“ auf die gerichtliche Entscheidung über Annahme oder Ablehnung des Antrags siehe Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta della pena, S. 209, sowie oben Kapitel 3, IV, 2 d); grundsätzlich für den Ausschluss des Verletzten von der Verständigung auch Salditt, StV 2001, 314: „Wer den Weg zu Verständigungen regeln will, muss deshalb auf eine das Verfahren sprengende förmliche Beteiligung des Opfers verzichten.“
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dementsprechend in dieser Form der konsensualen Verfahrenserledigung mit einer Art von „Privatisierung des Verfahrens“ zu tun, die den rechtspolitischen Tendenzen der Opferstärkung zuwiderläuft66. Es geht hier nicht um eine Privatisierung durch Übertragung des Konfliktes auf das Täter/Opfer-Verhältnis, sondern nur im Sinne einer staatlichen Dispsotion über den Strafanspruch. Im konsensualen Verfahren gibt der Staat einen Teil seines Strafanspruchs auf und übergibt ihn der Autonomie der Parteien, zu denen das Opfer nicht gehört. Die bewusste Ausblendung des Opfers findet ihre Grundlage in der Rechtsfrieden stiftenden Wirkung des Konsenses. Zwar könnte der Einwand erhoben werden, dass die Nichtbeteiligung des Opfers an „Konsensgesprächen“ der Kommunikationsstruktur des Strafverfahrens nicht gerecht würde, und somit der Parteienkonsens schon aus diesem Aspekt keine legitimierende Wirkung entfalten könne. Doch ist in dem Streit um die Frage der Position des Opfers im Parteiverfahren der Tendenz beizupflichten, die die Beteiligung des mutmaßlichen Opfers, dessen Status erst am Ende des Verfahrens feststehen kann, als systemfremden Einbruch in die „Dialektik des Verfahrens“ wertet67. Grundsätzlich ist daher der Ausschluss des Opfers von der Disposition der Parteien systemkohärent.68 Das kann aber nicht uneingeschränkt gelten. Der formelle, legitimierende Konsens hat sich entsprechend der Grundlegung nicht vollständig von materialen Gerechtigkeitsmaßstäben gelöst und ist mit diesen vielmehr in einer hermeneutischen Wechselwirkung verbunden. Diese Wechselwirkung dürfte dafür ver66 Diese Form der Privatisierung meint also anderes, als wenn Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 77 f., davon spricht, dass sowohl im Strafverfahrensrecht als auch im materiellen Strafrecht Rücksichten auf das Opfer gemein hätten, dass sie dazu tendierten, den Rechtsgüterschutz und die Gestaltung des Strafverfahrens aus der Disposition des Staates in die Disposition der Parteien zu verschieben; dass also das Strafrecht „privatisiert“ werde. 67 Vgl. hierzu oben Kapitel 3 Fn. 89, 90. Dass eine aktive Beteiligung des Verletzten nicht erforderlich sein muss, erklärt sich auch aus dem Gedanken, dass sich „ein überpositives oder auch nur verfassungsrechtlich abgesichertes positives Recht des Opfers auf Durchführung eines Strafverfahrens in seiner Sache [. . .] nur schwerlich begründen“ lässt, Weigend, in: Alternativen zur Strafjustiz und die Garantie individueller Rechte der Betroffenen, S. 149, 153. 68 Zwar sollen den Staat aus der objektiven Wertordnung des Grundgesetzes auch gewisse Schutzpflichten treffen, die nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts unter sehr engen Voraussetzungen auch in ein Pönalisierungsgebot münden können, vgl. BVerfGE 39, 1 ff.; 88, 203 ff.; für eine sehr restriktive Interpretation dieser § 218 StGB betreffenden Entscheidungen Appel, Verfassung und Strafe, S. 164. Dass dieser Gedanke aber nicht mit einem Anspruch des Opfers auf Durchführung eines Strafverfahrens vermengt werden darf, ergibt sich schon gesetzlich aus den die Opportunitätseinstellungen regelnden Vorschriften, nach denen die Zustimmung des vermeintlichen Opfers gerade nicht erforderlich ist. Kritisch zu einem von Reemtsa geforderten „Recht des Opfers auf Bestrafung“ auch Prittwitz, in: Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem, 51, 64 ff.
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antwortlich sein, dass es Deliktsbereiche gibt, in denen es sich „schwerer“ dealt, in denen der „Handel“ an den Grundfesten der Intuitionen materialer Gerechtigkeit rütteln kann. Zwar lassen sich in der Praxis keinerlei Grenzkriterien mehr für den Anwendungsbereich von Absprachen finden. So gibt es weder Fallgruppen, in denen von vornherein eine Urteilsabsprache ausgeschlossen wäre69, noch gibt es Bereiche, in denen generell von einer „streitigen Hauptverhandlung“ abgesehen würde70. Der Deal hat auch Gewalt- und Kapitaldelikte lang erreicht71. Es findet sich aber verbreitet die Auffassung, dass Verfahren, die Gewaltverbrechen zum Gegenstand haben, sich weniger für Verständigungen eigneten72. Eine derartige Grenzziehung scheint sich als intuitive Beschränkung aufzudrängen. Auf die Grundlegung zurückführen ließe sich diese „Intuition“, oder das „Vorverständnis“ von den Grenzen des Konsenses, in der Form, dass materielle Verfahrensgerechtigkeit hier einen Abwägungsprozess erfordert. Zwar wird der öffentliche Strafanspruch im Namen der Allgemeinheit erhoben und löst sich von der Initiative des Verletzten73, es darf aber diese Lösung vom Ver69 Vgl. Kuckein/Pfister, in: Festschrift aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens des BGH, S. 641, 652; Kruse, StraFo 2000, 146, 149, verweist auf die Tendenz, dass zunehmend auch Verfahren, die die sexuelle Selbstbestimmung zum Gegenstand haben zu einem Anwendungsbereich von Absprachen werden; siehe auch Siolek, Die Verständigung in der Hauptverhandlung, S. 286, in dessen Modell eine Beschränkung auf bestimmte Deliktsbereiche bewusst nicht gewählt wird, um den Entlastungseffekt für die gesamte Strafgerichtsbarkeit nutzbar zu machen. In Deutschland hat eine deutliche Ausweitung stattgefunden: konstatierten Hassemer/Hippler, StV 1986, 360, 363, vor knapp 20 Jahren noch, dass Absprachen im Bereich der Gewalt- oder politisch motivierten Delikte ausgeschlossen sein, so gilt diese faktische Präklusion informeller Verständigung heute nicht mehr. 70 Vgl. Terhorst, GA 2002, 600, 605. 71 So z. B. BGH NStZ 1994, 196 ff., im Falle eines angeklagten Raubmordes; BGHSt 42, 191 ff., ist eine Entscheidung über ein absprachebedingtes Urteil zu einem Banküberfall; BGH NStZ 1999, 92, entscheidet über eine sexuelle Nötigung; und selbst die allseits zitierte Grundsatzentscheidung BGHSt 43, 195, in der viele schon eine neue „Verfahrensordnung für Absprachen“ erblickten, hatte eine schwere räuberische Erpressung zum Gegenstand; in diesem Sinn dürfte auch die Wertung von Steinhögl, S. 67, dass sich die „prozessuale Pragmatik“ durch Absprachen im strafrechtlichen Kernbereich nicht habe durchsetzen können, überholt sein. 72 Vgl. Terhorst, a. a. O., einschränkend allerdings im Bereich sexueller Gewalttaten, in denen Absprachen zur alltäglichen Gerichtspraxis gehörten; vgl. gegen die Ausdehnung der Verständigungspraxis auf den Bereich der Gewaltdelikte auch Kuckein/ Pfister, in: Festschrift aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens des BGH, S. 641, 652; für einen Ausschluss der Absprachen bei schweren „schwerwiegenden Straftaten“ Tiedemann, ZRP 1992, 107, 109; für einen Ausschluss von Gewaltdelikten auch Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren, S. 291, wie auch ders., StraFo 2001, 77, 78 f. 73 Vgl. Lüderssen, in: Abschaffen des Strafens, S. 22, 39; zur rechtshistorischen Entwicklung der Verletztenbeteiligung, vgl. auch Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S. 24 ff.
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letzten nicht dazu führen, dass der Staat sich in der Ausübung dieses Strafanspruchs grenzenlos von den Belangen des Opfers löst. Die Abwägung hat stattzufinden zwischen den Belangen einer „verfahrensgerechten“ konsensualen Struktur des Verfahrens, in der das Opfer methodisch keinen Platz hat, und dem materialen Gerechtigkeitsaspekt, dass bei schwersten Rechtsgutsverletzungen das Opfer derart schwerwiegende Genugtuungsinteressen reklamieren kann, die es gewissermaßen dem Staat zur Ausübung seines öffentlichen Strafanspruchs „abgetreten“ hat74, so dass es aus der prozessualen Kommunikationssituation nicht ausgeschlossen werden und der Dispsitionsbefugnis des Staates im Kommunikationsprozess der konsensualen Entscheidungsfindung Schranken setzen kann. Es gibt also Grenzbereiche, in denen der Staat, der sich in Form des öffentlichen Strafanspruchs gewissermaßen die Genugtuungsinteressen des Verletzten einverleibt hat, nicht ohne Rücksicht auf diesen über den Strafanspruch verfügen darf. Der Weg zur Bestimmung entsprechender Abwägungskriterien führt über die Rechtsgutslehre im Strafrecht. Es ergibt sich nämlich aus der Verfassung selbst eine „objektive Wertordnung“75, aufgrund derer die durch das Strafrecht geschützten Rechtsgüter hierarchisiert werden können. „Im materiellen Strafrecht löste sich die personale Kategorie des Verbrechensopfers in dem Abstractum der Rechtsgutsverletzung auf.“76 Wenn sich eine Hierarchisierung der vom Strafrecht geschützten Rechtsgüter herleiten lässt, so kann diese Wertordnung für die Frage herangezogen werden, wo die Grenze verläuft, jenseits derer die Disposition der Parteien auf Kosten einer verkürzten Kommunikationssituation im Verfahren nicht mehr als gerecht vestanden werden wird. Bislang abstufbare chisierung geschützte
fehlt es noch an einer Theorie, die verwertbare Aussagen über die Hierarchie der Rechtsgüter machen kann77. Eine „intuitive“ Hierarbietet sich aber wohl in der Form an, dass das Leben das höchste Rechtsgut ist78. Können die höchstpersönlichen Rechtsgüter Leib
74 Entschieden gegen die Konstruktion, „dass der Staat das Opfer in der Ausübung seiner Rechte vertrete oder sie sich zu eigen mache“, Lüderssen, in: Festschrift für Hirsch, S. 879, 888. 75 Zur objektiven Wertordnung des Grundgesetzes in der ständigen Rechtsprechung BVerfGE 7, 198, 205; 35, 79, 114. 76 Schünemann, NStZ 1986, 193, 194. 77 Hassemer, Einführung in die Grundlagen der Strafrechtswissenschaft, S. 243. 78 Hassemer führt die intuitive „abstufbare Hierarchisierung der Rechtsgüter (Leben-Gesundheit-Eigentum)“ an, a. a. O., S. 243; gegen die Möglichkeit einer Hierarchisierung aber Appel, Verfassung und Strafe, S. 382. Die Wertordnung der geschützten Rechtsgüter muss auch vor ihrem verfassungsrechtlichen Hintergrund gesehen werden. Wenn sich aus der Verfassung eine objektive Wertordnung ergibt, in der die Person den absolut höchsten Stellenwert innehat, dann lassen sich aus dieser Wertordnung direkte Rückschlüsse für die Rechtsgüterlehre ziehen. So stellt auch Prittwitz, in: Strafrecht und Menschenwürde, S. 19, 23 f., fest, dass das Strafrecht die Menschenwürde in dem Maße schütze, in dem es Verletzungen von Rechtsgütern verhindert,
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und Leben als der ungeschichtliche79, unverfügbare Kern der Rechtsgüter verstanden werden, dann wird verständlich, warum das Strafverfahren dort, wo diese Kardinalrechtsgüter betroffen sind, nicht über die verletzte Person hinweggehen darf. Je weiter der Rechtsgüterschutz sich vom unmittelbar fassbaren individuellen Aspekt der Person löst, desto mehr Spielraum ergibt sich für „verfahrensgerechte“ Aushandlungen, die den folgenorientierten Aspekt der Strafrechtspflege in den Vordergrund rücken. Sind Rechtsgüter aus der Individualsphäre betroffen und ist der Eingriff von gewisser Schwere, so muss entsprechend der Rechtsgutsträger in eine etwaige Disposition über den Verfahrensgegenstand mit einbezogen werden. In der Grundlegung sollte der Zirkelschluss dargestellt werden, durch den materiale Gerechtigkeitspostulate in die Idee einer eigenständigen Verfahrensgerechtigkeit im Strafverfahren geraten. Genau dieser sich von Vorverständnissen nicht lösende Zirkel führt zu der These, dass dann, wenn schwerste Delikte gegen die Person Gegenstand eines Strafverfahrens sind, materiale, an das Opfer gebundene, Gerechtigkeitsaspekte verstärkt in den Abwägungsprozess einfließen80. Sind also durch eine Straftat die elementarsten Rechstgüter, wie Leib und Leben in erheblicher Weise verletzt, bedarf es für die rechtsfriedenstiftende Wirkung des Konsenses der Voraussetzung, dass das Opfer sich der Einigung nicht widersetzt. Die unbedingte Rücksicht auf seine Interessen im Verfahren ist hier dem materialen Gerechtigkeitsaspekt des Tatausgleichs geschuldet. Das Opfer ist hier in die Kommunikationssituation, in der ein Konsens über die Tatsachen gefunden werden soll, miteinzubeziehen.
„welche die Würde des Menschen konstituieren (Leben, Freiheit und körperliche Integrität); anders aber Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 53, der auch für den Schutz des Eigentums eine strafrechtliche Schutzpflicht konstituieren will: „Insbesondere der Schutz des Lebens und der Gesundheit sowie anderer fundamentaler Rechtsgüter wie Bewegungsfreiheit und Eigentum, ist mit verfassungsrechtlichen Grundwerten weitgehend identisch; hier obliegt dem Staat eine aus den Grundrechten und der durch sie verkörperten Wertordnung ableitbare strafrechtliche Schutzpflicht“. 79 Marx, Zur Definition des Begriffes „Rechtsgut“, S. 62, kennt in seiner Hierarchisierung der Rechtsgüter lediglich den Wert der menschlichen Person als absolut gesetzten, „ungeschichtlichen“ an. Das Verfassungsgericht sieht in der Normierung von Grundrechten die Errichtung einer „objektiven Wertordnung“ oder eines „Wertesystems“, das „seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden Persönlichkeit und ihrer Würde findet“, BVerfGE 7, 198, 205, wo es ausdrücklich heißt: „Dieses Wertesystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muss als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten“; vgl. zur „Wertordnung“ auch BVerfGE 32, 98, 106; BVerfGE 33, 23, 29. 80 So weist auch Trüg, Lösungskonvergenzen trotz Systemdivergenzen im deutschen und US-amerikanischen Strafverfahren, S. 483, darauf hin, dass bei „Sachverhalten, in denen ein schwerer Schuldvorwurf erhoben wird [. . .] Vorstellungen materieller Gerechtigkeit eine entscheidende Rolle“ spielen.
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Das Beteiligungserfordernis soll aber nur für schwerwiegende Eingriffe gelten, weil in der Abwägung zwischen Konsens als Legitimierung und Opferbelangen als Reklamation materieller Gerechtigkeit Letztere zurückstehen muss, wenn die Verletzung nicht von besonderer Intensität ist; insbesondere weil im Bereich der leichteren Kriminalität auch das Strafverfolgungsbedürfnis der Allgemeinheit weniger ausgeprägt ist. Es ist daher gerechtfertigt, das Opfer in all jenen Fällen, in denen es nicht um die Verletzung der von der Rechtsordnung an die Spitze des Werteordnung gestellten Rechtsgüter geht, aus der Kommunikationssituation herauszuhalten81. Zusätzlich ist für die Grenzen eines verfügbar gedachten Verfahrensgegenstandes bei schweren Delikten gegen Leib und Leben auch der Gedanke heranzuziehen, dass im Bereich der Eigentumsdelikte die Zustimmung zu einer etwaigen Disposition deshalb nicht erforderlich ist, weil hier der Genugtuungsgedanke gegenüber einem Schadensausgleichsbegehren, das auch zivilrechtlich erlangt werden kann, zurücktritt82. Die Dispositionsbefugnis der Parteien wird demzufolge im Bereich schwerer Verletzungen von den personalen Rechtsgütern Leib, Leben und Freiheit durch das Zustimmungserfordernis des Opfers eingeschränkt. Die Einschränkung der Dispositionsbefugnis wird hier somit an das kommunikative Element des Verfahrens gebunden und in diesen Fällen eine prozessuale Einbindung des Verletzten gefordert. Es geht dabei also nicht um einen materiellen Ausschluss schwerster Delikte vom konsensualen Verfahren. Denn einer Grenzziehung bedarf es nur insoweit, als die materielle Verfahrensgerechtigkeit es gebietet, in diesen Fällen von Angriffen auf elementare und höchstpersönliche Rechtsgüter den Verletzten in den Konsensualprozess einzubinden83. „Die personale Kompo81 Dieser Gedanke, wenn auch in moderater Form, liegt auch der Möglichkeit der Einstellung von Verfahren wegen Geringfügigkeit zugrunde. Der Anhörung oder gar Zustimmung des Verletzten bedarf es hier nicht. So zumindest die h. M., vgl. KKSchoreit, § 153 Rn. 36; m. w. N. auch zur anderen Ansicht. Zum weitgehenden Ausschluss des Opfers von „plea bargaining“ siehe auch Weigend, Absprachen in ausländischen Strafverfahren, S. 48; bezeichnenderweise findet der Verletzte in der Dissertation von K. Dreher, Kontrollierbarkeit konsensualer Verfahrensweisen am Beispiel des US-amerikanischen Strafprozess, praktisch keine Erwähnung. Auch in der Dissertation von Trüg, a. a. O., findet die Rolle des Opfers in amerikanischen Verständigungsverfahren nur am Rande Erwähnung; so wird aber darauf hingewiesen, dass in Kalifornien 1982 die Verfassung geändert wurde, um einen Katalog von Opferrechten aufzunehmen, wobei es unter anderem erklärtes Ziel gewesen sei, bei schweren Straftaten Verständigungen auszuschließen, um auf diesem Weg alle relevanten Beweismittel in das Verfahren einführen zu können (S. 185). 82 Vgl. auch Roxin, in: Festschrift für Gerd Jauch, S. 183, 195, der darauf hinweist, dass das Opfer eines Deliktes bei nicht allzu schweren Taten meist weniger an einer staatlichen Bestrafung des Täters als an einer Wiedergutmachung interessiert sein dürfte. 83 Die Frage nach der „Grenzziehung“ zu einer Pflicht der lückenlosen Aufklärung eines Tatkomplexes, die die Gerechtigkeit erfordere, beantwortet Wolfslast, NStZ
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nente des Unrechts, die im Abtstraktum der Rechtsgutsverletzung fast gänzlich aufgegangen ist“84, wird hier in ihrem Eigenwert gesehen und tritt in einem Abwägungsprozess wieder in den Vordergrund. Widersetzt sich das Opfer der Einigung nicht, dürften auch die materiellen Gerechtigkeitserwartungen der Allgemeinheit an das Verfahren weitgehend gestillt sein, so dass der Konsens in seiner legitimierenden Wirkung die Disposition der Parteien über den Verfahrensgegenstand rechtfertigt. b) Rechtliche Würdigung und Strafzumessung – Unverfügbares des öffentlichen Strafanspruchs Wenn hier im Grundsatz für die Anerkennung eines verfügbaren Verfahrensgegenstandes plädiert wird, ändert dies nichts daran, dass die Rechtsfolgen einer konsensualen Einigung über den Sachverhalt nicht vollkommen zur Disposition gestellt werden dürfen. Zwar werden Tatsachen im Konsens der Parteien disponibel. Die rechtliche Würdigung der Tat, sowie die Strafzumessung dürfen der Kontrolle im Hinblick auf den staatlichen Strafanspruch aber nicht ganz entzogen werden. Die Anerkennung einer grenzenlosen Dispositionsbefugnis in diesem Bereich ließe vom staatlichen Strafanspruch nichts übrig und müsste die Rechtsprechungsfunktion des Gerichts auf „notarile“ Tätigkeiten begrenzen85. Im Ergebnis könnte der Staat objektives Recht nicht mehr durchsetzen, seine Justizgewährungspflichten nicht mehr wahrnehmen und so eine seiner zentralen Funktionen nicht mehr erfüllen86. Der in der rechtshistorischen Dimension des öffentlichen Strafrechts gewachsene Begriff des „staatlichen Strafanspruchs“ kann hier nicht in sämtlichen Facetten untersucht werden87. Wichtig in dem interessierenden Zusammenhang ist aber, dass der Strafanspruch des Staates sich nicht mit dem Anspruch des Klä1990, 409, 413 f.: „Eine ganz präzise Abgrenzung lässt sich wohl nicht treffen. Die Trennung verläuft, pauschal gesagt, zwischen leichteren und schwersten Delikten. Schwerste Delikte auf Leib und Leben müssen als Angriff auf elementare Rechtsgüter verfolgt und aufgeklärt werden, und das bedeutet: sie dürfen nicht im Rahmen einer strafprozessualen Absprache preisgegeben werden. [. . .] Das Gerechtigkeitsempfinden wäre zutiefst verletzt und der Rechtsfrieden gestört, wenn vorsätzliche Straftaten gegen elementare Rechtsgüter, die ja nicht nur das Opfer selbst, sondern auch die Allgemeinheit betreffen, nicht abgeurteilt würden.“ Eine konkrete Lösung sucht sie mit Hilfe des § 74 Abs. 2 GVG, den sie als formelle und absolute Grenze vorschlägt. 84 So Eser, ZStW 104, (1992), 361, 377, in Anlehnung an Schünemann NStZ, 1986, 193 f. 85 So das Schlagwort in der italienischen Diskussion um Prüfungskompetenzen des Gerichts, vgl. oben Fn. 58. 86 Zur Unverzichtbarkeit des „staatlichen Strafanspruchs“ in diesem Sinn, Wolfslast, Staatlicher Strafanspruch und Verwirkung, S. 94. 87 Vgl. die rechtshistorische Auseinandersetzung mit dem Begriff bei Wolfslast, a. a. O., S. 57 ff.
III. Die Übertragbarkeit der Dispositionsmaxime
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gers im Zivilprozess vergleichen lässt88. Ein vorschneller Schluss von der zivilrechtlichen Assoziation auf die freie Verfügungsbefugnis des Staates über seinen Strafanspruch verbietet sich daher89. Die Frage, ob und inwieweit der Staat in der Ausübung des öffentlichen Strafanspruchs dispositionsbefugt ist, bedarf gesonderter, auf die Strafrechtstheorie bezogener Erwägungen. Einigkeit besteht darüber, dass der öffentliche Strafanspruch sich nicht etwa in der staatlichen Monopolstellung in Bezug auf die Strafbefugnis beschränkt, sondern dass auch eine Pflichtenkomponente umfasst wird90. Das öffentliche Strafmonopol hat sich von der Initiative des Verletzten gelöst und der Wahrung kollektiver Interessen zu dienen. Der Strafanspruch kann daher, auch unabhängig von der Frage einer etwaigen Opferbeteiligung nicht grenzenlos in die Disposition der Parteien gestellt werden. So weit, wie der Strafanspruch im Interesse der Allgemeinheit ausgeübt wird, ist er der Dispostion entzogen. Nun besteht aber der staatliche Strafanspruch nicht etwa absolut, sondern bezieht sich auf die Tat, wie diese sich im Verfahren herausstellt. „Der Strafanspruch im Einzelfall folgt notwendigerweise einem bestimmten Sachverhalt, und die Feststellung dieses Sachverhalts ist notwendigerweise verfahrensbedingt“91. Auf diese Weise konkretisiert sich auch der Strafanspruch erst im Verfahren, so dass er sich in konsensualer Tatsachenkonstruktion nur auf den einvernehmlichen Sachverhalt erstreckt. Der Strafanspruch folgt also der Sachverhaltskonstruktion. Allerdings sei bereits an diesem Punkt erwähnt, dass der Strafanspruch nur dort der Sachverhaltskonstruktion folgen kann, wo eine tatsächliche Grundlage in Form eines hinreichenden Tatverdachts gegeben ist. In der Ausübung staatlicher Strafgewalt muss somit ein Mindestmaß an Überprüfung in der Form gewährleistet sein, dass ein einvernehmlich konstruierter Sachverhalt nicht ohne die Grundlage eines die Anklagereife begründenen Verdachts sanktioniert werden darf. Ein Strafanspruch kann mithin dort nicht entstehen, wo wegen des Mangels an Anhaltspunkten für strafbares Verhalten freizusprechen wäre. Zudem kann die rechtsprechende Gewalt auch nicht an die 88 So Roxin, Strafverfahrensrecht, § 1, Rn. 11, der in dem Begriff „Strafanspruch“ „nur eine begriffliche Umschreibung der staatlichen Eingriffsbefugnis“ sieht. 89 Gegen die Lehre vom „Strafanspruch als subjektivem Recht“ nach Binding detailliert Hilde Kaufmann, Strafanspruch Strafklagerecht, S. 70 ff. 90 BGHSt 32, 345, 353, hebt ausdrücklich hervor, dass es sich beim Strafanspruch nicht um eine „günstige Rechtsposition“ handelt, sondern „um eine Funktion des Staates, um seine Verpflichtung zum Rechtsgüterschutz durch die Verfolgung strafbarer Handlungen“; so auch Seelmann, ZStW 95 (1983), 797, 825; zur Strafpflicht auch Wolfslast, a. a. O., S. 81, 97. 91 So Ignor/Matt, StV 2002, 102, 103, die weiter konsequent feststellen, dass der „Strafanspruch des Staates“ „nicht unabhängig vom Beschuldigten und seinem Verteidiger“ besteht, denn er „konstituiert und legitimiert sich maßgeblich durch deren Mitwirkung an der verfahrensmäßigen Herstellung der ,Wahrheit‘ “.
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rechtliche Würdigung der einvernehmlichen Tatsachenfeststellung durch die Parteien gebunden werden, denn damit entzöge man der Rechtsprechung das Wesen ihrer judiziellen Aufgabe92. Das verfassungsrechtlich garantierte Aburteilungsmonopol des Richters fordert, dass die rechtliche Wertung eines Sachverhaltes und die Strafzumessung nicht in die Disposition der Parteien gestellt werden dürfen. Da die Sanktionsbefugnis einzig dem Staat zukommt, muss dem Gericht daher die Prüfung der rechtlichen Würdigung der Tat, sowie der Angemessenheit der Strafe verbleiben93. Im Rahmen der Dispositionsbefugnis verbleibt so eine auf der dispositiv festgestellten Tatsachengrundlage basierende Prüfungskompetenz beim Gericht, die die Einigung einer Kontrolle unterzieht, den Konsens aber nicht ersetzen kann. 4. Ergebnis: Die Dispositionsmaxime in den Grenzen des Unverfügbaren Bevor nun ein abschließender rechtspolitischer Ausblick Thema sein soll, ist bis zu diesem Punkt folgendes Ergebnis festzuhalten: Kooperative Kommunikation im Strafverfahren ist das Einfallstor eines disponiblen Verfahrensgegenstandes. Darüber hinaus kann die Dispositionsmaxime als impliziter Bestandteil eines dem Rechtsfrieden verpflichteten Strafverfahren verstanden werden. Das Streben nach Wahrheit ist im konsensualen Verfahren nicht mehr unabdingbare Voraussetzung eines gerechten Urteils. Das Konsensprinzip selbst enfaltet legitimatorische Wirkung94. Konsens kann aber nicht grenzenlos legitimieren, seine 92 Vgl. zu den wesentlichen Bestandteilen des Aburteilungsmonopols des Richters Löwe/Rosenberg-Rieß, Einl. Abschn. I, Rn. 7: „die verbindliche Entscheidung über die Schuld oder Unschuld des Täters, sowie gegebenenfalls die Verhängung und damit Konkretisierung der strafrechtlichen Sanktion“ ist „ausnahmslos als ein Akt der Rechtsprechung dem Richter zugewiesen“. 93 Das italienische Verfassungsgericht hat das Erfordernis der gerichtlichen Überprüfung des beantragten Strafmaßes aus der Verfassung abgeleitet, indem es die Kontrollpflicht auf die resozialisierende Funktion der Strafe in Art. 27 Abs. 2 cost. zurückgeführt hat; corte cost. sent. n. 313/1990, foro it 1990, 2385 ff. Die Prüfung der rechtlichen Würdigung der Tat wird im Wesentlichen auf die Notwendigkeit zurückgeführt zu verhindern, dass das patteggiamento in eine Einigung über die Straftat und die rechtlichen Anklagevorwürfe mündet, und so zu „herabstufenden Klassifizierungen der Tatsachen“ (derubricazioni) führt, vgl. Vigoni, L’applicazione della pena su richiesta delle parti, S. 300, sowie aus der Rechtsprechung Cass. pen. sez. III, 26. Februar 1991, Arch. n. proc. pen. 1991, 439; Cass. pen. sez. III, 11. Dezember 1992, Foro it. 1993, II, 273. 94 Auch Schünemann, ZStW 114 (2002), fordert explizit, dass an Stelle der materiellen Wahrheitsfindung in den summarischen Verfahren „ein anderes Legitimationsprinzip“ greifen müsse. Für das Konsensprinzip als nicht eigenständige, sondern als in ein an der materiellen Wahrheitsfindung orientiertes Verfahren integrierte „zweite Legitimationsstufe“ vgl. Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren, S. 197 ff.; ent-
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Rechtsfrieden stiftende Funktion nicht ohne Einschränkungen erfüllen. Die Grenzen des legitmierenden Konsensprinzips sind in den Vorverständissen materialer Gerechtigkeit angelegt, zu denen gehört, dass Genugtuungsinteressen nicht vollständig aus staatlicher Reaktion auf strafrechtlich relevantes Verhalten ausgeblendet werden können. Ebenso als Teil dieser axiomatisch gesetzten Vorverständnisse ist der Kern richterlicher Tätigkeit als unabhängige Prüfung der konsensualen Einigung unter dem Aspekt der rechtlichen Würdigung und Strafzumessung vorgestellt worden. Das Konsensprinzip begrenzen dementsprechend die Bedeutung des mutmaßlichen Opfers für den rechtlichen Kommunikationsprozess bei schwersten Gewaltdelikten sowie der staatliche Strafanspruch als Grundlage der rechtlichen Überpüfung der Einigung.
