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German Pages [433] Year 2017
Bernd Janowski
Das hörende Herz Beiträge zur Theologie und Anthropologie des Alten Testaments 6
1. Auflage 2018
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978–3–7887–3118–2 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D – 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.sonnhueter.com
Frank-Lothar Hossfeld (1942–2015) in dankbarer Erinnerung
Vorwort
Der sechste Band meiner Beiträge zur Theologie und – wie ich jetzt ergänze – Anthropologie des Alten Testaments steht unter dem Motto des „Hörenden Herzens“. Das „hörende Herz“, um das der weise Salomo nach 1 Kön 3,9 bittet, besitzt die „Weite“, d.h. den umfassenden Verstand, mit dem es die Fülle der Sinneseindrücke aufnehmen, verarbeiten und beantworten kann. Diese resonante oder responsive Beziehung zu Gott und Welt ist, wie die ersten beiden Beiträge (Der ganze Mensch; Das Herz – ein Beziehungsorgan) zeigen, charakteristisch für das alttestamentliche Menschenbild. Sie kann aber auch, so der dritte Beitrag (Das erschöpfte Selbst), Schaden erleiden und den Einzelnen in tiefe Depressionen stürzen. Der leidende Hiob weiß ein Lied davon zu singen. Neben diesen anthropologischen Studien enthält der Band drei Beiträge zum Gottes- und Menschenbild der priesterlichen und nichtpriesterlichen Urgeschichte (Schöpfung, Flut und Noahbund; Gottes Sturm und Gottes Atem; Die Empathie des Schöpfergottes) sowie drei Beiträge zum alttestamentlichen Weltbild („Der thront auf dem Kreis der Erde“; Der Himmel auf Erden; Was sich wiederholt), das eine eigene Logik und Sinnhaftigkeit besitzt. Den Schluss bilden drei Studien zum Psalter („Die Hindin der Morgenröte“; Auf dem Weg zur Buchreligion; Gerechtigkeit und Unsterblichkeit), in denen die Psalmenüberschriften, die Transformation des Kultischen im Psalter und die Frage des „ewigen Lebens“ im Zentrum stehen. Bei der Einrichtung dieses Buchs konnte ich mich wieder auf die kompetente Hilfe von Herrn Dr. Volker Hampel, Neukirchen-Vluyn, verlassen, der die drei Originalbeiträge für den Druck eingerichtet, Fehler stillschweigend bereinigt und das Ganze mit kundiger Hand zu einem guten Ende gebracht hat. Dafür bin ich sehr dankbar. Ein herzlicher Dank gebührt auch meiner studentischen Hilfskraft Frau Katja Schmidt für die Korrektur- und Registerarbeiten sowie Frau Dr. Annette Krüger, Hamburg, und Frau PD Dr. Kathrin Liess, München, für ihre Zustimmung zum Wiederabdruck der gemeinsam verfassten Beiträge 5 und 12. Wie der fünfte Band meiner „Beiträge“ Erich Zenger gewidmet war, so ist nun der vorliegende Band dem am 2. November 2015 verstorbenen Freund Frank-Lothar Hossfeld gewidmet – R.I.P. Tübingen, im August 2017
Bernd Janowski
Inhalt
Vorwort ..................................................................................
VII
I Das hörende Herz – zum Menschenbild ..............................
1
1
Der ganze Mensch Zu den Koordinaten der alttestamentlichen Anthropologie ................................................................................
3
Das Herz – ein Beziehungsorgan Zum Personverständnis des Alten Testaments ...............
31
Das erschöpfte Selbst Zur Semantik der Depression in den Psalmen und im Ijobbuch ..........................................................................
77
II Der empathische Schöpfer – zum Gottesbild ......................
125
2 3
4
Schöpfung, Flut und Noahbund Zur Theologie der priesterlichen Urgeschichte ..............
127
Gottes Sturm und Gottes Atem Zum Verständnis von μyhla jwr in Gen 1,2 und Ps 104, 29f ...................................................................................
147
Die Empathie des Schöpfergottes Gen *6,5 – 8,22 und das Apathie-Axiom .......................
175
III Der Himmel auf Erden – zum Weltbild ..............................
201
5
6
7
»Der thront auf dem Kreis der Erde« (Jes 40,22) Zur Logik des biblischen Weltbilds ................................
203
X 8
Inhalt
Der Himmel auf Erden Zur kosmologischen Bedeutung des Tempels in der Umwelt Israels ......................................................................
237
Was sich wiederholt Zu einem vernachlässigten Aspekt des alttestamentlichen Zeitverständnisses ..................................................
269
IV „Die Hindin der Morgenröte“ – zum Psalter ......................
291
9
10
„Die Hindin der Morgenröte“ (Ps 22,1) Ein Beitrag zum Verständnis der Psalmenüberschriften
293
Auf dem Weg zur Buchreligion Transformationen des Kultischen im Psalter ..................
345
Gerechtigkeit und Unsterblichkeit Psalm 73 und die Frage nach dem »ewigen Leben« .......
385
Stellenregister (Auswahl) ......................................................
409
Nachweis der Erstveröffentlichungen ..................................
415
Bücher von Bernd Janowski im Neukirchener Verlag ......
419
11 12
I Das hörende Herz – zum Menschenbild
4
Der ganze Mensch
2
3
Der ganze Mensch
5
6
Der ganze Mensch
4
5
Der ganze Mensch
7
8
Der ganze Mensch
6
7
Der ganze Mensch
9
10
Der ganze Mensch
8
9
Der ganze Mensch
11
12
Der ganze Mensch
10
11
Der ganze Mensch
13
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Der ganze Mensch
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Der ganze Mensch
15
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Der ganze Mensch
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Der ganze Mensch
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Der ganze Mensch
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Der ganze Mensch
19
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Der ganze Mensch
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Der ganze Mensch
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Der ganze Mensch
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Das Herz – ein Beziehungsorgan Zum Personverständnis des Alten Testaments
In seinem wegweisenden Buch Das Gehirn – ein Beziehungsorgan hat der Heidelberger Psychiater und Philosoph Th. Fuchs eine Kritik der Neurowissenschaft vorgelegt, die das Gehirn wieder dem Leib und den Leib der Lebenswelt zuordnet, in die der Mensch eingebettet ist und in der er durch seinen Leib als dem »primäre(n) Medium des In-der-Welt-Seins«1 agiert. Das Gehirn ist nach dieser Sicht nicht »eine unsichtbare Kammer ..., die sich im Kopf hinter den Sinnesorganen verbirgt«2 und unsere Welt »wie ein geheimer Schöpfer«3 hervorbringt, sondern ein »Beziehungsorgan«, also »das Organ, das unsere Beziehung zur Welt, zu anderen Menschen und zu uns selbst vermittelt. Es ist der Mediator, der uns den Zugang zur Welt ermöglicht, der Transformator, der Wahrnehmungen und Bewegungen miteinander verknüpft. Das Gehirn für sich wäre nur ein totes Organ. Lebendig wird es erst in Verbindung mit unseren Muskeln, Eingeweiden, Nerven und Sinnen, mit unserer Haut, unserer Umwelt und mit anderen Menschen«4.
Auffälligerweise spricht das Alte Testament nicht vom Gehirn und hat dafür auch kein hebräisches oder aramäisches Lexem. Ähnliches gilt für die Lunge, den Magen, den Darm und die Muskeln. Die Funktion, die wir traditioneller Weise dem Gehirn zuordnen – nämlich das Denken –, übt nach alttestamentlichem Verständnis das Herz aus. Nicht zuletzt deshalb ist es die »Zentralinstanz im Inneren des Menschen«5. Die Funktionen des Herzens lassen sich aber nicht auf kognitive Fähigkeiten reduzieren, sondern diese konstituieren, wie wir sehen werden, zusammen mit seinen emotionalen und voluntativen Eigenheiten das Personverständnis des Alten Testaments (II).6 Um dieses Problem angemessen zu beschreiben, wenden wir uns zunächst dem Zusammenhang von Personverständ1 2
Fuchs, Hirnwelt, 348, s. dazu auch ders., Verkörperung, 11ff. Ders., Gehirn, 95. Fuchs spricht an anderer Stelle auch vom »Kosmos im Kopf«, vgl. ders., a.a.O., 25ff und ders., Hirnwelt, 347ff. 3 Ders., Gehirn, 21. 4 Ders., ebd. (Hervorhebung im Original). 5 Krüger, »Herz«, 97. 6 Für den alttestamentlichen Personbegriff kommen außer leb/lebƗb noch weitere Termini in Frage, s. dazu im Folgenden.
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nis und Körperbegriff(en) zu (I). Am Schluss soll dieser Aspekt noch einmal aufgegriffen und präzisiert werden (III). Im Einzelnen gliedern sich unsere Ausführungen wie folgt: I. Personverständnis und Körperbegriff(e) – Vorbemerkungen II. Fühlen, Denken, Wollen – zur Bedeutung von leb/lebƗb Exkurs 1: Zur Geschichte des Herzens 1. Das Herz als Mitte der Person a) Physiologisch-vegetative Aspekte b) Funktionale Aspekte C) Emotionen und Gefühle D) Erkenntnis und Weisheit Exkurs 2: Die Aufrichtigkeit des Herzens I) Wille und Plan Exkurs 3: Die Herzwägung im Totengericht 2. Gott und das menschliche Herz a) »Der Herz(en) und Nieren prüft« b) Das »reine« und »feste« Herz III. Der »herzgeleitete« Mensch – Resümee I. Personverständnis und Körperbegriff(e) – Vorbemerkungen Wenn man nach dem Verständnis der Person im Alten Testament fragt,7 stößt man schnell auf Sachverhalte, die im Gegensatz zum neuzeitlichen Personbegriff und seiner verzweigten Problemgeschichte8 stehen. Das hat seinen Grund nicht nur im Fehlen eines dem griech. RTQUYRQP (»Angesicht, Maske, Vorderseite«) bzw. dem lat. persona (»Maske, Rolle, Status«)9 entsprechenden hebräischen Terminus,10 sondern auch und vor allem in der unterschiedlichen Sicht des Menschen. So ist, wie die Ge7
In diesem Abschnitt werden einige Überlegungen aus Janowski, Anerkennung, 181ff aufgenommen und weitergeführt. Zum alttestamentlichen Personbegriff s. ferner Frevel/Wischmeyer, Menschsein, 26ff (Frevel); Wagner, Körperbegriffe, 289ff; Neumann, Art. Person, 339f; Schroer/Zimmermann, Art. Mensch, 368ff; di Vito, Anthropologie, 213ff; Schnocks, Psalmen, 95ff u.a. 8 S. dazu paradigmatisch Sturma, Art. Person, 1728ff und die Beiträge in Römer/ Wunsch (Hg.), Person. 9 S. dazu Cancik, Art. Person, 1120f. Was in der westlichen Moderne unter »Person, Personalität, Persönlichkeit« thematisiert wird, ist in der griech.-röm. Antike den Begriffen »Selbst« (se, ipse), »besondere Natur« (propria natura), »Bewusstsein, Gewissen« (conscientia), »Vernunft« (ratio) u.a. zugeordnet, vgl. ders., a.a.O., 1120. 10 Das gilt mutatis mutandis auch für Mesopotamien und Ägypten, s. dazu Streck, Art. Person, 430 und Assmann, Art. Persönlichkeitsbegriff, 963ff.
3
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schichte der neuzeitlichen Identität zeigt, für den modernen Personbegriff eine spezifische Form der Innen/Außen-Relation bestimmend: »Unsere Gedanken, Vorstellungen oder Gefühle sind nach unserer Auffassung ›in‹ uns, während die Gegenstände in der Welt, auf die sich diese geistigen Zustände beziehen, ›draußen‹ sind. Außerdem meinen wir, unsere Fähigkeiten oder Möglichkeiten seien etwas ›Inneres‹, das auf die Entwicklung wartet, durch die dieses Potentielle in der öffentlichen Welt kundgetan oder verwirklicht wird. Das Unbewußte befindet sich nach unserer Vorstellung innen; und die Tiefen des Ungesagten, des Unsagbaren, der sich anbahnenden heftigen Gefühle, Neigungen und Ängste, mit denen wir um die Beherrschung des eigenen Lebens ringen, fassen wir ebenfalls als etwas Inneres auf. Wir sind Geschöpfe mit innerer Tiefe, mit einem Inneren, das zum Teil unerforscht und dunkel ist.«11
Dieses Personverständnis ist Ausdruck einer »historisch begrenzten Art der Selbstinterpretation, die im neuzeitlichen Abendland zur Vorherrschaft gekommen ist«12. Seine Wurzeln liegen Ch. Taylor zufolge bei Platon, der in seinem Dialog Phaidros (246a–257a) anhand der Metapher von der »Seele« (ȥȣȤȒ) als Lenkerin eines geflügelten Zweigespanns seine Auffassung der menschlichen Person entwickelt hat.13 Der Schlüssel zum »wahren« Selbst liegt danach in der Auffassung der Seele als einer vernunftbegabten Kraft, die der Außenwelt ordnend gegenübertritt, und zwar so, als hätten wir »ein Selbst in der gleichen Weise, in der wir einen Kopf oder Arme haben, und innere Tiefe in der gleichen Weise wie Herz oder Leber«14. Im Unterschied zu diesem »homogenen Interpretationsmodell von Person«15 geht die alttestamentliche Anthropologie von einem konstellativen Personbegriff 16 aus. Der Begriff »Konstellation« meint dabei zweierlei: Zum einen wird der menschliche Körper als eine konstellative, d.h. aus einzelnen Teilen und Organen zusammengesetzte Ganzheit verstanden; zum anderen bedeutet menschliches Leben die Eingebundenheit in soziale Zusammenhänge oder Rollen. Dieses vormoderne Konzept personaler Identität hat R.A. di Vito anhand von vier ›Identitätsmarkern‹ charakterisiert: »Das Subjekt ist (1) zutiefst eingebettet in seine soziale Identität bzw. eng damit verbunden. Es ist (2) vergleichsweise dezentriert und undefiniert im Blick auf die Grenzen seiner Person. Es ist (3) relativ transparent, ins gesellschaftliche Leben eingebunden und darin verkörpert (mit anderen Worten: es ermangelt all dessen, was mit ›inneren Tiefen‹ bezeichnet ist). Und schließlich ist es (4) ›authentisch‹
11 Taylor, Quellen des Selbst, 207, s. zur Sache auch Schönpflug/Schrader, Art. Selbst, 292ff u.a. Zum Topos »Innerer Mensch« s. unten 6ff. 12 Taylor, ebd. 13 S. dazu ders., a.a.O., 214ff und Halfwassen, Art. Seelenwagen, 111ff. 14 Taylor, a.a.O., 208. 15 Gladigow, Art. Seele, 53, vgl. Bremmer, Seele, 173ff. 16 Zum konstellativen Personbegriff s. die Hinweise bei Janowski, Anthropologie, 545f.
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gerade in seiner Heteronomie, in seinem Gehorsam anderen gegenüber und in seiner Abhängigkeit von anderen.«17
Diese Charakterisierung hebt zu Recht hervor, dass die personale Identität nicht durch eine alles steuernde »Rationalität«18 zustande kommt, sondern durch Konstellationen, die komplexe, auf Sozialität und Gegenseitigkeit ausgerichtete Beziehungen des Menschseins zum Ausdruck bringen. Sie übersieht aber, dass die personale Identität in gleicher Weise durch Binnenmotivationen konstituiert wird, die den Bezug zur Außenwelt steuern und beeinflussen.19 Nach alttestamentlicher Vorstellung ist es vor allem das Herz (leb/lebƗb), das diese ›Motivationsarbeit‹ leistet.20 Neben leb/lebƗb kommen für den alttestamentlichen Personbegriff allerdings noch weitere Termini in Frage. Dazu gehören kƗbôd »Ehre« (Ps 16,9 u.ö.) und šem »Name« (Ps 41,6 u.ö.) als soziale Personbegriffe,21 aber auch zahlreiche Körperbegriffe, die A. Wagner zufolge als »Stellvertreterausdrücke der Person« fungieren und die, wie etwa næpæš (»Leben, Lebenskraft«), die Stelle des Personalpronomens einnehmen können. Als Beispiel sei Ps 54,6 zitiert: Siehe, Gott ist mir Helfer, der Herr unter denen, die meine næpæš (= mich) stützen.
Der Begriff næpæš (+ Suff. 1c.sg.) steht hier »nicht nur als ›Variante‹ zum Personalpronomen, sondern bringt einen eigenen Bedeutungsaspekt mit in die Aussage ein«22. Dieser Aspekt ergibt sich daraus, dass næpæš »den Menschen (kennzeichnet), soweit er auf etwas ist«23. Dementsprechend lässt sich Ps 54,6 folgendermaßen paraphrasieren: 17 18
Di Vito, Anthropologie, 217, s. dazu auch ders., Art. Anthropology II, 117ff. Mit entlarvender Offenheit definiert Schütt, Art. Person, 1122 den Personbegriff demgegenüber wie folgt: »P.(ersonen) sind ›Vernunftwesen‹, die denken und überlegen können, außerdem haben sie einen Begriff von sich selbst, der sich einerseits nicht nur auf ihre unmittelbare Gegenwart bezieht, sondern auf ihr ganzes eigenes Leben (was ein Bewußtsein der eigenen diachronen Identität einschließt), und sie andererseits als lediglich ein Individuum unter anderen vorstellt.« Nicht thematisiert werden dabei die Bereiche des Sozialen und des Psychischen. Dass eine philosophische Anthropologie heute anders, nämlich in Abkehr vom narzisstischen Ideal des autonomen Vernunftmenschen zu begründen ist, zeigen Hartung, Anthropologie und Fischer, Anthropologie. 19 Zur Kritik an di Vitos Konzeption der personalen Identität s. Dietrich, Individualität, 79ff; zur Frage, ob das Alte Testament bzw. die leb/lebƗb-Belege von »Innerlichkeit« sprechen, s. unten Anm. 184. 20 S. dazu unten 6ff. 21 Zu kƗbôd »Ehre« s. Sedlmeier, Wert, 300ff und Dietrich, Ehre, 16ff. 22 Wagner, Körperbegriffe, 291, s. dazu auch ders., a.a.O., 307ff und bereits Wolff, Anthropologie, 51ff, jeweils mit weiteren Begriffen und Textbeispielen. 23 Schmidt, Begriffe, 90, vgl. 84, ferner Wagner, a.a.O., 308; ders., Reduktion des Lebendigen, 191 (unter Rückgriff auf Westermann, Art. næpæš, 92) und ausführlich Janowski, næpæš, 73ff.
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Siehe, Gott ist mir Helfer, der Herr unter denen, die (meine næpæš =) mein Verlangen nach Leben stützen.24
Auch ӭozæn »Ohr«, ӭap »Nase«, jƗd »Hand«, pƗnîm »Gesicht«, cajin»Auge«, ro šӭ »Kopf« und rægæl »Fuß« sind »Stellvertreterausdrücke der Person«. Zum einen können sie ein Personalpronomen vertreten und zum anderen repräsentieren sie bestimmte Bedeutungsaspekte der Person: Körperteil
Bedeutungsaspekte
oӭ zæn »Ohr«
akustische Erkenntnis-/Kommunikationsfähigkeit (vgl. Spr 18,15 u.ö.)
aӭ p »Nase«
Zorn, Ausdrucks-/Kommunikationsfähigkeit (vgl. Ez 38,18 u.ö.)
jƗd »Hand«
Handeln, Macht, Kraft, Gewalt (vgl. Ri 7,2 u.ö.)
pƗnîm »Gesicht«
mimisches Ausdrucks-/soziales Kommunikationsvermögen (vgl. 1Kön 21,4 u.ö.)
cajin
Aufmerksamkeit, visuelle Erkenntnis-/soziale Kommunikationsfähigkeit (Ps 54,9 u.ö.)
»Auge«
roӭã »Kopf«
Repräsentation des Individuums, Wertschätzung, Rang/Status (vgl. Gen 49,26 u.ö.)
rægæl »Fuß«
Bewegung(sfähigkeit), Macht, Präsenz (1Sam 23,22 u.ö.)
Bei der Zusammenschau von Körperorgan und Lebensfunktion geht es um die Kommunikations- und/oder Handlungsfähigkeit des betreffenden Körperteils, die damit in den Vordergrund rückt.25 Darüber hinaus kann ein Körperteil auch in Parallele zu einem oder zwei anderen Körperteil(en) stehen, sodass sich ihre spezifischen Funktionen zu einer Gesamtaussage über die Person addieren,26 z.B.: Gesehnt, ja sogar verzehrt hat sich mein(e) Leben(skraft) (næpæš) nach den Vorhöfen JHWHs, mein Herz (leb) und mein Leib (bƗsƗ r) jubeln dem lebendigen Gott zu. (Ps 84,3)27
Diesen Zusammenhang von Personverständnis und Körperbegriff(en) gibt es auch bei inneren Körperorganen wie der Leber (kƗbed), den Nieren (kelƗjôt), den Innereien (me ӧîm) oder dem Mutterleib (ræۊæm). Besonders aber gibt es ihn, wie etwa Spr 23,15 und 24,17 zeigen, beim Herzen, dem Symbol des »Inneren Menschen«: 24 25
Vgl. Wagner, Körperbegriffe, 308. S. dazu Wolff, a.a.O., 31, ferner Staubli, Begleiter, 98ff; Frevel, Art. Körper, 280ff; Wagner, Art. Körper, 280f und die Beiträge in Müller/Wagner (Hg.), Synthetische Körperauffassung. 26 Vgl. Wagner, Körperbegriffe, 309. 27 Vgl. Ps 16,9; 63,2 u.a., zu diesen Texten s. Wagner, Körperbegriffe, 309ff und Janowski, næpæš, 105ff.
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Mein Sohn, wenn dein Herz (leb) weise ist, freut sich auch mein Herz (leb), auch ich (gam ରƗnî ). (Spr 23,15) Herz // ich Wenn dein Feind stürzt, freu dich nicht, und wenn er strauchelt, juble dein Herz (leb) nicht! (Spr 24,17)28
II. Fühlen, Denken, Wollen – zur Bedeutung von leb/lebƗb Im hebräischen Alten Testament begegnen die beiden Ausdrücke für »Herz« (leb/lebƗb) über 850mal, und zwar am häufigsten in den Psalmen (137), im Buch der Sprüche (99) sowie in den Büchern Ex (47), Dtn (51), Jes (49), Jer (66), Ez (47), Pred (42), 2Chr (44) und Sir (68).29 Wahrscheinlich hängt diese Belegverteilung und -konzentration mit der Entdeckung des inneren Menschen zusammen, die literatur- und theologiegeschichtlich in die mittlere und späte Königszeit, vor allem aber in die exilisch-nachexilische Epoche gehört. Die Entwicklung dürfte dabei schubweise vor sich gegangen sein und mehrere, sich vielfach überlappende Phasen umfasst haben: – Phase 1: Einbindung des Ich in die Gemeinschaft (Spr) – Phase 2: Verinnerlichung der Gottesbeziehung (Dtn) – Phase 3: Herausbildung des Selbstbewusstseins in Gebet30 und Reflexion (Pss, Jer, Ez, Pred, Sir)
Da die zweite Phase eine besondere Bedeutung für die Gesamtentwicklung hat, sei sie im Folgenden kurz kommentiert. Exkurs 1: Zur Geschichte des Herzens Ein Schlüsseltext für die besagte Verinnerlichung der Gottesbeziehung (Phase 2)31 ist das Schemaӧ Jisra el ӭ von Dtn 6,4f und seine jüngere Fortschreibung Dtn 6,6–9. Dieser 28 29
Vgl. Reiterer, Rede, 26 mit weiteren Beispielen. Zur Statistik s. Stolz, Art. leb, 861, ferner mit z.T. abweichender Zählung Fabry, Art. leb/lebƗb, 420f und Markter, Transformationen, 15ff. Als anthropologischer Grundbegriff ist das »Herz« fast ausschließlich dem Menschen zugeordnet, begegnet aber auch 26mal mit Gott als Subjekt (s. dazu unten 27ff). Zur weiteren Verwendung (leb eines Tieres, leb als Bezeichnung für »Mitte« des Meeres / des Himmels / des Volkes u.a.) s. Fabry, a.a.O., 425. Zum Syntagma »Herz des Meeres« (11 Belege, akk. Parallelen) s. Lichtenstein, Mitte der Gottesstadt, 143ff. 30 Das Gebet ist ein primärer Ort für die Herausbildung des Selbstbewusstseins, das »nur möglich (ist), wenn es sich durch einen Kontrast erfährt. Ich benutze ich nur dann, wenn ich mich an jemanden wende, der in meiner anrede ein du sein wird. Diese Bedingung des Dialogs ist es, welche die Person konstituiert, denn sie impliziert umgekehrt, dass ich zu einem du werde in der anrede desjenigen, der sich seinerseits als ich bezeichnet« (Benveniste, Subjektivität, 289 [Hervorhebungen im Original]). 31 Zur »Verinnerlichung« der Gottesbeziehung im Deuteronomium s. Albertz, Religionsgeschichte Israels, 330f und Spieckermann, Liebe, 160ff.
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Text zeigt, dass es das ›gottgeleitete Herz‹ Israels bzw. eines jeden Israeliten ist, das den Gotteswillen, wie er in den deuteronomischen Gesetzen niedergelegt ist, in sich aufnehmen und in die praxis pietatis umsetzen soll: 4 5
Höre, Israel! JHWH ist unser Gott, JHWH ist einzig! Du sollst JHWH, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen (leb), mit deinem ganzen Verlangen (næpæš) und mit deiner ganzen Kraft (me oӭ d)
Höraufruf 2 nominale Bekenntnissätze Liebesgebot: Herz Verlangen Kraft
Während in V.4 ein kollektives »Du« angesprochen wird, das im pluralischen Suffix »unser« in Erscheinung tritt, wird mit dem Liebesgebot von V.5 jeder einzelne Israelit als Teil dieses kollektiven Du zur Liebe JHWHs angehalten. Dabei entspricht dem »einen/einzigen« Gott32 die »ganze«, ungeteilte Liebe Israels, die emphatisch durch das dreimalige beknl – »mit deinem ganzen Herzen (leb), mit deinem ganzen Verlangen (næpæš) und mit deiner ganzen Kraft (m e ӭod)« – ausgedrückt wird.33 Gemeint ist mit dieser Liebe zu Gott ein ausschließliches Treue- oder Loyalitätsverhältnis, »eine Ganzhingabe im Gehorsam, die zugleich Dankbarkeit und Vertrauen umschließt und sich emotional in einer persönlichen, intimen Erfahrungssphäre verwirklicht«34. Ein anschauliches Beispiel dafür ist der nachexilische Fortschreibungstext Dtn 10,12f, der diese »Gefolgschaftstreue« durch fünf Verbalbestimmungen expliziert: 12 Und nun, Israel, was fordert JHWH, dein Gott, von dir anderes, als JHWH, deinen Gott, zu fürchten, auf allen seinen Wegen zu wandeln und ihn zu lieben, und JHWH, deinem Gott, zu dienen mit deinem ganzen Herzen (leb) und mit deiner ganzen Lebenskraft (næpæš), 13 indem du die Gebote JHWHs und seine Satzungen, auf die ich dich heute verpflichte, achtest, damit es dir gut geht.
Sowohl in Dtn 6,5 als auch in Dtn 10,12 (vgl. Dtn 11,13; 13,4; 30,6) richtet sich der Blick auf die Innenseite des Menschen (leb und næpæš) und die hier verankerte »Gefolgschaftstreue« (cƗbad »dienen«), die alles Handeln Israels bestimmen soll. So wird »der Kampf um die wahre Verehrung Jahwes ... im Inneren des Menschen ausgetragen, es ist hier keine Frage äußerlichen Drucks, etwa mit angekündigten Strafen.«35 »Einzig« ( æӭ ۊƗd) ist ein Topos der Liebessprache (vgl. Hld 6,8f). So proklamiert Dtn 6,4f den »Ausschließlichkeitsanspruch Jahwes in einem Liebesbezug. Er allein ist aus allen Göttern der Gott für Israel, eben ›unser Gott‹« (Braulik, Deuteronomium 1– 16,17, 56). 33 Vgl. Müller, Lieben, 228ff, die zu Recht auf einer instrumentalen Übersetzung der Präposition be (»mit«, nicht »von«) insistiert. Zur Bedeutung von næpæš als »Verlangen, Vitalität« s. Janowski, næpæš, 87ff. Im Unterschied zu Veijola, Deuteronomium, 177ff gehe ich, ohne dies hier im Einzelnen begründen zu können, von der literarischen Einheitlichkeit von Dtn 6,4f aus. Zum religions- und traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Dtn 6,5 s. Rüterswörden, Liebe zu Gott, 229ff, der außer auf die bekannten neuassyrischen Vertragstexte (vor allem VTE § 24, s. dazu TUAT I [1982–1985], 166f) auch auf altaramäische Texte (Sfire-Inschriften KAI 223B,4–6; 224,7–9.14–17 u.a.) hinweist, vgl. Fabry, a.a.O., 419. 34 Braulik, ebd. 35 Rüterswörden, a.a.O., 235. 32
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Ihre Weiterführung erfährt die Gebotsparänese von Dtn 6,5 durch die jüngere Fortschreibung Dtn 6,6–9, derzufolge »diese Worte« (V.6), wohl die deuteronomischen Gesetze, auf das Herz eines jeden Israeliten geschrieben36 und im privaten wie im öffentlichen Raum wiederholt werden sollen: 6 7
8 9
Und es sollen diese Worte, die ich dir heute gebiete, auf deinem Herzen (leb) sein. Und du sollst sie deinen Kindern wiederholen, und du sollst über sie reden37 / sie rezitieren, bei deinem Sitzen in deinem Haus und bei deinem Gehen auf dem Weg, und bei deinem Niederlegen und bei deinem Aufstehen. Und du sollst sie als Zeichen auf deine Hand binden, und sie sollen Merkzeichen zwischen deinen Augen sein. Und du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben.38
Das Herz, auf dem »diese Worte« wie auf einer Tafel eingraviert sind, ist der Ort, von dem ihre Vergegenwärtigung in Raum und Zeit ihren Ausgang nimmt. Dabei führt der Weg von innen (Herz) über die Weitergabe an die nächste Generation (Auslegung, Rezitation) nach außen, wo »diese Worte« zu ›Zeichen der Verbundenheit mit JHWH‹ auf Hand und Stirn wie auf Türpfosten und Stadttoren werden. Man lebt in diesem Text der deuteronomischen Tora »wie in einer Landschaft. Er bringt sich auch von außen immer wieder in Erinnerung. Wir sehen: Dtn 6,6–9, dieser Text über das Lernen des neuen, umfangreichen Glaubenstextes Israels, führt uns weit über alles Lerntechnische hinaus in das normale Lebensgeschehen, das allerdings ganz und gar von diesem Text begleitet sein soll.«39 (Ende des Exkurses)
In der sozialen, religiösen und individuellen Akzentuierung des Herzens, wie sie sich in der oben skizzierten Gesamtentwicklung (Phase 1–3) zeigt, 36
Veijola, a.a.O., 179, der dies für eine »spiritualisierende« Interpretation hält, denkt demgegenüber daran, dass mit »diesen Worten« an das monojahwistische Bekenntnis von V.4b gedacht ist und in V.6 »die Vorschrift erteilt (wird), die bekenntnishaften Worte von V.4b als ein neuartiges Amulett auf der Brust zu tragen«. Des Weiteren argumentiert er, dass es »im Hebräischen ... nämlich kein besonderes Wort für die menschliche Brust (gibt), sondern dafür ... das Wort ›Herz‹ (lb[b]) verwendet wird (vgl. Ex 28,29f; Hld 8,6). Gerade die nächsten Sprachparallelen für 6,6*, Ex 28,29f und Hld 8,6, die von einer auf der Brust zu tragenden Orakeltasche des Hohenpriesters bzw. einem auf der Brust befindlichen Siegelamulett handeln, legen die konkrete Bedeutung nahe«. Dem ist allerdings zu widersprechen, da Dtn 6,6 davon spricht, dass »diese Worte« direkt »auf dem Herzen« eines jeden Israeliten sein sollen und weder von einer »Brusttasche« auf dem Herzen (wie in Ex 28,29f, s. dazu unten Anm. 48) noch von einem »Siegel« auf dem Herzen (wie in Hhld 8,6) die Rede ist. 37 Oder: »von ihnen reden«. 38 Zur Übersetzung und Interpretation s. Veijola, a.a.O., 174ff und Finsterbusch, Weisung, 239ff, ferner Lohfink, Glauben lernen, 92f u.a. 39 Lohfink, a.a.O., 93, vgl. Albertz, Religionsgeschichte Israels, 331 und Spieckermann, Liebe, 160.
