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German Pages 531 [532] Year 2007
Bettina Hey'l Das Ganze der Natur und die Differenzierung des Wissens
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
47 (281)
W G DE
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Das Ganze der Natur und die Differenzierung des Wissens Alexander von Humboldt als Schriftsteller
von
Bettina Hey'l
W G DE
Walter de Gruyter · Berlin • New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-019601-6 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information der Deutschen
Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin
Inhalt Einleitung Alexander von Humboldt, ein Symbol Vom Wissen zum Werk Der Schriftsteller Humboldt im Schatten der „zwei Kulturen" Neue Tendenzen der Literatur- und Wissenschaftsgeschichte Modernisierung oder Bildung? Humboldts „deutsche" Schriftstellerkarriere Alexander von Humboldt - ein „nützlicher" Autor Humboldts Erziehung zum Literaten: Von Berlin nach Göttingen 1769-1790 Gelehrte Gesellschaften und literarische Salons Vom Privatgespräch zur Publikation: Gelehrte Gesellschaften Salongeselligkeit Ein fiktiver Dialog Eine Traumerzählung Zur Genese von Autorschaft aus dem empfindsamen Briefwechsel Elemente der Empfindsamkeit in den Jugendbriefen Zur Konstruktion von Subjektivität Die gefühlte Natur und das wissenschaftliche Naturstudium Die individuelle Bildung und der „Übergang ins Litterarische" Humboldts philosophisches Curriculum Zur philosophischen Kritik des Pfingstwunders Die niederen Seelenvermögen in der Naturforschung Der pragmatische Idealismus des Kosmos Humboldts Antikenstudien: Methode und Ideal Eine Hommage an August Böckh Die Unvermeidlichkeit der alten Sprachen Naturforschung als Gelehrsamkeit Die Methode der historischen Quellenkritik Die komparative Methode und die Rechtfertigung des Mythos Die Alten Griechen als Ideal
1 1 4 7 10 16 21 26 31 33 34 44 46 49 55 55 60 64 67 75 78 84 88 94 94 96 100 106 111 115
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Inhalt
Naturforschung und Literatur in der Diskussion: Jena und Weimar 1794-1797 119 Zwischen Literaturpolitik und philosophischer Naturwissenschaft.... 121 Alexander von Humboldt als Teil des Mythos Klassik 121 In Jena „alles vereint" 125 Die Wissenschaft vom Leben 127 Schillers Hören: Literaturbegriff und Literaturpolitik 131 Die Lebenskraft oder Der rhodische Genius. Zur Problematik didaktischer Literatur 140 Antike, Historie, Didaxe in Humboldts Erzählung 140 Dichtung zwischen Begriff und Bild. Der poetologische und polemische Kontext 146 Zwei Erben der Lehrdichtung: Roman und Elegie 153 Humboldts Versuche über die gereifte Muskel- und Nervenfaser Experiment und Erfahrung 159 Die Erforschung der Lebenskraft als nicht-normale Wissenschaft 159 Die Rechtfertigung der sinnlichen Erkenntnis 162 Das Experiment als „Experience" 165 Wissenschaftliche Erkenntnis als literarische Handlung 169 Die amerikanische Reise und ihre europäische Veröffentlichung Humboldts Reise und seine „Reise" Der „geographische Modus der Erfahrung" und seine Universalisierung Die „philosophische Reise" als literarische Gattung Die Entstehung der „Reise": Amerika Die Entstehung der „Reise": Europa Humboldts Fragmente: disziplinäre, institutionelle, ökonomische und texttheoretische Aspekte Wissenschaft und Einbildungskraft. Genres literarischer Naturdarstellung Essai, Ideen, Ansichten Landschaft: malerisch Die erhabene Landschaft: Rhetorik, Philosophie, Ästhetik Physiognomik und Charakteristik Humboldts Tableau physique und Goethes „phantasirte Landschaft" Das universelle Gebirge als Topos Die Verräumlichung der zeitlichen Natur im Tableau
175 177 177 183 191 199 208 214 215 220 226 238 246 254 260
Inhalt
Beschreibende Naturforschung, Rhetorik der descriptio, Nachahmung der Natur Beschreibende Naturwissenschaft Der linguistische Aspekt Rhetorik der descriptio „Ut pictura" Kosmos: Beschreibung zwischen Begriff und Bild Ein deutscher Schriftsteller französischer Sprache Universalismus, Kosmopolitismus, Mehrsprachigkeit Das Reisewerk und seine Übersetzungen Essai und Ideen im Vergleich Klassische deutsche Literatur „Die deutsche Gefühlsweise" Naturforschung als Bildung: Von der Vorlesung zum literarischen Kanon Die Kosmosvorlesungen 1827/28 Humboldts Rückkehr nach Berlin Humboldts Vorträge und sein Publikum Laienkultur oder Expertensynopse? Rhetorik der mündlichen und schriftlichen Rede Naturforschung als Bildung Divulgation und Erhebung Die Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte 1828 Eine „Versammlung von Litteraten" „Die Würde der Wissenschaft und des Staates" Öffentliche Festkultur: Repräsentierte Naturforschung Die Entstehung der physischen Welt in den Geschichtswissenschaften Der Kosmos im frühen Wettbewerb der „zwei Kulturen" Die Natürlichkeit der Geschichte und die Geschichtlichkeit der Natur Methoden der physischen Weltanschauung und der Geschichtschreibung Institutionalisierung der Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft Die Menschheit und ihre Ideen Die Geschichte der Naturbeschreibung von Homer bis Humboldt
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264 264 270 273 278 287 296 296 301 310 316 320 329 331 331 335 341 348 354 361 367 367 374 381 386 386 394 404 408 414 427
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Inhalt
Der Autor Humboldt: Von den klassischen Studien zum „Klassiker" der deutschen Literatur Humboldt als kanonischer Autor der deutschen Literatur Humboldts Erziehung zum Schriftsteller: drei historische Modelle von Autorschaft Der wissenschaftliche Autor Der Verfasser repräsentativer Bildungslektüren Der Klassiker der deutschen Literatur: Im Zeichen Goethes „Das Werk meines Lebens" und seine Bestimmung für den literarischen Kanon
441 441 448 452 454 459 465
Abbildungen Abbildungsnachweis
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Literaturverzeichnis Siglen Alexander von Humboldt: Schriften, Briefwechsel und Gespräche Weitere Quellen und Literatur
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Personenregister
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Einleitung Alexander von Humboldt, ein Symbol In seiner Lebensbeschreibung Alexander von Humboldts für die Allgemeine Deutsche Biographie des Jahres 1871 kommt der Verfasser Alfred Dove zu einer abschließenden Würdigung, in der es heißt: Seit Goethe's Tode rückt er allmählich in den Mittelpunkt des nationalen Ruhmes, seit dem Erscheinen des ,Kosmos' behauptet er unbestritten diesen Platz. Allein weit mehr als das: in einem Zeitalter, das der großen Fürsten, Feldherren und Staatsmänner entbehrte, das nicht mit Unrecht die technischen Wirkungen der Naturforschung als seine wichtigsten, weltumwälzenden Erlebnisse feierte, ward der Name Humboldt unvermeidlich der berühmteste auf Erden; er ward zum Symbol der vielgetheilten, und doch nach ideeller Vereinigung verlangenden Kulturarbeit des Jahrhunderts. 1
Dove wiederholt einen Topos der Biographik, der seit Goethe, dem Zitierten, geläufig geworden ist: den symbolischen Zusammenhang zwischen Lebenslauf und Säkulum. Humboldts Wirken steht dabei einerseits für wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, andererseits für eine Bewahrung ganzheitlicher Perspektiven, die beide mit der literarischen Leistung des Kosmos identifiziert werden. Humboldt aber auch ein Symbol der deutschen Nation. So sieht es der Biograph Alfred Dove im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts. Am Ende des zwanzigsten ist Humboldt in Deutschland als Vordenker der Globalisierung neu entdeckt worden.2 Die Feiern zum Gedächtnis an die kolumbianische „Entdeckung" Amerikas, mit gemischten Gefühlen abgehalten, riefen vielfach auch den „zweiten Kolumbus" in Erinnerung, dessen Eroberungen des Geistes in ihren Folgen weniger bedenklich schienen. Wenige Jahre danach war bereits im Zeichen einer postkolonialen Kulturwissenschaft an die epochale Reise Humboldts und Bonplands der Jahre 1799 bis 1804 zu erinnern. Alexander von Humboldt bewährt sich seither erneut als Symbol, wobei sich der Blick von der Enge der Nation in die Weite der Welt gewendet zu haben scheint. Doch in Deutschland sucht man hinter seiner Wissenschaft empirischer globaler 1 2
Alfred Dove: „Humboldt", in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 13, 1. Aufl. Berlin 1881, S. 358-383, Reprint Berlin 1969, hier S. 382. Vgl. Ottmar Ette: Weltbewußtsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne, Weilerswist: Vervuert 2002.
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Einleitung
Zusammenhänge eine Weitläufigkeit, die im Kosmopolitismus eines Deutschen die Welttauglichkeit Deutschlands gleich mit meint. Die einführende Seite der Herausgeber zur jüngsten Ausgabe des Kosmos beginnt mit dem Satz: „Deutschland hat der Welt viel zu bieten."3 Das Symbol Alexander von Humboldt wirkt hierzulande bis heute, wenn auch unter veränderter Akzentuierung, auf ein Publikum, das sein nationales Schicksal von seiner kulturellen Identität abhängig macht. Ob das bildungsbürgerliche Publikum sich zur Zeit mit gleichem Erfolg als Wortführer der Deutschen ansehen darf, wie es seinerzeit Dove als Beiträger zur Allgemeinen Deutschen Biographie voraussetzen mochte, sei dahingestellt. Hinter dem alten und neuen Ruhm Alexander von Humboldts stehen seine Reisen und Forschungen. Ihr Echo in der Öffentlichkeit wäre bald verklungen, wenn es nicht ein immenses publizistisches Werk gäbe, das für diese Arbeit wissenschaftliche Geltung und viel mehr noch symbolische Bedeutung beanspruchte, wenn sich nicht zumindest einige wenige Bücher dieses Autors im Kanon der deutschsprachigen Literatur fest etabliert hätten. Wie wurde Alexander von Humboldt zum Nationalautor und damit zum Repräsentanten seiner Zeit? Auf diese Frage sucht die vorliegende Studie eine Antwort, und zwar vor allem in der historischen Rekonstruktion derjenigen literarischen Praxis, in deren Ausübung Humboldt sein Wissen von der Natur erworben, modifiziert, publiziert und schließlich zum Fokus für die kulturelle Identitätsbildung seiner Zeitgenossen ausgearbeitet hat. Eine Fülle von wissenschaftlichen Erkenntnissen lässt sich von den Publikationen ablösen, in denen sie Humboldt erstmals dokumentiert hat. Die Rede von der ganzen Natur im Zeitalter der exakten Wissenschaften, die sich mit seinem Namen bis heute verbindet, ist nicht zu trennen von seinem literarischen Werk. Dieses Werk literaturgeschichtlich zu erforschen, heißt nicht einfach, einen rhetorischen Trick zu entlarven, mit dem die Fülle empirischer Einzelbeobachtungen zum schönen und geordneten Kosmos stilisiert wurde. Es heißt danach fragen, welche symbolischen
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Alexander von Humboldt: Kosmos, ediert und mit einem Nachwort versehen von Ottmar Ette und Oliver Lubrich, Frankfurt a.M: Eichborn 2004 (im Folgenden zitiert als K, Seite). Es folgt der unvermeidliche Hinweis auf Goethe, und Humboldt wird als „Forscher allerersten Ranges, [...] bekennender Weltbürger und als überzeugter Demokrat" vorgestellt. (Κ, VII). Am Ende der einleitenden Seite wird gerechtfertigt, fast entschuldigt, dass der Kosmos Friedrich Wilhelm IV. gewidmet ist. Der Verleger Hans Magnus Enzensberger ließ im Vorfeld der Neuausgabe einen 32seitigen Werbeprospekt verbreiten, in dem die Zukunft der deutschen Nation von einer ideellen Orientierung an Vorbildern wie Alexander von Humboldt abhängig gemacht wird. Der philologischen Genauigkeit der neuen Kosmosausgabe steht in Werbung und Begleittexten eine Rhetorik der Aktualisierung und kulturellen Sinnstiftung gegenüber, die ganz in der Tradition des 19. Jahrhunderts steht.
Alexander von Humboldt, ein Symbol
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Ordnungen eine Gesellschaft entwickelt, um sich in einer gegebenen historischen Konstellation ihres eigenen Standpunktes zu vergewissern. Humboldts Kosmos wurde sofort in die Nachfolge Goethes gestellt und damit auch mit dem Prädikat „Nationalliteratur" versehen. Dieser Entwurf einer physischen Weltbeschreibung zeugt, mit den Worten Alfred Doves, von der „vielgetheilten, und doch nach ideeller Vereinigung verlangenden Kulturarbeit des Jahrhunderts," ob sie ihm gelingt, sei vorerst dahingestellt. Hinter dieser Formulierung lässt sich eine Modernisierungskrise identifizieren, deren Bewältigung die Befassung mit der exzeptionellen Gestalt Humboldts und seinen Schriften verspricht. Während sich die Erkenntnisse, Verfahren und Disziplinen der Naturwissenschaft unaufhaltsam vermehren und spezialisieren, während Kunst und Wissenschaft auf der Suche nach dem Wahren, Schönen und Guten kaum noch gemeinsame Wege beschreiten, schreibt und spricht Humboldt seit dem späten 18. Jahrhundert und bis zuletzt von der ganzen Natur, um deren wissenschaftliche Erkenntnis sich der Naturforscher ebenso bemüht wie um ihre erhabene und schöne Wirkung auf die Einbildungskraft. Diese konservativ erscheinende Attitude innerhalb eines sonst tatkräftig unterstützten Modernisierungsprozesses gipfelt im späten Versuch einer physischen Weltbeschreibung der Jahre 1845 bis 1859, der fast provokant den Begriff Kosmos als „schöne Ordnung" des Universums mit dem neuesten Verständnis empirischer Naturwissenschaft für vereinbar erklärt. Es geschieht durch eine wohl nur in literarischer Form so weit führende Identifikation von Naturforschung und „Bildung", einem vieldeutigen Komplex, der in den Ansichten der Natur und im Kosmos Gestalt annimmt und mit dem es sich, sofern man zu den Gebildeten gehört, als Individuum wie als gesellschaftliches Wesen besser leben lassen soll. In den Augen seines Publikums repräsentierte die Persönlichkeit des alt gewordenen Gelehrten zuletzt die gefährdete Ganzheit der einen Natur selbst. Als Schriftsteller hatte er diese ganze Natur darstellen wollen. Dem Autor dieses Einheitsdenkens schrieb man nun eine exemplarische Integrität und Individualität zu. So entstand schließlich ein Heldenbild, an das sich gewisse Heilserwartungen knüpften. Viele laut gewordene Zweifel am tatsächlichen Erfolg seiner totalisierenden Arbeit verstummten angesichts des unzweifelhaften Bedürfnisses, sich in Humboldts Nachfolge über den unbefriedigend diskontinuierlichen Zustand modernen Denkens und Tuns hinwegzuhelfen. Bis heute sind die Erben des 19. Jahrhunderts mit der wissenschaftlichen Entzauberung und Fragmentierung der Natur so wenig versöhnt, dass sie gerne im Namen Humboldts in der Interdisziplinarität und Transdisziplinarität, in der Interkulturalität vielversprechende Wege
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Einleitung
zu neuen Synthesen suchen.4 Die Akzente haben sich verschoben, die Mechanismen zur Bewältigung von Modernisierungskrisen haben sich kaum verändert. Das Mittel der Wahl ist immer wieder die Beziehung auf literarische Werke, die Sinn versprechen, wo andere Wissensformen lediglich Informationen zu verarbeiten scheinen. Aber an welche Texte, an welche Gattungen, an welche Sprache knüpft sich die Erwartung, dass sie orientierend wirken?
Vom Wissen zum Werk Die kulturgeschichtliche Rezeption Alexander von Humboldts ist weithin von symbolischen Ordnungen geprägt, ob dieser Forscher nun den Kosmos beschreibt, oder ob nun in ihm selbst ein ganzer Kosmos gesehen wird. Umso erstaunlicher ist es, dass die Genese und Präsentation solcher symbolischer Ordnungen in Humboldts Schriften, die ihrerseits einen wichtigen Beitrag zu seiner öffentlichen Wahrnehmung liefern, bis vor kurzem keinen Schwerpunkt in der ausufernden Humboldt-Forschung bildeten. Anders gesagt: Humboldts schriftstellerische Tätigkeit als unverzichtbares Medium zwischen der sinnvollen Disposition spezifischen Wissens und der öffentlichen Verständigung über diese Sinnsdftungen ist bis in jüngere Zeit wenig beachtet worden. Der Autor, seine Bücher, ihr Publikum - für eine lange Phase und einen großen Teil der HumboldtForschung schienen sie ein unsichtbares Substrat von vielfach rekonstruierten und zitierten Erkenntnissen und Gedanken zu sein, als ließe sich ein spezifisches Wissen ohne weiteres von einer Gattung in die andere, vom Hirn des Verfassers ins Ohr seiner Hörer, von einer Sprache in die benachbarte, von der historischen Semantik in moderne Terminologie, von einer Ausgabe in die nächste, aus der Fraktur in die Antiqua, vom Hardcover ins Internet, aus seiner Epoche in unsere tragen. Dabei ist die Arbeit des Schriftstellers Humboldt in der Biographik und Bibliographik sehr hoch gewichtet worden. Kurt Schleucher bezeichnete Humboldt vollkommen zu Recht als „Schreib- und Druckmensch." 5
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Ottmar Ette: Alexander von Humboldt. Perspektiven einer Wissenschaft für das 21. Jahrhundert, in: Jürgen Hamel, Eberhard Knobloch, Herbert Pieper (Hg.): Alexander von Humboldt in Berlin. Sein Einfluß auf die Entwicklung der Wissenschaften. Beiträge zu einem Symposium, Augsburg: Erwin Rauner 2003, S. 281—314. Kurt Schleucher: Der Schreib- und Druckmensch Alexander von Humboldt, in: Herbert Kessler (Hg.): Die Dioskuren. Probleme in Leben und Werk der Brüder Humboldt. Abhandlungen der Humboldt Gesellschaft e.V., Bd. 9, Mannheim 1986, S. 223-241; ders.: Der lesende und schreibende Alexander von Humboldt, in: Frank Ziegler (Hg.): Humboldttage in Bad Steben, Bd. 2, Horb am Neckar 1996, S. 127-137, hier S. 127.
Vom Wissen zum Werk
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Zig Monographien,6 Hunderte von Aufsätzen, 7 Zehntausende von Briefen 8 treiben Archivare, Bibliographen und Editoren an ihre Grenzen. Immer noch tauchen unbekannte Briefe auf, lassen anonyme Beiträge, im Kontext betrachtet, auf seine Verfasserschaft schließen,9 kann man damit rechnen, dass bereits bekannte Werke in bislang unbekannten Druckfassungen ans Licht kommen. 10 Während schon kurz nach seinem Tode die ersten Briefwechsel in Buchform erschienen11 und seit Jahrzehnten Tagebücher und Briefe gewissenhaft ediert werden, 12 bleibt ein großer Teil verschollen, wird viel vom Überlieferten doch in den Archiven liegen bleiben. An eine komplette Neuausgabe des großen Reisewerkes ist gar nicht zu denken. Die Humboldt-Editoren resignieren vor dem immensen Umfang und der Heterogenität eines so vielbändigen Werkes, vor den Kosten, aber auch vor dem begrenzten Nutzen, den der Nachdruck von veralteten wissenschaftlichen Schriften mit sich bringen würde. Eine handliche Studienausgabe13 rief sofort die Kritik an den fast unvermeidli6
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Horst Fiedler, Ulrike Leitner: Alexander von Humboldts Schriften. Bibliographie der selbständig erschienenen Werke, Berlin: Akademie-Verlag 2000 (=Beiträge zur Alexandervon-Humboldt-Forschung, 20). Die Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, namentlich Ulrike Leitner aktualisieren beständig ein Verzeichnis der abhängigen Schriften Humboldts, das im Internet unter der Adresse: bbaw.de zugänglich ist. Vgl. Kurt-R. Biermann: Wer waren die wichtigsten Briefpartner Alexander von Humboldts?, in: ders.: Miscellanea Humboldtiana, Berlin: Akademie-Verlag 1990 (=Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 15), S. 230-236. Ingo Schwarz: Korrespondenz als Last und Vergnügen. Zum Briefwechsel Alexander von Humboldts, in: Jürgen Herres, Manfred Neuhaus (Hg.): Briefkultur der politischen Oppositionsbewegungen und frühen Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert, Berlin: Akademie-Verlag 2002, S. 193-217. Hinweis von Ingo Schwarz, Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle Berlin. Auf die untereinander stark differierenden Auslieferungen und Bindungen vor allem der einzelnen Teile des Reisewerks und auf die Unübersehbarkeit von Nachdrucken und Bearbeitungen schon zu Lebzeiten macht Ulrike Leitner in der Bibliographie der unabhängig erschienenen Werke aufmerksam. Vgl. FN 6. Mit Karl August Varnhagen von Ense 1860, mit Friedrich Althaus 1869, mit Heinrich Berghaus 1869, mit Christian Carl Josias Freiherr von Bunsen 1869, Wilhelm Gabriel Wegener 1896, August Böckh 1901, F r a n c i s Arago 1907, an Ignaz von Olfers 1913, an Wilhelm von Humboldt 1923, an das „Preußische Königshaus" 1928, mit Achille Valenciennes 1969. Dies ist die wichtigste Aufgabe der Alexander-von-Humboldt Forschungsstelle an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin. In der eigenen Reihe „Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung" sind Tagungsbände, mehrere Bände mit Reisetagebüchern, die „Jugendbriefe" (1973), die „Briefe aus Amerika" 1799-1804 (1993), die Briefwechsel mit Carl Friedrich Gauß (1977), Heinrich Christian Schumacher (1979), Carl Gustav Jacobi (1987), Friedrich Wilhelm Bessel (1994), Emil du BoisReymond (1997) sowie die Briefe an das preußische Kultusministerium (1985) und die Korrespondenzen mit amerikanischen Briefpartnern (2004) erschienen. Alexander von Humboldt: Studienausgabe, hg. von Hanno Beck, 7 Bde., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgeseüschaft 1989-1993.
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Einleitung
chen Defiziten der Auswahl, aber auch an der spezifischen Perspektive des Herausgebers hervor.14 Sogar zwei deutschsprachige Neuausgaben der Reisebeschreibung präsentieren bei allen sonstigen Verdiensten nicht den ursprünglichen Umfang des Textes.15 Obwohl Humboldt, alt geworden wie Goethe und zu Lebzeiten ähnlich prominent wie dieser, zu den bestdokumentierten Persönlichkeiten seiner Epoche gehört, gibt es nicht einmal einen Ansatz zu einer Werkausgabe, die ähnlich wie die Weimarer Ausgabe der Werke und Briefe Goethes von erschöpfender Extensität zu sein beansprucht. Leicht konnte man Humboldts Biographie einen erschließenden Zusammenhang mit seiner Epoche bescheinigen. Einen ähnlichen symbolischen Zusammenhang zwischen Leben und Gesamtwerk wie im Falle Goethes gibt es bei Humboldt nicht. Der sonst so viel Sinn für repräsentative Ordnungen hatte, unterzog seine vielen Werke nicht im gleichen Maße einer abrundenden Übersicht, in welchem er sich selbst historisch wurde. Keiner, der Humboldt für einen Wissenschaftler und schon deswegen nicht für einen Dichter hält, wird davon überrascht sein. Umso auffälliger ist allerdings, dass ein Teil seiner Publikationen eben doch eine Deutung erfahren hat, wie sie die Hermeneutik im Allgemeinen den Werken der Dichter vorbehält. Ansätze zu einer Engführung von Leben und Werk, die Humboldt selber intendiert hätte, gibt es in bezug auf die Neuausgaben der Ansichten der Natur und auf den Kosmos, den der Verfasser selbst als Lebenssumme bezeichnete. Diese beiden Werke sind es auch zusammen mit dem „historischen" Teil der Reisebeschreibung, deren Neuauflagen sich in Deutschland immer wieder rechtfertigen ließen und auf ein gewisses Interesse stießen. Man könnte erwarten, dass mit der Erhebung dieser Texte zu kanonischen Lektüren endlich auch der Schriftsteller Humboldt bedacht worden wäre, soweit damit spezifische Redeformen, symbolische Ordnungen, Gattungen, öffentliche Kommunikation gemeint sind. Die vielen Literaturgeschichten, die in Deutschland diese drei Werke immer wieder nennen und demnach doch wohl zur sogenannten „schönen" Literatur zählen, enttäuschen allerdings diese Erwartung bis in die neuere Zeit. Ganz offensichtlich sind es nicht exzeptionelle Kunstwerke, die den Namen
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Zu Recht kritisiert Kurt-R. Biermann die stillschweigende Reduktion des Kosmos auf Beiträge ausschließlich zur physikalischen Geographie, in: Biermann: Miscellanea H u m boldtiana, S. 268. Alexander von Humboldt: Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents, hg. von Ottmar Ette, 2 Bde., Frankfurt a.M. Leipzig: Insel 1991; Alexander von Humboldt: Die Forschungsreise in den Tropen Amerikas, in: ders.: Studienausgabe, Bd. 2 in drei Teilbänden, hg. von Hanno Beck, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997.