IV. Rechtspolitischer Ausblick Die Untersuchung ist nunmehr an dem Punkt angelangt, an dem die rechtstheoretischen Grundsatzfragen, sowie die rechtsvergleichenden Erwägungen sich anhand der aktuellen Diskussion um eine Reform des Strafverfahrens in ihrer praktischen Dimension behaupten müssen. Die Absprachen sind ein Kind der Praxis und galten lange als allgemein kodifizierungsfeindlich, weil ihr Wesen gerade in ihrer Informalität liege. Dencker und Hamm erteilten noch 1988 in ihrer den Absprachen gewidmeten Monographie dem bereits damals vereinzelt aufkommenden Ruf nach einer Kodifizierung95 eine deutliche Absage96. Die Lösung könne nur darin liegen, die Rechtsschieden gegen die Rechtfertigung durch Konsens argumentiert Salditt, StV 2002, 273, 276, weil der Konsens im Verfahren durch Macht hergestellt sei, fehlte ihm die Legitimation. Gegen die eigenständige Bedeutung des Konsenses auch Gössel, in: Festschrift für Meyer-Goßner, S. 187, 199, sowie Rönnau, Die Absprache im Strafprozess, S. 146 f., die am Ziel materieller Wahrheit auch in konsensualen Verfahren explizit festhalten; eine kritische Wertung auch bei Bussmann, Die Entdeckung der Informalität, S. 230, wenn er feststellt, dass „der Einzug des Konsensprinzips in die strafprozessuale Normalität“ nur „als Mittel zum Zweck“ diene und „nicht Teil des Paradigmawandels, sondern dessen Instrument“ sei. 95 So explizit Schünemann, NJW 1989, 185, 1899 für eine „Gesamtreform“, in der Absprachen „eingebaut“ werden könnten; in jüngerer Vergangenheit scheint die überwiegende Ansicht von der Notwendigkeit einer Kodifizierung auszugehen, vgl. jüngst Neuhaus, GA 2003, 846, 847; Siolek seinen früheren Wunsch nach einem „Einhalt“ durch den Gesetzgeber bekräftigend, in: Festschrift für Rieß; S, 563, 582 f.; anders aber Kintzi, JR 1998, 249, der hier im Rahmen einer Anmerkung zur Grundsatzentscheidung BGHSt 43, 195 anmerkt, dass die Entscheidung wesentlich zu der Hoffnung beitrage, „dass es keiner normativen Regelung der Absprachenproblematik bedarf und dass die höchstrichterliche Rechtsprechung willens und in der Lage ist, den Tatgerichten randscharfe Vorgaben zu vermitteln“. Eine zusammenfassende Darstellung zum Streit um die notwendige gesetzliche Regelung findet sich bei Kremer, S. 288 ff. und Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren, S. 180 ff. 96 Hamm, Der Vergleich im Strafprozess, S. 89, 137; er bleibt seiner die Kodifizierung ablehnenden Haltung insgesamt treu, vgl. Hamm, Festschrift für Meyer-Goßner,
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lage im ungesetzlichen Bereich zu belassen und in der Justiz für mehr Transparenz zu werben97. Die Ablehnung einer Kodifizierung ist dann konsequent, wenn die Suche nach der Wahrheit im Prozess als unverfügbarer Teil eines gerechten Urteils gelten soll. Wird der Konsens aber zu einem eigenständigen Legitimierungsmoment, wie es dem Ansatz dieser Arbeit entspricht, dann kann die entscheidende Frage nicht mehr sein, ob konsensuale Verfahrenserledigung rechtlich geregelt werden soll, sondern entscheidend wird dann, wie die Konsensbildung im Verfahren gesetzlich kontrolliert werden kann. Aus dem „konsenskritischen“ Lager ist insbesondere hervorgehoben worden, dass konsensuale Erledigungsformen im Strafverfahren gerade wegen der autoritären Strukturen des Strafrechts und des unausweichlichen Machtgefälles im Verfahren bereits theoretisch nicht möglich seien98. Der Einwand des „strukturellen Machtgefälles“ muss für die Reformdiskussion von entscheidender Bedeutung bleiben. Zwar stellt er kein grundsätzlich schlagendes Argument gegen den Konsensgedanken im Strafverfahren dar, da der Einwand strukturell ungleicher Positionen so umfassender Natur ist, dass eine gerechte Konsensfindung unter stringenter Berücksichtigung vollkommen ausgeglichener Ausgangspositionen nur im sozialen Vakuum möglich wäre. Richtig ist aber, dass gerade wegen des strukturellen Ungleichgewichts zwischen den Beteiligten in einem Strafverfahren etwaige Reformbemühungen diesem unausweichlichen Aspekt durch die Schaffung entsprechender verfahrensrechtlicher Kautelen begegnen müssen. Die Qualität des Einigungsprozesses ist entscheidend für die Qualität des Konsenses. Bereits vor über zehn Jahren hat Schünemann99 die Absprachen als „Folge mannigfacher praktischer Zwänge und gesellschaftlicher Entwicklungen“ geseS. 33, 48; ebenso noch Tscherwinka, S. 187, der ein „Einschreiten des Gesetzgebers“ für „weder notwendig, noch wünschenswert“ befindet, da „Konsens und materielle Wahrheit“ „keine Gegensätze“ seien; für eine Integrierung der Absprachen ohne gesetzliche Modifikation des StPO ebenso Gerlach, S. 218; wie auch Janke, S. 217, ebenso Bömeke, S. 238, nach dessen Auffassung die von der Rechtsprechung „geschaffenen ,Eckpfeiler‘ für Absprachen als klarstellende Regelungen in StPO und StGB überführt“ werden sollten. Für die Entbehrlichkeit einer gesetzlichen Regelung auch Böttcher/Dahs/Widmaier, NStZ 1993, 375, 377. 97 So Hamm, a. a. O., S. 138, insbesondere prangert er die fehlende „Ehrlichkeit“ des Prozesshandelns in den unterschiedlichen Formen des strafprozessualen Vergleichs an. Das „notwendigerweise autoritäre Strafrecht“ könne „im Gewande des kooperativen Händlers letztlich doch nur trügerisch auftreten“ (S. 139). 98 Vgl. hierzu Weigend, ZStW 113 (2001), 271, 303; Duttge, ZStW 114 (2003), 539, 564; zwar ist im Zuge der Entwicklung der Absprachenpraxis auf der anderen Seite ebenso darauf hingewiesen worden, dass diese auch eine Folge zum Teil verdrehter Machtverhältnisse sind. Diese seien wiederum durch eine extensive Pönalisierung auch des Gefährdungsbereiches entstanden, in denen objektive Beweisschwierigkeiten schon in den tatbestandlichen Strukturen angelegt sind, so dass auch die Gerichte zunehmend durch eine engagierte Verteidigung unter Druck gesetzt werden konnten, vgl. hierzu ausführlich Weider, Vom Dealen mit Drogen und Gerechtigkeit, S. 144 ff. 99 Schünemann, StV 1993, 657, 662.
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hen, „die von der faktischen Überlastung der Strafjustiz bis hin zu einer Erosion des absoluten Gerechtigkeitsbegriffes reichen“, und hieraus den Schluss gezogen, dass sie „entweder unterbunden oder in ein neues Prozessmodell eingebunden werden“ müssen, „das die Dispositionsmaxime und die summarischen Entscheidungsmöglichkeiten als unerlässliche normative Basis der Absprachen über den bisherigen Bereich des Opportunitätsprinzips und des Strafbefehlsverfahrens hinaus erweitert“. Eine Unterbindung der Absprachen fordert heute wohl niemand mehr, gehört es doch inzwischen zum strafprozessualen Allgemeingut, dass sich die Zeichen der Zeit nicht mehr zurückdrehen lassen. Dass aber über die Reichweite der „Erosion“ des Gerechtigkeitsbegriffes in keiner Weise Einigkeit besteht, davon zeugen die vielfältigen, auf unterschiedlichen rechtstheoretischen Fundamenten basierenden Normierungsvorschläge. Es soll zunächst ein summarischer Überblick der Kodifizierungsmodelle geliefert werden, um im Folgenden unter besonderer Berücksichtigung des Diskussionsentwurfs zu einer Reform des Strafverfahrens100 eigene Richtlinien für ein kodifiziertes Absprachenmodell in einem „zweispurigen“ Strafprozess zu entwerfen. 1. Modelle einer kodifizierten Absprache In den Anfängen der Diskussion um die informell aufblühende Form der Verständigung auf den Gerichtsfluren und anderswo war man vor allem darum bemüht, die systemkohärente Vereinbarkeit der Praxis mit der geltenden Prozessordnung herauszustellen, so dass der Ruf nach dem Gesetzgeber gar nicht erst
100 Diskussionsentwurf Stand 18. Februar 2004, vollständig nachzulesen in http:// sirius.soldan.de/anwaltverein/01/depesche/texte04/Disk-entw.pdf; in Auszügen abgedruckt in StV 2004, 228 ff., vgl. auch die Zusammenfassung bei Kintzi, DRiZ, 2004, 165 f.; siehe auch den Kommentar von Haller, DRiZ 2004, 184 ff.; wie auch die überwiegend befürwortende Stellungnahme des DAV Nr. 43/2004, Stand September 2004, http://www.anwaltverein.de/03/05/2004/43-04.pdf, die jedoch in Bezug auf die Verständigungsproblematik das Lösungsmodell des Entwurfes als unzureichend kritisiert: „Die Verstärkung ,kommunikativer Elemente‘, die die Reform in allen Verfahrensstadien vornehmen will, weist in die richtige Richtung. Leider geht sie jeweils nur sehr zaghafte Schritte. Und das ,Kommunikative‘ und das ,Konsensuale‘ werden unglücklich vermengt“ (S. 30); vgl. auch die Stellungnahme des DRB, nachzulesen unter www.drb.de, der insbesondere den Bestrebungen, den Beschuldigten stärker in das Ermittlungsverfahren einzubinden, kritisch gegenübersteht; zu den „Kernpunkten“ des Diskussionsentwurfs auch Zypries, StraFo 2004, 221 f.; einen ausführlichen zustimmenden Kommentar zum Diskussionsentwurf liefern Schlothauer/Weider, StV 2004, 504 ff., die dem Entwurf eine „Erweiterung der Gestaltungs- und Interventionsmöglichkeiten der Verteidigung in einem bisher nicht erreichten Ausmaß“ bescheinigen, „ohne daß diesen gravierende Einbußen an Verteidigungsrechten gegenüberstehen“; siehe auch den deutlich andere Akzente setzenden Beitrag zum Diskussionsentwurf von Landau, ZRP 2004, 146 ff., der in den Vorschlägen zu einer verstärkten Beteiligung insbesondere der Verteidigung im Ermittlungsverfahren vor allem „Mehrbelastungen für die Justiz angelegt“ sieht, die nicht durch entsprechende Entlastungen kompensiert werden könnten (S. 150).
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aufkommen sollte101. Und doch wurde von anderer Seite auch schon früh für eine gesetzliche Legalordnung der Absprachen plädiert102. Auch der Deutsche Juristentag hat sich 1990 ausführlich mit dem Thema beschäftigt und zwar noch mehrheitlich das Erfordernis einer großen Reform abgelehnt, sich aber doch bereits für eine kodifizierte Reglementierung der Absprachenpraxis ausgesprochen103. Auch in jüngerer Vergangenheit scheint die Frage, ob eine gesetzliche Regelung der Absprachenpraxis erforderlich ist, noch nicht abschließend geklärt. Die eindeutig überwiegende Tendenz befürwortet heute aber klar die Notwendigkeit eines Eingreifens durch den Gesetzgeber104. 101 Die erste Monographie zu dem Thema, von Schmidt-Hieber 1986 unter dem Titel „Verständigung im Strafverfahren veröffentlicht, ist als der eindringliche Versuch eben dieser Darlegung der Vereinbarkeit der Absprachen mit der Prozessordnung zu lesen, vgl. insbesondere, S. 8; Böttcher, in: Festschrift für Meyer-Goßner, S. 49, 58, nach dessen – hier nicht geteilter – Auffassung der Ruf nach gesetzlicher Regelung im Laufe der Zeit ohnehin an Gewicht verlor, da die in der Praxis bestehende Unsicherheit geringer geworden sei. So verneinte auch das Gutachten der Großen Strafrechtskommission des DRB, das die Ergebnisse zweier einwöchiger Tagungen im Oktober 1989 und März 1990 zusammenfasst (Münsteraner Thesen) die Notwendigkeit einer gesetzlichen Lösung; abgedruckt sind die Thesen bei Kintzi, JR 1990, 30 ff. Die „Münsteraner Thesen“ sind auf Auftrag des Bundesministeriums der Justiz erstellt worden. Die Kommission bekennt sich nicht zu der Frage, ob der Verständigungsgedanke zu fördern oder zurückzudrängen ist, sie ist der Meinung, dass an den Grundsätzen des Verfahrens festgehalten werden muss. Abgelehnt wird eine allgemeine gesetzliche Präzisierung des Inhalts von Verständigungen und ihrer Grenzen. Nach Auffassung der Kommission soll begründeten Opferinteressen bei Verständigungen Rechnung getragen werden, hierzu bedürfe es aber keines formalisierten Restitutionsverfahrens. Noch 1989 konstatierten Lüdemann/Bußmann, KrimJ 1989, 54, 63, als Ergebnis einer empirischen Studie, dass sich die deutliche Mehrheit der Praktiker gegen eine Änderung der Gesetzlage ausgesprochen habe; für die grundsätzliche „Normierungsfeindlichkeit“ „vertrauensbildender Maßnahmen“, die Absprachen jederzeit voraussetzen, auch Gallandi, MDR 1987, 801, 804, der allerdings ein gesetzliches „Gerüst“ für das „Vertrauen im Strafprozess“ für möglich hält. 102 Vgl. Schünemann, in: Absprachen im Strafprozeß – ein Handel mit der Gerechtigkeit, S. 48, wo er den Ruf nach dem Gesetzgeber insbesondere auf folgende Schutzbedürfnisse zurückführt: „Vertrauensschutz der vorleistenden Angeklagten“, „Besorgnis der Befangenheit“ und die „Behandlung gescheiterter Absprachen“; wie auch ders., Gutachten B zum 58. DJT, S. 141 ff. 103 Vgl. die Beschlussfassung des Deutschen Juristentags 1990, L 194, 213, ebenso auch schon Rönnau, Die Absprache im Strafprozeß, S. 286; anders aber der Strafrechtsausschuss der BRAK in den „Thesen zur Verteidigung“, Nr. 38–44 aus dem Jahr 1992, S. 66 ff., der einen legislatorischen Handlungsbedarf offensichtlich nicht begründet sah und die Auffassung vertrat, dass bei Verständigungen nach Maßgabe und unter Beachtung der in den Thesen formulierten Grundsätze „mehr als nur rechtsstaatlicher Mindeststandard gewahrt“ werde, S. 67. 104 Mit der Frage, ob eine Kodifizierung wünschenswert ist, beschäftigte sich auch der Strafrechtsausschuss auf dem Anwaltstag 2001 in Bremen, vgl. die Dokumentation der entsprechenden Veranstaltung auf dem Strafverteidigertag, AnwBl 2002, 35 ff., und gelangte zusammenfassend mehrheitlich zu dem Ergebnis, dass die Vorteile einer Kodifizierung die Nachteile wohl überwiegen; bereits der 58. Deutsche Juristentag hat sich 1990 mit deutlicher Mehrheit für ein Eingreifen des Gesetzgebers ausgesprochen,
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Gegen einen legislatorischen Handlungsbedarf wurde insbesondere zu Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema ins Feld geführt, dass informelle Absprachen – sofern sie denn verantwortlich praktiziert würden – sich bruchlos in das geltende Prozesssystem einordnen ließen und somit kein Anlass für eine gesetzliche Regelung bestünde105. Nach diesen ersten Versuchen, die Absprachen gewissermaßen als einen natürlichen Bestandteil kommunikationsgeprägter Verfahrensgestaltung in das bestehende System zu integrieren, verbreitete sich vermehrt wohl begründete Skepsis. Insbesondere wurde Anstoß genommen an der euphemistischen Ausblendung des Gefahrenpotentials, das in der Grauzone der sich unkontrolliert entwickelnden Praxis ruht106. Sämtliche Versuche, die Absprachenpraxis systemimmanent und ohne gesetzlichen Eingriff in die geltende Prozessordnung zu integrieren, müssen aber als gescheitert gelten, weil das Wesen informeller Verständigung gerade in der Aushebelung wesentlicher Grundsätze der geltenden Prozessordnung liegt. Eine systemimmanente Lösung wäre dementsprechend auch nicht geeignet, den „Wildwuchs“ der Absprachenpraxis zu bändigen, weil unter stringenter Beachtung der im geltenden Strafprozessrecht verankerten Anforderungen an die Absprachen nicht nur der „Wildwuchs“ aussortiert würde, sondern die Absprachen gänzlich aus den Prozessen verdammt werden müssten. Systemimmanente Absprachen wären gerade keine Absprachen mehr, sondern „nur“ kooperative Verhandlungsführung auf beiden Seiten, die solange die Grundsätze der Prozessordnung nicht verlässt, wie sie nicht auf einem Leistungen austauschenden Gegenseitigum „durch verdeutlichende Regelungen Auswüchse einzudämmen und Unsicherheiten zu beseitigen, in die die Absprachenpraxis geraten ist“, Beschlussfassung des DJT, L 214; kritisch zum Erfordernis einer gesetzlichen Regelung aber weiterhin Kintzi, JR, 1998, 249, wie schon ders., JR 1990, 309, 316, mit dem Hinweis auf die Gefahr einer Zweiteilung des Verfahrens; Hamm, in: Festschrift für Meyer-Goßner, S. 33 ff., der eine „Teufelsspirale“ für die Unmöglichkeit einer gesetzlichen Regelung anführt; eine solche entstehe dadurch, dass die Praxis stets neue Umgehungswege einer gesetzlichen Regelung fände, die ihrerseits den Gesetzgeber auf den Plan rufen müssten, um die noch verbleibenden Formalien weiter aufzuweichen, S. 48; an dem Erfordernis einer gesetzlichen Normierung zweifelt auch Wehnert, StV 2002, 219, 222, mit der etwas lapidaren Begründung: dort, wo die Verfahrensbeteiligten „professionell agieren, scheitern Absprachen nicht“; vgl. auch Haller, DRiZ 2004, 184, 188, mit der fatalistischen Begründung, sachgerechte Kommunikation ließe sich ohnehin nicht verordnen; mit verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers befasste sich auch die Fachgruppe Strafrechtsvergleichung der Gesellschaft für Rechtsvergleichung vom 18.9. 2003, vgl. hierzu den umfassenden Diskussionsbericht von Kreß, ZStW 116 (2004), 172, 181 ff. 105 Vgl. hierzu insbesondere die erste Monographie zu dem Thema von SchmidtHieber, Die Verständigung im Strafverfahren, S. 8, der noch von Verständigungs- oder Kooperationstypen ausging, „die das Verfahrensrecht überhaupt nicht tangieren“. 106 Vgl. zur Polarisierung der Diskussion exemplarisch den Aufsatz von Böttcher/ Dahs/Widmaier, Verständigung im Strafverfahren – eine Zwischenbilanz, NStZ 1993, 375 ff., und die grundlegend kritische Erwiderung von Schünemann, Wetterzeichen einer untergehenden Strafprozesskultur? Wider die falsche Prophetie des Absprachenelysiums, StV 1993, 657 ff.
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keitsverhältnis beruht. Neben die Überlegungen zu kodifikatorischen Regelungen traten auch praxisorientierte Initiativen, wie die innerhalb der Staatsanwaltschaft aufgestellten „Richtlinien“, die Anweisungen für die rechtstaatlich gesicherte Handhabung der Verständigungspraxis enthalten107. Die folgende summarische Darstellung der Kodifizierungsvorschläge aus der Literatur kann selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern will lediglich einige Schwerpunkte aufzeigen108. a) Rechtsgespräch Zunächst ist auf einen eher verhaltenen Kodifizierungstyp einzugehen, der unter dem Begriff „Rechtsgespräch“ einzuordnen ist und verschiedene einzelne Orientierungen umfasst, denen aber allen gemein ist, dass die Absprachen im Bereich des unverbindlichen Gespräches verbleiben und keinerlei Bindungswirkung erzeugen sollen. Als Prototyp ist der konkrete Vorschlag Baumanns anzusehen, der in der Literatur auf breite Zustimmung gestoßen ist, und im Rahmen des § 265 StPO ein an den Grundsätzen des § 139 Abs. 1 S. 2 StPO orientiertes, obligatorisches Rechtsgespräch einführen will109. Der jüngere Alternativentwurf Ermittlungsverfahren, der 2001 von einem Arbeitskreises deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer vorgelegt worden ist, will die Möglichkeit eines verfahrensbeendenden Rechtsgespräches bereits in das Ermittlungsverfahren vorverlagern und sieht dementsprechend die gesetzliche Regelung eines Schlussgesprächs zur einverständlichen Verfahrenserledigung vor110. 107 Im Herbst 1990 wurden bei der Arbeitstagung des Generalbundesanwalts mit den Generalstaatsanwälten „Hinweise an die Staatsanwälte für eine Verständigung im Strafverfahren“ vorgelegt, StV 1993, 280. Vgl. auch die Richtlinien für Absprachen des Generalstaatsanwalts im Einvernehmen mit dem Hessischen Ministerium der Justiz, abgedruckt in StV 1993, 347; zu praxisorientierten Richtlinien aus der Anwaltschaft siehe die „Thesen zur Strafverteidigung“ Nr. 33–44 des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer. Einen Sonderweg in der Diskussion um eine etwaige Kodifizierung der Absprachen geht Bussmann, Die Entdeckung der Informalität, S. 234 f., wenn er die Einrichtung von außerhalb der Justiz liegenden „AushandlungsMittlern“ vorschlägt und damit den Mediationsgedanken auch auf strafrechtlich relevante Konflikte ausweitet. 108 Zusammenfassende Überblicke bieten Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren, S. 217 ff., Küpper/Bode, Jura 1999, 393, 398. Richtungweisend für die wissenschaftliche Diskussion zu einer legislatorischen Lösung wurde das Symposium am 20. und 21. November 1986 in Triberg, dessen Ergebnisse unter dem Titel „Absprachen im Strafprozess – ein Handel mit Gerechtigkeit“ herausgegeben worden sind vom Ministerium für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten, Baden-Württemberg, Stuttgart 1987. 109 Baumann, NStZ 1987, 157 ff.; zustimmend Rückel, NStZ 1987, 297, 303; Gallandi, MDR 1987, 801, 804; Schmidt-Hieber, NJW 1990, 1884, 1887; für die de lege lata bereits existierende Möglichkeit des von Baumann vorgeschlagenen Rechtsgesprächs Cramer, in: Festschrift für Rebmann, S. 145, 152.
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b) Hypothetische Strafprognose Der Vorschlag geht vornehmlich auf Siolek111 zurück und integriert ein „allgemeines Rechtsgespräch“ vor Abschluss der Ermittlungen, das sowohl vom Staatsanwalt als auch vom Gericht initiiert werden kann und als Vorstufe einer Verständigung in der Hauptverhandlung dienen kann. Ebenso ist ein erweitertes Strafbefehlsverfahren vorgesehen. Die einverständliche Verfahrenserledigung schließlich ist so konzipiert, dass das Geständnis zur Bekanntgabe einer hypothetischen Strafzusage führt, von der nur unter engen Voraussetzungen abgewichen werden darf, und deren Abweichen dem Angeklagten bekannt zu geben ist. Bei Abgabe eines umfassenden Geständnisses ist das Strafmaß um ein Drittel zu mildern. Rechtsmittel und die Befangenheitsregelungen sind ausgeschlossen. Gegen dieses Modell lässt sich zu Recht einwenden, man dürfe „die in der Praxis verbreitete euphemistische Liturgie der informellen Verständigung nicht mit dem wirklich Gewollten verwechseln“112. c) Strafbescheid Als weiterführendes Modell ist auf die Strafbescheidlösung zu verweisen, die vornehmlich von Schünemann auf dem Triberger Symposion vorgestellt 110 AE-EV, § 169b mit Begründung, S. 134 ff. Das Schlussgespräch soll statthaft sein, wenn die Voraussetzungen des § 170 Abs. 1 StPO wegen mindestens einer Tat vorliegen. Die Staatsanwaltschaft „soll“ in geeigneten Fällen ein Schlussgespräch anberaumen. Die übrigen Verfahrensbeteiligten sollen ein solches Gespräch nicht erzwingen, sondern lediglich den Entscheidungsspielraum der Staatsanwaltschaft einengen können. Das Gericht soll an dem Gespräch weder beteiligt noch an ein solches gebunden sein. Als ungeeignete Fälle sollen schwere Straftaten wie vorsätzliche Tötungsdelikte, Bankraub und andere Verbrechen in Betracht kommen. 111 Siolek, Verständigung in der Hauptverhandlung, S. 283 ff., der einen Paragraphen „Allgemeines Rechtsgespräch“ vorschlägt, das vor Abschluss der Ermittlungen auf freiwilliger Basis von der Staatsanwaltschaft mit den Verfahrensbeteiligten geführt werden kann, „wenn dies aus Gründen einer zügigen Verfahrenserledigung geboten erscheint“. Dasselbe Recht soll dem Gericht zur Vorbereitung der Hauptverhandlung zustehen; in eine ähnlich unverbindliche Richtung geht der Vorschlag für ein „Vereinbarungsverfahren“ von Gutterer, S. 159. In die gleiche Richtung geht der Vorschlag Schmidt-Hiebers, Verständigung im Strafverfahren, S. 70 ff., dass das Gericht in der Antizipation eine „hypothetische Erklärung“ abgebe. Für eine Bindung des Gerichts an die Prognose unter dem Aspekt der Befangenheit des Gerichts Niemöller, StV 1990, 34, 37. 112 So die Kritik der „Antizipation“ als „sprachlicher Deckmantel“ von Schünemann, NJW, 1989, 1895, 1897. Eine Bindung an den Abspracheinhalt kann aber unter Anerkennung der Dispositionsbefugnis sehr wohl angenommen werden, was Siolek in seiner Konzeption konsequent noch grundsätzlich verneint hatte. Siolek, a. a. O., S. 281, vertritt vielmehr die Auffassung, dass Bindung mit dem Gesetz nicht zu vereinbaren, eine „gewisse Verlässlichkeit durch das vom BGH als schützenswert bezeichnete Vertrauen aber verbürgt sei. Eine „Verlässlichkeit“, die sanktionslos gebrochen werden kann, kann im Strafprozess, der den schwersten staatlichen Eingriff bedeutet, jedoch nicht hinreichen.
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wurde113. Über die Lösung eines durch den Beschuldigten binnen einer Woche durch Einspruch anfechtbaren Strafbescheides soll die Gefahr der Vorleistungspflicht gebannt werden, die den Hauptkritikpunkt der „Geständnislösung“ darstellt. In diesem Konzept klingt deutlich der Verfügungscharakter der prozessual bedingten Einräumung des Tatvorwurfs an114. Entsprechend fordert Schünemann115 eine „Umkehrung der Vorleistungsreihenfolge durch einen vom Gericht erlassenen, vom Angeklagten aber ohne weiteres anfechtbaren Strafbescheid“. Eine Umkehrung der Leistungsabfolge trägt aber dem bedeutenden Umstand keine Rechnung, dass von einer „Leistung“ des Gerichts schon konzeptionell nicht die Rede sein sollte. Dort, wo ein Urteilsspruch als Gegenleistung – und sei sie auch eine vorgeleistete – verstanden wird, haftet ihm der Makel einer nach Marktwert ausgehandelten Gerechtigkeit an. Erst wenn der Konsens durch Gewährleistung freier Verantwortungsübernahme legitimierend auftritt, geht es nicht mehr um etwaige synallagmatische Leistungspflichten auf Seiten des Gerichts, sondern dieses tritt in einer gänzlich neuen Rolle auf, denn seine Tätigkeit beschränkt sich gewissermaßen auf die Überprüfung einer konsensualen Entscheidung anhand der Grenzen des Unverfügbaren im Strafprozess. In Anlehnung an das Strafbefehlsverfahren will Weigend einen Entscheidungsvorschlag am Ende des Ermittlungsverfahrens vorsehen, der durch das Gericht wie ein Urteil zu begründen wäre. Um den Beschuldigten in seiner Entscheidung über die Annahme des Vorschlags nicht unter Druck zu setzen, solle gesetzlich festgelegt werden, dass das Endurteil nur in Ausnahmefällen vom Entscheidungsvorschlag abweichen dürfe116. d) Strafminderung für Prozesserklärung Einen radikaleren Lösungsvorschlag macht Meyer-Goßner117, indem er die Möglichkeit einer „Erklärung“ des Angeklagten vorsieht, mit der dieser unmit113 Vgl. Schünemann zu seinem Strafbescheidsmodell, in: Festschrift für Baumann, S. 361, 381; ebenso für ein Strafbescheidsmodell auch Bode, DRiZ 1988, 281, 287; zu einer Ausweitung des Strafbefehlsverfahrens mit mündlichem Anhörungstermin mit Anwesenheits- und Anhörungsrecht für den Verletzten auch Wolter, GA 1989, 405, 416. 114 Ausdrücklich spricht sich Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 176, für das angloamerikanische Modell der „Verfügungserklärung“ aus, „das dem Geständnismodell der deutschen informellen Absprachen eindeutig überlegen ist“. 115 Schünemann, in: Festschrift für Baumann, S. 361, 381. 116 Weigend, ZStW 104 (1992), 486, 508 ff.; im Idealfall soll nach diesem Modell der Richter, der den Entscheidungsvorschlag erlässt weder mit dem Ermittlungsrichter noch mit erkennendem Gericht identisch sein. 117 Meyer-Goßner, NStZ 1992, 167 f.; jüngst hat Meyer-Goßner, ZRP 2004, 187, 190, bekräftigt, dass bevor die Rechtsprechung des BGH in den Strafprozeß verankert werden soll, gründlich überlegt werden müsste, „ob [. . .] nicht – ausländischen Vorbil-
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telbar nach Eröffnung der Hauptverhandlung den „Vorwurf der Begehung einer Straftat einräumt“, ein „Geständnis im bisherigen technischen Sinn“ aber entbehrlich bliebe. Bei Verurteilung aufgrund der „Erklärung“ solle höchstens auf die Hälfte des für die angeklagten Tatbestände gesetzlich angedrohten Höchststrafmaßes erkannt werden dürfen118. Einen „pauschalisierten Strafrabatt“, für den kein Geständnis, sondern nur eine „Unterwerfungserklärung“ erforderlich sein soll, sieht auch Braun119 vor. Das dort entworfene „Kooperations- oder Verständigungsverfahren“ soll diesen allerdings in einem eigenen Verfahrensabschnitt, der zwischen dem Abschluss der Ermittlungen und der Eröffnung des Zwischenverfahrens anzusiedeln wäre, geregelt werden. 2. Unmöglichkeit einer systemimmanenten Lösung Die prozessualen Kommunikationsstrukturen unterscheiden sich im konsensualen und konfrontativen Verfahren derart voneinander, dass eine gesetzliche Regelung sich dieser grundlegenden Differenzen annehmen muss120. Es gilt, sich endgültig von der Vorstellung zu verabschieden, Absprachen könnten im Rahmen einer systemimmanenten „kleinen“ Lösung unter Beibehaltung aller Verfahrensgrundsätze als punktuelles Modifizierungsgesetz in den deutschen Strafprozess eingefügt werden. Dabei soll hier, wohl gemerkt, nicht etwa die dern folgend – ein echtes konsensuales Verfahren neben dem bisherigen Amtsverfahren eingeführt werden sollte“. 118 Im Rahmen dieses Vorschlags sollen Ermittlungs-, und Zwischenverfahren unverändert beibehalten werden, um die nötige Sorgfalt in der Anklageerhebung und deren Prüfung zu gewährleisten. Küpper/Bode, Jura 1999, 393, 400, führen den Vorschlag von Meyer-Goßner in der Form fort, dass die Stellungnahme des Angeklagten vor der Hauptverhandlung erfolgen solle. Zuvor sei der Angeklagte schriftlich über die Möglichkeit einer Stellungnahme zum Schuldvorwurf inklusive Strafmaßreduzierung zu informieren. Der Vorschlag von Meyer-Goßner wird jedoch auf der anderen Seite insoweit eingeschränkt als Küpper/Bode ein ausführliches Geständnis verlangen, und eine „bloße Einräumung des Tatvorwurfs“ gerade nicht genügen lassen wollen. 119 Braun, Die Absprache im Strafverfahren, S. 272, 299, wie auch ders., StraFo 2001, 77, 80, der Strafrabatt wird hier je nach Verfahrensstadium auf ein Drittel bzw. auf die Hälfte des „an sich verwirkten Strafmaßes“ beziffert (S. 83). 120 So auch schon vor fast 15 Jahren der grundlgegende Gedanke bei Roxin, Festschrift für Jauch, S. 183, 190, dass die Rechtsordnung „für das Verfahren zwei verschiedene Modelle anbieten sollte, ein konfrontatives und kooperatives“. Ignor, Tagesspiegel vom 21.07.2001, nachzulesen unter www.2.tagesspiegel.de/archiv/2000/07/20/ ak-po-de-13957.html, fasst die kommunikationstheoretische Problematik des Verfahrensrechts folgendermaßen zusammen: „Der deutsche Strafprozess [. . .] ist bis heute mehr von den Entscheidungsprogrammen des Obrigkeitsstaates als von den Kommunikationsmustern einer modernen Diskursgesellschaft geprägt“. Genau diese Abkopplung der Strafprozessordnung von den wesentlich divergierenden Kommunikationssituationen ist unseres Erachtens verantwortlich für die selbsttrügerischen Versuche, die bestehende Praxis in das geltende Recht zu fügen.