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tritt der »innere Mensch« immer deutlicher in Erscheinung.40 Das zentrale Symbol dafür ist das menschliche Herz. 1. Das Herz als Mitte der Person In einem materialreichen Lexikonartikel hat Chr. Markschies die Geschichte des »Inneren Menschen« von Platon über das Neue Testament bis in die spätantike und frühchristliche Literatur skizziert und dabei wichtige Begriffsdifferenzierungen eingeführt.41 Wenn man in die Epochen vor Platon zurückgeht und die vorderorientalischen Kulturen in die Betrachtung einbezieht, gelangt man zu Israel und Ägypten,42 die man als »Kulturen des Herzens«43 bezeichnen kann. Die Geschichte des »Inneren Menschen« hat hier ihren Anfangspunkt. Es ist allerdings ein Anfang, der unseren heutigen Vorstellungen vom Herzen nur wenig entspricht, weil das alte Israel – im Unterschied zum alten Ägypten – nur vage Vorstellungen von den inneren Organen hatte und der anatomische Blick in das Innere des Menschen erst seit dem frühen 16. Jahrhundert in Gebrauch gekommen ist.44 Dieses Manko wird, wie wir sehen werden, durch eine intensive Form der Introspektion aufgewogen. 40
Möglicherweise konvergiert diese Entwicklung mit den Veränderungen im alttestamentlichen Menschenbild, die sich von den Anstößen durch die ältere Weisheit und die vorexilische Prophetie über die Vertiefungen durch den Monojahwismus/Monotheismus des 7./6. Jh.s v.Chr. bis zu den Ausformungen durch die exilisch-nachexilische Prophetie, die Psalmen und die späte Weisheit vollzogen haben, s. dazu die vorläufigen Hinweise bei Janowski, Anthropologie, 551 mit Anm. 93. Aufschlussreich dürfte ein Vergleich mit der Entwicklung des Personverständnisses in Ägypten sein, s. dazu Assmann, Art. Persönlichkeitsbegriff, 963ff. 41 S. dazu Markschies, Art. Mensch, 266ff, ferner Heckel, Mensch; Gladigow, Art. Seele, 53ff; Theißen, Erleben, 49ff; ders., Menschenbild, 269ff und die Beiträge in Assmann (Hg.), Erfindung des inneren Menschen. 42 Zum Begriff »Herz« (leb/lebƗb) im Alten Testament und in der althebräischen Epigraphik s. Schmidt, Begriffe, 86ff; Wolff, Anthropologie, 75ff; Fabry, Art. leb/lebƗb, 413ff; Stolz, Art. leb, 861ff; Wehrle/Kampling, Art. Herz, 137ff; Frevel, Art. Herz, 250ff; ders./Wischmeyer, Menschsein, 32ff (Frevel); Smith, Herz, 171ff; Krüger, »Herz«, 91ff; ders., Herz, 107ff; Sedlmeier, Transformationen, 203ff; Janowski, Konfliktgespräche, 166ff; Rösel, »Prüfer der Herzen«, 289ff; Markter, Transformationen; Schnocks, Psalmen, 93ff; Staubli/Schroer, Menschenbilder, 205.218ff; Abart, Lebensfreude, 35ff; Müller, Körperteilbezeichnungen, 17ff; Reiterer, Rede, 25ff u.a. – Zum Begriff »Herz« (jb, ۊӭtj ) in Ägypten s. Brunner, Art. Herz, 1158ff; ders., Das hörende Herz, 3ff; ders., Herz, 8ff; Assmann, Art. Persönlichkeitsbegriff, 966f.969ff; ders., Geschichte des Herzens, 81ff; ders., Herrschaft, 133ff; ders., Tod, 34ff; Fabry, a.a.O., 416f; Toro Rueda, Herz u.a. – Zum Begriff »Herz« (libbu, dazu verschiedene Synonyme) in Mesopotamien s. Fabry, a.a.O., 417ff; Mayer, Tätigkeiten, 332ff; Steinert, Aspekte des Menschseins, 232f.249f.253ff.263f.518f u.ö. und dies., »Zwei Drittel Gott«, 70ff. 43 Vgl. Assmann, Geschichte des Herzens, 81ff. 44 S. dazu Lyons/Petrucelli, Geschichte der Medizin, 367ff und Krüger, »Herz«, 91f mit Anm. 3.
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a) Physiologisch-vegetative Aspekte Beginnen wir unsere Spurensuche mit der Frage nach der physiologischvegetativen Funktion des Herzens. Ein Wissen um diese Funktion scheint vorhanden gewesen zu sein, aber nicht in der Weise, die uns geläufig ist, weil es im alten Israel keine Lehre von den chemisch-physikalischen Vorgängen im menschlichen Körper (Medizinische Physiologie) gab. So erfahren wir nichts darüber, dass das Herz den Blutkreislauf bewirkt und dieser für den Stoffwechsel sorgt. Auch das Funktionieren des vom Zentralnervensystem unabhängigen vegetativen Nervensystems, an das die inneren Organe wie das Herz, die Leber, die Nieren, die Verdauungs- und die Geschlechtsorgane angeschlossen sind, war weitgehend unbekannt. Doch es gibt einige – wenige! – Hinweise, die zur Vorsicht gegenüber der Annahme einer völligen Unkenntnis anatomischer Gegebenheiten45 mahnen. So meint leb an einigen Stellen offenbar die »Herzgegend« bzw. den »Brustkorb« oder unspezifisch das »Leibesinnere«. Nach 2Sam 18,14f etwa packte Joab drei Stöcke und (14b) stieß sie in die Herzgegend (leb) Absaloms, während er noch lebend in der Eiche46 hing. (15) Zehn junge Männer, Joabs Waffenträger, umringten (ihn) und schlugen Absalom und töteten ihn.47
In ähnlicher Weise spricht Hos 13,8 im Blick auf das schuldige Israel vom »Verschluss ihres Herzens« und meint wohl den »Brustkorb«: 7 8
Da wurde ich ihnen zum Löwen, wie ein Panther lauere ich am Weg auf, ich falle sie an wie eine Bärin, die der Jungen beraubt ist, und zerreiße den Verschluss ihres Herzens (segôr libbƗm). Da werden sie die Hunde fressen, wilde Tiere sie in Stücke reißen.
Der Brustkorb, der das Herz umschließt und als sein »Verschluss« schützt, wird von JHWH als der wütenden Bärin zerrissen.48 In 1Sam 25,37f ist 45 Eine solche Annahme ist in den einschlägigen Lexikonartikeln beliebt, vgl. Fabry, a.a.O., 424; Lescow, Art. Herz, 559 u.a. 46 Eigentlich: »im leb der Eiche«, womit wohl das innere Astwerk der Eiche gemeint ist, vgl. Fabry, a.a.O., 425. 47 Vgl. Krauss/Küchler, David, 161: »Damit kann nur ein wuchtiger, aber noch nicht tödlicher Stoß in die Herzgegend gemeint sein. Ein Stoß mit einem Bündel von drei Spießen konnte gut dazu dienen, den an seinem Ast hängenden Abschalom kampfunfähig zu machen oder ihn vom Baum herunterzuholen, während sich für einen Stich direkt ins Herz ein einziger Spieß besser geeignet hätte.« Eine anatomische Vorstellung vom Herzen findet sich dagegen in 2Kön 9,24; Ps 37,15 und 45,6. Nach 2Kön 9,24 tritt der von Jehu auf Jehorams Rücken (»zwischen seine Arme = Schulterblätter«) abgeschossene Pfeil vorn aus dessen Herz wieder heraus und bewirkt damit seinen Tod: »und er brach in seinem Wagen zusammen«. Danach wird sein Leichnam aufs freie Feld geworfen (V.25).
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dagegen vom Herzen »im Inneren, in der Mitte (qæræb)«49 des Menschen, also von dem konkreten Körperorgan im Leibesinneren die Rede: (37) Es erstarb ihm (sc. Nabal) sein Herz in seinem Inneren (libbô beqirbô), und er wurde zu Stein. (38) Etwa zehn Tage danach schlug JHWH den Nabal, so dass er starb.
Der Text spricht weder von einem tödlichen »Herzschlag«50 noch von einem »Schlaganfall mit Gehirnblutung«51 – Nabal lebt danach noch zehn Tage –, sondern wohl von einem Herzinfarkt mit anschließenden Lähmungserscheinungen (»er wurde zu Stein«).52 Möglicherweise belegt der Text den Übergang von der vegetativen zur funktionalen Bedeutung des Herzens, das im gesunden Zustand die »Beweglichkeit der Glieder«53 ermöglicht und dessen »Ersterben« das Erlöschen der motorischen und sensorischen Funktionen bedeutet. Als Organ im Leibesinneren ist das Herz »ständig mehr oder weniger spürbar«54. In ihm konzentriert sich nicht nur das emotionale, kognitive und voluntative, sondern auch das leibliche Wesen des Menschen (vgl. Spr 4,23; 25,13), das gelabt bzw. »gestützt« werden muss, in der Regel mit Brot (Ri 19,5.8, vgl. Gen 18,5; 1Kön 21,7; Ps 102,5), aber auch durch die Gewissheit, dass Gott den Menschen hört (Ps 69,33). Vom Gegenteil, nämlich vom Verlust der Lebenskraft, wird gesprochen, wenn der Mensch in Situationen der Angst und Bedrängnis gerät: Mein Inneres (me cîm), mein Inneres (me cîm), ich winde mich,55 Wände meines Herzens (leb)! Es tobt mir mein Herz (leb), ich kann nicht schweigen!56 Denn den Schall des Horns ‹hörst du›, meine næpæš, den Lärm des Krieges. (Jer 4,19) 48
Vgl. Wolff, Anthropologie, 77 und Jeremias, Hosea, 164. Nach Ex 28,29f trägt Aaron die Brusttasche »auf seinem leb«, womit ebenfalls der Brustkorb bzw. die Herzgegend gemeint sein dürfte. 49 Vgl. Jer 23,9. 50 So Stolz, Art. leb, 861, skeptisch Fabry, a.a.O., 424 und Markter, Transformationen, 21. 51 So Wolff, a.a.O., 76.210 und Staubli/Schroer, Menschenbilder, 218. Das ist schon deswegen ausgeschlossen, weil das Alte Testament keinen Terminus für »Gehirn« hat und auch keine medizinischen Kenntnisse darüber verrät. 52 Vgl. Krauss/Küchler, Saul, 227 und Reiterer, Rede, 25 Anm. 43. 53 Schroer/Staubli, Körpersymbolik 34. 54 Dies., a.a.O., 33. Das gilt zuweilen auch für die Nieren, vgl. etwa Ps 16,7 und dazu unten 27ff. 55 So mit dem Ketib ƗۊûlƗh (von ۊjl »kreißen, in Wehen liegen«), vgl. BHS z.St. ӭ 56 Wolff, a.a.O., 77 diagnostiziert hier einen regelrechten »Herzanfall«, vgl. auch Frevel/Wischmeyer, Menschsein, 33 (Frevel). M.E. ist eher eine äußerste emotionale Erregung ausgedrückt, vgl. Fabry, a.a.O., 424 und Bester, Körperbilder, 192f. Mit den »Wänden meines Herzens« (qîrôt libbî ) dürfte der Brustkorb, konkret die das Herz wie »Wände« schützenden Rippen gemeint sein, vgl. Bester, a.a.O., 192 Anm. 505.
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Dieser vegetativen Schicht der Person entstammen auch die meisten Sprachbilder in der »Topologie der Klage«57. Das Herz des Klagenden »flattert« (Ps 38,11),58 es »bebt« (Ps 55,5),59 es »tobt« (Jer 4,19), es »wankt« (1Sam 28,5), es »verdorrt« (Ps 102,5), es »wird heiß« wie Feuer (Ps 39,4) oder weich »wie Wachs« und »zerfließt« (Ps 22,15, vgl. 2Sam 17,10 u.ö.).60 Für alle diese Stellen ist der Übergang von der vegetativen zur emotionalen Bedeutung charakteristisch. Mit Übergängen – vom Gefühl zum Denken und/oder zum Handeln – ist auch bei den funktionalen Aspekten zu rechnen. b) Funktionale Aspekte Der größte Unterschied zwischen unserem und dem hebräischen Verständnis des Herzens liegt bekanntlich in der kognitiven Funktion (Denken), die ihm im Alten Testament zugeschrieben wird. Aber auch das Fühlen und Wollen werden im Herzen lokalisiert. Immer wieder zeigt sich dabei, dass diese drei Funktionen nicht gegeneinander abgegrenzte Eigenschaften repräsentieren, sondern ineinander übergehen bzw. sich überschneiden61 und im Herzen einen gemeinsamen organischen Fixpunkt haben. Beginnen wir mit der emotionalen Ebene. C) Emotionen und Gefühle Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass Gefühle/Emotionen wie das ›Herzflattern‹ (bei Angst und Beklemmung) oder das ›Herzhüpfen‹ (bei Freude und Jubel) häufig auf der Basis vegetativer Vorgänge beschrieben werden.62 So wird das Herz zum Ausgangspunkt der Klage – es schreit (Jes 15,5), es klagt (Jer 48,36), es weint zu JHWH (Klgl 2,18) –, aber auch der Freude,63 wie z.B. in Ps 4,7–9:
57 58 59 60 61
Fabry, a.a.O., 426. S. dazu Bester, a.a.O., 190f. S. dazu dies., a.a.O., 191f. S. dazu dies., a.a.O., 194ff.197ff. Vgl. Markter, Transformationen, 22. Das wird von Krüger, »Herz«, 97ff geleugnet, s. dazu aber unten 37ff. 62 Vgl. Fabry, a.a.O., 427 und oben 10ff. Zur heuristischen Unterscheidung von Gefühl (subjektives Erleben, Beispiel: körperliche Hitzeempfindung, aggressive Gestimmtheit) und Emotion (objektiver Sachverhalt, Beispiel: Zorn) s. Wagner, Emotionen, 12ff und Köhlmoos, Gottes Gefühle, 199ff. Zu beachten ist allerdings, dass Gefühle und Emotionen immer interdependent sind, s. dazu Köhlmoos, a.a.O., 200f. 63 Dazu und zu den weiteren Gefühlsregungen des Herzens wie Furcht, Schrecken, Verzagtheit, Wut, Zorn, Sympathie/Liebe und Antipathie/Hass s. die Übersicht bei Wolff, Anthropologie, 80ff; Stolz, Art. leb, 862; Fabry, a.a.O., 426.427ff; Smith, Herz, 176f und Markter, a.a.O., 23f.
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Viele sagen: »Wer lässt uns Gutes sehen?« Erhebe doch über uns das Licht deines Angesichts, JHWH! Du hast Freude in mein Herz (leb) gegeben, mehr als in der Zeit, da ihr Korn und ihr neuer Wein viel waren. In Frieden will ich mich zugleich hinlegen und einschlafen, denn du, JHWH, allein, in Sicherheit lässt du mich wohnen.64
Oder in 1Sam 2,1, wo Hanna, deren Herz wegen ihrer Kinderlosigkeit zunächst »böse« ist (rƗcDc 1Sam 1,8),65 nach der Geburt Samuels jubelt: Und Hanna betete und sprach: »Froh ist mein Herz (leb) in JHWH, hoch ist mein Horn in JHWH, offen ist mein Mund gegen meine Feinde, denn ich freue mich über deine Rettung.«66
Kummer (Ps 13,3 [// »Sorgen in meiner næpæš«]; 34,19), Angst und Not (Ps 25,17), Armut (Ps 109,16.22), Schmach (Ps 69,21) und Verzweiflung (Jes 65,14; Klgl 1,20) lassen das Herz dagegen verzagen, z.B. in Ps 13,2f (:: V.6): 2 3 4 5 6
Wie lange, JHWH, vergisst du mich auf Dauer? Wie lange verbirgst du dein Gesicht vor mir? Wie lange soll ich Sorgen tragen in meiner næpæš, Kummer in meinem Herzen (leb) Tag für Tag? Herz (Kummer) Wie lange erhebt sich mein Feind über mich? Blick doch her, erhöre mich, JHWH, mein Gott! Mach hell meine Augen, damit ich nicht zum Tod entschlafe, damit mein Feind nicht behauptet: »Ich habe ihn überwältigt!«, meine Gegner nicht jubeln, dass ich wanke! Doch ich – auf deine Güte habe ich vertraut, mein Herz (leb) juble über deine Rettung: Herz (Jubel) »Singen will ich JHWH, dass er an mir gehandelt hat!« (Ps 13)67
Das Herz ist aber nicht die Quelle der positiven und negativen Gefühle/ Emotionen, sondern der Ort, an dem diese in Erscheinung treten. Inwiefern ist das so, d.h. warum werden innere Organe wie das Herz, die Leber (kƗbed) oder die Innereien (me cîm) zum Ort von Gefühlen/Emotionen? Die Antwort liegt auf der Hand und wird durch die Ergebnisse der Hu64 65 66
S. dazu Abart, Lebensfreude, 31ff. rƗ cD c hier im Sinn von »missmutig, verdrossen sein«, vgl. Dietrich, Samuel 1,18. Vorher hatte Hanna »zu ihrem Herzen gesprochen (dibbær ӧal-leb), nur ihre Lippen bewegten sich und ihre Stimme war nicht zu hören« (1Sam 1,13), sie führte also ein Selbstgespräch, vgl. Gen 27,41f und die akkadischen Parallelen bei Streck, Art. Selbstgespräch, 365f. An anderen Stellen wie Gen 34,3; 50,21; Hos 2,16 u.ö. hat das »Zu-Herzen-Reden« eine Trost- und Ermunterungsfunktion, s. dazu Fabry, a.a.O., 430f. 67 S. dazu Janowski, Konfliktgespräche, 56ff.
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manbiologie und der Psychologie bestätigt: Die Emotionen werden deswegen »mit dem Herzen und den Innereien verbunden, weil sie dort physisch erfahren werden«68. Und sie werden dort physisch erfahren, weil das Herz ein physiologisch empfindliches Organ ist: »Physiologisch zeigt das Herz deutliche Veränderungen in Verbindung mit unterschiedlichen Emotionen. Dieser Punkt ist besonders relevant bei biblischen Gebeten, denn das Herz erscheint als physischer Ort, an dem eine Vielzahl von Emotionen körperlich in Erscheinung tritt. Folglich ist es kaum überraschend, dass das Herz jenes Organ ist, das von den Israeliten und anderen Völkern des antiken mittleren Ostens mit Gefühlen in Verbindung gebracht wurde.«69
Die physiologischen Veränderungen, die das Herz in Verbindung mit unterschiedlichen Emotionen zeigt,70 erlauben es dem Menschen, sich auf bestimmte Situationen einzustellen. Das lässt sich durch eine Vielzahl alttestamentlicher Texte belegen, z.B. durch die Klage eines Kranken in Ps 38,7–9: 7 8 9
Ich war gekrümmt, niedergebeugt gar sehr, den ganzen Tag bin ich niedergedrückt umhergegangen. Ja, meine Lenden waren voller Brand, und keine heile Stelle war an meinem Leib. Ich war erstarrt und zerschlagen gar sehr, ich brüllte (auf) wegen des Gestöhns meines Herzens (nahamat libbî ).
Man kann noch einen Schritt weiter gehen. Denn Emotionen sind nicht nur ein äußerer Ausdruck der inneren Gefühlswelt, sondern auch das Medium, durch das der Mensch mit anderen kommuniziert und sich ›vernünftig‹, d.h. richtig auf eine Handlung oder Entscheidung vorbereitet.71 Das wird von der neueren Emotionsforschung in Philosophie, Neurowissenschaft und Psychologie bestätigt, denn sie zeigt, »dass die Herrschaft der Vernunft auf eine funktionierende Emotionalität angewiesen ist. Entscheidungen kommen nicht rein rational zustande und Handlungen, welche rationalen Erwägungen folgen sollen, können ohne die motivierende und bewertende Kraft von Emotionen nicht umgesetzt werden. Wer nicht nur vernünftig denken, sondern auch vernünftig handeln will, ist auf seine Emotionen und Gefühle angewiesen«.72
Ein gutes Beispiel für die Handlungs- und Entscheidungsrelevanz von Emotionen73 ist die Parabel vom Salomonischen Urteil in 1Kön 3,16–28. 68 69 70
Smith, Herz, 175. Ders., a.a.O., 177. S. dazu die plastische Kurzbeschreibung bei ders., a.a.O., 179, vgl. Frevel/Wischmeyer, Menschsein, 33 (Frevel). 71 Vgl. Smith, a.a.O., 171.179ff, s. zur Sache auch di Vito, Anthropologie, 223ff; Kruger, Gefühle, 243ff und Janssen/Kessler, Art. Emotionen, 107ff. 72 Engelen, Gefühle und Emotionen, 23, s. dazu ausführlicher dies., Gefühle. 73 S. dazu die Überlegungen von dies., Gefühle und Emotionen, 24f.
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Die nach 1Kön 3,4–15 von Salomo in einer Traumvision erbetene und ihm von JHWH zugesprochene Weisheit, die sich in seinem »hörenden Herzen« (leb šomeӧa 1Kön 3,9)74 zeigt, bewährt sich in einem klugen Gerichtsurteil, das in ganz Israel Eindruck macht (1Kön 3,28). Denn der König wird hier mit einem an sich unlösbaren Fall konfrontiert, bei dem Aussage gegen Aussage steht und es keine objektiven Rechtsmittel (Zeugen, Indizien) gibt. Überraschenderweise verhilft ein höchst subjektiver Faktor zur Wahrheitsfindung. Denn die richtige Mutter bekommt ihr Kind zugesprochen, weil sie in mütterlichem »Erbarmen« will, dass das Kind am Leben bleibt und nicht durch das königliche Schwert zerschnitten wird: Da sprach die Frau, deren Kind das lebende war, zum König, denn es entbrannte ihr Erbarmen (ra ۊamîm)75 über ihr Kind, und sie sagte: »Bitte, mein Herr, gebt jener das lebende Kind, nur tötet es nicht!« Diese aber sagte: »Weder mir noch dir soll es gehören, zerschneidet es!« (1Kön 3,26)
Salomos Weisheit besteht darin, dass er das Verhalten der Frau, deren Kind das lebende war, aufgrund seines »hörenden Herzens« emotional richtig einschätzt und damit den scheinbar unlösbaren Fall löst. So zeigt die Parabel, wie sehr Emotionen in einer bestimmten Situation die Aufmerksamkeit auf die relevanten Gesichtspunkte lenken können76 – wozu rationale Überlegungen allein nicht in der Lage sind. D) Erkenntnis und Weisheit Emotionen, so zeigen die bisherigen Überlegungen, sind nicht Ausdruck einer inneren Gefühlswelt, die unabhängig von der Außenwelt ist. Im Gegenteil: Sie spielen eine konstitutive Rolle in der Kommunikation mit anderen, indem sie dem Individuum helfen, sich gedanklich auf eine bestimmte Handlung oder Entscheidung vorzubereiten (»gedankliche Fokussierung«). Das Herz ist dasjenige Organ, das diese Vermittlung zwischen Innenwelt und Außenwelt in hervorragender Weise leistet – oder vor dieser Aufgabe versagt77 –, und damit beide Sphären in Entsprechung zueinander bringt. Deshalb zählt »nur dasjenige Außen ..., das auch innen ist. Jetzt wird die Tat zur Außenseite von etwas Umfassenderem, und es kommt alles darauf an, dass sie von innen kommt, dass das ›Herz‹ meint, was der Mund sagt und die Hände tun«78, schematisch: Vgl. V.12: »ein weises und verständiges Herz« (leb ۊƗkƗm wenƗbôn), s. dazu unten 16f. 75 Oder: »ihre Mitleidsregungen«. Diese »entbrennen« (kmr nif.) und führen zu einem konkreten Handeln, s. dazu Grohmann, Anfang des Lebens, 372ff. 76 Engelen, a.a.O., 24 spricht von »gedanklicher Fokussierung«. 77 S. dazu paradigmatisch den Topos des »störrischen und widerspenstigen Herzens« (leb sôrer ûmoræh) in Dtn 21,18.20 (rebellischer Sohn); Jer 5,23 (Volk Israel) und Ps 78,8 (Vorfahren). 78 Assmann, Geschichte des Herzens, 81 (s. dazu auch unten 18f), vgl. Schmidt, Anthropologische Begriffe, 84.90 mit Bezug auf næpæš. 74
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Die Übereinstimmung / Nichtübereinstimmung von Innen (Herz, Gewissen) und Außen (Mund, Hände) besteht in bzw. führt zu
Aufrichtigkeit / Lüge Wahrheit / Trug Gerechtigkeit / Sünde
Diese Innen/Außen-Relation wird besonders an den Stellen deutlich, in denen die kognitive Funktion des Herzens in Erscheinung tritt. Von den zahlreichen Belegen79 seien nur einige exemplarische Fälle herausgegriffen. Dass leb/lebƗb die »Erkenntnis, Vernunft« meint, macht via negativa z.B. Dtn 29,3 deutlich, wo die sensorische Wahrnehmung des Herzens mit der Seh- und Hörfähigkeit der Augen und Ohren parallelisiert wird: Aber JHWH hat euch nicht gegeben ein Herz (leb) zum Erkennen (lƗda cat) und Augen zum Sehen und Ohren zum Hören bis zum heutigen Tag. (Dtn 29,3)80
Viele Texte des Psalters und des Sprüchebuchs sehen die Aufgabe des Herzens folglich in der Suche nach Lebensklugheit und Weisheit, die auch zu einer realistischen Einsicht in die Begrenztheit des Lebens führt: Das Herz des Verständigen (leb nƗbôn) sucht Erkenntnis, aber der Mund der Selbstzufriedenen weidet Narrheit. (Spr 15,14) Unsere Tage zu zählen, lass (uns) erkennen, und wir werden einbringen ein weises Herz (lebab ۊnkmƗh)! (Ps 90,12)81
Woher kommt solche Erkenntnisfülle des Herzens? Sie kommt aus dem aufmerksamen Hören, um das der weise Salomo JHWH bittet:
79 S. dazu den Überblick bei Wolff, Anthropologie, 84ff; Stolz, Art. leb, 862f; Fabry, Art. leb/lebƗb, 432ff und Markter, Transformationen, 26ff. 80 Vgl. Dtn 8,5, s. dazu mit weiteren Texten Fabry, a.a.O., 433 und Markter, a.a.O., 27f. 81 Der Vers bringt in prägnanter Weise den Sachverhalt des Tun/ErgehenZusammenhangs zum Ausdruck: Während mit dem »Zählen der Tage« (V.12a) ein qualifizierter Umgang mit der Zeit gemeint ist, der diese nicht einfach verstreichen lässt, sondern der Raum zur sinnvollen Lebensgestaltung schafft (vgl. Schnocks, Vergänglichkeit, 175), ist mit dem »Einbringen« (bô ӭ hif. V.12b) eben dieser Summe der Ertrag des Lebens gemeint. Dieser Ertrag ist das »weise Herz«, dessen Weisheit darin besteht, mit dem Wissen um den Tod (vgl. V.3–10!) so umzugehen – eben das bedeutet das »Zählen der Tage«! –, dass jeder einzelne Tag als Gabe des guten Schöpfergottes angenommen und als Herausforderung bestanden werden kann, vgl. Hossfeld/ Zenger, Psalmen 51–100, 611f (Zenger).
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So gib deinem Knecht ein hörendes Herz (leb šomeaӧ), um dein Volk zu richten, um den Unterschied zwischen gut und böse zu verstehen, denn wer vermag, dieses dein zahlreiches Volk zu richten? (1Kön 3,9, vgl. V.12)82
Das »hörende Herz«83 besitzt die »Weite«, d.h. den umfassenden Verstand, mit dem es die Fülle der Sinneseindrücke erfassen und verarbeiten kann: Und Gott gab Salomo Weisheit und Einsicht in sehr großem Maß und Weite des Herzens (roۊab leb), vergleichbar dem Sand, der am Rand des Meeres ist. (1Kön 5,9)84
»Der Salomo von 1 Kön 3«, schreibt G. von Rad, »hätte auch ... sagen können: Er erbäte sich von Jahwe, dass ihm die Welt nicht stumm bleibe, sondern ihm vernehmbar werde«85. Sie wurde ihm vernehmbar, denn er besaß ein »weites Herz«, das ihn lehrte, auf die Ordnung der Schöpfung (Pflanzen und Tiere) zu achten und die kulturellen Leistungen des Menschen (Sprüche und Lieder) zu pflegen (1Kön 5,9–14).86 Im Anschluss an den Soziologen H. Rosa,87 der seinerseits Anregungen des kanadischen Sozialphilosophen Ch. Taylor aufnimmt und weiterführt, könnte man im Blick auf den Topos des »hörenden Herzens« (1Kön 3,9.12) bzw. der »Weite des Herzens« (1Kön 5,9) auch von einer resonanten Weltbeziehung sprechen, der zufolge die Außenwelt nicht stumm bleibt, sondern dem vernehmenden, nicht in sich verschlossenen Selbst auf vielfältige Weise ›antwortet‹. Dem »Verstummen der Welt« und damit dem Verlust der Resonanzerfahrungen, der »zu dem zentralen Problem der (spät)modernen Weltbeziehung geworden ist«88, stellen Taylor und Rosa eine Weltsicht entgegen, »welche den Kosmos ultimativ als von der Liebe Gottes durchwaltet und in diesem Sinne als hinter aller Widersprüchlichkeit, Gleichgültigkeit und Bosheit ›tiefenresonant‹ versteht«89. Von solchen Resonanzerfahrungen – und entsprechend auch Resonanzdefiziten! – sind die alttestamentlichen und ägyptischen Weisheitstexte voll. Das Herz, das in ihnen eine zentrale Rolle spielt, kann man deshalb auch als das Resonanz- oder Beziehungsorgan des Menschen bezeichnen.
Die im Herz lokalisierte Einsicht drängt aber auch zu dauerhaftem Bewusstsein, so dass das Herz die Schatzkammer des Wissens, der Erinnerung und des Gedächtnisses ist.90 Aber nicht nur das. Das Herz ist auch 82 83
S. dazu auch oben 15. S. dazu Fabry, a.a.O., 435f. Dieselbe Wortverbindung findet sich bereits im Ägyptischen, s. dazu Brunner, Das hörende Herz, 3ff. 84 Vgl. 1Kön 10,24; 2Chr 1,11 und 9,23. 85 Von Rad, Weisheit, 309, vgl. Zenger, »Gib deinem Knecht«, 40f. 86 Zu 1Kön 5,9–14 s. Wälchli, Salomo, 67ff. 87 S. dazu Rosa, Weltbeziehungen, 34ff. 88 Ders., a.a.O., 37 (Hervorhebung im Original). 89 Ders., a.a.O., 39. 90 Vgl. Dtn 6,6 (s. dazu oben 8); Ri 16,15.17f; Jes 33,18 und dazu Markter, a.a.O., 28f. Im Umkreis dieses Bedeutungsaspekts von leb/lebƗb als »Einsicht, Bewusstsein« gibt es prägnante Metaphern wie die »Tafel des Herzens«, auf die nach Spr 7,3 die Weisheitsworte und nach Jer 17,1 die Sünde Judas eingraviert sind, s. dazu Schenker, Tafel des Herzens, 68ff.
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das Organ, das auf die Entsprechung zwischen Innen und Außen achtet (Spr 16,23), das diese Entsprechung in kritischen Situationen bewahrheitet und sich nicht trügerisch verstellt (Spr 26,24f): Ein weises Herz (leb ۊƗkƗm) macht seinen Mund achtsam, und auf seinen Lippen fügt es Einsicht hinzu. (Spr 16,23)91 23 Schlackensilber, aufgetragen auf Tonscherben, (so) sind strömende Lippen und ein böses Herz (leb raӧ). 24 Mit seinen Lippen verstellt sich ein Hassender, aber in seinem Inneren (qæræb) legt er Trug (zurecht). 25 Wenn er seine Stimme anmutig macht, traue ihm nicht, denn sieben Greuel sind in seinem Herzen (leb). (Spr 26,23–25)92
Exkurs 2: Die Aufrichtigkeit des Herzens Diese Entsprechung zwischen Innen und Außen hat eine Sachparallele in der ägyptischen Vorstellung vom menschlichen Herzen, für die der Zusammenhang von Leibsphäre, wo es um »Zergliederung« und »Zusammenfügung«, und Sozialsphäre, wo es um »Isolation« und »Einbindung« geht, charakteristisch ist.93 Die ›Schnittstelle‹ zwischen beiden Bereichen ist das Herz, das sowohl in leiblicher wie in sozialer Hinsicht die personale Identität des Menschen herbeiführt und garantiert: Leibsphäre / Innen
Sozialsphäre / Außen
Der Körper und seine Glieder:
Individuum und Gemeinschaft:
Zergliederung
Isolation »Herz« als Zentralorgan
Zusammenfügung (»Verknotung«) durch »Blut« (= Leben) als konnektives Prinzip vs. Tod, Krankheit u.a. als Kräfte des Zerfalls
Einbindung (»Vergesellschaftung«) durch »Gerechtigkeit« als konnektives Prinzip vs. Ungerechtigkeit, Habgier u.a. als Kräfte des Zerfalls
Abb.1: Das Herz in der ägyptischen Anthropologie Das Herz ist die zentrale Stelle im Menschen, »der alle Sinne ihre Eindrücke ›melden‹ und das dann die Lage erkennt und Entschlüsse faßt. Es hat also auf das, was von außen zum Menschen kommt – sei es durch die Sinne, sei es durch Gott – zu hören.«94 Diese Fühlen, Denken und Wollen umfassende Funktion des Herzens kommt in grundsätzlicher Weise im späten Denkmal Memphitischer Theologie (25. Dynastie) 91 92 93 94
S. dazu unten 38f. Übersetzung Meinhold, Sprüche 2, 446, s. zur Sache auch Fabry, a.a.O., 436. S. dazu Assmann, Tod, 34ff. Brunner, Das hörende Herz, 5.