Der Schriftsteller Humboldt im Schatten der „zwei Kulturen"
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Humboldt in die Literaturhistorie eingeführt haben. E s scheint vielmehr sein Ruhm zu sein, seine allgemeine Bedeutung, die sich nun in den Literaturgeschichten als privilegiertem Ort nationaler Sinnstiftung niederschlagen. Die vielbeschworene schöne Prosa seiner Schriften fungiert dabei als kultureller Passepartout, ganz ähnlich seiner unerschöpflichen Causerie zwischen Souveränen, Dichterfürsten und Gipfelstürmern.
Der Schriftsteller Humboldt im Schatten der „zwei Kulturen" Jener bürgerlichen Kultur, die ihn gerne als Repräsentanten einer ganzen Epoche und des ganzheitlichen Naturdenkens zitierte, stand lange Zeit keine wissenschaftliche Beschäftigung mit Humboldt gegenüber, die sich mit den Grundlagen der erfolgreichen Symbolisierung in seinem schriftstellerischen Werk auseinandergesetzt hätte. Die frühen Jahre der posthumen Rezeption fielen in die Zeit einer ersten massiven Polarisierung von Natur- und Geisteswissenschaften und den damit einhergehenden polemischen Absetzungen und Legitimationen.16 Die frühe akademische Rezeption stand im Zeichen des Positivimus. Sie ordnete seine Leistungen in eine (Fortschritts-)Geschichte der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen ein und widmete sich der Bearbeitung und Präsentation von Lebensdokumenten. Bezeichnend für diese Phase ist die von Karl Bruhns als Herausgeber betreute Biographie, Würdigung und Dokumentation, die bereits in heterogene Beiträge verschiedener Bearbeiter zerfiel. Den beiden Bänden mit der Lebensgeschichte folgte ein Band mit einer inzwischen höchst problematischen Aufreihung von Würdigungen seiner Verdienste in verschiedenen Disziplinen, die zum Beispiel für den Historiker Humboldt kaum ein paar Sätze erübrigte, und ein bibliographischer Teil. Schon galt Humboldt offenbar als das letzte Individuum, das einen Überblick über die vielfältigen Interessen und Initiativen dieses einen Lebens bewahren konnte.17 Seither war es lange üblich, seine Schriften und Leistungen einem meist statisch angelegten Register von Disziplinen unterzuordnen, wobei plausible Zusammenhän16
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Vgl. Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 3: Erfahrungswissenschaften und Technik, Freiburg: Herder 2 1950, S. 201: „es war Humboldts Lebensschicksal, daß er zwei sich ablösende Zeitalter in sich vereinte und darum von zwei Seiten angegriffen wurde: die Philosophen und Dichter haben ihm sein exaktes Verfahren zum Vorwurfe gemacht, die emporkommende Arbeitsteilung hat ihm seine universalen Tendenzen verübelt." Alexander von Humboldt. Eine wissenschaftliche Biographie. Im Verein mit R. AveLallement, J.V. Carus, A. Dove, H.W. Dove, J.W. Ewald, A.H.R. Grisebach, J. Löwenberg, O. Peschel, G.H. Wiedemann, W. Wundt hg. von Karl Bruhns, 3 Bde., Leipzig: Brockhaus 1871.
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Einleitung
ge zwischen übergreifenden Diskursen und Gattungen gekappt wurden. Gerade die Spuren der Weimarer Klassik und des Idealismus in Humboldts Schriften erschienen dem fortschrittsgläubigen Jahrhundertende verdächtig.18 Die Geistes- und Ideengeschichte setzte dem Zuschreibungen entgegen, die in Humboldts Schriften an disparaten Stellen Belege für seine ideellen und philosophischen Orientierungen fanden. So ließ sich Humboldt mit der Aufklärung, mit Empirismus oder Rationalismus, mit der Weimarer Klassik, mit Idealismus, mit der Romantik, mit dem Realismus identifizieren, mit dem Humanismus oder Liberalismus. In den Schriften meinte man zu ermitteln, wes Geistes Kind Humboldt gewesen sei, nicht aber, auf welchen Wegen und in welcher Gestalt es zur besonderen Artikulation von historischen Normen und Wissensbeständen gekommen war. Zugleich erschien der geistesgeschichtliche Humboldt weitgehend abgelöst von der wissenschaftlichen Praxis seiner Zeit,19 es sei denn, sie ließ sich als Goethesche Naturforschung stilisieren.20 So lange Natur- und Geisteswissenschaften rivalisierten und schließlich in eine Konkurrenz der „zwei Kulturen" gebracht wurden, sparte man die Schriftstellerkarriere Humboldts in seiner wissenschaftlichen Rezeption aus. Die auffallige Tatsache, dass dieser Mann seit seinem neunzehnten Lebensjahr und bis in sein neunzigstes, von 1788 bis 1859 publizierte, dass seine Erkenntnisse ganz überwiegend in Textform bekannt wurden, dass sie in dieser Form überliefert sind, dass seine Aussagen von anspruchsvollen Konventionen schriftlicher Rede geprägt sind, dass sein Ruhm überwiegend der Effekt von literaler Publizität ist, das alles erschien weitgehend als Selbstverständlichkeit.
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Vgl. Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Emil du Bois-Reymond, hg. von Ingo Schwarz und Klaus Wenig, Berlin: Akademie-Verlag 1997 (=Beiträge zur Alexandervon-Humboldt-Forschung, 22). Darin auch eine Gedächtnisrede von du Bois-Reymond (S. 184—203), in der die neuhumanistische Literatur des frühen 19. Jahrhunderts als Behinderung des wissenschaftlichen Fortschritts ausgegeben wird. Vgl. etwa Helmut Rehder: Die Philosophie der unendlichen Landschaft. Ein Beitrag zur Geschichte der romantischen Weltanschauung, Halle an der Saale: Max Niemeyer 1932 (=DVjS Buchreihe, 19), über Humboldt, S. 201. So tendenziell bei Adolf Meyer-Abich, der sich ausdrücklich in die geistesgeschichtliche Tradition stellt: Adolf Meyer-Abich: Alexander von Humboldts Philosophie der Natur, geistesgeschichtlich interpretiert und in ihrer Bedeutung für die heutige Naturwissenschaft dargestellt, in: Herbert Kessler, Walter Toms (Hg.): Die Brüder Humboldt heute, o.O. 1968, S. 1 6 5 - 2 1 7 (=Abhandlungen der Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung, 2); ders.: Alexander von Humboldt in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1967; ders: Nachwort zu: Alexander von Humboldt: Ansichten der Natur, Stuttgart: Reclam 1969, S. 1 4 7 - 1 6 8 ; ders.: Die Vollendung der Morphologie Goethes durch Alexander von Humboldt. Ein Beitrag zur Naturwissenschaft der Goethezeit, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1970.
Der Schriftsteller Humboldt im Schatten der „zwei Kulturen"
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Der „ganze" Humboldt, dem die alltägliche Rede die ganze physische Welt anheftete, erhielt sich in der populäreren Biographik, in Kompilationen und volkstümlichen Fassungen seiner Reiseberichte.21 Anthologien wie Rudolf Borchardts Der Deutsche in der Landschaft von 1927 gaben schöne Stellen für das Ganze.22 Die Forschung widmete Humboldt jedoch kaum Monographien, sondern, auch anlässlich der Zentenarfeiern, immer wieder Sammelbände, deren Herausgeber die Vielseitigkeit höchstens mit dem Hinweis auf die universale Geisteshaltung oberflächlich bündelten.23 Die Vielfalt der sein Leben anfüllenden Facetten stellt sich bis in jüngste Zeit noch am ehesten in repräsentativen Ausstellungen mit ihren Katalogen,24 in Bildbänden,25 Fernsehdokumentationen und Tagungsakten26 dar.
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Ein Beispiel dafür, dass die Gattung Biographie den formalen Zusammenhang der Lebensdaten gerne zu einer Ganzheit stilisiert, gibt Hermann Klencke: Alexander von Humboldt's Leben und Wirken, Reisen und Wissen. Ein biographisches Denkmal, 6. Illustrierte Ausgabe, vielfach erweitert und theilweise umgearbeitet von H.Th. Kühne, Leipzig: Otto Spramer 1870. Es gehe darum, heißt es in der Einleitung S. 7, „immer ein ganzes Lebensgemälde vor Augen [zu] behalten, dessen einzelne Schönheiten jederzeit nur im Zusammenhang mit dem Ganzen zur vollen Würdigung gelangen können." In diesem Fall scheint die Hermeneutik des „Lebens" der Ästhetik des „Naturgemäldes" aus Humboldts Schriften verpflichtet, deren Totalität allerdings durch den editorischen Hinweis auf Erweiterungen, Teile und Umarbeitungen im Untertitel Lügen gestraft wird. Das Pathos des Lebenszusammenhangs im großen Stil prägt unverändert die Biographie Kurt Schleuchers: Alexander von Humboldt. Der Mensch, der Forscher, der Schriftsteller, Darmstadt: Eduard Roether 1984. Rudolf Borchardt: Der Deutsche in der Landschaft [192η. Frankfurt a.M.: Insel 1989. Alexander von Humboldt 1769—1859, hg. von der Alexander-von-Humboldt-Kommission der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin: Akademie-Verlag 1959; Joachim H. Schultze (Hg.): Alexander von Humboldt heute. Studien zu seiner universalen Geisteshaltung, Berlin: de Gruyter 1959; Alexander von Humboldt. Wirkendes Vorbild für Fortschritt und Befreiung der Menschheit. Festschrift aus Anlaß seines 200. Geburtstages, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin: Akademie-Verlag 1969; Heinrich Pfeiffer (Hg.): Alexander von Humboldt. Werk und Weltgeltung, München: Piper 1969; Uta Lindgren (Hg.): Alexander von Humboldt. Weltbild und Wirkung auf die Wissenschaften, Wien, Köln: Böhlau 1990. Martin Guntau, Peter Hardetert, Martin Pape (Hg.): Alexander von Humboldt. Natur und Idee als Abenteuer, Essen: Druckpartner 1993; Alexander von Humboldt. Netzwerke des Wissens, hg. von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1999. Die Metapher des „Netzwerks" wird in den letzten Jahren, unverkennbar auf das junge Informations- und Kommunikationsmedium des Internets verweisend, gerne verwendet, wenn ein formaler und kommunikativer Zusammenhang für die vielseitigen Beschäftigungen Humboldts bezeichnet werden soll. Die aktuell anmutende Metapher besagt im Allgemeinen, dass Humboldt sich mit vielerlei beschäftigte und mit vielen in vielen Ländern korrespondierte. Ottmar Ette versucht in der Nachfolge dekonstruktiver Literaturinterpretationen, die Metapher des Netzwerks sowohl auf die Form von Humboldts disparaten Texten als auch auf den Modus seiner wissenschaftlichen und speziell geographischen Erkenntnis zu beziehen (Weltbewußtsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne, Weilerswist: Velbrück 2003).
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Einleitung
Es sind Darstellungsformen, die nicht zur gedanklichen Durchdringung eines so komplexen Sachverhaltes verpflichten, wie sie in Humboldts multidisziplinärer und weit in die Ästhetik ausgreifender Konzeption der ganzen Natur vorliegt. Die gründlichen Editionen und reichhaltigen Materialien, die von der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben werden, stellen naturgemäß Vorstadien umfassenderer Darstellungen und Deutungen dar.27 Die Konkurrenz zweier Kulturen, 28 einer naturwissenschaftlichtechnischen und einer literarisch-künstlerischen, schien es zu erschweren, dass in Humboldts schriftstellerischer Arbeit nicht nur ein neutrales Medium, sondern ein Konstituens seiner vielseitigen Befassung mit der einen Natur gesehen wurde. Gerade die Berufung auf die Brüder Humboldt als idealer Vertreter der Natur- und Geisteswissenschaften, in deren Blutsverwandtschaft sich die Einheit der Wissenschaft verkörpere oder aber das letzte, zufällige Band zwischen den beiden Kulturen zu erkennen sei, bestätigte die Dominanz der Dichotomie. 29
Neue Tendenzen der Literatur- und Wissenschaftsgeschichte Indem aber die Rede von den zwei Kulturen erkenntnistheoretisch und pragmatisch in ihre Schranken verwiesen wurde, ist auch ein neues Inter25
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Wolfgang-Hagen Hein (Hg.): Alexander von Humboldt. Leben und Werk, Ingelheim: Boehringer 1985; Otto Krätz: Alexander von Humboldt. Wissenschafder, Weltbürger, Revolutionär, München: Callwey 1997. Alexander von Humboldt - Aufbruch in die Moderne, hg. von Ottmar Ette, Ute Hermanns, Bernd M. Scherer, Christian Suckow, Berlin: Akademie-Verlag 2001; Alexander von Humboldt in Berlin. Sein Einfluß auf die Entwicklung der Wissenschaften. Beiträge zu einem Symposium, Augsburg: Erwin Rauner 2003 (=Algorismus, 41). Zuletzt der materialreiche Band von Petra Werner: Himmel und Erde. Alexander von Humboldt und sein Kosmos, Berlin: Akademie-Verlag 2004 (=Beiträge zur Alexander-vonHumboldt-Forschung, 24). Einen Höhepunkt erreichte die Debatte mit C.P. Snows polemischen Thesen über „The Two Cultures", nach Deutschland vermittelt durch den Band: Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Dialog über die „zwei Kulturen", hg. von Helmut Kreuzer, Stuttgart: Emst Klett 1969. Die Einleitung zur Neuausgabe des umstrittenen Aufsatzes von Snow von Stefan Collini rückt die Debatte bereits in die Perspektive der kulturwissenschaftlichen Überholung der Dichotomie. C.P. Snow: The Two Cultures. With Introduction by Stefan Collini, Cambridge: Cambridge University Press 2000, S. III-LXXIII. So bei Hans Hartmann: Wilhelm und Alexander von Humboldt. Natur- und Geisteswissenschaften heute. Eine aktuelle Frage, in: Herbert Kessler und Walter Toms (Hg.): Die Brüder Humboldt heute, o.O. 1968 (=Abhandlungen der Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung e.V., 2), S. 11—40. Da heißt es: „Die von den Brüdern Humboldt schon gefundene Brücke zwischen Natur- und Geisteswissenschaften wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weniger beschritten" (S. 28).
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esse an den symbolischen Ordnungen erwacht, in die Humboldt sein Wissen über Natur fasste. Auf dem Wege über die sozialgeschichtliche, diskurs- und systemtheoredsche Erneuerung der Literatur- und Wissenschaftsgeschichte kam es schließlich zu einer radikal kulturalistischen Revision wissenschaftlichen und literarischen Handelns. Der Autor, Redner, Zeichner und Kommunikator Humboldt interessiert nun weit mehr als der Botaniker, Geologe oder Meteorologe einerseits oder der Humanist und Aufklärer andererseits. Zunächst zur Literarhistorie: Cedric Hentschel schrieb 1969 einen Beitrag „Zur Synthese von Literatur und Naturwissenschaft bei Alexander von Humboldt" und versuchte die gängige Polarisierung im Rückgriff auf das historische Modell Humboldt zu überbrücken.30 Robert van Düsen schien mit seiner 1971 erschienenen Dissertation unter dem Titel „The Literary Ambiüons and Achievements of Alexander von Humboldt" zunächst nur das Spektrum der vielfältigen Kompetenzen des Multitalents noch um eine weitere ergänzen zu wollen, rekonstruierte dabei aber einen Teil des gattungs- und stilgeschichtlichen Kontextes, in dem Humboldt zu schreiben begann.31 In diesen Jahren machte auch Gerhard Hard in seinen Beiträgen darauf aufmerksam, dass Humboldts Landschaftsbegriff nicht ohne weiteres auf neuere geographische Terminologien zu beziehen, sondern wesentlich bildkünstlerisch und topisch geprägt sei.32 Schließlich räumte der Münchner Germanist Friedrich Sengle in seiner monumentalen Literaturgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts Alexander von Humboldt und seinen Werken einen so breiten Raum ein, wie es zuvor und mit solcher Reflektiertheit noch in keiner vergleichbaren Darstellung geschehen war. Die gesellschaftshistorische Perspektive Sengles beleuchtete an der Literatur der „Biedermeierzeit" ihre Vorliebe für 30
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Cedric Hentschel: Alexander von Humboldt's Synthesis of Literature and Science, in: Inter Nationes (Hg.): Alexander von Humboldt 1769/1969, Bonn, Bad Godesberg 1969, S. 9 5 132. Auch als: Zur Synthese von Literatur und Naturwissenschaft bei Alexander von Humboldt, in: Heinrich Pfeiffer (Hg.): Alexander von Humboldt. Werk und Weltgeltung, München: Piper 1969, S. 3 1 - 9 5 . Robert van Düsen: The Literary Ambiüons and Achievements of Alexander v o n Humboldt, Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1971 (=Europäische Hochschulschriften, I, 52). Gerhard Hard: „Kosmos" und „Landschaft". Kosmologische und landschaftsphysiologische Denkmotive bei Alexander von Humboldt und in der geographischen HumboldtAuslegung des 20. Jahrhunderts, in: Heinrich Pfeiffer (Hg.): Werk und Weltgeltung, München: Piper 1969, S. 133—177; ders.: Der ,Totalcharakter der Landschaft'. Re-Interpretation einiger Textstellen bei Alexander von Humboldt, in: Gerhard Engelmann (Hg.): Alexander von Humboldt. Eigene und neue Wertungen der Reisen, Arbeit und Gedankenwelt, Wiesbaden: Steiner 1970, S. 49—73; ders.: Die „Landschaft" der Sprache und die „Landschaft" der Geographen. Semanrische und forschungslogische Studien zu einigen zentralen Denkfiguren der deutschen geographischen Literatur, Bonn: Dümmler 1970 (=Colloquium geographicum, 11), hier S. 22 etwa die Feststellung, Landschaft sei seit Humboldt und bis weit ins 19. Jahrhundert eher ein „literarisches pattern" als ein Forschungsgegenstand.
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pragmatische Gattungen wie die Reiseliteratur oder didaktische Genres, ihr Festhalten an einer populären Überlieferung der Aufklärungsphilosophie und am Empirismus, ihre traditionelle Verwendung der Rhetorik, ihre Skepsis gegenüber den großen philosophischen Systemen des Idealismus und den anspruchsvollen Ästhetiken autonomer Kunst, ihre Suche nach objektiven Ordnungen, kurz: geschichtliche Zusammenhänge, die einen Verfasser wie Humboldt als durchaus repräsentativ für die Literatur seiner Zeit erscheinen ließen. Sengles verstreute Beobachtungen wären ein Steinbruch neuer Humboldt-Deutungen, bis hin zur Beobachtung, dass bei jenem Prozess, in dem aristokratische und bürgerliche Werthaltungen sich in der Literatur zunehmend amalgamierten, Schriftsteller adliger Herkunft unter den erfolgreichen Autoren der Epoche auffällig häufig vertreten seien.33 Das neue Interesse einer sozialgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaft für pragmatische Gattungen34 hätte einer neuen Würdigung Alexander von Humboldts zugute kommen können. Der normative Unterschied zwischen Kunst- und Alltagsliteratur war ja ebenso gefallen wie die Privilegierung fiktionaler Literatur. Doch nur vereinzelt fand das Genre des Reiseberichts oder der Landschaftsschilderung die Aufmerksamkeit von Interpreten, die sich auch mit der Relation historique aus der Voyage aux Regions equinoxiales beschäftigt hätten. Peter Brenner verfasste einen umfangreichen Forschungsbericht zum Reisebericht und bezeichnete einige systematische Aspekte, unter denen Humboldts Relation zu analysieren und zu interpretieren sei.35 Wenn die deutsche Neuausgabe dieses Buches 1991 mit viel Aufmerksamkeit verfolgt wurde, so lag es jedoch kaum an einem sozialgeschichtlichen und wohl eher in zweiter Linie an einem gattungsgeschichtlichen Interesse. Vielmehr signalisierte die bibliophile Ausgabe eine entschiedene Blickwendung von den Nationalphilologien zu einer internationalen und interdisziplinären Kulturwissenschaft.36 Im Zeichen von Humboldts Erforschung Mittel- und 33 34
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Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur zwischen Restauration und Revolution 1815-1848, 3 Bände, Stuttgart: Metzler 1971-1980. Für eine Erweiterung des Spektrums von Gattungen und Genres, die in der Literaturwissenschaft berücksichtigt werden sollten, plädierte Sengle schon 1967: Friedrich Sengle: Die literarische Formenlehre. Vorschläge zur ihrer Reform, Stuttgart: Metzler 1967. Vgl. auch Georg Jäger: Das Gattungsproblem in der Ästhetik und Poetik von 1780 bis 1850, in: Jost Hermand, Manfred Windfuhr (Hg.): Zur Literatur der Restaurationsepoche 1815-1848. Forschungsreferate und Aufsätze, Stuttgart: Metzler 1970, S. 371—404. Peter Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur: ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte, in: IASL, Sonderheft 2, Tübingen 1990; ders.: Gefühl und Sachlichkeit. Humboldts Reisewerk zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie, in: Archiv für Kulturgeschichte 73 (1991), S. 135-168. Dieses Feld hat der Romanist Ottmar Ette mit zahlreichen Studien über Alexander von Humboldt abgesteckt.
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Südamerikas ließ sich auf die Asymmetrien und Ungleichzeitigkeiten der globalisierten Welt reagieren, die in Europa die etablierte disziplinäre Wissenschaft irritieren. Humboldts Werke stoßen zurzeit vor allem in der Forschung zur Interkulturalität und Alterität auf lebhaftes Interesse, die sich auch mit der literarischen Form seiner Texte auseinandersetzt.37 Eine deutsche Variante der kulturwissenschaftlichen Erweiterung von philologischer Arbeit, die intensive Erforschung der spätaufklärerischen Anthropologie, in deren Licht die Epochenschwelle um 1800 sehr viel prägnanter erscheint,38 ist für die Deutung Alexander von Humboldts noch nicht genutzt worden. Die vorliegende Arbeit versucht dies zu ändern. Indessen begünstigen auch neuere Tendenzen der Wissenschaftsgeschichtschreibung eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Literaten Alexander von Humboldt. Die Öffnung für wissenssoziologische, diskursund systemtheoretische Fragestellungen39 wies den Weg zu einem schließlich radikal kulturalistischen Verständnis von Wissenschaft. Theorie erscheint seither untrennbar von Praxis, jede Wahrheit als Teil gesellschaftlichen Handelns. Wiederum seien zur Andeutung der Tendenz ein 37
Marie Louise Pratt: Imperial Eyes - Travel writing and Transculturation, London, New York: Roudedge 1992, S. 111-143; Thomas Strack: Alexander von Humboldts amerikanisches Reisewerk. Ethnographie und Kulturkritik um 1800, in: German Quarterly 69 (1996), S. 233-246; Paul Michael Lützeler: Cortes, Humboldt und die Folgen: Peter Schneider: ,Die Botschaft des Pferdekopfs' in: ders. (Hg.): Schriftsteller und „Dritte Welt". Studien zum postkolonialen Blick, Tübingen: Stauffenberg-Verlag 1998 (=Studien zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, 8), S. 49—69; Susanne Zantop: Kolumbus, Humboldt, Heine: Über die Entdeckung Europas durch Amerika, in: Alfred Opitz (Hg.): Differenz und Identität. Heinrich Heine, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1998, S. 79-89; Joseph Gomsu: Georg Forster und Alexander von Humboldt: interkulturell, in: Weifengarten 11 (2001), S. 33-49; Djelal Kadir, Dorothea Löbbermann (Hg.): Other Modernisms in an Age of Globalization, Heidelberg: Winter 2002; Reinhard Heinritz: „Mehrstimmigkeit" als transkulturelle Erzählform? Zu Reiseberichten Alexander von Humboldts und Hubert Fichtes, in: Zeitschrift für Germanistik 13 (2003), Η. 1, S. 41-52; Michaela Holdenried: Künstliche Horizonte. Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas, Berlin: Erich Schmid 2004 (=Philologische Studien und Quellen, 183).