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Kap. 4: Das patteggiamento als Modell für eine kodifizierte Absprache?
Entstehung der Absprachenpraxis als Grund für eine auch gesetzlich verankerte Trennung der verschiedenen Prozesssituationen angeführt werden. Die informelle Praxis ist hier nicht mehr als ein Symptom, in dem sich die grundsätzlichen Unterschiede der Kommunikationssituationen, die das Verfahren entscheidend beeinflussen, manifestieren121. Der Blick nach Italien sollte zeigen, dass die Etablierung echter, konsensualer Elemente nur unter dem Vorzeichen eines gewandelten Prozessverständnisses überhaupt denkbar ist. Ein solcher Wandel deutet sich nicht nur an, sondern ist bereits, wie die nunmehr schon Jahrzehnte währende Diskussion um die zunehmend in Frage gestellten Prozessgrundsätze verdeutlich, in vollem Gang122. Der Ruf nach einer neuen „Streitkultur“ im Prozess findet zunehmenden Anklang123. Nach dem auf der Grundlegung dieser Arbeit aufbauenden Verständnis kann sich eine „offene“ Streitkultur nur unter einer fundamentalen Neuorientierung des gesamten Verfahrensrechtes entwickeln. Systemkohärent kann nur dann Raum für konsensuale Verfahrenserledigung geschaffen werden, wenn den unterschiedlichen Kommunikationsstrukturen eines Streitgespräches Rechnung getragen wird. Eine „Kultur der Streits“ impliziert die Möglichkeit eines Konsenses124. 121 In diesem Sinn auch Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren, S. 2, wenn sie eingangs konstatiert: „Die Entstehung der Absprachenpraxis kann nicht der Grund für eine umwälzende Reform des Strafverfahrensrechts sein, sondern zunächst nur ein Indiz, ein Krisensymptom, das den Anlass schafft, Rationalität und Praktikabilität des herkömmlichen Verfahrens kritisch zu überprüfen“. 122 Hingewiesen sei statt vieler in diesem Zusammenhang nur auf den programmatischen Ausruf von Schünemann, StV 1993, 657, 663, dass man angesichts neuartiger Problemstellungen und Aufgaben der Strafrechtspflege nicht umhinkäme, „sich auf die Suche nach einem ,neuen Haus des Strafverfahrens‘ zu begeben“. Die Gefahr eines „Flickenteppichs“, sieht auch Meyer-Goßner, ZRP 2000, 345, 351; dieser entstehe dann, wenn die Praxis irgendwelche Einzelregelungen verlange, „ohne zu bedenken, wie sich diese auf das Gesamtgefüge der StPO auswirken“. 123 In einem gemeinsamen Papier haben der Deutsche Richterbund und der Deutsche Anwaltsverein erklärt, dass Forderungen nach Veränderungen des Verfahrensrechtes weniger wichtig erschienen als ein „Bemühen um prozessuale Streitkultur“, DRB und DAV, DRiZ 1997, 491, 492, vom Erfordernis der Wahrheitsfindung sollen in diesem Modell der neuen Streitkultur indes keine Abstriche zulässig sein. Von „unterschiedlichen Strafkulturen“ spricht indes Steinhögl, S. 124, die sich bereits in der Strafrechtspraxis „etabliert“ hätten und zwar „mit unterschiedlichen Rationalitäten – einerseits die Wahrheitssuche und kompromisslose Durchsetzung staatlicher Ordnungsund Wertvorstellungen, andererseits die mehr zivile Lösung eines Interessenkonflikts“. Ignor, a. a. O., stellt in dem bereits zitierten Gastkommentar zu den Reformplänen der Justizministerin Däubler-Gmelin fest, dass eine Strafprozessreform Not tue, „die den Streit ums Recht, wo er erforderlich ist, auf das Wesentliche konzentriert und unnötigen Streit vermeiden hilft“. 124 Wie Salditt, ZStW 115 (2003), 570, 571, herausstellt, besteht ein konsensuales Verfahren aus drei Phasen: zuerst ist der Streit, in dem die unterschiedlichen Positionen ausgetauscht werden; dann findet in Phase zwei eine mögliche Annäherung statt; und schließlich kann in Phase drei ein Konsens erreicht werden. Deutlich wird
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Ein anfänglicher Dissens stellt eine kommunikative Situation dar, die sich ergebnisoffen in Richtung Konsens oder aber konfrontativ entwickeln kann. Dies beinhaltet, dass ausdrücklich auch de lege ferenda anerkannt werden muss, dass in einer offenen Streitkultur der Weg auch zu konsensualer Verfahrenserledigung nicht nur anerkannt, sondern auch geregelt werden muss. Gerade vor dem Hintergrund, dass die rechtliche Etablierung der Absprachen nur unter ausdrücklicher Anerkennung des Konsensprinzips als zusätzlichem Legitimationsmaßstab erfolgen kann, ist eine grundlegende gesetzliche Lösung unabdingbar. Wenn Gerechtigkeit im konsensualen Modell gerade im Verfahren entsteht, ist offensichtlich, dass die Ausgestaltung des Verfahrens nicht dem Verantwortungsbereich des Gesetzgebers entzogen werden darf. Absprachen sind extrem missbrauchsgefährdet. Daran kann kein Zweifel bestehen. Diesen Missbrauchsgefahren kann effektiv nur durch gesetzliche Kautelen begegnet werden. 3. Richtlinien für ein kodifiziertes Absprachenmodell – zugleich ein Kommentar zum jüngsten Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens Am 18. Februar 2004 haben die SPD-Fraktion, sowie die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag gemeinsam mit dem Justizministerium einen Entwurf für eine Reform des Strafverfahrens der Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt125. Der Entwurf versteht sich als Fortführung des Eckpunktepapiers von 2001126. Erklärtes Ziel ist laut Eckpunktepapier, „die Verfahren ohne Einbußen an Rechtsstaatlichkeit bei der Wahrheitsfindung auf die jeweils entscheidenden Fragen zu konzentrieren“. Zu den „Hintergründen und Zielen“ heißt es im Eckpunktepapier weiter: „Strafverfahren sollen künftig zügiger abgeschlossen werden können. Sie sollen zugleich die Bedürfnisse der Kriminalitätsopfer deutlicher als bisher berücksichtigen. [. . .] Vor allem auch die Einführung konsensualer Gestaltungs- und Erledigungsmöglichkeiten wird die Konzentration eines Strafprozesses ermöglichen“127. Offene Rechtsgespräche sollten grundsätzlich in hierbei, dass sowohl konsensuale, als auch konfrontative Verfahrensführung aus einem dem Verfahren zugrunde liegenden Dissens entsteht. 125 Diskussionsentwurf, Stand 18. Februar 2004, vgl. oben Fn. 100. 126 Veröffentlicht ist das Eckpunktepapier in StV 2001, 314; es handelt sich noch nicht um einen Beschluss der Regierung, sondern um ein in der Regierungskoalition erarbeitetes Diskussionspapier. 127 Eckpunktepapier, in StV 2001, 314. Konkret sah das Eckpunktepapier hinsichtlich der Förderung konsensualer Elemente die rechtliche Reglementierung von „Rechtsgesprächen“ im Ermittlungsverfahren vor, die entweder als Voraussetzung für eine Einstellung ohne Hauptverhandlung (nach § 153a StPO oder Strafbefehl) oder als Vorbereitung der Hauptverhandlung durch Reduzierung des Verfahrensstoffes (nach § 154 StPO) konzipiert sind. Auch im Rahmen der Hauptverhandlung sollte durch ent-
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jeder Phase des Verfahrens zulässig sein128. Die Opferinteressen verstärkt zu berücksichtigen und den Verletzten vom Beweismittel zum Verfahrensbeteiligten zu erheben, wurde auch aus den tragenden Grundsätzen unserer verfassungsrechtlichen Ordnung abgeleitet, und nicht etwa nur auf den „Zeitgeist“ als unzulängliche Legitimationsgrundlage zurückgeführt129. Das Eckpunktepapier ist nunmehr in einen konkreten Diskussionsentwurf gemündet, der in groben Zügen vorgestellt und anhand der bis hierhin gewonnen Ergebnisse kommentiert werden soll. Besonderes Augenmerk liegt dabei selbstverständlich bei der vom Entwurf ausgearbeiteten Lösung für eine Kodifizierung der Absprachen. Die Kommentierung des Entwurfs soll dabei ausgerichtet sein auf den Entwurf von Richtlinien für ein kodifiziertes Absprachenmodell, die über den Reformvorschlag deutlich hinausgehen werden. Die Richtlinien stützen sich dabei auf die in der Grundlegung gewonnenen Ergebnisse zur Idee der „materiellen Verfahrensgerechtigkeit“ im Strafprozess und ziehen insbesondere Anregungen aus der Vergleichung der deutschen Absprachepraxis mit dem italienischen Modell des patteggiamento. Darüber hinaus sollen die Richtlinien den Einstieg darstellen in den sich daran anschließendem Vorschlag für die prozessuale Ausgestaltung eines „Konsensualantrags“ auf Strafverhängung. Bei der Darstellung der allgemeinen Verfahrensrichtlinien sind daher einige Vorgriffe sprechende gesetzliche Regelung die grundsätzliche Billigung der Verständigungspraxis festgeschrieben werden. Hierin sollte geklärt werden, dass vorläufige Beurteilungen des Verfahrensstandes durch das Gericht, dessen Befangenheit nicht begründen. Die Ausgestaltung zu einem partizipatorischen Verfahren sollte über eine Stärkung der Verteidigerrechte im Ermittlungsverfahren realisiert werden. Insbesondere dieser letzte Punkt ist von Seiten der Staatsanwaltschaft heftig kritisiert worden, vgl. Bittmann, ZRP 2001, 441, 443. Kritisch zur Konsensorientierung Heghmanns, JA 2002, 985, 988, insoweit, als mit der „legislatorischen Akzeptanz der Absprachen [. . .] Elemente eines Parteiverfahrens in die StPO eingefügt würden“, ohne dass eine solche Verfahrenskonzeption bislang kaum theoretisch fundiert worden“ ist; heftige Kritik am Eckpunktepapier übt auch Marahrens, DRiZ 2001, 446, insbesondere in Bezug auf einen Anspruch des Beschuldigten auf Verständigungsgespräche, denn die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs gebühre „allein Staatsanwaltschaft und Gerichten“. Äußerst kontrovers wurde das Eckpunktepapier auch bei einer Zusammenkunft von Vertretern der Strafverteidiger, Praktiker aus Regierungskreisen und Professoren auf dem 26. Strafverteidigertag 2002 diskutiert, vgl. hierzu den Bericht von Kramm/Noske, ZRP 2002, 174, 176; insgesamt kritisch zum Eckpunktepapier und insbesondere zur Tendenz eine „Aufblähung des Ermittlungsverfahrens gegenüber der Hauptverhandlung“ auch Beulke in seinen „Vorgaben für eine Strafprozessreform nach Maßgabe des Eckpunktepapiers“, in: Festschrift für Rieß, 3, 17 ff.; eine kritische Wertung findet sich auch in der Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zu dem Eckpunktepapier der Bundesregierung, http://www.drb.de/, Stand Juni 2001. 128 Das Eckpunktepapier sieht explizit Rechtsgespräche auch schon im Ermittlungsverfahren vor; ebenso der AE-EV, § 169b, welcher anders als die hier vertretene Meinung die Leitung des Gesprächs der Staatsanwaltschaft zusprechen will. 129 Däubler-Gmelin, StV 2001, 359, 360, die sich damit gegen die Kritik Salditts, StV 2001, 311, 314 wehren will, nach dessen Worten der „Zeitgeist“ dem Verletzten „den historisch angestammten Platz in der Strafverfolgung zurückgeben will“.
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auf die noch zu entwerfende Regelung der konsensualen Einigung zu machen. Erst im Folgenden, wenn der Vorschlag anhand grober Leitprinzipien dargestellt wird, können dann diese Vorgriffe detaillierter ausgeführt werden. Die Zielsetzung in der Begründung des amtlichen Diskussionsentwurfes leitet sich mit folgenden ambitionierten Worten ein: „Die Reform des Strafverfahrens verfolgt das Ziel einer zukunftssicheren Weiterorientierung des Strafverfahrens als Gesamtkonzept, das die Rechte aller am Strafverfahren Beteiligter unter grundsätzlicher Beibehaltung der insgesamt bewährten Strukturen verstärkt und zueinander in gerechten Ausgleich bringt. Auf diese Weise wird das Strafprozessrecht seinen Beitrag zur notwendigen Modernisierung von Verfahren und Institutionen der Justiz leisten“130. Die zahlreichen isolierten Änderungsgesetze in Teilbereichen des Verfahrensrechts, die meist einem konkreten Anlass geschuldet waren, wie die so genannte Terrorismusbekämpfungsgesetzgebung in den siebziger, die Opfer- und Zeugenschutzgesetze aus den achtziger, sowie die Gesetze zur Bekämpfung der organisierten Kriminalitätsbereiche aus den neunziger Jahren, sollen nun durch eine Gesamtreform des Strafverfahrens mit einer reformierten Strafprozessordnung in ihrem umfassenden Erscheinungsbild in Einklang gebracht werden. In die konzeptionelle Gesamtbetrachtung einzubeziehen ist das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren vom 24. Juni 2004 (Opferrechtsreformgesetz)131, sowie der Entwurf des Justizmodernisierungsgesetzes132. Die Förderung der Kommunikation im Verfahren ist eines der zentralen Anliegen des Diskussionsentwurfes. Eine neue „Kommunikationskultur“133 soll verankert werden. Dieser Ansatz ist begrüßenswert; doch das Ergebnis bleibt nach dem hier vertretenen Prozessverständnis althergebrachten Antinomien verpflichtet. Der Entwurf normiert den als gescheitert zu wertenden Versuch der Rechtsprechung, die Absprachen zu rechtfertigen und sie mit den traditionellen Verfahrensgrundsätzen zu vereinen. Das geschieht durch sprachliche Schönfärberei, die von vager Unverbindlichkeit spricht, wo klare Bindungen gefordert sind. Warum der Reformentwurf im Ergebnis nicht über eine gesetzliche Fixierung des durch die Rechtsprechung vorgegebenen und in dieser Untersuchung als unehrliche Scheinlösung gewerteten status quo hinausreicht, soll im Folgenden dargelegt werden. Die hierbei zu entwickelnden Richtlinien versuchen, den Grundriss eines Verfahrensablaufs zu zeichnen, in den sich die Dispositionsbefugnis der Parteien innerhalb bestimmter Grenzen durchaus einfügen lässt.
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Diskussionsentwurf, Stand 18. Februar 2004, vgl. Fn. 100, S. 16. OpferRG, BGBl. I 2004, Nr. 31, vom 30.6.2004. 132 Der Entwurf verweist auf S. 16 ausdrücklich auf die genannten Gesetzentwürfe, BT-Drs. 15/1976 als Fraktionsentwurf des OpferRG und inhaltsgleich als Regierungsentwurf BR-Drs. 829/03, sowie BT-Drs. 15/1508 Justizmodernisierungsgesetz. 133 Diskussionsentwurf, a. a. O., S. 23. 131
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a) Trennung zwischen konfrontativem und kooperativem Verfahren „Die Reform will für alle Verfahrensstadien jeweils als Option die verstärkte Nutzung kommunikativer Elemente eröffnen.“134 „In allen Verfahrensabschnitten sollen die Gesprächsmöglichkeiten zwischen den Beteiligten erweitert und dadurch eine neue Kommunikationskultur verankert werden. Die Verfahrensbeteiligten sollen zu mehr Kommunikation ermuntert werden. Staatanwaltschaft und Gericht erhalten Optionen zur Gestaltung des weiteren Verfahrens, das, soweit Aufgabe und Funktion des Strafverfahrens dies zulassen, von Transparenz, von einem offenen Umgang miteinander geprägt sein soll.“135 Die Gesamtkonzeption des Entwurfs entscheidet sich damit für eine Integration kommunikativer Elemente in die in ihren wesentlichen Verfahrensgrundsätzen fortbestehende geltende Verfahrensordnung und erteilt damit der bereits mehrfach in der Literatur gestellten Forderung, einvernehmliches und streitiges Verfahren strikt voneinander zu trennen, eine Absage136. Der Entwurf hält damit an einer einheitlichen Verfahrensordnung fest, die weiterhin uneingeschränkt der Wahrheitsfindung verpflichtet sein soll137. Da sich die Verfahrenssituationen im kooperativen und konfrontativen Verfahren wesentlich voneinander unterscheiden, muss die Prozessordnung aber gewissermaßen zwei verschiedene Modelle bereithalten, die der besonderen Kommunikationssituation und der damit verbundenen unterschiedlichen Ziele des jeweiligen Verhandlungsmodus gerecht werden. Kooperative Kommunikation kann den Verfahrensgegenstand schon methodisch begrenzen. Entscheidend wird in einer kooperativen Verhandlungssituation die Gewährleistung der Freiwilligkeit. In konfrontativer Kommunikation entzieht die gerichtliche Aufklärung den Parteien die Verfügungsbefugnis über den Verfahrensgegenstand. Im Widerstreit der Prozessgegner entfaltet sich dann die Aufklärungspflicht des Gerichts. Ob diese gerichtliche Instruktion in einem kontradiktorischen Grundverständnis nur ergänzend neben dem Grundsatz der Beweisbeibringung durch die Parteien oder aber instruktorisch durch originäre Amtsaufklärung sich verwirklichen soll, ist
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Diskussionsentwurf, a. a. O., S. 16. Diskussionsentuwrf, a. a. O., S. 23. 136 Vgl. zu dieser Tendenz insbesondere Roxin, in: Festschrift für Gerd Jauch, S. 183, 190 ff.; Wolter, Aspekte einer Strafprozeßreform bis 2007, S. 20; Schöch, in: Gesamtreform des Strafverfahrens, S. 99 ff.; für eine Trennung in „Interlokutionsverfahren“ und „Vereinbarungsverfahren“, „da diese nicht miteinander kompatibel sind“, Gutterer, S. 158; für die Schaffung eines eigenen Verfahrensabschnitts, für den die Bezeichnungen „Kooperations- oder Verständigungsverfahren“ angeboten werden, auch Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren, S. 290, ders. auch StraFo 2001, 77, 78; eine „strikte Trennung von einvernehmlichem Verfahren und Normalverfahren“ fordernd auch der Vorschlag von Wagner, in: Festschrift für Gössel, S. 585, 602. 137 Vgl. zu dieser Wertung auch Pfister, DRiZ 2004, 178, 183. 135
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vor allem eine methodische Frage, die im Rahmen dieser Untersuchung nur angerissen, aber nicht beantwortet werden kann. Die sich hier anschließenden Fragen zur weiteren Ausgestaltung einer Reform der Hauptverhandlung müssen und können hier offen bleiben, da sich diese Untersuchung zum Ziel gesetzt hat, Mindestrichtlinien für ein „konsensuales Verfahren“ zu entwerfen. Festzuhalten bleibt aber, dass die Verfahrensordnung den unterschiedlichen Kommunikationssituationen entsprechend zwei unterschiedliche Verfahrensmodelle anbieten sollte138. Schlägt das Verfahren konsensuale Bahnen ein, verlässt es die einst als notwendig angesehenen autoritären Strukturen des Strafverfahrens139. In einem konsensorientierten Modell kann der Verfahrensgegenstand also dann disponibel werden, wenn keine schutzwürdigen Interessen des Opfers entgegenstehen. Unter der Maßgabe dieser Grenze muss folglich ehrlicherweise die Dispositionsbefugnis explizit gelten und die Verpflichtung des Gerichts auf die Wahrheit für das konsensuale Verfahren aufgehoben werden140.
138 So auch die Forderung von Roxin, Festschrift für Gerd Jauch, S. 183, 190. Zwar ist von unterschiedlicher Seite die Gefahr heraufbeschworen worden, dass das deutsche Verfahren durch die Anerkennung konsensualer Modelle eine Zweiteilung erfahren könne; so sieht auch Weider, StraFo 2003, 406, 407, die „Zweiteilung des Strafverfahrens“ bereits als durchgesetzt: „auf der einen Seite das herkömmliche Verfahren der StPO, auf der anderen Seite der gegen elementare Grundsätze der StPO verstoßende rechtswidrige Deal“. Kintzi, JR 19990, 309, 316 sieht sie in folgender Gegenüberstellung: „eine Wahrheitsfindung nach einem förmlichen Programm einerseits und vereinfachte kooperative Prozeduren andererseits [. . .]. Damit wäre ein Konfliktlösungsmodell zur Erteilung einer effizienten konsensualen ,Gerechtigkeit‘ geschaffen“; dass aber Gerechtigkeit in diesem Zusammenhang nicht zwingend in Anführungsstriche gesetzt werden muss, sollte hier dargelegt werden. Zur Feststellung, dass „zwei völlig verschiedene Formen des Strafverfahrens in Deutschland nebeneinander“ existieren, auch Schünemann, ZStW 2002, 1, 28, der das konsensuale Verfahren als eine „nach den Regeln der Austauschgerechtigkeit ablaufende Aushandlung der Unterwerfung des Beschuldigten unter ein bestimmtes Verfahrensergebnis“ versteht. Dass auch der Staat in den unterschiedlichen Prozessformen vor unterschiedliche Aufgaben gestellt wird, hat Roxin, in: Festschrift für Gerd Jauch, S. 183, 194, eindrücklich herausgestellt, indem er darauf verweist, dass der Staat im kooperativen Verfahren nicht als Rechtsstaat, sondern auch als Sozialstaat auftrete, der „soziale Konflikte“ in „humaner Weise“ zu lösen habe. 139 Zum „notwendigerweise autoritären Strafrecht“ vgl. Hamm, Der Vergleich im Strafprozeß, S. 139; Hassemer, Einführung in die Grundlagen, S. 129, geht in seiner Übertragung des psychoanalytischen Begriffes des „szenischen Verstehens“ auf den Strafprozess noch von der Prämisse aus, dass die Interaktion im Strafverfahren eine „gelenkte und einseitig beherrschte Kommunikation“ sei. Doch gerade das scheint zunehmend die Frage zu sein. Die Justiz befindet sich selbst vielfältig in Zugzwang, da allzu komplexe Sachverhalte ihre Ressourcen dermaßen überfordern, dass sie in zahlreichen Fällen geradezu auf Kooperation angewiesen ist. Dementsprechend führt auch Weider, zuletzt StraFo 2003, 406, 407, zu den Anfängen des Deals in den 70er- und 80er-Jahren aus, dass die Verteidiger das Geschehen „bestimmten“ und eine Verteidigung „lege artis“ die Gerichte „in Bedrängnis“ brachte.
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Entscheidend wird die Trennung der Verfahrenssituationen insbesondere vor dem Hintergrund, dass jeder Versuch, einen Konsens zu finden, scheitern kann. Für die Fälle, in denen der Konsens aus dem einen oder anderen Grund gar nicht zustande kommt oder später anzugreifen ist, muss die Prozessordnung genau jene Kautelen bereithalten, die einen Übergang ins streitige Verhalten ohne die „Last“ der Auswirkungen einer bereits gezeigten Verhandlungsbereitschaft ermöglichen141. Dies kann das Gesetz nur gewährleisten, wenn das sich „Einlassen“ auf einen Konsens als ein „aliud“ im Verhältnis zum Geständnis klassifiziert wird und wenn das eine Absprache „absegnende“ Urteil auf einer ausdrücklich anderen Grundlage beruht. Zwar streben im Idealfall sowohl ein konsensuales, als auch ein konfrontatives Verfahren nach einer gerechten Entscheidung, aber die Wege sind grundsätzlich verschieden. b) Das Ermittlungsverfahren im Reformentwurf – oder wie fördert man gerechte Ausgangspositionen prozessualer Kommunikation „Das Rechts- und Kooperationsgespräch im Ermittlungsverfahren soll in formloser, aber doch institutionalisierter Form ein Instrument geben, um möglichst früh verfahrensstrukturierende Gespräche zu führen. Gerade bei komplexen, sehr umfangreichen Verfahren kann eine frühzeitige Besprechung des Sachverhalts und der Beweislage unnötige Fronten und entbehrliche Ermittlungshandlungen vermeiden helfen“142.
So lautet im Eckpunktepapier von 2001 das Ziel, das mit der „Förderung konsensualer Elemente im Ermittlungsverfahren“ verfolgt werden soll. Entsprechend sieht der Entwurf zum OpferRG143 die Einführung eines § 160a StPO vor: „Die Staatsanwaltschaft soll den Beteiligten Gelegenheit zu einer mündlichen Anhörung geben, soweit dies geeignet erscheint, das Verfahren zu fördern.“ 140 Auf der Sitzung der Fachgruppe Strafrechtsvergleichung der Gesellschaft für Rechtsvergelichung in Dresden vom 18.9.2003 spitzte Radtke die Debatte um mögliche legislatorische Reaktionen in der Form zu, dass er fragte, „ob der Gesetzgeber bei anders nicht zu bewältigendem Systemdruck gefordert sein könne, eine Teil-Verfahrensordnung zu schaffen (und damit demokratisch zu legitimieren), die sich ausdrücklich zu dem Ziel der Herstellung formeller Wahrheit bekennt“, nachzulesen im Diskussionsbericht von Kreß, ZStW 116 (2004), 172, 184. 141 Der Vorschlag von Wagner, in: Festschrift für Gössel, 585, 602, will die Trennung dadurch gewährleisten, dass durch ein ausdrückliches Verbot in § 136a StPO „Vorsorge dafür zu treffen ist, dass informelle Absprachen im Normalverfahren ausgeschlossen werden“; Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren, S. 290, plädiert für einen eigens für das Abspracheverfahren zu schaffenden Verfahrensabschnitt zwischen dem Abschluss des Ermittlungs- und vor dem Zwischenverfahren. 142 Eckpunkte einer Reform des Strafverfahrens, StV2001, 314, 315. 143 BT-Drucksache 15/19 und inhaltsgleich BR-Drucksache 829/03. Die Vorschrift des § 160a StPO aus dem Entwurf ist allerdings in das im BGBl. I 2004, Nr. 31, vom 30.6.2004, verkündete OpferRG nicht aufgenommen worden.
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Auch der Alternativ-Entwurf „Reform des Ermittlungsverfahrens“ von 2001144 hatte einen eigenen Abschnitt „Schlussgespräch und Verständigung“145 vorgesehen, nach dem die Staatsanwaltschaft, wenn die Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Anklage bieten, ein Schlussgespräch zur einvernehmlichen Verfahrensvereinfachung oder Verfahrenserledigung anberaumen soll. Die Formulierung des jüngsten Regierungsentwurfs (OpferRG) ist denkbar offen gehalten. Ein „offener Verhandlungsstil“146 soll gefördert werden. Der Staatsanwaltschaft soll hierbei ein „Beurteilungsspielraum dahingehend eingeräumt werden zu entscheiden, „ob“ das Gespräch für das Verfahren förderlich ist und „wer“ daran teilnimmt“147. Die unverbindliche Ausgestaltung eines Verständigungstermins und der der Staatsanwaltschaft eingeräumte Ermessenspielraum fügen sich insofern in den grundsätzlichen Ansatz der auf Regierungsebene erarbeiteten Reformvorschläge, als das wesentliche Merkmal der Entwürfe in der Beibehaltung einer einheitlichen Verfahrensstruktur liegt. Wenn die Gespräche nur für das Erreichen desjenigen Zieles förderlich sein sollen, das ebenso, nur zeitaufwendiger, auch in einer konfrontativen Verhandlung erlangt werden könnte, dann beschränkt sich die gesetzliche Normierung auf die Regelung eines in das Ermessen gestellten „abkürzenden Verfahrensweg“, der sich ansonsten bruchlos in die bewährten Grundsätze des Verfahrens gliedern soll. Entsprechend der Grundlegung ist an diesem Punkt darzulegen, warum die Schaffung eines offenen Verhandlungsstils bereits in diesem Verfahrensstadium mehr und anderes bedeutet als nur eine Beschleunigung des Verfahrens. Kommunikation im Verfahren muss nicht notwendig der Sachverhaltsaufklärung dienen. Kommunikation im Verfahren kann nämlich gerade auch das Ziel verfolgen, eine umfassende Sachverhaltsaufklärung zu vermeiden. Nach dem in der Grundlegung entwickelten Verständnis einer materiellen Verfahrensgerechtigkeit muss eine derartige Vermeidung keine Einbußen für die Qualität des Verfahrensergebnisses bedeuten. Die gesetzliche Fixierung kommunikationsfördernder Elemente im Ermittlungsverfahren ist daher grundsätzlich begrüßenswert und 144 AE-EV des Arbeitskreises deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer, München 2001. 145 A. a. O., §§ 169b ff.; zur Begründung und Zurückstellung der Frage, ob eine Richterbeteiligung in diesem Stadium sinnvoll wäre, siehe S. 113. 146 So die Begründung zum Gesetzentwurf BT-Drs. 15/1976, S. 10. 147 A. a. O., in der allgemeinen Einführung der Begründung (S. 8) heißt es zudem, dass ein solch offener Verfahrensstil „wird er sachgerecht eingesetzt“ das Verfahren insgesamt fördere, nämlich sowohl „die effektiv gestaltete umfassende Sachaufklärung“ als auch die „Wahrung der Interessen aller Verfahrensbeteiligter“. Die gesetzlichen Regelungen der verschiedenen Gesprächsmöglichkeiten sollen die grundsätzliche Billigung eines solchen Verfahrens zum Ausdruck bringen und dadurch feststellen, dass derartige Gespräche für sich allein die Besorgnis der Befangenheit nicht begründen.