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zum Ausdruck, wo es in Z.54 von der Schöpfung und Einrichtung der Welt durch Ptah heißt: Durch es (sc. das Herz) ist Horus, und durch sie (sc. die Zunge) ist Thot aus Ptah hervorgegangen. So entstand die Vorherrschaft von Herz und Zunge über [alle anderen] Glieder, und sie zeigt, dass er (Ptah) an der Spitze jedes Leibes und jedes Mundes aller Götter, aller Menschen, [aller] Tiere und aller Würmer steht, die leben, wobei er alles denkt und befiehlt, was er will.95 Nach Z.56 werden die Lebensfunktionen dabei so verteilt, dass das Herz der Sitz des Verstandes und die Zunge das Medium der sprachlichen Mitteilung ist: Die Götterneunheit erschuf das Sehen der Augen, das Hören der Ohren und das Riechen der Nase, und sie (sc. die Sinnesorgane) leiten es zum Herzen weiter. Dieses ist es, das alle Erkenntnis hervorbringt, und die Zunge ist es, die verkündet, was das Herz erdenkt.96 Wenn die Tat von innen kommt, wenn also »das ›Herz‹ meint, was der Mund sagt und die Hände tun«97, dann entsprechen sich Innen und Außen und fügen sich zu einem stimmigen Ganzen zusammen, das man als »Aufrichtigkeit« bezeichnen kann. Dieses Handlungsprinzip lässt sich bis zur Lehre des Ptahhotep (wohl aus dem Mittleren Reich, 11./12. Dynastie, 2020–1793 v.Chr.) zurückverfolgen, die als locus classicus der ägyptischen Vorstellung vom Herzen und ihrer Grundunterscheidung von Innen und Außen gelten kann: Man erkennt einen Weisen an dem, was er weiß, und einen Adligen an seinem guten Benehmen. Sein Herz (jb) stimmt mit seiner Zunge überein, und seine Lippen sind aufrichtig, wenn er spricht. (Ptahhotep 526–528)98 (Ende des Exkurses)
I) Wille und Plan Das Herz ist schließlich der Sitz des Wollens und Planens (vgl. Spr 16,999), wobei der Übergang von der kognitiven zur voluntativen Funktion wieder fließend ist. Da das Tun des Guten sich nicht von selbst versteht, muss der Mensch zu ihm angeleitet werden. Dies geschieht, wie der folgende ägyptische Text aus der 18. Dynastie besonders klar zeigt, durch das Herz als der Triebfeder menschlichen Handelns:
95 96 97
Übersetzung Peust/Sternberg, Denkmal, 173. Übersetzung dies., ebd., s. dazu Brunner, Art. Herz, 1163 und ders., Herz, 9f. Assmann, Geschichte des Herzens, 81, s. dazu ders., a.a.O., 103ff; ders., Ma ӭat, 85.119ff; ders., Ägypten, 154ff und Junge, Lehre Ptahhoteps, 113ff. 98 Übersetzung ders., Geschichte des Herzens, 104. Eine etwas andere Übersetzung bietet Junge, a.a.O., 183. 99 »Das Herz (leb) des Menschen plant (ۊƗšab) seinen (Lebens-)Weg, aber JHWH lenkt seinen Schritt.«
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Mein Herz war es, das mich dazu antrieb, (meine Pflicht) zu tun entsprechend seiner Anleitung. Es ist für mich ein ausgezeichnetes Zeugnis, seine Anweisungen habe ich nicht verletzt, denn ich fürchtete, seine Anleitung zu übertreten und gedieh deswegen sehr. Trefflich erging es mir wegen seiner Eingebungen für mein Handeln, tadelsfrei war ich durch seine Führung. [...] sagen die Menschen, ein Gottesspruch ist es (= das Herz) in jedem Körper. Selig der, den es auf den richtigen Weg des Handelns geführt hat!100
Von der »treibende(n) Kraft der voluntativen Bestrebungen«101 des Herzens, die seinen Träger zu einem bestimmten Handeln motiviert, geht auch das Alte Testament aus. Bei diesen Bestrebungen lassen sich mit H.J. Fabry drei Schritte – die Formierung eines Gedankens, der Übergang von der Absicht zum Wunsch und die Ausrichtung auf ein Ziel – unterscheiden:102 • Formierung eines Gedankens Der erste Schritt besteht im Nachdenken oder Sinnen, d.h. in der Formierung eines Gedankens »im Herzen«, die zu einer Handlungsabsicht führt. So sagt Nathan zu David, als dieser darüber nachdenkt, dass er in einem Haus aus Zedernholz sitzt, während die Lade Gottes in einem Zelt wohnt (2Sam 7,2): Alles, was in deinem Herzen (bilbƗbekƗh) ist, geh, tue es, denn JHWH ist mit dir! (2Sam 7,3)
• Übergang von der Absicht zum Wunsch Der zweite Schritt umfasst den Übergang von der Absicht zum Wunsch, der Kontur gewinnt, wenn vom Sprechen im Herzen oder zum eigenen Herzen die Rede ist. So heißt es – um einen locus classicus anzuführen – im Prolog der nichtpriesterlichen Flutgeschichte (Gen 6,5–8), dass JHWH, den es reute, den Menschen geschaffen zu haben, darüber und über die Bosheit des menschlichen Herzens (Gen 6,5) Schmerz empfand: 5
100 101 102
Und JHWH sah, dass die Bosheit des Menschen zahlreich war auf der Erde und jedes Gebilde der Gedanken seines Herzens (je܈ær maۊšebot libbô) nur böse war alle Tage.
Assmann, Ma ӭat, 120 Fabry, Art. leb/lebƗb, 437. S. dazu ders., a.a.O., 434f.437f.
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Da reute es JHWH, dass er den Menschen auf der Erde gemacht hatte, und es schmerzte ihn in seinem Herzen (wajjitӧa܈܈eb ӭæl-libbô).103 Und JHWH sprach: »Ich will austilgen den Menschen, den ich geschaffen habe, von der Oberfläche des Ackerbodens, vom Menschen bis zum Vieh, bis zum Gewürm bis zu den Vögeln des Himmels, denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe.« Noah aber fand Gnade in den Augen JHWHs.
Am Ende der nichtpriesterlichen Fluterzählung nimmt JHWH seinen Vernichtungsbeschluss durch einen Akt der Barmherzigkeit zurück und sichert der Erde damit ihren Fortbestand zu (Gen 8,20–22). Auch hier ist das Herz Gottes involviert, und zwar dasjenige Herz, das nach Gen 6,6 den Plan zur Vernichtung des Menschen gefasst hatte: 20 Und Noah baute einen Altar für JHWH und nahm von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln und ließ Brandopfer aufsteigen auf dem Altar. 21 Da roch JHWH den lieblichen Duft, und er sagte zu seinem Herzen (ӭæl-libbô = zu sich): »Ich will nicht noch einmal den Ackerboden um des Menschen willen verfluchen, denn das Gebilde des Herzens des Menschen ist böse von Jugend auf, und ich will nicht noch einmal alles Lebendige schlagen, wie ich es getan habe. 22 Während aller Tage der Erde (gilt): Saat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht sollen nicht aufhören.«104
• Ausrichtung auf ein Ziel Das Herz richtet sich schließlich auf ein bestimmtes Ziel aus, das die Handlung einleitet. Beispiele mit destruktiver Zielausrichtung sind die Vernichtung eines Beters durch dessen ›Freund‹ (Ps 55,22), die Gewalt der »bösen Männer« (Spr 24,2) oder die Gottlosigkeit Rehabeams (2Chr 12,14): 21 Er legte seine Hände an seine Freundschaft, entweihte seinen Bund. 22 Glatt waren die Butterstücke seines Mundes, aber sein Herz (leb) war Krieg. Milder waren seine Worte als Öl, doch sie waren gezückte Messer. (Ps 55,21f) 103 Wörtlich: »es schmerzte ihn zu ( æl) seinem Herzen hin / hinsichtlich seines Herӭ zens«, vgl. Ges18 999 s.v. c܈b hitp.: »und er empfand Schmerz bis in sein Herz hinein«. Die Präposition ӭæl bezeichnet die Richtung zu dem Ort bzw. Körperorgan hin, in dem der Vernichtungsbeschluss JHWHs (V.7) dann gefasst wird, vgl. zur Konstruktion auch 1Sam 20,34 und 2Sam 19,3. 104 Zu diesen beiden Texten s. Janowski, Empathie des Schöpfergottes (im Druck).
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Sei nicht eifersüchtig auf die bösen Männer und begehre nicht, mit ihnen zu sein! Denn auf Gewalttätigkeit sinnt ihr Herz (leb), und Beschwerliches reden ihre Lippen. (Spr 24,1f)105
Und er (sc. Rehabeam) tat Böses, denn er hatte sein Herz (leb) nicht gefestigt, um JHWH zu suchen. (2Chr 12,14)
Ein besonders eindrückliches Beispiel für die Fokussierung des Herzens auf ein bestimmtes Ziel ist die Beschreibung der Innenwelt des Frevlers und seines Tuns in Ps 36,2–5:106 2 3 4 5
Raunen des Verbrechens zum Frevler inmitten meines Herzens (leb), kein Gottesschrecken (ist/steht) vor seinen Augen.107 Denn es schmeichelte ihm in seinen Augen108 hinsichtlich des Findens seiner Verkehrtheit,109 um (sie) zu hassen. Die Worte seines Mundes sind Unheil und Trug, er hat aufgehört, klug zu handeln, Gutes zu tun. Unheil ersinnt er auf seinem Lager, er stellt sich auf einen Weg, der nicht gut ist, Böses verabscheut er nicht.
Der Beter, der hier spricht, hört in sich hinein und vernimmt dabei das »Raunen des Verbrechens«, das ihn zum Frevler machen will (V.2a).110 Die Sünde, so stellt der Text fest, ist eine Möglichkeit, die im Zentralorgan des – oder genauer: jedes – Menschen, nämlich in seinem »Herz« (leb) lokalisiert und über die Augen mit der Außenwelt verbunden ist, wobei der Frevler sich aber nicht einmal von einem »Gottesschrecken« erschüttern lässt: 105 Zu beachten ist in V.2 das Verb hƗgƗh »murmelnd nachsinnen«: »Das Ausdenken mit undeutlich murmelndem Selbstgespräch (in den Sprüchen noch 8,7; 15,28) wird dem Herzen als Äußerungsorgan zuerkannt; vernehmbar ausgesprochen und damit angekündigt werden die bösen Pläne mit dem Mund, für den die Lippen als sein äußerster Rand stehen. Abgezielt ist auf Gewalttätigkeit« (Meinhold, Sprüche 2, 401). Zu hƗgƗh in Spr 15,28 s. unten 38. 106 S. dazu außer Lohfink, Innenschau, 172ff und Janowski, Gott, 239ff noch Dietrich, Individualität, 83ff und Lichtenstein, Das »innere Chaos«, 49ff, der Ps 36,2–5 unter dem Thema des »Gewissens« analysiert. Zu leb/lebƗb in der Bedeutung »Gewissen« s. unten 24f. 107 Die Numerusdifferenz der beiden Suffixe »mein Herz« / »seine Augen« ist beabsichtigt und nicht zu korrigieren, s. dazu Janowski, a.a.O., 239 Anm. 29. 108 Wörtlich: »denn es (sc. das Verbrechen) glättete ihm (seine Zunge/Worte) in seinen Augen / umschmeichelte ihn in seinen Augen«. 109 Zum »Finden = Aufdecken« der Verkehrtheit s. noch Gen 44,16. In Ps 14,1 wird sogar der Inhalt der Rede des »Toren« (nƗbƗl ) mitgeteilt, die dieser in seinem Herzen kundtut: »Der Tor sprach in seinem Herzen (leb): ›Es gibt keinen Gott!‹ / Sie haben Verderben angerichtet, abscheulich gehandelt, es gibt keinen, der Gutes tut«. Zu den Gemeinsamkeiten zwischen Ps 14 und Ps 36 s. Hossfeld/ Zenger, Psalm 1–50, 223.226; Hüllstrung, »Nabal«, 168 und Lichtenstein, a.a.O., 56 mit Anm. 34.
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»Die Stelle des Leibes, wo der Sünder das Maß des Menschlichen verliert, sind seine Augen. Das Wort ›Auge‹ wird wiederholt (2b.3a) und beherrscht dadurch den Anfang der Beschreibung. Die Fenster des Menschen zur Welt sind keine Fenster mehr. Das Instrument, mit dem Wirklichkeit wahrgenommen und akzeptiert werden sollte, funktioniert nicht mehr. Denn vor den Augen müsste, wenn ein Mensch schon in die Sünde hineingeraten ist, Gottes Schrecken ansichtig werden: Gottes Reaktion auf das wirklichkeitszerstörende Sündigen, und nochmals dahinter einfach seine absolute Andersheit, sein Gottsein. Das können diese Augen nicht mehr wahrnehmen.«111
Warum? Weil der Frevler ein in sich verkrümmter Mensch (homo incurvatus in seipsum) ist: Er hat Augen, die nicht fähig sind, die eigene Verkehrtheit aufzudecken und zu hassen (V.3), und einen trügerischen Mund, der aufgehört hat, aus Einsicht (Ğkl hif.) Gutes zu tun (V.4). Darum ersinnt er (ۊƗšab) Unheil »auf seinem Lager« (V.5aC)112 und führt es auch aus, indem er einen Weg betritt, der nicht gut ist, und das Böse nicht verabscheut (V.5aD).113 So führt hier – im Gegensatz zum »weisen Herzen« von Spr 16,23, das den Mund seines Trägers achtsam macht und auf seinen Lippen Einsicht hinzufügt114 – die Bewegungsrichtung des frevelhaften »Raunens« vom Herzen (V.2a) über die Augen (V.2b.3) zum Mund (V.4) und von da zur bösen Tat (V.5). Das ist, wie V.4a unterstreicht (»er hat aufgehört, klug zu handeln, Gutes zu tun«), eine Handlungskette, die an Konsequenz nichts zu wünschen übrig lässt! • Zwischenfazit Der Begriff leb/lebƗb, so können wir resümieren, fungiert als Bezeichnung für sämtliche Schichten der Person – die vegetative, die emotionale, die kognitive und die voluntative Schicht – und hält damit wie kein anderer anthropologischer Begriff des Alten Testaments die Mehrschichtigkeit der Personstruktur fest.115 Diese Mehrschichtigkeit zeichnet bereits eine einzelne Funktion des Herzens wie das Wollen aus, das sich in mehrere Einzelschritte zerlegen lässt, nämlich:
111 112
Lohfink, a.a.O., 178. Vgl. das Wehewort Mi 2,1: »Wehe denen, die Unrecht planen / und Böses tun auf ihren Lagern: beim Morgenlicht führen sie es aus, / denn es steht in der Macht ihrer Hände«. Nach Kessler, Micha, 114f zeigt die sprachliche Nähe von Ps 36,5 zu Mi 2,1 »dass in der prophetischen Sozialkritik häufig von außen eben die Zustände kritisiert werden, die in den Klagen des Einzelnen der Betende als Betroffener beklagt«. Ps 36,5 beschreibt also die Innensicht der Vorgänge, deren Außenwirkung Mi 2,1–3 demonstriert. 113 Zu Ğkl hif. und ۊƗšab in V.4f s. Lichtenstein, a.a.O., 61f. 114 S. dazu unten 38f. 115 Vgl. Fabry, Art. leb/lebƗb, 425f.
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± in die Formierung eines Gedanken, die zu einer Handlungsabsicht führt (z.B. 2Sam 7,3) ± in den Wunsch, diese Absicht in die Tat umzusetzen (z.B. Gen 6,6f) ± in die Ausrichtung auf ein Ziel, das die Handlung einleitet (z.B. Spr 24,1f) Dieser Übergang vom anfänglichen Nachdenken (1) zur konkreten Handlungsabsicht (2) und von dieser zur Ausrichtung auf ein Handlungsziel (3) hat eine Entsprechung in den fließenden Übergängen, die die Gefühls-, die Verstandes- und die Willensfunktion des Herzens immer wieder miteinander verbinden. Darauf wird zurückzukommen sein.116 Da das Herz der Ort der Erkenntnis und des Wollens ist, kommt es dazu, dass leb/lebƗb (fast ausschließlich im dtr Geschichtswerk) die Bedeutung »Gewissen« annimmt. Ein schönes Beispiel dafür ist die Erzählung von der Verschonung Sauls in 1Sam 24,1–23. Während seiner Verfolgung Davids, so wird berichtet, ging Saul in eine der Höhlen bei En-Gedi, um seine Notdurft zu verrichten, ohne zu merken, dass David und seine Männer im Rückraum der Höhle saßen. Dann geschieht folgendes: 5
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Und die Männer Davids sagten zu ihm: »Siehe, das ist der Tag, von dem JHWH dir gesagt hat: ›Ich werde deinen Feind in deine Hände geben!‹ Siehe, geh mit ihm um, wie es in deinen Augen gut ist!« Und David erhob sich und schnitt heimlich den Zipfel von Sauls Mantel ab. Und es war danach, und Davids Herz (leb) schlug (nkh hif.) ihn, dass er den Zipfel von Sauls ›Mantel‹ abgeschnitten hatte. Und er sagte zu seinen Männern: »Das sei fern von mir um JHWHs willen, dass ich so etwas meinem Herrn, dem Gesalbten JHWHs, antue, meine Hand nach ihm auszustrecken, denn der Gesalbte JHWHs ist er!«
Das nachträgliche »Schlagen« von Davids Herz hat weder einen physiologischen noch einen emotionalen Grund, sondern ist als Reaktion des ethischen Urteilsvermögens, also als »Gewissen« zu verstehen.117 Es zeigt aber nicht nur an, »welch schlimmen Tabubruch allein schon der Zugriff auf den Mantel der durch die Salbung geheiligten Person des Königs darstellt«118, sondern wie gefährlich nah David vor der Versuchung stand, Hand an Saul zu legen (vgl. V.11f!). Als »Gewissen« ist das Herz die Instanz im Innern des Menschen, die sich in moralisch sensiblen Entscheidungs- und Handlungssituationen ›pochend‹ bemerkbar macht und seinen Besitzer auf seine Verantwortung ›anspricht‹ (Unterscheidung von moralisch richtig/gut und moralisch falsch/böse).119 In 116 117
S. dazu unten 37ff. Vgl. Dietrich, Samuel 2, 718f. Zu den weiteren Belegen für leb/lebƗb in der Bedeutung »Gewissen« (2Sam 24,10; 1Kön 8,38 u.ö.) s. Wolff, Anthropologie, 91.111f u.ö; Eckstein, Syneidesis, 105ff; Fabry, a.a.O., 439f; Markter, Transformationen, 30f und Lichtenstein, Menschenkenntnis Gottes (im Druck). 118 Krauss/Küchler, David, 215. 119 Zu Begriff und Phänomen des Gewissens s. Forschner, Art. Gewissen, 110ff und die Beiträge in Schaede/Moos (Hg.), Gewissen.
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unserer Tradition sprechen wir von einem »Gewissensbiss«. David »schlägt« noch ein zweites Mal das Herz, nämlich nach der von ihm durchgeführten Volkszählung (2Sam 24). Wie in 1Sam 24,6 ist dabei auffallend, dass das »Schlagen« des Herzens dem Wort Gottes gegenübergestellt wird (vgl. 1Sam 24,13): Danach aber schlug (nkh hif.) Davids Herz (leb) ihn, ‹dass› er das Volk gezählt hatte, und David sagte zu JHWH: »Ich habe schwer gesündigt, weil ich das getan habe. Aber nun, JHWH, vergib doch die Schuld deines Knechtes, denn ich habe sehr töricht gehandelt!« (2Sam 24,10)
Exkurs 3: Die Herzwägung im Totengericht Obwohl der Gesamtvorgang ein anderer ist, fühlt man sich bei dem Topos »Gewissen, Gewissenserforschung« an die »Herzwägung« im ägyptischen Totengericht erinnert (s. Abb. 2), in dem der Verstorbene seine Unschuld beteuert, um den Nachweis der »Ma aӭ t-Konformität des Herzens«120 zu erbringen. Der Text von Spruch 30A des Totenbuchs beschwört das Herz des Toten, sich diesem »nicht zu widersetzen im Totenreich«, sondern im Einklang mit ihm zu bleiben, wie es das Bild der Waage eindrücklich zeigt: 1
5
Mein Herz meiner Mutter, mein Herz meiner Mutter, mein Herz meiner irdischen Existenz – Stehe nicht auf gegen mich als Zeuge vor den (Var.: zur Seite der) »Herren des Bedarfs«! Sprich nicht gegen mich: »Er hat es tatsächlich getan« – dem entsprechend, was ich getan habe–, laß keine Anklage gegen mich entstehen vor dem (Var.: zur Seite des) Größten Gott, dem Herrn des Westens!«121
Abb.2: Herzwägung im Totengericht (Ägypten, Neues Reich) 120 Assmann, Ägypten, 155. Die Abb. stammt aus Brunner-Traut, Mythen, 73. Zum Rechtfertigungsgeschehen des ägyptischen Totengerichts s. Hornung, Tal der Könige, 149ff; Assmann, Ma ӭat, 122ff; ders., Ägypten, 178ff; ders., Herrschaft, 139ff.154ff; ders., Tod, 106ff.200ff.380ff.531ff, ferner Brunner-Traut, a.a.O., 72ff u.a. 121 Übersetzung Hornung, Totenbuch, 95.
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Die Wägeszene gehört zur Standardillustration der Totenbücher. Danach wird der Verstorbene in die Gerichtshalle des Osiris und seiner 42 Beisitzer geführt und dort vernommen. Während auf einer von dem schwarzköpfigen Totengott Anubis (links, den Verstorbenen geleitend) beobachteten Waage sein Herz (als Organ der bewussten Lebensführung) gegen die Ma aӭ t bzw. deren Symbol (eine Feder) aufgewogen wird, spricht der Tote das negative Sündenbekenntnis (s. im Folgenden). Ein Fehlverhalten auf Erden bringt die Waage zum Ausschlag, und der Gott der Rechenkunst, Thot (rechts), verzeichnet unbestechlich die Sünden. Der schließlich als »Feind« oder »Verdammter« überführte Mensch wird der »Fresserin«, einem Mischwesen aus Krokodilskopf, Löwenleib und Nilpferdhinterteil (links von der die Ma ӭat-Feder tragenden Waagschale) übergeben. Die postmortale Existenz des Menschen hing demnach entscheidend von seinem ethischen Verhalten auf Erden ab, das in diesem Vorgang der Herzwägung geprüft wird. Spruch 125 des Totenbuchs versprachlicht diesen Vorgang in Form des sog. »Negativen Sündenbekenntnisses«: Ich (sc. der Verstorbene) habe kein Unrecht gegen Menschen begangen, und ich habe keine Tiere misshandelt. 15 Ich habe nichts »Krummes« an Stelle von Recht getan. Ich kenne nicht, was es nicht gibt, und ich habe nicht Böses erblickt (Var.: getan). Ich habe nicht am Beginn jeden Tages die vorgeschriebene Arbeitsleistung erhöht, mein Name gelangte nicht vor den »Leiter der Barke« (Sonnengott?). 20 Ich habe keinen Gott beleidigt. Ich habe kein Waisenkind an seinem Eigentum geschädigt. Ich habe nicht getan, was die Götter verabscheuen. Ich habe keinen Diener bei seinem Vorgesetzten verleumdet. Ich habe nicht Schmerz zugefügt und (niemand) hungern lassen, 25 ich habe keine Tränen verursacht. Ich habe nie getötet, und ich habe (auch) nicht zu töten befohlen; niemandem habe ich ein Leid angetan.122 Und so geht es weiter. »Im Totengericht«, so E. Hornung, »wird der Ist-Zustand des irdischen Lebens für jeden Menschen mit dem Soll-Zustand verglichen und ausgewogen.«123 Es ist »kein einmaliges ›Jüngstes Gericht‹, sondern, ständig erneuert, die große Reinigung, die den Menschen erst dazu fähig macht, das Jenseits und damit die Welt der Götter zu betreten«124. In seinem Zentrum steht die Konfrontation von Herz und Ma ӭat als den Symbolen des »inneren Menschen«125 und der göttlichen Sphäre. Nur wenn beides in Übereinstimmung ist, wenn also das Herz zum Ort und Träger der Ma ӭat wird bzw. im Totengericht als solches befunden wird, kann davon
122 Übersetzung ders., a.a.O., 234, s. dazu auch Assmann, Ma at, 136ff und ders., ӭ Herrschaft, 156ff. 123 Hornung, Schwarze Löcher, 231. 124 Ders., ebd., vgl. Assmann, Ma ӭat, 124ff und ders., Ägypten, 155. 125 Zur ägyptischen Auffassung vom Herzen als Symbol des »inneren Menschen« s. oben 18f.
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die Rede sein, dass »der Mensch sich seiner Individualität bewußt wird und ›von innen‹ gesteuert weiß«126. (Ende des Exkurses)
2. Gott und das menschliche Herz Der einzige, der Zugang zum menschlichen Herzen hat, ist Gott: er hat es geschaffen (vgl. Ps 33,15),127 er sieht in es hinein und er »prüft« es zusammen mit den Nieren. Dieser göttliche Prüfvorgang, aber auch die Bitte um ein »reines Herz« steht im Folgenden im Vordergrund. An beiden Motiven lässt sich das Verhältnis Gottes zum Personzentrum des Menschen paradigmatisch aufzeigen. a) »Der Herz(en) und Nieren prüft« Von den inneren Organen des Menschen sind es neben dem Herzen besonders die Nieren, die im Alten Testament (13mal) mit den verschiedensten Regungen und Qualitäten in Verbindung gebracht werden.128 Sie sind der Sitz der Empfindungen, sie sind von Gott geschaffen und fungieren als nächtliche Lehrmeister des Menschen. • Sitz der Empfindungen Die Nieren gelten als Sitz der Empfindungen von der Freude bis zum tiefsten Leid: 15 Mein Sohn, wenn dein Herz (leb) weise geworden ist, freut sich tatsächlich mein Herz (leb), 16 und es frohlocken meine Nieren (kelƗjôt), wenn deine Lippen Aufrichtiges sagen. (Spr 23,15f) 21 Als mein Herz (leb) sich verbitterte, und ich in meinen Nieren (kelƗjôt) ein scharfes Stechen fühlte, 22 da war ich ein Dummkopf und begriff nicht, (ganz und gar) Vieh war ich vor dir. (Ps 73,21f)
Die tiefste seelische Not sitzt in den Nieren. Nach Hi 16,12–14 erscheint Gott als feindlicher Bogenschütze, der seine Pfeile auf seinen leidenden Knecht abschießt und diesen tödlich in die Nieren trifft: 12 Ruhig lebte ich, da hat er mich durchgeschüttelt, er hat mich im Genick gepackt und mich zerstückelt. Er hat mich für sich zur Zielscheibe hingestellt, 126 Assmann, a.a.O., 121. 127 S. dazu unten 28f. 128 Zu den Nieren im Alten Testament s. Wolff, a.a.O., kHlƗjôt, 185ff; ders., Art. Nieren, 926; Kegler, Beobachtungen,
Menschsein, 34ff (Frevel) und Liess, Weg des Lebens, 198.
111f; Kellermann, Art. 33ff; Frevel/Wischmeyer,
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13 es umringen mich seine Pfeile, er spaltet meine Nieren (kelƗjôt) und verschont nicht, er gießt zur Erde aus meine Galle (mererƗh); 14 er zerreißt mich, Riss auf Riss, er rennt gegen mich an wie ein Kriegsheld. (Hi 16,12–14)129 Er hat gebracht über meine Nieren (kelƗjôt) die Söhne des Köchers (= seine Pfeile). (Klgl 3,13)
• Erschaffung durch Gott Die Nieren sind von Gott geschaffen. Nach Ps 139,13–18 rekurriert der Beter auf diesen Sachverhalt, indem er an seine »persönliche Schöpfungsgeschichte«130 erinnert: 13 Fürwahr, du selbst hast meine Nieren (kelƗjôt) geschaffen, hast mich gewoben im Leib meiner Mutter. 14 Ich preise dich, dass ich erschreckend wunderbar bin, wunderbar sind deine Werke, und meine næpæš (= ich)131 weiß das wohl. 15 Nicht war mein Gebein (co܈æm) verborgen vor dir, als ich gemacht wurde im Verborgenen, kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde. 16 Mein Ungeformtes (golem)132 sahen deine Augen, und in dein Buch werden sie allesamt geschrieben werden: die Tage, die geformt wurden, als (noch) nicht einer von ihnen war. 17 Mir aber – wie kostbar sind mir deine Absichten, Gott, wie gewaltig sind ihre Summen! 18 Wollte ich sie zählen, sind sie zahlreicher als Sand, ich bin erwacht, und noch bin ich bei dir.
Nach dem Weg nach außen in die Weite des Kosmos (V.7–12) wird hier der Weg nach innen zum Geheimnis der Geburt beschrieben. Dabei bezeichnet das Innere – dafür stehen die »Nieren« (V.13a) – dasjenige am Menschen, was neben dem »Herz« (V.23a) der Prüfung durch JHWH unterliegt (vgl. Ps 33,15). Der Mensch, so weiß der Beter, ist von Gott »geschaffen« // »gewoben im Leib meiner Mutter« (V.13). Und dieses Wissen wird für ihn zum Gegenstand der rückblickenden Dankbarkeit (V.14) für das wunderbare Handeln Gottes, das in der Regel dessen Taten in der Geschichte (Ex 34,10; Ps 45,5; 65,6; 106,22 u.ö.) bezeichnet. 129 Übersetzung Ebach, Hiob 1, 136. Nach Kellermann, a.a.O., 189 verraten Hi 16,13 und Klgl 3,13, dass hier »die äußerst stechenden Schmerzen einer Nierenkolik infolge von Nierensteinen bildhaften Ausdruck fanden«. Auch Ps 16,7 führt Kellermann als Beleg für Nierenschmerzen an, s. dazu aber unten Anm. 133. 130 Wolff, a.a.O., 149. 131 Der Begriff næpæš, der in V.13–16 im Kontext von Körperbegriffen auftritt (Nieren, Mutterleib, Gebein, Ungeformtes), fungiert dabei als ein »Stellvertreterausdruck der Person«, s. dazu oben 4f. 132 Bei dem Terminus golem geht es nicht um Details der Menschwerdung, sondern um den Rückgriff auf deren zeitlichen Anfang. Zu golem bzw. zum Embryo s. Grohmann, Anfang des Lebens, 368f; Staubli/Schroer, Menschenbilder, 49f u.a.
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Interessanterweise wird die Aussage über das »Ungeformte« (V.16a) durch den Gedanken der noch ungeformten Lebenstage fortgeführt, die im göttlichen Buch verzeichnet sind und das Leben des Menschen vorausbestimmen (V.16b). Das aber heißt: Gott ist nicht nur der Schöpfer des Lebens, sondern auch der Souverän der Zeit (vgl. Ps 90,2–4). Der Text reflektiert damit die Nicht-Existenz der Lebenstage im Kontrast zu ihrer Existenz bei Gott und stellt den Beter abermals vor das Wunder der kostbaren Absichten Gottes (V.17f). Der Form nach ist V.17 ein Bewunderungsruf über die unermessliche Größe Gottes bzw. seiner Gedanken (V.18b, vgl. Ps 104,24, ferner Ps 36,8 u.a.), die sich der Beter bewusst vor Augen stellt und an die er sich erinnert. So verläuft der gedankliche Weg des Beters von innen wieder nach außen zur Gewissheit der dauernden Gottesgemeinschaft. Aber diese Gemeinschaft mit Gott ist durch Frevler // Blutmänner gefährdet, wenn der Beter den rechten Weg verlässt, um mit ihnen gemeinsame Sache zu machen (V.19–22). Das tut er aber nicht. Um sich seiner Haltung zu vergewissern, bittet er um eine erneute Erforschung seines Herzens und seiner Gedanken durch Gott (V.23f): 19 Wenn du (doch) tötetest, Gott, den Frevler, und ihr Blutmänner, weicht von mir, 20 die dich arglistig nennen, die (ihre Stimme) zu Haltlosem erhoben haben, deine Feinde! 21 Hasse ich etwa nicht, JHWH, die dich hassen, und ekle ich mich etwa nicht vor denen, die sich gegen dich auflehnen? 22 Mit äußerstem Hass hasse ich sie, zu Feinden sind sie mir geworden. 23 Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz (lebƗb), prüfe mich und erkenne meine Gedanken (Ğar cappîm)! 24 Und sieh, ob ein Götzenweg an mir ist, und leite mich auf ewigem Weg!
• Nächtliche Lehrmeister Schließlich ist das in Ps 16,7 enthaltene Bild von den Nieren als den nächtlichen Lehrmeistern zu nennen, das im Alten Testament ohne Parallele ist: Ich segne JHWH, der mich beraten hat, auch in Nächten mahnen mich meine Nieren (kelƗjôt).133
Als Sitz der innersten Regungen des Menschen sind die Nieren ebenso wie das Herz der Ort des Einwirkens Gottes. So steht die in Jer 11,20; 12,3 (nur leb); 17,10; 20,12 sowie in Ps 7,10 und 26,2 belegte Wendung vom ›Prüfen von Herz(en) und Nieren‹134 für das innerste Wesen des Menschen, zu dem nur Gott Zugang hat und das er »prüft« (bƗۊan): 133 Dieser Text deutet nicht auf Nierenschmerzen (so aber Kellermann, Art. kelƗjôt, 189, vgl. oben Anm. 129), sondern auf die »beratende« (j c )܈// »unterweisende« (jsr pi.) Funktion der Nieren hin, s. dazu Liess, Weg des Lebens, 194ff, vgl. Wolff, a.a.O., 111. 134 S. dazu Rösel, »Prüfer der Herzen«, 293ff; zu Ps 7,10 und 26,2 s. Janowski, Konfliktgespräche, 150.