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Vgl. Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: IASL, 6. Sonderheft Forschungsreferate (1994), 3. Folge, S. 93-157. In Deutschland erschien 1970 John Desmond Bernais „Science in History" von 1954 unter dem Titel Sozialgeschichte der Wissenschaften, 2 Bde., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1970; Barry Barnes, David Edge (Hg.): Science in Context. Readings in the Sociology of Science, Edinburgh: The Open University Press 1982; Steven Shapin, Simon Shaffer: Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life, Princeton, New Jersey: Princeton University Press 1985; Jürgen Klüver: Die Konstruktion der sozialen Realität Wissenschaft: Alltag und System, Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1988 (=Wissenschaftstheorie, Wissenschaft und Philosophie, 25); Stephen Cole: Making Science. Between Nature and Society, Cambridge 1992; Steven Shapin: A Social History of Truth: Civility and Science in seventeenth-century England, Chicago: The University of Chicago Press 1994.
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Einleitung
paar Titel der sechziger Jahre genannt, die zwar nicht unmittelbar zu Humboldt fuhren, jedoch wichtige Impulse für die Erforschung der historischen, sozialen, kulturellen Bedingungen gegeben haben, unter denen wissenschaftliche „Wahrheiten" formuliert werden. Thomas Kuhns Structure of Säentific Revolutions,40 Warren Ο. Hagstrom: The Säentific Community^ Michel Foucault: Les mots et /es choses.42 Vor allem die soziologische Erforschung von Prozessen der wissenschaftlichen Differenzierung und Institutionenbildung43 führte dann auch zurück zu Humboldts wissenschaftlichen Leistungen, die nicht mehr normativ aufgefassten Disziplinen, sondern einem in Deutschland besonders komplexen Prozess der Ausdifferenzierung autonomer und autopoetischer gesellschaftlicher Systeme zugeordnet wurden. Aufmerksamkeit weckten dabei vor allem die inzwischen obsoleten unter seinen Forschungen, die zur Lebenskraft und zum Galvanismus.44 Sie bezeichnen nun das Ferment einer wissensgeschichtlichen Neuverteilung von Kompetenzen und Praxen zwischen Philosophie, Ästhetik, Wissenschaft und ihren respektiven Öffentlichkeiten.45 In dem Maße, in dem wissenschaftliche Disziplinen nicht mehr als Repräsentation elementarer Wahrheiten gedacht werden, sondern als Funktionen gesellschaftlichen und historischen Wissens, in diesem Maße verschiebt sich auch die Aufmerksamkeit von den Wahrheiten selbst46 zu symbolischen als sozialen Handlungen. Die Zeichen und Zeichensysteme als materiale Träger des Wissens werden selbst Bestandteile des kulturellen Wissens, und in dieser Blickwendung liegt ein Motiv für die Erweiterung 40 41 42 43
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Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen [1962]. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp T W 1979. Warren O. Hagstrom: The Scientific Community, New York, London: Basic Books 1965. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, 7. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. Alwin Diemer: Die Differenzierung der Wissenschaften in die Natur- und Geisteswissenschaften und die Begründung der Geisteswissenschaft als Wissenschaft, in: ders. (Hg.): Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert. Vorträge und Diskussionen im Dezember 1965 und 1966 in Düsseldorf, Meisenheim am Glan: Hain 1968, S. 174—223; Rainald von Gizycki: Prozesse wissenschaftlicher Differenzierung. Eine organisations- und wissenschaftssoziologische Fallstudie, Berlin: Duncker und Humblot 1976 (=Soziologische Schriften, 21); Rudolf Stichweh: Differenzierung der Wissenschaft, in: Zeitschrift für Soziologie 8 (1979), Η. 1, S. 82-101; Niklas Luhmann: Die Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn. Zur Genese von Wissenschaft, in: Nico Stehr, Volker Meja: Wissenssoziologie, Opladen: Westdeutscher Verlag 1981. Vgl. Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984; ders.: Wissenschaft Universität Professionen. Soziologische Analysen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. Vgl. dazu in dieser Arbeit vor allem das Kapitel, das von Humboldts physiologischen Studien im Kontext der literarischen Kultur von Jena und Weimar um 1795 handelt. Vgl. Lorraine Daston: Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.): Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit - Gegensatz - Komplementarität? Göttingen: Wallstein 1998, S. 11-39.
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der Sozialgeschichte der Wissenschaften zu einer allgemeinen Kulturwissenschaft. Doch schon bevor es zu einer Auftürmung aller Wissenschaft zur universalen Kulturwissenschaft gekommen wäre, häuften sich in den letzten Jahrzehnten Untersuchungen zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, 47 Literatur und Wissenschaft 48 zu Darstellungsformen der Wissenschaften, 49 speziell zur Narratologie der Wissenschaften, 50 zum Wechselverhältnis zwischen Epistemologien und literarischer Ästhetik,51 zur Anthropologie der wissenschaftlichen Erkenntnis,52 zur Übertragung geisteswissenschaftlicher Methoden auf die Naturwissenschaften.53
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Vgl. schon Paul Feyerabend: Wissenschaft als Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984; Thomas Lange, Harald Neumeyer: Kunst und Wissenschaft um 1800, Würzburg: Königshausen und Neumann 2000 (=Stiftung für Romantikforschung, 13). Die Angaben zur Forschung, die jetzt folgen, sollen Beispiele sein, keinen Forschungsbericht ergeben. Paul Konrad Kurz: Literatur und Naturwissenschaft, in: ders: Über moderne Literatur. Standorte und Deutungen, Frankfurt a.M.: Josef Knecht 1967, S. 72-100; G.S. Rousseau: Literature and Science: The State of the Field, in: Isis 69 (1978), S. 583-591; J.A.V. Chappie: Science and Literature in the Nineteenth Century, London: Macmillan 1986; John Christie and Sally Shuttleworth: Nature transfigured: science and literature, 1700-1900, Manchester: Manchester University Press 1989; Katherine Hayles: Literature and Science, in: Encyclopedia of Literature and Criticism, London 1991, S. 1068-1081; Murdo W. MacRae (Hg.): The Literature of Science, Athens 1993; Wolfgang Rohe: Literatur und Naturwissenschaft, in: Edward Mclnnes und Gerhard Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848—1890, München: Hanser 1996 (= Hansers Sozialgeschichte der Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 6), S. 211—241, 768—773; Karl Richter, Jörg Schönert, Michael Titzmann: Literatur - Wissen - Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation, in: dies. (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770-1930, Festschrift Walter Müller-Seidel, Stuttgart: Metzler 1997, S. 9-36. Michael Lynch, Steve Woolgar (Hg.): Representation in Scientific Practice, Cambridge: MIT Press 1990; Elisabeth C. Bowen: Writing about Science, New York 1991; Lutz Danneberg: Darstellungsformen in Geistes- und Naturwissenschaften, in: Peter Brenner (Hg.): Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 99-137; Michael Halüday, James R. Martin (Hg.): Writing Science. Literacy and Discoursive Power, London 1993; Brian Scott Baigrie (Hg.): Picturing knowledge: historical and philosophical problems concerning the use of art in science, Toronto: University of Toronto Press 1996; Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung, Paderborn u.a.: Schöningh 1997. William Clark: Narratology and the History of Science, in: Studies in History and Philosophy of Science 26 (1995), Η. 1, S. 1-71. Besonders intensiv werden Prozesse der gegenseitigen Adaptation von naturwissenschaftlichen und soziologischen Modellen und ihre jeweilige Formulierung im Blick auf Darwin, seine Vorgänger und seine Rezeption erforscht. Z.B.: Ferdinand Fellmann: Darwins Metaphern, in: Archiv für Begriffsgeschichte 21 (1977), S. 285-297; Peter Sprangel: Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionsbiologie in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen und Neumann 1998. Karin Knorr-Cetina: Die Fabrikation der Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. Gyorgy Markus: Why Is There No Hermeneutics of Natural Sciences? Some Preliminary Theses, in: Science in Context 1 (1987), S. 5—51.
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Einleitung
Die soziologische, sozialgeschichtliche54 oder kulturtheoretische55 Rechtfertigung einer dritten oder einer einzigen Kultur56 begünstigen also eine Beschäftigung mit dem Schriftsteller Alexander von Humboldt. Systematische Grenzüberschreitungen auf den Spuren von Humboldts Vielseitigkeit führen immer wieder zu der Form seiner Texte und bildlichen Darstellungen. Ästhetik und Wissenschaft, Objektivität und Subjektivität, Natur und Kultur, Institution und Individualismus, Geist und Geld, Empirie und Idee, Maß und Mythos, Text und Bild, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Ratio und Gefühl, Raum und Zeit, Universalismus und Nationalismus, Identität und Alterität, kaum eine Opposition, die sich eine kulturalistische Revision der Wissensgeschichte zum Leitfaden nehmen könnte, bleibt das Phänomen Humboldt dem Wissenschaftler schuldig. Modernisierung oder Bildung? Befindet sich die Humboldt-Rezeption im Zeichen der „kulturalistischen" Wende der Geistes- wie Naturwissenschaften zur Zeit in einer Hochkonjunktur, so fallt doch auf, daß dieser Autor kaum einmal zum Ausgangspunkt für umfassendere geschichtliche Problematisierungen erklärt wurde. Dabei sollte doch Humboldts Langlebigkeit und Vielseitigkeit zur Rekonstruktion epochaler Tendenzen und transversaler Zusammenhänge besonders einladen. Wie viele Autoren veröffentlichten schon von 1788 bis 1859, nicht nur eine lange, sondern auch eine signifikante Phase der Wissensgeschichte? Einer Analyse seiner geschichtlichen Stellung steht möglicherweise die aktuelle Vorliebe für räumlich argumentierende Kulturforschungen entgegen, zu der Humboldts geographische Denkweise besonders einlädt, und gewiss die Tendenz interdisziplinärer Studien zu kleinteiligeren Beobachtungen. 54 55
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Wolf Lepenies: Die drei Kultuten: Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München: Hanser 1985. E. S. Shaffer: Literature and Science, Cambridge: Cambridge University Press 1991; Elinor Shaffer (Hg.): The Third Culture: Literature and Science, Berlin, New York: de Gruyter 1998; Otto Gerhard Oexle (Hg.): Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit — Gegensatz - Komplementarität? Göttingen: Wallstein 1998, S. 11—39. George Levine (Hg.): One Culture. Essays in Science and Literature, Madison, Wisconsin: University of Wisconsin Press 1987; Michel Serres (Hg.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt a.M. Suhrkamp 1998 [1989], im Vorwort (S. 11 ff.) eine kritische Auseinandersetzung mit der Rede von den zwei Kulturen, der die Beiträge des Bandes entgegengesetzt werden; Robert S. Westman: Two Cultures or One? A Second Look at Kuhn's The Copernican Revolution, in: Isis 85 (1994), S. 79-115. Friedrich Vollhardt: Eine Kultur? Zeitgenössische Darstellung und wissenschaftshistorische Deutung frühneuzeitlicher Vakuumexperimente, in: Lutz Danneberg und Jürg Niederhauser (Hg.): Darsteüungsformen der Wissenschaften im Kontrast, Tübingen: Narr 1998, S. 437^t54.
Modernisierung oder Bildung?
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Bei allem Interesse an einzelnen Aspekten bleiben daher umfassende Untersuchungen Alexander von Humboldts doch aus, die seine Arbeit auf ausgedehnte geschichtliche Phasen bezögen. Eine Ausnahme macht Ottmar Ette, der den Namen Alexander von Humboldt um die Jahrtausendwende wiederholt mit dem Terminus der „Moderne" verknüpft hat.57 Eine Schwierigkeit der Identifikation von Humboldt und Moderne benennt Ette selbst. Der Begriff ist vieldeutig, sowohl deskriptiv als auch normativ, und kann ganz unterschiedlichen Epochen und kulturellen Erscheinungen zugeordnet werden kann. Ette bevorzugt ihn, insofern er Alexander von Humboldt ein außerordentlich produktives Verhältnis zu kontinuierlich revidierten Stadien der philosophischen Aufklärung bescheinigt. Von dieser Beweglichkeit Humboldts im Blick auf Moderne qua Aufklärung lassen sich aus Ettes Sicht noch Linien bis in die Gegenwart, ja bis in die erwartbare Zukunft ziehen. Moderne (und sie ist bei Ette ein Wert) ist der Humboldt und uns gemeinsame Horizont, ob nun die Struktur seiner Texte, die Interdisziplinarität seiner Arbeit, die Globalität seiner Perspektiven gemeint ist. Doch gerade die Lektüre Humboldtscher Texte im Blick auf die oder eine literarische Moderne erweist sich als problematisch. Als Schriftsteller bleibt Humboldt doch ganz überwiegend Traditionalist, ein Bewahrer, ja Verweigerer gegenüber neueren Entwicklungen. Gerade das zähe Festhalten an einer literaten Kultur jenseits von Wissenschaft hie und Ästhetik da, auf die Hartmut Böhme nachdrücklich aufmerksam gemacht hat, der weithin rhetorische und topische Charakter seines Schreibens kann auch als anachronistisches Erfolgsrezept des uralten Humboldt gedeutet werden.58 Humboldts literarische Karriere wirft also in ihrer Dauer und Vielseitigkeit die Frage nach ihrer Zeitgemäßheit auf, nach Fortschrittlichkeit und Traditionalismus, die zur prinzipiellen Frage nach der Verknüpfung von symbolischen Ordnungen und sozialen Handlungsräumen in ihrem Wandel führt. Es ist ein Problem, das noch längst nicht theoretisch bewältigt ist59 und eng an die erkenntnistheoretischen Übergänge zwischen 57
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U.a. Ottmar Ette: Alexander von Humboldt heute, in: Alexander von Humboldt. Netzwerke des Wissens, hg. von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1999; Alexander von Humboldt — Aufbruch in die Moderne, hg. von Ottmar Ette, Ute Hermanns, Bern M. Scherer, Christian Suckow, Berlin: Akademie-Verlag 2001; Ottmar Ette: Weltbewußtsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne, Weilerswist: Velbrück 2002. Darauf macht grundsätzlich Hartmut Böhme aufmerksam: Ästhetische Wissenschaft. Aporien der Forschung im Werk Alexander von Humboldts, in: Ottmat Ette u.a. (Hg.): Alexander von Humboldt. Aufbruch in die Moderne, Berlin: Akademie-Verlag 2001, S. 17— 32. Vgl. Jörg Schönert: Möglichkeiten und Probleme der Integration von Literaturgeschichte in Gesellschafts- und Kulturgeschichte, in: Lutz Danneberg, Friedrich Vollhardt (Hg.): Vom
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Einleitung
Literatur- und Kulturwissenschaft geknüpft ist.60 Indessen lässt sich auch pragmatisch verfahren. Und im Sinne einer solchen Pragmatik sucht die vorliegende Arbeit nach einem Zusammenhang zwischen dem Schriftsteller Humboldt und der gesellschaftlichen Modernisierung vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts bis zur Mitte des neunzehnten. Als communis opinio können einige Annahmen über den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Modernisierungsprozess vorausgesetzt werden: Im Zeitraum der Untersuchung setzt sich der Umbau einer ständisch stratifizierten Gesellschaft in eine funktional differenzierte fort; weitgehend autonome Systeme von Kunst und Wissenschaft bilden sich heraus;61 es beschleunigt sich der Zuwachs empirischer und theoretischer Wissensbestände; Erkenntnis, auch der Natur, wird verzeitlicht und historisiert;62 es kommt zur Ausdifferenzierung und Institutionalisierung von wissenschaftlichen Disziplinen. Angesichts eines so umfassenden Wandels werden lebensweltliche Orientierungen problematisch.63 Die Zeit zwischen 1750 und 1850 ist im Blick auf den skizzierten Modernisierungsprozess als Epochenschwelle beschrieben worden, die eigene Semantiken zur Bewältigung dieses Vorgangs entwickelt hat.64 Zu den folgenreichsten gehört die Ausprägung von Individualität und Subjektivität als Bewusstseinsform, in der die Lasten eines so radikalen gesellschaftlichen Umbaus sich auffangen lassen. In den Jahren dieser „Sattelzeit" begann Alexander von Humboldt zu schreiben. Seine literarischen Anfänge stehen nach einem anspruchsvollen
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Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte: Positionen und Perspektiven nach der „Theoriedebatte", Stuttgart: Metzler 1992, S. 337-348. Vgl. zum Beispiel im oben genannten Band auch den Beitrag von Claus-Michael Ort: Vom Text zum Wissen. Die literarische Konstruktion sozio-kulturellen Wissens als Gegenstand einer nicht-reduktiven Sozialgeschichte der Literatur (S. 409ff.). Zur Einbindung von Literatur in Wissensgeschichte vgl. auch: Michael Titzmann: Kulturelles Wissen - Diskurs Denksystem, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 47-61. Zur Ausdifferenzierung eines autonomen Sozialsystems Literatur vgl.: Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976; ders.: Historisierung der Natur und Entmoralisierung der Wissenschaften seit dem 18. Jahrhundert, in: ders.: Gefährliche Wahlverwandtschaften. Essays zur Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart: Reclam 1999, S. 7-38. Vgl. Niklas Luhmann: Uber Natur, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 9—30, hier S. 26: „Wenn die Natur uns nicht mehr als Wissen verfügbar ist, kann die Gesellschaft nicht mehr auf Konsens gegründet werden. Mit den quasi-objets fällt schließlich auch der Sozial-Vertrag." Eine These, die sich seit den 1970er Jahren im Zusammenhang mit der Herausgabe des Standardwerks „Geschichtliche Grundbegriffe" durch Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Stuttgart: Klett, 1972ff.) durchgesetzt hat.
Modernisierung oder Bildung?
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privaten Propädeutikum zur Vorbereitung auf Studium und Verwaltungslaufbahn im Zeichen der Erprobung von Subjektivität in extensiven Briefwechseln. Anthropologie und Subjektivität werden in dem gesamten Werk und vor allem in seinem deutschsprachigen als Ausgangspunkt von Erkenntnis und Empfindung bis in die letzten Jahre gegenwärtig bleiben. Mit dem Begriff Subjektivität, auf die Humboldt konsequent jedes Wissen bezieht und von der er einen großen Teil seiner literarischen Vermittlungen abhängig macht, ist ein erstes integrierendes Konzept genannt. Es widersteht den Effekten einer disziplinären und gesellschaftlich funktionalen Ausdifferenzierung, die mit Prozessen der Modernisierung weitgehend identifiziert wird. Das soziologische Pendant der Kultur von Subjektivität ist ein starker Individualismus, der Humboldts Biographie als Habitus der Indetermination begleitet. Die Herkunft begünstigte diese Tendenz ins Allgemeine und soziologisch Unbestimmte, umgekehrt scheint ein starkes Bewusstsein von der Souveränität des Subjekts Humboldt ein Leben lang ermutigt zu haben, einen sozial indeterminierten Status zu wahren. Aristokrat zu sein und wohlhabend, in der Jugend eine exzellente und vielseitige Bildung genossen zu haben, das begünstigte diese soziale Unbestimmtheit; doch wer bewog Humboldt jedes offizielle akademische oder administrative Amt abzulehnen, keine Profession zu ergreifen, sich wissenschaftlich nicht einseitig zu spezialisieren? Warum legte er sich nicht auf eine der in seinem Curriculum angelegten Spuren fest und band sich an eine spezifische Elite (Wissenschaftler, Künstler, Beamte, Diplomaten, Technologen, Kaufleute), sondern ließ auch das Gesellige und Gesellschaftliche im Unbestimmten? Wie viel seine wissenschaftlichen Studien vom professionellen Arbeiten innerhalb einer Scientific community trennt, beweist der Habitus des Bohemiens, des Causeurs, des rastlosen Wanderers, des flüchtigen Gastes der Salons.65 Zur Unbestimmtheit passt auch, dass er, aus welchen Gründen auch immer, keine Familie gründete. Die Liste seiner offiziellen Anwerbungen ist zugleich die Liste seiner Ablehnungen. Ein Assessorat im Bergbau nur so lange, bis das mütterliche Erbe angetreten werden kann, eine Expedition: ja, aber privat, Vorlesungen, aber keine Professur, diplomatische Missionen, aber keine Gesandtschaft, Vermittlung von Kunst- und Bücherkäufen, aber ohne Museumsdirektion, Kam65
Klärend für die soziologische Beschreibung von Humboldts Indetermination ist der Beitrag von Lorraine Daston, H. Otto Sibum: Introduction: Scientific Personae and Their Histories, in: Science in Context 16 (2003), 1-2, S. 1-8. Das Konzept der „scientific persona" wird zwischen der biographischen Individualität und Institution angesiedelt, und zwar in jeweils deutlicher Abgrenzung des Wissenschaftlers vom Gelehrten, des Scientists vom Natural Philosopher, des scientifique vom savant (S. 2). Der Begriff des Wissenschaftlers widerstrebe der „multiplication of identities" (S. 7) so wie der flaneur die anti-profession im Gegensatz etwa zum Beruf des Arztes bezeichne.
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merherr, aber kein Portefeuille. Die Kanzlerschaft des Ordens „pour le merite" indessen diente der Repräsentation spezialisierter Leistungen in einen modernen „Heldenkatalog".66 Eine einzige Professionalisierung gibt es, die Humboldt mit dieser konsequenten sozialen und intellektuellen Indetermination für vereinbar hielt, und das ist der Beruf des gelehrten Schriftstellers, der nicht mit einem wissenschaftlichen Schriftsteller zu verwechseln ist. Die biographische Indetermination wirkte sich zweifellos günstig aus für einen Autor, der sich schon sehr früh entschieden hatte für viele, dann für viele verschiedene und schließlich für ein gemischtes und gar nationales Publikum zu schreiben. Die Möglichkeit, sich als Gelehrter und „Litterat" an ein allgemeines und nationales Publikum zu wenden, erkannte Humboldt schon um 1800 herum vor allem in Deutschland. Es hat mit Besonderheiten der deutschen Literatur- und Bildungsgeschichte zu tun, die sich Humboldt planvoll aneignete, sofern er für ein virtuelles Publikum deutscher Literatur schrieb. Drei seiner Texte sind nicht nur deutsch geschrieben, sondern tragen deutliche Zeichen eines für Deutschland angewandten Literaturkonzeptes: Die Ansichten der Natur, Die Ideen einer Geographie der Pflanzen, der Kosmos. Die vorliegende Arbeit versucht nun in der Schriftstellerkarriere Humboldts eine spezifisch deutsche Linie des Verhältnisses von Modernisierung und Literatur nachzuzeichnen. Damit stellt sie sich in Gegensatz zu jenem Schwerpunkt der neueren Humboldt-Forschung, der sich auf seine internationale Wissenschaft bezieht. Natürlich soll nicht ignoriert werden, dass Humboldt viel, ja mehr auf französisch veröffentlichte als auf deutsch, dass seine langjährigen Aufenthalte außerhalb Deutschlands prägend und unabdingbar für seine wissenschaftlichen und literarischen Leistungen waren. Behauptet wird jedoch, dass Humboldts Laufbahn als Schriftsteller deutscher Sprache, die es auch gab, in besonderer Weise für 66
Humboldt traut sich daher auch nicht zu, von sich aus geeignete Kandidaten zu benennen und wählt den Weg einer zunehmenden Selektion, erst aus disziplinaren Gemeinschaften, der dann politische Erwägungen und solche der Repräsentation an die Seite gestellt werden. Vgl. Humboldts Eingabe an Friedrich Wilhelm IV. von 1846: „Die Vorschläge des Ordens-Kanzlers bei dem Abgange eines ausländischen Ritters können, selbst wenn er viele Verbindungen mit dem Auslande hat, doch nur immer eine sehr beschränkte Sicherheit geben. Wer könnte sich rühmen, Wissenschaft und Kunst zugleich umfassen, ja entscheiden zu dürfen, welche Männer in den einzelnen Disziplinen, in Mathematik, Astronomie, Chemie, beschreibender Naturkunde und Geognosie oder gar in der schönen Literatur, in der Philologie, Geschichte und Erdbeschreibung im ganzen außerdeutschen Europa den berühmtesten Namen haben? Eine solche Kenntnis ist eher bei gelehrten Vereinen zu finden." Beglückende Ermunterung durch die akademische Gemeinschaft. Alexander von Humboldt als Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, hg. von Kurt-R. Biermann, Berlin: Akademie-Verlag 1992 (^Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 17), S. 68f.