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für die prozessuale Anerkennung konsensualer Verständigungen gewissermaßen eine notwendige Voraussetzung. Erforderlich ist im Ergebnis also eine kontradiktorische Ausbalancierung des Vorverfahrens148. Damit Kommunikation in diesem frühen Stadium mit annähernd ausgewogenen „Waffen“ ausgetragen werden kann, müssen gewisse Mindeststandards in dem Kräfteverhältnis der Verhandlungsparteien gewährleistet werden, die im Folgenden in aller Kürze vorgestellt werden sollen. aa) Frühzeitige Formalisierung der Beschuldigteneigenschaft Wenn Kommunikation im frühen Verfahrensstadium gefördert werden soll, so bedeutet dies, dass zunächst eine kommunikative Grundlage geschaffen werden muss, die nur dann vorliegen kann, wenn der Beschuldigte überhaupt um die gegen ihn gerichteten Ermittlungen weiß. Zur Absicherung der Kommunikationsgrundlage ist auch in Italien von der sogenannten antizipierten discovery Gebrauch gemacht worden, um den Beschuldigten zu einem möglichst frühen Zeitpunkt Gelegenheit zu geben, auf den Abschluss der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft Einfluss zu nehmen. In eine ähnliche Richtung geht auch die Forderung im Eckpunktepapier149 sowie der Vorschlag des Alternativentwurfs 148 So auch Schünemann, in: Festschrift für Baumann, S. 361, 381; zu Vorschlägen eines Absicherungsmodells der Beteiligungsrechte der Verteidigung vgl. Salditt, StV 2001, 311, 312. Zu Recht weist die Stellungnahme des DAV zum Diskussionsentwurf, http://www.anwaltverein.de/03/05/2004/43-04.pdf, S. 32, im Zusammenhang mit den „kommunikationsfördernden Elementen“ auf eine nicht zu unterschätzende Gefahr hin: „Offene Kommunikation darf nicht der Herbeiführung von Konsens verschrieben sein, sondern muss der Offenlegung von Positionen dienen, die streitiger Austragung ebenso zugänglich sein müssen wie einer Verständigung.“ Hieraus spricht die berechtigte Besorgnis, dass sog. offene Kommunikation zu einem Druckmittel gegen den Beschuldigten werden kann, wenn sie ausschließlich als konsensorientiert verstanden wird. 149 Eckpunkte Nr. 3, StV 2001, 314, 315, „Das Ermittlungsverfahren sollte für alle Beteiligten offener gestaltet werden und, so weit es der Untersuchungszweck zulässt, ein ,partizipatorisches‘ Verfahren sein, bei dem die Beteiligten auf der Basis des gleichen Informationsstandes eine möglichst von allen akzeptierte Lösung finden. Ein modernes und gewandeltes Verständnis vom Stil eines Ermittlungsverfahrens wird im Gesetz zum Ausdruck gebracht, indem klargestellt wird, dass der Beschuldigte so früh wie möglich über ein gegen ihn geführtes Verfahren zu unterrichten ist.“ In diesem Sinn konstatiert Satzger anlässlich des Themas „Reform des Ermittlungsverfahrens“ des 65. Deuschen Juristentages in seinem Gutachten C, S. 97, „dass der kommunikative Verfahrensstil die notwendige Ergänzung des partizipatorisch ausgestalteten EV darstellt, [. . .]“. Entsprechend kommt auch Meier in einem Beitrag anlässlich des Juristentages, GA 2004, 441, 457, zu dem Ergebnis, dass „die Einräumung einer effektiven Mitwirkungs- und Gestaltungsmacht für die Beteiligten bereits im Ermittlungsverfahren“ gefordert ist. Denn: „Erst aus den Partizipationsmöglichkeiten im Verfahren erwachsen in einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat die Akzeptanz und die Legitimation der Entscheidungen, die am Ende des Verfahrens stehen“.
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Ermittlungsverfahren150, Beschuldigte bei nicht gefährdetem Untersuchungszweck so früh als möglich von den gegen sie laufenden Ermittlungen in Kenntnis zu setzen. Die frühzeitige Formalisierung der Beschuldigteneigenschaft soll auf gesteigerte Partizipation im Ermittlungsverfahren hinwirken. Der nunmehr vorliegende Diskussionsentwurf sieht eine Lösung vor, nach der § 160 StPO um einen Absatz 5 erweitert wird: „Werden Ermittlungen geführt, ist dies dem Beschuldigten bekannt zu geben, sobald eine Gefährdung des Untersuchungszwecks nicht zu befürchten ist. Die Mitteilung kann unterbleiben, wenn das Verfahren alsbald eingestellt wird.“
Die gewählte Formulierung setzt dem Ermessen der Staatsanwaltschaft praktisch keine Grenzen. Eine Regelung zur Formalisierung der Beschuldigteneigenschaft könnte sich dagegen an der Vorschrift des Art. 369 c.p.p. orientieren, der den avviso di garanzia regelt. Nach dieser Norm muss die Staatsanwaltschaft immer dann, wenn sie eine solche Handlung vornimmt, an der die Verteidigung ein Recht zur Anwesenheit hat, den Beschuldigten mit einer förmlichen Nachricht davon in Kenntnis setzen, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren läuft und ihm darin ebenso die Tat, den Tag und den Ort des Vorwurfs mitteilen151. Wenn aber das Ermittlungsverfahren die Grundlagen für eine ausgewogene „Kommunikationskultur“ liefern, und so die Grundlage für etwaige transparente Gespräche zur frühzeitigen einvernehmlichen Beendigung des Verfahrens bieten soll, dann wäre es nur sinnvoll, die frühzeitige Formalisierung der Beschuldigteneigenschaft dadurch zu ergänzen, dass der Beschuldigte vom Abschluss der Ermittlungen in einer dem Art. 415 bis c.p.p. entsprechenden Weise in Kenntnis gesetzt und ihm so Gelegenheit gegeben wird, abschließend Stellung zu nehmen oder weitere Beweisanträge zu stellen152. Die Transparenz des Ermittlungsverfahrens und somit auch die Bekanntgabe des Abschlusses der staatsanwaltlichen Ermittlungen ist für die Schaffung einer Kommunikationssituation, auf deren Grundlage die Weichen für eine konsensuale oder konfrontative Verteidigung 150 AE-EV, § 163a: „Einem Beschuldigten ist ein gegen ihn bestehender Tatverdacht mitzuteilen, sobald dies ohne Gefährdung des Zwecks der Ermittlungen möglich ist.“ Eine entsprechende Forderung stellt auch Roxin, in: Festschrift für Jauch, S. 83, 192; ebenso Müller, in: Beiträge zum Strafprozessrecht, S. 131, 132. 151 Ausgenommen sind nur die sog. Überraschungshandlungen zur Beweissicherung, von denen die Verteidigung nicht in Kenntnis gesetzt werden muss, vgl. Art. 364 Abs. 5 c.p.p. 152 In diese Richtung zielt auch der Vorschlag bei Ignor/Matt, StV 2002, 102, 106, in Anlehnung an § 169 Abs. 2 StPO i. d. F. StPÄG 1964 ein „modifiziertes Schlussgehör“ in der Weise wiedereinzuführen, „dass die Staatsanwaltschaft, wenn die Erhebung der öffentlichen Anklage erwogen wird, dem Beschuldigten und dem Verteidiger den Abschluss der Ermittlungen mitteilt, Gelegenheit zur Akteneinsicht nach § 147 StPO gibt und anheim stellt, binnen einer zu bestimmenden Frist zu erklären, ob einzelne Beweiserhebungen beantragt oder Einwendungen gegen die Einreichung der Anklageschrift vorgebracht werden.
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gestellt werden können, unerlässlich. Der Reformentwurf verfolgt somit hinsichtlich der Formalisierung der Stellung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren richtige Ansätze, bleibt aber hinter den hier für notwendig erachteten Anforderungen für eine aktive Beteiligung der Verteidigung zurück. bb) Stärkung der Rechte der Verteidigung im Ermittlungsverfahren Bereits das Eckpunktepapier wie auch dessen Umsetzung im Diskussionsentwurf zur StPO-Reform stehen im Zeichen einer Stärkung der Rechte der Verteidigung im Ermittlungsverfahren. Der Akzent in dieser Aufwertung liegt allerdings mehr auf der intendierten Entlastung einer etwaigen späteren Hauptverhandlung. So heißt es im Eckpunktepapier wörtlich: „Durch eine stärkere Einbindung der Verteidigung in einem möglichst frühen Verfahrensstadium wird es mehr als bisher möglich sein, Beweiserhebungen aus dem Ermittlungsverfahren in der Hauptverhandlung zu verwerten.“153 Konkret will der Diskussionsentwurf die Position der Verteidigung im Ermittlungsverfahren dadurch aufwerten, dass er dieser verstärkte „Gelegenheit zur Mitwirkung“ gewährt. Dieser Terminus soll nach der Begründung des Entwurfs zwei Komponenten beinhalten: das Recht, an Vernehmungen teilzunehmen und Fragen zu stellen, sowie die Pflicht, den Verteidiger von den Vernehmungsterminen in Kenntnis zu setzen und diese bei gewichtigen Terminskollisionen zu verschieben. Die „Einräumung der Gelegenheit zur Mitwirkung“ soll nach Vorstellung der Verfasser des Entwurfs eine Rechtsposition sein, „die einem Anspruch angenähert ist“154. Hierdurch soll die 153 Eckpunktepapier, abgedruckt in StV, 2001 314, 315; in der Begründung zum Diskussionsentwurf zur Reform des Strafverfahrens, http://sirius.soldan.de/anwaltver ein/01/depesche/texte04/Disk-entw.pdf, S. 18, heißt es dementsprechend: „Der Verteidiger soll dadurch angeregt werden, sich stärker im Ermittlungsverfahren zu engagieren, mit der Folge eines Entlastungseffekts für das weitere Ermittlungsverfahren oder eine spätere Hauptverhandlung.“ 154 So der Diskussionsentwurf, a. a. O., S. 18; der Terminus der „Mitwirkung“ ist dem bereits geltenden § 255a StPO entnommen und „deckt sich vom Ergebnis her auch mit der bisher zu § 255a StPO ergangenen Rechtsprechung“. In deren Folge sollen nur solche Aussagen in der Hauptverhandlung verwertbar sein, an denen der Verteidiger auch tatsächlich mitgewirkt hat. Nach dem neu zu schaffenden § 163a Abs. 4 StPO soll dem Verteidiger nunmehr ein Mitwirkungsrecht an allen Vernehmungen des Beschuldigten gewährt werden, unabhängig von der Vernehmungsperson; an der Vernehmung von Mitbeschuldigten, Zeugen und Sachverständigen soll der Verteidiger allerdings nur dann ein Mitwirkungsrecht haben, wenn diese von der Staatsanwaltschaft durchgeführt werden und „eine Gefährdung des Untersuchungszwecks nicht zu besorgen ist“, § 161a Abs. 2 StPO. Weitergehend ist insoweit der AE-EV, der in § 168f StPO ein Anwesenheitsrecht für den Beschuldigten und seinen Verteidiger auch für nicht richterliche Vernehmungen eines Zeugen oder Sachverständigen generell gewährt; das Recht auf Anwesenheit soll das Recht auf Fragen einschließen, weil es „zwangsläufig mit diesem einhergehe“ (S. 133). Eine Einschränkung der Mitwirkungsrechte auf die Nichtgefährdung des Untersuchungszweckes gilt nach dem Reformentwurf auch für die richterliche Vernehmung von Mitbeschuldigten, Zeugen oder Sach-
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Verteidigung „aus der Reserve‘ gelockt“ und so veranlasst werden, möglichst frühzeitig Entlastungszeugen zu benennen und hiermit nicht bis zur Hauptverhandlung zu warten155. Diese Absicht, die Verteidigung zu einer frühzeitigen aktiven Verteidigungsstrategie zu animieren, ist aber insofern nicht konsequent umgesetzt, als der Vorschlag für einen neuen § 163a StPO nach wie vor in Abs. 2 die Erhebung solcher Beweise, die der Beschuldigte beantragt, in das Ermessen der Staatsanwaltschaft stellt. Soll aber eine frühe Verteidigung für den Beschuldigten attraktiv werden, so ist zu fordern, dass Ermittlungsanträge der Verteidigung nicht mehr nach freiem Ermessen der Staatsanwaltschaft abgelehnt werden dürfen, sondern nur in Ausnahmefällen und unter Angabe der Gründe für die Ablehnung156. Es liegt auf der Hand, dass die Förderung konsensualer Elemente im Ermittlungsverfahren eine aktive Rolle der Verteidigung bereits in diesem Verfahrensstadium verlangt. Andernfalls handelte es sich nicht um Stärkung kommunikativer Elemente der Kooperation, sondern um eine ins „schöne Gespräch“ gekleidete Druckausübung mit dem Ziel der Unterwerfung des Schwächeren. Die Reform des Ermittlungsverfahrens unter Aufwertung der Verteidigung im Rahmen der vorprozessualen Phase wird daher seit langem gefordert157. Dass die Stärkung der Position der Verteidigung im Ermittlungsverfahren den Preis der Gefahr eines erhöhten Beweistransfers hat, wird in dem Entwurf nur allzu deutlich. Nach der dieser Arbeit zugrunde liegenden legitimierenden Wirkung des Konsenses kann es im Rahmen einer Reform des Ermittlungsverfahrens nicht primär darauf ankommen, die Beweisqualität der gewonnen Ergebnisse aus dem Ermittlungsverfahren durch eine rechtliche Aufwertung der Verteidigerposition zu stärken. Leitend hat dementsprechend nicht die Frage der Qualität der Ermittlungsergebnisse, sondern vielmehr die Qualität der Kommunikation im Ermittlungsverfahren zu sein. Nicht ein erleichterter Beweistransfer aus der Ermittlungsphase ins Hauptverfahren darf vornehmlich intendiertes Beiverständigen, § 168c StPO-neu. Auch nach geltender Gesetzeslage haben Verteidiger und Beschuldigter ein Anwesenheits- und Fragerecht bei der richterlichen Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen (§ 168c StPO), bei der Vernehmung eines Mitbeschuldigten steht ihnen ein solches Recht bislang aber nicht zu, so dass hier die Mitwirkungsgelegenheit zu einer Ausweitung der Beteiligungsrechte führt. Darüber hinaus soll dem Verteidiger unabhängig von der Vernehmungsperson Gelegenheit zur Mitwirkung an Vernehmungen solcher Zeugen gewährt werden, die auf seiner Benennung beruhen, § 144 StPO-neu. 155 Diskussionsentwurf, a. a. O., S. 21. 156 So auch Roxin, in: Festschrift für Gerd Jauch, S. 183, 194. 157 Vgl. zur notwendigen Reform des Ermittlungsverfahrens im Zusammenhang mit der Trennung konfrontativer und kooperativer Verfahren Roxin, in: Festschrift für Gerd Jauch, S. 183, 190; vgl. auch den Alternativ-Entwurf „Reform des Ermittlungsverfahrens“, der den Reformbedarf darauf gründet, dass „der Schwerpunkt des Strafprozesses heute im Ermittlungsverfahren liegt“.
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werk einer Besinnung auf das Gebot der Waffengleichheit im Ermittlungsverfahren sein158. Die Stärkung der Verteidigung im Ermittlungsverfahren ist unbedingt erforderlich, die strukturell notwendig bestehende Ungleichheit zwischen Anklage und Verteidigung im Ermittlungsverfahren möglichst weitgehend auszugleichen, darf aber nicht dazu missbraucht werden, durch die Hintertür den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung zu unterlaufen. Denn der Grundsatz der Unmittelbarkeit ist ein den Angeklagten schützendes und die freie Überzeugung des Gerichts stützendes Prinzip für die Beweisaufnahme, das einzuschränken, nur im Zusammenwirken aller Verfahrensbeteiligten möglich sein sollte159. Gerade weil Partizipation nicht etwa zwingend zum Konsens führt160, darf nicht schon das partizipatorische Vorverfahren selbst zur Herabsetzung prozessualer Unmittelbarkeitsgarantie führen, sondern erst der erreichte Konsens ist für das Absehen weiterer unmittelbarer Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung hinreichende Legitimation161. Mit der partizipatorischen Einbindung der Verteidigung in unmittelbarem Zusammenhang steht das Akteneinsichtsrecht nach § 147 StPO, dessen Absatz 1 insofern erweitert werden soll, als die Einsicht zu gewähren ist, „insbesondere zur Vorbereitung von Vernehmungen, bei denen dem Verteidiger Gelegenheit zur Mitwirkung zu geben ist“162.
158 So aber die eindeutige Tendenz des Eckpunktepapiers und die Beurteilung bei Bittmann, ZRP, 2001, 441, 443, der zwar sacht formuliert, wenn er meint, dass die Verteidigung in dem Moment, in dem sie mehr Rechte erhält auch mehr Verantwortung übernehmen müsse, in der Sache aber wohl kaum anderes als die Aufweichung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes meint. Salditt, StV 2001, 311, 312, umschreibt diesen Zusammenhang zum Verlust der Unmittelbarkeit treffend so: „Partizipation hat aus Sicht der Politik einen Preis.“ Vgl. zur „Wechselbeziehung zwischen Parteimitwirkung im Ermittlungsverfahren und Lockerung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes“; siehe auch Weigend, in: Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften, S. 257, 267. 159 So auch Salditt, a. a. O.; die Möglichkeiten des Beweistransfers strikt ablehnend auch Krause, AnwBl. 2002, 36, 37. 160 So ausdrücklich Krause, AnwBl. 2002, 36. 161 Die strikte – auch terminologische – Trennung von Beweisinitiativen im Ermittlungs- und Hauptverfahren, wie sie in Italien ursprünglich im Rahmen der großen Reform umgesetzt worden ist (vgl. oben Kapitel 3 II. 3a), unterstreicht die elementare Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in einem akkusatorischen Modell – ob es sich in der Sache hierbei um mehr als eine die hehren Absichten unterstreichende Sprachspielerei handelt, scheint indes fraglich. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Vorschlag des Arbeitskreises der Strafrechtslehrer bei Freund, GA 2002, 82, 87, im Ermittlungsverfahren nicht von „Beweisanträgen“, sondern nur von „Beweisanregungen“ zu sprechen. Zur Absicherung des Beweisantragsrecht des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren durch die erweiterte Aufgabe des Ermittlungsrichters, Beweise auch auf Antrag des Beschuldigten zu erheben, siehe den Vorschlag von Weigend, ZStW 104 (1992), 486, 506 f. 162 Darüber hinaus gehend fordert ein Arbeitskreis der Strafrechtslehrer nachdrücklich das Akteneinsichtsrecht des nicht verteidigten Beschuldigten, nachzulesen bei Freund, GA 2002, 82, 87.
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Es bleibt allerdings bei der Möglichkeit, die Akteneinsicht zu verwehren, wenn der Untersuchungszweck hierdurch gefährdet würde. Eine konkrete Gefahr wird dafür nicht vorausgesetzt163. Da die Verweigerung der Akteneinsicht nur in besonderen Fällen gerichtlich überprüfbar ist, steht nach geltender Regelung der Verteidiger im Regelfall ohne jegliche Abwehrbefugnis einer Verweigerung gegenüber. Soll aber die Transparenz bereits im Ermittlungsverfahren effektiv gefördert werden, so sind an die Verweigerung der Informationsrechte strenge, durch Rechtsmittel abzusichernde Anforderungen zu stellen und mithin eine konkrete Gefährdung des Untersuchungszwecks für die Ablehnung eines Einsichtsgesuches zu fordern164. Die partizipatorische Grundstruktur des Ermittlungsverfahrens will der Diskussionsentwurf weiter dadurch fördern, dass durch eine Neufassung des § 141 Abs. 3 StPO die Bestellung eines Verteidigers, wenn eine notwendige Verteidigung nach § 140 Abs. 1 oder Abs. 2 StPO absehbar ist, auf für das Gericht bindenden Antrag der Staatsanwaltschaft erfolgt. Zudem erhält auch der Beschuldigte ein Antragsrecht, der für das Gericht allerdings nicht bindend ist. Eine partizipatorische Aufwertung des Ermittlungsverfahrens lässt unmittelbare Auswirkungen auf die Verteidigungsstrategie erwarten. Die „an sich gebotene Zurückhaltung“165 vor Eröffnung der Hauptverhandlung könnte durch ein transparent gestaltetes Ermittlungsverfahren ins Wanken geraten. Um den von Schünemann166 so eindringlich beschriebenen und empirisch belegten „Inertiaeffekt“ beim Gericht auch zu eigenen Gunsten zu nutzen, könnten entlastende Umstände bereits in diesem frühen Stadium aktenkundig gemacht werden167. cc) Der frühe verfahrenslenkende Anhörungstermin Das Modell eines Rechtsgesprächs in § 160a StPO168 kann vor dem Hintergrund eines transparenten Ermittlungsverfahrens zu einem förmlichen „Sondierungstermin“ werden. Das Anhörungsverfahren sollte jedoch detaillierter formalisiert und nicht vor Abschluss der Ermittlungen erfolgen und die Anwesenheit 163
Meyer-Goßner, § 147 Rn. 25. Ein Recht auf vollständige Akteneinsicht, das nur bei „konkreter Gefährdung des Untersuchungszweckes eingeschränkt“ werden kann, fordert auch der DAV bereits in seiner Stellungnahme zu dem Reformvorhaben, AnwBl. 2001, 30, 40 f. 165 So die Formulierung bei Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, Rz. 405. 166 Schünemann, in: Verfahrensgerechtigkeit, S. 215 ff. 167 Vgl. zu diesen Konsequenzen für die Verteidigungsstrategie auch Weider, Vom Dealen mit Drogen und Gerechtigkeit, S. 180 ff.; für den Vorschlag „eigener Fallakten“, die die Verteidigung dem Gericht bereits im Zwischenverfahren zukommen lassen sollte, und so am „Inertiaeffekt teilhaben“ sollte, vgl. auch Bandisch, in: Strafverteidigung in der Praxis, S. 505, 519. 168 Vgl. hierzu oben Fn. 143. 164
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des Beschuldigten zwingend vorgeschrieben sein. Nicht zu empfehlen ist ein obligatorischer Anhörungstermin, da verfahrensfördernde Kommunikation nur von Freiwilligkeit niemals aber von Zwang gekennzeichnet sein kann. Wird also das Ermittlungsverfahren auch für eine aktive Verteidigung attraktiver gestaltet, kann – muss aber nicht – bereits in diesem Stadium die grundsätzliche Aufteilung des Verfahrens in eine konsensuale und eine konfrontative Richtung eingeleitet werden. Ein Schlussgespräch nach dem Muster des § 160a StPO, wie in dem Entwurf zum OpferRG vorgesehen, ist jedoch erst dann anzuberaumen, wenn die Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage geben169. Mit dem Abschluss der Ermittlungen müsste die Staatsanwaltschaft dann dem Beschuldigten und seinem Verteidiger deren Abschluss mitteilen und spätestens jetzt Akteneinsicht gewähren sowie die Gelegenheit geben, zu den Vorwürfen im Anhörungstermin Stellung zu nehmen170. Ein Schlussgespräch, das einer Weichenstellung dienen soll, darf nicht bereits zu einem Zeitpunkt stattfinden, in dem die Staatsanwaltschaft noch nicht über hinreichendes Beweismaterial verfügt, da Verhandlungen auf der Basis eines nicht hinreichenden Tatverdachts eine nicht zu vertretende Drohkulisse für den Beschuldigten darstellen können. Ein Gespräch sollte nur in solchen Fällen anberaumt werden, in denen mit der Möglichkeit eines konsensualen Vorgehens zu rechnen ist. Dort, wo offenkundig ist, dass der Beschuldigte sich konfrontativ verteidigen wird, wäre ein solcher Termin nicht zweckdienlich und zudem geneigt, einen auf Druck aufbauenden, erzwungenen Konsens „schmackhaft“ machen zu wollen. Es ist nur konsequent, dass ein „konsensorientiertes“ Gespräch nicht erzwungen werden kann. Im Rahmen eines derartigen Rechtsgespräches kann sich die Gelegenheit ergeben, den Verfahrensstoff konsensual zu begrenzen und sich gewissermaßen auf eine Sachverhaltskonstruktion zu einigen. Dies wäre der Beginn einer konsensualen Verfahrenserledigung. Wird das Gespräch indes nicht konsensorientiert ge-
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So auch der AE-Ermittlungsverfahren, § 169b Abs. 1. In diese Richtung weist auch der Vorschlag bei Ignor/Matt, StV 2002, 102, 106 zur „(Wieder-)Einführung eines modifizierten Schlussgehörs“. Hier soll indes die Bezeichnung „Schlussgespräch“ bevorzugt werden, da in dieser Formulierung der kommunikative Aspekt eines zur Verfahrensgestaltung beitragenden Dialogs besser zum Ausdruck kommt. Nicht nur soll rechtliches Gehör gewährt, sondern vielmehr verfahrensfördernd kommuniziert werden. Auch Jung, GA 2002, 65, 78, spricht sich für einen Erörterungstermin zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens aus, der „zum Ziel haben könnte, die Möglichkeiten einer Vereinbarung zu sondieren“. Den Gedanken weiterführend hätte er „auch keine Bedenken dagegen, sodann – dem Vorbild des italienischen Rechts folgend – einem Ermittlungsverfahrensrichter die abschließende (Sanktions)Entscheidung zu überantworten“. Allerdings versteht Jung konsensuale Verfahrensmodelle eher als ein Phänomen, das man „tolerieren“ müsse, „weil man mit bestimmten Anklagevorwürfen anders kaum umgehen kann“, als den Ausdruck der Etablierung eines eigenständigen Konsensprinzips auch im Strafverfahren (S. 80). 170
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führt, so ist die erste Weiche auf Konfrontation und damit in Richtung sämtlicher schützender Formen der kontradiktorischen Hauptverhandlung gestellt. In der Diskussion um die die Förderung kommunikativer Strukturen im Verfahren nimmt die Frage der Integrierung der Verletzteninteressen in den Kommunikationsprozess zunehmend Raum ein. Von unterschiedlicher Seite ist dieser Aspekt für die Einführung eines Anhörungstermins ins Feld geführt werden. Ein Anhörungstermin unter Beteiligung des Opfers soll nämlich auch geeignet sein, auf mögliche Wiedergutmachungsleistungen hinzuwirken171. Auf diese Weise könnte – so die zugrunde liegende Idee – durch Einbindung des Verletzten im Anhörungstermin die rechtsfriedenstiftende Wirkung der Kooperation noch erhöht werden. So wünschenswert eine friedensstiftende Einbindung des Opfers in ein frühes Verfahrensstadium auch sein mag, so wichtig ist es doch auch, den Aspekt der Opferinteressen seinem rechtshistorisch gewachsenen Platz zuzuordnen. Nicht etwa darf das Opfer in einem Stadium der Konsensfindung dazu dienen, die kommunikative „Front“ gegen den Beschuldigten zu stärken172. Das Opfer darf nicht vom Beweismittel zur Partei mutieren. Dass der Wiedergutmachungsgedanke Hochkonjunktur hat in einer konsensorientierten Gesellschaft und dass er insbesondere mit einem kommunikativen, transparenten Strafverfahren in Zusammenhang gebracht wird, kann erhebliche Bedenken, die sich mit einer frühen aktiven Einbindung des Opfers einstellen, nicht zerstreuen. Wenn der Staat sich rechtshistorisch an die Stelle des Opfers gestellt hat, dann sollte der Verletzte nicht in eine Verfahrensposition gesetzt werden, die es ihm erlaubt, aktiv in eine konsensuale Entscheidungsfindung einzugreifen. Wiedergutmachung kann sich dementsprechend an eine konsensuale Entscheidung anschließen, darf aber nicht deren Bestandteil oder gar Voraussetzung sein. Zu evident ist die Gefahr, dass der Wiedergutmachungsgedanke in diesem Verfahrensstadium zu einem Druckmittel gegen den Beschuldigten werden kann, der das Kommunikationsgleichgewicht empfindlich stören würde.
171 Der AE-EV fordert ein Schlussgespräch bereits vor Abschluss des Ermittlungsverfahrens, an dem auch der Verletzte zu beteiligen ist, „das die Möglichkeit einer verfahrensbeendigenden Verständigung unter Einbeziehung von Täter-Opfer-Ausgleich und Wiedergutmachung eröffnen soll“, S. VI. Auch der Entwurf des OpferRG sieht in § 202a StPO die Notwendigkeit, die Opferinteressen durch Beteiligung der Nebenklageberechtigten am Anhörungstermin zu wahren. Das Eckpunktepapier sieht hier die „Opferinteressen durch Beteiligung der zugelassenen Nebenklage an dem Anhörungstermin gewahrt (Nr. 5), StV 2001, 314, 315. Auch Satzger, Gutachten C zum 65. Juristentag 2004, S. 102 f., will für eine Reform erwägen, die Verletzten „in ein Schlussgespräch einzubeziehen“, das am Ende des Ermittlungsverfahrens auf freiwilliger Basis stattfinden solle. 172 So weist Salditt, StV 2001, 311, 314, auf die Gefahr hin, dass es unter Einbeziehung von Opferzeugen in forensische Verhandlungsgespräche zu Situationen kommen könne, die als „drei-plus-eins-Konferenz“ zu bezeichnen wären, „weil Gericht, Staatsanwalt und Opferbeistand dem Beschuldigten wie eine Einheitsfront gegenübersäßen“.