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JHWH Zebaoth ist ein Prüfer des Gerechten (boۊen ܈addîq), ein Nieren- und Herz-Seher (ro ӭæh kelƗjôt wƗleb). Ich werde deine Ahndung an ihnen sehen, denn dir habe ich meinen Rechtsstreit enthüllt. (Jer 20,12)
Dass im Alten Testament »Herz(en) und Nieren« als Objekt der göttlichen Prüfung genannt werden, soll den ›ganzen Menschen‹ charakterisieren, »indem je ein besonders wichtiges Organ der zwei Teile des menschlichen Leibes erwähnt wird: das Herz als Körperteil im Oberbauch über dem Zwerchfell und die Nieren als Repräsentanten des unter dem Zwerchfell sich ausdehnenden Unterbauchs«135. Es gibt zahlreiche Belege, die denselben Sachverhalt – das göttliche Wissen um den Menschen – allein vom Herzen aussagen, z.B.: 13 Vom Himmel blickte JHWH herab, er sah alle Menschenkinder, 14 von der Stätte seines Wohnens schaute er auf alle Bewohner der Erde, 15 der Bildner ihrer Herzen (leb) allesamt, der Achtende auf alle ihre Werke. (Ps 33,13–15)
Der Schöpfer des Herzens ist der universale Richter und Retter (vgl. V.16–19!). Und das Herz des Menschen ist »in einzigartiger Weise der Punkt, an dem JHWH des Menschen Existenz betrifft«136. b) Das »reine« und »feste« Herz Es ist bezeichnend, dass sich die emotionale, die kognitive und die voluntative Funktion des Herzens auch in den Adjektiven zeigt, die zu leb/lebƗb hinzutreten können.137 Als prominentes Beispiel dafür kann Ps 51 gelten, der zusammen mit Ps 6; 32; 37; 102; 130 und 143 zu den sieben kirchlichen Bußpsalmen gehört.138 Er stellt ein nachexilisches Bittgebet eines einzelnen mit sekundärer biographischer Überschrift (V.1f) und zionstheologischer Fortschreibung (V.20f) dar. Im Anschluss an H. Irsigler139 lässt sich sein Aufbau wie folgt skizzieren:
Kellermann, Art. kHlƗjôt, 191, vgl. ders., Art. Nieren, 926, zur medizinischen Problematik s. Smith, Herz, 1711ff. 136 Fabry, Art. leb/lebƗb, 439, vgl. 438f. 137 Vgl. die Zusammenstellung bei Fabry, a.a.O., 422. 138 S. dazu Zenger, Art. Bußpsalmen, 839f. 139 S. dazu Irsigler, Neuer Mensch, 296f mit Diskussion alternativer Gliederungsvorschläge, anders z.B. Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 45ff (Zenger) und Pfeiffer, »Herz«, 293ff, die jeweils in V.3–11 und V.12–19 untergliedern. 135
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Thema: Bitten um Reinigung von Sünde
5–14
Durchführung des Themas 5–8 Sündenbekenntnis 9–14 Bitten um Reinigung und Neuschaffung
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15–19 Qualitäten des ›neuen Menschen‹ 15–17 Befähigung zum Lehren und Loben 18–19 Begründung
Während das Sündenbekenntnis in den Individualpsalmen auffallend zurücktritt – dominant sind hier vielmehr die (An-)Klage und die Unschuldsbeteuerung140 –, tritt es im ersten Teil von Ps 51 (V.3–14) beherrschend in den Vordergrund: Thema: Bitten um Reinigung von Sünde (mit Invocatio) 3 4
Sei mir gnädig, Gott, nach deiner Güte, nach der Fülle deiner Barmherzigkeit wisch ab meine Verbrechen! Wasche mich ganz rein von meiner Verkehrtheit, und von meiner Verfehlung reinige mich!
Sündenbekenntnis 5 6
7 8
Denn meine Verbrechen erkenne ich selbst, und meine Verfehlung ist beständig vor mir. An dir allein habe ich gesündigt, und das in deinen Augen Böse habe ich getan, so dass du dich als gerecht erweist in deinem Reden, makellos in deinem Richten. Siehe, in Schuld wurde ich in Wehen geboren, und in Verfehlung hat mich empfangen meine Mutter. Siehe, an Wahrheit hast du Gefallen im Innersten, und im Verborgenen – Weisheit lässt du mich erkennen.
Bitten um Reinigung und Neuschaffung 9 10 11 12 13 14
140
Entsündige mich mit Ysop, dass ich rein werde, wasche mich, dass ich weißer werde als Schnee! Lass mich hören Wonne und Freude, es sollen jauchzen die Gebeine, die du zerschlagen hast! Verbirg dein Angesicht vor meinen Verfehlungen, und alle meine Verkehrtheiten wisch ab! Ein reines Herz erschaffe mir, Gott, und einen beständigen Geist erneuere in meinem Inneren! Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und deinen heiligen Geist nimm nicht von mir! Bring mir zurück die Wonne deiner Rettung, und mit einem willigen Geist sollst du mich stützen!
S. dazu die Gesamtdarstellung bei Janowski, Konfliktgespräche, passim.
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Dieser erste Teil des Psalms wird in V.3f mit einem eindringlichen Appell an den Gott eröffnet, der sich nach Ex 34,6f als barmherziger und gnädiger Gott vorgestellt hat, der Verkehrtheit, Verbrechen und Vergehen vergibt: 6 7
JHWH zog vor ihm (sc. Mose) vorüber und rief: JHWH, JHWH, ein barmherziger und gnädiger Gott, langsam zum Zorn und reich an Güte und Treue: der Güte bewahrt den Tausenden, der Verkehrtheit, Verbrechen und Verfehlung vergibt, aber (den Sünder) gewiss nicht aus der Haftung entlässt, der Rechenschaft einfordert bezüglich der Verkehrtheit der Väter an den Söhnen und Enkeln, an der dritten und vierten Generation.141
Durch die drei Verben »ab-/wegwischen« (mƗۊƗh), »waschen« (kbs pi.) und »reinigen« (ܒhr pi.), mit denen in Ps 51,3f (vgl. V.9–11) um die Reinigung von der Sünde gebeten wird, wird diese als ›Schmutz‹ qualifiziert, der den Menschen von innen her verunreinigt. Die Opposition von rein und unrein ist Ausdruck eines komplexen, auf die symbolische Ordnung der Wirklichkeit ausgerichteten Systems, das eine eigene Logik besitzt142 und auch im Alten Testament eine zentrale Rolle spielt. In Ps 51,9 (Ysop // Waschung) ist allerdings nicht (mehr) von einem konkreten Reinigungsritus die Rede, vielmehr wird mit Hilfe kultischer Begrifflichkeit von einer Unreinheit und ihrer Beseitigung gesprochen, die in die Tiefen menschlicher Existenz hinabreicht.143 Diese Tiefendimension ergibt sich vor allem aus V.5–8. Denn hier hält sich der Beter – nicht aus eigener Einsicht, sondern angeleitet durch die Weisheit Gottes (V.8)! – seine Sünde(n) vor Augen und bekennt, dass er nicht gegen dies und das, sondern allein an Gott gesündigt hat (V.6, vgl. 2Sam 12,13). Was er dabei erkennt, nämlich seine eigene Sündhaftigkeit, ist schwerwiegend. Sie kommt »aus einer rätselhaften Tiefe seiner menschlichen Existenz«144 und bestimmt diese von Anfang an. Das zeigt die Rede von Geburt und Empfängnis (V.7),145 die deutlich macht, dass er Teil einer sozialen Gemeinschaft ist, in die er hineingeboren wird, in 141 142 143
Zu diesem Text s. Janowski, Gott, 156ff. S. dazu die klassische Darstellung von Douglas, Reinheit und Gefährdung. S. dazu Irsigler, a.a.O., 297ff.310f. Zur Reinigung mit Ysop s. Lev 14,1–9; Num 19,14–19 u.ö. 144 Zenger, Erbsündentheologie, 16, vgl. 21. Es geht hier nicht um »Erbsünde« im traditionellen Sinn, sondern um »eine von Anfang an gegebene Schuldverhaftung als allgemeine Sündhaftigkeit von den Anfängen menschlicher Existenz her« (Irsigler, a.a.O., 307), also um eine überindividuelle Schuldverstrickung vom Lebensbeginn an, s. dazu auch Lohfink, Das Jüdische, 182 und Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 51f (Zenger). 145 Mit der Umkehrung der tatsächlichen Reihenfolge (zuerst Empfängnis, dann Geburt) wird die »Verkehrtheit« der Sünde auch formal zur Sprache gebracht, s. dazu Grohmann, Fruchtbarkeit, 204.
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der er lebt und von der er sich als handelnde Person nicht dispensieren kann. Die Schulderfahrung des Menschen gründet in Unheilszusammenhängen, die täglich aufbrechen können und die immer wieder eine überindividuelle Dimension haben. Das meint das Symbol der Geburt. Deshalb haben wir, so P. Ricœur, »kein Recht, über das bereits vorfindliche Böse außerhalb des Bösen, das wir setzen, zu spekulieren. Hier liegt zweifellos das letzte Geheimnis der Sünde: Wir beginnen das Böse, durch uns kommt es in die Welt, aber wir beginnen es von einem bereits vorhandenen Bösen aus, wofür unsere Geburt das undurchdringliche Symbol bildet.«146
Nur eine fundamentale Neubestimmung kann dem Sünder deshalb eine neue Sicht auf sein Leben eröffnen. Diese Neubestimmung wird in V.12– 14 mit Hilfe der Verben bƗrƗ ӭ »erschaffen« (immer mit Subjekt Gott) und ۊdš pi. »neu machen« als Neuschöpfung qualifiziert. Sie ist keine Wiedererlangung einer ehemals vorhandenen Reinheit, sondern eine »bleibende Verwandlung«147 des sündigen Menschen, die durch einen kreativen Akt Gottes in dessen Personzentrum, nämlich in seinem »Herzen« (leb V.12a. 19b) und in seinem »Geist« (rûa ۊV.12b.13b.14b.19a) geschieht. Während das Herz als Sitz der Gefühle, des Verstandes und des Willens das Zentralorgan des Menschen ist,148 ist der Geist, wie vor allem Ez 11,19f und 36,25–27 zeigen,149 die Quelle der von Gott gewirkten Erneuerung des Menschen: 25 Und ich sprenge über euch reines Wasser und ihr werdet rein sein. Von allen euren Unreinheiten und von allen euren Götzen werde ich euch rein machen. 26 Und ich gebe euch ein neues Herz (leb ۊƗdƗš), und einen neuen Geist (rûaۊ ۊadƗšƗh) gebe ich in euer Inneres. Und ich entferne das Herz von Stein (leb hƗ æӭ bæn) aus eurem Fleisch und gebe euch ein Herz von Fleisch (leb bƗĞƗr). 27 Und meinen Geist gebe ich in euer Inneres, und ich mache, dass ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Rechte bewahrt und sie tut. (Ez 36,25–27)
Das von JHWH geschaffene »neue Herz« Israels wird, so paraphrasiert F. Sedlmeier, »mit ›meinem‹ – JHWHs – ›Geist‹, also mit seiner Lebensmacht gefüllt. Es ist dieses mit Gottes Geist erfüllte Herz, das zu einem Leben nach der Weisung Gottes befähigt. Der so von Innen heraus erneuerte Mensch kann den Sinn der göttlichen Weisung verstehen und danach leben. Auf diesem Wege vermag Israel den heilsamen Lebensraum zu bilden, der immer schon in den Plänen JHWHs lag. So wird Israel schließlich befähigt, ein Gotteszeugnis vor den Völkern abzulegen, auf 146 147 148 149
Ricœur, Erbsünde, 161, vgl. Hünermann, Peccatum originale, 94ff.98.101ff.106f. Irsigler, a.a.O., 310, vgl. Hossfeld/Zenger, a.a.O., 50 und Pfeiffer, »Herz«, 305f. S. dazu oben 12f. S. dazu die Hinweise bei Hossfeld/Zenger, a.a.O., 52f, ferner Pfeiffer, a.a.O., 301ff; Irsigler, a.a.O., 312f und ausführlich Sedlmeier, Transformationen, 219ff und Markter, Transformationen, 330ff.420ff.477ff.
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dass der Name Gottes nicht länger entweiht wird, sondern die Völker zur Erkenntnis des Lebendigen gelangen«150.
Nach Ps 51,12 sollen beide, Herz und Geist, »rein« und »beständig« werden, damit der Beter das mit dem Herzen Erkannte zuverlässig (»beständiger Geist« V.12b) und hingebungsvoll (»williger Geist« V.14b) tun kann.151 Das ist aber nur möglich, weil und sofern Gott sein Angesicht nicht vom Beter abwendet (V.13a) und seinen »heiligen Geist« nicht von ihm wegnimmt (V.13b), sondern die »Wonne« seiner Rettung zu ihm »zurückbringt« (šûb hif. V.14a) – obwohl der Beter sich als Sünder weiß. Das ist paradox! »Wir spüren«, kommentiert H. Irsigler treffend, »die Spannung zwischen der Vorstellung von Verlierbarkeit heilvoller Erfahrung und intentionaler Endgültigkeit der Neuschöpfung durch Gott«152. Die Dringlichkeit, mit der in V.12 um die »Reinheit« des Herzens und die »Beständigkeit« des Geistes gebeten wird, macht diese Spannung unübersehbar. Man kann zu der Bitte von Ps 51,12–14 einen Text – nämlich Ps 57,7–9 – vergleichen, der innerhalb des zweiten Davidpsalters Ps 51–72 zur Teilgruppe Ps 56–60 gehört und den Topos des »festen, beständigen Herzens« enthält. Das Bittgebet Ps 57 besteht aus zwei, jeweils durch einen Kehrvers (V.6.12) abgeschlossenen Teilen (V.2– 5.6: Bitte mit Notschilderung; V.7–11.12: Vertrauensbekenntnis mit Lobgelübde),153 die sich inhaltlich zwar unterscheiden, aber vielfach miteinander verklammert sind. Für unsere Fragestellung beschränken wir uns auf den zweiten Teil des Psalms: 7
Ein Netz haben sie (sc. die Feinde) bereitet für meine Schritte, gebeugt ‹ist› / ‹hat man›154 meine Lebenskraft (= mich), sie haben vor mir eine Grube gegraben, sie sind hineingefallen mitten in sie. – Sela 8 Fest ist mein Herz (leb), Gott, fest ist mein Herz (leb)! Ich will singen und auf Saiten spielen! 9 Wach auf, meine Herrlichkeit, wach auf, Harfe und Leier, ich will (die) Morgenröte wecken! 10 Ich will dich loben unter Völkern, mein Herr, ich will dich mit Saitenspiel preisen unter Nationen! 11 Denn groß bis an (die) Himmel ist deine Gnade und bis an die Wolken deine Treue! 12 Erhebe dich über (die) Himmel, Gott, über die ganze Erde deine Herrlichkeit!
150 151 152 153
Sedlmeier, Transformationen 230, vgl. 232f. Vgl. Hossfeld/Zenger, a.a.O., 53. Irsigler, a.a.O., 314. S. dazu Hossfeld/Zenger, a.a.O., 118ff (Zenger) und Riede, Netz des Jägers, 127ff; Sticher, Rettung der Guten, 177ff, anders (I. V.2–7*, II. V.8–12*) und mit eigenartigen literarkritischen Optionen Müller, Herz, 59ff. Diskutabel ist die Ursprünglichkeit von V.10f, s. dazu Hossfeld/Zenger, a.a.O., 122. 154 Enweder als Part.pass. kƗpûp (»gebeugt ist«) oder als distributiven Singular kƗpap (»gebeugt hat man«, s. GK28 § 145m) zu verstehen oder mit LXX pluralisch zu lesen (»gebeugt haben sie«), s. die Diskussion bei Müller, a.a.O., 60f.
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Das Vertrauensbekenntnis mit Lobgelübde (V.7–12) setzt in V.7 mit einer im sog. perfectum propheticum gehaltenen Feindbeschreibung ein und geht in V.8 in die Konstatierung des Vertrauens über. Um die in V.8 geäußerte doppelte Gewissheit der »Festigkeit« des Herzens zu verstehen, ist auf die Feindbeschreibung von V.7 zurückzugehen. Denn zum einen verwendet diese für die »Bereitstellung« der Jagdausrüstung der Feinde die Wurzel KWN (kwn hif. »bereiten, herrichten«), die in V.8 antithetisch die »Festigkeit« des Beterherzens zum Ausdruck bringt (kwn Part. nif. »fest, beständig sein«, vgl. Ps 108,2; 112,7).155 Zum anderen erlangt der Beter seine »Festigkeit« aus der Gewissheit, dass seine Feinde »Opfer ihrer eigenen Bosheit«156 werden bzw. geworden sind (V.7b: »sie sind hineingefallen mitten in sie [sc. die Grube]«, vgl. Ps 7,16; 9,16; 35,8 u.ö.),157 wenn Gott im Sinne des Kehrverses V.6.12 seine universale Gerechtigkeitsordnung wiederherstellt: 7
Ein Netz haben sie bereitet (kwn hif.) für meine Schritte, gebeugt ‹ist› / ‹hat man› meine Lebenskraft (= mich), sie haben vor mir eine Grube gegraben, sie sind hineingefallen mitten in sie. – Sela
8
Fest ist (kwn Pt. nif.) mein Herz (leb), Gott, fest ist (kwn Pt. nif.) mein Herz (leb)! Ich will singen und auf Saiten spielen!
Konstitutiv für das hier und in den Folgeversen beschriebene Rettungsgeschehen ist der Sachverhalt, dass der Vorgang des »Erwachens« im Inneren des Beters – d.h. in seinem »festen, beständigen« Herzen, das wieder singen und spielen kann – beginnt (V.8) und sich in Gestalt der ›erwachenden‹ Instrumente (Harfe und Leier V.9a) bis an den Rand der Schöpfungswelt (V.9b) erstreckt. Hier, wo die aufgehende »Morgenröte« den Umbruch von der Chaosnacht/Feindbedrängnis zum Schöpfungstag/Errettung ankündigt, ereignet sich »die Ankunft des Strahlglanzes JHWHs, der die Dunkelheit vertreibt«158. So ist das »feste, beständige« Herz des Beters eingebunden in einen kosmischen Horizont des Gotteslobs, der Himmel und Erde umfasst. Nichts bringt dieses reziproke Verhältnis des in seiner Herrlichkeit erscheinenden Gottes und des diesen Gott lobenden Beters besser zum Ausdruck als der Begriff kƗbôd »Herrlichkeit« in V.9a und V.12b:
155
S. dazu nach wie vor Koch, Art. kwn usw., 102ff; Müller, a.a.O., 75ff bringt demgegenüber nichts Neues. Ein Gegentext zur Festigkeitsaussage von Ps 57,8a ist etwa die Feindbitte von Ps 13,5, wo der Beter darum bittet, dass »mein Feind nicht behauptet: ›Ich habe ihn überwältigt!‹ / meine Gegner nicht jubeln, dass ich wanke (mû«!)ܒ. Zur kosmologischen Bedeutung von mû» ܒwanken, schwanken« s. Janowski, Konfliktgespräche, 71f und zum leb-Beleg in Ps 13,3 oben 13 mit Anm. 67. 156 Hossfeld/Zenger, a.a.O., 128. 157 Dieser Zusammenhang von V.7 und 8 wird von Müller, a.a.O., 81 übergangen bzw. nicht gesehen. 158 Hartenstein, »Wach auf«, 104.
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»Der angeredete kabod des Beters in Ps 57,9 steht ... in Entsprechung zum kabod JHWHs in V.12 (und V.6). ... Im Morgenlob fließen göttliche Anrede und menschliche Antwort zusammen.«159
Wenn man, noch einmal zu Ps 51 zurückkehrend, auf den Gebetsprozess seines ersten Teils (V.3–14) zurückblickt,160 wird deutlich, dass sich das, was er unter Neuschöpfung versteht, nicht von selbst einstellt. Es bedarf der Erkenntnis und Anerkenntnis der eigenen Sünde. Das aber gehört zum Schwersten. Niemand ist aus sich allein zu solcher Erkenntnis fähig, sie bedarf des Anstoßes von außen, der – wie der Beter von Ps 51 weiß – von Gott kommt: »Siehe, an Wahrheit hast du Gefallen im Innersten, und im Verborgenen – Weisheit lässt du mich erkennen« (V.8). Und weil der Beter um diese Initiative Gottes weiß und sie zu erleben hofft, setzt er im zweiten Teil mit einem Versprechen (V.15) und nochmaligen Bitten (V.16f) ein: 15 Ich will lehren Verbrecher deine Wege, dass Sünder zu dir zurückkehren. 16 Errette mich aus Blutschuld, Gott, Gott meiner Rettung, dass meine Zunge juble über deine Gerechtigkeit(stat)! 17 Herr, meine Lippen sollst du öffnen, so wird mein Mund verkünden dein Lob!
Hier geht es nicht um eine äußerliche Belehrung der Sünder, sondern um eine werbende Einsicht in die »Wege« Gottes, wie sie der Beter selbst gewinnt und die auch die Sünder zu Gott »zurückkehren« lassen kann (šûb qal, vgl. V.14a: šûb hif.). Solche Einsicht, die vor einer todbringenden Gefahr (»Blutschuld« V.16a)161 warnt, macht frei und drängt zum jubelnden Gotteslob (V.16b.17). Dieses wird in V.18f opfertheologisch begründet. Es ist aber, wie die auf die Metapher von den »zerschlagenen Gebeinen« (V.10) zurückgreifende Formulierung zeigt, ein Opfer sui generis: 18 Denn ein Schlachtopfer gefällt dir nicht, und gebe ich ein Brandopfer – du hast kein Wohlgefallen (daran), 19 Schlachtopfer Gottes sind ein zerbrochener Geist (rûa ۊnišbƗrƗh), ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz (leb nišbƗr wenidkæh), Gott, verachtest du nicht.
Die vom Beter ersehnte und durch Reinigung von seiner Sünde geschenkte Neuschöpfung seiner Person – dafür stehen »Herz« und »Geist« – kommt nur durch einen ›Bruch‹ mit seiner bisherigen Existenzweise zu159 160 161
Ders., a.a.O., 105 (Hervorhebung im Original). S. dazu oben 31ff. Mit dieser »Blutschuld« ist nach Irsigler, Neuer Mensch, 315f die drohende Schuld am Tod des Sünders gemeint, den der Beter durch seine Lehre (lmd pi.) zu JHWH zurückführen will, s. zur Sache auch Hossfeld/Zenger, a.a.O., 41.
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stande (vgl. Ez 6,9).162 Die Voraussetzung dafür ist das Bekenntnis der Sünde, das ihm die verfehlten Möglichkeiten eines wahren Lebens (vgl. V.8) vor Augen stellt. III. Der »herzgeleitete« Mensch – Resümee Versuchen wir abschließend, unsere Ausführungen zu bündeln, indem wir noch einmal auf die Frage nach dem Zusammenhang von Personverständnis und Körperbegriff(en) zurückkommen.163 Sind, so kann man diese Frage zuspitzen, die alttestamentlichen Vorstellungen vom menschlichen Herzen ein Beleg für ein »ganzheitliches« Menschenbild?164 Im kritischen Gespräch mit Chr. Frevel und S. Schroer / Th. Staubli wird diese Frage von Th. Krüger verneint.165 Ihm zufolge stehen der emotionale, der kognitive und der voluntative Aspekt nebeneinander, ohne »dass diese drei Gesichtspunkte im Herzen in irgendeiner Weise verbunden wären«166. Als Belege dafür werden Spr 15,28; 16,23 und 17,22 angeführt. Keiner dieser Sprüche, so Krüger, »(zielt) auf so etwas wie ein ›ganzheitliches‹ Menschenbild hin. Vielmehr führt jeder auf seine Weise mit dem Bild des ›Herzens‹ eine Zentralinstanz im Inneren des Menschen ein, von der aus der ganze Mensch gesteuert und kontrolliert werden muss, wenn nicht, wie im Falle des Mundes der Frevler, die peripheren Komponenten aus dem Ruder laufen sollen«167.
Abgesehen von der Frage, wie sich diese Kritik am »ganzheitlichen« Menschenbild zu der Aussage verhält, dass der »ganze Mensch« von einer Zentralinstanz in seinem Inneren (Gefühl, Vernunft oder Wille) gesteuert und kontrolliert werde,168 ergeben sich auch von den herangezoge162 S. dazu Sedlmeier, Transformationen, 211f und Irsigler, a.a.O., 307f. Zum Motiv des »zerbrochenen Herzens«, das in der nachexilischen Zeit an Bedeutung gewinnt, s. Sedlmeier, a.a.O., 212 Anm. 17. 163 S. dazu oben 2ff. 164 Zur integrativen Formel vom »ganzen Menschen« s. Janowski, Der »ganze Mensch«, 9ff. 165 Krüger, »Herz«, 93 bezieht sich dabei auf Frevel/Wischmeyer, Menschsein, 37 (»... gerade in dem Zusammenkommen von Vernunft, Bewußtsein und Gefühl in dem einen Organ (ist) das Spezifikum des ›ganzheitlichen‹ Menschen zu erkennen«), s. auch die kritischen Bemerkungen von Krüger, ebd. zu Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 58.60. 166 Krüger, a.a.O., 97. 167 Ders., a.a.O., 97f (Hervorhebung von mir). 168 Was genau Krüger mit dem »ganzen Menschen« meint, führt er leider nicht aus. Gemeint ist m.E. der Mensch, der in seinen Lebensvollzügen fühlt, denkt oder plant und der dies so tut, dass die jeweilige ›Steuerungsinstanz‹ (z.B. das Gefühl) auf die anderen Instanzen (Vernunft/Wille) einwirkt bzw. diese tangiert. Anders lassen sich sinnesempfängliche und leibgestützte Vorgänge wie Fühlen, Denken oder Wollen, die
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nen Texten her Einwände gegen Krügers Kritik. Beginnen wir mit Spr 15,28:169 Das Herz des Gerechten (leb ܈addîq) sinnt nach, um (recht) zu antworten, aber der Mund der Frevler sprudelt Bosheiten hervor.
Während der Mund der Frevler unkontrolliert Bosheiten hervorsprudelt, ist das Herz des Gerechten (oder: ein gerechtes Herz) die »moralische Kontroll- und Lenkungsinstanz im Inneren des Menschen«170. Eine Verbindung der moralischen (»[recht] antworten«) mit der kognitiven Funktion des Herzens (»nachsinnen«), die von Krüger geleugnet wird,171 wird im vorliegenden Text durch das Verb hƗgƗh »murmelnd nachsinnen, meditierend rezitieren«172 hergestellt: Das Herz »sinnt nach«, ja es führt »ein leises Selbstgespräch«173, in dem es sich über die rechte Antwort, die zu geben ist, klar wird. Insofern ist es hier nicht nur Äußerungs-, sondern auch Denkorgan, das zum rechten Handeln anleitet. Auch in Spr 16,23 (und in der Variante Spr 16,21) steht das Herz nicht nur für den Intellekt,174 sondern auch für die vernehmende Vernunft,175 die zur Einsicht führt: Ein weises Herz (leb ۊƗkƗm) macht seinen Mund achtsam, und auf seinen Lippen fügt es Einsicht hinzu. Außen
Außen Ohr
Mund / Lippen
Herz (Innen)
Die Bewegungsrichtung der »weisen« Rede, die im »hörenden« Herzen176 lokalisiert ist, führt vom Herzen (innen) über den Mund (innen/außen) bis zu den Lippen (außen), wo das Wort den Körper verlässt. Diese Rede ist »besonnen, durchdacht, vorsichtig, aber auch bestimmt und wirksam, nach alttestamentlicher Auffassung im Herzen lokalisiert sind und von dort nach außen wirken (s. dazu im Folgenden), nicht plausibel machen. 169 S. zum Folgenden auch Luchsiner, Poetik, 246ff. 170 Krüger, a.a.O., 97. 171 Ders., ebd. übersetzt zwar sachgemäß: »Das Herz des Gerechten überlegt die Antwort«, übergeht in seiner Auslegung aber das entscheidende Verb hƗgƗh. 172 Zu hƗgƗh s. Hartenstein/Janowski, Psalmen, 10.26ff.30 (Janowski). 173 Meinhold, Sprüche 1, 260. 174 So aber Krüger, ebd. 175 S. dazu oben 16f. 176 Zum Topos vom »hörenden Herzen« s. oben 16f.
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weil sie die möglichen Verfehlungen vermeidet«177. Die wohltuende Wirkung des »weisen Herzens«, das seinen Mund »achtsam macht« (Ğkl hif.) und auf seinen Lippen »Einsicht hinzufügt« (jsp hif. + læqa)ۊ, wird anschließend (Spr 16,24) in einer Weise beschrieben, die den Menschen in seiner personalen, lebendigen Ganzheit (V.24b: næpæš »Leben« // cæ܈æm »Knochen«)178 in den Blick nimmt: (Wie) Fließen von Honig sind liebliche Worte, süß für das Leben und Heilung für die Knochen.
Und schließlich Spr 17,22 (mit der Variante 15,13), wo das Herz nach Krüger nichts anderes als der Sitz der Emotionen179 ist: Ein frohes Herz (leb ĞƗmea )ۊmacht das Wohlbefinden180 schön, aber ein niedergeschlagener Sinn trocknet die Knochen aus.
Auch hier ist allerdings genauer auf den Text zu achten. »Freude« ist natürlich ein Ausdruck der – oft überschwänglichen – Gefühlsbewegung, aber einer Gefühlsbewegung, die das ganze Wesen des Menschen aufhellen kann, weil sie sich lebensförderlich auswirkt. Entscheidend ist auch hier wieder das Verb, das die Tätigkeit des »frohen Herzens« beschreibt: »schön, gut machen« (jܒb hif.). Das »frohe Herz« macht das Wohlbefinden »schön« oder »gut«, was im Gegensatz zur Kontrastformulierung von V.22b (Austrocknen der Knochen) die innere Einstellung meint,181 die sowohl den Körper als auch den Geist beeinflusst und damit die Lebensqualität steigert. Jeder der besprochenen Spr-Texte ist damit auf seine Weise ein Beleg für das ganzheitliche Menschenbild des Alten Testaments. Mit »Ganzheitlichkeit« ist nicht ein vager Holismus, sondern ein Sachverhalt gemeint, der auf dem Prinzip der Relationalität beruht.182 Dem Herzen kommt dabei die Hauptrolle zu, weil es der Ort der emotionalen, kognitven und voluntativen Fähigkeiten und Bestrebungen im Inneren des Menschen (Fühlen, Denken, Wollen) ist, das als Zentrum der Binnenmotivation und Innensteuerung fungiert. Der biblische Mensch ist nicht kopfgesteuert, sondern ›herzgeleitet‹183 – oder sollte es vielmehr sein. Und zwar in dem Sinn, dass die Gefühle, Gedanken und Absichten in seinem Inneren (Herz) ansetzen, sich aber in der Regel auf die Außenwelt und deren man177 178 179 180 181
Meinhold, Sprüche 2, 276. Vgl. ders., ebd. Zum Begriff næpæš s. Janowski, næpæš, 73ff. S. dazu Krüger, ebd. Zu gehƗh »Wohlbefinden« s. Meinhold, a.a.O., 294. Zu dieser Bedeutung von jܒb hif. s. Höver-Johag, Art. ܒôb, 325f.327f. Nach Höver-Johag bezeichnet jܒb hif. die »Möglichkeit, in den Zustand des Wohlbefindens einzutreten« (a.a.O., 327). 182 S. dazu die Hinweise bei Janowski, »Anthropologie des Alten Testaments«, 395 mit Anm. 88. 183 Zu diesem Ausdruck s. Assmann, Geschichte des Herzens, 81ff.
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nigfache Herausforderungen richten.184 Diese Entsprechung von Innen und Außen ist der cantus firmus der alttestamentlichen Rede vom menschlichen Herzen. »Das ›Herz‹ im biblischen Sinne«, schreibt D. Bohnhoeffer, »ist nicht das Innerliche, sondern der ganze Mensch, wie er vor Gott ist«185 – und, wie ich ergänzen möchte, wie er vor den anderen ist. Literatur Abart, Chr., Lebensfreude und Gottesjubel. Studien zu physisch erlebter Freude in den Psalmen (WMANT 142), Neukirchen-Vluyn 2015 Albertz, R., Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit (GAT 8/1–2), Göttingen 1992 Assmann, J., Art. Persönlichkeitsbegriff und -bewußtsein, LÄ 4 (1982) 963–978 – Ma ӭat. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990 – Zur Geschichte des Herzens im Alten Ägypten, in: ders. (Hg.), Erfindung des inneren Menschen, 81–113 – Ägypten. Eine Sinngeschichte, München 1996 – Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München 2000 – Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2001 – (Hg.), Die Erfindung des inneren Menschen. Studien zur religiösen Anthropologie, Gütersloh 1993 Benveniste, E., Über die Subjektivität in der Sprache, in: ders., Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974, 287–297 Bester, D., Körperbilder in den Psalmen. Studien zu Psalm 22 und verwandten Texten (FAT II/24), Tübingen 2007 Bonhoeffer, D., Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft (DBW 8), Gütersloh 1998 Braulik, G., Deuteronomium 1–16,17 (NEB 15), Würzburg 1986 Bremmer, J.N., Die Karriere der Seele. Vom antiken Griechenland ins moderne Europa, in: B. Janowski, Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte, Berlin 2011, 173–198 Brunner, H., Art. Herz, LÄ 2 (1977) 1158–1168 – Das hörende Herz, in: ders., Das hörende Herz. Kleine Schriften zur Religionsund Geistesgeschichte Ägyptens (OBO 80), hg. von W. Röllig, Freiburg (Schweiz) / Göttingen 1988, 3–5 – Das Herz im ägyptischen Glauben, in: ders., a.a.O., 8–41 Brunner-Traut, E., Gelebte Mythen. Beiträge zum altägyptischen Mythos, Darmstadt 31988 Cancik, H., Art. Person I, RGG4 6 (2003) 1120f Dietrich, J., Um der Ehre willen. Formen der Ehre im Alten Israel, BiKi 67 (2012) 16–20 – Individualität im Alten Testament, Alten Ägypten und Alten Orient, in: A. Berlejung / J. Dietrich / J.F. Quack (Hg.), Menschenbilder und Körperkonzepte im Alten Israel, in Ägypten und im Alten Orient (ORA 9), Tübingen 2012, 77–96 184 Vgl. Dietrich, Individualität, 87. Zu den Belegen von leb/lebƗb, denen zufolge sich der Mensch in seine ›Innerlichkeit‹ zurückziehen und vor der Außenwelt abgrenzen kann, s. ders., a.a.O., 83ff. 185 Bonhoeffer, Widerstand, 511.