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die Problematisierung gesellschaftlicher Modernisierung erhellend ist. Vorsorglich sei dazugesagt, dass sich dies auch in vergleichenden Seitenblicken auf die Pariser Jahre und die Ausgaben seiner Werke in mehreren Sprachen ergibt. Die Interpretation von Humboldts Autorschaft im Blick auf eine eigene deutsche Bildungsgeschichte zieht eine weitere Reduktion des Quellenmaterials nach sich. Die Fülle von Beiträgen, die der gelehrte Verfasser zu vielerlei Themen beigetragen hat, ohne eine ausdrückliche oder implizite Antwort auf das Problem der Differenzierung des Wissens zu suchen, bleibt unberücksichtigt. Ein großer Teil von Humboldts Bibliographie fügt sich tatsächlich in die Geschichte disziplinarer Ausdifferenzierung und Spezialisierung. Die Darstellungsformen, die in diese Richtung weisen, werden zwar immer wieder erwähnt, bilden aber nicht den Schwerpunkt der Untersuchung. Humboldts „deutsche" Schriftstellerkarriere Wie aber sieht die „deutsche" Karriere Humboldts in wissens- und literaturgeschichtlicher Sicht aus? Sie sei kurz skizziert: Hinter seiner literarisch vertretenen Subjektivität, die vom späten 19. Jahrhundert zunehmend irritiert als Anthropomorphic seiner deskriptiven Wissenschaft wahrgenommen wurde, steht die Anthropologie der Berliner Spätaufklärung. Dem jungen Humboldt wurde sie vor allem durch ihren bedeutenden Vertreter Johann Jakob Engel bekannt, der ihn belehrte und protegierte. Seit den 1970er Jahren ist diese philosophische Schule im Schatten Kants und der großen idealistischen Systeme als wirkungsvolles Sammelbecken für literarische, naturwissenschaftliche, pädagogische Erörterungen erforscht worden. Das anthropologische Interesse des späten 18. Jahrhunderts ist dabei als unverzichtbare Voraussetzung für die Entwicklung der klassischen und romantischen deutschen Literatur, als Bindeglied zwischen Kunst und Wissenschaft beschrieben worden; besser gesagt führte die Erforschung dieser Seite der Spätaufklärung zu einer Revision von Oppositionen, die aus heutiger Sicht als Interpretationen einer langen, aber vorübergehenden Rezeptionsphase den historischen Erscheinungen aufgeprägt worden waren. Humboldt erfuhr nicht nur aus erster Hand die Lehren einer in Berlin fest etablierten Anthropologie. Er hielt sich in historisch brisanten Momenten an den Orten auf, die für die deutsche Bildungsgeschichte prägend wurden, namentlich 1789 bis 1790 in Göttingen, anschließend auf einer Reise mit Georg Forster in Westeuropa, 1791 bis 1792 an der Bergakademie in Freiberg, 1794 und 1797 in Jena und Weimar. Humboldt
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hörte in Göttingen bei Blumenbach und Lichtenberg, an deren naturwissenschaftliche Forschungen anthropologische Weiterungen anschließen konnten, speziell an Blumenbachs botanische Schrift zum „Bildungstrieb". Außerdem betrieb Humboldt dort philologische und historische Studien. Dabei wurde er mit den Disziplinen und Methoden vertraut, die später zur Basis jeder humanistischen und akademischen Bildung erklärt wurden. Auf die Vorliebe der Großen in Jena und Weimar für die Antike und die Geschichte war Humboldt (Hörer von Schillers Vorgänger und befreundet mit seinem Nachfolger auf dem Jenaer Lehrstuhl für Geschichte) also gut vorbereitet. Auch von der Freiberger Bergakademie unter der Leitung von Abraham Gotdob Werner weisen wichtige Linien in die Konzeptionen der literarischen Klassik und Romantik und von dort in den Symbolhaushalt der deutschen Bildungsgeschichte. Die wechselseitige Erhellung von Naturforschung und literarischphilologischer Tätigkeit setzte sich dann bei den nicht sehr ausgedehnten, aber folgenreichen Aufenthalten in Weimar und Jena fort, wo man sich von Humboldts geologischen und mineralogischen Kenntnissen nicht nur Hilfreiches für den Ilmenauer Bergbau versprach, sondern Einblicke in die Philosophie der Natur. Vor allem die mit Goethe und Wilhelm von Humboldt gemeinsam betriebenen Studien zur vergleichenden Anatomie und Physiologie, die dann auch in die Versuche über die gereifte Muskel- und Nervenfaser eingehen sollten, verlängerten Naturforschung wiederum ins Anthropologische und Ästhetische. Die aktuellen Überlegungen zur I^ebenskraft in einer Erzählung gleichen Namens in Schillers Hören einzubringen, es lag für Humboldt nahe: denn die wissenschaftliche Verknüpfung von Naturforschung, Philosophie, Ästhetik und Anthropologie fand ihr wissenssoziologisches Pendant in Schillers neuem literarischem Projekt. In den Hören nämlich sollte Wissenschaft schön vermittelt werden, und zwar an ein bereits vielfach geteiltes, aber im Sinne einer neuen Nationalliteratur wieder zu vereinendes Publikum. Schillers werbende und einführende Seiten zum Hören-Projekt antizipieren ein Bildungsideal, das sich dann vor allem in Wilhelm von Humboldts Formulierungen in die Reformpädagogik und Reformwissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts fortsetzen sollte. Als Humboldt aus Amerika zurückkehrte, bezog er sich mit den Ληsichten der Natur und der deutschen Fassung der Ideen einer Geographie der Pflanzen nachdrücklich auf ein Literaturkonzept, das er in Jena und Weimar kennengelernt hatte. Ein neuer Akzent kam dadurch hinzu, dass Wilhelm von Humboldt inzwischen unter dem Eindruck der Klassiker Deutsche und Griechen idealiter identifizierte. Humboldt widmete die Ideen Goethe, indem er ein mythologisierendes Frontispiz mit Apoll und
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Diana einheftete, die Ansichten jedoch „seinem theuren Bruder Wilhelm von Humboldt in Rom". Während sich ein großer Teil des Reisewerks nicht mit einer Semantik deutscher Bildung identifizieren lässt, bleiben doch seine ethnographischen und historischen Teile implizit oder explizit auf die Folie der idealisierten Griechen bezogen, als dem ersten wirklich „anthropomorphischen Volk". Bei seiner Rückkehr nach Berlin knüpfte Humboldt mit seinen Kosmosvorlesungen 1827/28 an das später nach seinem Bruder benannte Bildungsideal an: Von der idealistischen Philosophie ausgehend wurde die Altphilologie zur Leitdiszipün einer methodischen und pädagogischen Erneuerung der höheren Bildungsanstalten. Im Zeichen der reinen Wissenschaft wurden naturwissenschaftliche Lehrstühle an den philosophischen Fakultäten in Preußen etabliert. Eine Vorlesung über physische Geographie, die sich auf Geschichte und Anthropologie beruft, ist weniger ein Zugeständnis an die kaum vorgebildete Hörerschaft, als an den inzwischen institutionalisierten neuhumanistischen Bildungsbegriff. Mit der Präsidentschaft über die Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte 1828 verband Humboldt rhetorisch die wissenschaftliche und medizinische Tradition in Deutschland mit den Namen Goethes und Schillers und beschwor zugleich die Einheit des Vaterlandes und die Bedeutung Preußens als Bildungs- und Wissenschaftsstaat. Der Kosmos begann dann ab 1845 zu erscheinen. Der zweite, erfolgreichste Band bezieht sich noch einmal auf die spätaufklärerische Anthropologie und Universalgeschichte, indem Ideen- und Kulturgeschichte auf die Analogie von historischen und organischen Entwicklungsprozessen und die Einheit des Menschengeschlechtes gegründet werden. Nur in dieser Form konnte wohl die physische Weltbeschreibung mit dem allgemeinen Bildungsideal vereinbart werden. Humboldt wurde zum nationalen Symbol und zum Symbol des umfassenden Naturwissens, weil Bildung sich während seiner gesamten Autorenlaufbahn vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts bis zur Mitte des neunzehnten zu einem schillernden Zusammenhang von Biologie, Anthropologie, Psychologie, Pädagogik, Subjektphilosophie, Wissenschaft, Ästhetik, Sprache, Gesellschaft, Geschichte und Nation aggregierte.67 Im Kosmos entwickelte der rasdose Erforscher einer unendlich sich 67
Zum Begriff Bildung vgl. Rudolf Vierhaus: „Bildung", in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart: Klett 1972, S. 568-551; Koselleck, Reinhart: Einleitung - Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung, in: ders (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 2: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart: Klett-Cotta 1990, S. 11^16. Voßkamp, Wilhelm: Bildung als Synthese, in: Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S. 1 5 - 2 4 .
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fortzeugenden Natur in schöner Gestalt und „lebendiger" Sprache der fortschreitenden Gesellschaft und Nation vor allem geschichtlich, was sie im individuellen Nachvollzug zugleich klug, schön, nützlich und gut finden konnte: Bildung. Humboldts intensive Beschäftigung mit dem deutschen Bildungsidealismus und seinen wissensgeschichtlichen Vorläufern führt also zur Frage nach der Verknüpfung von Literatur und gesellschaftlicher Modernisierung zurück. Schon die historische Semantik von „Bildung" in ihrer Vieldeutigkeit ist nur schwer auf einen angenommenen linearen Fortschritts· oder Modernisierungsprozess zu beziehen. Ähnlich steht es mit der Ideologiekritik und der Mentalitätsgeschichte, die den konservativen Werthaltungen und Legitimationsstrategien der Bildungseliten doch modernisierende Effekte in Wirtschaft, Technik, Verwaltung bescheinigen müssen. Eine Kulturgeschichte, die Bildung jeweils auf bestimmte historische Situationen und Praxen bezieht, stört vermeintlich linear verlaufende Entwicklungen noch mehr.68 Humboldts Arbeit als Schriftsteller, womit das Verfassen von bestimmten Texten ebenso gemeint ist wie das Agieren in Handlungsräumen, die auf Literatur bezogen sind, diese Arbeit also irritiert drei gängige Wahrnehmungen von Modernisierung.69 Das betrifft zum einen die Annahme, dass in Deutschland um 1830 die idealistische Philosophie, die auch den Irrweg der romantischen Naturphilosophie hervorgebracht habe, durch eine realistische Kultur abgelöst worden sei, die im Zeichen von exakter Naturforschung und Technik stehe. Humboldts Übersiedlung von Paris nach Berlin im Jahre 1826 ist als Signal einer Wende gedeutet worden, der Ablösung des Führungsanspruchs der französischen Naturwissenschaft durch die deutsche, ebenso der philosophiegeschichtlichen Blickrichtung vom Idealismus zum Realismus oder Materialismus.70 Indessen weisen gerade die Kosmosvorlesungen und der Kosmos einen anderen Weg. Die Institutionalisierung naturwissenschaftlicher Disziplinen als reiner Wissenschaften wurde vor 68
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Charakteristisch für den antiteleologischen Effekt, den eher kleinteilig und interdisziplinär verfahrende kulturwissenschaftliche Studien haben, ist Steven Shapins These, die wissenschaftliche Revolution habe nicht stattgefunden. Zu diesem provozierenden Ergebnis kommt er durch eine konsequente Kontextualisierung eines der großen „Paradigmenwechsel" der Wissenschaftsgeschichte. Steven Shapin: Die wissenschaftliche Revolution, Frankfurt a.M.: Fischer TB 1998 [The Scientific Revolution, 1996]. Jörg Schönert: Gesellschaftliche Modernisierung und Literatur der Moderne, in: Christian Wagenknecht (Hg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft: Akten des IX. Germanist. Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986, Stuttgart: Metzler 1988, S. 3 9 3 - 4 1 3 . Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus, hg. und eingeleitet von Alfred Schmidt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. Lange, der diese Schematisierung referiert, unterzieht sie zugleich der Kritik, indem er vor allem auf metaphysische Reste des Materialismus aufmerksam macht.
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allem durch die philologischen und historischen Fächer als Leitwissenschaften idealistischer Bildung gefördert, begleitet und legitimiert. Es handelt sich um eine pragmatische Allianz von Erkenntnisphilosophie und Institutionen, die modernisierend gewirkt hat. Humboldts Wendung zur Geschichtschreibung der Naturwissenschaft steht in diesem Kontext, ihre Erweiterung in eine öffentliche Rede über nationale Identität und gesellschaftliche Freiheit auch.71 Ähnlich widerspenstig zeigt sich Modernisierung von Humboldt aus betrachtet, wenn es um die Ausdifferenzierung autonomer Systeme von Kunst und Wissenschaft geht. Zwar steht um 1800 Subjektivität am Ausgangspunkt einer autonomen Poetik, soviel ist sicher richtig. Joachim Ritter hat dieses Datum zur These ausgebaut, dass ästhetische Natur in dem Maße entworfen wird, in dem die technisch und wissenschaftlich objektivierte in einzelne Bestandteile zu zerfallen droht.72 In der Nachfolge Ritters sind weitere und radikalere Thesen zur ästhetischen Moderne formuliert worden sind.73 Doch einige historische Befunde widersprechen ihr. Schiller entwickelt zwar seine Autonomieästhetik aus der Analyse gesellschaftlicher Differenzierung heraus und gibt mit seinen „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen" von 1795 einen Grundtext zur Kritik gesellschaftlicher Modernisierung.74 Indessen belehrt das historische Studium von Rhetorik und Topik, dass es eine schöne im Gegensatz zu einer szientifischen Natur schon länger gegeben habe.75 Vor allem aber setzt sich, wie Friedrich Sengle gezeigt hat, die kulturelle Praxis des 19. Jahrhunderts über das hinweg, was Schiller streng geteilt. Noch lange gilt die anthropologische Korrespondenz von subjektiver Existenz und objektiver Natur, noch lange übt sich die Literatur in einer rhetorischen Tradition, die die schöne Bezeichnung auch für die sachlich zutreffende hält. Die Forscher fanden Natur schön, die Literaten glaubten an die 71
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Vgl. Pierangelo Schiera: Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992 [1987 II Mulino Bologna], Schiera sieht Alexander von Humboldt daher auch im Kontext einer nationalliberalen Staatsbildung im Geiste deutscher Wissenschaft, die idealiter historische Wissenschaft ist (S. 20f.). Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, in: ders.: Subjektivität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 1 4 1 - 1 6 3 ; 1 7 2 - 1 9 0 . Dort auch Ausführungen zu Humboldt, der als letzter versucht habe, Ästhetik und Theorie der Natur zugleich zu denken. Radikalisiert etwa bei Karl Heinz Bohrer: Nach der Natur. Ansicht einer Moderne jenseits der Utopie, in: Merkur 41 (Juli 1987), H. 7, Nr. 461, S. 6 3 1 - 6 4 5 . Vgl. dazu auch Roy Pascal: „Bildung" and the division of labour, in: German Studies. Presented to Walter Horace Bruford, London u.a.: George Harrap 1962, S. 14—28. Vgl. Ruth Groh, Dieter Groh: V o n den schrecklichen zu den erhabenen Bergen. Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung, in: Heinz-Dieter Weber (Hg.): V o m Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz: Universitätsverlag 1989, S. 5 3 - 9 5 , die wichtigsten Einwände gegen Ritters These S. 65.
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Erkenntnisse der Wissenschaft. Humboldt konnte sich auf einen common sense verlassen, der Theorie und Ästhetik für durchaus kompatibel hielt. Zwar konnte der Kosmos nicht empirisch nachweisen, dass die Natur eine Einheit sei, dass die empirische Natur aber schön sei, das musste gar nicht erst bewiesen werden. Die pragmatische Geschichtschreibung relativiert die idealtypischen Annahmen einer philosophiegeschichtlichen Perspektivierung des gesamten Kulturprozesses. Und noch eine andere Entwicklung verlief träge, während die rückblickende Wahrnehmung ihn gerne beschleunigt. Es ist die Spezialisierung und Professionalisierung der Naturforschung, die für einen Zerfall ihrer Erkenntnisse in Experten- und Laienkultur zuständig sei.76 Popularisierung der Naturwissenschaft, dieser Vorgang, dem ein diffusionistisches Verständnis von Bildung zugrundeliegt, trifft nur eingeschränkt auf ein Ereignis wie Humboldts Kosmosvorlesungen von 1827/28 und gewiss kaum auf den Kosmos zu. Hier geht es eher um die Integration empirischen Naturwissens in eine philosophische, philologische und historiographische Kultur, die als Bildung zwar sozialintegrativ wirkt, aber zugleich in hohem Maße elitär ist. Humboldt popularisierte nicht Naturwissenschaft, er präsentierte sie in der Version der geschichtlichen Wissenschaften, die damals stärker an Prozessen öffentlicher Symbolbildung und Legitimierung beteiligt waren als die exakten Naturwissenschaften. Alexander von Humboldt - ein „nützlicher" Autor Humboldts literarische Laufbahn repräsentiert eine Modernisierung, die nicht von der Wissenschafts- als Disziplinengeschichte und nicht von der Literatur- als Poetikgeschichte aus zu erschließen ist, sondern eher von einem kulturgeschichtlichen Verständnis gelehrten Schreibens. Wie aber ist Humboldts Beteiligung an einem kulturgeschichtlichen Prozess zu bewerten, in dem gelehrtes Schreiben sich veränderte? War er zufällig dabei oder wirkte er prägend, ergriff er das Opportune oder schwamm er gegen den Strom? Eine knappe Klärung dessen, was Autorschaft sein soll, lässt sich nicht vermeiden. Die Literaturwissenschaft unterscheidet zwischen einem historisch dokumentierten Verfasser, dem die Urheberschaft bestimmter Werke zugeschrieben wird, und dem Aussagesubjekt, das innerhalb eines be-
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Eine sehr differenzierte Sicht geben die materialreichen Studien von Andreas W. Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1 8 4 8 - 1 9 1 4 , München: R. Oldenbourg 1998.
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stimmten Textes die Rede organisiert.77 In welchem Umfang die Urheberschaft von Texten und die Organisation der Aussagen innerhalb dieser Texte souveräne Akte eines individuellen Verfassers sind, wurde unterschiedlich beschrieben. Die Genieästhetik nahm an, dass poetische Werke der spontane Ausdruck eines Subjekts seien, und dem folgte eine Hermeneutik, die „Das Erlebnis und die Dichtung" aus einander hervorgehen ließen.78 Spätere Literaturtheorien und Methoden der Interpretation, der Formalismus und Strukturalismus etwa, sahen die Position des Autors zwar nüchterner, ließen ihm aber noch die Freiheit der Auswahl und Disposition aus einem gegebenen Fundus von Möglichkeiten. Diese älteren Konzepte unterzogen die theoretischen Ansätze der Diskursanalayse, der Intertextualität oder der Systemtheorie einer radikalen historischen und ideologischen Kritik. Dabei stellten sie einem eher insignifikanten empirischen Autor ein Textkorpus mit einem Konglomerat von Eigenschaften gegenüber, die durch die Vorgaben sozialer Systeme, historischer Diskurse und Semantiken weitgehend determiniert sind und sich der Kontrolle durch den einzelnen Verfasser entziehen.79 Der Name des Autors steht dann metonymisch für die Summe jener Varianten kultureller Redeweisen, die in einer definierten Textmenge aufgerufen werden.80 Die tiefenpsychologische Analyse eines Begehrens, das sich im Text manifestiere, tat ein Übriges, um den Autor zu entmachten. Indessen ist auch diese Phase, in der der „Tod des Autors" verkündet wurde, theoretisch überholt worden.81 Von der „Rückkehr des Autors" ist die Rede82 und von seiner „Nützlichkeit".83 Die Debatte wendet sich von 77 78 79 80 81
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Vgl. Marias Martinez, Michael Scheffel: Einfuhrung in die Erzähltheorie, München: Beck 1999, S. 68. Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung, Leipzig: Teubner 1906. Vgl. Erich Kleinschmidt: „Autor", in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Klaus Weimar, Berlin, New York: de Gruyter 1997, S. 1 7 6 - 1 8 0 , S. 179. Vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor?, in: ders.: Schriften zur Literatur, München: Nymphenburger Verlagshandlung 1974, S. 7 - 3 1 . Der Stand der Debatte wird zusammengefasst v o n Norbert Christian Wolf: Wie viele Leben hat ein Autor? Zur Wiederkehr des empirischen Autor- und des Werkbegriffs in der neueren Literaturtheorie, in: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Reflexionen, Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 390-405. Wolfs Überblick fuhrt zu Pierre Bourdieu, dessen These von der Homologie gesellschaftlicher Strukturen und symbolischer Formen sich im Habitus von Künsdern und Schriftstellern ausdrücke, die diese Homologie zur Darstellung bringen. In Bourdieus Theorie erscheinen Autoren dabei weder total determiniert noch total souverän. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Marias Martinez, Simone Winko (Hg.): Rückkehr des Autors: zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen: Niemeyer 1999. Fotis Jannidis: Der nützliche Autor. Möglichkeiten eines Begriffs zwischen Text und historischem Kontext, in: ders., Gerhard Lauer, Marias Martinez, Simone Winko (Hg.): Rückkehr des Autors: zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen: Niemeyer 1999, S. 353-389.