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Kap. 4: Das patteggiamento als Modell für eine kodifizierte Absprache?
c) Das Zwischenverfahren – kommunikative Verfahrensweiche Das Zwischenverfahren ist in seiner Bedeutung für das Strafverfahren von jeher umstritten. Das Hauptargument, das gegen die Institution des Zwischenverfahrens ins Feld geführt wird, ist die Vorbelastung, mit der das Gericht in die Hauptverhandlung tritt, wenn es die Verurteilung des Tatverdächtigen bereits für hinreichend wahrscheinlich hält. In der Praxis führt es ohnehin ein Schattendasein, und an eine effektive Filterfunktion glaubt kaum jemand mehr173. Vereinzelt wird sogar die ersatzlose vollständige Abschaffung des Zwischenverfahrens gefordert174. Die Bedeutung des Zwischenverfahrens liegt aber nicht nur in seiner negativen Kontrollfunktion, deren tatsächliche Wirkungen wohl zu recht als äußerst gering kritisiert werden, sondern auch darin, dass der Beschuldigte nach Mitteilung der Anklageschrift nochmals Gelegenheit erhält, durch Beweisanträge und Einwendungen Einfluss auf die Eröffnung des Hauptverfahrens zu nehmen175. In diesem zweiten Aspekt ist die „verfahrenslenkende Dimension“ des Zwischenverfahrens angelegt, die diesen Verfahrensabschnitt gewissermaßen für eine „Weichenstellung“ im Verfahren prädestiniert. Wenn das Zwischenverfahren auf einem partizipatorischen Ermittlungsverfahren aufbauend nach dem hier zu entwickelnden Modell zu einer Verfahrensweiche werden soll, dann muss erneut in den Vordergrund gerückt werden, dass die Etablierung konsensualer Verfahren nur dann durch die Rechtsfrieden stiftende Funktion des Konsenses selbst legitimiert werden kann, wenn die Kommunikationssituation von den Beteiligten als möglichst „frei“ empfunden und als solche von der Allgemeinheit als ein gerechter Umgang mit dem Konflikt anerkannt wird. Es müssen dementsprechend im Zwischenverfahren solche Kautelen entwickelt werden, die die Gefahren von Drucksituationen, die mit dem unkon173 Vgl. zu dem in der Praxis geringen Nutzen des Zwischenverfahrens die empirischen Daten bei Dölling/Feltes/Laue/Törnig, Die Dauer von Strafverfahren vor den Landgerichten, S. 143, 155. 174 So in dem jüngeren Aufsatz von Duttge, Möglichkeiten eines Konsensualprozesses nach deutschem Strafprozessrecht, ZStW 115 (2003), 539, 567, der das Zwischenverfahren wegen seiner weitgehenden „Funktionslosigkeit“ und wegen der „problematischen ,Vorbefassung‘ des anschließend in der Hauptverhandlung zuständigen Gerichts ersatzlos streichen will. Für eine Abschaffung des Zwischenverfahrens auch Loritz, Kritische Betrachtungen zum Wert des strafprozessualen Zwischenverfahrens, S. 133 ff., der die Zwischenverhandlung zugunsten der Einführung einer „Rechtsbehelfsmöglichkeit gegen die Anklageerhebung“ streichen will (S. 159); vgl. zur Entbehrlichkeit des Zwischenverfahrens bei Stärkung der Teilhaberechte im Ermittlungsverfahren auch Wolter, Aspekte einer Strafprozessreform bis 2007, S. 92; bereits Eb. Schmidt, NJW 1969, 1137, 1143, plädierte für die Abschaffung des Zwischenverfahrens, weil dieses eine schützende Bedeutung für den Angeklagten nie gehabt habe, und wollte die gerichtliche Prüfung vor Eröffnung des Hauptverfahrens auf die Frage der „Zulässigkeit der Anklage“ beschränken, die ihrerseits vom „Gegebensein der Prozessvoraussetzungen“ abhängen müsse. 175 Vgl. hierzu auch Roxin, Strafverfahrensrecht, § 40, Rn. 3.
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trollierten „Handel um die Strafe“ unweigerlich einhergehen, möglichst weitgehend minimieren. Die Kodifizierung konsensualer Verfahrenserledigung, die die Dispositionsbefugnis der Parteien nicht nur faktisch hinnimmt, sondern auch rechtlich anerkennt, muss gewährleisten, dass das Ergebnis einer Verständigung nicht Ausdruck eines Kräftegefälles zwischen Parteien, sondern Resultat einer ausgewogenen Kommunikation ist176. Es gilt, die Gleichstellung von prozessualer „Annäherung“ mit „individueller Machtentfaltung“ aufzubrechen177, und sich an dem über die Prozessökonomie weit hinausreichenden Eigenwert eines Konsenses auch im Strafverfahren zu orientieren. aa) Die Förderung konsensualer Elemente im Zwischenverfahren im Diskussionsentwurf Der Diskussionsentwurf des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren (OpferRG) sah auch im Rahmen des Zwischenverfahrens die Stärkung konsensualer Elemente vor, und wollte hierfür eine neue Vorschrift einführen: „§ 202a Erwägt das Gericht die Eröffnung des Verfahrens, so soll es den Beteiligten Gelegenheit zu einer mündlichen Anhörung geben, soweit dies geeignet erscheint, das Verfahren zu fördern.“
Durch die Einführung des § 202a StPO wollten die Verfasser des Entwurfes, „die Gestaltungsmöglichkeiten des Gerichts im Zwischenverfahren verbessern und die Hauptverhandlung entlasten“178. Sie knüpften damit direkt an die be176 Die Gefahr, die Salditt, ZStW 115 (2003) 570, 573, so formuliert, dass Konfliktverarbeitung im Strafverfahren den „Starken nützen und die Schwachen ihrem Schicksal preisgeben“ kann, muss äußerst ernst genommen werden, darf aber andererseits auch nicht dafür ins Feld geführt werden, Konsens per se im Strafverfahren als schlichte Machtausübung zu verdammen. 177 So diagnostiziert Salditt, a. a. O., S. 575, den derzeitigen Stand konsensualer Entscheidungsfindung und stellt vollkommen zu recht fest, dass die „Phase der Annäherung“, wenig mit der „justizförmigen Feststellung von Tatsachen und mit der Subsumtion zu tun“ hat. Er verkürzt aber die Bedeutung des Konsenses, indem es hierbei nur um „Prognose, Spekulation und die Freude an der Prozessökonomie“ gehe. Es ist Salditt wohl zuzustimmen, wenn er feststellt, dass er um ein „Spiel mit der Angst gehe“. Das liegt aber nicht an der Etablierung des Konsensgedanken als solchem, sondern vielmehr daran, dass die Entstehung des Konsenses nicht in geregelte Bahnen gelenkt wird. 178 So die Begründung des Entwurfs des OpferRG (BT-Drs. 15/1976) zu § 202a, S. 11. Die Vorschrift des § 202a StPO ist ebenso wenig wie die des § 160a StPO des Entwurfes in das im BGBl. I, Nr. 31, vom 30.6.2004 verkündete OpferRG übernommen worden. Die Ausgestaltung konsensualer Erledigungsformen bleibt damit weiterhin dem Diskussionsentwurf zur Reform des Strafverfahrens vorbehalten.
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reits mit dem Eckpunktepapier verfolgten Intentionen an. Das Papier sah einen „Anhörungstermin im Zwischenverfahren“ vor, der „der Verfahrensverbesserung durch offenes Verhandeln und der Erörterung der Frage dienen“ sollte, „ob und gegebenenfalls in welchem Umfang auf der Basis von gesichertem Konsens aller Beteiligten der Verfahrensaufwand verringert werden kann“179. Opferinteressen soll zum einen durch eine frühzeitige Begrenzung des Verfahrensstoffes, die den Opfern psychische Belastungen ersparen kann, wie auch durch die Beteiligung der zugelassenen Nebenklage an dem Anhörungstermin gewahrt werden180. Die Stärkung kommunikativer Elemente auch in diesem Verfahrensabschnitt kann grundsätzlich nur begrüßt werden. Der Entwurf des OpferRG beschränkt sich jedoch auf die Kodifizierung eines Anhörungstermins, der lediglich einer Konzentration oder etwaigen Vermeidung des Hauptverfahrens durch Einstellung des Verfahrens dienen soll. Das Zwischenverfahren soll hier aber in seiner Bedeutung als mögliches Stadium verfahrensbeendender Entscheidungen, die sich außerhalb des Bereiches von Opportunitätseinstellungen bewegen, vorgestellt werden. Die hier entwickelten Richtlinien gehen daher in der „Belebung“ des Zwischenverfahrens deutlich über den Reformvorschlag hinaus. bb) Konsensuale Verfahrenserledigung oder konfrontative Überleitung ins Hauptverfahren In dem Maße, in dem die partizipatorische Gestaltung des Ermittlungsverfahrens ausgebaut werden soll, kann auch die Bedeutung des Zwischenverfahrens wachsen. Der Diskussionsentwurf sieht eine mündliche Anhörung im Zwischenverfahren insoweit vor, als sie geeignet ist, das Verfahren zu fördern. Nach dem Ansatz dieser Untersuchung ist es aber bereits in diesem Verfahrensstadium unbedingt notwendig, die Gesprächssituation nach konsensualem und konfrontativem Verfahren zu trennen. Das Verfahren kann sachgerecht nur gefördert werden, wenn eine sich anbahnende konsensuale Verfahrensführung schon im Ansatz nach anderen, nämlich prozessual bestimmten Parametern gemessen und nicht etwa trügerisch als eine Annäherung an die Wahrheit gewertet wird, die mit unvermeidlichen Belastungen für den Beschuldigten verbunden ist, sollte dieser im Folgenden von seiner „konsensualen Linie“ abweichen. Damit eine Anhörung zur Sondierung der weiteren Verfahrensgestaltung nicht in eine mehr oder minder latente Drucksituation für den Angeklagten ausartet, ist zu fordern, dass das Gericht nicht durch „Strafmaßangebote“ im Gegenzug für ein „Einlenken in konsensuale Bahnen“ in derartige Gespräche eingreift. Es muss ge-
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Eckpunktepapier, Nr. 5, StV 2001, 314, 415. Vgl. die Begründung im Entwurf der Bundesregierung des OpferRG zu § 202a StPO, http://www.bmj.bund.de/media/archive/562.pdf, Stand 17. Oktober 2003, S. 25. 180
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währleistet sein, dass Kommunikation, die zielorientiert auf ein Einvernehmen gerichtet ist, sich auf freiwilliger Basis entfaltet und insbesondere keine Nachteile für einen etwaigen Wechsel ins konfrontative Verfahren in sich birgt. Zudem darf es nicht bei Sondierungsgesprächen bleiben, sondern Kern einer Weichenstellung im Zwischenverfahren wäre, dass es bereits in diesem Verfahrensabschnitt zu einem verbindlichen, das Gericht bindenden Antrag auf Strafverhängung kommen kann. Damit wird das Zwischenverfahren für ein konsensuales Verfahren zum Beendigungsstadium; im konfrontativ geführten Verfahren behält es seine Kontrollfunktion bei. Es wäre allerdings zu erwägen, ob die Kontrolle der öffentlichen Anklageerhebung nicht auf ein offenkundiges Schlüssigkeitskriterium beschränkt werden sollte, um der systemwidrigen Aufwertung der Zwischenverhandlung zu einer „kleinen antizipierten Hauptverhandlung“, wie sie sich im italienischen „postreformierten“ Modell der legge Carotti findet, entgegenzuwirken181. Im Ergebnis verdient die dem Reformentwurf zugrunde liegende Vorstellung, dass im Zwischenverfahren konsensual der Verfahrensstoff beschränkt werden könne182, durchaus Beifall. Ein förmlicher Anhörungstermin könnte Gelegenheit geben, Informationen auszutauschen und den Verfahrensstand zu sondieren, um festzustellen, welche Tatsachen als unstreitig gelten können183. Das Ziel 181 Von einem entgegengesetzten Ansatz kommen von Galen/Wattenberg, ZRP 2001, 445, 447, zu einem ähnlichen Ergebnis, indem sie das Zwischenverfahren in seiner bisherigen Form für „entbehrlich“ halten und seine Redimensionierung in der Gestalt fordern, dass sich die Prüfung des Gerichts auf eine Schlüssigkeitsprüfung beschränken solle, die die Eröffnung des Hauptverfahrens nur bei „offenkundigen“ Mängeln ablehnen solle (S. 448). 182 So die Begründung des § 202a StPO im Entwurf der Bundesregierung des OpferRG, a. a. O., S. 25; für das Zwischenverfahren als „zweckmäßiger Anwendungsbereich der Strafzumessung auf Antrag der Parteien“ auch Bogner, S. 266, der den Anwendungsbereich allerdings auch auf das Hauptverfahren ausdehnen will. 183 Auch Ignor/Matt, StV 2002, 102, 107 plädieren für „die Einführung eines (nicht öffentlichen) Erörterungstermins im Rahmen des Zwischenverfahrens nach dem Ermessen des Gerichts oder auf Antrag der Verteidigung“; ein solcher Termin „vermag [. . .] den Weg zu einer Verfahrensbeendigung – ohne die Durchführung einer Hauptverhandlung – zu eröffnen, der zuvor aus unterschiedlichen Gründen nicht gesehen oder nicht beschritten wurde“. Eine Aufwertung des Zwischenverfahrens in seiner eigentlichen Funktion, nämlich zu „filtern, klären und schützen durch Anhörung des Angeschuldigten“ fordert auch Koch, StV 2002, 22, 23, der nach eigenen Aussagen seit Jahren eine Art von mündlicher Verhandlung im Zwischenverfahren praktiziert; heftige Kritik an diesem Modell übt Meyer-Goßner, StV 2002, 394, der insbesondere den von Koch ausgeübten Druck (die von Koch praktizierte „Einladung“ im Zwischenverfahren versieht er mit der Androhung einer polizeilichen Vorführung), sowie den Ausschluss der Staatsanwaltschaft von dem Anhörungstermin für rechtlich äußerst bedenklich hält; die entlastende Wirkung einer Anhörung im Zwischenverfahren für die Hauptverhandlung hebt auch Fischer hervor, StV 2003, 109, 110, der eine Vorleistung der Kammer dergestalt für erforderlich hält, dass diese zunächst eine Einschätzung der Ermittlungsergebnisse bekannt geben müsse, da die anderen Prozessbeteiligten erst auf dieser Grundlage entscheiden könnten, ob sie ihre Strategie preisgeben wollen.
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einer derartigen Verhandlung ist aber viel weiter zu stecken als es der Reformentwurf vorsieht. Es kann hierbei nicht darum gehen, die Hauptverhandlung vorweg zu nehmen und die dort zu findende Wahrheit zu begrenzen. Nicht das Unmögliche in Form der einvernehmlichen Beschränkung eines unverfügbar gedachten Verfahrensstoffes durch Kommunikation und Transparenz darf das Ziel sein, sondern der Zweck des Zwischenverfahrens muss vielmehr darin legen, den „Parteien“ des Verfahrens eine abschließende verbindliche Möglichkeit zu geben, das Verfahren konsensual zu einem Abschluss zu bringen. In einer solchen Entscheidung der Parteien für eine konsensuale Beendigung des Verfahrens wäre dann eine Beschränkung des Verfahrensstoffes auf Grundlage der Dispositionsmaxime zu sehen184. Unter diesen Voraussetzungen müsste aber bereits der Anhörungstermin im Zwischenverfahren öffentlich sein, weil in diesem das Verfahren zu Ende geführt werden könnte. Ein „verfahrensgerecht“ gefundener Konsens braucht das Licht der Öffentlichkeit nicht zu scheuen. Im Verfahrensgang sind nach den hier vorgestellten Richtlinien im Ergebnis zwei Modalitäten der Beendigung eines Zwischenverfahrens denkbar. Zum einen könnte das Zwischenverfahren, sofern kein Konsensualantrag gestellt wird, darauf reduziert werden, dass lediglich eine Schlüssigkeitsprüfung der Anklage anhand der Aktenlage erfolgt185. Hierbei sollte an dem ursprünglich vom italienischen Modell vorgesehen Offenkundigkeitskriterium festgehalten werden. Denn die eigentliche Filterfunktion liegt nunmehr nicht mehr darin, die Anklage zu kontrollieren und somit die Notwendigkeit der Eröffnung des Hauptverfahrens zu prüfen, sondern filternd wirkt das Zwischenverfahren dann durch die Möglichkeit einer konsensualen Verfahrenserledigung. Diese stellt somit die zweite Beendigungsmöglichkeit für diesen Verfahrensabschnitt dar. Im Ergebnis läuft die konsensorientierte Verständigung im Zwischenverfahren auf die vollständige Vermeidung der Hauptverhandlung heraus. Das ist auch folgerichtig, wenn man bedenkt, dass eine nach Verständigung durchgeführte Hauptverhandlung mit Beweisaufnahme und Plädoyers schon aus der Natur der Sache nichts anderes ist als ein Rollenspiel mit abgesprochenem Text und gewissem Ausgang, das vor allem deshalb als „Schmierentheater“ 186 daherkommt,
184 So fordert auch Wagner, in: Festschrift für Gössel, S. 585, 591, dass eine Verfahrensordnung für Absprachen „für eine gewollte Beschränkung des Verfahrensstoffes die Dispositionsmaxime zugrunde legen“ muss. „Das Urteil ist im Schuldspruch ausschließlich Ergebnis der Absprache“. 185 Zur Senkung der Prüfungsvoraussetzungen auf eine Schlüssigkeitsprüfung, vgl. von Galen/Wattenberg, ZRP 2001, 445, 448, wonach die Eröffnung des Hauptverfahrens „nur bei offenkundigen Mängeln, die eine Verurteilung von vorne herein ausschließen“, abzulehnen wäre. 186 So die Formulierung bei Weider unter dem Pseudonym Detlev Deal, StV 1982, 545.
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weil es der an die Öffentlichkeit gerichtete Versuch einer Verdeckung des Konsenses als eigentlicher Urteilsgrundlage ist. Damit wird das Zwischenverfahren zu einer kommunikativen Weiche und dessen ohnehin spärliche Filterfunktion zurückgenommen. cc) Die Trennung der Spruchkörper im Zwischen- und Hauptverfahren Die Trennung der Spruchkörper im Zwischen- und Hauptverfahren ist eine Forderung, die immer wieder von unterschiedlicher Seite erhoben worden ist187. Die Trennung der Spruchkörper wird in einem Verfahrensmodell, das konsensuale und konfrontative prozessuale Kommunikation grundsätzlich auch verfahrensrechtlich unterscheiden will, zu einem zentralen Baustein des Systems. Wenn im Rahmen konsensualer Annäherung sowohl im Ermittlungs-, als auch im Zwischenverfahren über den Verfahrensgegenstand disponiert werden kann, so bedeutet dies für den stets zu sichernden Übergang ins konfrontative Verfahren, dass zwischen dem Spruchkörper des konsensualen und demjenigen des konfrontativen Verfahrens strikt getrennt werden muss. Entscheidend ist, dass das erkennende Gericht der streitigen Hauptverhandlung möglichst unvoreingenommen durch etwaig gestellte Anträge im Vor- oder Zwischenverfahren in die Hauptverhandlung geht. Die italienische Regelung hat in dieser Hinsicht infolge der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung große Sensibilität für die Befangenheitsproblematik bewiesen und ist dieser bereits im Ansatz durch die grundsätzliche Trennung der Spruchkörper in den einzelnen Verfahrensstadien begegnet. 187 Für die „differierende richterliche Zuständigkeit für Zwischenverfahren und Hauptverfahren“ auch das Diskussionspapier zur Reform des Strafprozesses, beschlossen vom Arbeitskreis III – Innen, Recht, Frauen & Jugend – der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, (Stand 08.08.01), S. 2; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 40 Rn. 3, schlägt die Einführung eines „Eröffnungsgerichts“ vor, das über die Eröffnung der Hauptverhandlung zu entscheiden haben soll. Das einer entsprechenden Lösung entgegenstehende Argument der „Personalprobleme“ für die Justiz hält er nach der gerichtlichen Voruntersuchung durch das 1. StVRG für entkräftet. Im Ergebnis favorisiert auch Weigend, ZStW 104 (1992), 486, 510, für sein Modell eines neuen Prozesses die italienische Lösung eines Richters in der Zwischenverhandlung, der weder mit dem Ermittlungsrichter noch mit dem Gericht der Hauptverhandlung identisch ist; gegen eine Trennung der Spruchkörper von Zwischen- und Hauptverfahren, weil diese zu aufwändig und „wegen der fehlenden Verantwortung des Eröffnungsrichters für das Hauptverfahren von zweifelhafter Effizienz“ ist der AE Hauptverhandlung, S. 8. Der Alternativentwurf plädiert weiterführend für eine Abschaffung des Eröffnungsbeschlusses zugunsten einer „Entscheidung über die Durchführung des Hauptverfahrens“ (§ 200), die nicht mit der Feststellung des hinreichenden Tatverdachts verbunden sein soll. Gegen den „theoretisch stimmigen, praktisch aber unbrauchbaren Vorschlag“ eines „Eröffnungsrichters“ im Zwischenverfahren, Meyer-Goßner, ZRP 2000, 345, 347. Für eine Trennung der Spruchkörper im Falle gescheiterter Absprachen und den Ausschluss des Akteninhalts des „Dealverfahrens“ aus der „Gesamtprozessakte“ auch Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren, S. 269.
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Gerade vor dem Hintergrund der Bestrebungen, das Ermittlungsverfahren partizipatorisch auszugestalten und der damit verbundenen Aufwertung dieser Verfahrensphase, gewinnt die Trennung der Spruchkörper an Bedeutung. Je transparenter ein Vorverfahren ist, umso größer ist auch die Gefahr einer Aushöhlung der Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung. Wenn nun darüber hinaus im Zwischenverfahren die Gelegenheit einvernehmlicher Verfahrensbeendigung gewährt wird, erstarkt die grundsätzliche Vorzugswürdigkeit einer Spruchkörpertrennung zu einer unabdingbaren Voraussetzung des Systems. Gescheiterte konsensuale Beendigungsversuche können konfrontativ nicht von demselben Gericht entschieden werden, ohne dass dieses sich bereits eine umfassende Würdigung von dem Geschehen gebildet hätte. Entsprechend dem hier vertretenen Grundsatz, dass die Trennung des Verfahrens in konsensuales und konfrontatives Vorgehen einer strikten Trennung der Spruchköper unbedingt bedarf, sind die Akten der Zwischen- und Hauptverhandlung zu trennen, damit das erkennende Gericht der Hauptverhandlung nicht von einem bereits gestellten Konsensualantrag beeinflusst wird. Eine der italienischen Regelung entsprechende Beschränkung der „Akte für die Hauptverhandlung“ (Art. 431 c.p.p.) ist durchaus in Erwägung zu ziehen. Das methodische Problem, dass die Aktenkenntnis des Gerichts den Entscheidungsfindungsprozess aufgrund des sogenannten Perseveranz- und Inertiaeffekts beeinträchtigen kann188, soll nicht mehr Gegenstand dieser Untersuchung sein. Es liegt jedoch auf der Hand, dass mit einem Zuwachs an kontradiktorischen Elementen im Verfahren auch der Grundsatz der Aktenkenntnis erneut hinterfragt werden sollte. Wichtig ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass in Italien das Protokoll der Zwischenverhandlung in die Akte der Staatsanwaltschaft integriert wird (Art. 433 Abs. 1 c.p.p.) und somit das erkennende Gericht der Hauptverhandlung die in der Zwischenverhandlung etwaig erfolgten Einigungsversuche nicht kennt.
188 Vgl. hierzu insbesondere die heftige Kritik an der Aktenkenntnis des erkennenden Gerichts bei Schünemann, Der Richter im Strafverfahren als manipulierter Dritter?, in: Verfahrensgerechtigkeit, S. 215 ff.; vgl. auch ders., ZStW 114 (2002), 1, 51, der erneut die Frage erhebt, ob der Richter „wie bisher mit Aktenkenntnis ausgestattet“ sein sollte, da er aus eigenen Untersuchungen zu dem Ergebnis kommt, dass bereits die Aktenkenntnis ausreichend sei, „um eine asymmetrische Verarbeitung von aktenkonsonanten und aktendissonanten Informationen in der Hauptverhandlung auszulösen.“; anders Gössel, in: Festschrift für Meyer-Goßner, S. 187, 204, der die Aktenkenntnis für „unverzichtbar“ erklärt und sie zu den unverzichtbaren Elementen des Strafverfahrens zählt (S. 199); Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Strafverfahrens, S. 401, geht davon aus, dass die Wahrheitsfindung durch Aktenkenntnis in einem Parteiverfahren weniger gefährdet ist als im deutschen Prozess.
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d) Verständigung in der Hauptverhandlung im Diskussionsentwurf oder ein weiterer Versuch der Quadratur des Kreises Bereits das Eckpunktepapier hatte die Förderung konsensualer Elemente im Ermittlungsverfahren auf zwei Zielrichtungen beschränkt, nämlich auf die Verfahrensbeendigung ohne Hauptverhandlung durch Einstellung (§ 153a StPO oder Strafbefehl) oder auf die Vorbereitung der Hauptverhandlung durch Reduzierung des Verfahrensstoffes (§ 154 StPO)189. Entsprechendes sollte für den Anhörungstermin im Zwischenverfahren gelten. Die eigentlich verfahrensbeendende Absprache, die außerhalb des Bereichs von Opportunitätseinstellungen liegt, soll nach der Konzeption des Reformentwurfes auf die Hauptverhandlung beschränkt bleiben. Nach dem neu zu schaffenden § 257b StPO sollen Verständigungen in der Hauptverhandlung gesetzlich normiert und damit die Absprachenpraxis aus dem Schatten der Informalität geführt werden. Der Diskussionsentwurf190 sieht folgenden Wortlaut vor: „§ 257b (1) In geeigneten Fällen kann das Gericht in der Hauptverhandlung den Stand des Verfahrens mit den Beteiligten erörtern. (2) Diese Erörterung kann sich auf die vorläufige Beurteilung des Verfahrensergebnisses erstrecken. Das Gericht kann dabei mit Einverständnis des Angeklagten unter freier Würdigung aller Umstände des Falles sowie der allgemeinen Strafzumessungserwägungen eine Strafobergrenze angeben, die unter dem Vorbehalt einer Bewertungsänderung im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung steht. Der Angeklagte ist auf eine Veränderung der Bewertung hinzuweisen. Ein Rechtsmittelverzicht darf nicht Gegenstand einer Verständigung sein.“
„Die Einführung dieser Vorschrift soll zu einer transparenten Hauptverhandlung beitragen, indem eine gesetzliche Grundlage für Gespräche zwischen den Beteiligten geschaffen wird“191. Die Begründung des Entwurfs gesteht zwar auf der einen Seite zu, dass „die gesetzliche Normierung der Verständigung im Strafverfahren [. . .] der Entwicklung in der Praxis Rechnung“ trägt, vermeidet aber auf der anderen Seite die Begriffe „Absprache“ oder „Vereinbarung“ gerade deshalb, weil „die Gespräche für den Angeklagten, den Verteidiger und den Staatsanwalt rechtlich nicht bindend sind“. Doch dieser Ausschluss der rechtlichen Bindung verdreht zum einen die Praxis, der die Reform doch gerade Rechnung tragen will, und endet daher in einem euphemistischen Selbstbetrug. Jeder weiß, dass Verständigung im Strafprozess gerade von ihrer stillschweigend vorausgesetzten Verbindlichkeit lebt. Zum anderen ist unter Zugrunde189 190 191
Vgl. das Eckpunktepapier, Nr. 4, StV 2001, 314, 315. Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens, siehe Fn. 100, S. 8. So die Begründung im Diskussionsentwurf, a. a. O., S. 42.
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legung der Rechtsfrieden stiftenden Wirkung des Konsenses nicht ersichtlich, warum eine Kodifizierung der Verständigung die Praxis nicht gerade aus diesem Selbstbetrug der entgegen allen Tatsachen immer wieder betonten Unverbindlichkeit herausführen und die Bindungswirkung einvernehmlicher Verfahrensbeendigungen festschreiben darf. Nach Vorstellung der Verfasser des Entwurfs soll Absatz 2 die „Mindestgrundsätze, die auf dem Weg zu einer verfahrensbeendenden Verständigung zwischen den Beteiligten zu beachten sind“, festlegen. Die Vorschrift orientiert sich dabei insbesondere an der Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofes192. Insoweit muss sie auch all jene kritischen Einwände, gegen sich gelten lassen, die zu recht gegen die vom BGH aufgestellte „Prozessordnung für abgesprochene Urteile“193 erhoben worden sind. Der Vorschlag geht keinen Schritt über die höchstrichterliche Rechtsprechung hinaus und lässt vor allem die immer wieder herausgestellten neuralgischen Punkte der Absprachen unberücksichtigt, nämlich die Gefahr der „Sanktionsschere“, der Druckausübung auf den Angeklagten durch Hinwirken auf durch Strafrabatt erkaufte Geständnisse und das damit verbundene Vorleistungsrisiko. Die Begründung liest sich dementsprechend ähnlich wie die Urteilsgründe zu der zitierten Grundsatzentscheidung des 4. Strafsenates des Bundesgerichtshofes. Eine Verständigung soll unter Mitwirkung aller Verfahrensbeteiligten erfolgen194, bei der Zusage einer Strafobergrenze hat das Gericht die allgemeinen Strafzumessungsgesichtspunkte zu berücksichtigen, ein Rechtmittelverzicht als Teil der Verständigung soll unwirksam sein. Genau dieses, im Rahmen des Reformmodells nicht thematisierte „Drohkapital“, das jede Verständigung in der Hauptverhandlung in sich birgt, lässt sich als Argument für die hier vorgeschlagene Begrenzung konsensualer Verfahrenserledigung auf das Zwischenverfahren anführen. Zu einem bestimmten, gesetzlich geregelten Zeitpunkt muss eine definitive Entscheidung für ein konsensuales oder konfrontatives Verfahren geschaffen werden, um latente Druckausübung zur Ablegung eines Geständnisses in der Hauptverhandlung abzuwenden195. Nur so kann auch die Gefahr einer dem Angeklagten aufgebürdeten Sanktionsschere gebannt werden, weil Verständigungen über den Strafrahmen in 192 BGHSt 43, 195. Zur Kritik dieser Entscheidung als einen ambitionierten, aber „gescheiterten“ Versuch der „Quadratur des Kreises“ ausführlich Schünemann, in: Festschrift für Rieß, 525, 546; vgl. im Übrigen auch Kapitel 2, Fn. 282. 193 So der Titel des Kommentars von Weigend zur Grundsatzentscheidung des BGH von 1997, NStZ 1999, 57 ff. 194 So sollen auch Schöffen und Nebenkläger beteiligt werden; so auch bereits Wagner, in: Festschrift für Gössel, S. 585, 599, in seinem Modell eines „einvernehmlichen“ Verfahrens. 195 Auch Weigend, Absprachen in ausländischen Strafverfahren, S. 107, will die Absprachen auf eine zeitlich frühe Phase des Verfahrens beschränken, da so zum einen die Effizienzvorteile optimiert und zum anderen die Gefahr nachträglicher Manipulationen und bloßen Traktierens herabgesetzt würden.
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der Hauptverhandlung dann grundsätzlich nicht mehr möglich sein sollen. Durch die grundsätzliche Vorverlagerung der Partizipation in das Ermittlungsverfahren dürften sich auch die entsprechenden Verständigungssituationen vorverlagern, so dass nicht zuletzt zum Schutze des Angeklagten vor einer „drohenden Verständigungskulisse“ in der Hauptverhandlung, von unter dem Deckmantel der Unverbindlichkeit geführten Rechtsgesprächen abgesehen werden sollte. Somit würde die Hauptverhandlung zum natürlichen Sitz des streitigen Verfahrens. Die Begrenzung der Verständigung auf das Zwischenverfahren ist als ein offenes Eingeständnis zu verstehen, dass es bei einer Verständigung im Strafverfahren gerade um Vermeidung einer streitigen Hauptverhandlung, und nicht nur um eine ergebnisoffene Begrenzung des Verfahrensstoffes geht. Die vollkommene Entleerung der Hauptverhandlung nach einer Absprache, in der formal einzelne Zeugen noch gehört und zur Wahrung des „kontradiktorischen Scheins“ auch noch plädiert wird, obwohl die Würfel längst verbindlich gefallen sind, fände in einer klaren gesetzlichen Trennung der Verfahrenabschnitte endlich ihr verdientes Ende.