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Das erschöpfte Selbst
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Das erschöpfte Selbst Zur Semantik der Depression in den Psalmen und im Ijobbuch In der Regel sieht man einem Menschen an, wie es um ihn steht. Ob jemand freudig erregt oder tief bekümmert ist, kann man an seinem Gesichtsausdruck, an seiner Körperhaltung oder an seiner Motorik ablesen. Je weiter man allerdings in der Zeit zurückgeht, desto schwieriger wird dieses Verfahren. Schon für die Generation der Groß- und Urgroßeltern ist man auf Photographien und die Erinnerungen der nächsten Angehörigen und Freunde angewiesen. Noch schwieriger wird es für die Epochen vor der Erfindung der Photographie. Hier muss man, wenn es sie denn gibt, auf die künstlerische Wiedergabe in der Porträtmalerei oder in der Plastik zurückgreifen. Das Gesicht und die Körperhaltung fungieren dabei nicht selten als ein Indikator für Gefühle.1 Wie aber steht es mit der Erforschung von Gefühlen bei Kulturen wie dem alten Israel, die längst vergangen sind?2 Im Folgenden soll versucht werden, dieser Frage am Beispiel der Depression nachzugehen und dabei auf die semantischen Hinweise zu achten, die sich den Psalmen und dem Ijobbuch zu diesem Thema entnehmen lassen. 1.
Vorbemerkungen
Das, was wir Schwermut, Melancholie oder Depression nennen, ist äußerst komplex.3 Sie betrifft das gesamte Verhalten, weil hier der Doppelaspekt von Leib (die Natur, die wir sind) und Körper (die Natur, die wir haben) in besonderer Weise, nämlich in Form einer „personalen Erkrankung“4, hervortritt: „Psychisches Kranksein betrifft … das Selbstverhältnis einer Person in ihrem Zentrum. Es ist nicht nur das Epiphänomen eines ,eigentlichen physiologischen Prozesses‘, sondern das veränderte Selbsterleben und Selbstverhältnis des Patienten stellen eine ständig wirksame Komponente des Krankheitsverlaufs dar.“ 5 1 S. dazu mit eindrücklichen Bildbelegen WEIGEL, Grammatologie (2015), 70ff. 2 S. dazu grundlegend FEBVRE, Sensibilität (1988), 91ff und aus neuerer Zeit PLAMPER, Geschichte (2012) u.a. 3 S. dazu FALLER/LANG (Hg.), Depression (2011); FUCHS, Gehirn (32010), 273ff u.a. Zu den sozialen Aspekten der Depression s. LEPENIES, Melancholie (1988); EHRENBERG, Selbst (2004) u.a. Nach wie vor nimmt die Darstellung von KRISTEVA, Schwarze Sonne (2007) einen besonderen Platz in der Literatur zur Depression ein. 4 FUCHS, Gehirn (32010), 274. 5 FUCHS, Gehirn (32010), 274 (Hervorhebung im Original).
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Das erschöpfte erschöpfte Selbst Das
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Darüber hinaus sind psychische Krankheiten „immer Krankheiten der Person in ihrer Beziehung zu anderen Personen“6, d.h. es sind Beziehungsstörungen. Ein berühmtes Beispiel ist der Fall des Königs Saul (1 Sam 16,14–23), der statt vom „Geist JHWHs“ immer wieder von einem „schlimmen Geist“ überfallen wurde und dem der junge David als Musiktherapeut (s. Abb. 1) 7 zur Seite trat: Sooft der Gottesgeist zu Saul kam, nahm David die Leier und spielte (darauf) mit seiner Hand. Und Saul war erleichtert (råwaª) 8 und es ging ihm (wieder) gut, und der schlimme Geist wich von ihm (V. 23).
Abb. 1: Otto Dix, Saul und David (1958)
Sauls Schwermut – sein „schlimmer Geist“9 – hatte offenbar etwas mit seiner Verwerfung durch Gott zu tun und wurde auf dessen überfallartige Einwirkung zurückgeführt (V. 14f). Die den depressiven Anfall beendende Erleichterung, die ihm durch Davids Leierspiel verschafft wurde, wird mit dem Zustandsverb råwaª „(weit sein/ werden >) erleichtert sein“10 + Präp. le ausgedrückt, wobei die dem sog. Lamed experientiae eignende subjektive Bedeutungskomponente eine Wertung („Erleichterung“) enthält.11 Wenn Saul durch Davids 6 FUCHS, Gehirn (32010), 277. 7 S. dazu KESSLER, David musicus (2007), 87ff; DIETRICH, Samuel 2 (2015), 270ff und STAUBLI/SCHROER, Menschenbilder (2014), 458. Die Abbildung wurde mit Erlaubnis von Frau Kollegin E. Gräb-Schmidt von Herrn Chr.P. Stritzelberger, Tübingen, angefertigt. 8 Vgl. Ijob 32,20: „Ich will reden, damit ich erleichtert bin (råwaª), die Lippen öffnen und antworten“. 9 S. dazu DIETRICH, Samuel 2 (2015), 275. Zum „Geist“ in 1 Sam s. HAN, „Geist“ (2015). 10 S. dazu Ges18 1224 s.v. und OLYAN, Disability (2008), 70f mit Anm. 27. Zu beachten sind auch die Nominalbildungen ræwaª „Erleichterung, Rettung“ (Est 4,14) und rewåªåh „Erleichterung“ (Ex 8,11) / „Rettung“ (Klgl 3,56). 11 S. dazu JENNI, Präposition Lamed (2000), 106, 107.
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Leierspiel „Erleichterung“ erfährt, muss er folgerichtig zuvor durch den „schlimmen Geist“ „beschwert“ oder „niedergedrückt“ gewesen sein. Demgegenüber plädiert W. Dietrich dafür, den Grund für Sauls Zustand nicht in einer depressiven Verstimmung zu sehen, weil man dann „das düstere Schicksal dieses Mannes zu verharmlosen und sich selbst um das Erschrecken und das Mitempfinden zu bringen (droht), das der Text evozieren möchte“.12 Den von ihm konstruierten Gegensatz zwischen dem Befall durch einen „schlimmen Gottesgeist“ und einer depressiven Verstimmung kann ich allerdings nicht erkennen. Denn die Krankheit Sauls – der Text hat mit dem Verb råwaª „(weit sein/werden >) erleichtert sein“ (V. 23) offenbar eine massive körperliche Einengung im Blick, die durch Davids Intervention temporär behoben wird – wird durch den „schlimmen Gottesgeist“ herbeigeführt (Ursache) und äußert sich in einer Weise, die ganz und gar schreckend und Mitleid erregend ist (Wirkung). Das eine ist so düster wie das andere. Im Übrigen belegen auch mesopotamische Sachparallelen den Zusammenhang von göttlicher Einwirkung („Hand Gottes“) und psychophysischer Deformation. 13
Das Beispiel von 1 Sam 16,23 – das um analoge Beobachtungen zu weiteren biblischen Gestalten ergänzt werden könnte14 – zeigt, dass depressive Verstimmungen „mit einer tiefgreifenden Veränderung, einer Einengung bzw. Restriktion des Leiberlebens einher(gehen)“15, die die betroffene Person regelrecht erschöpft.16 Zu dieser Verände12 DIETRICH, Samuel 2 (2015), 275, vgl. ebd. 258f.274ff. 13 S. dazu unten 92ff.111ff. 14 S. dazu VEIJOLA, Depression (2007), 162ff.167ff.170ff, der außer Saul noch Elia (s. dazu aber im Folgenden), Jona, Jeremia und Hiob zu den depressiven Gestalten zählt. Das Problem dabei ist allerdings ein methodisches und besteht in der Frage, wie man in die Welt der Depression eindringen soll. Veijola entscheidet sich für einen inhaltlichen Zugang: „Wer in die Welt der Depression in der Bibel eindringen will, findet kaum Hilfe in einer Konkordanz. Die einschlägigen Symptome wurden in der biblischen Zeit nicht als Ausdruck einer bestimmten, gar noch mit einem medizinischen Begriff zu belegenden Krankheit erkannt. Deshalb soll der Befund eher anhand des Inhalts als der Terminologie erhoben werden“ (160). Im Unterschied dazu sind die folgenden Überlegungen an der Terminologie und Semantik orientiert; das ist auch der Ansatz von KRUGER, Gefühle (2009), 250ff. 15 FUCHS, Gehirn (32010), 274f. 16 Mit EHRENBERG, Selbst (2004), spreche ich deshalb vom „erschöpften Selbst“. Der Soziologe A. Ehrenberg untersucht die rapide Zunahme von depressiven Erkrankungen in der Gegenwart und sieht darin – so A. Honneth in seinem begleitenden Vorwort – „das paradoxe Resultat eines sozialen Individualisierungsprozesses …, der die Subjekte dadurch, dass er sie aus traditionellen Bindungen und Abhängigkeiten befreit, im wachsenden Maße daran scheitern lässt, aus eigenen Antrieben und in vollkommener Selbstverantwortung zu psychischer Stabilität sowie sozialem Ansehen zu gelangen“ (8).
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rung des Leiberlebens zählen nach J.M. Stoppard17 folgende Symptome: – – – – – – – – –
depressive („niedergedrückte“) Stimmung vermindertes Interesse an alltäglichen Tätigkeiten abnehmender/zunehmender Appetit Schlaflosigkeit / erhöhtes Schlafbedürfnis psychomotorische Unruhe / Verlangsamung Müdigkeit Gefühle der Wertlosigkeit / Schuld verminderte Denkfähigkeit wiederkehrende Gedanken an den Tod
Zur Phänomenologie der Depression gehören vor allem spezifische Eigenheiten in der Körperhaltung (niedergedrückt, abwärts gerichtet) und Körperbewegung (schleppend/unruhig). Typisch sind auch Appetitlosigkeit, Schlafstörungen und Verstummen, jeweils in Verbindung mit wiederkehrenden Gedanken an den Tod. Für diese Symptome gibt es, wie wir sehen werden, eindrückliche Beispiele im Psalter (Klagelieder des einzelnen), im Ijobbuch und in den Klageliedern. Die Frage ist natürlich, wie sich diese Symptome erheben lassen: anhand inhaltlicher Vorannahmen oder terminologischer und/oder semantischer Analysen. T. Veijola, der von inhaltlichen Beobachtungen ausgeht, 18 rechnet auch Ps 30 (seines Erachtens „ein Dankgebet eines von Depression Geheilten“) und Ps 88 (seines Erachtens „ein Klagegebet eines an Depression Erkrankten“) zu den Psalmentexten mit depressiver Gesamtaussage19 und übersetzt etwa Ps 88,16: Elend (.ånî) bin ich und todkrank von Jugend auf, getragen habe ich deine Schrecken, ich erstarre (?). folgendermaßen: Ich bin deprimiert (.ånî), dem Tode nahe von Jugend auf, ich habe deine Schrecken getragen, ich bin starr vor Angst. 20 Die Übersetzung „deprimiert“ ist m.E. aber eine Eisegese und wird von der Bedeutung des Adjektivs .ånî „elend, arm“ nicht gedeckt.21 Vielmehr geht 17 S. dazu STOPPARD, Understanding depression (2000), 27, vgl. K RUGER, Gefühle (2009), 250. 18 S. dazu oben Anm. 14. 19 S. dazu VEIJOLA, Depression (2007), 175ff, im Anschluss daran auch STAUBLI/ SCHROER, Menschenbilder (2014), 160. 20 VEIJOLA, Depression (2007), 177. 21 S. dazu GERSTENBERGER, .nh II (1989), 259ff und BERGES/HOPPE, Arm (2009), 49ff (Berges).
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es in Ps 88 um das Todesgeschick des Beters, das in dramatischen Bildern der von JHWH ausgelösten Schrecken geschildert wird.22 Ähnliches gilt für Veijolas Interpretation von Ps 30, die kaum belastbare Argumente für die Einschätzung dieses Psalms als „Dankgebet eines von Depression Geheilten“ enthält. 23
2.
Texte und Themen
Wie 1 Sam 16,23 (positives Beispiel) und Ps 88,16 (negatives Beispiel) zeigen, ist es für die Bearbeitung des Themas „Depression“ unabdingbar, auf die jeweilige Terminologie und Semantik zu achten. Erst von ihr her und nicht aufgrund einer inhaltlichen Vorannahme24 ergeben sich Kriterien für die Einschätzung eines Terminus, einer Wendung oder eines Motivs als „depressiv“. Im Folgenden wenden wir uns zunächst Texten zu, nach denen sich das Krankheitsbild „Depression“ in bestimmten Körperhaltungen und -bewegungen zeigt.25 2.1
Anormale Körperhaltungen und -bewegungen
Typisch für depressive Verhaltensmuster sind bestimmte Körperhaltungen und -bewegungen, die durch prägnante Verben zum Ausdruck gebracht werden. In ihrem Umkreis können weitere Verben auftreten, die ursprünglich anderen Kontexten – vor allem dem Trauerritual – angehören, aber von dort auf das Phänomen „Depression“ übertragen wurden. Es ist deshalb mit Überschneidungen der Bereiche „Depression“ und „Trauer“ zu rechnen.26 Im Übrigen ist die exakte Bestimmung von einzelnen Symptomen oft schwierig, da die Bedeutungsnuancen der Verben nur schwer einzugrenzen sind. 2.1.1
Übersicht
Die folgende Übersicht ist ein Versuch, das entsprechende Material zu sichten und zu ordnen: a Verben, die eine anormale Körperhaltung zum Ausdruck bringen dkh nif.
„zerschlagen sein“: Ps 38,9 (// pûg nif. „matt werden, erkalten“) 27
22 S. dazu JANOWSKI , Konfliktgespräche mit Gott (42013), 231ff; DERS., Die Toten (2003), 202ff und Schnocks, Psalmen (2014), 100ff. 23 S. dazu JANOWSKI, Konfliktgespräche mit Gott (42013), 267ff; DERS., Dankbarkeit (2003), 287ff und SCHNOCKS, Psalmen (2014), 117ff. 24 Anders VEIJOLA, Depression (2007), 160, s. dazu oben Anm. 14. 25 S. dazu auch KRUGER, Gefühle (2009), 251ff. 26 S. dazu auch unten 117. 27 S. dazu FUHS, Art. dåkåh (1977), 209.217ff und unten 89.
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jrd hif.
„hinabsteigen lassen“ + lååræ‚ „zu Boden sinken lassen, senken“: Klgl 2,10 (Kopf der Jungfrauen Jerusalems)
jçb q.
„sich setzen, sitzen“ + bådåd „einsam“: Klgl 1,1 (Gottesstadt);28 3,28 (Leidender, // dmm q. „bewegungslos, starr sein > schweigen“) 29 + lååræ‚ „auf dem Erdboden“: Klgl 2,10 (Älteste Jerusalems, // dmm q. „bewegungslos, starr sein > schweigen“) 30
.wh nif.
„gebeugt, verdreht, verstört sein“: Ps 38,7 (// 窪 q. „sich beugen > niedergebeugt sein“, qdr Ptz. q. + hlk hitp. „niedergedrückt umhergehen“) 31
pûg nif.
„matt werden, erkalten“: Ps 38,9 (// dkh nif. „zerschlagen sein“)32
qdr q.
„schwarz werden, sich verfinstern > niedergedrückt sein“, inder Wendung qdr Ptz. q. + hkl q./pi./hitp. „niedergedrückt umhergehen“: Ps 42,10 (+ hlk q.); Ps 38,7; Ijob 30,28 (jeweils + hlk pi.); 43,2 (+ hlk hitp.) 33
çbr hof.
„zerbrochen sein/werden“: Jer 8,21 (// qdr q. „niedergedrückt sein“, çammåh + ªzq hif. „von Entsetzen gepackt werden“) 34
窪 q.
„sich bücken/beugen > niedergebeugt sein“: Ps 38,7 (// .wh nif. „gebeugt, verdreht, verstört sein“) 35
28 S. dazu BERGES, Klagelieder (2002), 96f und KOENEN, Klagelieder (2015), 35. 29 S. dazu LOHFINK, Klageriten (1962), 275ff und BERGES, Klagelieder (2002), 205. 30 S. dazu BERGES, Klagelieder (2002), 146f und KOENEN, Klagelieder (2014), 147f. Zu beachten ist, dass der Fall Jerusalems, seines Tempels, seiner Tore und seiner Bewohner, in Klgl 2 durch eine dichte Folge von Bildern des Niederreißens, ZuBoden-Gehens und Versinkens dargestellt wird, s. dazu KRUGER, Gefühle (2009), 252 und JANOWSKI, Gott (22014), 162f. Zum depressiven Schweigen s. auch STAUBLI/SCHROER, Menschenbilder (2014), 238. 31 S. dazu Ges18 932 s.v. .wh nif. 1; ZERNECKE, Gott (2011), 230 und unten 89f. 32 S. dazu unten 89f. 33 S. dazu Ges18 1150 s.v. qdr q. 3; SCHMOLDT, Art. qådar (1989), 1176ff; THOMAS, Idiom (2014), 19f.22 und unten 90ff. In Ps 35,14 (qdr Ptz. q. + 窪 q., // hlk hitp. „umhergehen“) handelt es sich um einen Trauergestus, nicht um ein depressives Verhalten, s. dazu unten 97 Anm. 101. Ebenso in Ps 107,39: „Sie wurden gering (må.a†) und sie beugten sich (çåªaª) unter der Last von Unglück und Kummer“, s. dazu KUTSCH, „Trauerbräuche“ (2011), 87f. 34 Zu çammåh „Entsetzen“ s. LOHFINK, Klageriten (1962), 267ff. In Bezug auf Menschen meint das Verb çmm q. „das Erstarren, das Lebloswerden von Haltung und Antlitz, das Verstummen“ (ebd. 268). 35 S. dazu Ges18 1340 s.v. 窪 q. 2; TROPPER, Verbalwurzeln (1991), 50f; ZERNECKE, Gott (2011), 230 und unten 89f. Zu çåªaª in Ps 35,14 s. unten 97 Anm. 101.
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çkb q.
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„sich (nieder)legen, liegen“: 1 Kön 21,27 (Ahab, // hlk pi. + a† „angemessen“) 36 + ar‚åh „auf die (bloße) Erde“: 2 Sam 12,16 (David, // ‚wm q. „fasten“)37
Wie strittig die Sachverhalte im Einzelnen sind, zeigt z.B. das Verb ghr „sich krümmen, sich niederbeugen“ in 1 Kön 18,42: Ahab stieg hinauf, um zu essen und zu trinken, Elia aber stieg bis zum Gipfel des Karmel, krümmte sich zur Erde (ghr + ar‚åh) und legte sein Gesicht zwischen ‹seine Knie›. Während P. Kruger die Geste Elias als „Ausdruck einer depressiven Stimmung“38 deuten möchte, dürfte sie mit W. Thiel als „Ausdruck für eine intensive Konzentration“ (sich zur Erde krümmen) und als ein „nicht näher bestimmbarer Gestus magischer Art“ (sein Gesicht zwischen – nicht: auf – seine Knie legen) 39 zu verstehen sein. Es geht um Konzentration und innere Sammlung, nicht um Depression. Warum auch sollte Elia deprimiert sein? Auch andere Texte wie Gen 24,63; 2 Sam 13,19; 2 Sam 15,30 und Jer 49,3, die von J.S. Kselman und P. Kruger als Belege für eine Depression angeführt werden, 40 scheiden bei näherer Betrachtung aus. Die Belege im Einzelnen: (62) Isaak aber kam vom Zugang zu Beer Lachaj Roi – er war (nämlich) Bewohner im Negebland –, (63) und so ging er hinaus (jå‚å), um sich zur Abendwende in der Flur zu ergehen / umherzustreifen (?), hob seine Augen und sah: Und siehe, es kamen Kamele. (Gen 24,62f) 41 36 Nach 1 Kön 21,27 zerriss Ahab als Reaktion auf die abschließenden Worte Elias seine Kleider, legte sich ein Sackgewand (¬aq) um und fastete (‚wm q.). Danach heißt es: „Im Sackgewand legte er sich nieder (çkb q.) und verhielt sich angemessen“ (hlk pi. + a†). Die an einen Trauergestus erinnernde Niedergeschlagenheit Ahabs wird demnach durch eine spezifische Körperhaltung („sich im Sackgewand niederlegen“) ausgedrückt und anschließend mit dem zusammenfassenden Vermerk versehen, dass er sich (in seinen Trauerriten) „angemessen“ verhielt, s. dazu KOTT SIEPER, Lexikographie (2015), 59ff, zur Sache ferner Ges18 43 s.v. a†, ferner BARRÉ, „Wandering about“ (2001), 181f und KRUGER, Gefühle (2009), 253f. Zu hlk pi./hitp. s. JENNI, Nifal (2012), 223. 37 Zum çkb q.-Beleg in 1 Kön 21,4 s. unten 104. 38 KRUGER, Gefühle (2009), 253f. 39 THIEL, Könige (2007), 93f.200f. 40 S. dazu KSELMAN, „Wandering about“ (2002), 275ff und KRUGER, Gefühle (2009), 252 Anm. 46. 41 Der Kontext der jå‚å-Formulierung („er ging hinaus“) widerspricht der Depressions-Deutung von Kselman und Kruger: zum einen hob Isaak seine Augen und machte eine Wahrnehmung (V. 63), zum anderen wurde er von Rebekka gesehen, die zu dem Knecht sagte: „Wer ist der Mann dort drüben, der auf der Flur uns entgegengeht (hålak + liqrat)?“ (V. 65) Weder die Aufmerksamkeit Isaaks (er erhebt seine Augen und sieht) noch sein Entgegenkommen (er geht Rebekka und ihrem Knecht entgegen) spricht für ein depressives Verhalten.
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Tamar aber streute sich Asche aufs Haupt und zerriss das Ärmelkleid, das sie anhatte, legte ihre Hand auf den Kopf und ging weg (hålak) und schrie. (2 Sam 13,19) 42 So stieg David die Stiege zum Ölberg hinauf (.ålåh), weinend und verhüllten Hauptes; barfuss ging er. Und alles Volk, das bei ihm war, verhüllte sein Haupt, und sie stiegen weinend hinauf (.ålåh). (2 Sam 15, 30) Gürtet euch (sc. Töchter[städte] Rabbas) mit Sackgewändern, trauert, streift umher (çw† hitpol.) ‹mit Schnittwunden›! (Jer 49,3) 43 Ein positives Beispiel, das zwar nicht aus dem Alten Testament oder der Ikonographie Palästinas/Israels stammt, ist dagegen eine römische Münze, die unter Kaiser Titus geprägt wurde und die das eroberte Judäa (Iudaea capta) als am Boden kauernde Frau (rechts) neben einem römischen Legionär (links) zeigt (s. Abb. 2).44 Die Szene erinnert an Texte wie Klgl 1,1; 2,10 und 3,28.45
Abb. 2: Das eroberte Judäa als deprimierte Frau (71 n. Chr.)
42 Nach JENNI, Piel (1968), 151 bedeutet hlk im Qal „gehen in seinen zahlreichen verschiedenen Verwendungsarten, wie sie die Lexika aufführen, aber nirgends ziellos umhergehen oder hin- und hergehen. Diese Bedeutung eignet dagegen dem Hitpael, aber auch dem Piel“. Zu hlk pi./hitp. „ziellos umhergehen, hin- und hergehen“ s. JENNI, Piel (1968), 151ff und im Folgenden. 43 çw† hitpol. ist hier nicht eine Umschreibung eines depressiven Verhaltens, sondern einer Bewegung in Not. Im Polel/Hitpolel begegnet das Verb auch in Am 8,12 (// nûa. „wanken“) und in Dan 12,4 und bezeichnet dort ein rastloses Umherirren, s. dazu WASCHKE , çw† (1993), 1183f und Ges18 1333 s.v. çw† pol./hitpol. 44 Die Abb. stammt aus ZWICKEL, Iconography of Emotions (2012), 8 Fig. 8, vgl. STAUBLI/SCHOER, Menschenbilder (2014), 160, 163 Abb. 24c. 45 S. dazu oben 82.
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a Verben, die eine anormale Körperbewegung zum Ausdruck bringen pi. „ziellos umhergehen, hin- und hergehen“: 1 Kön 21,27 (Ahab, // çkb q. „sich niederlegen“) 46; Ps 38,7 (+ qdr Ptz. q. „niedergedrückt umhergehen“) 47 und Ijob 30,28 (+ qdr Ptz. q. „niedergedrückt umhergehen“) 48
hlk
hitp. „ziellos umhergehen, hin- und hergehen“: Ps 43,2 (+ qdr Ptz. q. „niedergedrückt umhergehen“) 49 ndd q.
„(rastlos, ziellos) fliehen“: Ps 55,8 (+ rªq hif. „fern machen“),50 vgl. nedudîm „Unrast, Schlaflosigkeit“ (< Wz. NDD): Ijob 7,4 51
nwd q.
„umherirren, fliehen“: Ps 56,9 (nôd* + Suffix 1. c. sg. „mein Umherirren“)
rwd hif.
„umherirren“: Ps 55,3 (// hwm hif. „außer sich sein“) 52, vgl. mårûd „Heimatlosigkeit, Unrast“ (< Wz. RWD): Klgl 1,7 (// .ånî „Elend“), vgl. Klgl 3,19 (pl. merûdîm // .ånî „Elend“)
Auch hier gibt es Versuche, das Spektrum der Belege durch Berücksichtigung weiterer Texte wie Ri 11,37; Jes 15,3; Jes 38,15 oder Jes 58,7 zu erweitern. 53 Während Ri 11,37; Jes 15,3 und Jes 58,7 für unser Thema m.E. nicht in Frage kommen, ist Jes 38,15 zumindest diskussionswürdig, sofern an der Verbform ddh hitp. „dahinschreiten, wandeln“ des MT festzuhalten ist. 54 W.M.A Beuken, der die alternativen Lösungsmöglichkeiten diskutiert, übersetzt den schwierigen Text folgendermaßen: 14
15
Wie ein Mauersegler, eine Schwalbe, so zwitschere ich, ich gurre wie eine Taube. Meine Augen verzehren sich nach der Höhe: ,O Herr, ich bin in Verdrückung! Tritt ein für mich!‘ Was soll ich reden, und was wird er mir sagen, da er doch gehandelt hat?
46 S. dazu oben Anm. 36. 47 S. dazu unten 90ff. 48 S. dazu unten 90ff. 49 Zu Ps 35,14 s. unten 97 Anm. 101. 50 S. dazu GROß, Art. nådad (1986), 245ff. 51 S. dazu unten 99ff. 52 Zu Ps 55,3.8 und 56,9 s. unten 99ff. 53 S. dazu BARRÉ, „Wandering about“ (2001), 183f.185f. 54 Die Form æddadem Ps 42,5MT ist dagegen nicht mehr verständlich und folglich zu emendieren, s. dazu DOCKNER, „Sicut Cerva“ (2001), 16f.
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Ich wackle ständig im Schlaf / ich gehe ständig schlaftrunken (æddadæh kål-çenôtaj) wegen der Verbitterung meiner Seele. (Jes 38,14f) 55 Bei dieser Auffassung von ddh hitp. „fügt sich der Satz als Metapher in eine Beschreibung der Not und bringt Gebrechlichkeit zum Ausdruck“ 56.
Wie diese Übersicht zeigt, kommt für die Beschreibung eines depressiven Verhaltens eine Vielzahl von Verben in Frage, bei denen es immer um Restriktionen des Leiberlebens geht. Welcher Art diese Restriktionen sind, ergibt sich nicht (allein) aus der lexikalischen Bedeutung der entsprechenden Verben, sondern aus der Einbeziehung ihres jeweiligen Kontexts. Die folgenden Textbeispiele bestätigen diese Beobachtung. 2.1.2
Textbeispiele
Die Unterscheidung zwischen Verben, die eine anormale Körperhaltung, und Verben, die eine anormale Körperbewegung zum Ausdruck bringen, wird auch der Analyse der folgenden Beispieltexte zugrunde gelegt. Wie sich zeigen wird, gehen beide Aspekte immer wieder ineinander über. 2.1.2.1
„Gekrümmt und niedergebeugt“ (Ps 38,7)
Beginnen wir mit einer Analyse von Ps 38,57 der wegen seiner Elendsschilderungen (V. 4–9 und V. 10–15) als Muster für das Thema gelten kann. Ps 38 ist ein Bittgebet eines einzelnen, dessen Thema die aus einer Sünde resultierende Krankheit und die Hoffnung auf den rettenden Gott ist. Entsprechend der Struktur der Klagelieder des Einzelnen, wie sie paradigmatisch in Ps 13 vorliegt,58 enthält Ps 38 die klassischen Gattungselemente Klage (Gottklage, Ichklage, Freund-/Feindklage), Bitte, Vertrauensäußerung und Sündenbekenntnis. Die Invokationen (im Folgenden kursiv) markieren Wendepunkte des Bittgeschehens, wobei eine Steigerung von den einfachen Invokationen JHWH (V. 2) und Adonaj (V. 10) zur dreifachen Invokation JHWH, Adonaj, „mein Gott“ (V. 16) bzw. JHWH, „mein Gott“, Adonaj (V. 22f) zu beachten ist:
55 Übersetzung BEUKEN, Jes 28–39 (2010), 413f. 56 BEUKEN, Jes 28–39 (2010), 417, vgl. ebd. 435f. 57 Zu Ps 38 s. außer den Kommentaren zuletzt DE V OS, Klage (2005), 39ff; ZERNECKE, Gott (2011), 194ff und BRANDSCHEIDT, Sünde (2015), 1ff. 58 S. dazu JANOWSKI, Konfliktgespräche mit Gott (42013), 39ff.
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Überschrift 1
Ein Psalm Davids. Zum Gedenken(lassen).
Rahmen: Eingangsbitten mit Gottklage ( 22f) 2 3
JHWH, in deinem Zorn weise mich nicht zurecht, und nicht in deinem Grimm züchtige mich! Denn deine Pfeile sind eingedrungen in mich, und es fuhr herab auf mich deine Hand.
A: 4
5 6 7 8 9
2f Bitten mit Invocatio + Gottklage
Elendsschilderung Keine heile Stelle ist an meinem Fleisch wegen deines Zorns, nichts Heiles ist an meinen Gebeinen wegen meiner Sünde. Fürwahr, meine Vergehen sind mir über den Kopf gewachsen, wie eine schwere Last sind sie zu schwer für mich. Gestunken, geeitert haben meine Wunden wegen meiner Torheit. Ich war gekrümmt, niedergebeugt gar sehr, den ganzen Tag ging ich niedergedrückt umher. Denn meine Lenden waren voller Brand, und keine heile Stelle war an meinem Fleisch. Ich war erstarrt und zerschlagen gar sehr, ich brüllte (auf) wegen des Gestöhns meines Herzens.
B:
Klage über körperliche Ohnmacht und soziale Isolation
10
Herr, vor dir ist all mein Sehnen, und mein Seufzen war dir nicht verborgen! Mein Herz pochte heftig, verlassen hat mich meine Kraft, und das Licht meiner Augen – auch diese – ist nicht (mehr) bei mir. Meine Freunde und Gefährten stehen abseits von meiner Plage, und meine Verwandten standen von fern. Es legten Schlingen, die nach meinem Leben trachteten, und die mein Unheil suchten, redeten Verderben und Betrügereien sinnen sie den ganzen Tag. Ich aber bin wie ein Tauber, höre nicht hin, und wie ein Stummer, der seinen Mund nicht auftut. Ich wurde wie ein Mann, der nicht hört und in dessen Mund keine Widerreden sind.
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12 13
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4–9 Ichklage
10f Vertrauensbekenntnis mit Invocatio + Ichklage 12f Freundklage
14f Ichklage
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A’: Bekenntnis der Zuversicht 16 17
18 19 20 21
Fürwahr, auf dich, JHWH, habe ich gehofft, du wirst antworten, Herr, mein Gott! Fürwahr, ich sprach: „Damit sie sich nicht freuen über mich, nicht großtun gegen mich beim Wanken meines Fußes.“ Fürwahr, dem Straucheln bin ich nahe, und mein Schmerz ist mir ständig vor Augen. Fürwahr, mein Vergehen zeige ich (hiermit) an, ich bin bekümmert wegen meiner Sünde. Meine Feinde aber sind lebendig und stark, und zahlreich sind, die mich hassen mit Trug. Und die mir Böses für Gutes vergelten, sie feinden mich an, dass ich dem Guten nachjage.