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Letztbegründungen einer wissenschaftlichen Praxis zu, in der alle Versuche, den prekären, aber vielseitig verwendbaren Begriff des Autors zu ersetzen, sich als ebenso prekär erwiesen haben. Kaum ein Begriff scheint besser zu funktionieren als der des Autors, in dem seine empirische Existenz, ein individualisierbarer Wissenshorizont, die Kompetenz zur Auswahl und Verarbeitung von Bestandteilen aus diesem Horizont und ihre Kommunizierbarkeit zusammenkommen. Die besondere Verfassung von Texten, die als „literarisch" wahrgenommen werden, schwächt nicht diese glückliche Vermittlungsposition des Autors, sondern verstärken sie eher noch. Die Theorie resigniert vor der Einsicht, dass jede literarhistorische Rekonstruktion sich auf die Annahme realer Kommunikation von realen Akteuren über Sachverhalte, die für objektiv gehalten werden, verlassen muss, wenn sie überhaupt zu plausiblen Aussagen kommen will, mag es sich bei diesen objektiven Sachverhalten um kryptogame Pflanzen, die Lebenskraft oder die Gattung des Aphorismus handeln. Alexander von Humboldt ist im Lichte einer so pragmatischen Auffassung von Autorschaft der denkbar nützlichste Vermittler zwischen historischen Wissensbeständen, sozialen Handlungsräumen, in denen Wissen und Literatur eine Rolle spielt, und den symbolischen Ordnungen, in denen beides miteinander verknüpft wird. Die einzelnen Abschnitte dieser Untersuchung rekonstruieren um den Schriftsteller Humboldt jeweils Zusammenhänge, die alle drei Aspekte von Autorschaft berücksichtigen und dabei Relationen zwischen Literatur, Wissen und gesellschaftlichen Prozessen erfassen: Der erste beschäftigt sich mit Humboldts Berliner und Göttinger Erziehung zum Literaten, mit der literarischen Kommunikation in gelehrten Gesellschaften und literarischen Salons; mit seinem Studium spätaufklärerischer Anthropologie; mit ihrer Umsetzung in literarische Formen, wobei vor allem fiktionale und nicht-fiktionale Briefe interpretiert werden; mit den historisch-kritischen und komparativen Studien in Göttingen, die sich später als wissenssoziologisch relevant erweisen, die Humboldt aber auch zur Ausübung besonderer Schreibweisen führen werden. Der zweite Abschnitt widmet sich Humboldts physiologischen Studien in Weimar und Jena, wobei nicht nur diskursive Zusammenhänge der Naturforschung mit Philosophie und Ästhetik gesucht werden, sondern auch eine Verbindung zur Literaturpolitik im Kontext von Schillers Hori«projekt und zu gattungstheoretischen Erörterungen über die didaktische Literatur. Der dritte Abschnitt befasst sich mit Humboldts europäischer Veröffentlichung seiner amerikanischen Reise. Die Entstehungsgeschichte des Reisewerks wird auf Fragen der disziplinären und institutionellen Differenzierung bezogen. Dann wird in den Ansichten der Natur und den Ideen
Alexander von Humboldt - ein „nützlicher" Autor
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einer Geographie der Pflanzen nach Übergängen zwischen Ästhetik und wissenschaftlicher Heuristik im Sinne der „Einbildungskraft" gesucht, sowie nach Übergängen zwischen beschreibender Wissenschaft, Rhetorik und Nachahmungspoetik. Schließlich geht es um die Verfasserschaft von deutschen Werken im emphatischen Sinne, die sich von Publikationen auf Französisch und Übersetzungen in andere Sprachen abheben. Der vierte Abschnitt geht dann auf den institutionellen und disziplinengeschichtlichen Kontext der „Physischen Weltbeschreibung" ein und auf Bereiche gesellschaftlicher Repräsentation, in denen die rhetorische Zusammenfassung der empirischen Natur zur ganzen wirksam wird: die Kosmosvorlesung 1827/28, die Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte 1828 und die nationale Literaturgeschichte, in die der Kosmos nach dem Wunsch von Autor und Verleger eingehen sollte. Die Frage nach der historischen Stellung und dem Gewicht des Schriftstellers Humboldt lässt sich vorläufig nur sehr vorsichtig beantworten. Es scheint eine Verbindung zu geben zwischen seinem eigenen pragmatischen Literaturverständnis und seiner öffentlichen Wahrnehmung als Symbol des Zeitalters. Beides wiederum verweist auf die „Nützlichkeit" dieses Autors für die Rekonstruktion historischer Zusammenhänge von Literatur, Wissen und Gesellschaft.
Humboldts Erziehung zum Literaten: Von Berlin nach Göttingen 1769-1790
Gelehrte Gesellschaften und literarische Salons Alexander von Humboldt war kein Wunderkind. Seine eigenen Erinnerungen und biographische Zeugnisse sprechen davon, dass früher Unterricht in Naturkunde und Botanik offenbar keinen bleibenden Eindruck bei ihm hinterließen.1 Erst die zufällige Begegnung mit dem wenig älteren Botaniker Karl Ludwig Willdenow scheint den 18jährigen für systematische und empirische Naturforschung begeistert zu haben. Vor dieser Zeit deutet kaum etwas auf eine lebensbestimmende Berufung hin. Wenn man hingegen als vorrangig ansieht, dass sich Alexander von Humboldt seit dem 18. Lebensjahr bis an sein Lebensende als Autor betätigt hat, so verändert das die Sicht auf die Jugendjahre und ihre prägende Wirkung erheblich. Die vorzügliche Ausbildung, die beide Brüder Humboldt durch Privadehrer erhielten, sollte nach dem Wunsch der verwitweten Mutter zwar auf eine Laufbahn im Staatsdienst vorbereiten. Das heißt aber zugleich, dass diese Bildung auf ein Hochschulstudium vorbereitete und in weitem Umfang literarisch bildete. Das Propädeuükum sah dabei nicht nur eine gründliche Kenntnis der alten Sprachen vor, Latein vor allem. Die frühen Briefe sprechen von einer extensiven Belesenheit Alexander von Humboldts, davon, dass er mit Grammatik, Rhetorik und Logik exemplarischer Werke vertraut war, mit poetischen wie expositorischen Texten, mit Beispielen unterschiedlicher Gattungen, mit Uberlieferungen seit der Antike wie mit Beiträgen zu neuesten Debatten. Der Unterricht bereitete die Brüder nicht nur durch theoretische Kenntnisse, sondern auch durch praktische Übungen auf eine schriftstellerische Betätigung vor. Man kann beinahe von einer erwünschten Sozialisation im Blick auf literarische Kommunikation sprechen. Über die Privadehrer wurde auch die erste Bekanntschaft der Brüder mit bekannten Autoren, gelehrten und literarischen Gesellschaften Berlins vermittelt. Während also für die spezifisch naturwissenschaftlichen Studien Alexander von Humboldts gilt, dass er sich erst spät und auf eigene Initiative mit fördernden Institutionen und Lehrern in Verbindung setzte, in Berlin, Göttingen und Freiberg etwa, so führte für beide Brüder aus dem frühen 1
Vgl. Alexander von Humboldt: Aus meinem Leben. Autobiographische Bekenntnisse. Zusammengestellt und erläutert von Kurt-R. Biermann, München: Beck 1987, S. 33. Es handelt sich um eine private, unveröffentlichte Aufzeichnung aus dem Jahr 1801, in der Humboldt unter anderem absprechend über die erste Berührung mit der Berliner Naturforschenden Gesellschaft spricht, „krüppelhafte Figuren, deren Bekanntschaft mir ebenfalls mehr Abscheu als Liebe zur Naturkunde einflößte." 1793 wurde Humboldt Mitglied dieser Gesellschaft.
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Humboldts Erziehung zum Literaten
häuslichen Unterricht, aus der Didaktik, aus der gesellschaftlichen und geselligen Kommunikation mit den Lehrern, aus der Privatkorrespondenz und inoffiziellen Schreibversuchen ein kurzer Weg in die Laufbahn von anerkannten Publizisten. Vom Privatgespräch zur Publikation: Gelehrte Gesellschaften Begünstigt wurde diese informelle Ausbildung zum Schriftsteller durch die gängigen Formen der Kommunikation innerhalb Berlins und mit anderen Regionen, soweit sie durch persönlichen Umgang vermittelt waren. Die Korrespondenzen Wilhelms und Alexanders von Humboldt belegen, wie sich die Brüder bei ihren ersten Reisen und auswärtigen Besuchen sogleich in einem Geflecht von Gesprächen und Briefwechseln wiederfanden, die zu ersten schriftstellerischen Betätigungen führten, sei es, dass Mündliches oder Ungedrucktes die Aufmerksamkeit anerkannter Autoren fand, die zur Ausarbeitung ermunterten, sei es, dass zum geselligen Gebrauch Bestimmtes tatsächlich veröffentlicht wurde. So berichtete Alexander von Humboldt am 12. Dezember 1788 über seinen Bruder an seinen Studienfreund Wilhelm Gabriel Wegener: Auf der Rückreise von Aachen war er 5 Tage in Düsseldorf bei Jakobi, der ihn, ohnerachtet er ein Berliner ist, so liebgewonnen, daß er ihn nicht fordassen wollte. Mein Bruder hat darüber und über Jakobis Streit mit Mendelssohn einen interessanten Brief an Herz geschrieben, der mit einem anderen an Biester über Stark hier von Hand zu Hand geht. Ich wollte, ich könnte sie Dir beide schikken. Mein Bruder schreibt, nie habe er die Philosophie in solchem Wohlstande gesehen als bei Jakobi, nie einen Mann gesehen, der so ex professo metaphysiziert als Jakobi. Den ganzen Tag wird über Substanz, Zeit und Raum gesprochen.2
Und im August 1789 schreibt er an denselben Freund aus Göttingen: „Du glaubst nicht, mit welchem Sinn man hier alles zu betrachten anfängt. Mein Bruder hat sich hier und am Rhein durch seinen vertrauten Briefwechsel mit Forster und Jakobi (der vielleicht bald etwas davon herausgibt) viel Namen gemacht."3 Die Berichte beschwören jene Atmosphäre, in der private Briefe zwischen freundschaftlichen Beziehungen und öffentlicher Diskussion vermitteln, zwischen intimer Verständigung und Publizität, zwischen dem mündlichen Gespräch und der Schriftlichkeit, zwischen Reisenden und
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Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1 7 8 7 - 1 7 9 9 , hg. von Ilse Jahn, Fritz G. Lange, Berlin: Akademie-Verlag 1973 (=Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 2), S. 32. Im Folgenden zitiert als: ,JB". JB, S. 70.
Gelehrte Gesellschaften und literarische Salons
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fest umrissenen lokalen Gesellschaften und Zirkeln.4 Denn einerseits ist von einem „vertrauten Briefwechsel" die Rede, von der herzlichen Zuneigung, von der großzügigen Gastfreundschaft in privaten Häusern, doch andererseits stehen Themen von allgemeinem Interesse zur Diskussion, deren vermeintlich ganz persönliche briefliche Dokumentation zunächst im Bekanntenkreis in Umlauf gebracht, dann für eine regelrechte Veröffentlichung in Druckfassung in Erwägung gezogen wird. In der für das spätere 18. Jahrhundert charakteristischen Weise entwickeln sich - so wird es in Humboldts Jugendbriefen immer wieder greifbar — Autorschaft und Leserschaft, Publikum und Publizität aus dem halböffentlichen Kreis persönlicher Relationen.5 Dabei haben diese Verbindungen freilich von Anfang an nicht ausschließlich privaten Charakter. Es handelt sich um jene „Institutionalisierung im Hintergrund", wie Reinhart Koselleck formuliert,6 die diese spezifische bürgerliche Öffentlichkeit nicht etwa aus den Einrichtungen des Staates, der Kirche oder des Hofes entstehen läßt, sondern aus der mehr oder weniger lose organisierten Gemeinschaft gleichgesinnter Privadeute.7 Institutionen in diesem schwachen, jedoch nicht unwirksamen Verständnis sind in Humboldts Briefen an Wegener in der Tat angesprochen. Es wird ja nicht nur auf den Streit zwischen Friedrich Heinrich Jacobi und seinem Gegner Moses Mendelssohn angespielt,8 sondern hinter Mendelssohn stehen, vertreten auch durch den jungen Wilhelm von Humboldt, die „Berliner", eine deutlich als Schule oder Tendenz gekennzeichnete Gruppenbildung, auf die hier mit den Namen Marcus Herz und Johann Erich Biester angespielt wird. Auch sonst ist in den Briefen von den „Berliner Gelehrten" die Rede, und gemeint sind außer Friedrich Nicolai,
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Nach Wolf Lepenies kann man die deutsche Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts weniger als ein invisible college oder als säentific community denn als einen wissenschaftlichen Freundeskreis ansehen. Wolf Lepenies: Fast ein Poet. Johann Joachim Winckelmanns Begründung der Kunstgeschichte, in: ders.: Autoren und Wissenschafder im 18. Jahrhundert. Linne - Buffon — Winckelmann — Georg Forster — Erasmus Darwin, München: Hanser 1988, S. 91-120, hier S. 110. Zum privaten Briefwechsel als Vorstufe literarischer Öffentlichkeit vgl. allgemein: Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft [1961], Frankfurt a.M.: Suhrkamp TW 1999, S. 114; Reinhard M.G. Nickisch: Brief, Stuttgart 1991 (^Sammlung Metzler 260), S. 48f. Vgl. auch Jürgen Schiewe: Öffentlichkeit. Entstehung und Wandel in Deutschland, Paderborn: Schöningh 2004, S. 118f. Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt [1959], 8. Aufl., Frankfort a.M.: Suhrkamp 1997, S. 53. Vgl. Ebd., S. 41. Von den „zum Publikum zusammentretenden Privatleuten" spricht Habermas: Strukturwandel, S. 115 u.ö. Es handelt sich um Mendelssohns Verteidigung gegen den Vorwurf, Lessing sei Spinozist gewesen „An die Freunde Lessings" (1786), vgl. den Stellenkommentar in JB, S. 33.
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„Gedike, Reichard, Rammler, Teller, Biester",9 oder von der „Berlinischefn] Parthei."10 Und auf der anderen Seite werden Göttingen und der Rhein genannt als Metonymien für intellektuelle Milieus, von denen Humboldts Briefe zumindest die Häuser von Jacobi in Düsseldorf und Pempelfort11 und diejenigen von Christian Gottlieb und Johann David Michaelis in Göttingen12 als Schauplätze eines regelmäßigen Austausche von Freunden und Bekannten erwähnen, die informell durch ihre gemeinsamen philosophischen, ästhetischen und gelehrten Interessen organisiert sind. Von anderen Gruppenbildungen, die Humboldt als Ausgangspunkte einer literarischen und gelehrten Aktivität in Berlin, Hamburg, Jena und Weimar kennenlernt, wird noch die Rede sein. Die gemeinten Zirkel, „Kränzchen"13, Gesellschaften und Clubs ergänzen zum Teil immer noch bestehende offizielle und halboffizielle Institutionen des späten 17. und des 18. Jahrhunderts, zum Teil übernehmen sie ihre Erbschaft:14 Die zahlreichen älteren Sprach- und Lesegesellschaften; die Akademien, von denen für Alexander von Humboldt in der Zeit seiner Briefe an Wegener die Königliche in Berlin natürlich bekannt war - mit einer ganzen Reihe weiterer europäischer sollte er noch in Verbindung treten; die gelehrten Gesellschaften, wie etwa die „Gesellschaft der naturforschenden Freunde zu Berlin", in die Humboldt 1793 aufgenommen wurde,15 und auch dieser einen sollten in den folgenden Jahren Mitgliedschaften in zahlreichen weiteren gelehrten Gesellschaften folgen. Alle diese Assoziationen bringen in eigenen Zeitschriften, Jahrbüchern, Rezensionsorganen, Schriften und Repertorien dasjenige an eine zunächst durch persönliche Beziehungen vermittelte, dann zunehmend 9 10 11 12 13
14 15
Brief an Wegener vom 12.12.1788, JB, S. 33. Brief vom 3.10.1790, JB, S. 109. Außer im zitierten Brief vom Dezember 1788 auch im Brief an Jacobi vom 3.1.1791, JB, S. 117. Vgl. den Brief vom 16./17.8.1789, JB, S. 68. Im Brief vom 24.2.1789 heißt es vom Theologen Johann Friedrich Zöllner, er habe die Absicht „sich künftig mit einigen anderen theologischen] Gelehrten zu verbinden, Kränzchen zu halten, die jungen Leute in Gesellschaft zu bringen und ihnen Anweisung in den Dingen zu geben, die sie in ihrem künftigen Stande am meisten brauchen und die sie auf Akademien gerade gar nicht hören" (JB, S. 43). Vgl. Ulrich im Hof: Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München: Beck 1982, S. 13f. Vgl. den Brief vom 21.9.1793 (JB, S. 275). Zu den gelehrten Gesellschaften Berlins in dieser Zeit vgl. auch: Klaus-Harro Tiemann, Regine Zott: Zur Herausbildung wissenschaftlicher Vereinigungen in Berlin (18./19. Jahrhundert), in: Berlingeschichte im Spiegel wissenschaftshistorischer Forschung, Berlin 1987 (=Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR, Kolloquien H. 67), S. 1 6 7 - 1 8 1 ; Katrin Böhme: Die Gesellschaft naturforschender Freunde zu Berlin Bestand und Wandel einer gelehrten Gesellschaft. Ein Uberblick, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 24 (2001) 4, S. 2 7 1 - 2 8 3 .
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anonyme Öffentlichkeit, was zunächst mündlich an gemeinsamer Lektüre, als Vortrag und Diskussionsvorlage im engeren Kreise der Mitglieder und Gäste diskutiert wurde. Von der Verständigung im halbinstitutionellen, halböffentlichen Gespräch also, vielleicht sogar, wie im Falle der Logen und Arkanbünde, aus der geheimen Beratung, führt der Weg zur Publikation: Dies ist auch die Reihenfolge, die aus Alexander von Humboldts Jugendbriefwechsel immer wieder erkennbar wird, nicht zuletzt im Zusammenhang mit den ersten eigenen Abhandlungen und Veröffentlichungen. Nicht selten ist es auch in Humboldts Fall die Form des Privatbriefes, die zwischen der mündlichen Erörterung und der Druckfassung den Ubergang schafft. Freilich führt auch umgekehrt die Bekanntschaft mit den Büchern zur persönlichen mit ihren Verfassern. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts erhalten wissenschaftliche und literarische Zeitschriften in Fachkreisen und spezifischen Interessentengruppen den Vorrang über mündlichen Austausch und persönliche Korrespondenzen, wenn es um intellektuelle Diskussionen über Grenzen der Region hinaus geht. 16 Als der Student Alexander von Humboldt in Göttingen selbst eine literarische Gesellschaft ins Leben rief, blieb es offenbar bei einer privaten Initiative ohne öffentliche Ausstrahlung.17 Der Kontext der zeittypischen literarischen Praxis schloß jedoch nicht aus, dass dies der Ausgangspunkt für eine rege publizistische Aktivität hätte werden können. Den Brüdern Humboldt eröffnete sich in den späten 80er Jahren des Jahrhunderts ein müheloser Zugang zu den seinerzeit wichtigsten gelehrten Gesellschaften und Zirkeln der preußischen Hauptstadt und damit zur Welt der öffentlichen Diskussion und Publizistik. In gewisser Weise wurde das bewährte Verhältnis zwischen den Privatlehrern der Familie und ihren Eleven lediglich in die weiteren Kreise der Berliner Spätaufklärer überführt. Die verwitwete Mutter der Brüder hatte unter dem Eindruck der neusten Reformpädagogik und popularphilosophischer Grundsätze keine Kosten und Mühen gescheut, um für Wilhelm und Alexander herausragende Persönlichkeiten des gelehrten Berlin als Hauslehrer zu engagieren. Dazu gehörte noch zu Lebzeiten des Vaters kein geringerer als Joachim Heinrich Campe, wohl zu einer Zeit, als Alexander noch zu klein war, um von dem Unterricht wirklich profitieren zu können. Doch läßt sich belegen, dass ihm aus späterem Umgang nicht nur der „Robinson", sondern auch weitere Schriften Campes und allgemein sein
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Vgl. Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1 7 4 0 - 1 8 9 0 , Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 426. Vgl. A. v. Humboldt, Aus meinem Leben, S. 35.
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Denken vertraut waren.18 Privaten Unterricht erteilten Ernst Gottfried Fischer in Mathematik und Alten Sprachen, Ernst Ferdinand Klein in Naturrecht sowie der Philosoph, Pädagoge und Theaterintendant Johann Jakob Engel in Philosophie, von dessen großem Einfluß auf Alexander noch zu sprechen sein wird. Schon Rudolf Haym hatte in seiner Biographie Wilhelm von Humboldts Engels eminente Bedeutung für seine Erziehung betont.19 Interessant ist im Zusammenhang der gelehrten Sozialisierung beider Brüder vorläufig, dass Engel von Wilhelm eine Rekapitulation seines Privatissimums über Antike und Logik in der Weise verlangt zu haben scheint, dass der ältere Bruder dem jüngeren das soeben Gelernte vorzutragen hatte. Dies war Anlass für die Abfassung von Mitschriften, die ausdrücklich zum weiteren Gebrauch bestimmt waren, wie auch im Falle von Christian Wilhelm Dohm, zu dessen Privatvorlesung über Ökonomie, Staatslehre und Geographie es ebenfalls ein mehrhundertseitiges Skript Wilhelms gibt.20 Die Mitschriften zu den Vorlesungen der Universitätsprofessoren in Frankfurt an der Oder und in Göttingen, die in jenen Jahren in der Regel noch in den Privaträumen der Dozenten stattfanden,21 oder von Karl Philipp Moritz, denen Wilhelm im Jahre 1789 konsequent, Alexander gelegentlich zuhörte,22 bilden daher nur die Fortsetzung des häuslichen Unterrichts. Zu den Privatkursen der jungen Humboldts fanden sich übrigens Zöglinge aus dem Umfeld des Hofes, verschiedener adliger oder angesehener bürgerlicher Familien zusammen, sei es dass Söhne aus dem preußischen Haus, junge Herren von Arnim, der Familien Friedländer und Mendelssohn zu den Humboldts stießen, oder diese zu jenen. So auch im Falle des breitgefassten und übrigens besonders teuren Privatunterrichts durch den Theologen Johann Friedrich Zöllner über Technologie.23 Mit den Namen Campe, Engel, Dohm und Zöllner, aber auch mit denen der königlichen Prinzen, der jungen Herren von Arnim sowie mit Mendelssohn und Friedländer ist die für Berlin so bezeichnende Mischung 18 19 20 21
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Vgl. Brief an Samuel Thomas von Sömmering vom 28.1./20.2.1791 (JB, S. 123), an Joachim Heinrich Campe vom 17.5.1792 (JB, S. 188), zu letzterem später Genaueres. Rudolf Haym: Wilhelm von Humboldt. Lebensbild und Charakteristik, Berlin: Gaertner 1856, S. lOff. Vgl. Werner Rübe: Alexander von Humboldt. Anatomie eines Ruhmes, München: Deutscher Kunstverlag 1988, S. 28. So schreibt Humboldt am 17.8.1789 aus Göttingen über die Vorlesung Eichhorns „In seinem Pentateuchon sind über 300 Studenten. Er kann es in seinem Hause wegen Mangel an Platz nicht lesen. Er hat sich des alten Böhmers Auditorium geliehen" (JB, S. 68). Das Beispiel zeigt, wie ein anonymes Publikum die zuvor den Professoren persönlich bekannten Studenten abzulösen beginnt. JB, S. 48. JB, S. 43.