4. Vorschlag für die prozessuale Ausgestaltung eines „Konsensualantrags“ Die Untersuchung ist nun an dem Punkt angelangt, an dem versucht werden soll, einige Grundsatzfragen zu einer gesetzlichen Lösung konsensualer Verfahrenserledigung zu stellen. Es soll hierbei insbesondere um die zentralen Problemfelder jeder Absprachenpraxis gehen, nämlich zum einen um die „Rollenverteilung“ und zum anderen um die prozessuale Absicherung gescheiterter Konsensbildung. Ziel dieses Vorschlags kann es nur sein, die grundsätzliche Vorzugswürdigkeit eines verbindlichen „Konsensualantrags“ gegenüber den nach wie vor auch im Reformentwurf allzu vage gehaltenen „Erörterungsgesprächen“ herauszuarbeiten. Hierbei geht es um die möglichst „interessengerechte“ Konsensfindung, an deren Resultat das Gericht zu binden ist und die das Vorleistungsrisiko des Angeklagten überwinden muss – einen der Hauptangriffspunkte der derzeit praktizierten konsensualen Verfahrenserledigung. a) Das zweiseitige Rechtsgeschäft Entscheidende Bedeutung für die gesetzliche Lösung eines konsensualen Verfahrens im Strafprozess kommt der Frage zu, wie die Rollen der Verfahrensbeteiligten bei der Konsensfindung zu verteilen sind. Ob konsensuale Verfahrenserledigungen unter aktiver Beteiligung des Gerichts oder aber im Rahmen einer zweiseitigen Autonomie der Parteien sich anbahnen sollen, ist ein grundsätzli-
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ches Problem, das die Kernfragen nach der Legitimierung von Verständigungen überhaupt erfasst. Die Zweiseitigkeit des Verständigungsprozesses folgt schon aus der Verfahrensstruktur einer konsensualen Entscheidungsfindung196. Die Parteiendisposition gebietet, dass das Gericht sich aus den Verhandlungen heraushält. Wenn der Konsens als Legitimationsgrundlage in den Vordergrund tritt und das Prinzip der materiellen Wahrheit sogar ganz zu verdrängen vermag, dann wäre die Beteiligung des „unparteiischen Gerichts“ ein systemfremder Einbruch in die Konsensfindung. Gestützt wird dieser strukturelle Aspekt durch eine praktische Erwägung. Es liegt auf der Hand, dass die Beteiligung des Gerichts geeignet ist, die Drucksituation auf den Angeklagten zu erhöhen. Die Beteiligung etwa in Form des Einbringens eigener Prognosen „als lenkende Hinweise“ würde die „Rollen umstürzen und die zentrale Funktion richterlicher Tätigkeit, die in der Gewährung rechtlichen Gehörs besteht, in ihr Gegenteil verkehren“197. Die aktive Beteiligung des Gerichts an verfahrensbeendenden Gesprächen muss die Drucksituation auf den Angeschuldigten erhöhen. Daher ist das Gericht aus der konsensualen Entscheidungsfindung herauszuhalten198. Das italienische Modell eines zweiseitig dem Gericht von den Parteien unterbreiteten Antrags scheint insoweit vorzugswürdig. Auch die Ausgestaltung, dass der Antrag sowohl seitens des Angeschuldigten als auch durch die Staatsanwaltschaft gestellt werden kann, verdient Aufmerksamkeit. Durch diese prozessuale Regelung wird der konsensuale Charakter der 196 Auch Weigend, Absprachen in ausländischen Strafverfahren, S. 106, entnimmt seinem internationalen Vergleich die Richtlinie, dass Absprachen „zwischen den ,Parteien‘, nicht zwischen Beschuldigtem und Gericht erfolgen sollten“. Entschieden gegen die bilaterale Struktur einer gesetzlich geregelten Verständigung aber Wagner, in: Festschrift für Gössel, S. 585, 592, nach dessen Vorschlag eines „einvernehmlichen Verfahrens“ es gerade nicht um eine Ausgestaltung als Parteiverfahren, sondern um die „Einführung eines Verfahrens mit Dispositionsbefugnis des Angeklagten über die ihm in Aussicht gestellte Strafe für die von ihm eingestandenen strafrechtlichen Vorwürfe“ geht. Prozessual müsse einer derartigen einseitigen Disposition „eine gerichtliche Entscheidung über die Zulassung der Anklage vorausgehen, damit die erhobenen Vorwürfe seitens des Gerichts überprüft und konkretisiert sind“. Damit beschränkt sich der Vorschlag auf ein Unterwerfungsmodell, in dem die deklarierte Dispositionsbefugnis des Angeklagten lediglich den Verzicht auf konfrontative Verteidigung beinhaltet. Gegen die Zweiseitigkeit der Verhandlung unter dem Vorwurf, es handele sich um „eine konspirative Tätigkeit, kein irgendwie legitimierbares Verhalten“ auch Dencker, Der Vergleich im Strafprozeß, S. 96. 197 So Salditt, ZStW 115 (2003), 570, 579. 198 So auch Steinhögl, S. 151, 170; anders Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren, S. 292, der die Beteiligung des Gerichts an Absprachen wegen Art. 92 GG für „notwendig“ hält; kritisch zur Initiative einer Absprache durch das Gericht auch Wolfslast, NStZ 1990, 409, 416; die Beteiligung des Gerichts lehnte auch bereits Zierl ab, Der Vergleich im Strafverfahren – Oder „Tausche Geständnis gegen Bewährung“, AnwBl. 1985, 505, der sich für die Zulässigkeit von Absprachen im Ermittlungsverfahren ohne Beteiligung des Gerichts ausspricht.
IV. Rechtspolitischer Ausblick
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Entscheidungsgrundlage unterstrichen und damit die grundsätzliche Andersartigkeit im Verhältnis zu einem Unterwerfungsmodell, wie es das Strafbefehlsverfahren darstellt, hervorgehoben. Der Antrag ist entweder gemeinsam von den Parteien oder einseitig unter Zustimmungsbedürftigkeit der jeweils anderen Partei zu stellen. Die Grundlage des Urteils ist die Einigung; ob diese von Beginn durch Zustimmung oder gleich durch einen gemeinsam gestellten Antrag in den Prozess eingeführt wird, ist nur eine Formalität199. Wird die Möglichkeit eines zweiseitigen konsensualen Verfahrens eröffnet, in dem sich das Gericht gänzlich zurückzuhalten hat und nur als passiver Adressat auftritt, gewinnt die Frage der notwendigen Verteidigung an Brisanz. Stärkung der Autonomie der Parteien kann nur vor dem Hintergrund Bestand haben, dass der Beschuldigte davor geschützt ist, dass Kommunikation im Verfahren in einer in Konsens gekleideten Unterwerfung endet. Bereits an der heutigen Praxis lässt sich absehen, dass es Verständigung im Sinne dieser Arbeit ohne Verteidigung im Grunde nicht gibt. Ein konsensorientiertes Verfahren darf nicht über den Kopf des Beschuldigten hinweg erfolgen, braucht aber auf der anderen Seite eine Verteidigung, die dem Beschuldigten bei der nicht einfachen Entscheidung für ein konsensuales oder konfrontatives Vorgehen beisteht. Das hat zur Folge, dass eine gesetzliche Regelung vorsehen sollte, dass ein Konsensualantrag stets nur unter Mitwirkung eines Verteidigers gestellt und dass diesem auch nur von einem Verteidiger zugestimmt werden kann200.
199 Interessanterweise hat Schünemann, in: Absprachen im Strafprozeß – ein Handel mit der Gerechtigkeit, S. 147, bereits 1986 anlässlich eines Symposiums in Triberg im Rahmen der Podiumsdiskussion zum Thema der Absprachen mehrere Kodifizierungsvorschläge unterbreitet, unter denen er als „radikalste Vorschrift“, ohne sich gleich „hinter sie zu stellen“, folgende Formulierung vorstellte: „Das Gericht kann einem übereinstimmenden Antrag von Staatsanwaltschaft und Verteidigung entsprechen, wenn nach der durchgeführten Beweisaufnahme keine Bedenken entgegenstehen. In diesem Fall ist eine weitere Begründung nicht erforderlich.“ 200 So sieht auch § 269d AE-EV, vgl. auch die Begründung, S. 137, vor, dass die StA für den unverteidigten Beschuldigten zumindest dann einen Verteidiger zu beantragen hat, wenn die Verhängung einer Freiheitsstrafe in Betracht kommt. Auch Salditt, ZStW 115 (2003), 570, 579, – dessen „Vergleichsmodell“ freilich an anderen Prämissen ansetzt, in dem es die erforderlichen „Schutzvorkehrungen“ an die „Richtigkeitsgewähr“ bindet und dementsprechend vom Erfordernis eines Geständnisses nicht absehen will – fordert für die konsensuale Erledigung die notwendige Verteidigung, um „Drohkulissen vorzubeugen“; für eine notwendige Verteidigung im Kodifizierungsvorschlag eines „einvernehmlichen Verfahrens“ auch Wagner, in: Festschrift für Gössel, S. 585, 603; zur Frage der notwendigen Verteidigung in der Diskussion um die Absprachenkodifizierung vgl. auch König, AnwBl. 2002, 40 f., der für die Einführung einer neuen Nr. 4 in § 140 Abs. 1 StPO plädiert, nach der die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig werden soll, wenn das Berufungsverfahren durch eine Absprache beendet werden soll, die die Möglichkeit einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe enthält. Bereits 1990 haben Schmidt-Hieber, NJW 1990, 1884, 1887, sowie Lüderssen, StV 1990, 415, 419 die Einführung der notwenigen Verteidigung bei Absprachen durch entsprechende Ergänzung des Art. 140 Abs. 2 StPO gefordert.
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Kap. 4: Das patteggiamento als Modell für eine kodifizierte Absprache?
b) Der gesetzliche Strafrabatt Eine gesetzliche Regelung der Absprachen muss anerkennen, dass auch im Rahmen der Strafzumessung die konsensuale Verfahrensbeendigung vornehmlich prozessual legitimiert ist und dementsprechend Strafzumessungskriterien einer eigenen prozessualen Kategorie zur Geltung kommen, die sich von der Zumessungsrelevanz eines materiell-rechtlichen Geständnisses vollkommen gelöst haben. Wenn das Gesetz klare Vorgaben darüber macht, wie das Nichtbestreiten der Tat im Rahmen des konsensualen Verfahrens in der Strafzumessung zu werten ist, dann „handelt“ das Gericht nicht mehr mit dem Beschuldigten. Dies sollte in der Regel dazu führen, dass die Drohkulisse der Sanktionsschere gebannt und die Entscheidungsfreiheit des Beschuldigten auf diese Weise nicht mehr eingeschränkt wird.201 Nicht das schließlich entscheidende Gericht darf die Sanktionsschere öffnen, sondern ein Strafrabatt ist von Gesetzes wegen vorzusehen202. Die Anerkennung eines rein prozessualen Strafmilderungsgrundes ist die konsequente Folge, wenn ein Geständnis für die einvernehmliche Beendigung durch einen Konsensualantrag gerade nicht gefordert wird. Dass ein prozessual bedingter Strafrabatt nicht gegen den Grundsatz der schuldangemessenen Strafe verstoßen muss, sollte in der Grundlegung dargelegt werden. Denn die Schuldkategorie selbst ist wesentlich auch prozessual bestimmt. Die Darstellung der italienischen Diskussion um die Rechtfertigung des gesetzlichen Strafrabatts sollte aufzeigen, dass die Reduzierung der gesetzlichen Strafminderung auf prozessökonomische Erwägungen, nämlich zusätzliche Anreize für das konsensuale Verfahren zu schaffen, in der Sache zu kurz greift203. Ein gesetzlicher Strafrabatt für das konsensuale Verfahren kann durch die eingenständig legitimierende Wirkung des Konsenses und seiner Auswirkung auf die prozessual bestimmte Zurechnungsschuld durchaus gerechtfertigt werden und macht das Wesen einvernehmlicher Verfahrenserledigung transparent. 201 Salditt, in: Gedächtnisschrift für Ellen Schlüchter, S. 65, 72, erhebt in diesem Zusammenhang folgenden berechtigten Einwand: „Bei kontradiktorischer Fortsetzung bestraft ein Teil der Sanktion in solchen Fällen nichts anderes als den verweigerten Konsens.“ 202 Einen grundsätzlich von Gesetzes wegen vorzusehenden Strafmilderungsgrund im „kooperativen Verfahren“, das kein Geständnis erfordert, befürwortet auch Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren, S. 272; vgl. auch den Vorschlag von Meyer-Goßner, NStZ 1992, 167 f., das gesetzliche Höchstmaß der angeklagten Tat im Falle einer entsprechenden „Prozesserklärung“ um die Hälfte zu reduzieren. Satzger, Gutachten C zum 65. Deutschen Juristentag, S. 113, will darüber nachdenken, „ob ein Geständnis des Beschuldigten nicht als vertypter Strafmilderungsgrund anerkannt werden kann“. Dass Satzger am Erfordernis eines „substantiierten“ Geständnisses festhält, ist im Rahmen seiner Argumentation zur Beibehaltung der Amtsaufklärungspflicht nur konsequent; die Notwendigkeit eines neuen „vertypten“ Milderungsgrundes ruht hier mehr auf der Einsicht, dass die „doppelte Indizkonstruktion“ andernfalls an die „Grenzen ihrer Belastbarkeit“ gelange. 203 Vgl. hierzu oben Kapitel 3 IV. 3., S. 266 ff.
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c) Der Antrag im Gang des Verfahrens Der italienische Reformgesetzgeber und insbesondere auch die späteren Novellierungen haben die prozessuale Ausgestaltung des Konsensualantrags im Verfahren vor allem an dem Erfordernis einer prozessökonomischen Gestaltung des Instituts orientiert. Dass der prozessuale Zeitraum für Konsensualanträge begrenzt sein sollte und die Hauptverhandlung einer konfrontativen Verteidigung vorbehalten bleiben sollte, ist indes nicht etwa über den in Italien für die Rechtfertigung der zeitlichen Begrenzung bemühten Gedanken der Verfahrenseffizienz zu begründen, sondern erklärt sich vielmehr aus dem Erfordernis, konsensuales und konfrontatives verbindlich voneinander zu trennen. Um ein Verwischen der Grenzen und damit die Gefahr späterer Manipulationen in der Hauptverhandlung, die den Angeklagten zur Ablegung eines Geständnisses drängen könnten, entgegenzuwirken, ist es wichtig, dass die beiden Verfahrenstypen strikt voneinander getrennt werden204. Hierfür ist erforderlich, dass gesetzlich ein Zeitpunkt bestimmt wird, nach welchem die Stellung eines Konsensualantrags nicht mehr zulässig sein sollte. Die kontradiktorische Hauptverhandlung hat dann ihre schützenden Formen für den Beschuldigten voll zu entfalten. Der fortschreitenden Aushöhlung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes durch stetig zunehmende Möglichkeiten des Beweistransfers ist durch Rückbesinnung auf die verfahrensrechtlichen Grundsätze der „streitigen“ Hauptverhandlung zu begegnen. Der Ansatzpunkt des italienischen Reformgesetzgebers, die Bedeutung der Hauptverhandlung in ihren schützenden Formen zu stärken, ist bedauerlicherweise nicht durchgehalten worden. Zwar ist es richtig, dass die Stärkung konsensualer Elemente im Strafverfahren eine Aufwertung der Verteidigung im Ermittlungsverfahren unbedingt erfordert; und auch die Bedeutung des Ermittlungsverfahrens in der hiesigen Reformdiskussion verdient durchaus Beifall. Eine partizipatorische Vorverlagerung des Verfahrens ist grundsätzlich zu begrüßen. Die schützenden Formen der Hauptverhandlung dürfen einem derartigen „ermittlungszentrierten“ Strafverfahren aber nicht geopfert werden. Die Trennung der Verfahrenstypen fordert eine auch prozessual abgesicherte Grenze.
204 Anders aber der Vorschlag zur Integrierung des Konsensprinzips von Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren, S. 268 ff., nach dem sich das Konsensprinzip auch auf die Hauptverhandlung auswirken könnte. Die Probleme eines solchen „Normalverfahrens‘ mit Bestandteilen des Konsensprinzips“ sind nach diesem Vorschlag „eher praktischer Natur“. Eine etwaige „unberechtigte Koppelung“, die das Prozessverhalten des Angeklagten zum „Verhandlungsgegenstand“ machen und „Strafrabatt als Gegenleistung für entsprechende Verfahrenskürzungen“ anbieten könnte, müsse freilich nicht dazu zwingen, „im Interesse einer perfekten Mißbrauchsprävention jegliche prozessuale Dispositionsspielräume von vornherein zu versagen“.
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Kap. 4: Das patteggiamento als Modell für eine kodifizierte Absprache?
aa) Der Antrag am Schluss des Ermittlungsverfahrens Gelegenheiten zu konsensorientierten Gesprächen können sich in unterschiedlichen Verfahrensstadien ergeben. Zeichnen sich konsensuale Impulse bereits im Ermittlungsverfahren ab, so spricht nichts dagegen, das italienische Modell insoweit aufzugreifen, als konsensuale Anträge bereits in diesem Verfahrensstadium zugelassen werden können. Zunächst ist daher an eine Möglichkeit nach dem Muster des im Entwurf der Bundesregierung zum OpferRG vorgesehenen § 160a StPO205 zu denken, nach Abschluss der Ermittlungen unter Beteiligung des Beschuldigten ein Schlussgespräch durchzuführen, das durch die Stellung eines Antrags auf Strafverhängung in das verfahrensbeendende Zwischenverfahren führen kann206. Wenn das Zwischenverfahren durch einen gemeinsamen Antrag am Ende des Ermittlungsverfahrens eingeleitet wird, dann muss der Antrag den formellen Anforderungen einer Anklagevorschrift genügen, und liefert dann selbst die erforderliche Tatsachengrundlage207. Wird ein einseitiger Antrag gestellt und erfolgt die Zustimmung, so liegt hierin entsprechend eine Anklageerhebung. Konsensualantrag und Anklageerhebung fallen dann zusammen. Nur soll nach dem hier entwickelten Modell nicht in einer ad hoc-Verhandlung, sondern in einer öffentlichen Zwischenverhandlung über die Anträge entschieden werden. Der Anhörungstermin nach dem Modell des § 160a StPO des Reformentwurfes zum OpferRG kann so der Anbahnung eines Konsensualantrags dienen. Der Anhörungstermin wird dann gewissermaßen zu einem zweiseitgen Sondierungsgespräch im Hinblick auf die Möglichkeiten einer konsensualen Verfahrenserledigung; im Falle gegenseitiger konsensorientierter Kooperationsbereitschaft kann der Anhörungstermin dazu führen, dass die Parteien einen gemeinsamen Antrag auf Strafverhängung stellen. Das Ermittlungsverfahren findet dann in einer konsensualen Tatsachenfeststellung sein Ende. Der im Ermittlungsverfahren gestellte Konsensualantrag ist hier aber anders als im italienischen Modell nicht an den Ermittlungsrichter zu richten. Denn durch die Antragstellung käme es zur Einleitung des Zwischenverfahrens, so dass über den Antrag im Rahmen der Zwischenverhandlung entschieden würde und entsprechend auch der Ermittlungsrichter nicht mehr zuständig wäre. 205
Vgl. hierzu oben Fn. 143. Bogner, S. 265, argumentiert gegen die Anwendbarkeit einer dem patteggiamento entsprechenden Regelung bereits im Ermittlungsverfahren wegen des Erfordernisses einer möglichst „umfassenden Entscheidungsgrundlage“. 207 Entsprechend forderte Macchia, Il patteggiamento, S. 82, für die italienische Lösung eines Antrags im Ermittlungsverfahren nach Art. 447 c.p.p., dass der Antrag von einer Anklageschrift begleitet sein müsse, weil andernfalls die Erfordernisses des Art. 405 c.p.p., der den Abschluss der Ermittlungen durch Anklageerhebung regelt, nicht erfüllt würden. 206
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Am Erfordernis einer mündlichen Verhandlung zur Überprüfung des Antrags ist festzuhalten, da nur so eine unmittelbare Kontrolle des Verfahrens der konsensualen Entscheidungsfindung durch das Gericht gewährleistet werden kann. Zudem kann nur so der Öffentlichkeitsgrundsatz gewahrt werden. Die Zwischenverhandlung muss nach dem hier gezeichneten Modell nämlich öffentlich sein, da es bereits in diesem Verfahrensstadium zu Verfahrenserledigungen durch Schuldurteil und nicht etwa nur zu Opportunitätseinstellungen kommen kann.
bb) Der Antrag im Zwischenverfahren Wenn der Antrag erst im Zwischenverfahren gestellt wird, bezieht sich das beantragte Strafmaß entweder auf die von der Staatsanwaltschaft erhobene Anklage – so das italienische Modell – oder nach abweichender Sachverhaltsfeststellung in kontradiktorischer, mündlicher Verhandlung im Zwischenverfahren auf einer entpsrechend geänderten Anklage. Da die Anklage bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens noch nicht rechtshängig ist und dementsprechend zurückgenommen werden kann, ist es durchaus möglich, dass der Anhörungstermin noch Auswirkungen auf den Tatvorwurf hat. Was heute schon gängige Praxis ist, nämlich das Absprechen einiger Anklagepunkte, würde so aus einer verdächtigen Grauzone in die Öffentlichkeit einer transparenten Verhandlung geholt. In einem Antrag auf Strafverhängung muss entweder ausdrücklich Bezug auf die Anklage genommen werden, dann macht sich der Antrag die Tatsachengrundlage der Anklage zu eigen. Oder der Antrag wird beidseitig auf veränderter Tatsachengrundlage gestellt, dann muss dieser den Anforderungen an eine Anklageschrift genügen und in dem Antrag liegt dann die Rücknahme der ursprünglichen Anklageschrift. Im Ergebnis dient die Zwischenverhandlung nach dem zu entwerfenden Modell zweierlei Funktionen: zum einen kann über die Eröffnung der Hauptverhandlung entschieden werden und zum anderen kann das Verfahren einvernehmlich zu Ende geführt werden. Die Hauptverhandlung wird dann zur streitigen Suche nach der „forensischen Wahrheit“ unter dem Schutz sämtlicher Verfahrensgarantien. Neben die bereits geltenden Opportunitätsvorschriften tritt so die Möglichkeit der Verfahrensbeendigung durch einen „Konsensualantrag“.
d) Die gerichtliche Entscheidung im Zwischenverfahren Dass die Rolle des Gerichts und insbesondere seine Prüfungskompetenzen eines der zentralen Probleme der italienischen Regelung darstellen, ist hier auf die „Halbherzigkeit“ der italienischen Reform zurückgeführt worden. Daher gilt es in einer Reform, die sich der Kodifizierung der Absprachen über die Legiti-
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Kap. 4: Das patteggiamento als Modell für eine kodifizierte Absprache?
mierung des Konsensprinzips nähern will, die Rolle des Gerichts mit dem Grundsatz der Parteiendisposition offen in Einklang zu bringen. aa) Prüfungsmaßstab des Gerichts Auf der Grundlage des Konsensprinzips sollte das Gericht in der Prüfung des Antrags auf eine rechtliche Würdigung beschränkt sein. Denn in der Sache geht es hierbei nur um eine Schlüssigkeitsprüfung der Einigung, nicht um einen Abgleich mit der Aktenlage208. Genau in diesem Aspekt trat die Widersprüchlichkeit der italienischen Lösung eklatant in Erscheinung209. Das Gericht ist somit auf eine rechtliche Prüfung zu beschränken. Was in den informellen Absprachen schon lang praktiziert wird, nämlich dass die Tatsachengrundlage gerade nicht erschöpfend überprüft wird, sollte nun auch von Gesetzes wegen zugestanden werden. Da sich entsprechend der Grundlegung der Konsens als eigenständige Legitimierungsgröße etablieren lässt, ist es nur folgerichtig die Prüfungskompetenzen des Gerichts in der Wertung des konsensualen Antrags deutlich zu begrenzen. Das Gericht kann den Antrag annehmen, dann verkündet es ein dem Antrag entsprechendes Urteil und verweist darin ausdrücklich auf die konsensuale Entscheidungsgrundlage. Das Gericht lehnt den Antrag hingegen ab, wenn es die rechtliche Würdigung der Tat für unzutreffend oder die Strafzumessung nicht mehr für angemessen hält. Diese Prüfungskompetenz ist Ausfluss der Grenze der Dispositionsbefugnis und an den unverfügbaren Teil des staatlichen Strafanspruchs gebunden. Die Ablehnung eines Antrags muss in Form eines begründeten Beschlusses ergehen, gegen welchen den Parteien die Möglichkeit eines Rechtsbehelfes bleiben muss. Nicht vereinbar mit dem zu entwerfenden konsensualen Modell wäre es, dem Gericht die Möglichkeit einer Modifizierung des Antrags zu belassen. Vielmehr ist der Antrag nur vollständig anzunehmen oder in toto abzulehnen. Um der Antinomie des italienischen Modells, nämlich der Verbindung des Prinzips der materiellen Wahrheit mit dem Konsensprinzip in der einvernehmlichen Verfahrensbeendigung, zu entgehen, ist eine über die dort gefundene 208 Zu dem in der amerikanischen Diskussion parallel zur italienischen Lösung eines Abgleichs mit der Aktenlage verlaufenden Problem, dass systemwidrigerweise die Überprüfung der factual basis im plea bargaining gefordert wird, siehe Trüg, S. 179, der darauf hinweist, dass in der Verfahrenswirklichkeit vom „Fehlen einer tatsächlichen gerichtlichen Kontrolle“ auszugehen ist, da noch nicht einmal eine „summarische Prüfung“ durchgeführt werde; anders aber Bickel, S. 167 ff. Zum Erfordernis der Überprüfung der „factual basis“ merkt K. Dreher, S. 125, an, dass „lediglich der exakte Inhalt eines guilty plea klargestellt werden und Gewissheit darüber bestehen“ soll, „dass die Bekenntnisse des Beschuldigten mit dem angeklagten Delikt tatsächlich korrelieren“. 209 Vgl. oben Kapitel 3, IV. 5.
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Regelung hinausgehende Lösung geboten. Gerade das Erfordernis der Parteienautonomie in der Konsensfindung fordert die Möglichkeit der Überprüfung der Freiwilligkeit, wie sie auch in der italienischen Regelung vorgesehen ist, Art. 446 Abs. 5 c.p.p. Das Gericht hat sich in mündlicher Verhandlung davon zu überzeugen, dass die Entscheidung des Angeschuldigten für eine konsensuale Verfahrensbeendigung freiverantwortlich ergangen ist. Das Erscheinen des Beschuldigten ist somit als unbedingt erforderlich zu formalisieren210. Erscheint der Beschuldigte nicht, ist der Antrag zurückzuweisen. In der italienischen Regelung ist von dieser Voraussetzung abgesehen worden und die gerichtliche Anordnung des persönlichen Erscheinens eine Ermessensentscheidung. Diese Normierung erklärt sich nur vor dem Hintergrund der beim Gericht verbleibenden Kompetenz, die Einigung auch anhand der Aktenlage zu prüfen. Je stärker aber der dispositive Charakter der Regelung in den Vordergrund tritt, umso wichtiger wird die gerichtliche Überprüfung der verfahrensrechtlichen Einbindung des Beschuldigten in die Konsensfindung, so dass die Anwesenheit des Beschuldigten in der Verhandlung unbedingt gewährleistet muss. Das Gericht ist somit an den Antrag der Parteien in tatsächlicher Hinsicht zu binden211. Es entscheidet entsprechend der Dispositionsbefugnis nur auf Grundlage der Übereinkunft212. 210 Die Strafverteidigervereinigung hat in ihrer Stellungnahme zum Entwurf, die in den Ergebnissen des 28. Strafverteidigertages 2004 veröffentlich ist, StV 2004, 290, 292, insbesondere kritisiert, dass die Anhörungstermine nicht formalisiert sind und die Anwesenheit des Beschuldigten nicht erforderlich sein soll. 211 Anders der Vorschlag von Bogner, S. 256 ff., der die Bindung des Gerichts an den Antrag entsprechend der italienischen Regelung von einer Beurteilung der tatsächlichen Umstände nach Stand der Aktenlage abhängig machen will und zudem eine dem § 408 Abs. 3 S. 2 StPO vergleichbare Regelung einführen will. Diese Lösung ist vor dem Hintergrund, dass Bogner sein konsensuales Modell ohne jegliche Einbußen für das Prinzip der materiellen Wahrheit in die geltende Prozessordnung integrieren will, nur konsequent. 212 In dem satirischen Gesetzesvorschlag von Rönnau/Wagner, GA 2001, 387, 390, ist eine entsprechende Regelung als Ergänzung zu § 261 StPO vorgesehen. Was die Autoren noch als überzogenen, nur ironisch einzubringenden Vorschlag qualifizierten, wird hier als einzig ehrliche konsequente Umsetzung einer Absprachenkodifizierung vorgestellt; in einem Beitrag von 2002, Festschrift für Heinz Gössel, S. 585, 591, hat Wagner, nachdem der satirische Charakter des Modells in der wissenschaftlichen Diskussion weitgehend verkannt worden ist, nunmehr klargestellt, dass auch in allem Ernste eine Verfahrensordnung für Absprachen für eine gewollte Beschränkung des Verfahrensstoffes „die Dispositionsmaxime zugrunde legen“ muss und „der Schuldspruch ausschließlich Ergebnis des Absprache“ sein kann. Allerdings relativiert Wagner die zugestandene Disposition insoweit, als ein Geständnis nach wie vor auf seine Glaubwürdigkeit überprüft werden müsse, da auch im einvernehmlichen Verfahren an der materiellen Wahrheit festgehalten werden müsse (S. 594). Dispositionsmaxime hinsichtlich des Verfahrensstoffes und Überprüfbarkeit des Geständnisses sind indessen nicht kompatibel. An diesem Punkt verlieren sich auch die „strukturellen Vorschläge für ein konsensuales Verfahren“ von Steinhögl, S. 167, 170, in den in der vorliegenden Arbeit immer wieder herausgestellten Widersprüchlichkeiten: Dort, wo die Anerken-
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Als eine verfahrensrechtliche Missbrauchskautele ist jedoch eine der italienischen Regelung entsprechende Vorschrift vorzusehen, nach der das Gericht in einer ersten Phase der Antragsprüfung von Amts festzustellen zu hat, ob auf Grundlage der Akten ein Freispruch auszusprechen wäre. Eine derartige Prüfung läuft zwar dem konsensualen Charakter der Einigung als Entscheidungsgrundlage zuwider, liefert aber ein notwendiges Korrektiv zum Schutz des Beschuldigten. Der gerichtlichen Überprüfung kann nicht entzogen werden, ob sich ein Beschuldigter offensichtlich „grundlos“ in ein konsensuales Verfahren hat drängen lassen, das in einem womöglich kollusiven Zusammenwirken der eigentlich antagonistische Kräfte gewissermaßen über seinen Kopf hinweg entschieden worden ist. Auf diesem Weg soll durch die gerichtliche Überprüfung vermieden werden, dass konsensuale Verfahren dort eingeschlagen werden, wo der Ermittlungsstand einen hinreichenden Tatverdacht nicht begründet. Auch die Einstellung des Verfahrens wegen Vorliegens eines Prozesshindernisses muss weiterhin in der vorgeschalteten „Negativprüfung“ möglich sein. In diesen Fällen einer „Freispruchskontrolle“ wird die konsensuale Entscheidung gewissermaßen auf ihre Geschäftsgrundlage überprüft. Freilich wird die grundsätzlich antagonistische Interessenlage in einem Strafverfahren den Anwendungsbereich dieser gesetzlichen Kautelen äußerst gering halten; eine derartige Einschränkung ist aber als einem dem materialen Gerechtigkeitsverständnis verpflichteter Schutzmechanismus für den Beschuldigten erforderlich213. Ein unverfügbarer Kern der Kontrolle in diesem Sinn ist als Ausprägung einer gerichtlichen Fürsorgepflicht zu verstehen, von der es auch im konsensualen Verfahren nicht vollends suspendiert werden kann214. bb) Die Bindung an den Antrag Grundsätzlich ist das Gericht in der zweiten Prüfungsphase an den Antrag der Parteien zu binden. In dieser strikten Forderung ist das italienische Modell konsequent und überzeugend. Das bedeutet, dass dem Gericht nur die Entscheidung darüber verbleibt, ob es den Antrag annehmen oder aber diesen ablehnen und das Verfahren somit in den status quo ante zurückführen will. Nach dem hier zu entwickelnden Modell muss das Gericht in der zweiten Prüfungsphase in tatsächlicher Hinsicht an den von den Parteien unterbreiteten nung der formellen Wahrheit im Konsens gefordert wird, wird dennoch eine Überprüfung der Tatsachengrundlage durch das Gericht gefordert. 213 Vgl. zu der Rückführung der Negativprüfung des Art. 129 c.p.p. auf das „höhere Erfordernis materieller Gerechtigkeit“ die Entscheidung der sezioni unite des Kassationsgerichtshofes, Cass. pen. sez. un., 25. November 1998, Cass. pen. 1999, 1746, 1749. 214 Vgl. zur rudimentären Prüfung der factual basis und deren Anbindung an die staatliche „Fürsorgepflicht“ auch Trüg, S. 172.