16 Vertrauensbek. mit Invocatio 17 Feindklage 18 Ichklage 19 Sündenbekenntnis 20f Feindklage
Rahmen: Schlussbitten ( 2) 22 23
Verlass mich nicht, JHWH, mein Gott, sei nicht fern von mir! Eile mir doch zu Hilfe, Herr, meine Rettung!
22f Bitten mit Invocatio
Ps 38 hat einen konzentrischen Aufbau. Seine beiden Rahmenteile (V. 2f.22f) umschließen drei gleichlange Strophen (V. 4–9.10–15.16– 21), die sich zu einem ABA’-Chiasmus 59 fügen und in V. 10–15 die körperliche Ohnmacht des Beters und dessen soziale Isolation ins Zentrum rücken.60 Die Eingangsbitte V. 2f ( V. 22f) gibt das Thema des Psalms an. Dieses besteht in der zürnenden Zurechtweisung Gottes, um deren Nicht-Ergehen der Beter bittet (V. 2)61 und deren Auswirkung er mit traditionellen Sprachbildern (herabfahrende Pfeile // niedergesenkte Hand) beschwört.62 Die zwischen Zorn und Zurechtweisung/Züchtigung geknüpfte Verbindung ist auch für den ersten Teil der Elendsschilderung V. 4–9 leitend, wenn der Zorn JHWHs als Reaktion auf die Sünde des Beters in Kraft gesetzt wird. Dieser Zusammenhang wird sprachlich durch das dreifache mincausativum („wegen“) sowie durch die drei Termini „Sünde“, „Ver59 Vgl. WEBER, Werkbuch Psalmen I (2001), 184. 60 Vgl. WEBER, Werkbuch Psalmen I (2001), 183ff; ZERNECKE , Gott (2011), 211ff und BRANDSCHEIDT, Sünde (2015), 4ff. Abweichende Gliederungen werden etwa von HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 1–50 (1993), 239f (Hossfeld) und BARBIERO, Psalmenbuch (1999), 594f vertreten. Möglicherweise stellt V. 13b eine Fortschreibung dar. 61 Vgl. Ps 6,2, s. dazu K UCKHOFF, Psalm 6 (2011), 103ff.173ff. 62 S. dazu HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 1–50 (1993), 243; ZERNECKE, Gott (2011), 227 und BRANDSCHEIDT, Sünde (2015), 7.
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gehen“ und „Torheit“ unterstrichen. Überdies ist nicht nur die – der Logik des Tun/Ergehen-Zusammenhangs verpflichtete – Differenz der Suffixe „dein Zorn“ / „meine Sünde“ in V. 4 zu beachten, sondern auch das Ausmaß der Belastung („schwere Last“ V. 5), die als Folge der Vergehen des Beters durch die herabfahrenden Pfeile und die niedergesenkte Hand Gottes (V. 3) hervorgerufen worden ist. Dadurch wird eine Abwärtsbewegung indiziert, die den Beter „krümmt“ und „niederbeugt“ (vgl. V. 7): 2 JHWH, in deinem Zorn weise mich nicht zurecht, und nicht in deinem Grimm züchtige mich! 3 Denn deine Pfeile sind eingedrungen in mich, und es fuhr herab auf mich deine Hand. 4 Keine heile Stelle ist an meinem Fleisch wegen deines Zorns, nichts Heiles ist an meinen Gebeinen wegen meiner Sünde. 5 Fürwahr, meine Vergehen sind mir über den Kopf gewachsen, wie eine schwere Last sind sie zu schwer für mich. 6 Gestunken, geeitert haben meine Wunden wegen meiner Torheit.
Mit dem Hinweis auf die schweren körperlichen Schädigungen in V. 4 und V. 6 – nichts Heiles an „Fleisch“ (bå¬år) und „Gebeinen“ (.æ‚æm pl.), stinkende und eiternde „Wunden“ (ªabbûrot)63 – wird das Thema angeschlagen, das im zweiten Teil der Elendsschilderung in den Vordergrund tritt und das in V. 8b die Formulierung von V. 4a („keine heile Stelle an meinem Fleisch“) aufnimmt: 7 Ich war gekrümmt (.wh nif.), niedergebeugt (窪 q.) gar sehr, den ganzen Tag ging ich niedergedrückt umher (qdr Ptz. q. + hlk pi.), 8 denn meine Lenden waren voller Brand, und keine heile Stelle war an meinem Fleisch. 9 Ich war erschöpft (pûg nif.) und zerschlagen (dkh nif.) gar sehr, ich brüllte (auf) wegen des Gestöhns meines Herzens.64
Eine medizinisch korrekte Diagnose ist mit dieser Elendsschilderung nicht beabsichtigt,65 vielmehr machen die fünf Verba depressionis das Ausmaß der physischen und psychischen Niedergeschlagenheit 63 Neben Jes 53,5 ist etwa die Schilderung des schwer verletzten Israel in Jes 1,6 zu vergleichen: „Der ganze Kopf ist wund, / das ganze Herz ist krank. / Von der Fußsohle bis zum Scheitel / ist nichts heil an ihm. / Beule, Strieme und frischer Schlag: / Sie sind nicht ausgedrückt, nicht verbunden, / nicht mit Öl gelindert.“ 64 ZERNECKE, Gott (2011), 204f übersetzt: „aus dem Tosen meines Herzens heraus“, und kommentiert: „der Beter nimmt seinen eigenen Herzschlag als Donnern wahr und brüllt dagegen an“. 65 Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 1–50 (1993), 244.
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des Beters deutlich. Während V. 7 mit den beiden Verben „gekrümmt sein“ (.wh nif.) und „niedergebeugt sein“ (窪 q.) sowie mit der Wendung „niedergedrückt umhergehen“ (qdr Ptz. q. + hlk pi.)66 die krank machenden Folgen der Sünde ausmalt, kennzeichnet V. 9 mit dem seltenen Verb pûg nif. den Zustand der Lebensminderung,67 in den der Beter eingetreten ist. Besonders aufschlussreich ist dabei die adverbielle Verwendung des Partizips Qal qoder „niedergedrückt“68, die außer in Ps 38,7 auch in Ps 35,14; 42,10; 43,2 und Ijob 30,28 jeweils in Kontaktstellung mit hlk q./pi./hitp. begegnet: qådar als Ausdruck der Beziehung zum anderen (Trauer/-ritus) Wie ein Freund, wie ein Bruder war er (sc. der Feind) mir, so ich ging umher (hlk hitp.),69 wie in Trauer / trauernd um die Mutter war ich niedergebeugt (qdr Ptz. q. + 窪 q.) (Ps 35,14) qådar als Ausdruck des Selbstverhältnisses (Depression) Ich war gekrümmt (.wh nif.), niedergebeugt (窪 q.) gar sehr, den ganzen Tag ging ich niedergedrückt umher (qdr Ptz. q. + hlk pi.) (Ps 38,7) Ich will sagen zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mich vergessen, warum gehe ich niedergedrückt umher (qdr Ptz. q. + hlk q.) in/unter der Bedrängnis des Feindes? (Ps 42,10) Denn du bist der Gott meiner Zuflucht: Warum hast du mich verstoßen, warum gehe ich niedergedrückt umher (qdr Ptz. q. + hlk hitp.) in/unter der Bedrängnis des Feindes? (Ps 43,2) Schwarz/dunkel gehe ich umher (qdr q. + hlk pi.) ohne Sonne(nglut), ich stehe in der Gemeinde auf, schreie um Hilfe. (Ijob 30,28) 70
66 Zu diesen drei Verben s. die Übersicht oben 89 und speziell zu qdr q. die folgenden Ausführungen. 67 Vgl. zur Bedeutung von pûg noch Gen 45,26: Als Josephs Brüder ihrem Vater Jakob erzählen, dass Joseph lebt und Herrscher in Ägypten ist, reagiert dieser ganz apathisch: „Aber sein Herz wurde matt / erkaltete (pûg), denn er glaubte ihnen nicht.“ Erst als sie die Worte zitieren, die Joseph zu ihnen geredet hatte, und die Wagen sah, die er mitgeschickt hatte, lebte sein Lebensgeist wieder auf (ªåjåh V. 27). 68 Ein Partizip mit adverbieller Bedeutung ist eher selten, s. dazu D OCKNER, „Sicut Cerva“ (2001), 137 und AOKI, „Wann darf ich kommen?“ (2008), 75. 69 BAETHGEN, Psalmen (31904), 99 übersetzt: „Als wär’ er ein Freund mir, ein Bruder, so ging ich umher.“ Zu Ps 35,14 s. auch unten 97 Anm. 101. 70 S. dazu unten 98f.
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Wie ist in diesen Belegen das Verb qdr q. zu verstehen? Die Wurzel QDR bedeutet „schwarz werden, sich verfinstern“71 und wird ursprünglich von der Verfinsterung des Himmels, der Gestirne oder des Tages ausgesagt, z.B.: Es dauerte nicht lange, da verfinsterte sich (qdr q.) der Himmel mit Wolken und Wind, und ein starker Regen brach los. (1 Kön 18,45)72 Vor ihm (sc. dem apokalyptischen Heer) erzittert die Erde, erbebt der Himmel; Sonne und Mond werden schwarz (qdr q.), und die Sterne verlieren ihren Glanz. (Joël 2,10b = 4,15)73 Ich kleide die Himmel in Finsternis/Schwärze (qadrût) und mache den Sack (¬aq) zu ihrem Gewand. (Jes 50,3) 74
Ist von der Bedeutung „schwarz werden, sich verfinstern“ auch auszugehen, wenn das Verb – wie in der geprägten Wortfolge qdr Ptz. q. + hlk q./pi./hitp. – auf menschliches Verhalten übertragen wird oder sollte hier jeweils mit „trauern“ übersetzt werden? Während L. Delekat die Bedeutung von qådar in Ps 35,14; 38,7; 42,10; 43,2; Ijob 30, 28 u.a. unter Berufung auf die Septuaginta vom „finsteren Gesicht“ (Trauermiene) und J. Scharbert, H.-J. Kraus u.a. vom „ungepflegten Äußeren“ (Trauerritus) herleitet, dürfte – da beide Erklärungsversuche nicht überzeugen können 75 – mit dem „Schwarz-/Finster-Werden“ grundsätzlicher das Schwinden der Lebenskraft, also der psychosomatisch erlebte Einbruch der „Finsternis“ im Gegensatz zur „Aufhellung“ durch die Zuwendung JHWHs gemeint sein. Was „hell“ ist, gehört nach altorientalischer wie biblischer Auffassung auf die Seite des Kosmos / des Lebens, und was „dunkel“ ist, auf die Seite des Chaos / des Todes.76 Dieser Licht/Finsternis-Gegensatz ist, wie Ps 13,2–5 beispielhaft zeigt, ein Charakteristikum der Topologie der Klage: 71 17mal als Verb im q./hif./hitp. und 2 nominale Derivate (qadrût „Finsternis, Schwärze“ in Jes 50,3 und qedorannît „dunkel > traurig“ in Mal 3,14), s. dazu Ges18 1150 s.vv. und SCHMOLDT, Art. qådar (1989), 1176ff, ferner KUTSCH, „Trauerbräuche“ (1986), 89 Anm. 69; DOCKNER, „Sicut cerva“ (2001),188 u.a. 72 Vgl. Jer 4,28. 73 Vgl. Ez 32,8. 74 Die Bedeutungen „sich verfinstern“ und „trauern“ überschneiden sich auch in Jer 4,28 und Ez 31,15. 75 S. dazu unten 97f. 76 S. dazu JANOWSKI, Rettungsgewißheit (1989), 56ff; DERS., Konfliktgespräche mit Gott (42013), 63ff und DERS., Licht des Lebens (2008), 227ff. Für Mesopotamien ist nach wie vor die Darstellung von CASSIN, splendeur divine (1968), 27ff grundlegend.
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Klage 2 Bis wann, JHWH, vergisst du mich auf Dauer? Bis wann verbirgst du dein Gesicht vor mir? 3 Bis wann soll ich Sorgen tragen in meiner næpæç, Kummer in meinem Herzen Tag für Tag? Bis wann erhebt sich mein Feind über mich? Bitte 4 Blick doch her, antworte mir, JHWH, mein Gott! Mach hell (wr hif.) meine Augen, damit ich nicht zum Tod (måwæt) entschlafe, 5 damit mein Feind nicht behauptet: „Ich habe ihn überwältigt!“ meine Gegner nicht jubeln, dass ich wanke! (Ps 13,2–5) 77
Dieselbe Licht/Finsternis-Metaphorik ist auch in der altorientalischen Gebetsliteratur verbreitet. Einschlägig ist etwa das jungbabylonische Handerhebungsgebet Içtar 2, das im Übrigen –wie auch Ps 13 (4-maliges „bis wann“ in V. 2f) – die an die Gottheit gerichteten gattungstypischen „wie lange noch“-Fragen enthält (Içtar 2, Z. 56.59. 93f).78 Exkurs 1: Das Handerhebungsgebet Içtar 2 Das große Handerhebungsgebet (çu-ila) Içtar 2 aus der 1. Hälfte des 1. Jt.s v.Chr.79 gliedert sich in eine Invokation (Z. 1–41), ein dreiteiliges Bittgebet (Z. 42–55.56–92.93–100) und eine Benediktion (Z. 101–105). Für unsere Fragestellung ist nicht nur der Abschluss der Invokation in Z. 40f zentral, wo – wie schon in Z. 2680 – vom lebendig machenden Blick der Göttin Içtar die Rede ist: 40 41
Wo du hinblickst, wird lebendig der Tote (m+tu), erhebt sich der Kranke (mar‚u). Es wird gerade der Ungerade, wenn er dein Antlitz sieht.81
77 Zu diesem Text s. JANOWSKI, Konfliktgespräche mit Gott (42013), 65ff. 78 Vgl. ZERNECKE, Mesopotamian Parallels (2014), 36. 79 S. dazu SEUX, Hymnes et prières (1976), 186ff; ZGOLL, Kunst des Betens (2003), 41ff; ZERNECKE , Gott (2011), 77ff; LENZI (ed.), Akkadian Prayers (2011), 257ff (Zernecke) und TUAT.NF 7 (2013) 85ff (K. Hecker). Zur Gebetsgattung çuila/çuilla („Handerhebungsgebet“) s. zusammenfassend LENZI (ed.), Akkadian Prayers (2011), 24ff (Chr. Frechette). 80 „Du blickst auf den Leidenden und Misshandelten, du leitest ihn gerade Tag für Tag“, Übersetzung ZGOLL, Kunst des Betens (2003), 50. 81 Übersetzung Zgoll, Kunst des Betens (2003), 51, 86, zur Interpretation s. ebd. 72ff; ZERNECKE, Gott (2011), 175, 187ff und unten 95. Ein Seitenblick auf die ägyptische Gebetsliteratur bestätigt diese Bedeutung des Licht/Finsternis-Gegensatzes. Als Beispiel sei das Gebetsostrakon Kairo 12.202 aus der mittleren 18. Dynastie zitiert, das in Z. 2f den folgenden Dank an Amun-Re enthält: „(2) Du hast geschehen
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Aussagerelevant ist auch die Selbstvorstellung des Beters, die in Z. 42 mit betontem anåku „ich“ einsetzt und in Z. 42–44 (vgl. Z. 53–55) an die Invokation anknüpft: 42 43 44
Ich rufe dich an, dein ermüdeter (anu), völlig ermatteter (ç¨nuu), schwerkranker (çumru‚u) Knecht! Sieh mich an, meine Herrin, und nimm an mein Flehen! Fest schaue auf mich und höre mein Gebet! 82
Dieses Flehen des Kranken („dein Knecht“) nach Zuwendung der Göttin („meine Herrin“), die ihn ansehen und erhören möge,83 umrahmt die Bitten um das Erlösungswort ahulap „Genug!“ in Z. 45–50 und die Bitte um die Beruhigung von Içtars Zorn (Z. 51f). Hier finden sich mit den körperbezogenen Wendungen „mein kläglicher Leib, der voll ist von Verwirrungen und Trübungen“ (Z. 46), „mein schwerkrankes Herz, das voll ist von Tränen und Seufzen“ (Z. 47), „mein Gemüt, das ausharrt unter Tränen und Seufzen“ (Z. 50) explizite Hinweise auf das physische und psychische Leiden des Beters, die im zweiten Teil des Bittgebets (mit den beiden Hälften Z. 56–80 und 81–92) durch die sozialen Aspekte seiner Not (Z. 77f) noch gesteigert werden. So heißt es in der ersten Hälfte (Z. 56–80): 62 63 64 65 66
Ich schwanke wie eine Woge, die ein böser Wind aufpeitscht. Es flattert mein Herz, fliegt hin und her wie ein Vogel des Himmels. Klagelaute stoße ich aus wie eine Taube nachts und am Tage.84 ,Glühend‘ bin ich und weine laut. Unter Weh und Ach ist schwerkrank mein Gemüt.
72
Ich habe gesehen, meine Herrin, verfinsterte Tage, verdunkelte Monate, Jahre des Kummers. Ich habe gesehen, meine Herrin, (Straf-)Gericht, Verwirrung und Aufruhr. Es hält mich fest Tod (m¨tu) und äußerste Pein (çapçåqu). Totenstarr (çuarruru) ist mein Schrein, totenstarr (çuarruru) ist mein Heiligtum. Über (meinem) Haus, Tor und Flur lastet Totenstille (çaqummatu). Mein Gott – zu einem anderen Ort ist gewandt sein Gesicht. Zerstreut ist meine Sippe, mein Obdach aufgelöst.85
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lassen, dass ich den Tag wie die Nacht sehe, (3) du hast (mein Auge) wieder hell werden lassen und bist (in Gnade) zurückgekehrt“, s. dazu ALTENMÜLLER, Blindheit des Beters (2013), 543ff.547ff mit weiteren Beispielen. 82 Übersetzung ZGOLL, Kunst des Betens (2003), 51, zur Interpretation s. ebd. 72ff.86ff und ZERNECKE, Gott (2011), 187ff. 83 Zum Topos des „(Wieder-)Angesehen-Werdens“ durch die Gottheit s. Zgoll, Kunst des Betens (2003), 86f. 84 Vgl. Içtar 10,17, s. dazu ZGOLL, Kunst des Betens (2003), 118; Z ERNECKE, Gott (2011), 43.73f; DIES., Mesopotamian Paralles (2014), 36 und die Hinweise bei MAYER, Formensprache (1976), 83.
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Die Abwendung des göttlichen Gesichts, so zeigt dieser Text, beschwört die ,unheile Welt‘ der Finsternis und des Todes herauf.86 Typisch für depressives Verhalten sind dabei Wendungen und Bilder von Ruhelosigkeit und Jammer (62f.64–66), von Dunkelheit und Kummer (Z. 72), von Verwirrung und Aufruhr (Z. 73), von Bewegungsunfreiheit (Z. 74) und Totenstille (Z. 75f). Besonders plastisch bringen die drei Vergleiche in Z. 62–64 die Notlage des Beters zum Ausdruck: – – –
er schwankt wie eine Woge, die ein böser Wind aufpeitscht sein Herz flattert und fliegt hin und her wie ein Vogel des Himmels er klagt wie eine Taube nachts und am Tage
Dann heißt es, dass er (vor Fieber) glüht, laut weint und unter Weh und Ach klagt (Z. 65f): „Die Gleichsetzung seines Schwankens mit der vom Wind getriebenen Woge zeigt sein völliges Ausgeliefertsein. In Z. 63 wird das Hin- und Herfliegen … eines Vogels als Vergleichsspender für seine Ruhelosigkeit benutzt; tertium comparationis ist die anscheinend ziellose dauernde Bewegung. Der dritte Vergleich parallelisiert das Rufen der Tauben mit der Klage des Beters; tertium comparationis ist hier wohl der dumpfe Klang, der den Ruf der Taube mit einem Klagelaut vergleichbar erscheinen läßt, was durch die Häufung der u-Laute onomatopoetisch unterstrichen wird.“ 87 Zu Beginn der zweiten Hälfte des mittleren Bittgebets (Z. 81–92) kommt es schließlich zum Doppelwunsch nach einer „Lösung“ der Sünde und der Annahme des Flehens (Z. 81f) sowie zu drei Bitten um die Rückkehr ins Leben (Z. 83f): 81 82 83 84
Löse meine Schuld, meine Untat, meine Sünde, mein Vergehen! Achte für nichts meine Sünden, nimm an mein Flehen! Lockere mir meine Fesseln, meine Lastenbefreiung setze fest! Leite gerade (eç™ru Çt) meinen Schritt, strahlend (namriç), fürstlich (etelliç) mit den Lebenden will ich gehen die Straße! 88
Lockerung der Fesseln, Entlastung von Sünde, gerade Leitung des Schritts – mit diesen drei Bestimmungen wird die erhoffte Rückkehr in die Gemein85 Übersetzung ZGOLL, Kunst des Betens (2003), 52, zur Interpretation s. ebd. 89ff und ZERNECKE, Gott (2011), 157f, 181f. Zu Z. 72–78 s. auch JANOWSKI, Rettungsgewißheit (1989), 58 und DERS., Konfliktgespräche mit Gott (42013), 63ff. 86 Zu den für die Mentalität Mesopotamiens charakteristischen Oppositionen Kosmos/Chaos, Licht/Finsternis, Leben/Tod s. besonders CASSIN, splendeur divine (1968), 27ff (mit der Tabelle 52). Speziell zum Zusammenhang von Stille und Chaos, wie er in Z. 75f dargestellt wird, s. ebd. 39ff. 87 ZERNECKE, Gott (2011), 157, vgl. ebd. 181f; JANOWSKI, næpæç (2014), 81f mit Anm. 31 und ZGOLL, Kunst des Betens (2003), 90. 88 S. dazu ZGOLL, Kunst des Betens (2003), 92f und ZERNECKE, Gott (2011), 159. 182.
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schaft der „Lebenden“ (Z. 84) eindrücklich ins Bild gesetzt und gleichzeitig den Todesbildern von Z. 74–76 gegenübergestellt. Dabei konkretisieren die beiden Adverbien „strahlend“ (namriç) und „fürstlich“ (etelliç) diese Rückkehr im Blick auf die psychosomatische und die soziale Situation des Beters und bilden somit eine Brücke zu den Aussagen von Ps 38,7–9.10–15. Während mit dem Adverb etelliç „fürstlich“ das soziale Ansehen gemeint ist, das dem Beter durch die Zuwendung des göttlichen Angesichts zuteil werden möge, wird mit dem Adverb namriç „strahlend“ auf das Wortfeld zurückgegriffen, das für das Wirken Içtars charakteristisch ist und mit dem jetzt das wiedererlangte Leben des Beters qualifiziert wird: 35
Leuchtende (namirtu), Fackel (dipåru) von Himmel und Erde, Strahlenglanz (çar¨ru) der gesamten bewohnten Welt!
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Mit deinem leuchtenden Antlitz (ina b¨n+ki namr¨ti) schaue fest auf mich um meinetwillen! Vertreibe die bösen Behexungen meines Leibes! Dein leuchtendes Licht (n¨rki namru) möchte ich sehen! 89
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Beide Qualifikationen – das „strahlende“ und „fürstliche“ Gehen des Beters „mit den Lebenden“ – sind nach Z. 84 die Folge eines Handelns der Göttin, nämlich ihrer geraden Leitung (eç™ru Çt „in Ordnung bringen/halten, gerade leiten“), das bereits in der Invokation gepriesen wird: 25 26
Den Rechtsspruch über die Beherrschten in Recht und Gerechtigkeit (kittu u m+çaru) fällst du, (ja) du, Du blickst auf den Leidenden und Misshandelten, du leitest ihn gerade (eç™ru Çt) Tag für Tag (vgl. Z. 2)
Entsprechend der mit eç™ru(m) „gerade sein, geradeaus gehen“ zum Ausdruck gebrachten Bewegung, wonach „man nicht vom Weg abweicht, keine Umwege macht und auf dem richtigen Weg zum Ziel ist“ 90, wird die Göttin dem Beter, wie er hofft, Recht schaffen und sein Leiden beenden oder, wie Z. 41 gleichsam definitorisch formuliert: „Es wird gerade der Ungerade (iççir lå içaru), wenn er dein Antlitz sieht“.91 Wenn das geschieht, ist das Leben, das in totaler Unordnung war (vgl. Z. 62–78), wieder „normal“ oder (Ende des Exkurses) „in Ordnung“.92
89 Zu den auf Licht und Helligkeit bezogenen Epitheta Içtars s. Z ERNECKE, Gott (2011), 172f. 90 LÄMMERHIRT, Wahrheit (2010), 337. Zur Bedeutung von m+çaru „Gerechtigkeit“ und von eç™ru „gerade sein, geradeaus gehen“ / eç™ru Çt „veranlassen, dass sich etwas in rechter Bahn / in rechter Weise bewegt, in Ordnung bringen“ s. JANOWSKI, Richter (2003), 90f.92.93f und umfassend LÄMMERHIRT, Wahrheit (2010), 337ff. 397f.725ff. 91 Vgl. oben 92. 92 Vgl. LÄMMERHIRT, Wahrheit (2010), 338: „Dort, wo die Wurzel j-ç-r keine Bewegung, sondern vielmehr den Zustand von Objekten beschreibt, steht sie in übertra-
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Kehren wir zur Elendsschilderung von Ps 38,4–9 und ihren drastischen Körperbildern zurück. Nach V. 7–9 ist der Beter an einem Tiefpunkt angelangt, an dem seine physische und psychische Erschöpfung kaum mehr zu steigern ist. An diesem Punkt aber wird mit dem Vertrauensbekenntnis V. 10 der erste Schritt zu einer Wende getan – der zweite folgt mit V. 16 –, auch wenn der Beter in V. 11–15 wieder in die Klage zurückfällt und seine physische und soziale Ohnmacht eingesteht. Während V. 12f die soziale Dimension der Not durch das teilnahmslose und aggressive Verhalten der Freunde, Gefährten und Verwandten des Beters ausmalt (vgl. Ps 41,6–10; Ijob 19, 13–19 u.a.),93 nennt V. 11 mit dem heftig pochenden Herzen (Rückgriff auf V. 9b: ,stöhnendes Herz‘) und dem schwindenden Licht der Augen diejenigen Körperorgane, die als Zentralinstanz im Inneren des Menschen gelten (Herz)94 und für die Kommunikation mit der Außenwelt sorgen (Augen). Beide haben hier ihre Funktion verloren. Aber nicht nur das, auch die Ohren und der Mund versagen ihren Dienst, sodass sich der Beter am Ende als „taub“ (ªereç) und „stumm“ (illem)95 bezeichnet: 14 15
Ich aber bin wie ein Tauber, höre nicht hin, und wie ein Stummer, der seinen Mund nicht auftut. Ich wurde wie ein Mann, der nicht hört und in dessen Mund keine Widerreden sind.
Die Fortsetzung von Ps 38 gibt keinen Aufschluss darüber, ob sich die Lage des Beters gebessert hat oder bessern wird. Nach dem Bekenntnis der Zuversicht angesichts bestehender Anfeindungen (V. 16–21)96 endet der Text in V. 22f jedenfalls mit Bitten um Nähe, genem Sinn für ,Normhaftigkeit‘ oder ,Richtigkeit‘. In Verbindung gebracht werden kann diese Verwendungsweise vielleicht mit der von j-ç-r ausgedrückten Bewegung: nicht vom Weg abzukommen bzw. die Spur zu halten heißt in übertragenem Sinn ,normal‘ oder ,in Ordnung‘, das Abweichen vom Weg und das Verlassen der Spur liefert hingegen das Bild für ,unnormal‘ oder ,falsch‘.“ 93 S. dazu JANOWSKI, Konfliktgespräche mit Gott (42013), 188f, ferner HOSSFELD/ZENGER, Psalm 1–50 (1993), 244 (Zenger); B RANDSCHEIDT, Sünde (2015), 10ff u.a. 94 S. dazu JANOWSKI, Herz (2015), 91ff. 95 S. dazu OLYAN, Disability (2008), 52. Nach Ps 38 führt die Linie der zunehmenden Kommunikationsstörung vom „Brüllen“ und „Stöhnen“ (V. 9) über das „Seufzen“ (V. 10) bis zum endgültigen „Verstummen“ (V. 14). Erst mit dem Bekenntnis der Zuversicht (V. 16ff) findet der Beter zum Reden mit Gott zurück, s. zu den Topoi „Schweigen“ und „Verstummen“ in den Psalmen WEBER, Werkbuch Psalmen III (2010), 147ff. 96 In der Feind- und Ichklage von V. 17f ist wie in V. 7 von der unsicheren Körperhaltung/-bewegung (mû† „wanken“, ‚æla. „das Straucheln, Hinfallen“, vgl. Ps 35, 15!) des Beters die Rede. Zum Motivwort mû† „wanken, schwanken“ (vgl. Ps 13,5;
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Hilfe und Rettung, die an Dringlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Wie die dreifache Invokation JHWH, „mein Gott“, Adonaj, die mit anderer Wortfolge auch zu Beginn von V. 16–21 begegnet, zeigt, geht es dem Beter – so sehr er diese erfleht! – nicht allein um die Beseitigung seines psychosomatischen und sozialen Elends, sondern in ihr um die Wiedergewinnung der Gottesnähe. Die Dringlichkeit, mit der diese herbeigesehnt wird – „Eile mir doch zu Hilfe, Herr, meine Rettung!“ (V. 23) –, spricht für sich selbst. 2.1.2.2
Zwischenergebnis
Ziehen wir, bevor wir unsere Untersuchung fortsetzen, ein kurzes Fazit. Bei der Analyse von Ps 38,7–9 ging es u.a. um die geprägte Wortverbindung qdr Ptz. q. + hlk q./pi./hitp., die in in Ps 35,14; 38,7; 42,10; 43,2; Hi 30,28 jeweils innerhalb eines Klagekontextes begegnet und in der Regel mit „trauernd, niedergedrückt umhergehen“ übersetzt wird. Die Frage ist, worauf sich das Verb qådar „schwarz werden, sich verfinstern“97 an diesen Stellen konkret bezieht: auf das traurige Gesicht oder auf die ungepflegten Trauerkleider des Beters? Während die Übersetzung von qådar mit „traurig sein, ein sorgenvolles Gesicht machen“, die L. Delekat unter Berufung auf die LXX favorisiert,98 eine Verlegenheitslösung ist,99 ist auch die Übersetzung mit „ungepflegt, im Traueraufzug sein“100 wenig überzeugend, weil es – außer in Ps 35,14 101 – keinen Hinweis auf einen rituellen oder 16.8; 17,5; 62,3.7; 125,1, ferner Ps 46,3.6f; 82,5; 96,10; 104,5 u.ö.) s. JANOWSKI, Konfliktgespräche mit Gott (42013), 71f. 97 Zur Wortbedeutung s. die Hinweise oben Anm. 33. 98 S. dazu DELEKAT, Wörterbuch (1964), 55f. In Ps 34 (35),14 LXX; 37 (38),7 LXX; 41 (42),10 LXX und 42 (43),2 LXX wird qdr Ptz. q. mit skuqrwpavzwn „düster dreinblickend“ übersetzt. In Ijob 30,28 wird es mit stevnwn „stöhnend“ wiedergegeben, s. dazu auch SCHMOLDT, Art. qådar (1989), 1178. 99 S. dazu auch BONS u.a., Psalmoi/Psalmen (2011), 1595 (R. Brucker). 100 So J. Scharbert („Unterlassung der Körper- und Kleiderpflege“); H.-J. Kraus (der Beter war „,geschwärzt‘ von der Asche des Bußritus“), ähnlich SEYBOLD, Gebet des Kranken (1973), 98ff, s. dazu die Nachweise bei SCHMOLDT, Art. qådar (1989), 1178 und unten Anm. 104. 101 In Ps 35,14 (zum Text s. oben 90) handelt es sich um einen Trauergestus, nicht um ein depressives Verhalten. Dafür spricht zum einen die Erwähnung des Trauergewandes (¬aq „Sack“) und des Fastens (‚wm) im vorhergehenden Vers und zum anderen der Kontext von V. 11ff, demzufolge der Beter sein Verhalten demjenigen seiner Feinde (V. 11: „Unrechtzeugen“) entgegensetzt, indem er sich ihnen gegenüber, als sie krank waren, solidarisch verhalten und um sie getrauert hat, s. dazu HOSSFELD/ZENGER, Psalm 1–50 (1993), 221 (Hossfeld). In den qdr-Belegen Ps 38,7; 42,10; 43,2 und Ijob 30,28 (s. dazu oben 90f) geht es dagegen um das Selbstverhältnis des Beters, also um Depression.
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institutionellen Hintergrund gibt. Die sprachliche Gestalt der Ichklagen von Ps 38,7–9; 42,10; 43,2 und Ijob 30,28–31 ist vielmehr stereotyp und nicht auf einen konkreten Sitz im Leben (Trauerritus) engzuführen.102 Müssen wir es bei diesem Einwand belassen oder lässt sich doch etwas Näheres zur Bedeutung von qådar an den besagten Stellen ausmachen? Möglicherweise ja, wenn man die Ichklage in Ijob 30,28–31 heranzieht: 28 29 30 31
Schwarz/dunkel gehe ich umher (qdr Ptz. q. + hlk pi.) bei fehlender Sonnenglut (ªammåh), ich stehe in der Gemeinde auf, ich schreie um Hilfe. Ein Bruder geworden bin ich den Schakalen und ein Gefährte den Straußenhennen. Meine Haut ist schwarz geworden (çªr q.) an mir, und mein Gebein glüht (ªrh q.) vor Hitze. Es wurde zur Trauer meine Leier und meine Flöte zu einer Stimme von Weinenden.