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von sozialen Sphären angedeutet, aus denen sich die gelehrten Gesellschaften und literarischen Salons rekrutierten, und in denen die im Privatunterricht bereits geübte Kultur der Brüder Humboldt, die Kultur des Vortrags, der gemeinsamen Lektüre, des kritischen Gesprächs, der Vermittlung an Außenstehende aufgehen sollte. Typisch für die Entstehung einer „bürgerlichen" Öffentlichkeit und einer literarischen Kultur in Europa ist genau diese halb informelle aber konsequente Begegnung von Adligen, kaufmännischem Bürgertum und „gebildeten Ständen", also Geistlichen, Juristen, vor allem Verwaltungsbeamten, Ärzten, Gymnasial- und Universitätslehrern in einem privat initiierten Rahmen. 24 In Berlin prägte sich das so zusammengesetzte Publikum in bezeichnenden Abweichungen von anderen europäischen Zentren aus: Anders als offenbar in Frankreich ging hier die Gruppenbildung weniger von Angehörigen der Noblesse aus, 25 die Gelehrten zu ihren Kreisen Zugang gewährte; die intellektuellen Beschäftigungen verschmolzen in Berlin auch nicht so sehr, wie dies in England der Fall gewesen ist, mit einem spezifischen Gentleman-Ideal. 26 Dafür stellte sich in Berlin, auch begünstigt durch die Ferne der Hofhaltung in Potsdam bzw. durch ihre kulturelle Insignifikanz, von der in der Literatur die Rede ist, eine betont bürgerliche, im mondänen Sinne unauffällige Geselligkeit ein;27 wenn man an die Salons der Henriette Herz oder der Rahel Varnhagen denkt, ist der Rahmen sogar durchaus bescheiden. Zwei Elemente sind in dieser Geselligkeit stark und auffällig: Angehörige jüdischer und hugenottischer Familien sind besonders präsent. 28 Die Mutter der Humboldts, eine geborene Coulomb, entstammte selbst einer Hugenottenfamilie, welcher Tradition auch ihre auffällige Aufgeschlossenheit für die avancierteste Pädagogik und ihr Bildungsehrgeiz für die Söhne zugeschrieben wird. Aufgeschlossenheit bewies die Familie Humboldt damals und anhaltend auch, indem sie die Nähe zu den Familien 24
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Vgl. Habermas: Strukturwandel, S. 80-89. Der These von der Umwandlung einer ständisch stratifizierten zu einer funktional differenzierten Gesellschaft kann man in diesem Zusammenhang zustimmen, doch führt der Übergang zunächst über eine weitgehende Integration verschiedener Gruppen im Publikum, das später zum Bildungsbürgertum wird. In diesem Sinne auch Schiewes Kritik an Habermas: Schiewe: Öffentlichkeit, S. 257ff. Vgl. Norbert Miller: Literarisches Leben in Berlin im Anfang des 19. Jahrhunderts. Aspekte einer preußischen Salon-Kultur, in: Kleist-Jahrbuch 1981/82, S. 13-32, hier S. 18. Steven Shapin (Die wissenschaftliche Revolution [1996], Frankfurt a.M.: Fischer 1998, S. 156) spricht von der für England typischen Verknüpfung der Attribute „adelig" und „gelehrt". Vgl. Petra Wilhelmy-Dollinger: Die Berliner Salons. Mit historisch-literarischen Spaziergängen, Berlin, New York: de Gruyter 2000, S. 41. Besonders betont bei Joachim Gessinger: „ E s ist ein sonderbares Gefühl, sich auf dem Papier jemand nähern zu wollen." Literarisches Leben im Berlin des späten 18. Jahrhunderts, in: Der Deutschunterricht 44( 1992), S. 8-23.
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Mendelssohn, Friedländer und Herz suchte.29 Auch hier ist der Übergang von familialen und freundschaftlichen Relationen zu den Institutionen der gelehrten Gesellschaften fließend. Zu den beiden wichtigsten und etablierten gelehrten Gesellschaften Berlins jener Jahre hatte Alexander von Humboldt keinen direkten Zugang, doch war er durch die Vermittlung seiner Lehrer und die persönliche Bekanntschaft mit ihren Mitgliedern und mit ihrer Tätigkeit gleichwohl vertraut. Es handelt sich um den von Friedrich Nicolai schon in den sechziger Jahren begründeten „Montagsklub", der bis 1792 bestand. Zum zweiten gab es, bei häufigen Überschneidungen der Mitglieder mit denen des „Monatgsklubs" seit 1783 die „Gesellschaft der Freunde der Berliner Aufklärung", bekannter unter dem Namen der „Mittwochsgesellschaft". Es handelt sich um eine Geheimgesellschaft (eben aus diesem Grunde wurde sie 1798 nach königlichem Edikt aufgelöst) von zunächst zwölf Mitgliedern, unter denen auch Humboldts Lehrer Johann Jakob Engel, Christian Wilhelm von Dohm und Johann Friedrich Zöllner begegnen, und die sich die Verwirklichung der Aufklärung in Preußen zum Ziel setzte.30 Die Erörterungen, die in beiden Gesellschaften stattfanden, können als Ursprung bedeutender assoziierter Publikationsorgane angesehen werden, wie die Personalunion von Mitgliedern und Herausgebern bzw. Autoren der fraglichen Zeitschriften beweist. Im Fall des „Montagsklubs" handelt es sich um die Allgemeine deutsche Bibliothek, herausgegeben von Nicolai und Biester, und die von den 60er Jahren bis 1792 in Berlin, an anderem Ort sogar bis 1810 Bestand hatte; im Falle der „Mittwochsgesellschaft" um die von Friedrich Gedike und Johann Erich Biester verantwortete, zwischen 1783 und 1811 erscheinende Berlinische Monatsschrift, die unter anderem durch die 1783 ausgelöste Diskussion der Frage, was denn nun Aufklärung sei, in die Geschichte eingegangen ist.31
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Über Humboldts intensive Beziehungen zu jüdischen Persönlichkeiten vgl. Kurt Jürgen Maaß (Hg.): Zur Freiheit bestimmt. Alexander von Humboldt — eine hebräische Lebensbeschreibung von Chaim Seligmann Slonimski (1810-1904), aus dem Hebräischen von Oma Carmel. Mit einem Beitrag über Alexander von Humboldt und die Juden von Peter Honigmann, Bonn: Bouvier 1997. Vgl. Günter Birtsch: Die Berliner Mittwochsgesellschaft (1783-1798), in: Erich Bödeker und Ulrich Hermann (Hg.): Der Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen, Medien, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1987 (=Veröffentlichungen des Max Planck-Instituts fur Geschichte 85), S. 94—112; Ursula Goldenbaum: Der „Berolinismus": Die preußische Hauptstadt als ein Zentrum geistiger Kommunikation in Deutschland, in: Wolfgang Förster (Hg.): Aufklärung in Berlin, Berlin: Akademie-Verlag 1989, S. 339-362. Was ist Aufklärung?, hg. von Ehrhard Bahr, Stuttgart: Reclam 1974. Vgl. auch Birtsch: Die Berliner Mittwochsgesellschaft, S. 103ff.
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Humboldts Vertrautheit mit beiden Zeitschriften ist mehrfach belegt.32 Dabei scheint es, als habe, entsprechend der lokalen Bedeutung der Zeitschriften und der persönlichen Beziehungen, die ihre Autoren und Leser verbunden haben, der eine oder andere der Beiträge nicht primär wegen seines sachlichen Gehalts, sondern wegen der wohlbekannten Identität des Verfassers, seiner Freunde und Rivalen für Alexander von Humboldt besonderes Interesse, ja zum Teil den Reiz des Skandals gehabt. Uber die Allianz zwischen der Autorin Elisa von der Recke und dem Kreis um Friedrich Nicolai heißt es gelegentlich: „Nicolai (nomen collectivum für das Gesindel, wie Voß sagt, was sich allgem[eine] Deutsche Bibliothek nennt), Gedike, Reichard, Rammler, Teller, Biester ... sind ihre Anbeter, denn einmal ist sie schön, dann Schwägerin eines Herzogs."33 Für Humboldt wird die persönliche Bekanntschaft mit allen zeitgenössischen Vertretern der Berliner Spätaufklärung eine selbstverständliche Identifikation von gelehrter Gesellschaft und literarischer Öffentlichkeit auf regionaler Ebene bedeutet haben, eine Identifikation, die er bei seinen Reisen über den engeren Kreis hinaus ins Europäische und Internationale zu erweitern suchte und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, als im allgemeinen nicht mehr davon ausgegangen werden konnte, dass Publikationen ihre Grundlage in der Kultur privater Kommunikation haben. Vertrauter als mit den anderen gelehrten Gesellschaften war der Umgang der Brüder Humboldt mit den Familien Moses Mendelssohns und im Hause des Arztes und Philosophen Marcus Herz. Hier, bei Herz, fanden schon seit ungefähr 1775 Vorträge und Demonstrationen speziell auch aus dem Bereich der Naturforschung statt (später unter der kompetenten Mitwirkung der jungen Henriette Herz); dem schlossen sich Diskussionen und Erörterungen an, an denen sich neben den schon mehrfach erwähnten Engel, Zöllner, Dohm, Nicolai auch Karl Philipp Moritz, Ramler, Teller beteiligten.34 In den Zirkel wurden die Brüder Humboldt 1785 eingeführt. Daneben und als Konkurrenz zu der ausschließlich Männern zugänglichen gelehrten Gesellschaft etablierte die noch sehr junge Henriette Herz ab 1783 ihren literarischen Salon, mit der gemeinsamen Lektüre zeitgenössischer schöner Literatur. „Gelesen wurde jedesmal. Kleinere und größere Aufsätze, lyrische und epische Dichtungen, Dramatisches usw. wechselten ab", erinnert sich die Gastgeberin.35 Die gemeinsame Lektüre diente nicht nur der intellektuellen Bildung, sondern
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Allein in den Jugendbriefen (JB), S. 33, 109, 122 und öfter. JB, S. 33. Vgl. Gessinger: „Es ist ein sonderbares Gefühl...", S. 14. Zit. n. Hermsdorf: Literarisches Leben, S. 73.
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ausdrücklich auch einer Erziehung der Empfindungen. 36 Der Teilnehmerkreis überschnitt sich zum Teil mit den Vortragsrunden in der Gesellschaft ihres Mannes. Hinzu kamen jedoch vor allem die Damen Dorothea und Henriette Mendelssohn, Therese Heyne (Forster/Huber), Caroline von Wolzogen und Caroline von Dacheröden, Wilhelm von Humboldts spätere Frau. Gerade der Austausch zwischen den Geschlechtern sollte dazu beitragen, die sittlichen, intellektuellen und affektiven Fähigkeiten zugleich zu wecken und zu kultivieren. Aus diesem Salon ging der ebenfalls von Henriette Herz angeregte „Tugendbund" hervor: „Der Zweck dieses Bundes [...] war gegenseitige sittliche und geistige Heranbildung sowie Übung werktätiger Liebe." 37 Er hatte nur kurze Zeit Bestand, wurde aber für die darin mit verschworenen Brüder Humboldt zum Anlass besonderer geselliger und literarischer Aktivitäten. Zur Zeit der ersten Bekanntschaft mit den Häusern Mendelssohn und Herz war Alexander von Humboldt etwa sechzehn Jahre alt; kein Wunder also, dass der gesellige Umgang mit Privatlehrern und der übrigen Prominenz des gelehrten Berlin zunächst keinen unmittelbaren Reflex in zum Druck gebrachten Manuskripten fand. Doch gibt es Ubergänge zu jenen frühen Veröffentlichungen, die dann aus den Kreisen in Frankfurt/Oder, Göttingen, Hamburg und Freiberg hervorgingen, in denen Humboldt seine Ausbildung fortsetzte. Mit seinem Studienfreund aus Frankfurter Zeiten, Wilhelm Gabriel Wegener, erörterte er, eng an den Diskussionsstand der Berliner Spätaufklärer angelehnt, in einer regelrechten brieflichen Abhandlung die Fragestellung von dessen theologischer Doktorarbeit über eine mögliche rationale Erklärung des Pfingstwunders — davon wird noch die Rede sein.38 Aus dem Seminar des Göttinger Altphilologen Heyne, von dessen angeregter Gesprächsatmosphäre und schriftstellerisch begabten Teilnehmern Humboldt brieflich schwärmte, ging ein Aufsatz über die Weberei der Antike hervor; auch darüber später noch mehr.39 In Hamburg, wo er sein kameralwissenschaftliches Studium an der Büschischen Handelsakademie fortsetzte, profitierte Humboldt für seine Arbeit hauptsächlich von seinen halbprivaten Verbindungen: „Eigentliche Kollegia höre ich wenig, desto fleißiger suche ich für mich zu 36
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Dies ist allgemein eine wichtige Funktion der schöngeistigen Lektüre in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Vgl. Gerhard Rupp: Empfindsamkeit und Erziehung — zur Genese des Literaturunterrichts um 1770, in: Klaus P. Hansen (Hg.): Empfindsamkeiten, Passau: Rothe 1990, S. 179-194. Rupp erwähnt unter den Wegbereitern dieses Verständnisses von Lektüre den Lehrer der jungen Humboldts, Joachim Heinrich Campe, der in den siebziger Jahren die „Einpflanzung zweckmäßiger Grundempfindungen" als Erziehungsziel bestimmte (S. 180). Zit. n. Wilhelmy-Dollinger: Die Berliner Salons, S. 64. J B , S . 10-17. J B , S. 68f.
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sein. Ebelings große Bibliothek kommt mir sehr zu statten. Philologie, Reisebeschreibungen, Geschichtsbücher besitzt Ebeling, alles Mathematische und Physikalische Büsch und das Naturhistorische Reimarus sehr vollständig."40 Für die freundliche Aufnahme in der „geistreichen Familie" Johann Albert Heinrich Reimarus' bedankte sich Humboldt brieflich im Juni 1791,41 gute Erinnerungen hatte er auch an Christian Graf Stollberg in Tremsbüttel, während zu den Kreisen um Mathias Claudius und Klopstock nur punktuell Verbindung bestanden zu haben scheint.42 Darüber hinaus bewegte sich Humboldt in Hamburg, wie er ironisch vermerkt, „in allen Cirklen, in den bürgerlichen und adelichen, die sich nach der löblichen Indianischen Methode hüpsch kastenmäßig voneinander getrennt haben."43 Humboldt nahm es (1791!) zum Anlaß, über proaristokratische Manifestationen der Berliner Aufklärer zu klagen.44 In der Zeit an der Bergakademie in Freiberg ergibt sich schließlich eine lebhafte Pubükations- und Rezensionstätigkeit, unter anderem in Fragen der Mineralogie für die Allgemeine Utteratur Zeitung in Jena. 45 Teile der Privatkorrespondenz oder deren ausgeführte Annexe gelehrten Inhalts bestimmt oder überlässt Humboldt zur Publikation. So gestattet er im Januar 1792 dem Hamburger Gelehrten, Publizisten und Staatsmann Paul Usteri, bestimmte gekennzeichnete Passagen seiner Privatbriefe zu veröffentlichen.46 Aus einem Brief an Jean-Claude de Lamethrie geht die „Lettre de M. de Humboldt, ä M. Delamethrie, Sur la couleur verte des vegetaux qui ne sonst pas exposes ä la lumiere" hervor 47 Noch im gleichen Monat ersucht Humboldt Paul Christian Wattenbach, sich bei dritten für die Rezension einer eigenen Schrift zu verwenden.48 Der Freiberger 40 41
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JB, S. 65. Vgl. auch den Brief an Johann Albert Heinrich Reimarus vom 1.6.1791: „Sie haben mich, während der acht Monate meines Hamburger Aufenthaltes, mit einer Freundschaft, mit einer Teilnehmung in Ihre geistreiche Familie aufgenommen, zu der mich der jezige Grad meiner intellektuellen und wissenschaftlichen Bildung auf keine Weise berechtigen konnte" OB, S. 139). Vgl. Brief an Georg Christoph Lichtenberg vom 3.10.1790 (JB, S. 109) und an Friedrich Heinrich Jacobi vom 3.1.1791: „Reimarus seh' ich oft wegen seiner Verbindung mit dem Büschischen Hause und seiner Liebe zur Mineralogie. Der gute Mann ist, wie alle Leute, die Bücher s.ammeln, verzettelt, zerrissen und einseitig. Klopsto[ck] hängt der Schule des streng dogmatischen Naturalismus an. Ich fühle mich in seiner Gesellschaft nicht gehoben und erwärmt. Die frohesten Stunden habe ich mit [Christian Graf] Stollberg in Tremsbüttel und mit Claudius zugebracht. Ich konnte mich recht mit diesen von Ihnen ausreden" (JB, S. 118f.). JB, S. 122. Ebd. Vgl. Brief an die Redaktionsmitglieder vom 10.8.1793, JB, S. 268. J B , S . 165. J B , S . 167. J B , S . 169.
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Intimus Freiesleben wird ermutigt, ein Reisejournal zu publizieren, seinerseits verfasst Humboldt ein solches zum zunächst persönlichen Gebrauch für den Freund.49 Die Ausgabe der Jugendbriefe listet im Anhang alle Veröffentlichungen auf, die unmittelbar aus Korrepondenzen hervorgehen und als „Briefe" verfasst sind.50 Und ganz in Übereinstimmung mit der Geschichte der wissenschaftlichen Publikationspraxis, weist die Bibliographie abhängig erschienener Schriften Humboldts in den frühen Jahren besonders häufig die Gattungsbezeichnung „Brief oder „Lettre" im Titel von Veröffentlichungen nach, in späteren Jahren nur noch gelegentlich.51 Indessen zeigt die extensive wissenschaftliche Korrespondenz, die Humboldt noch bei den Vorarbeiten des Kosmos unterhielt, und die vielfach in das späte Hauptwerk eingegangen ist,52 dass er Zeit seines Lebens die früh geübte Praxis des privaten Briefwechsels mit öffentlicher Wirkung fortzusetzen suchte. Die frühen Briefwechsel Humboldts erhellen aber nicht nur den Zusammenhang zwischen den gelehrt-geselligen Korrespondenzen und seinen frühen Publikationen, sondern vielmehr eine im engeren Sinne literarische Tätigkeit, die sich aus empfindsam-galanter Salongeselligkeit ergibt. Dazu gehört zum Beispiel ein 1793 anläßlich der Hochzeit von Freunden gemeinsam mit dem Bruder Wilhelm und mit Karl Gustav von Brinkmann verfasstes Sonett.53 Dazu gehören vor allem aber zwei längere Briefe an Henriette Herz, die genauere Betrachtung verdienen. Salongeselligkeit Der literarische Salon der Henriette Herz ist so wie ihr „Tugendbund" ein beliebter Gegenstand populärer und neuerdings auch wissenschaftlicher Darstellungen. Er befriedigt zugleich das Interesse am Memoirenhaften, am Anekdotischen, Lokalhistorischen, an nostalgischer Verklärung, an der Faszination der außerordentlichen Persönlichkeit, und seit dem frühen 20. 49 50
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JB, S. 185,211. Die Herausgeber zählen in JB, S. XXXV-XXXVIII aus Briefen hervorgegangene wissenschaftliche Abhandlungen auf. Dazu heißt es: „Da es sich nicht um echte Briefe handelt, wird ihr Text in der vorliegenden Edition nicht wiedergegeben." Gerade in der ezitgenössischen Praxis sind jedoch „echte" von „unechten" Briefen nicht so leicht zu unterscheiden. Publikationen, die als „ B r i e f , „Lettre", „Carta", „Schreiben . . . " auf ihren epistolaren Ursprung hindeuten, weist das Verzeichnis der abhängigen Schriften in folgender Verteilung nach: 1789-1799: 35; 1800-1805 (Reise): 14; 1806-1859: 22. Vgl. Petra Werner: Himmel und Erde. Alexander von Humboldt und sein Kosmos, Berlin: Akademie-Verlag 2004 (=Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 24), S. 9 7 114. JB, S. 242f.
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Jahrhundert an soziologischer Analyse.54 Der Salon der Herz (wie der Varnhagen) ist ein Markstein der Frauengeschichte 55 — dann wieder genau dieses nicht; ein eindrucksvolles Zeugnis der jüdischen Emanzipation 56 dann aber wieder ein klägliches Beispiel der leichtfertigen Preisgabe jüdischer Identität; er steht vor dem Sprung in eine regelrechte literarische Öffentlichkeit — ist jedoch andererseits auf inadäquate Weise der Privatheit, dem Unpolitischen verhaftet;57 er verkörpert den jugendlichen Elan und aufrührerischen Geist der Revolutionsjahre 58 — dann wieder ist er eine späte und zum Verwelken verurteilte Blüte der empfindsamen Rokokokultur.59 Er nähert Berlin dem Kosmopolitisch-Mondänen der Pariser und Londoner Gesellschaften an - stellt sich andererseits vergleichsweise bescheiden, um nicht zu sagen provinziell dar. Die widersprüchlichen Deutungen lassen erkennen, dass es sich in der Tat um ein Übergangsphänomen handelt, um eine charakteristische und in der gegebenen Situation offenbar erfolgreiche Erscheinung im Prozess sozialer Differenzierungen. Zum einen wird hier, wie auch von anderen Geselligkeiten des 18. Jahrhunderts bekannt, die Umformung einer ständisch gegliederten in eine moderne, „bürgerliche" Gesellschaft vorbereitet, in der man es jedoch noch nicht mit der vollendeten Differenzierung autonomer funktionaler Subsysteme zu tun hat, des literarischen, des wissenschaftlichen, des pädagogischen etwa, oder mit der Unterscheidung von Privatfamilie und Öffentlichkeit.
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Vgl. Peter Seibert: Der literarische Salon - ein Forschungsüberblick, in: IASL, 3. Sonderheft, Forschungsreferate, 2. Folge, Tübingen: Niemeyer 1993, S. 159-220, S. 164. Bei Seibert auch Belege für die im Folgenden kurz angedeuteten Thesen und Positionen. Vgl. Konrad Feilchenfeldt: Geselligkeit: Salons und literarische Zirkel im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Gisela Brinker-Gabler (Hg.): Deutsche Literatur von Frauen, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München: Beck 1988, S. 4 1 0 420. Bei Feilchenfeldt wird auch der Aspekt des Jüdischen betont. Vgl. Ingeborg Drewitz: Die Brüder Humboldt und die Berliner Salons, in: Klaus Hammacher (Hg.): Universalismus und Wissenschaft im Werk und Wirken der Brüder von Humboldt, Frankfurt a.M.: Klostermann 1976 (=Studien zur Philosophie und Literatur des 19. Jahrhunderts, Bd. 31), S. 17-28. So betont Norbert Miller, jedoch nicht denunziatorisch, das Unpolitische der Salons der Herz: „Die Gesinnung aber, [aus der das hervorging] war die scheinbar überholte Gesinnung der Popularphilosophie" (Miller: Literarisches Leben, S. 18f.). Das zunehmende Alter der Salondamen und ihrer Gäste im Übergang vom späten 18. zum 19. Jahrundert ist in der Tat bezeichnend. Jürgen Eder betrachtet daher erst die Salonkultur seit 1815 als entpolitisiert und ganz im Banne der Adelsrestauration stehend. (Jürgen Eder: Kaffeter und Republikaner: Entwicklungsformen des literarischen Salons zwischen Biedermeier und Revolution, in: Helmut Koopmann und Martina Lauster [Hg.]: Vormärzliteratur in europäischer Perspektive I. Öffentlichkeit und nationale Identität, Bielefeld: Aisthesis 1996, S. 227-245). An Aristokraten hat es freilich auch in den frühen Jahren des Herzschen Salons nicht gefehlt. Wilhelmy-Dollinger: Die Berliner Salons, S. 65.
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Zum Reiz des fast bohemehaften gesellschaftlichen Freiraums kam im Salon der Henriette Herz für beide Brüder Humboldt das Vergnügen einer halb ernsthaft, halb spielerisch kultivierten Galanterie und Empfindsamkeit. Sie waren untrennbar mit der Intelligenz und dem persönlichen Charme der gastgebenden Dame verbunden, einer für die Salongeselligkeit typische Kombination, der Humboldt übrigens nicht nur im Hause Herz, sondern auf Reisen auch in der Gestalt einer Frau von Wangenheim,60 und - in diesem Falle persönlich weniger beeindruckt — in Elisa von der Recke61 begegnete. Die beiden Briefe Alexander von Humboldts an Henriette Herz dokumentieren die charakteristische Erscheinung der Salongeselligkeit und beweisen, dass der literarische und soziale Zusammenhang, in dessen Traditionen sich der „Tugendbund" einreiht, dem Absender durchaus bewusst waren. Beiden Briefen ist das Okkasionelle, die engste Bindung an den konkreten geselligen Anlass und an die Konventionen des Salons ebenso anzusehen, wie die Tatsache, dass es um eine hochstilisierte, literarische Verarbeitung des persönlichen Umgangs geht. Ein fiktiver Dialog Der erste Brief des knapp neunzehnjährigen Alexander von Humboldt an die nur fünf Jahre ältere Henriette stammt vom 4. September 1788.62 Der Absender beginnt mit einem Zitat aus Wielands Kleinen Schriften·. „Wer des Scherzes Feind ist, trete nicht in unser Heiligtum."63 Mit der Wahl des Mottos bedient der Absender das für die Empfindsamkeit typische Wechselverhältnis von literarischer und geselliger Kultur, das er mit seinen Freunden im poetischen Kränzchen64 auskostet. Mit Wieland ist aber auch schon ein Hinweis auf die auffällige Konstruktion des Briefes gegeben, der sich auf ein irritierendes Vexierspiel fiktionalisierter Realitätselemente und vermeintlich faktischer Fiktionen einläßt. Der eigentliche Brief besteht aus einem fiktiven Dialog, der den empirischen Freunden in den Mund gelegt wird. Es unterhalten sich zunächst ,,Fr[au] Hofräthin Herz", also Henriette selber, und ihre Freundin, ,,Mad[ame] Veit", das ist Dorothea, geborene Mendelssohn, später stößt Ephraim Beer dazu.