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Sachverhalt gebunden bleiben. Führt also das konsensuale Verfahren zum Erfolg, so ist eine weitere Aufklärung der Tatsachengrundlage entbehrlich215. Der Antrag ist aber entsprechend abzulehnen und freizusprechen, wenn auf der Grundlage des konsensual festgestellten Sachverhalts der Beschuldigte schon aus Rechtsgründen nicht strafbar wäre. Ebenso hat das Gericht den Antrag abzulehnen, wenn seine rechtliche Würdigung zur Strafbarkeit aus einem anderen Tatbestand gelangt. Ein richterlicher Hinweis kann hier nicht genügen, da Entscheidungsgrundlage der Konsens auch in Bezug auf die rechtliche Wertung der Tat ist. Ebenso kann der Antrag aus abweichenden Strafzumessungserwägungen abgelehnt werden. Die Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichts, die die Regelung insoweit für verfassungswidrig erklärte, als sie dem Gericht nicht die Möglichkeit ließ, eine eigene Prüfung der Angemessenheit der Strafe vorzunehmen, ist zu berücksichtigen. Strafzumessung ist Teil der rechtlichen Würdigung und damit essentieller Bestandteil der Rechtsprechungstätigkeit und somit der Disposition der Parteien entzogen216. e) Widerspruch des Verletzten gegen den Konsensualantrag bei schweren Delikten gegen Leib, Leben und Freiheit In der Grundlegung ist der Konsens als eigenständige Legitimierungsgröße für strafrechtliche Sanktionierung etabliert, diese Legitimierung aber nicht als eine uneingeschränkte verstanden worden. Als Grenzen der Disposition über den Verfahrensgegenstand sind bereits der staatliche Strafanspruch und die Interessen des Opfers bei der Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter, nämlich Leib, Leben und Freiheit, herausgehoben worden. Damit der Konsens im Bereich schwer wiegender Verletzungen höchster persönlicher Rechtsgüter legitimierend wirken kann, ist erforderlich, dass die Kommunikationssituation des Verfahrens den in diesem Bereich an Bedeutung gewinnenden Genugtuungsinteressen Rechnung trägt. Daher ist derjenige, der reklamiert, Verletzter der Tat zu sein, in diesen Fällen in die Kommunikation einzubeziehen. Zwar kann die Kommunikationssituation auch in den übrigen Fällen theoretisch den Verletzten einschließen und so zu Wiedergutmachungsversuchen beitragen. Eine formalisierte Beteiligung des Verletzten brächte aber schon strukturell die bilateralen Verhandlungen aus dem Gleichgewicht. Die Durchführung konsensualer Verfahrenserledigung darf daher nicht grundsätzlich von der Zustimmung des mutmaßlichen Opfers abhängig gemacht werden. Denn auf diese 215 So fordert auch Braun, StraFo 2001, 77, 80, dass mit Abschluss eines erfoglreichen „Kooperationsverfahrens“ „eine weitere Aufklärung der der Absprache unterworfenen Tatbestände hinfällig geworden ist und bzgl. dieser Tatbestände das Abspracheergebnis die Grundlage für die das Verfahren beendende Entscheidung darstellt“. 216 Vgl. hierzu die Herleitung aus dem Gedanken des Unverfügbaren im Strafverfahren oben Kap. 4 III. 3. b).
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Weise würde dem Vergeltungsbedürfnis des Betroffenen Vorrang vor den Resozialisierungsinteressen der Allgemeinheit eingeräumt217. Zahlreiche Ansätze wollen materielle Grenzen für Absprachen bestimmen und schließen eine konsensuale Beendigung jenseits dieser Grenzen aus218. Vom Nichtvorliegen eines Widerspruchs des Opfers wird die Absprache dann nicht mehr abhängig gemacht219, weil die materiellen Grenzen die einvernehmliche Verfahrensbeendigung mit etwaig kollidierenden schwerwiegenden Opferinteressen vereinbaren soll. Entscheidend ist in diesen Vorschlägen materieller Grenzen für eine einvernehmliche Verfahrensbeendigung die Vorstellung, dass jenseits eines gewissen Unrechtsgrades der staatliche Strafanspruch jeglicher Dispositionsbefugnis entzogen sein sollte. Der hier vertretene Ansatz ist demgegenüber prozessual geprägt insofern, als die Dispositionsbefugnis auch in Fällen schwerster Rechtsgutsverletzungen nicht absolut ausgeschlossen werden soll, sondern die Frage der Verfügbarkeit mit der verfahrensrechtlichen Kommunikationssituation verknüpft werden soll. Der prozedurale Ansatz wird im Sinne der Grundlegung dann dergestalt an den materialen Gerechtigkeitsgehalt gebunden, dass die Verletzung der höchsten Rechtsgüter, wie des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit und der Freiheit den „Kernbereich“ materiellen Unrechts betrifft und sich daher mit einer einver217 Die Tendenz zu einem derartigen Vorrang sieht Roxin, Strafverfahrensrecht, § 61 Rn. 2, bereits durch die „einseitige Stärkung der Nebenkläger- und Verletztenposition“ verwirklicht. Der „kriminalpolitische Rückschritt“ dieser systemfremden Gewichtung hätte sich dadurch vermeiden lassen, „wenn man den Verletzten im Hinblick auf die Strafe des Täters in eine zurückhaltendere Rolle verwiesen und statt dessen seinen Wiedergutmachungsinteressen, die für ihn ohnehin im Vordergrund stehen, einen höheren Stellenwert zugewiesen hätte.“ Nach der hier vertretenen Trennung des konsensualen und konfrontativen Verfahrens sollen zwar die Wiedergutmachungsinteressen nicht ausgeblendet, jedoch als ein eigenständiger, nicht notwendig mit dem konsensualen Verfahren verbundener Teilaspekt der Konfliktverarbeitung gewertet werden. Nicht etwa soll das konsensuale Verfahren zwingend an eine Wiedergutmachung gebunden werden. 218 Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren, S. 297, z. B. bietet als Lösung einen materiellen Straftatenkatalog an „oder eine Orientierung etwa an §§ 74, 74a GVG oder z. B. am § 138 StGB“; nach Kuckein/Pfister, Festschrift aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens des BGH, S. 641, 652, eignen sich Gewaltverbrechen „grundsätzlich nicht zur Erledigung durch verfahrensbeendende Vereinbarung“; Wagner, in: Festschrift für Karl Heinz Gössel, S. 585, 597, will das einvernehmliche Verfahren auf Vergehen und die Fälle beschränken, in denen eine höhere Strafe als zwei Jahre Freiheitsentzug nicht zu erwarten ist; Bogner, S. 167, hingegen will die Übertragung der italienischen Regelung auf – vor Abzug der Minderung – zu erwartende Strafrahmen von sechs Jahren vorsehen. 219 Braun, a. a. O., S. 292, will aber über eine „Beteiligung des Verletzten nachdenken“ und bekräftigt diese Auffassung in StraFo 2001, 77, 81, „insbesondere in Bereichen, in denen das Opfer persönlich oder z. B. körperlich geschädigt wurde“; auch Schmidt-Hieber, Die Verständigung im Strafverfahren, S. 93, hatte schon die Beteiligung des Verletzten an der Verständigung zumindest in den Fällen gefordert, in denen die StPO ihm eine eigene Rechtsstellung zuweist.
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nehmlichen Erledigung nur dann vereinbaren lässt, wenn die Kommunikationssituation die persönlichen Genugtuungsinteressen des Opfers einschließt und dieses sich der Einigung nicht widersetzt220. Wenn eine Beteiligung des Opfers an Verständigungen im Strafverfahren erwogen wird, so wird dies meist auf den Nebenkläger beschränkt221. Auch darin klingt der Gedanke an, dass die Beteiligung besonders dort gefordert ist, wo es um die Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter geht. Das Opfer muss in Fällen schwerer Delikte gegen Leib und Leben seine Zeugenstellung zurückerlangen, die Ausfluss einer Verpflichtung auf die Wahrheit ist, die in der Interessenabwägung hier wieder hervortritt. Verzichtet das Opfer auf seine Zeugenstellung, so verzichtet es auf sein Widerspruchsrecht. f) Sicherung des Übergangs vom kooperativen in das konfrontative Verfahren Will man konsensuales und konfrontatives Verfahren strikt und auch methodisch voneinander trennen, so wird besonders wichtig, wie ein etwaiger Übergang vom einvernehmlichen ins streitige Verfahren gesichert werden kann. Es liegt in der Natur einer jeden Konsensfindung, dass dieser Prozess auch scheitern kann. Da sich der Beschuldigte bzw. Angeklagte im Strafprozess aber strukturell in einer schwachen Position befindet und sich mit der Wahl für ein einvernehmliches Verfahren weitenteils der schützenden Garantien der Prozessordnung begibt, ist das Augenmerk besonders auf die Frage zu richten, wie der Übergang ins streitige Verfahren effektiv abgesichert werden. Einige der hierfür relevanten Aspekte sind bereits angesprochen. Grundsätzliche Voraussetzung der Aufteilung in konsensuale und konfrontative Verfahren ist die Trennung der Spruchköper. „Kooperations- und Einlassungsbereitschaft des Beschuldigten in den alternativen Verfahrensarten und Verfahrensformen müssen nach jeder Rückkehr in das Normalverfahren wirksam gegenüber Schweigerecht und Einlassungsfreiheit abgeschirmt werden“222. Einige Ansatzpunkte für in diesem 220
Im Falle vollendeter Tötungsdelikte müssen die Befugnisse in Übertragung des Rechtsgedanken der Nebenklageberechtigten auch für die Hinterbliebenen gelten. 221 So z. B. Löwe-Rosenberg/Rieß, Einl. Abschn. G, Rn. 80; Eckpunktepapier zur Strafprozessreform, Punkt 5, StV 2001, 314, 315; das Papier sieht die Beteiligung des Nebenklägers allerdings erst im Erörterungstermin des Zwischenverfahrens vor; so auch die Begründung zum Entwurf des OpferRG, (BT-Drs. 15/1976), S. 11; der AEEV hingegen will den nebenklageberechtigten Verletzten bereits am Schlussgespräch im Vorverfahren beteiligen, § 169c. 222 Rieß, in: Alternativen zur Strafjustiz und die Garantie individueller Rechte des Betroffenen, S. 161, 171, der diese Schutzvorkehrungen in Zusammenhang sowohl auf Alternativen außerhalb als auch innerhalb der Strafjustiz bezieht; für den „Übergang‘ in einen alternativen Verfahrensgang innerhalb der Strafjustiz“ schlägt Rieß u. a. folgende Leitlinien vor: – „der Erhebung der öffentlichen Klage im Wesentlichen gleich-
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Sinne geforderte verfahrensrechtliche Schutzmechanismen sollen im Folgenden dargelegt werden. aa) Der Antrag als Prozesserklärung Das Einlassen auf die Absprache, hier also das Stellen des Antrags auf Strafverhängung oder die Zustimmung zu einem solchen, darf keinen Geständniswert haben, sondern hat sich auf das „Nicht-Bestreiten“ der Vorwürfe zu beschränken223, sodass im konsensualen Modell der formelle Charakter der Tatsachengrundlage auch auf diese Art unterstrichen wird. Nicht deutlich genug kann hervorgehoben werden, dass es in diesem Konsensmodell gerade nicht um die Ablegung eines materiellen Geständnisses gehen kann, sondern dass entscheidendes Merkmal eines Antrags auf Strafverhängung gerade der prozessuale Verfügungscharakter der Erklärung sein muss224. Unter formellen Gesichtspunkten muss der Antrag so konkret wie eine Anklage formuliert sein, sodass die Feststellungen im Urteil deckungsgleich mit dem Antrag sind und damit der Umfang der Rechtskraft und der Strafklageverbrauch bestimmt sind. Die so gestaltete Prozesserklärung stellt anders als das gegebenenfalls materiellrechtlich strafmildernde Geständnis eine Verfahrenshandlung mit förmlicher Wirkung auf den Verfahrensablauf dar. Somit ließe sich von einer „verfahrenslenkenden Erklärung“ sprechen, die als „Prozesshandlung“ zu qualifizieren wäre225. Damit untrennbar verbunden ist die Relativierung der Überprüfung der Tatsachenbasis. Wird die Prozesserklärung zur Grundlage des Urteils, so hat sich die Überprüfung des Antrags nach einer anfänglichen „Negativkontrolle“ zur Frage eines etwaigen Freispruchs auf die Schlüssigkeit desselben zu beschränken und gerade keinen außerprozessualen Bezugspunkt zuzulassen. Schon dogmatisch hat das Einlassen, wenn man vom Ziel der materiellen Wahrheitsfindung im konsensualen Verfahren absieht, keinen Geständnischarakter. Es handelt sich hierbei um eine grundsätzlich andere Form der Einlassung, stehender Antrag der Staatsanwaltschaft“; – „vorsichtige Lockerung der Bindung des Entscheidungsgegenstandes an die ,angeklagte‘ Tat“, – „Verzicht auf das Eröffnungsverfahren“, S. 170; Wagner, in: Festschrift für Heinz Gössel, S. 585, 601, will eine Absicherung des Übergangs ins streitige Verfahren u. a. dadurch erreichen, dass das Gericht an die Strafmaßobergrenze auch im sich anschließenden konfrontativen Verfahren gebunden sein soll. 223 Für das nolo contendere-Modell auch der Vorschlag des DAV, AnwBl. 2001, 30, 41; für die Entbehrlichkeit eines Geständnisses bei Verständigung im „Schlussgespräch des Ermittlungsverfahrens“ auch der AE-EV, § 169e. 224 Für die Vorzugswürdigkeit eines Verfügungsmodells gegenüber dem in Deutschland in der Praxis vorherrschenden Geständnismodell schon Schünemann, Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, S. 152 f. 225 Gegen die Wertung des Geständnisses im Rahmen einer Absprache als „Prozesshandlung“ ausdrücklich Bickel, S. 26.
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nämlich ein rein prozessuales nolo contendere. Der Beschuldigte gibt durch den Antrag lediglich eine Erklärung ab, dass er sich nicht konfrontativ verteidigen wolle226. Kritisiert werden kann in diesem Zusammenhang freilich die Gefahr der Verurteilung solcher Beschuldigter, die die angeklagte Tat tatsächlich nicht begangen haben, sich aber, aus welchen Gründen auch immer, für die Abgabe einer entsprechenden Prozesserklärung entscheiden. Einem offenkundigen Missbrauch des Konsensprinzips als Entscheidungsgrundlage soll durch die „Freispruchprüfung“ durch das Gericht begegegnet werden. Wo diese negativ ausfällt, folgt die Legitimierung derartiger Prozesserklärungen als Urteilsgrundlage aber aus der Rechtsfrieden schaffenden Funktion des Konsenses, die ihrerseits die Eigenverantwortlichkeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Entscheidendes Kriterium wird somit nicht mehr die Entsprechung der angeklagten mit der „tatsächlichen“ Tat, sondern die Eigenverantwortlichkeit, mit der der Beschuldigte die Prozesserklärung abgibt und sich somit Schuld zuschreiben lässt227. bb) Rechtliche Überprüfung des gescheiterten Antrags Zunächst sind zwei Konstellationen, in denen ein Konsensualantrag scheitern kann, zu unterscheiden. Zum einen kann ein einseitig gestellter Antrag dadurch scheitern, dass die andere Partei die Zustimmung verweigert. Zum anderen kann ein zweiseitig gestellter Antrag durch das Gericht abgelehnt werden, so dass das Verfahren auf diesem Weg nicht konsensual zu Ende geführt werden kann. Lehnt die Staatsanwaltschaft einen vom Beschuldigten gestellten Antrag ab, so hat sie diese Entscheidung zu begründen; die Versagung der Zustimmung muss durch die Beschwerde zum Dienstvorgesetzten anfechtbar sein. Die Ablehnung durch den Beschuldigten sollte indes nicht begründungspflichtig sein, da sie als Ausdruck seiner Verteidigungsstrategie zu werten ist. Wenn ein von dem Angeschuldigten gestellter Antrag abgelehnt wird, so muss er in der Hauptverhandlung nach dem Modell des italienischen Art. 448 c.p.p. erneuerbar sein und das Gericht am Ende der Beweisaufnahme die Möglichkeit haben, der beantragten Strafe zu entsprechen. Der kooperative Beschuldigte ist auf diesem Weg davor zu schützen, dass eine nicht gerechtfertigte Verweigerung der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts der Zwischenverhandlung den prozessualen Strafrabatt unerreichbar macht, obwohl der Beschuldigte eine konsensuale Entscheidung gesucht und angeboten hat. Entscheidungsgrundlage für das Gericht
226 Für eine „wahrheitsneutrale“ Erklärung statt eines Geständnisses auch Steinhögl, S. 151. 227 Für die „Legitimierbarkeit der Absprachen in der Betonung der Eigenverantwortlichkeit“ auch Steinhögl, S. 154, die zu dem entsprechenden Schluss kommt: „Es wird kein Unschuldiger, sondern ein eigenverantwortlich Handelnder verurteilt.“
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ist dann nicht mehr der Konsens, sondern die richterliche Überzeugung nach streitig durchgeführter Hauptverhandlung. Ist das Gericht nach umfassender Beweisführung von dem Vorliegen der Tatsachen, die dem Antrag zu Grunde lagen überzeugt, so erkennt es auf die beantragte Strafe. Der Strafrabatt legitimiert sich dann als prozessuales Zumessungskriterium, das der geringeren Zurechnungsschuld entspricht. Wird hingegen ein beidseitig gestellter Antrag abgelehnt, so muss den Parteien bis zu Eröffnung der Hauptverhandlung die Möglichkeit verbleiben, einen neuen, abgeänderten Antrag einzubringen. Die italienische Vorschrift des Art. 448 c.p.p., nach der sich das Gericht über die verweigerte Zustimmung auch am Beginn der Hauptverhandlung hinwegsetzen kann, ist nicht aufzunehmen. Da gerade der Konsens der Prozessgegner zum Legitimierungsmoment der Strafe wird, kann nicht eine gerichtliche Entscheidung den nicht erreichten Konsens kompensieren. Verweigert die Staatsanwaltschaft die Zustimmung, hat der Angeklagte dennoch nicht „vorgeleistet“, da der Antrag in der streitigen Hauptverhandlung keine Wirkung entfaltet. Stellt er den Antrag in der Hauptverhandlung erneut, so erlangt er nunmehr den Beweiswert eines Geständnisses. Ist das Gericht am Ende der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung der Überzeugung, der Antrag ist zu unrecht abgelehnt worden, so hat es in der Strafzumessung die prozessuale Strafmilderung zu berücksichtigen, die im Fall eines Urteils auf Basis des Konsensualantrags Anwendung gefunden hätte. Entscheidungsgrundlage ist dann aber – wohl gemerkt – nicht der Antrag, sondern das Ergebnis der Hauptverhandlung, an deren Ende das Gericht zu der Überzeugung gelangt ist, dass der dem Antrag zugrunde liegende Sachverhalt mit der in der Hauptverhandlung festgestellten „forensischen Wahrheit“ übereinstimmt. Daher wäre mit den Grundsätzen prozessualer Schuldzuschreibung unvereinbar, dem Angeklagten nicht die prozessuale Strafmilderung zukommen zu lassen. Die Ablehnung des Antrags durch das Gericht ist in jedem Fall durch einen begründeten Beschluss zu verkünden. Dieser Beschluss muss durch die Parteien mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar sein. Folglich haben die Parteien dann entweder die Möglichkeit den Beschluss anzufechten oder den Antrag erneut in entsprechend geänderter Form zu stellen228. Somit verbleibt bei den Parteien die Entscheidung, ob sie weiterhin im Wege eines konsensualen Verfah228 Die Möglichkeit wiederholter Antragstellung vor demselben Gericht innerhalb des Fristablaufs für die Anträge auf Strafverhängung sieht auch das italienische Modell vor, vgl. Orlandi, in: Compendio di procedura penale, S. 521, 538; Macchia, Il patteggiamento, S. 85, sieht für den Fall, dass das Gericht einen im Ermittlungsverfahren gestellten Antrag ablehnt, vor, dass das Gericht die Akten an die Staatsanwalt zurücksendet, und das Verfahren in das vorige Stadium zurücktritt. Dies würde bedeuten, dass auch die „konsensuale Anklage“ praktisch rückgängig gemacht würde. Tatsächlich soll hiernach der Staatsanwaltschaft auch die Wiedereröffnung der Ermittlungen möglich bleiben.
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rens vorgehen wollen oder ob aufgrund der ablehnenden Haltung des Gerichts schließlich doch in einer förmlichen Hauptverhandlung entschieden werden soll. Selbstverständlich verliert dann der Antrag für das in der Hauptverhandlung entscheidende Gericht seine Bindungswirkung und der neue, durch das konsensuale Verfahren nicht „vorbelastete Spruchköper“ muss sich dann in einer unmittelbaren Beweisaufnahme eine eigene Überzeugung schaffen. Der konsensuale „Vorlauf“ bleibt somit ohne verwertbaren Einfluss auf die Hauptverhandlung. Die Trennung der Spruchköper unterstreicht zusätzlich die Trennung der Verfahrenstypen. cc) Abtrennung des Verfahrens bei mehreren Beschuldigten und Besorgnis der Befangenheit Wird im konsensualen Verfahren der Konsens zu einem eigenständigen Legitimationsmoment, so versteht sich praktisch von selbst, dass Verfahren gegen solche Mitangeklagte, die konfrontativ verhandeln, abgetrennt werden müssen. Versteht man konsensuales und konfrontatives Verfahren als eigenständige Wege zur Schaffung von Rechtsfrieden mit unterschiedlichen Durchgangszielen, so muss innerhalb eines Verfahrens die Kommunikationssituation gegenüber den einzelnen Angeklagten einheitlich sein. Dass die Kooperation des einen Angeklagten einen etwaig Mitangeklagten belasten kann, bedarf wohl keiner Erläuterung229. Zwar wird angemahnt, das Gericht müsse im Rahmen einer Absprache auf die Belange eines eventuellen Mitangeklagten Rücksicht nehmen230; dass aber die Interessen des Mitangeklagten allein von der Tatsache, dass eine Absprache überhaupt stattfindet und unabhängig von der Rücksichtnahme des Gerichts tangiert werden können, liegt vor allem in der Gefahr der Voreingenommenheit des Gerichts durch die Kooperation des einen Angeklagten zu Lasten des anderen. Eine gesetzliche Regelung müsste sich dieses Aspektes in der Form annehmen, dass die Stellung eines Konsensualantrags im Zwischenverfahren zur Abtrennung des Verfahrens gegen etwaige Mitbeschuldigte führt, die nicht ins konsensuale Verfahren einlenken. Da sich ein erkennendes Gericht schwerlich einer 229 Vgl. grundsätzlich zum Problem des Deals zu Lasten Dritter, Herzog, StV 1999, 455. Einen „vollständigen Rückzug aus der Absprachenpraxis“ im Falle eines Deals zu Lasten Dritter fordern Kargl/Rüdiger, NStZ 2003, 672, 674, da aufgrund der Aufklärungsmaxime der Deal in Fällen widersprüchlicher Einlassungen der Mitbeschuldigten „seine Bedeutung als Instrument schneller Verfahrenserledigung verliere“. 230 Vgl. hierzu auch die Formulierung des BGH-Beschlusses vom 15.1.2003, StV 2003, 264 ff., mit Anm. von Weider, S. 266 = NStZ 2003, 383 ff. mit Anm. von Kargl/Rüdiger, S. 672; hier heißt es: „Bei der Verurteilung eines Angeklagten aufgrund von Geständnissen von Mitangeklagten, die Gegenstand einer verfahrensbeendenden Absprache sind, muß die Glaubhaftigkeit dieser Geständnisse in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise gewürdigt werden“.
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Beeinflussung des Verfahrens gegen die übrigen konfrontativ verhandelnden Angeklagten wird entziehen können, sollte die Abtrennung mit einem gesetzlichen Ausschlussgrund für das erkennende Gericht in Bezug auf das gegen die übrigen Angeklagten durchzuführende Verfahren einhergehen. Die Urteilsgrundlage in einem konsensualen Verfahren beruht gerade nicht auf der aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung erlangten Überzeugung. Der Gefahr, dass ein Gericht durch eine konsensuale Entscheidungsgrundlage auch im Hinblick auf etwaige Mitbeschuldigte voreingenommen wird, ist effektiv und sicher nur durch einen Ausschlussgrund zu begegnen231. Im Ergebnis muss eine gesetzliche Regelung dafür Sorge tragen, dass die konsensuale Verfahrensführung des einen Angeklagten dem konfrontativ Verhandelnden nicht das Recht auf einen unvoreingenommenen Spruchköper nimmt. Dementsprechend ist an eine zwingende Abtrennung und eine respektive Ergänzung der Ausschlussregeln zu denken. g) Eingeschränkte Anfechtbarkeit der konsensualen Entscheidung Wenn nicht der Inbegriff einer streitigen Hauptverhandlung zur Tat- und Schuldfrage die Grundlage des Urteils darstellt, sondern dieses vielmehr auf der Einigung der Parteien beruht, dann liegt es in der Natur dieses Verfahrens, dass auch die Anfechtungsmöglichkeiten anderen Grundsätzen folgen müssen als im konfrontativ geführten Verfahren. Von besonderer Bedeutung für die Normierung eines einvernehmlichen Verfahrens ist die Transparenz der Annäherungsphase232. Diese muss für eine Anfechtung der Einigung gewährleistet sein. Die konsensuale Struktur der Tatsachenfeststellung im einvernehmlichen Verfahren macht die Berufungsinstanz nicht nur entbehrlich, sondern für diesen Verfahrenstyp geradezu systemwidrig233. Aus der Verfahrensstruktur folgt ferner eine Begrenzung der Revisibilität der Entscheidung in der Form, dass nur solche Verfahrensfehler gerügt werden können, die gerade den Prozess der Konsensfindung betreffen234. Nicht das Ergebnis des Konsenses kann im Rahmen einer revisionsgerichtlichen Kontrolle angefochten werden, wohl aber muss die Ver231 In der italienischen Diskussion ist für dieses Problem viel Sensibilität bewiesen worden, vgl. oben Kapitel 3 IV. 2. d). 232 Vgl. Salditt, ZStW 115 (2003), 570, 579. 233 Verfassungsrechtliche Bedenken ergeben sich diesbezüglich nicht, da das Grundgesetz ebenso wenig wie die italienische Verfassung einen Instanzenzug gewährleistet. 234 Braun, StraFo 2001, 77, 82, will der besonderen Natur des Verfahrens druch die Einführung folgender Vorschrift Rechnung tragen: „Ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung im Kooperationsverfahren ist nur insoweit zulässig, als damit die Verletzung gerade dieses Verfahren betreffender Vorschriften gerügt wird.“ Für einen zu erwägenden Ausschluss der Aufklärungsrüge „mit Blick auf die Besonderheiten des Abspracheverfahrens, etwa unter dem Gesichtspunkt widersprüchlichen Verhaltens“ vgl. auch BGH GSSt 1/04, S. 18.
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letzung formellen Rechts, das die Ausgestaltung des konsensualen Verfahrens betrifft, gerügt werden können. Denn die verfahrensgerechte Gewährleistung der Annäherungsphase auf dem Weg zum Konsens ist entscheidendes Kriterium für die Gerechtigkeit der erzielten Entscheidung. Folglich kann das Urteil nicht über eine Aufklärungsrüge zu Fall gebracht werden, da dieses Rechtsmittel schon konzeptionell dem konfrontativen Verfahren vorbehalten sein muss. Solche Willensmängel hingegen, die die Freiwilligkeit der Verantwortungsübernahme tangieren, müssen überprüfbar bleiben. Auf die eingeschränkten Anfechtungsmöglichkeiten ist der Beschuldigte gesondert hinzuweisen235. Dies bedeutet im Ergebnis, dass das Verfahren der Konsensfindung, nicht aber der Inhalt der erreichten Übereinkunft angreifbar bleibt. Nur die Lösung, dass nicht das Ergebnis der Absprache als solche rechtlich überprüft werden soll, sondern vielmehr, die verfahrensrechtliche Situation, in der das Einverständnis zustande gekommen und die Prozesserklärung abgegeben ist, wird der Natur der einvernehmlichen Verfahrensbeendigung auf der Grundlage ders Konsensprinzips gerecht. 5. Schlussbetrachtung Die Analyse der rechtspolitischen Problematik strafprozessualer Absprachen hat sich auf drei Ebenen zu behaupten: Grundlegend ist die Frage, ob ein Strafprozess überhaupt auf Absprachenbasis geführt werden kann; auf einer zweiten Stufe gilt es, rechtliche Garantien für die Qualität der Absprachenbasis zu entwickeln und auf der dritten Ebene müssen solche verfahrensrechtliche Kautelen entwickelt werden, die in dem Absprachegeschehen selbst unerlässlich sind236.