Für die Übersetzung des adverbiell gebrauchten Partizips von qdr q. mit „schwarz, dunkel“103 anstelle von „trauernd“, „mit düsteren Kleidern“ o.ä.104 spricht, dass die „,Schwarzfärbung‘ des Klagenden … nicht von außen, etwa durch die Sonnenglut“105, sondern, wie V. 30 präzisiert, von innen, nämlich durch die Verfärbung der Haut aufgrund von (Fieber-)Hitze – sie ist „schwarz geworden“ (çåªar)106 – 102 Anders SEYBOLD, Gebet des Kranken (1973), 98ff, der im Blick auf Ps 38,7 vom Umhergehen „in schwarzem Bußgewand“ (101) spricht und im Übrigen – allerdings ohne textlichen Anhalt! – weitreichende „rituelle Voraussetzungen“ (102) postuliert, denen zufolge Ps 38 „sich ganz im rituellen und institutionellen Rahmen der Situation des Büßers (hält)“ (103), vgl. ebd. 105f und DERS., Psalmen (1996), 159f. Zur Kritik an Seybold s. auch GERSTENBERGER, Psalms 1 (1988), 163f. Obwohl ZERNECKE, Gott (2011), 231 mit Anm. 184 Seybold ebenfalls kritisiert, geht sie davon aus, dass der Beter nach V. 7 möglicherweise „auf sein eigenes rituelles Verhalten verweist, mit dem er auf seine Notlage reagiert“, vgl. ebd. 233 („er vollzieht Trauerriten“); eine Begründung dafür wird nicht gegeben. 103 Zur Bedeutung von qdr q. s. oben Anm. 34, zur adverbiellen Verwendung des Partizips qoder s. oben 90 mit Anm. 68. 104 S. dazu die Beispiele aus der Sekundärliteratur bei G RIMM, „Dies Leben“ (1998), 222 Anm. 1285. 105 RIEDE, „Bruder der Schakale“ (2002), 123 Anm. 22 (Hervorhebung von mir). 106 S. dazu Ges18 1342 s.v. çªr I q.; FOHRER, Hiob (1963), 422; BRENNER, Colour Terms (1982), 95ff u.ö.; RUPPERT, Art. çåªar (1993), 1222 und STRAUSS, Hiob 2 (2000), 212f. Zur Schwärzung der Haut als Zeichen körperlicher Auszehrung s. Klgl 4,8: „Schwärzer (ªåçak) als Ruß/Schwärze (çeªôr) war ihr (sc. der Vornehmen Jerusalems) Aussehen, man erkannte sie nicht wieder in den Gassen. / Geschrumpft war ihre Haut auf ihrem Leib, ausgetrocknet wie (dürres) Holz“, s. dazu BERGES, Klagelieder (2002), 248.
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zustande gekommen ist. Welche medizinischen Symptome dabei konkret im Blick sind (Aussatz?), ist kaum zu entscheiden. V. 29 zeigt jedenfalls, dass sich Hiob den Wüstentieren Schakal und Straußenhenne als den Repräsentanten der gegenmenschlichen Welt 107 verwandt fühlt („Bruder“) und damit der Manifestation des Chaotischen in seiner Existenz Ausdruck verleiht.108 Für das Verständnis der Wortverbindung qdr Ptz. q. + hlk q./pi./ hitp. folgt daraus, dass die übliche Übersetzung „trauernd, niedergebeugt umhergehen“ beibehalten werden kann, sofern damit nicht ein regelrechter Trauerritus109 oder ein „finsteres Gesicht“110 verbunden wird. Um falsche Assoziationen (Trauermiene, Trauerritus) zu vermeiden, könnte man die besagte Wendung auch mit „(schwarz, dunkel >) niedergedrückt, deprimiert umhergehen“ übersetzen. 2.1.2.3
„Ich irre umher in meiner Klage“ (Ps 55,3)
Am Beispiel der Wortverbindung qdr Ptz. q. + hlk q./pi./hitp. haben wir gesehen, dass die Aspekte Körperhaltung („niedergedrückt, deprimiert“) und Körperbewegung („umhergehen“) zusammen auftreten können. Daneben gibt es Verben, die wie ndd q. „(rastlos, ziellos) fliehen“, nwd q. „umherirren, fliehen“ und rwd hif. „umherirren“111 den Aspekt der depressiven Körperbewegung in den Vordergrund rücken. Als Textbeispiel sei das Klagelied Ps 55 112 zitiert, das nach den Bitten um Erhörung (V. 2–3a) mit einer Klage über die Bedrohung durch die Feinde (V. 3b–6) und dem Wunsch nach Flucht vor den Feinden (V. 7–9) einsetzt: Bitten um Erhörung 2 Vernimm, Gott, mein Gebet, und verbirg dich nicht vor meinem Flehen! 3 Achte auf mich und erhöre mich!
107 Vgl. RIEDE, „Bruder der Schakale“ (2002), 124. 108 S. dazu JANOWSKI, Konfliktgespräche mit Gott (42013), 71ff. 109 Das gibt auch V. 31 mit seinem Bezug auf das Wehklagen und Weinen nicht her. Zum Katalog der Trauerriten s. nur SEYBOLD, Gebet des Kranken (1973), 82ff u.a. 110 S. dazu oben 97 mit Anm. 99. 111 S. dazu die Übersicht oben 85 und im Folgenden. 112 Zu Ps 55 s. außer den Kommentaren zuletzt BAIL, Schweigen (1998), 160ff (allerdings mit einer problematischen Deutung auf sexuelle Gewalt); KSELMAN/ BARRÉ, Psalm 55 (1998), 440ff; RIEDE, Im Netz des Jägers (2000), 279ff; SÜSSENBACH, Psalter (2005), 115ff und THÖNE, Desert (2012), 62ff.
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Klage Ich irre umher (rwd hif.)113 in meiner Klage, und ich bin außer mir (hwm hif.) 114 4 wegen der Stimme des Feindes, wegen der Bedrängnis des Frevlers, denn sie wälzen auf mich Unheil,115 und im Zorn feinden sie mich an. 5 Mein Herz bebt in meiner Mitte, und Todesschrecken sind auf mich gefallen. 6 Furcht und Zittern kommen zu mir, und es hat mich Entsetzen bedeckt.
Irrealer Wunsch 7
Und ich sprach: Hätte ich doch Flügel wie eine Taube,
fliegen wollte ich und mich niederlassen. 8 Siehe, ich möchte in die Ferne fliehen (rªq hif. + ndd Inf. cstr. q.),116 übernachten möchte ich in der Wüste. – Sela 9 Eilen möchte ich zu meinem Zufluchtsort vor dem reißenden Wind, vor dem Sturm.
Gemäß der Klage V. 3b–6 ist die existentielle Situation des Beters bedrückend klar: Er leidet unter der anhaltenden Bedrängnis seiner Feinde, die ihn zu unkoordinierten Bewegungen veranlasst (rwd hif. „[ziellos] umherirren“ V. 3b, vgl. Gen 27,40) und mit Todesschrecken, Furcht, Zittern und Entsetzen überzieht (V. 5f). Während V. 3b die depressive Reaktion des Beters („umherirren“ // „außer sich sein“) ausmalt und V. 4a den Grund dafür angibt, expliziert V. 4b die Aktion der Feinde. Die dabei verwendete Wendung mû† hif. + åwæn, 117 die wörtlich „sie bringen Unheil zum Wanken“ bedeutet, dürfte besagen, dass „das Unheil wie eine Mauer oder ein Felsblock gedacht (ist), den man über dem Dichter ,zum Umfallen bringt‘“118. Das würde zur vertikalen Bewegungsrichtung der Bedrohung passen, von der 113 Zum Textproblem s. Ges18 1224 s.v. rwd hif., ferner K SELMAN/BARRÉ, Psalm 55 (1998), 44f; RIEDE, Im Netz des Jägers (2000), 279 Anm. 5; SÜSSENBACH, Psalter (2005), 118 Anm. 197 u.a. 114 Zum Textproblem s. Ges18 271 s.v. hwm hif., ferner KSELMAN/BARRÉ, Psalm 55 (1998), 445f; BARRÉ, „Wandering about“ (2001), 184; RIEDE, Im Netz des Jägers (2000), 280 Anm. 6; SÜSSENBACH, Psalter (2005), 118 Anm. 198 u.a. 115 So die herkömmliche Übersetzung, s. dazu im Folgenden. 116 Wörtlich: „Ich möchte das Fliehen fern machen“ (rªq hif. + ndd Inf. cstr. q.). Zu ndd q. „(rastlos, ziellos) fliehen“ s. G ROß, Art. nådad (1986), 245ff, bes. 247f. 117 Zur Konstruktion ist Ps 140,11 (mû† hif. + „glühende Kohlen“) zu vergleichen, s. dazu HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150 (2008), 734 (Hossfeld). 118 DUHM, Psalmen (21922), 219 mit der Übersetzung: „denn sie stürzen auf mich Unheil“.
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in V. 5b („fallen auf etw./jmd.“) und V. 6b („bedecken“) die Rede ist. „Es entsteht das Bild eines geschlossenen Raumes, aus dem es kein Entrinnen gibt“119. Zu diesem Chaosbild entwirft der Monolog V. 7–9 ein horizontales Gegenbild, indem er den Wunsch des Beters nach einer Flucht aus der bedrohlichen Stadt (vgl. V. 10b–12) in die – lebensfeindliche! – Wüste120 formuliert, wo er, was eine Steigerung ist, sogar „übernachten“ (lîn) möchte. Das hier gebrauchte Bild der fliehenden Taube (jônåh) – wohl der „Felsentaube, die in den Felsklüften, z.B. des judäischen Gebirges, wo es zum Toten Meer abfällt, für die Verfolger unerreichbar ist“121 – ist singulär. Der Passus V. 7–9 verwendet dabei Verben der Bewegung („fliegen“, „in die Ferne fliehen“, „eilen“), die nach V. 7b und V. 8b zur Ruhe kommt („sich niederlassen“, „übernachten“). Obwohl der Wunsch des Beters fiktiv ist (Irrealis „Hätte ich doch …“), tut er mit ihm den ersten Schritt aus der Umklammerung seiner Feinde und ihrer hinterhältigen Sprachgewalt (V. 22: „Butterstücke seines Mundes“ // „seine Worte milder als Öl“), der aber erst nach mehreren Stadien (Klagegänge V. 10b–15.21–23) in das abschließende Vertrauensbekenntnis mündet (V. 24b). Aufschlussreich für unser Thema ist der Sachverhalt, dass es zwischen Ps 55 und dem folgenden Ps 56 einen interessanten Zusammenhang gibt, der zum einen durch den Terminus „Taube“ (jônåh) und zum anderen durch die Wurzel RÓQ geknüpft wird: Ps 55,7f 7 Und ich sprach: Hätte ich doch Flügel wie eine Taube, fliegen wollte ich und mich niederlassen. 8 Siehe, ich möchte in die Ferne fliehen (rªq hif. + ndd Inf. cstr. q.) übernachten möchte ich in der Wüste. Ps 56,1 Für den Chormeister: Nach ,Taube des Verstummens / Stumme Taube der Fernen (Gegenden)‘ (.l-jônat elæm reªoqîm) 122 Darüber hinaus dürfte auch ein lexikalisch-motivlicher Bezug zwischen ndd q. „fliehen“ in Ps 55,8a und nôd* „Umherirren“ in Ps 56,9aa bestehen: 119 BAIL, Schweigen (1998), 168. 120 S. dazu RIEDE, Im Netz des Jägers (2000), 287ff, vgl. BAIL, Schweigen (1998), 169 und THÖNE, Desert (2012), 65f. 121 HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 51–100 (2000), 99 (Hossfeld). 122 Zum Verständnis dieser aus einem nomen regens und zwei nomina recta bestehenden Genitivkette s. JANOWSKI, „Hindin der Morgenröte“ (s. unten 293ff).
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Ps 55,8 Siehe, ich möchte in die Ferne fliehen (rªq hif. + ndd Inf. cstr. q.) übernachten möchte ich in der Wüste. Ps 56,9 Mein Umherirren (nôd* + Suff. 1. c. sg.) 123 mögest du zählen, du, sammle meine Tränen in deinem Schlauch, Ist nicht (alles) in deinem Buch? Möglicherweise nimmt die Überschrift von Ps 56,1 diese Perspektive auf und verstärkt sie durch den doppelten Genitiv mit seinen beiden, die Verfolgungssituation ausmalenden Aspekten des „Verstummens“ (elæm) 124 und der Flucht in eine unerreichbare „Ferne“. Einen Anhalt hat diese Vermutung in der Formulierung von Ps 56,6 wo der Beter die ständige Behinderung seiner Worte durch die Feinde beklagt: „den ganzen Tag kränken sie (.‚b pi.) meine Worte, gegen mich sind alle ihre Gedanken zum Bösen“. Diese unentwegte „Kränkung“ der Worte125 führt zum „Verstummen“ der Taube, d.h. des bedrängten Beters – der dennoch sein Vertrauen ganz auf Gott setzt (V. 4f.10bff): 6 7 8 9 10
Den ganzen Tag kränken sie meine Worte, gegen mich sind alle ihre Gedanken zum Bösen. Sie greifen an, sie verstecken sich, sie beobachten meine Fußspuren, weil sie nach meinem Leben trachten. Trotz des Unheils – soll es ein Entkommen für sie geben? Im Zorn stürze die Völker hinab, Gott! Mein Umherirren (nôd* + Suff. 1. c. sg.) mögest du zählen, du, sammle meine Tränen in deinem Schlauch, Ist nicht (alles) in deinem Buch? Dann werden meine Feinde zurückweichen!
Ziehen wir auch hier wieder ein kurzes Fazit. Im Unterschied zu anderen Verben mit der Bedeutung „fliehen“ wie båraª und nûs, die 123 S. dazu auch RINGGREN, Art. nûd (1986), 291. 124 Im Gegensatz zum „Gurren“ der Taube bzw. zum „Hörenlassen ihrer Stimme“ in Hld 2,14, s. dazu KEEL, Das Hohelied (1986), 100. 125 Mit DELITZSCH, Psalmen (51894/2005), 393 gehe ich davon aus, dass die Wendung (.‚b pi. + debårîm) bedeutet: „die Worte jemandes d.i. seine Aussagen über sich selbst martern, näml.(ich) durch Mißdeutung und Verdrehung“. Welches Ausmaß diese Verdrehung haben kann, lässt sich dem ebenfalls mit dem Abstraktum elæm „Verstummen, Schweigen“ gebildeten Oxymoron elæm ‚ædæq + dbr pi. „das Verstummen der Gerechtigkeit (reden >) befördern“ von Ps 58,2 entnehmen: „Ist es wirklich so, dass ihr in eurem Reden die Gerechtigkeit zum Verstummen bringt, dass ihr in Geradheit richtet die Menschenkinder?“. Vom „Verstummen“ des Beters ist auch in 38,14 (Adjektiv illem) und in Ps 39,3.10 (jeweils lm nif.) die Rede.
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eine Zielangabe der Flucht enthalten, interessiert bei ndd q. „höchstens der Ausgangspunkt, nicht das Ziel der Flucht“126. Daher ist das Verb „besonders geeignet, das rastlose, ziellose, panische Umherirren … zu bezeichnen“127. Das passt zu Ps 55,8a und 56,9. Erst in Ps 55,8b.9a wird gesagt, dass die fliehende Taube (= der bedrängte Beter) in der Wüste „übernachten“ und zu diesem Zufluchtsort „eilen“ möchte. Dies aber sind Ziele, die gemäß der Sprachform von Ps 55,7–9 irreal sind und das Gegenteil eines bergenden Aufenthaltsortes in der Nähe JHWHs darstellen. Dass der deprimiert umherirrende Beter seine Hoffnung auf die teilnehmende Aufmerksamkeit Gottes setzt, drückt Ps 56,9 mit der singulären Bitte aus, dass sein „Umherirren“ von JHWH gezählt und seine Tränen in seinem Schlauch gesammelt werden mögen.128 2.2
Appetitlosigkeit und andere Störungen
Neben anormalen Körperhaltungen und -bewegungen gehören auch Appetitlosigkeit, Schlafstörungen und Verstummen zu den Symptomen, die auf eine Depression hinweisen können. Ob eine solche vorliegt, hängt wieder vom jeweiligen Kontext und von der jeweiligen Textgattung ab. 2.2.1
Übersicht
Auch wenn die Textbasis für die Symptome Appetitlosigkeit, Schlafstörungen und Verstummen schmaler ist als für die anormalen Körperhaltungen und -bewegungen, gibt es, wie die folgende Übersicht zeigt, dennoch einige aussagekräftige Texte und Termini: – Appetitlosigkeit kl q.
„essen“: Ps 102,5 (çkª q. + meakal „vergessen zu essen“)
– Schlafstörungen ddh hitp. nedudîm çqd q.
126 127 128 129 130
„schlaftrunken umhergehen“ (?): Jes 38,15 129 „Unrast, Schlaflosigkeit“ (< Wz. NDD): Ijob 7,4130 „(wachen, wachsam sein >) nicht schlafen, schlaflos sein“: Ps 102,8 (// „wie ein Vogel“, bdd Ptz. q. „einsam [auf dem Dach]“)
GROß, Art. nådad (1986), 247. GROß, Art. nådad (1986), 248. Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 51–100 (2000), 115 (Zenger). S. dazu oben 85f. S. dazu unten 113f, zu ndd q. „(rastlos, ziellos) fliehen“ s. oben 85.
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– Niedergeschlagenheit *nåke
„(geschlagen >) verstört, niedergeschlagen“ (< Wz. NK): Spr 15,13; 17,22 131
– Verstummen/Schweigen dmm q.
„bewegungslos, starr sein > schweigen“: Joël 2,10 (// jçb q. „sich setzen, sitzen“ + lååræ‚ „auf dem Erdboden“); Klgl 3,28 (// jçb q. „sich setzen, sitzen“ + bådåd „einsam“), vgl. Ps 38,14f 132
P. Kruger zufolge berichten auch 1 Kön 19,6f und 1 Kön 21,4f von Appetitlosigkeit im Zusammenhang eines Zustands der Niedergeschlagenheit. 133 Während in 1 Kön 19,6f nicht von Appetitlosigkeit – sondern im Gegenteil von für Elia wunderhaft bereitgestellten Vorräten an Brot und Wasser – die Rede ist, ist Appetitlosigkeit nach 1 Kön 21,4 kein Anzeichen für ein depressives Verhalten Ahabs. Dieser zog sich nach der Weigerung Nabots, ihm seinen Weinberg zu überlassen, ergrimmt und zornig in sein Haus zurück und tat folgendes: Er legte sich (çkb q.) auf sein Bett, wandte sein Gesicht ab (sbb hif. + pånîm) und nahm keine Nahrung zu sich (lo åkal læªæm). Dies ist kein depressives Verhalten, sondern eine „Abschließung nach außen“, d.h. ein „Ausdruck größter Frustration, der Enttäuschung und des Gefühls der Machtlosigkeit“134.
2.2.2
Textbeispiele
Wie die Übersicht zeigt, gibt es zwei Texte, die deutliche Hinweise auf ein depressives Verhalten enthalten: die Individualklage Ps 102,2–12 und die Antwort Hiobs an Eliphas in Ijob 7,1–6. In ihnen bekommen wir einen Einblick in den circulus vitiosus depressiver Schlaf- und Eßstörungen. 2.2.2.1
„Ich vergaß, mein Brot zu essen“ (Ps 102,5)
Im Unterschied zum Vogelbild von Ps 55,7f, wonach sich der bedrängte Beter die Flügel einer Taube wünscht, um in die Ferne zu entfliehen und sogar in der Wüste zu übernachten,135 befindet sich 131 132 133 134 135
S. dazu unten 109. S. dazu oben 96. S. dazu K RUGER, Gefühle (2009), 255. THIEL, Könige (2014), 528, 529. S. dazu oben 99ff.
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der Beter von Ps 102136 bereits in einem wüstenähnlichen Bereich und beklagt seine desolate Lage mit eindrücklichen Bildern und Vergleichen (im Folgenden unterstrichen):137 Klage- und Bittgebet 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
JHWH, höre mein Gebet und mein Schreien dringe zu dir! Verbirg nicht dein Gesicht vor mir am Tag meiner Not, neige dein Ohr zu mir, am Tag, wenn ich rufe, antworte mir schnell! Denn vergangen sind in 138 Rauch meine Tage und meine Gebeine – wie ein Kohlebecken glühten sie. Versengt wie das Gras und verdorrt ist mein Herz, denn ich vergaß, mein Brot zu essen. Vom Klang meines Stöhnens klebte mein Gebein an meinem Fleisch. Ich gleiche einer Dohle der Wüste, ich bin geworden wie eine Eule in Trümmerstätten. Ich war schlaflos und ich wurde wie ein Vogel, einsam auf dem Dach.139 Den ganzen Tag beschämten mich meine Feinde, die mich zum Gespött machen, haben mir geflucht.140 Ja, Staub habe ich wie das Brot gegessen und meinen Trank mit Weinen vermischt. Von deinem Grimm und deinem Zorn (kommt das), ja, du hast mich hochgehoben und mich hingeworfen. Meine Tage sind wie ein ausgestreckter Schatten, und ich, wie das Gras werde ich vertrocknen.
2f Eingangsbitten um Zuwendung 4–6 Ichklage
7–9 Feindklage
10f Gottklage 12 Ichklage
Rückkehr zur Klage 24
Er (sc. JHWH) hat gebeugt auf dem Weg meine Kraft, verkürzt meine Tage.
136 Zu Ps 102 s. außer den Kommentaren zuletzt BRÜNING, Ps 102 (1992); BRUNERT, Psalm 102 (1996); RIEDE, Im Netz des Jägers (2000), 292ff; KÖRTING, Zion (2006), 32ff; MARTTILA, Collective Reinterpretation (2006), 118ff; SCHNOCKS, Psalmen (2014), 106ff u.a. 137 Die folgende Übersetzung bietet lediglich den Grundpsalm V. 2–12 + V. *24– 28 (mit den Fortschreibungen V. 24.25aa.26–28). Weggelassen sind die redaktionelle Überschrift V. 1 (Gebet eines Elenden, wenn er verzagt und vor JHWH seine Klage ausschüttet) sowie die Fortschreibungstexte V. 13–23.29; zu der hier vertretenen Position s. HOSSFELD/ZENGER, Psalm 101–150 (2008), 39ff (Hossfeld), z.T. anders BRUNERT, Psalm 102 (1996), 181ff, die in V. 26–28 mit V. 27ab.28a als Fortschreibungen rechnet, und Schnocks, Psalmen (2014), 107 mit Anm. 16, demzufolge V. 24–28 zum Grundpsalm gehören. 138 Vgl. Ps 37,20b. 139 Das Syntagma bôded .al-gåg „einsam auf dem Dach“ bezieht sich nicht auf das feminine ‚ippôr „Vogel“, sondern auf den Beter bzw. auf çåqadtî „ich war schlaflos“, s. dazu ausführlich RIEDE, Im Netz des Jägers (2000), 302ff. 140 Wörtlich: „die mich zum Gespött machen, haben bei mir geschworen“.
106 25 26 27
28
Das erschöpfte Selbst Das erschöpfte Selbst Ich sage: Mein Gott, raff mich nicht weg in der Mitte meiner Tage, in Generation um Generation sind deine Jahre. Vor Zeiten hast du die Erde gegründet, das Werk deiner Hände ist der Himmel. Sie, sie werden vergehen, aber du, du wirst stehen, und sie alle werden wie ein Gewand verschleißen, wie ein Kleid wirst du sie ersetzen, und sie werden ersetzt werden. Aber du bist derselbe, und deine Jahre werden nicht enden.
xxx 25 Bitte und Bekenntnis 2–12 26–28 Hymnus über Gottes Ewigkeit
Der Psalm setzt in V. 2f mit einer fünffachen Bitte um die Zuwendung JHWHs ein141 und thematisiert in drei Klagegängen (V. 4–6: Ichklage, V. 7–9: Feindklage, V. 10f: Gottklage) und einer abschließenden, auf V. 4f zurückgreifenden Vergänglichkeitsklage (V. 12) die Leiderfahrung des Beters. V. 25* (ohne die Redeeinleitung „Ich sage“), der den Grundpsalm offenbar abschließt, greift seinerseits auf die Eingangsbitten in V. 2f zurück und lässt sie unter Rekurs auf das Leitwort jåmaj „meine Tage“ (V. 4.12.25) in die Schlussbitte münden, dass JHWH – dessen „Jahre“ von zeitübergreifender Dauer sind – vom vorzeitigen Tod des Beters absehen möge: „Inhaltlich handelt es sich also um die vertrauensvolle Bitte eines an der Störung seiner gesamten Lebensvollzüge leidenden Menschen, der im Bewusstsein seiner Vergänglichkeit den ewigen Schöpfergott um rettende Zuwendung bittet“142 – und zwar um eine Zuwendung, die „schnell“ erfolgen möge (Formverb maher V. 3b, vgl. Ps 38,23).143 Die Dringlichkeit der Klage von V. 4–12 wird an der Verschränkung mehrerer Ebenen (Leibsphäre/Sozialsphäre) sowie an der Häufung der Bilder und Vergleiche deutlich. Zunächst tritt mit der Ichklage die Leibsphäre des Beters in den Vordergrund: 4 Denn vergangen sind in Rauch meine Tage und meine Gebeine (.æ‚æm f. pl.) – wie (ke) ein Kohlebecken glühten sie. 5 Versengt wie (ke) das Gras und verdorrt ist mein Herz (leb), denn ich vergaß, mein Brot zu essen (çkª q. + meakal). 6 Vom Klang meines Stöhnens klebte mein Gebein (.æ‚æm) an meinem Fleisch (bå¬år).
Die Notlage des Beters – deretwegen er JHWH bittet, zu ihm schreit und ruft (V. 2f) – schlägt sich in extremen physisch-psychischen 141 S. dazu BRUNERT, Psalm 102 (1996), 108ff, die V. 3aa allerdings zur Fortschreibung rechnet. 142 BRUNERT , Psalm 102 (1996), 188. 143 Zu Ps 38,23 s. oben 96f.
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Symptomen nieder: seine Gebeine „glühten“ (V. 4b)144 und „klebten“ an seinem Fleisch (V. 6b).145 Die Auszehrung durch (Fieber-)Hitze zeigt sich nicht nur an den äußeren Körperpartien (Gebein, Fleisch), sondern reicht bis ins Innere der Person (Herz), dem aufgrund der Appetitlosigkeit die stärkende Nahrung („Brot“) fehlt (V. 5). Dass an dieser Stelle das Herz ins Spiel gebracht wird, kann nicht verwundern. Denn in ihm konzentriert sich nicht nur das emotionale, kognitive und voluntative, sondern auch das leibliche Wesen des Menschen (vgl. Spr 4,23; 25,13),146 das gelabt bzw. „gestützt“ werden muss, in der Regel mit Brot (Ri 19,5.8, vgl. Gen 18,5; 1 Kön 21,7; Ps 104,15), aber auch durch die Gewissheit, dass sich Gott dem Menschen zuwendet (Ps 69,33). Vom Gegenteil, nämlich vom Verlust der Lebenskraft, wird gesprochen, wenn der Mensch in Situationen der Angst und Bedrängnis gerät: Mein Inneres (me.îm), mein Inneres (me.îm), ich winde mich, Wände meines Herzens (leb)! Es tobt mir mein Herz (leb), ich kann nicht schweigen! 147 Denn den Schall des Horns ‹hörst du›, meine næpæç, den Lärm des Krieges. (Jer 4,19) Der vegetativen Schicht der Person entstammen auch die meisten Sprachbilder in der „Topologie der Klage“. Das Herz des Klagenden „flattert“ (Ps 38,11),148 es „bebt“ (Ps 55,5),149 es „tobt“ (Jer 4,19), es „wankt“ (1 Sam 28, 5), es „verdorrt“ (Ps 102,5), es „wird heiß“ wie Feuer (Ps 39,4) oder weich „wie Wachs“ und „zerfließt“ (Ps 22,15, vgl. 2 Sam 17,10 u.ö.). 150
Dieser Aspekt bestimmt auch die Vergänglichkeitsklage von Ps 102, 4–6. Ihre drei anthropologischen Begriffe „Gebein“ (.æ‚æm), „Herz“ (leb) und „Fleisch“ (bå¬år) fungieren dabei als „Teilkomponenten eines sprachlich und gedanklich ausdifferenzierten Bildes von der Per144 Vgl. Ijob 30,30b. 145 Vgl. Klgl 4,8 (s. dazu oben Anm. 108) und Ijob 19,20: „An meiner Haut (.ôr) klebt mein Gebein (.æ‚æm), und ich wurde an der Haut (.ôr) meiner Zähne kahl“, s. dazu FOHRER, Hiob (1963), 315f. 146 Zur physiologisch-vegetativen Funktion des Herzens s. JANOWSKI, Herz (2015), 10ff. 147 WOLFF, Anthropologie (82010), 77 diagnostiziert hier einen regelrechten „Herzanfall“. M.E. ist eher eine äußerste emotionale Erregung ausgedrückt, vgl. BESTER, Körperbilder (2007), 192f. Mit den „Wänden meines Herzens“ (qîrôt libbî) dürfte der Brustkorb, konkret die das Herz wie „Wände“ schützenden Rippen gemeint sein, vgl. BESTER, Körperbilder (2007), 192 Anm. 505. 148 S. dazu BESTER, Körperbilder (2007), 190f. 149 S. dazu BESTER, Körperbilder (2007), 191f. 150 S. dazu BESTER, Körperbilder (2007), 194ff.197ff.
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son als Ganzer“151. Daraus eine exakte Krankheitsdiagnose ableiten zu wollen, ist unangebracht. Vielmehr geht es um die „subjektive Empfindung des gestörten Lebens“152, das in jeder Hinsicht, d.h. äußerlich (Gebein, Fleisch) wie innerlich (Herz), von der „Not“ (V. 3a) tangiert ist. Exkurs 2: „Iss dein Brot mit Freude“ (Koh 9,7) Das Eingeständnis des Beters, dass er „vergaß“ (çkª q.), sein Brot zu essen (V. 5b),153 macht – via negativa – den elementaren Zusammenhang von Essen und Lebensfreude deutlich. Wovon er sich tatsächlich ernährt, nämlich von Staubbrot und Tränentrank, sagt demgegenüber die Gottklage V. 10:154 Ja, Staub (epær) habe ich wie das Brot gegessen und meinen Trank mit Weinen (bekî) vermischt.155 Da „Brot essen“ für „Mahlzeit halten“ und „kein Brot essen“ für „nichts essen“ steht,156 stellt die Wendung „Staub essen wie das Brot“ eine negative Steigerung gegenüber „kein Brot essen = nichts essen“ dar. Gemeint ist in V. 10 demnach eine umfassende Lebensminderung, die der Erfahrung des ,Todes mitten im Leben‘ Ausdruck verleiht. Brot und Wein, die Grundnahrungsmittel Palästinas/Israels (Dtn 8,8; 2 Kön 18,33 u.ö.), sind „Gaben des guten Schöpfergottes, die das Herz des Menschen stärken und erfreuen (Ps 104,14f)“157. Deshalb ist der Doppelausdruck „Essen und Trinken“, wie be151 BRUNERT , Psalm 102 (1996), 115. Weitere Belege für diese Art der Reihung anthropologischer Grundbegriffe s. BEYSE , .å‚am (1989), 331. 152 BRUNERT , Psalm 102 (1996), 116. 153 Nach SEYBOLD, Gebet des Kranken (1993), 139 geht es in V. 5b um Fasten. Das gibt die Formulierung „er vergaß (!), sein Brot zu essen“ aber nicht her. Auch eine allegorische Deutung (Brot = Tora, Vergessen des Brotessens = Abfall von der Tora), die sich im Targum findet und von BRUNERT, Psalm 102 (1996), 117 Anm. 3 erwogen wird, kommt nicht in Frage, weil sie eine Überinterpretation darstellt. 154 In V. 10a möchten SEYBOLD, Gebet des Kranken (1993), 139f (der in V. 5b– 10 einen ganzen Katalog von „Bußübungen“ mit Fasten, Klagen, Wachen, Trauern, Weinen erhebt) und BRUNERT, Psalm 102 (1996), 129 den Vollzug von „Trauer- und Bußriten“ erkennen. Das ist – weil im Kontext von Trauerriten nirgends vom „Staub essen“ die Rede ist! –sowenig überzeugend wie die von BRÜNING, Ps 102 (1992), 155ff favorisierte Deutung des Verses auf eine „Totenspeisung“ nach dem Vorbild der altorientalischen Umwelt. Auch die von ihm beigebrachten alttestamentlichen „Parallelen“ (Klgl 3,15f; Ps 42,4; 80,6) sind kein Beleg für die Wendung „Staub essen wie das Brot“, s. dazu die Kritik von BRUNERT, Psalm 102 (1996), 131ff. 155 Vgl. Ps 42,4, wo es heißt: „Es wurden mir meine Tränen (zu) Brot bei Tag und Nacht, wenn man zu mir sagt den ganzen Tag: ,Wo ist dein Gott?‘“, s. dazu JANOWSKI, næpæç (2014), 101f. 156 S. dazu S CHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet (2004), 457 (mit Belegen). 157 S CHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet (2004), 457, s. dazu auch ABART, Lebensfreude (2015), 106ff.