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Vgl. Brief vom 5.8.1789, J B , S . 63. Brief vom 12.12.1788, JB, S. 32f. JB, S. 2 4 - 2 6 . JB, S. 24. Der Begriff „Salon" bürgerte sich erst im späten 19. Jahrhundert für die Erscheinung ein, vgl. Wilhelmy-Dollinger: Die Berliner Salons, S. 29.
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In der Kultur der Epoche setzen Briefe ausdrücklich das authentische Gespräch fort und simulieren eine konkrete Gesprächssituation. Dieser Brief Humboldts macht die Konvention selbst zum Thema und bricht sie ironisch. Dabei entscheidet sich Humboldt nicht für die Inszenierung von Natürlichkeit und Spontanität, sondern für das artifizielle literarische Gesellschaftsspiel. So bezieht sich Madame Veit gleich zu Beginn auf die lukianischen „Dialoge im Elysium". Damit ist eine Kontrastfolie für den im Brief selbst vorliegenden Dialog genannt und für die Institution des „Tugendbundes", damit soll aber auch auf Alexander von Humboldt selbst angespielt werden, dessen gesellschaftliche Qualitäten nun in Ausdrücken der Rokokogeselligkeit — er sei ein „Pleureusenmensch", einer der „medisirt" - erörtert werden. In der Folge wird, ganz in der Tradition der älteren galanten Literatur,65 eine scherzhafte Konkurrenz zwischen der galanten Gesellschaft der Damen und den gelehrten Verhältnissen der Herren im „Tugendbund" inszeniert. Ein gemeinsamer Bekannter, Ephraim Beer, stößt nämlich zu den Freundinnen und beklagt, dass er mit seinem Studienprogramm überfordertsei: „Denken Sie nur: Erst die Chemie, dann die Pathologie und dann ..." Und auch in bezug auf Humboldt scheint es eine Konkurrenz der gelehrten und der galanten Verpflichtungen zu geben. Die Damen erörtern diesen Zwiespalt ihrerseits auf ambivalente Art: nach den Regeln der „Cyprischen Grammatik" — man kann auch sagen der Wissenschaft von der Liebe. So analysiert „H.H.": „Lieben, Liebe haben, verliebt sein ... Das sind ja himmelweit verschiedene Dinge." Und „M.V.": „Thust Du nicht, als hätte ich geehrt und gut, schön und angenehm, gelehrt und klug, klug und weise ... ja, ich weis nicht was, zu Synnonimen gemacht." Aber gerade um die Gleichzeitigkeit von grammatischer Analysis und Psychologie, von Begriffen und Gefühlen und um die Möglichkeit der Synthese dieser Facetten des Menschlichen scheint es zu gehen; das Gelehrte jedenfalls kann nur durch die Liebe geadelt werden, die Herren nur durch die Damengesellschaft wirklich veredelt, während „Humboldts" Fehler eben seine zu große Eigenliebe, das heißt auch, sein eigenbröderisches Dasein zu sein scheint.66 65
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Über die anhaltende Nachwirkung der Topoi galanter Literatur, etwa der Opposition von Galanterie und Gelehrsamkeit in der Kasualliteratur vgl. Uwe-K. Ketelsen: „Galante Literatur", in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Klaus Weimar, Bd. 1, Berlin, New York: de Gruyter 1997, S. 6 4 9 - 6 5 1 , hier S. 650. Reinhart Koselleck erläutert die für die Epoche typische Entfaltung von „Bildung als Lebensführung", in der der ganze Mensch, seine Vernunft und Sinnlichkeit, in einer spezifischen, durch Juden und Frauen besonders stimulierten Geselligkeit kultiviert werde. Es werde die „sittlich integrative Kraft [...] gegenseitiger Selbstfindung" geübt, speziell auch im Medium von Tagebuch, Autobiographie und Briefen. Reinhart Koselleck: Einleitung — Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung, in: ders. (Hg.): Bildungs-
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Der Brief gibt nun eine Regieanweisung: „Man klopft". „H.H." befürchtet „einen langweiligen Besuch, die großen Helden mit den weidäuftigen Reden, langweilige Sterbliche", doch ein Postilion d'amour bringt einen Brief, eben von „Humboldt" (also einen Brief im szenischen Dialog im Brief). Er enthält eine Entschuldigung für einen versäumten Besuch. Aus der Konkurrenz von Gelehrtem und Galantem wird eine paradoxe Erscheinung. Der Brief im Brief ist ein Rückzug aus der empfindsamen Gemeinschaft und eine Beteiligung an ihr zugleich, er argumentiert mit gelehrten Verpflichtungen, argumentiert aber nicht nur unwissenschaftlich, sondern unlogisch.: „Ihnen sei diese Stunde ganz geweiht", heißt es zwar, doch auch: „meine Vernunft sagt mir, es wird bald eine längere Zeit vergehen [...]", und auch sonst verwickelt der Absender sich, wie die Damen sehr wohl bemerken, in alberne Widersprüche. Das inszenierte Scheitern könnte paradoxerweise aber zum kommunikativen Erfolg führen. Der empirische Humboldt teilt der empirischen Adressatin durch die Blume mit, dass er sich seiner Briefschulden und seines peinlichen Fernbleibens bewusst ist, inszeniert es aber in einer Weise, in der die zur fiktiven gewordene Entschuldigung ihrerseits wieder lächerlich erscheint eine Lizenz, die dem Ernst der möglichen Kränkung die Spitze nimmt. Weiter bezieht sich der Brief im Brief auf die gemeinsamen Freunde, eben die bereits aufgetretenen Dorothea Veit und Ephraim Beer, auf Marcus Herz, auf Johann Friedrich Zöllner, während die Damen im Gespräch sich gleichzeitig und die Lektüre unterbrechend auf diese Personen beziehen. Der Empfehlung des fiktiven Briefschreibers Humboldt an Madame Veit antwortet diese im Dialog mit einer „Verbeugung nach ihrer Art". Die Freundinnen besprechen den Brief: Er sei „wie ein Gespräch". Sie sind gerührt - „Der gute Humboldt!" - und malen sich aus, er hätte „unser voriges Gespräch", also das von Humboldt selbst ihnen tatsächlich in den Mund gelegte, gehört. In einem „kleinen Nachspiel" kommt Beer zurück; ihm wird der Brief, nicht ohne eine Überlegung, wie er auf ihn wirken könnte, zur Lektüre überlassen, wie es eben im geselligen Kreise üblich ist. Das Datum des Briefes und des Briefes im Brief sind gleich: „Ringenwalde, den 4ten Sept. 1788". Auf den Rand geschrieben, und deswegen auch auf beide Briefe bezüglich, steht die Bemerkung: „Die Antwort muß ich leider verbitten. Denn Ihr Brief wird mich nicht mehr hier finden." Das lässt zwei verschiedene Deutungen zu: entweder wird der Absender über längere Zeit dem Kränzchen fernbleiben, oder aber er wird es durch seinen baldigen persönlichen Besuch ergänzen.
bürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 2: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart: KlettCotta 1990, S. 1 1 ^ 6 , hier S. 21-23.
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Der Brief beleuchtet nicht nur scherzhaft die Transformation von SalongeselJigkeit in literarischen Ausdruck. Er illustriert durch die Schachtelung die besondere Eigenschaft des Briefes — zugleich Anwesenheit und Abwesenheit zu repräsentieren.67 Bis zum Schluss verweigert der Verfasser die Auflösung dieser Ambiguität selbst im empirischen Dasein. Angedeutet ist ferner, dass die zugleich gesellige und schriftstellerische Praxis notwendig und prekär zwischen den verschiedenen Vermögen der Personen changiert: der Vernunft auf der einen und der Empfindung auf der anderen Seite. Wie sie in Einklang zu bringen sind, scheint nicht ganz klar; deutlich ist jedoch, dass sich die Konkurrenz der verschiedenen Bedürfnisse und Möglichkeiten der Persönlichkeit auch sozial zwischen den konkurrierenden Kreisen der gelehrten und der galanten Gesellschaft, zwischen der Vernunftwelt der Männer (die ihren Affekten unterworden sind) und den empfindsamen Damen (die ihre Grammatik, Philosophie und klassische Bildung souverän beherrschen) bewegt.68 Vorläufig scheinen Gelehrtentum und Galanterie, vernünftige und amöne Lektüre, philosophische und literarische Rede, geselliges Gespräch und didaktischscherzhafter Dialog vereinbar zu sein. Der in sich kreisende Verlauf des Briefes und die ständige Fiktionsbrechung jedoch lassen die Spannungen nirgends in einem stabilen Gleichgewicht zur Ruhe kommen. So konsequent das literarische Spiel den Anschluss an die empirische Existenz sucht, so sehr setzt sie das gesellige Leben dem Verdacht aus, eine bloße Inszenierung, eine Fiktion zu sein. Über dem Brief stand Wieland; wer ihn rückblickend liest, setzt im Geiste die Namen der jungen Romantiker Friedrich Schlegel, Tieck, Solger darunter.
Eine Traumerzählung Der zweite große Brief an Henriette Herz aus dem Jugendbriefwechsel Humboldts vom 4. April 179669 ist eine Reminiszenz an die bereits zurückliegenden Jahre des „Tugendbundes". Humboldt übt sich noch 67
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Zum stellvertretenden Charakter des Briefes und zum Bezug auf Mündlichkeit vgl. Heinrich Bosse: Der Autor als abwesender Redner, in: Paul Goetsch (Hg.): Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich. Tübingen: Narr 1994, S. 277-290, hier S. 277f. Nach Nikolaus Wegmann liegt in der Wendung zur Geschlechterpsychologie der Erfolg der Empfindsamkeit als sozialem Orientierungsmuster. Sie bietet eine Antwort auf den Strukturwandel der Gesellschaft, speziell auf die Definitions- und Stilisierungsprobleme, die aus der Auflösung des „ganzen Hauses" zu erwarten sind. Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart: Metzler 1988, S. 125. JB, S. 500-502.
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einmal in der galanten Kunst der Anspielung, im EmpfindsamTugendhaften. Es handelt sich um eine Traumerzählung, nur auf den ersten Blick ein authentisches Protokoll halbbewusster Wahrnehmungen. Das Psychologisch des Traums benennt Humboldt knapp mit den „noch so wenig entdekten Regeln unserer Ideenassociation" und mit einem Tagesrest, der jedoch bereits in das Literarisch-Fiktive überführt: „Ich las in einem griechischen Weltweisen [...] die Worte des Alcibiades: ,Verstand und Tugend sind in einem Manne Verehrungs-, in einem Weibe Anbetungswürdig.',, Zu vermuten ist daher sogleich, dass der Traum nichts anderes als eine literarische Lizenz ist und in Gestalt einer Allegorie die zitierte Sentenz illustrieren werde. Auf das Literarische der Traumerzählung wiesen übrigens in den einleitenden Sätzen auch schon kritische Bemerkungen über „Buch" und „Vorrede", „Verfasser" und „Lesen" hin. Humboldt fährt jedoch fort: „Hören Sie gleich den Traum und urtheilen Sie selbst, meine Freundin." Der Übergang von bewusster zu unbewusster Wahrnehmung, vom Tagesrest zum Traum erfolgt nun nach einem im 18. Jahrhundert schon topisch gewordenen Schema: Von der Lektüre und dem Nachdenken über das Buch schweifen die Gedanken ab in eine phantastische Welt, die jedoch Merkmale des Gelesenen beibehält, hier des antikisierenden Szenarios.70 Der Träumende bewegt sich, geleitet von einem „ehrwürdigen Greis", in einer „prächtigen Stadt", über eine Brücke. Der weitere Trauminhalt ist leicht zu deuten: Die bemäntelten Gestalten mit Kronen, die „Königinnen" mit ihren „Liedern in fremden Zungen" und „Epigrammen auf die Tugend ihrer Mitmenschen" verkörpern eine arrogante, bigotte Adelsgesellschaft (eine ruft dem Träumenden zu: ,yAb, Mr. de ...."). Dagegen zieht der Wanderer bald den Umgang mit einer Gruppe von drei Gestalten vor, die zunächst für Jünglinge gehalten, dann als „Gesellschaft von Damen" erkannt werden. Der Leser assoziiert die drei Grazien, und da von Pomeranzen die Rede ist, den Garten der Hesperiden, schließlich — nachdem eine ausdrücklich als „groß und majestätisch schön, wie Minerva" bezeichnet wird — das Urteil des Paris. Die Damen sind unschwer als Henriette Herz (Minerva) und zwei ihrer Freundinnen zu erkennen, vielleicht Rahel Levin und Dorothea Veit, durchaus keine Aristokratinnen also; ihre Mäntel — weiß, veilchenblau und schwarz mit rosigem Futter — weisen auf die zum Teil verborgenen Tugenden hin; wogegen die stolzen Königinnen purpurne Mäntel tragen. Sie alle treffen auf ein „unglükliches Mädchen, das Räuber gemißhandelt hatten", worauf sich der Hochmut der Purpurnen in 70
Vgl. Thomas Koebner: Lektüre in freier Landschaft. Zur Theorie des Leseverhaltens im 18. Jahrhundert, in: Leser und Lesen im 18. Jahrhundert, Heidelberg: Winter 1977 (=Beiträge zur Geschichte der Literatur und Kunst des 18. Jahrhunderts, Bd. 1), S. 40-57.
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eitlen Allüren, die Liebenswürdigkeit der drei Damen im Abwerfen der Mäntel, der buchstäblichen Enthüllung von Tugenden glänzend bewährt. Der Träumende jubelt: „Ich habe Menschen gefunden!", und verwendet damit jenes emphatisch aufgeladene Schlagwort der Aufklärung, das weit mehr als „Königin" oder „Dame" besagen will. Die Androgynie der Gestalten, besonders der Minerva/Henriette wird am Ende noch einmal präzisiert: „betrachte dies Bild. Die Natur wollte einen Mann schaffen, aber sie vergriff sich im Thone und bildete ein Weib." Der greisenhafte Cicerone verwandelt sich vor den Augen des Wanderers wundersam in einen Jüngling, der sich jedoch der Umarmung als flüchtiges Traumbild entzieht — vielleicht eine Anspielung auf die nur augenblickshafte Gegenwärtigkeit der antiken Weltweisheit in der modernen Zeit. Ein später angefügter Nachsatz erläutert weiter die Bezüglichkeit des Traums auf den „Tugendbund" der Berliner Freunde: „Wer nicht mit uns denkt, empfindet und spricht, wird schwerlich diesen räthselhaften Traum errathen". Der Traum sei „eine unreife Frucht", den „Schlüssel verliehre ich nicht." Es geht um ein briefliches Kompliment, zugleich aber auch um eine allegorisch-didaktische Erzählung. Das Psychologische der Traumsituation ist dennoch nicht völlig eliminiert — denn die von den niederen Seelenvermögen geleiteten Ideenassoziationen, die Phantasien schaffen den Übergang zu der Kreativität des Poetischen und zur freieren Bildlichkeit der Allegorie, so standardisiert sie im übrigen sein mag. Es handelt sich um eine Illustration des Zusammenhangs von Gefühl, Verstand und Tugend („denken, empfinden, sprechen"), die in den Damen des Tugendbundes und ihrer Androgynie verkörpert ist. Erst die geglückte Verbindung von Ratio und Liebenswürdigkeit, von Männlichem und Weiblichen vollendet den „Menschen". Um sich darzustellen und zu verwirklichen bedarf dieses Menschliche zum einen der Freundschaft und Geselligkeit, zum anderen eines symbolischen, vernünftigen und empfindsamen Ausdrucks, der eben nur in der literarischen Rede gegeben ist. Auch hier also wieder ein fast zwingender Zusammenhang zwischen Geselligkeit, Lektüre und literarischer Produktion. Handelt es sich bei Humboldts Ausflügen ins Galante, ins Empfindsame, ins Scherzhafte und Allegorische seiner Briefe lediglich um eine Episode, so wie der enge Zusammenhang zwischen Autorschaft und Geselligkeit, oder finden sich Spuren oder Konsequenzen jener so zeittypischen Komplexe in seinem späteren brieflichen oder gar publizistischen Werk? Einige Thesen können spätere Überlegungen im Hintergrund begleiten. Erstens: Humboldt ist sich seit seinem frühesten intellektuellen und schriftstellerischen Engagement eines sehr engen Zusammenhangs zwi-
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sehen den „schwachen" Institutionen der Geselligkeit in definierten regionalen Zirkeln auf der einen und einer zunächst aus persönlichen Relationen erwachsenden Öffentlichkeit von Autoren und Lesern bewusst. Dies bleibt so bis in seine spätesten Jahre, in denen er, sicherlich auch schon gegen die zunehmende Anonymität des Marktes, auf der Nähe persönlicher Beziehungen und literarischer Praxis besteht. Dies führt bis zu Anklängen an freundschaftliche Zusammenhänge noch vor jeder denkbaren Scientific Community im Kosmos. Zweitens: Humboldts jugendliche Erfahrung von Geselligkeit und literarischer Produktivität widerstrebt vorerst der später zunehmenden sozialen Differenzierung von Autoren und Publikum. Gewiss sind Texte nach Gattungen zu unterscheiden, poetische von gelehrten, unter diesen natürlich auch botanische von chemischen, doch scheint „Philosophie" am Ende des 18. Jahrhunderts noch oder sogar mehr denn je ein Integrationskonzept für die „gebildeten Stände" darzustellen.71 Das Publikum auch von Schriften zur Naturforschung ist nicht weiter segmentiert, als es sich in den Teilnehmern der Gesellschaften, etwa bei Marcus Herz, darstellt. Wo Humboldt sich an ein spezielleres Publikum wendet, wie etwa in seinen mineralogischen Rezensionen, geschieht dies doch in der Allgemeinen Literaturzeitung". Die soziale Differenzierung hat in der Zeit von Humboldts Jugendbriefen eben noch nicht zur Ausbildung autonomer Subsysteme geführt, literarischer, wissenschaftlicher, pädagogischer, familialer. Wieweit dies bis Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich restlos der Fall sein wird, steht in Frage.72 Drittens: Eine Funktion dieser wenig ausgeprägten Segmentierung des Publikums ist die Vorliebe für das Medium Brief als Übergang zwischen geselliger und literarischer Praxis. Nicht nur sind in Humboldts Briefen vielfach Vorstufen seiner Publikationen zu erkennen; Zitate aus Briefen, die auch von der charakteristischen Briefrhetorik nicht absehen, werden auch später unmittelbar in Druckwerke übernommen. Zusätzlich kann die Kultur des Gesprächs, die in den publizierten Schriften als Anschein von Mündlichkeit, zumindest als Rhetorizität wiederkehrt, als Zeichen einer 71
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Vgl. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems, S. 55: Er spricht von „einer Vielzahl kommunikativer Uberbriickungen, die noch im 18. Jahrhundert die Wissenschaft mit einem breiten außerwissenschaftlichen Publikum verbinden. [...] Der klassische Kandidat für die Repräsentation der Wissenschaft in der Öffentlichkeit ist die Philosophie." Der Prozess der sozialen Differenzierung erscheint dabei wesentlich widerständiger und uneindeutiger, als dies Siegfried J. Schmidt suggeriert, wenn er sagt, mit der „Autonomisierung des Literatursystems in Form einer faktischen Anerkennung sozialer Selbstreferentialität" [würden] „religiöse, pädagogische, wissenschaftliche, philosophische und ökonomische Ansprüche konsequent als literarisch nicht relevant eliminiert." (Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 24).
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noch geringen Aufteilung von Diskursen und Publika gelten.73 Während das beginnende und mittlere neunzehnte Jahrhundert sich zunehmend auf Fachsprachliches und Expertenrede bezieht, versucht Humboldt, zumindest in einem Teil seiner Schriften und passagenweise, dem Ideal nichtspezialisierter Mündlichkeit nachzukommen.74 Viertens: Das Nebeneinander von gelehrter Gesellschaft und Salongeselligkeit, die sich in den Jugendbriefen als teils problematisch, teils glücklich darstellt, versucht Humboldt bis in seine letzten Lebensjahre zu praktizieren; im Interesse der allgemeinen Verbreitung von speziellen Kenntnissen, im Interesse aber auch der Praxisnähe von gelehrtem Wissen; eine Verquickung von Wissen und „Welt", durchaus auch im Sinne des Mondänen, ist Humboldts Anliegen.75 Er steht damit in der Tradition des „Weltmannes" bei Christian Thomasius.76 Die Gesprächskultur der Empfindsamkeit77 wird von Humboldt über die Salongeselligkeit im Paris
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Zum Zusammenhang von Konversation und Gelehrtentum im 18. Jahrhundert vgl. Wolfgang R. Langenbucher: Das Publikum im literarischen Leben des 19. Jahrhunderts, in: Der Leser als Teil des literarischen Lebens, Bonn: Bouvier 2 1971 (= Forschungsstelle für Buchwissenschaft an der Universität Bonn [Hg.]: Kleine Schriften, 8), S. 52-84, hier S. 60f. Vgl. auch Roger Chartier: Der Gelehrte, in: Michel Vovelle (Hg.): Der Mensch der Aufklärung [1990], Frankfurt a.M.: Fischer TB 1998, S. 122-168, hier S. 141-146, auch S. 153. So bewahren auch sonst im 18. und 19. Jahrhundert viele Publikationen in der Tradition der Rhetorik den Charakter des Gesprächs, auch zwischen Lehrer und Schüler oder Freunden bei, die Möglichkeit der Dialektik didaktisch nutzend. Vgl. Sigrun Thiessen: Die Neuordnung der Wissenschaften, in: Michael Heidelberger und ders. (Hg.): Natur und Erfahrung. Von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Wissenschaft, Reinbek: Rowohlt 1981 (Deutsches Museum: Kulturgeschichte der Naturwissenschaft und Technik), S. 231. Zur prekären Trennung von Wissen und Lebenswelt im Zusammenhang mit einer zunehmenden Verschriftlichung der Kommunikation vgl. Markus Fauser: Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland, Stuttgart: M+P Verlag für Wissenschaft und Forschung 1990, S. 442. Auch sonst bei Fauser Grundlegendes zum Zusammenhang von Mündlichkeit, Geselligkeit, Brief und Literatur. Hans-Georg Gadamer betont sogar angesichts der Trennung von Lebenswelt und Wissen in der modernen Wissenschaft den „Totalitätscharakter, der im Sprechenkönnen und im Suchen und Finden des kommunikativen Wortes uns alle zu einer menschlichen Gesellschaft zusammenschließt". Hans-Georg Gadamer: Die Ausdruckskraft der Sprache. Zur Funktion der Rhetorik für die Erkenntnis, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt 1979,1, S. 45-55, hier S. 54. „Der Grund aller Gesellschafften ist Conversation", so Thomasius. Gert Ueding zitiert ihn, um den engen Zusammenhang von Rhetorik und Popularphilosophie zu illustrieren. Gert Ueding: Rhetorik und Popularphilosophie, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 1980, S. 112-134, S. 127. In der Gesprächskultur des 18. Jahrhunderts sieht der Herausgeber der Humboldtschen Gespräche auch den Ursprung seiner notorischen Begabung für die Konversation. Gespräche Alexander von Humboldts. Herausgegeben im Auftrage der Alexander von HumboldtKommission der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin von Hanno Beck, Berlin: Akademie-Verlag 1959, S. XIX.
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des frühen 19. Jahrhunderts78 bis in die preußische Hofgesellschaft der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre getragen. Fünftens: Die auf das Androgyne des ganzen Menschen projizierten menschlichen Vermögen des Verstandes und Gefühls bleiben auch in späteren Schriften gegenwärtig. Das Subjekt der Erkenntnis ist in Humboldts Schriften stets bedacht, und zwar nicht ausschließlich als Verstandeswesen; Empfindung und Gefühl behalten als historische Vorstufen der Wissenschaft ihr Recht.