235 Für einen gesonderten Hinweis auch der Vorschlag Wagners, in: Festschrift für Karl Heinz Gössel, S. 585, 601, zur Beschränkung der Anfechtbarkeit in seinem Modell des „einvernehmlichen Verfahrens“, der aber anders als im hier entworfenen Vorschlag die „Überprüfung des Wahrheitsgehaltes des Eingeständnisses anhand der Akten“ zulässt, und hierüber „die Kontrollmöglichkeit des Revisionsgerichts und damit die Überprüfung, ob das einvernehmliche Verfahren statthaft war“, eröffnen will. Einen außerordentlichen Rechtsbehelf, der nicht an der Rechtskraft scheitert, schlägt Salditt, ZStW 115 (2003), 570, 580, durch die „Einführung einer Anfechtungsbeschwerde“ vor. Hierdurch soll dem Revisionsgericht die Nachprüfung ermöglicht werden, ob das Geständnis auf rechtswidrigem Druck beruhte. Das angerufene Gericht hätte, wenn es dem Antrag stattgibt, die Unverwertbarkeit des Geständnisses und eine neuerliche Hauptverhandlung anzuordnen. Im Ergebnis basiert auch dieser Vorschlag auf der Idee, dass nur das Verfahren, nicht aber der Inhalt des Konsenses anfechtbar bleiben. Weider, in: Festschrift für Lüderssen, S. 773, 782, fordert dagegen eine „qualifizierte Belehrung“ des Angeklagten durch das Gericht, in der er auf sein Recht, auch absprachewidrig Rechtsmittel einzulegen hingewiesen werden muss; so auch im Ergebnis die Entscheidung BGH GSSt 1/04, S. 31. 236 Vgl. zum Erfordernis dieser „dreistufigen rechtspolitischen Analyse“ der Problematik, Schünemann, ZStW 114 (2002), 1, 28.
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Die Untersuchung hat auf der ersten Ebene zu dem Ergebnis geführt, dass das Gerechtigkeitsproblem von der Frage nach der materiellen Wahrheit gelöst werden kann. In dieser Abkoppelung der Idee des Rechtsfriedens vom Postulat der materiellen Wahrheit erfährt das Konsensprinzip seine originäre legitimatorische Wirkung. Dabei muss nicht etwa die Substituierung der Suche nach der „Ergebnisrichtigkeit“ durch das „Konsensprinzip“ ein „hemmungs- und regelloses, geradezu darwinistisch geprägtes ,Aushandeln‘“237 bedeuten. Eine derart apodiktische Kritik an der Belebung des Konsensprinzips auch für das Strafverfahren übergeht den grundsätzlich relationalen Charakter jeder Rechtsfindung. Auch im Strafprozess geht es um den Ausgleich von Interessen; besonders schwierig gestaltet sich dieser Ausgleich aber deshalb, weil sich die durch die Straftat berührten Belange nicht in dem unmittelbaren Prozessverhältnis der Parteien erschöpfen. Da aber auch im Strafprozess Relationen Gegenstand des Verfahrens sind238 – mögen sie auch komplexer sein, als im Zivilverfahren – verwirklicht sich Rechtsfrieden als Ziel des Verfahrens in einem Abwägungsprozess. Dieser Abwägungsprozess kann sich auf zwei selbständige Legitimationsgrundlagen stützen, die entscheidend von der Kommunikationssituation im Verfahren abhängen. Das Konsensprinzip tritt im einvernehmlichen, die Suche nach einer „forensischen Wahrheit“ im konfrontativen Verfahren in den Vordergrund. Wem dieser Schluss zu weit geht, der muss konsequent über einem Großteil der praktizierten Verständigungen den Stab brechen und sich zur metaphysischen Vergeltung als eigentlichem Verfahrensziel bekennen. Auch was die Frage der Qualität der Absprachengrundlage betrifft, ergibt sich nach dieser Untersuchung ein Ergebnis, dass Widerspruch erregen und manchem als bewusste Provokation erscheinen mag. Denn nicht der „Wahrheitsgehalt“ der konsensualen Tatsachengrundlage entscheidet über die Qualität der Absprache, sondern die verfahrensrechtlich zu garantierenden Ausgangspositionen strafprozessualer Kommunikation werden entscheidend für die Legitimierbarkeit einvernehmlicher Verfahrensbeendigungen. Den Verfechtern einer unbedingten Wahrheitspflicht sei hier nur zugestanden, dass sich das Ergebnis einer Absprache nicht vollends von den hermeneutisch begründeten „Vorverständnissen“ materialer Gerechtigkeit lösen wird. Diese Überzeugung ist zum einen dem Vertrauen auf das „selbstregulative Korrektiv“ der Interessenlage 237 So aber die Wertung des Verzichts auf „eine möglichst ,wahrheitsgemäße‘ und ,ergebnisrichtige‘ Beurteilung des Tatverdachts bei Duttge, ZStW 115 (2003), 539, 569, als ein „korrumpiertes Strafrechtssystem“ (vgl. den Begriff bei Moccia, in: Festschrift für Roxin, S. 1487, der die „Korrumpierung“ des Systems allerdings nicht wie Duttge in einer Aufweichung des Prinzips der materiellen Wahrheit, sondern vielmehr in der Erstarkung autoritärer Strukturen und der „Rückkehr zu inquisitorischen Regeln“ sieht, S. 1494). 238 Vgl. hierzu die Grundlegung in Kapitel 1 I. 3. a).
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zwischen den Parteien in einem Strafverfahren geschuldet und zum anderen durch gesetzliche Grenzen der Dispositionsbefugnis normativ abzusichern – da allein Vertrauen nicht reichen kann, wo dem Strafverfahren als zentrale rechtstaatliche Pflicht die Aufgabe zukommt, unverfügbare Schutzfunktionen für den Beschuldigten zu gewährleisten. Die verfahrensrechtlichen Kautelen schließlich, die für das Absprachensystem selbst unerlässlich sind, müssen genau jenem Umstand Rechnung tragen, dass eine Konsensorientierung nur da legitimierend wirken kann, wo der Prozess die auf das Einvernehmen zusteuernde Annäherung transparent gestaltet und von Eigenverantwortlichkeit getragen ist. Eine Reform, die einen Konsensualantrag zulässt, muss somit offen den Gefahren einer jeden Konsensorientierung im Strafverfahren begegnen, insbesondere dem strukturellen Machtgefälle zwischen den Konsensparteien. Leitendes Ziel in der Gestaltung eines alternativen konsensualen Verfahrens muss es daher sein, gesetzliche Vorschriften zu entwickeln, die die Freiwilligkeit der Verantwortungsübernahme gewährleisten und Verstöße gegen die verfahrensrechtlichen Grundsätze der konsensualen Entscheidungsfindung anfechtbar machen. Denn eines kann nicht deutlich genug gesagt werden: Konsens vermag Strafe nur dort zu legitimieren, wo er freiverantwortlich entstanden ist. Andernfalls ist eine Übereinkunft nicht das Ergebnis eines konsensualen Verfahrens sondern ein Akt der Unterwerfung, der nicht wider besseres Wissen in eine Suche nach Wahrheit umgedeutet werden darf. Dass das Absehen von einer Überprüfung der Einigung in tatsächlicher Hinsicht nach den hier entwickelten Leitlinien als eine nicht hinzunehmende Aufforderung erscheinen mag, nicht nach der Wahrheit sondern „nur“ nach einem Ausgleich zu suchen, wird unter Berufung auf die rechtstheoretische Grundlegung in Kauf genommen. Denn da ein konsensuales Verfahren gerade von einer Tatsachenfeststellung im Sinne der Amtsaufklärung absieht, wäre eine gerichtliche Überprüfung der konsensualen Tatsachengrundlage im Ergebnis nichts anderes als eine selbsttrügerische Gewissensberuhigung der Wahrheitsliebenden. Leitend ist dabei der Gedanke, dass auch in einem konsensorientierten Verfahren nicht etwa Willkür oder Macht entscheiden, sondern dass unter Wahrung verfahrensrechtlicher Kautelen ein konsensuales Ergebnis ebenso den Anspruch erheben kann, ein gerechtes zu sein. In einer entsprechenden Aufteilung des Verfahrens wäre zudem ein bedeutender wünschenswerter Nebeneffekt zu erwarten. Durch die strikte Trennung konsensualer und konfrontativer Verfahren wäre der bedenklichen rechtspolitischen Entwicklung einer zunehmenden Aufweichung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes entgegenzuwirken. Denn entscheidend bleibt in dem „zweigleisigen“ Verfahrensmodell, dass eine streitig durchgeführte Hauptverhandlung nicht durch weitere Möglichkeiten des Beweistransfers zunehmend in ihren schützenden For-
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men unterlaufen wird. Vielmehr soll ein kontradiktorisch und partizipatorisch ausgestaltetes Ermittlungsverfahren dazu dienen, dass die Ausgangslage eines konsensualen Verfahrens hinreichend durch Tatsachen gestützt wird, nicht aber darf es die Garantien einer förmlichen Hauptverhandlung im Namen der Verfahrenseffizienz verwässern. Denn dort, wo die Parteien des Strafprozesses konfrontativ in die Hauptverhandlung gehen, muss unter dem vollen Schutz rechtsstaatlicher Formen um die „forensische Wahrheit“ gekämpft werden.
Anhang Artikel 444–448 und 391 octies c.p.p. im Original mit freier Übersetzung der Verfasserin1. TITOLO II APPLICAZIONE DELLA PENA SU RICHIESTA DELLE PARTI Art. 444. (Applicazione della pena su richiesta). 1. L’imputato e il pubblico ministero possono chiedere al giudice l’applicazione, nella specie e nella misura indicata, di una sanzione sostitutiva o di una pena pecuniaria, diminuita fino a un terzo, ovvero di una pena detentiva quando questa, tenuto conto delle circostanze e diminuita fino a un terzo, non supera cinque anni soli o congiunti a pena pecuniaria. 1-bis. Sono esclusi dall’applicazione del comma 1 i procedimenti per i delitti di cui all’articolo 51, commi 3-bis e 3-quater, nonchè quelli contro coloro che siano stati dichiarati delinquenti abituali, professionali e per tendenza, o recidivi ai sensi dell’articolo 99, quarto comma, del codice penale, qualora la pena superi due anni soli o congiunti a pena pecuniaria 2. Se vi è il consenso anche della parte che non ha formulato la richiesta e non deve essere pronunciata sentenza di proscioglimento a norma dell’Art. 129, il giudice, sulla base degli atti, se ritiene corrette la qualificazione giuridica del fatto, l’applicazione e la comparazione delle circostanze prospettate dalle parti, nonché congrua la pena indicata, ne dispone con sentenza l’applicazione enunciando nel dispositivo che vi è stata la richiesta delle parti. Se vi è costituzione di parte civile, il giudice non decide sulla relativa domanda; l’imputato è tuttavia condannato al pagamento delle spese sostenute dalla parte civile, salvo che ricorrano giusti motivi per la compensazione totale o parziale. Non si applica la disposizione dell’articolo 75, comma 3. 3. La parte, nel formulare la richiesta, può subordinarne l’efficacia alla concessione della sospensione condizionale della pena. In questo caso il giudice, se ritiene che la sospensione condizionale non può essere concessa, rigetta la richiesta. Art. 444. (Anwendung der Strafe auf Antrag) 1. Der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft können beim Gericht die Anwendung einer in Art und Höhe bestimmten Ersatz- oder Geldstrafe beantragen, die bis zu einem Drittel gemindert werden, oder einer Freiheitsstrafe, wenn diese, nach Berücksichtigung der Strafzumessungsumstände und nach Minderung bis zu einem Drittel nicht fünf Jahre Freiheitsentzug in Verbindung mit oder ohne Geldstrafe überschreitet. 1 Der fett gedruckte Gesetzestext markiert die Änderungen durch das Gesetz 134/ 2003.
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1-bis. Ausgeschlossen von der Anwendung des Absatzes 1 sind die Verfahren wegen solcher Delikte, auf die Art. 51, Abs. 3-bis und 3-quater verweist, wie die Verfahren gegen solche Straftäter, die zu Gewohnheits-, Berufs- oder Neigungstätern erklärt worden sind oder im Sinne des Art. 99 Abs. 4 des Strafgesetzbuches rückfällig sind, sofern die Strafe zwei Jahre Freiheitsentzug ausschließlich oder verbunden mit einer Geldstrafe übersteigt. 2. Wenn die Partei, die den Antrag nicht gestellt hat, zustimmt und wenn kein Freispruch nach Artikel 129 zu verkünden ist, verfügt das Gericht nach Aktenlage, wenn es die rechtliche Würdigung der Tat, die Anwendung und Abwägung der Strafzumessungsumstände, die von den Parteien vorgebracht worden sind, für korrekt hält, durch Urteil die Anwendung der beantragten Strafe und erklärt im Tenor, dass ein Antrag der Parteien gestellt worden ist. Wenn eine Zivilpartei im Verfahren aufgetreten ist, entscheidet das Gericht nicht über den geltend gemachten Anspruch; der Angeklagte wird dennoch zur Tragung der Verfahrenskosten verurteilt, die der Zivilpartei entstanden sind; das gilt nur dann nicht, wenn wichtige Gründe für die gesamte oder teilweise Kompensierung vorliegen. Artikel 75 Abs. 3 wird nicht angewandt. 3. Die Partei kann den Antrag von der Gewährung der Strafaussetzung zur Bewährung abhängig machen. In diesem Fall lehnt das Gericht den Antrag ab, wenn es der Auffassung ist, dass die Aussetzung zur Bewährung nicht gewährt werden kann. Art. 445. (Effetti dell’applicazione della pena su richiesta). 1. La sentenza prevista dall’articolo 444, comma 2, quando la pena irrogata non superi i due anni di pena detentiva soli o congiunti a pena pecuniaria, non comporta la condanna al pagamento delle spese del procedimento nè l’applicazione di pene accessorie e di misure di sicurezza, fatta eccezione della confisca nei casi previsti dall’articolo 240 del codice penale. 1-bis. Salvo quanto previsto dall’articolo 653, la sentenza prevista dall’articolo 444, comma 2, anche quando è pronunciata dopo la chiusura del dibattimento, non ha efficacia nei giudizi civili o amministrativi. Salve diverse disposizioni di legge, la sentenza è equiparata a una pronuncia di condanna. 2. Il reato è estinto ove sia stata irrogata una pena detentiva non superiore a due anni soli o congiunti a pena pecuniaria se nel termine di cinque anni, quando la sentenza concerne un delitto, ovvero di due anni, quando la sentenza concerne una contravvenzione, l’imputato non commette un delitto ovvero una contravvenzione della stessa indole. In questo caso si estingue ogni effetto penale, e se è stata applicata una pena pecuniaria o una sanzione sostitutiva, l’applicazione non è comunque di ostacolo alla concessione di una successiva sospensione condizionale della pena. Art. 445. (Rechtsfolgen der Anwendung der Strafe auf Antrag). 1. Das Urteil nach Artikel 444 Abs. 2, sofern es zwei Jahre Freiheitsentzug ausschließlich oder verbunden mit einer Geldstrafe nicht übersteigt, zieht weder die Verurteilung zur Tragung der Kosten des Verfahrens noch die Anwendung von Nebenstrafen oder Sicherungsmaßnahmen nach sich; ausgenommen ist nur die Konfiszierung nach Artikel 240 des Strafgesetzbuches.
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1-bis. Unbeschadet des Art. 653, hat das Urteil nach Art. 444 Abs. 2, auch wenn es nach Abschluss der Hauptverhandlung verkündet wird, keine Bindungswirkung in zivil- oder verwaltungsrechtlichen Verfahren. 2. Die Straftat ist erloschen, sofern eine Strafe verhängt worden ist, die zwei Jahre Freiheitsentzug ausschließlich oder verbundnen mit einer Geldstrafe nicht übersteigt, wenn der Angeklagte innerhalb von fünf Jahren, sofern das Urteil eine Delikt, oder von zwei Jahren, sofern das Urteil eine Kontravention betrifft, kein Delikt oder keine Kontravention der gleichen Art begeht. In diesem Fall erlischt jede strafrechtliche Rechtsfolge und, wenn eine Geld- oder Ersatzstrafe verhängt worden ist, verhindert die Anwendung in keinem Fall eine zukünftige Strafaussetzung zur Bewährung. Art. 446. Richiesta di applicazione della pena e consenso. 1. Le parti possono formulare la richiesta prevista dall’articolo 444, comma 1, fino alla presentazione delle conclusioni di cui agli articoli 421, comma 3, e 422, comma 3, e fino alla dichiarazione di apertura del dibattimento di primo grado nel giudizio direttissimo. Se è stato notificato il decreto di giudizio immediato, la richiesta è formulata entro il termine e con le forme stabilite dall’articolo 458, comma 1. 2. La richiesta e il consenso nell’udienza sono formulati oralmente; negli altri casi sono formulati con atto scritto. 3. La volontà dell’imputato è espressa personalmente o a mezzo di procuratore speciale e la sottoscrizione è autenticata nelle forme previste dall’Art. 583 comma 3. 4. Il consenso sulla richiesta può essere dato entro i termini previsti dal comma 1, anche se in precedenza era stato negato. 5. Il giudice, se ritiene opportuno verificare la volontarietà della richiesta o del consenso, dispone la comparizione dell’imputato. 6. Il pubblico ministero, in caso di dissenso, deve enunciarne le ragioni. Art. 446 Antrag auf Anwendung der Strafe und Zustimmung. 1. Die Parteien können den Antrag nach Artikel 444 Abs. 1 bis zur Darlegung der Schusserklärungen nach Artikel 421 Abs. 3 und 422 Abs. 3 und im Schnellverfahren bis zur Eröffnungserklärung der Hauptverhandlung in erster Instanz stellen. Wenn eine Anordnung über ein sofortiges Hauptverfahren zugestellt worden ist, wird der Antrag innerhalb der Frist und nach dem förmlichen Verfahren des Artikel 458 Abs. 1 gestellt. 2. Der Antrag und die Zustimmung werden in der Verhandlung mündlich gestellt; andernfalls werden sie schriftlich gestellt. 3. Der Wille des Angeklagten wird persönlich oder durch Sonderprozessbevollmächtigten erklärt und die Unterschrift muss der Formvorschrift des Art. 583 Abs. 3 genügen. 4. Die Zustimmung zum Antrag kann innerhalb der Fristen nach Abs. 1 erteilt werden, auch wenn sie zuvor verweigert worden ist. 5. Das Gericht ordnet das persönliche Erscheinen des Angeklagten an, wenn es die Prüfung der Freiwilligkeit des Antrags oder der Zustimmung für geboten hält. 6. Die Staatsanwaltschaft muss im Fall, dass sie dem Antrag nicht zustimmt, die Gründe darlegen.
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Art. 447. Richiesta di applicazione della pena nel corso delle indagini preliminari. 1. Nel corso delle indagini preliminari, il giudice, se è presentata una richiesta congiunta o una richiesta con il consenso scritto dell’altra parte, fissa, con decreto in calce alla richiesta, l’udienza per la decisione, assegnando, se necessario, un termine al richiedente per la notificazione all’altra parte. Almeno tre giorni prima dell’udienza il fascicolo del pubblico ministero è depositato nella segreteria del giudice. 2. Nell’udienza il pubblico ministero e il difensore sono sentiti se compaiono. 3. Se la richiesta è presentata da una parte, il giudice fissa con decreto un termine all’altra parte per esprimere il consenso o il dissenso e dispone che la richiesta e il decreto siano notificati a cura del richiedente. Prima della scadenza del termine non è consentita la revoca o la modifica della richiesta e in caso di consenso si procede a norma del comma 1. Art. 447. Antrag auf Anwendung der Strafe im Lauf des Ermittlungsverfahrens. 1. Im Lauf des Ermittlungsverfahrens bestimmt das Gericht durch Verfügung auf dem Antrag einen Termin zur mündlichen Verhandlung, wenn ein gemeinsamer Antrag oder ein Antrag mit Zustimmung der anderen Partei gestellt worden ist; wenn notwendig, setzt es dem Antragsteller eine Frist für die Zustellung an die andere Partei. Wenigstens drei Tage vor der Verhandlung wird die Akte der Staatsanwaltschaft in der Geschäftsstelle des Gerichts hinterlegt. 2. In der mündlichen Verhandlung werden Staatsanwaltschaft und Verteidigung gehört, sofern sie erscheinen. 3. Wenn der Antrag von einer Partei gestellt ist, setzt das Gericht durch Verfügung der anderen Partei eine Frist, um die Zustimmung oder Ablehnung zu erklären und ordnet an, dass der Antrag und die Verfügung durch den Antragsteller zugestellt werden. Vor Ablauf der Frist ist der Widerruf oder die Änderung des Antrags nicht zulässig und im Fall der Zustimmung wird nach Abs. 1 verfahren. Art. 448. Provvedimenti del giudice. 1. Nell’udienza prevista dall’articolo 447, nell’udienza preliminare, nel giudizio direttissimo e nel giudizio immediato, il giudice, se ricorrono le condizioni per accogliere la richiesta prevista dall’articolo 444, comma 1, pronuncia immediatamente sentenza. Nel caso di dissenso da parte del pubblico ministero o di rigetto della richiesta da parte del giudice per le indagini preliminari, l’imputato, prima della dichiarazione di apertura del dibattimento di primo grado, può rinnovare la richiesta e il giudice, se la ritiene fondata, pronuncia immediatamente sentenza. La richiesta non è ulteriormente rinnovabile dinanzi ad altro giudice. Nello stesso modo il giudice provvede dopo la chiusura del dibattimento di primo grado o nel giudizio di impugnazione quando ritiene ingiustificato il dissenso del pubblico ministero o il rigetto della richiesta. 2. In caso di dissenso, il pubblico ministero può proporre appello; negli altri casi la sentenza è inappellabile. 3. Quando la sentenza è pronunciata nel giudizio di impugnazione, il giudice decide sull’azione civile a norma dell’Art. 578. Art. 448. Maßnahmen des Gerichts. 1. In der mündlichen Verhandlung nach Art. 447, in der Vorverhandlung, im Schnellverfahren und in der sofortigen Hauptverhandlung, verkündet das Gericht unmittelbar das Urteil, wenn die Bedingungen für die
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Annahme des Antrags nach Art. 444 Abs. 1 vorliegen. Hat die Staatsanwaltschaft nicht zugestimmt oder ist der Antrag durch den Ermittlungsrichter abgelehnt worden, kann der Angeklagte vor der Eröffnungserklärung der Hauptverhandlung der ersten Instanz den Antrag erneuern und das Gericht verkündet unmittelbar das Urteil, wenn es den Antrag für begründet hält. Der Antrag kann darüber hinaus nicht vor einem anderen Gericht erneuert werden. Ebenso verfährt das Gericht nach Schließung der Hauptverhandlung in erster Instanz oder im Berufungsverfahren, wenn es die Zustimmungsverweigerung der Staatsanwaltschaft oder die Ablehnung des Antrags für ungerechtfertigt hält. 2. Hat die Staatsanwaltschaft dem Antrag nicht zugestimmt, kann sie Berufung einlegen; in den anderen Fällen ist das Urteil nicht anfechtbar. 3. Wenn das Urteil im Berufungsverfahren verkündet wird, entscheidet das Gericht über die Zivilklage nach Artikel 578. Eingeführt durch das Gesetz 397/2000 Art. 391-octies. – (Fascicolo del difensore). – 1. Nel corso delle indagini preliminari e nell’udienza preliminare, quando il giudice deve adottare una decisione con l’intervento della parte privata, il difensore può presentargli direttamente gli elementi di prova a favore del proprio assistito. 2. Nel corso delle indagini preliminari il difensore che abbia conoscenza di un procedimento penale può presentare gli elementi difensivi di cui al comma 1 direttamente al giudice, perché ne tenga conto anche nel caso in cui debba adottare una decisione per la quale non è previsto l’intervento della parte assistita. 3. La documentazione di cui ai commi 1 e 2, in originale o, se il difensore ne richiede la restituzione, in copia, è inserita nel fascicolo del difensore, che è formato e conservato presso l’ufficio del giudice per le indagini preliminari. Della documentazione il pubblico ministero può prendere visione ed estrarre copia prima che venga adottata una decisione su richiesta delle altre parti o con il loro intervento. Dopo la chiusura delle indagini preliminari il fascicolo del difensore è inserito nel fascicolo di cui all’articolo 433. 4. Il difensore può, in ogni caso, presentare al pubblico ministero gli elementi di prova a favore del proprio assistito. Art. 391-octies. – (Verteidigungsakte) – 1. Im Laufe des Ermittlungsverfahrens und während der Vorverhandlung kann der Verteidiger, wenn das Gericht eine Entscheidung unter Mitwirkung der privaten Partei zu treffen hat, diesem unmittelbar die den Beschuldigten entlastenden Beweiselemente vorlegen. 2. Im Laufe des Ermittlungsverfahrens kann der Verteidiger, der in Kenntnis von einem Strafverfahren ist, dem Gericht unmittelbar die Verteidigungsmittel nach Abs. 1 zum dem Zweck vorlegen, dass diese in einer solchen gerichtlichen Entscheidung Berücksichtigung finden, für die die Mitwirkung der verteidigten Partei nicht vorgesehen ist. 3. Die Unterlagen nach Abs. 1 und 2 werden im Original, und wenn der Verteidiger die Herausgabe fordert, in Kopie, in die Akte der Verteidigung eingeführt, die zusam-
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mengestellt und in der Geschäftsstelle des Ermittlungsrichters hinterlegt wird. Nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens wird die Verteidigungsakte in die nach Artikel 4332 zusammengestellte Akte eingeführt. 4. Die Verteidigung kann in jedem Fall der Staatsanwaltschaft die für den Beschuldigten entlastenden Beweiselemente vorlegen.
2 Art. 433 c.p.p. regelt die Akte der Staatsanwaltschaft (fascicolo del pubblico ministero).
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Sachwortverzeichnis Absichtserklärung 119 Absprachen – Begriff 116 – fehlgeschlagene 138 – Typendifferenzierung 118 – Umfang 117 – Ursachen 120 adaequatio 78 Akkusationsprinzip 129, 327 Akteneinsicht 211, 378 Anhörungstermin 379 Antrag auf Strafverhängung 266, 271, 292, 331, 385, 396 Anwesenheitsrechte 211 applicazione della pena su richiesta 204, 246 Aufklärungspflicht 149, 370 Ausschlussgrund 268, 332
faires Verfahren 160, 231 Freiverantwortlichkeit 156 Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege 169, 197 Fürsorgepflicht 400
Befangenheit 161, 177, 407 Begründungspflicht 264 Beweisrecht 218
hermeneutisch – Schuldverstehen 46 – Unschärferelation 91 Hinweispflicht 141, 166, 176 hypothetische Strafprognose 363
Code d\9instruction criminelle 190 Codice Rocco 190 Diskurstheorie 85, 93 Diskussionsentwurf 367 Dispositionsmaxime 85, 339, 344, 356 Drohung 134, 159 Druckmittel 133, 381 Eckpunktepapier 367, 372 Eigenverantwortlichkeit 405, 411 Entschädigungsinteresse 212 Eröffnungsbeschluss 236
Generalprävention 52, 104, 191 Gerechtigkeit – Ergebnisrichtigkeit 22 – Verfahrensgerechtigkeit 31 Gesamtreform des Strafverfahrens 369 gesetzlicher Richter 160, 191 Geständnis – Beweiswert 150 – schlankes 151 – Verwertbarkeit 179 giudizio abbreviato 204, 295, 334 Gleichheitsgrundsatz 164, 254
Inertiaeffekt 149, 379 Inquisitionsprozess 129, 156 Instruktionsmaxime 113, 148, 343 Interessenallianz 137 Justizgewährungspflicht 354 Justizmodernisierungsgesetz 369 Klageerzwingungsverfahren 216 Klassenjustiz 141 Kommunikationskultur 369, 375
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Sachwortverzeichnis
Konfliktverteidigung 125, 137 Konsensualantrag – italienische Gesetzeskonzeption 330 – prozessuale Ausgestaltung 391 Konsensustheorie 83, 96 kontinentaleuropäisch 337 kontinentaleuropäische Tradition 227, 327 kontradiktorisches Verfahren 198, 227, 232 Korrespondenztheorie 78 Legalitätsprinzip 145, 207 legge Carotti 230 Mündlichkeitsgrundsatz 196 Naturrecht 26 Nebenkläger 215, 403 nemo-tenetur-Grundsatz 140, 159 Normstabilisierung 57, 154 Öffentlichkeitsgrundsatz 154 Opferrechtsreformgesetz 369 Paradigmenwechsel 100, 322 Parteiverfahren 225, 321 patteggiamento – Anfechtbarkeit 279 – Anwendungsbereich 253 – Gesetz 689/1981 246 – Rechtsfolgen 282 – Rechtsnatur der Entscheidung 299 – Strafnachlass 286 Pflichtverteidiger 211 procedimento per decreto 204 Protokollierungspflicht 178 Prozesserklärung 299, 364, 404 Prüfungsmaßstab des Gerichts 255, 398 rechtliches Gehör 165, 392 Rechtsgespräch 335, 362, 379 Rechtsgutslehre 351
Rechtsmittelverzicht 180, 389 reformierte italienische Prozessordnung 197 – dibattimento 201 – indagini preliminari 199 – procedimenti speciali 203 – udienza preliminare 200 Reformvorhaben 193 revisionsrechtliche Kontrolle 154, 174, 281, 408 Sanktionsschere 159, 335, 390 Schulddialog 66, 73 Spruchkörpertrennung 387 Strafanspruch 107, 207, 322, 346, 354 Strafbescheid 363 Strafobergrenze 177, 390 Strafrabatt 394 Strafzusage 363 Streitkultur 323, 366 Superschulterschluss 137 szenisches Verstehen 96, 348 Täuschung 159, 178 Transparenz 136, 358, 375, 408 Überzeugungsbildung 193, 220 Unmittelbarkeitsgrundsatz 157, 395, 411 Unschuldsvermutung 162, 301 Unverfügbares 347, 354 Verdachtsstrafe 163, 307 Verfahrensdauer 120, 126, 233 Verfahrensökonomie 150, 282 Vergeltung 23, 50, 64, 100, 268, 402 Verteidigung – im kontradiktorischen Verfahren 210 – notwendige 210 Vertrauensbasis 139 Vertrauensschutz 166 Verwertungsverbot 140 Vorleistungsrisiko 139, 331, 391
Sachwortverzeichnis Waffengleichheit 166, 212, 232, 378 Wahrheit – forensische 94 – formelle 82 – materielle 78
Wiederaufnahme des Verfahrens 281 Willensbildung 279 zweiseitiges Rechtsgeschäft 330, 391 Zwischenverfahren 382
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