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sonders das Koheletbuch zeigt (Koh 2,24; 3,12f; 5,17–19; 8,15; 9,7–10), ein Ausdruck der Lebensfreude.158 Die breiteste Entfaltung erfährt diese „Lehre vom Glück“ im Carpe diem-Motiv von Koh 9,7–10: 7 8 9
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Auf, iss mit Freude (be¬imªåh) dein Brot, und trink glücklichen Herzens (belæb-†ôb) deinen Wein, denn schon längst hat Gott Gefallen an diesem deinem Tun. Jederzeit seien deine Kleider weiß, und an Öl auf deinem Haupt fehle es nicht. Genieße das Leben mit einer Frau, die du liebst, alle Tage deines Lebens voll Windhauch, die er dir gegeben hat unter der Sonne, all deine Tage voll Windhauch, denn das ist dein Teil am Leben und an deiner Arbeit für die du dich abmühst unter der Sonne. Alles, was deine Hand, solange du Kraft hast, zu tun vorfindet, das tu! Denn es gibt weder Tun noch Planen, weder Wissen noch Weisheit in der Unterwelt, zu der du unterwegs bist. 159
Während in Koh 5,17–19 gesagt wird, worin das wahre Glück besteht – nämlich darin, „zu essen und zu trinken und Gutes zu sehen bei all seiner Arbeit, / mit der jemand sich abmüht unter der Sonne / während der Zahl der Tage seines Lebens, / welche ihm Gott gegeben hat“ –, ruft Koh 9,7–10 dazu auf, es zu ergreifen. Es soll, wie es heißt, im Essen und Trinken „mit Freude“ und „mit gutem Herzen“ ergriffen werden. Dass ein „frohes Herz“ und Lebensfreude ebenso zusammengehören wie ein „bedrücktes Gemüt“ und Auszehrung, wusste schon die alte Weisheit: Ein frohes Herz (leb ¬åme aª) macht das Wohlbefinden (gehåh) schön, aber ein niedergeschlagener Sinn/Geist (rûaª nekeåh) trocknet die Knochen (gæræm) aus. (Spr 17,22) „Freude“ ist ein Ausdruck einer Gefühlsbewegung, die das ganze Wesen des Menschen aufhellen kann, weil sie sich lebensförderlich auswirkt. Entscheidend ist dabei das Verb, das die Tätigkeit des „frohen Herzens“ beschreibt: „schön, gut machen“ (j†b hif. V. 22a). Das „frohe Herz“ macht das Wohlbefinden „schön“ oder „gut“, was im Gegensatz zu V. 22b (Austrocknen der Knochen) die innere Einstellung meint, die sowohl den Körper als auch den Geist beeinflusst und damit die Lebensqualität steigert.160 Diese Steigerung der Lebensqualität wird bei Kohelet – wie der Motivkomplex von Essen, Trinken und Freude eindrücklich zeigt – zurückgebun158 S. dazu SMEND, Essen und Trinken (1986), 202f und LEUENBERGER, Gottesvorstellung (2014), 220ff.227f.228f.238. 159 Übersetzung SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet (2004), 454. 160 S. dazu JANOWSKI, Herz (2015), 39.
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den an die „Rede vom schöpferischen Tun und Geben Gottes ,auf der Grundlage biblischer Schöpfungstheologie‘“161. Ps 102,2–12 ist dazu ein Gegentext, demzufolge der elementare Zusammenhang von Essen, Trinken und Lebensfreude zerbrochen ist und von der Klage des Beters überlagert wird, wie Gras zu vertrocknen (V. 12b, vgl. V. 5a) und in der Mitte der Tage hinweggerafft zu werden (V. 25a).162 ,Staubbrot‘ und ,Tränentrank‘ (V. 10) sind nicht die guten Gaben des Schöpfers, sondern Auswirkungen seines Grimms und seine Zorns (V. 11). (Ende des Exkurses)
Die zweite Ebene in Ps 102,2–12 betrifft die Sozialsphäre des Beters. Sie kommt in der Feindklage V. 7–9 zur Geltung und umfasst die beiden Klagemotive Einsamkeit (V. 7f) und Anfeindung (V. 9): 7 Ich gleiche (dmh q.) einer Dohle der Wüste, ich bin geworden wie (ke) eine Eule in Trümmerstätten. 8 Ich war schlaflos (çqd q.) und ich wurde wie (ke) ein Vogel, einsam (bdd Ptz. q.) auf dem Dach. 9 Den ganzen Tag beschämten mich meine Feinde, die mich zum Gespött machen, haben mir geflucht.
8 Nacht: Beter 9 Tag: Feinde
Dauer des Leidens
Die soziale Isolation des Beters wird in V. 7 durch den Vergleich mit den unreinen Tieren „Dohle“ und „Eule“163 sowie den Genitivattributen „Wüste“ und „Trümmerstätten“ ausgedrückt. Diese Tiervergleiche sind nicht eine ästhetische Ausschmückung der Wirklichkeit, sondern Ausdruck eines Wirklichkeitsverständnisses, das man mit H.-P. Müller als religiöse Daseinsaneignung164 bezeichnen kann. Das bedeutet: Im Vergleich wird das Geschick des Beters so eng mit der äußeren Wirklichkeit (Natur- und Kulturwelt) verbunden, dass dem Vergleichsempfänger (Beter) etwas vom Wesen des Vergleichsspenders („Dohle der Wüste“, „Eule in Trümmerstätten“, „Vogel auf dem Dach“) zugeeignet und so „durch das Anschaubare das NichtAnschaubare ein-sichtig“165 gemacht wird:
161 LEUENBERGER, Gottesvorstellung (2014), 232 (das Zitat im Zitat bezieht sich auf S CHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Kohelet [2004], 91), s. dazu auch ebd. 230ff. 162 Vgl. das Verb jbç q. „vertrocknen“ / pi. „austrocknen“ (trans.) in Ps 102,5a (q.) und Spr 17,22b (pi.). 163 S. dazu ausführlich RIEDE, Im Netz des Jägers (2000), 293ff. 164 S. dazu MÜLLER, Vergleich (1984), 49ff. 165 SEYBOLD, Poetik (2003), 193.
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„Es muss einer Grundfunktion des Denkens entsprechen, dass sich durch die Veranschaulichung, die Rückführung des Gedachten auf das Vorstellbare, Einsicht vollziehen und Verstehen gelingen kann. Dies hängt offenbar mit den Vorstellungen zusammen, welche die sprachlichen Vollzüge begleiten, vielleicht sogar bestimmen und steuern. Diese Vorstellungen arbeiten mit sprachlichen ,Bildern‘, die irgendwo und irgendwann wahrgenommen wurden, über die Sinne aufgenommen und im Gedächtnis aufbewahrt, sortiert und gespeichert wurden und dort gleichsam sprachlich durch Stichworte abrufbar sind, so wie das ,Bild‘ von dem einsamen Vogel auf dem Dach. Natürlich ist es ein sprachliches, vielmehr ein inneres, ein geistiges Bild, eine Vorstellung – abgelöst von aller detaillierten Konkretion: Was für ein Vogel? Was für ein Dach? Weshalb einsam singend? etc., – ein typisiertes Bild oder ein imaginäres Bild, eine Bildidee und Vorstellung eben, die aufgerufen werden kann.“ 166
Und sie wird in einer Situation pathologischer Einsamkeit aufgerufen, wie sie Ps 102,4–9 beschreibt.167 Dass die Feinde der Verelendung des Beters nicht nur zuschauen, sondern diese durch herabsetzende Gesten und Worte befördern und, wie die Gegenüberstellung von Nacht (V. 8) und Tag (V. 9) zeigt, sogar auf Dauer zu stellen suchen, unterstreicht die Schwere und das Ausmaß ihrer Aktionen. Das komplexe Phänomen der Depression, so können wir festhalten, wird in Ps 102,2–12 anhand der beiden Symptome Appetitlosigkeit (V. 5) und Schlaflosigkeit (V. 8) durchbuchstabiert. „Der Beter verbindet die Motive der inneren Unruhe, des Gefährdet- und Verfolgtseins, der Einsamkeit und der Klage zu einem neuen Bild, das so innerhalb des Alten Testaments singulär … ist“168. Dieses neue Bild ist das Resultat einer Kombination von Einzelzügen, die sich – auch vor den Augen des Lesers – zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Exkurs 3: Das „Bann-Lösungs“-Ritual BAM 234 Auch in der Gebets- und Ritualliteratur Mesopotamiens gibt es anschauliche Schilderungen depressiver Personen, die an Schlaf- und Essstörungen leiden. Zu ihnen gehört das nam-érim-búr-ru-da-Ritual BAM 234, das von einem Mann handelt, der seinen ganzen Besitz verloren hat, und das das Verfahren beschreibt, wie der Betroffene von seinem „Bann“ gelöst werden konnte: 166 SEYBOLD, Poetik (2003), 193. 167 Zum Einsamkeitsmotiv von V. 8b s. B RUNERT, Psalm 102 (1996), 119ff und RIEDE, Im Netz des Jägers (2000), 295ff (jeweils mit kritischer Diskussion der „Seelenvogel“-Deutung von Brüning, Ps 102 [1992], 140ff), zu einem sumerischen Vergleichstext s. RIEDE, Im Netz des Jägers (2000), 304 Anm. 218. 168 BRUNERT , Psalm 102 (1996), 127, vgl. ebd. 114f.
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(1) Wenn einem Mann ein miru169 entgegengestellt ist, er aber nicht [weiß], dass er es entgegennahm, (2) (wenn dieser Mann) beständig und immer wieder Schaden und Verlust erleidet; (wenn er) einen Verlust an (den Zahlungsmitteln) Gerste und Silber [erleidet]; (3–4) (wenn er) einen Verlust an (den Arbeitskräften) Knecht und Magd (erfährt); (wenn) Rinder, Pferde und Kleinvieh, Hunde, Schweine und Menschen gleichermaßen immer wieder zu Tode kommen (und) er immer wieder das Selbstvertrauen verliert (nämlich): (5) Anweisung geben, ohne dass dem willfahren wird; Rufen, ohne dass geantwortet wird; sich dem Begehren, das die Leute (formulieren), bereit[stellen]; (6) (wenn) er in seinem Bett immer wieder in Schrecken gerät (und) Lähmungszustände bekommt; (wenn) sein Wandel ihn nicht nahe bringt dem Gott und dem Kö[nig]; (7) (wenn) während er unter Völlegefühl leidet, seine Gliedmaßen immer wieder „hingeschüttet“ sind, (und) er das ein und das andere Mal aufschreckt; (8) (wenn) er bei Tag und bei Nacht nicht schlafen kann; (wenn) er immer wieder schreckliche Träume sieht (und) Lähmungszustände bekommt; (9) (wenn) er, während er kaum zu essen und zu trinken vermag, das, was er sagt, (gleich) wieder vergisst. Was diesen Mann anbetrifft: Der Zorn von Gott und Göttin ist ihm immer wieder auferlegt. (10–12) Sein (persönlicher) Gott (und) seine (persönliche) Göttin sind zornig mit ihm. Für diesen Mann (gilt): an der „Hand des Bannes“, an der „Hand des Gottes“, an der „Hand der Menschheit“, an der „Krankheit des Zusammengekehrten“ ist er erkrankt. Die Schuldenlasten des Vaters und der Mutter, des Bruders und der Schwester, der Familie, des Geschlechtes (und) der Sippe packten ihn. Um davon zu entbinden, so dass die ihm (anhaftenden) Verfinsterungen nicht [an ihn] Hand anlegen können. 170 Das Wesen der als „Bann“ (måm+tu) bezeichneten Krankheit bestand in einer „massiven Störung zwischen dem erkrankten Menschen und den Göttern“171. Sie war im vorliegenden Fall so massiv, dass sie zu „Verfinsterungen“ (adiratu Z. 12) führte, die dem Kranken anhafteten, und die sich in Symptomen wie fehlendes Selbstwertgefühl, Erfolglosigkeit, Schreckerlebnisse, Lähmungserscheinungen, Schlaf- und Eßstörungen, Vergesslichkeit u.a. äußerten (Z. 5–9):
169 Nach TUAT.NF 5, 137 Anm. 314 (St.M. Maul) ist ein miru „ein mit magisch kontaminierten Stoffen versehenes Objekt …, das auf denjenigen, der mit ihm in Kontakt kommt, ,Unheil‘ überträgt, welches dann in Unglück, Krankheit und Tod Gestalt annimmt“. 170 In Z. 13–77 folgen die Ritualanweisungen. Übersetzung TUAT.NF 5, 137 (St. M. Maul), s. dazu auch RITTER / KINNIER WILSON, Prescription (1979), 23ff; STOL, Psychosomatic Suffering (1999), 65f und MAUL, Wissenskulturen (2012), 8f, s. auch den Hinweis bei K RUGER, Gefühle (2009), 245f. 171 TUAT.NF 5, 135 (St.M. Maul), s. dazu MAUL, Wissenskulturen (2012), 9f.
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– Anweisung geben, ohne dass dem willfahren wird; Rufen, ohne dass geantwortet wird; sich dem Begehren, das die Leute (formulieren), bereit[stellen]; – (wenn) er in seinem Bett immer wieder in Schrecken gerät (und) Lähmungszustände bekommt; – (wenn) sein Wandel ihn nicht nahe bringt dem Gott und dem Kö[nig]; – (wenn) während er unter Völlegefühl leidet, seine Gliedmaßen immer wieder ‹hingeschüttet› sind, (und) er das ein und das andere Mal aufschreckt; – (wenn) er bei Tag und bei Nacht nicht schlafen kann; – (wenn) er immer wieder schreckliche Träume sieht (und) Lähmungszustände bekommt; – (wenn) er, während er kaum zu essen und zu trinken vermag, das, was er sagt, (gleich) wieder vergisst. Dieser Katalog der Ängste und Depressionen ist nicht singulär172, sondern typisch für die mesopotamischen Krankheits- und Heilungstexte. (Ende des Exkurses)
2.2.2.2
„Ich bin satt von Unrast“ (Ijob 7,4)
Der letzte Text, der besprochen werden soll, stammt aus Ijob 6f, der Antwort Hiobs auf die erste Eliphasrede (Ijob 4f). Die Klage von Ijob 7, die im Unterschied zu Ijob 6 an Gott gerichtet ist, beginnt in V. 1– 6 mit einer Reflexion über die conditio humana (V. 1f) und wird von Klagen Hiobs über sein Leiden fortgesetzt (V. 3–6): Reflexion über die conditio humana 1 Ist nicht Frondienst dem Menschen auf Erden (bestimmt), und sind nicht wie die Tage eines Tagelöhners seine Tage? 2 Wie ein Sklave lechzt er nach Schatten, und wie ein Tagelöhner hofft er auf seinen Lohn. Klage über Mühsal und Krankheit 3 So wurde ich Erbe von Monaten des Wertlosen (çåw), und Nächte der Mühsal (.åmål) teilte man mir zu. 4 Wenn ich mich niederlege, sage ich: Wann stehe ich auf? Und ‹so oft› 173 es Abend ist, bin ich satt (¬b. q.) von Unrast (nedudîm) bis zur Morgendämmerung.
172 Weiteres Material bei STOL, Psychosomatic Suffering (1999), 57ff; BÖCK, Gottesbriefe (1996), 3ff; HEESSEL, Diagnostik (2000), 42ff u.a. 173 Mit FOHRER, Hiob (1963), 163 lese ich ûmiddåj (< daj + min), vgl. HAL 519 s.v. mdd pi., anders WANKE, Praesentia Dei (2013), 171 mit der Übersetzung: „Dehnt sich (mdd pi.) der Abend aber lang …“.
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5 Bekleidet ist mein Fleisch mit Made und Erdkruste, meine Haut ist hart und eitert. 6 Meine Tage eilen schneller dahin als ein Weberschiffchen und vergehen ohne Hoffnung.
In dieser Vergänglichkeitsklage kommt die Mühsal des menschlichen Lebens unverblümt und grundsätzlich zum Ausdruck. Denn Hiob spricht hier nicht nur über sich (V. 3–6), sondern auch über den Menschen (V. 1f) – als einen „Sklaven, der nach Schatten lechzt“ und einen „Tagelöhner, der auf Lohn hofft“ (V. 2). Schatten, der nach schweißtreibender Mühsal unerreichbar ist, und Lohn, der nach anstrengender Arbeit ausbleibt, ist das, was dem Sklaven und Tagelöhner bleibt und nichts als „Wertloses, Trügerisches“, „Mühsal“ und „Unrast“ zurücklässt. Diese Lebensenttäuschung – V. 6b spricht von Hoffnungslosigkeit174 – verdeutlicht V. 4 mit einem Zeitschema, das vom Abend bis zum Morgen (V. 4a) und vom Tag bis zum Abend und wieder bis zur Morgendämmerung reicht (V. 4b), und das mit der unentwegten Frage „Wann stehe ich auf?“ (V. 4a) und mit sättigender „Unrast“175 angefüllt ist (V. 4b). „Nicht zur Ruhe kommen zu können ist (über die konkrete Hiobsituation hinaus) in der alttestamentlichen Anthropologie Kennzeichen eines verfehlten Lebens“176. Ihr Symbol ist das dahineilende „Weberschiffchen“ (V. 6). Es will beachtet sein, dass der Topos des ,Verfehlten Lebens‘ mit einer Wendung – „ich bin satt von Unrast“ – zum Ausdruck gebracht wird, die man, weil „Unrast“ kein Sättigungsmittel, sondern ein negativer Zustand ist, als paradox bezeichnen muss. Eine ähnliche Aussage begegnet auch in Ps 88, 2–4: 2 JHWH, Gott meiner Rettung, bei Tag habe ich geschrien, (jeweils) in der Nacht vor dir. 3 Es komme vor dich mein Gebet, neige dein Ohr meinem Schrei! 4 Denn gesättigt ist (¬b. q.) mit Übeln mein Leben (næpæç), und mein Leben (ªajjîm) hat die Unterwelt berührt. „Satt“ (¬åba. V. 4a) ist dieser Beter nicht durch ein erfülltes Leben (Gen 25,8; 35,29; 1 Chr 23,1 u.ö.) oder durch eine besondere Gottesgemeinschaft 174 Zum Thema „Hoffnung/Hoffnungslosigkeit“ im Ijobbuch s. EBACH, Hiob 1 (1996), 76ff. 175 nedudîm „Unrast“ ist ein Abstraktplural, der die einzelnen Akte eines Tuns (ndd q. „[rastlos, ziellos] fliehen“) zusammenfasst, s. dazu FOHRER, Hiob (1963), 163 und zu ndd q. oben 85. 176 E BACH, Hiob 1 (1996), 76, s. dazu auch STAUBLI/SCHROER, Menschenbilder (2014), 505f (mit altorientalischen Parallelen).
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(Ps 16,11, vgl. Ps 17,15; 63,6 u.ö.), sondern durch die „Übel“, die ihn von Gott getroffen haben.177 Für ihn wird es – sollte JHWH nicht doch noch eingreifen – kein „Erwachen“ geben, weil sein Leben die Unterwelt „berührt“ (någa.) hat und „Finsternis“ sein einziger Gefährte ist (V. 19).
3.
Resümee
„Schwarze Sonne“ – so lautet der Titel des berührenden Buchs über „Depression und Melancholie“ (so der Untertitel), das die französische Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva erstmals 1987 veröffentlicht hat. Die dem Gedicht El Desdichado von Gérard de Nerval (1808–1855) entnommene Wendung „Schwarze Sonne“ (soleil noir) ist eine treffende Metapher für den Einbruch einer abgründigen Traurigkeit, die viele Menschen befällt, bis ihnen „jedes Reden, jede Handlung, ja das Leben selbst vergällt ist. (…) Woher kommt diese schwarze Sonne? Von welcher sinnlosen Galaxie aus nageln mich ihre unsichtbaren und bleiernen Strahlen an den Boden, das Bett, die Stummheit, die Entsagung? Die Kränkung, die mir gerade zugefügt wurde, dieses oder jenes Scheitern in der Liebe oder im Beruf, dieser Schmerz oder jene Trauer, die die Beziehungen zu meinen Nächsten in Mitleidenschaft ziehen: das sind nicht selten die leicht auszumachenden Auslöser meiner Verzweiflung. Ein Verrat, eine tödliche Krankheit, jener Unfall oder jene Behinderung, die mich abrupt der von mir als normal erachteten Kategorie der normalen Menschen entreißt oder die mit der gleichen radikalen Auswirkung einem Wesen, das ich liebe oder schätze, widerfährt, oder auch … was weiß ich …?“ 178
Die Liste der depressiven Heimsuchungen ist lang, heute ebenso wie in der Vergangenheit. Grundsätzlich gilt, dass Depressionen „komplexe psychosomatische Reaktionsweisen auf elementare Herausforderungen und zugleich Signale nach Außen hin (sind), die der Mitwelt anzeigen, wie es um unsere Befindlichkeit und Absichten steht“179. Sie sind dem Leib regelrecht eingeschrieben und darum nicht einfach ,abzuschütteln‘. In unserer Untersuchung zur Depression im Alten Testament haben wir uns auf die Psalmen und das Ijobbuch konzentriert und dabei einige Aspekte zusammengetragen, die noch einmal zusammenfassend gewichtet werden sollen.
177 S. dazu JANOWSKI, Die Toten (2003), 208ff. 178 KRISTEVA, Schwarze Sonne (2007), 11. 179 STAUBLI/SCHROER, Menschenbilder (2014), 158.
116 3.1
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Methodische Aspekte
Das methodische Problem besteht in der Frage, wie sich depressive Symptome bzw. Phänomene im Alten Testament erheben lassen: anhand inhaltlicher Vorannahmen oder anhand terminologischer und/ oder semantischer Analysen. T. Veijola entscheidet sich für einen inhaltlichen Zugang und urteilt: „Wer in die Welt der Depression in der Bibel eindringen will, findet kaum Hilfe in einer Konkordanz. Die einschlägigen Symptome wurden in der biblischen Zeit nicht als Ausdruck einer bestimmten, gar noch mit einem medizinischen Begriff zu belegenden Krankheit erkannt. Deshalb soll der Befund eher anhand des Inhalts als der Terminologie erhoben werden.“ 180
Da dieses Verfahren aber willkürlich ist und nicht zu belastbaren Ergebnissen führt,181 empfiehlt sich ein Zugang, der an der Terminologie und Semantik orientiert ist. Das ist auch der Ansatz von M.L. Barré, J. Kselman und P. Kruger.182 Dass es dabei Interpretationsspielräume gibt (s. Ziffer b), die ihren Grund in der spezifischen Semantik der Depression haben, liegt auf der Hand. 3.2
Thematische Aspekte
Von den über 40 Texten, die von M.L. Barré, J. Kselman und P. Kruger für das Thema „Depression“ veranschlagt werden, bleiben m.E. 25 oder – falls Jes 38,15; Spr 15,13 und 17,22 nicht in Frage kommen 183 – 22 übrig, die dafür relevant sind. Diese Texte lassen sich folgenden Themenaspekten zuordnen: – Körperhaltung/-bewegung: 2 Sam 12,16; 1 Kön 21,27; Jer 8,21; Ps 38,7.9; 42,10; 43,2; 55,3.8; 56,9; Ijob 30,28; Klgl 1,1.7; 2,10; 3,19.28 – Schlafstörungen: Jes 38,15 (?); Ps 102,8; Ijob 7,4 – Appetitlosigkeit: Ps 102,5 – Niedergeschlagenheit: Spr 15,13; 17,22 (?) – Verstummen/Schweigen: Ps 38,14f; Klgl 2,10; 3,28 – Unspezifisch: 1 Sam 16,23 180 VEIJOLA, Depression (2007), 160, vgl. oben 79. 181 Das zeigen Veijolas Ausführungen zu Ps 30 („Dankgebet eines von Depression Geheilten“) und Ps 88 („Klagegebet eines an Depression Erkrankten“), s. dazu oben 80f. 182 S. dazu BARRÉ, „Wandering about“ (2001), 177ff; KSELMAN, „Wandering about“ (2002), 275ff und KRUGER, Gefühle (2009), 243ff. 183 S. dazu oben 85f.
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Die meisten Texte finden sich in den Psalmen (11), in den Klageliedern (5), im Ijobbuch (2) und im Sprüchebuch (2?). Je ein Text entfällt auf 1 Sam, 2 Sam, 1 Kön, Jes (?) und Jer. Die Symptome, die am häufigsten vorkommen, sind anormale oder auffällige Körperhaltungen und -bewegungen (16). Da ihr konnotativer Sinn aufgrund des besonderen Vokabulars – ein Beispiel ist das Verb qådar „schwarz werden > niedergedrückt sein“184 – zuweilen schwierig zu ermitteln ist, muss der jeweilige Kontext (s. unter Ziffer c) einbezogen werden. Im Übrigen ist zu beachten, dass sich, wie Ps 38,7ff; 55,3bff; 102,2ff und Ijob 30,28ff beispielhaft zeigen, die Bedeutungsaspekte der relevanten Verben und Wendungen überlappen, um die körperliche und soziale Notlage des Beters so umfassend wie möglich darzustellen. Anders gesagt: Der Komplexität des Phänomens „Depression“ entspricht die Komplexität oder besser: Multiperspektivität seines sprachlichen Ausdrucks. Hier gibt es Analogien zu mesopotamischen und ägyptischen Gebeten.185 3.3
Formgeschichtliche Aspekte
Die unter Ziffer b angesprochene Multiperspektivität ist kein Beleg für unrealistische Übertreibungen,186 sondern ein Charakteristikum der Gattung Klagelied des Einzelnen (KE),187 zu der die meisten der besprochenen Belege gehören (Ps 38; 42/43; 55; 56; 102, vgl. Ijob 7,1–6; 30,28–31 und das Danklied Jes 38,9–20). Damit hängt ein weiteres Problem zusammen. Abgesehen von den in der obigen Tabelle (Ziffer b) aufgeführten Belegen gibt es Texte (1 Kön 21,27; Ps 35,14; 107,39; Klgl 2,10),188 bei denen neben Termini aus dem Bereich der Depression Termini aus dem Bereich der Trauerriten stehen. Zwischen beiden Bereichen gibt es offenbar inhaltliche Affinitäten,189 die eine Schilderung der Depression nach Analogie von Trauerriten bzw. eine Übertragung von dem einen (Trauer) auf den anderen Bereich (Depression) nahelegen. Das heißt aber nicht, dass die in der obigen Tabelle (Ziffer b) aufgeführten Belege eo ipso Zeugnisse von Trauerriten sind. Eine diesbezügliche Konkretisierung, wie sie die ältere Psalmenforschung liebte und immer wieder am Verb qdr q. „schwarz werden > niedergedrückt sein“ 184 S. dazu oben 90ff, zu den übrigen Verben die Übersichten oben 81ff.85.103f. 185 S. dazu ZGOLL, Kunst des Betens (2003), 88ff; ZERNECKE, Gott (2011), 180ff. 228ff und oben 92ff.111ff. 186 So der Vorwurf mancher Ausleger, s. dagegen aber zu Recht auch ZERNECKE, Gott (2011), 229f. 187 S. dazu JANOWSKI, Konfliktgespräche mit Gott (42013), 30ff. 188 S. dazu oben 97f. 189 Ein gutes Beispiel ist Jes 50,3, s. dazu oben 91.
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festzumachen suchte,190 stellt m.E. eine unangemessene Engführung dar. Summa: Jenseits gattungsgeschichtlicher Konkretisierungen mit ihren z.T. problematischen Hypothesen ist festzuhalten, dass die Aussagen der Psalmen und des Ijobbuchs über depressives Verhalten ihren Ort im Kontext der Klage haben. Das aber bedeutet, dass die depressiven Restriktionen des Leiberlebens, wie sie in den Symptomen Körperhaltung/-bewegung, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Verstummen u.a. zum Ausdruck kommen, im Gebet vor Gott gebracht werden können und damit den Betroffenen davor bewahren, sprachlos und apathisch zu bleiben. In diesem Sinn sind die depressiven Aussagen von Ps 38,7–9; 55,3b–6; 102,4–9; Ijob 7,1–6 und Ijob 30,28–31, die dieses schlimme Leiden ausbuchstabieren, ein erster Schritt aus der Depression, ja ein poetisch-theologisches AntiDepressivum, das nicht zu überschätzen ist. Literatur 1.
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Bernd Janowski / Annette Krüger
Gottes Sturm und Gottes Atem Zum Verständnis von μyhiløa‘ j"Wr in Gen 1,2 und Ps 104,29f Erhard Blum zum 60. Geburtstag
I.
Einleitung
Das hebräische Lexem j"Wr, das im Deutschen in der Regel mit »Geist« wiedergegeben wird, hat die Grundbedeutung »(bewegte Luft >) Wind, Atem« 1, wobei die Abgrenzung der Aspekte »Hauch, Schnauben, Atem«, »Wind, Sturm«, »(das den Körper der Menschen und Tiere belebende Prinzip, das sich im Atem kundgibt >) Leben, Lebendigkeit, Geist« und »Seele, Geist, Sinn, Gemüt« im Einzelfall schwierig ist. In der Bedeutung »Wind(hauch)« meint j"Wr ein Naturphänomen wie den leichten Lufthauch (Jes 57,13), den stürmischen Wind (Jon 1,4 u.ö.) oder den Ostwind (Ex 10,13 u.ö.), der aus der Wüste kommt (Jer 13,24) und die Pflanzen ausdörrt (Ez 17,10 u.ö.). »Wind«-Aussagen veranschaulichen nicht nur die Vergänglichkeit des Lebens und das Strafgericht Gottes (Ps 103,15; Hos 13,15 u.ö.), sondern auch die Nichtigkeit von Fremdgötterbildern (Jes 41,29; Jer 14,22). In der Bedeutung »Atem, Geist« meint j"Wr (sachlich parallel zu hm;v;n“ Jes 42,5; Hi 33,4, vgl. Gen 2,7 2 u.ö.) die von Gott geschenkte Kraft, die das Leben konstituiert und erhält. Sie macht die Vitalität aller Lebewesen und insbesondere des Menschen aus (Gen 6,3.17; 7,22; Ps 104,29f u.ö., skeptisch Koh 3,19–21) und führt sogar die Wiederbelebung der Totengebeine herbei (Ez 37,5.9f; 2Makk 7,23)3. Der dynamische Charakter des »Atems« bzw. »Geistes« kommt auch in der Verwendung von j"Wr 1 S. dazu Ges18 1255–1227 s.v. j"Wr, ferner R. Albertz / C. Westermann, Art. j"Wr, THAT 2 (21995) 726–753; H. Schüngel-Straumann, Rûaª bewegt die Welt. Gottes schöpferische Lebenskraft in der Krisenzeit des Exils (SBS 151), Stuttgart 1992; S. Tengström / H.-J. Fabry, Art. j"Wr, ThWAT 7 (1993) 385–425 und M. Oeming, Art. Geist II, RGG4 3 (2000) 564f. – Teil I und II der folgenden Ausführungen stammen von B. Janowski, Teil III von A. Krüger, Teil IV wurde gemeinsam verfaßt. 2 Zu Gen 2,7 s. jetzt B. Janowski, Anerkennung und Gegenseitigkeit. Zum konstellativen Personbegriff des Alten Testaments, in: ders. / K. Liess (Hg.), Der Mensch im alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie (HBS 59), Freiburg / Basel / Wien 2009, 181–211, hier 185ff. 3 Zu Ez 37,1–14 s. jetzt J. Schnocks, Rettung und Neuschöpfung. Studien zur alttestamentlichen Grundlegung einer gesamtbiblischen Theologie der Auferstehung (BBB 158), Göttingen 2009, 161ff, bes. 207ff.
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Gottes Sturm und Gottes Atem
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zur Bezeichnung der Gefühlsäußerungen Zorn (Ri 8,3), Mut (Num 14,24), Erregung (Ez 3,14), Angst (Hi 7,11), Kummer (Jes 61,3) und Demut (Ps 51,19) zum Ausdruck. Der wichtigste anthropologische Parallelbegriff zu dieser Verwendung von j"Wr ist ble ÷ bb;le »Herz« als das emotionale, kognitive und voluntative Zentrum des Menschen (Jos 2,11; Jes 57,15; Ez 20,32; Ps 32,2; Koh 7,9 u.ö.). Zwischen der Bewegung des Windes und dem Wirken Gottes besteht ein enger Zusammenhang: Winde sind Gottes Boten (Ps 104,4, vgl. 148,8), die er aus seinen Kammern herausführt (Jer 10,13 u.ö.). Kontrovers diskutiert wird in diesem Zusammenhang die Bedeutung von μyhiløa‘ j"Wr in Gen 1,2 als »Wind / Sturm Gottes«, als »Geist Gottes« oder als »starker Wind / gewaltiger Sturm«. Im Folgenden fragen wir zunächst nach der Bedeutung von j"Wr in Gen 1,2 (II) und dann nach seiner Bedeutung in Ps 104,29f (III). Ein Resümee faßt die Hauptergebnisse kurz zusammen (IV). II.
Gottes Sturm über dem Wasser
Gen 1,1 – 2,3, die Magna Charta des biblischen Schöpfungsglaubens 4, beginnt mit einer Aussage über den Anfang des göttlichen Schöpfungshandelns (V. 1), die in ein komplexes Gefüge von drei untergeordneten Nominalsätzen (V. 2) sowie in eine Markierung des Handlungsanfangs durch rm,aYow" »und er sprach« (V. 3) eingebunden ist: r