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Wegen seiner souveränen Konversation wird Humboldt sogar in Balzacs Louis Lambert von 1833 literarisch verewigt. Vgl. Charles Dedeyan: Balzac et Alexandre de Humboldt, in: L'Annee balzacienne. Nouvelle Serie 18 (1997), S. 277-288, hier S. 280.
Zur Genese von Autorschaft aus dem empfindsamen Briefwechsel Elemente der Empfindsamkeit in den Jugendbriefen G o t t ! W i e kann m a n sich so herzlich lieben u n d so w e i t v o n e i n a n d e r g e t r e n n t sein: D o c h d a ß ist meine ewige Palinodie. W e n n ich Lust hätte T r ä u m e zu erzählen, so w ü r d e ich D i r sagen, d a ß ich v o r i g e N a c h t v e r g n ü g t e r zugebracht habe, als ich nun s c h o n m a n c h e n Heben T a g durchlebte. Ich w a r mit D i r , mit M e z n e r u n d ich glaube mit n o c h jemand der unsrige z u s a m m e n u n d w i r f r e u t e n uns alle so innigst, uns zu sehen! 1
Die Kehrseite der Privatgeselligkeit, die sich im Vorfeld literarischer Öffentlichkeit zusammenfindet, spricht sich in diesem Brief des neunzehnjährigen Humboldt an den Freund Wegener vom Oktober 1788 aus. Von den freundschaftlichen Verbindungen führt der Weg dabei nicht ins Publikum, sondern nach innen, in die Tiefen der Seele. Die Traumerzählung ist in diesem Fall nicht ein galantes Spiel; sie sucht die Semantik des Wesentlichen. Die Adressaten des Gefühlsüberschwangs sind in den Jugendbriefen vornehmlich, so auch im zitierten Beispiel, der von der Universität Frankfurt/Oder befreundete Theologe Wilhelm Gabriel Wegener (seit 1788);2 weiter der Geologe und spätere Jurist Carl Freiesleben ab 17923 und ab 1794 Reinhard von Haeften4, der Begleiter auf einer ausgedehnten Reise durch die Schweiz, Italien und Österreich. Die Empfänger der vertraulichsten Briefe lösen sich offenbar ab; für Humboldt scheint es also in gewisser Weise jeweils eine Exklusivität der Zuwendung gegeben zu haben. Dennoch ändert sich die Sprache der Briefe, von bestimmten Nuancen abgesehen, kaum im Verhältnis zu den verschiedenen Freunden. Tatsächlich handelt es sich um eine in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weit verbreitete, bis zur Eintönigkeit wiederkehrende Rhetorik empfindsamer Freundschaftsbekundungen.5 So hat man diese Briefe 1 2
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JB, S. 30. Weitere Briefe an Wegener, die Merkmale der Empfindsamkeit aufweisen: 8.5.1788; 9.6.1788; 3.7.1788; 12.8.1788; 29.9.1788; 12.10.1788; 12.12.1788; 27.12.1788; 27.1.1789; 24.-27.2.1789; 27.3.1789; 16.-17.8.1789; 10.1.1790. Briefe vom 2.3.1792; 7.3.1792; 19.3.1792; 10.4.1792; 21.5.1792; 5.6.1792; 6.7.1792; 6 . 7.9.1792; 9.4.1793; 20.1.1794; 20.-21.11.1794; 14.12.1795; 2.10.1796. Briefe an Haeften vom 19.12.1794; 1.-4.1.1796. Der Brief an Haeftens Verlobte Christiane von Waidenfels vom Oktober 1795 gehört in den Kontext. Einige Standardpublikationen zur Empfindsamkeit bilden den Hintergrund für die Darstellungen dieses Kapitels. Sie seien einleitend genannt; in Fragen spezifischer Thesen
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Humboldts auch in das Umfeld des Göttinger Hains,6 des Sturm und Drang,7 der Romantik8 gestellt, meist unter der Maßgabe, dass es sich um alsbald abgelegte jugendliche Manierismen gehandelt habe.9 Das durchaus Zeitverhaftete, fast Schablonenhafte und historisch beinahe Überholte der empfindsamen Briefrhetorik 10 in Humboldts Jugendbriefen macht freilich nicht jede Überlegung, welche Rolle sie für seine schriftstellerische und wissenschaftliche Karriere spielen könnten, von Anfang an überflüssig; zumal es sich hier nicht nur um ein stilistisches Phänomen handelt. An die Rhetorik des Gefühlsüberschwangs knüpfen sich Vorstellungen von Individualität, von Sozialität, von verschiedenen menschlichen Vermögen, von Bildung und publizistischem Wirken, deren Spuren sich in Humboldts Werken bis in spätere Zeiten, als von schwärmerischer Liebe zu Studiengenossen nicht mehr die Rede war, verfolgen lassen. Im Blick auf diese spätere schriftstellerische Tätigkeit seien also jene längst bekannten Merkmale empfindsamer Briefwechsel, und diesmal wieder am Beispiel eines Briefes an Wegener, rekapituliert: Innigst geliebter Bruder! Noch nie habe ich einen Brief von Dir erhalten, der sehnlicher erwartet und zugleich befriedigender für mich gewesen wäre, als der lezte, den Du mir schriebst. So eine Wärme in den Empfindungen, so eine Herzlichkeit im Ausdruk und dabei so viel Geradheit des Sinnes, so viel Adel der Seele, die sich in jeder Zeile äußerten, hat das froheste Gemisch von Empfindungen in mir erregt. Wie tief habe ich da nicht gefühlt, daß Freundschaft und Liebe die
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kann kurz auf sie verwiesen werden. Paul Mog: Ratio und Gefühlskultur. Studien zur Psychogenese und Literatur im 18. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 1976 (=Studien zur deutschen Literatur, 48); Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart: Metzler 1974; ders. (Hg.): Theorie der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang, Stuttgart: Reclam 2003; Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart: Metzler 1988; Lothar Müller: Herzblut und Maskenspiel. Über die empfindsame Seele, den Briefroman und das Papier, in: Gerd Jüttemann u.a. (Hg.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Weinheim: Psychologische Verlags Union 1991, S. 267-290. Vgl. Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. I, S. 124. Vgl. Cedric Hentschel: Zur Synthese von Literatur und Naturwissenschaft bei Alexander von Humboldt, in: Heinrich Pfeiffer (Hg.): Alexander von Humboldt. Werk und Weltgeltung, München: Piper 1969, S. 31-95, hier S. 32. Vgl. Helmut de Terra: Alexander von Humboldt und seine Zeit, Wiesbaden: Brockhaus 1956 [amerikanische EA 1955], S. 30. Dagegen sieht Robert van Düsen keinerlei Auseinandersetzung Humboldts mit Wieland, dem Göttinger Hain, dem Sturm und Drang (Robert van Düsen: The Literary Ambitions and Achievements of Alexander von Humboldt, Frankfurt a.M.: Lang 1971 [=Europäische Hochschulschriften, I, 52], hier S. 22). Zur Konventionalität empfindsamer Briefrhetorik, ja zum rhetorischen Charakter des Phänomens Empfindsamkeit vgl. Wegmann: Diskurse, S. 34; Müller: Herzblut und Maskenspiel, S. 274. Sauder (Theorie der Empfindsamkeit, S. 19) stellt für das Jahr 1790 ein vorläufiges Ende der empfindsamen Tendenz fest, wobei aber eine erneute Rezeption Sternes in Deutschland ab 1795 zu einer „letzten Wiederkehr" der Empfindsamkeit geführt habe.
Zur Genese von Autorschaft aus dem empfindsamen Briefwechsel
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herrlichsten Geschenke der Gottheit sind. Warlich, mein Bester, der Mensch ist nicht bloß dazu gemacht, um die Tiefen der Spekulation zu ergründen. Das Empfinden, nicht das reflectiren ist der Genuß. Aber das Reflectiren ist da, um das Empfinden zu erhöhen, um den gebildeten Geist fähig zu machen, die Freuden des Lebens zu vervielfältigen. So stehen Fähigkeit zu denken und zu empfinden in einer unverkennbaren Harmonie. Je größer die Denkkraft, desto tiefer die Empfindung. Jenes ist Mittel, dies der Zwek. Der kalte Philosoph, der sein Herz den seligen Freuden des Umganges verschließt, ist in meinen Augen ein Flekken auf dem großen Plane der Schöpfung! Wenige Menschen hat die Natur so gefühlvoll erschaffen, als Dich, aber schon darum hat sie wenige so gut geschaffen als Dich. Glaube nicht, daß ich Dir schmeicheln wolle. Wie käme Schmeichelei in den Mund eines Freundes, wie ich Dir bin! Du schriebst mir ganz in der Sprache Deiner Empfindung, ich antworte Dir in der Sprache der meinen. Aber ob meine Empfindung der Deinigen gleich sei? Diese Frage entscheide ich nicht. Wenn ich die Sehnsucht messe, mit der ich auf jede Nachricht von Dir harre, glaube ich, daß kein Freund den anderen inniger lieben könne, als ich Dich liebe. Wenn ich den Gedanken an Dich recht lebhaft mache, wenn ich alle die Aeußerungen der Freundschaft in meine Seele zurükrufe, die ich aus Deinem Munde empfing, dann beunruhigt mich der Gedanke, daß ich Dich nicht so liebe, als Deine gute, weichgeschaffene Seele, als Deine Anhänglichkeit an mich es verdienen. Welcher sonderbare Widerspruch in meinen Empfindungen! Der Gedanke allein tröstet mich, daß diese Bangigkeit, diese Vorwürfe selbst Spuren ächter Freundschaft sind. Du schreibst, daß der Tag Dir ein Festtag sei, an dem Du Briefe von mir empfängst. Ich glaube es, weil Du es sagst; ich glaube es gern, weil dieser Gedanke für mich etwas süßes und fröhliches hat. Wie sehr erhöht er das Vergnügen, welches mir unsere schriftliche Unterhaltung gewährt. Oft, recht oft will ich Dir schreiben, lieber Bruder! Möchtest Du mich auch mit Deinen Briefen häufig erfreuen. Halte dies ja nicht für einen Vorwurf über Dein vergangenes Stillschweigen. Dieser Schmerz ist lange in meiner Seele vertilgt. Wer nach so einem Briefe, wie Dein lezter war, noch die Vergangenheit erwähnte, verdiente Deine Liebe nicht.11 Alle charakteristischen Merkmale des empfindsamen Briefes 12 sind da, typisch bis in ihre Paradoxie hinein: Auf der einen Seite das Aufgeregte, Atemlose, auf der anderen die vielen Wiederholungen, die Eintönigkeit des Gesagten. Hier die Superlative, dort das Ideal des rechten Maßes. Das Verschwörerische im Bündnis der wahrhaft liebenden Freunde gegen den Rest der „kalten" Welt und die für den Briefschreiber und Adressaten beanspruchte völlige Exklusivität 13 zum einen; zum anderen repräsentiert
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JB, S. 35f. Zu diesen Merkmalen vgl. Sauder: Elemente der Empfindsamkeit. Im einzelnen untersucht er das „Gleichgewicht von ,ΚορΡ und ,Herz"', sowie Varianten der Störungen dieses Gleichgewichts: „Leidenschaft, Enthusiasmus und Schwärmerei", „Langeweile und Empfindungslosigkeit", „Melancholie und Hypochondrie", darüber hinaus die Polarität von „Empfindelei" versus „Aufrichtigkeit" (S. 154ff.) und „Empfindsamkeit als Selbstgefühl der Vollkommenheit" (S. 21 Iff.); vgl. auch Wegmann: Diskurse, S. 82f. Zur Exklusivität empfindsamer Beziehungen, Wegmann: Diskurse, S. 111.
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das Außerordentliche der erlebten und erkannten Wahrnehmungen nichts geringeres als den „Plan der Schöpfung" und den Menschen schlechthin. Um die Authentizität des Gefühlten geht es, jedoch auch um ihre stetige Gefährdung durch eine mögliche Verdunkelung des Erlebten, durch Schmeichelei.14 Spontaneität wird behauptet,15 doch wird die Sehnsucht „bemessen", so wie auch sonst die Gefühle nach einer gewissen Kasuistik, nach ihrer Logik, ja nach ihrem Verhältnis zu Vernunft und Spekulation analysiert werden.16 Das Verhältnismäßige spielt überhaupt eine große Rolle: zum einen das Verhältnis von Schmerz und Freude, um das „Gemisch von Empfindungen", den „Widerspruch" in den Gefühlen. Dann geht es aber vor allem um die „Harmonie" zwischen „denken" und „empfinden".17 Die Freuden des Lebens sind der Zweck, doch nur auf dem Wege eines „gebildeten Geistes", die „Natur hat Menschen gefühlvoll erschaffen", doch der Genuss des Gefühls scheint eine Frage der Erziehung. Schließlich das Briefeschreiben, das sich selbst thematisiert, die Dialektik von Abwesenheit und Anwesenheit, von Erwartung und Erfüllung, von Leiden und Freude, auch die Spannung von reiner Gegenwart und beschworener oder rhetorisch verleugneter Vergangenheit.18 Eine ganze Reihe von weiteren Briefen wiederholt und variiert eher die genannten Topoi und Formeln, als dass sie Neues entwickelte. Nur noch die andere Seite des Enthusiasmus ist zu ergänzen, die „Melankolie", „Bangigkeit", „Gespensterfurcht", die „dunklen Ahnungen" und „Träume", die „Furchtsamkeit", die „wehmütigen" und „dunkeln Empfindungen",19 die auch schon in den Briefen an Wegener vorkommen, in denen
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Zur Dialektik von Aufrichtigkeit und Täuschung im empfindsamen Briefroman, vgl. Müller: Herzblut und Maskenspiel, S. 284f. In einem anderen Brief Humboldts heißt es: „Wenn ich an Dich schreibe, lieber Wilhelm, laß' ich mir nie so viel Zeit, über die Wahl des Ausdruks nachzusinnen. Im Geiste innigst mit dem Freunde verbunden, überlasse ich mich ganz den Ergießungen meines Herzens. Jeder Gedanke, der mir aufstößt wird niedergeschrieben. Daher so manches vielleicht schiefe oder halbwahre, oder unüberlegte Urtheil!" (JB, S. 39f.). Wegmann (Diskurse, S. 76) spricht von einer „systematischen Übung spontanen Schreibens" seit Gellerts Brieftheorie der Natürlichkeit. Müller (Herzblut und Maskenspiel, S. 273) von der Kultur einer „Natursprache", die sich unwillkürlich äußere. Zum Zusammenhang von empfindsamem Brief und explizitem psychologischem Interesse vgl. wiederum Wegmann: Diskurse, S. 120f. Um den Ausgleich zwischen beiden Ansprüchen als Leitthema der Aufklärung geht es auch bei Mog, Ratio und Gefühlskultur, wobei sich das Gefühl zum „Sturm und Drang" hin immer weiter aus seiner zunächst als natürlich angenommenen Vereinbarkeit mit Verstand und Tugend, also auch aus seiner sozialen Praktikabilität zu lösen scheint. Diese Elemente auch bei Müller aufgezählt: Herzblut und Maskenspiel, S. 274f. JB, S. 178, 36, 178, 34, 212, 375 und öfter.
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an Freiesleben j e d o c h markanter in E r s c h e i n u n g treten. 2 0 Seligkeit und Verzweiflung liegen hier dicht nebeneinander. A m 19. März 1 7 9 2 n e n n t der B r i e f an Freiesleben „ U n n e n b a r e F r e u d e " , „ein H e e r seeliger G e f ü h l e " , „jenes innige Vertrauen, jene Liebe, mit der sich M e n s c h e n und M e n s c h e n umfangen!" 2 1 I m selben B r i e f dann aber auch über den A b schied v o n Freiesleben: Ich kenne Ihr weiches Herz, Ihre fromme Anhänglichkeit an mich, ich sage alles, Ihre Liebe. Ich wußte, daß es eine erschütternde Szene geben würde, und solche Szenen muß man Ihnen, bei Ihrer Reizbarkeit, Ihrem Nervensystem nicht verlängern. Was in mir dabei vorging, darüber möchten Sie rechten. Denken Sie nur Ihren armen Freund von Ihnen weggerissen zu Baader [...] Die Prüfung war zu hart. Und doch bebte mich der Gedanke an, so allein in meinem öden Zimmer zu sein. Es war nicht bloß Melankolie, nein, recht eigentlich kindliche Gespensterfurcht, eine Art Ahnung von vielen Wehen, die ich Ihnen nicht merken lassen wollte, weil Sie sonst mit mir aufgeblieben wären und ich Sie größeren Erschütterungen ausgesezt hätte. Blutige Bergleute, der Hepner vom Segen Gottes H[erzog] A[ugust], der Stempel, auf dem er saß, alles schwebte mir vor. Ich zauderte immer, bis ich Baadern selbst nicht länger lästig sein konnte. Ich ging zu Hause. Mein Zimmer war mir ein ofnes Grab. Ich fragte meinen Bedienten ängstlich, ob mein Fahrzeug [die Bergmannsausrüstung] eingepakt sei. Denn Sie erinnern sich, daß ich davor immer große Gespensterfurcht hatte. Er antwortete zufallig: es liegt oben auf, soll ich es herausnehmen? Nein, wie stürmte ich in ihn hinein — und nun zu Bette, wo mich denn ein Flußfieber überfiel."22 D i e s also die Nachtseite der E m p f i n d u n g e n , die dunkle A n s i c h t der niederen Seelenvermögen, die in Freiberg eine besonders suggestive A t m o s p h ä r e vorfinden, den B e r g b a u mit seinen düsteren Impressionen. 2 3 Nicht nur Seligkeit und Verzweiflung, m e h r n o c h der G e n u s s des Leidens, die gemischten E m p f i n d u n g e n sind geeignet, das Selbstgefühl zu steigern. S c h o n der nächste B r i e f an Freiesleben v o m 10. April, ebenfalls den Abschied erinnernd, beleuchtet diesen Z u s a m m e n h a n g : 20
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Über die Analyse der dunklen Aspekte der Empfindungen in der Epoche vgl. allgemein Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung, Stuttgart: Metzler 1977; Wegmann: Diskurse, S. 87. J B , S. 176f. J B , S. 177f. Vgl. das Kapitel über „Das Bergwerk: Bild der Seele" in Theodore Ziolkowski: Das Amt des Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen, München: D T V 1994, S. 29— 81. Ziolokowski rekonstruiert den wissenschaftlichen und ökonomischen Aufschwung des Bergwesens in Deutschland um 1800, speziell auch der Freiberger Bergakademie, und die damit einhergehende Beschäftigung mit einer dem Bergbau endehnten Semantik und Symbolik, die für die romantische Literatur prägend werde. Es gehe um eine „archetypische Offenbarung geheimnisvollen Lebens unterhalb der Oberfläche der Erde" (S. 32). Weiter einnert Ziolkowski daran, daß dieser Symbolkomplex in gewissem Sinne ein Pendant zu demjenigen der Bergbesteigung bildet, das sich im späten 18. Jahrhunderts im Kontext des Alpinismus ausprägte (S. 34). Beide Sphären sind für Humboldts Laufbahn gleichermaßen folgenreich.
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Humboldts Erziehung zum Literaten D i e Z u k u n f t u m s c h w e b t e mich w i e die einbrechende Nacht, der A b s c h i e d v o n I h n e n schien mir der lezte G e n u ß dieses Lebens, ich sah mich v o n den zwei M e n s c h e n , f ü r die allein ich leben m ö c h t e , Ihnen u n d m e i n e m Bruder, w i e auf ewig getrennt. Ich weinte m e h r e r e S t u n d e n hinter einander u n d so sehr ich es zu v e r b e r g e n suchte, so fragte mich Reeden d o c h nach m e i n e n r o t h e n A u g e n . In jen e r Traurigkeit lag im G a n z e n d o c h ein g r o ß e r G e n u ß f ü r mich, ich fühlte mich selbst, meine Liebe zu I h n e n u n d die W ä r m e meiner Phantasie. 2 4
Zur Konstruktion von Subjektivität So weit, so typisch für die Epoche, so geradezu exemplarisch für die Rhetorik empfindsamer Briefe. Handelt es sich wirklich um eine ausschließlich standardisierte Briefproduktion, gehen die Beziehungen, in diesem Falle zu Wegener oder zu Freiesleben tatsächlich ganz in vorgegebenen Mustern auf? Zunächst einmal ist in den zitierten Briefen wie in mehreren anderen immer wieder die Feier freundschaftlicher Gefühle als solcher das Thema. „Es ist ein süßes Gefühl, seine Freunde loben zu können und gegen eine Seele, die für die Freundschaft empfänglich ist."25 Diese Emphase kann sich allerdings auf verschiedene menschliche Verhältnisse beziehen. Freundschaft und Liebe gehen in unserem Beispiel ohnehin ineinander über.26 Sie müssen nicht auf eine Person allein beschränkt sein, sondern erfreuen sich auch der kleineren Gruppe gleichgesinnter Freunde,27 ja selbst des Anblicks inniger Familienbande: „Wenn es ein froher Anbük ist, in der leblosen Natur den Einklang des manichfaltigen zu betrachten, wie viel wohlthätiger ist der Genuß, gute Menschen, in den engsten Banden der Liebe vereint, nach Einem Ziele geistiger Vollkommenheit streben, ja! sie diesem Ziele so nahe zu sehen! Diesen Genuß verschaffen Sie und Ihre Familie," schreibt Humboldt 1791 an einen Bekannten.28 Solange es nur den Uberschwang der Empfindung gibt, scheint es keine große Rolle zu spielen, auf wen er sich bezieht. Es sind 24 25 26
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JB, S. 179f. JB, S. 7. Vgl. Wegmann: Diskurse, S. 43, der in diesem Zusammenhang betont, dass Empfindsamkeit auch ein Mittel der Tugendübung, das heißt auch, der Dämpfung sexueller Energien sei. Vgl. auch die zu diesem Schluss kommenden Analysen empfindsamer Romane bei Mog, Ratio und Gefuhlskultur. Zugespitzt die These von der Verschiebung und Sublimierung von Triebenergien in Schriftlichkeit bei Albrecht Koschorke: Die „Schrift" gehe eine „Komplizenschaft mit der Ideologie von Tugend/Entkörperung/Seele" ein (Albrecht Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit, in: Hans-Jürgen Schings [Hg.]: Der ganze Mensch: Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992, Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S. 605-628, hier S. 612. Z.B. inJB, S. 3 0 , 3 7 , 1 5 7 . Johann Leopold Neumann, Sekretär beim Geheimen Kriegsratskollegium in Dresden, JB, S. 142.
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Beziehungen, die ihren Verlauf kulturellen Mustern verdanken, selbst wenn sie aus historisch einmaligen Verhältnissen erwachsen. Gegen diese Ansicht ist nun eingewendet worden, dass es sich bei den Beziehungen zu Wegener, Freiesleben und Haeften eigentlich um homoerotische Verhältnisse gehandelt habe.29 Die Frage ist nur, ob es sich, vor dem Hintergrund der epochalen Erscheinungen von Freundschafts- und Liebeskultur im Briefe, tatsächlich um ein striktes Entweder — Oder handelt. Mag es sich auch um homoerotische oder homosexuelle Beziehungen handeln, was hier weder zu widerlegen, zu beweisen, zu rechtfertigen oder zu entschuldigen ist: Ein erotisches Verhältnis würde sich im Kontext der Zeit vermutlich nicht wesentlich anders artikuliert haben, als in den sonst bekannten und auch hier vorliegenden empfindsamen Briefen, in denen Liebe und Freundschaft, die Beziehungen zwischen zweien, dreien und mehreren, die zwischen Männern, zwischen Frauen, zwischen Männern und Frauen sich eines so zum Verwechseln ähnlichen Vokabulars bedienen. Freilich gibt es — dies wäre zugunsten der Unkonventionalität des Verhältnisses zumindest mit Karl Freiesleben zuzuschreiben — in den Briefen an diesen Freiberger Herzensfreund zahlreiche Tilgungen, offenbar späteren Datums und von dritter Hand. Der Verweis auf die aus heutiger Sicht vielleicht exzentrischen Pläne aus dem Jahre 1794, den Freund Freiesleben zu einer gemeinsamen extensiven Reise in Gesellschaft des schwärmerisch verehrten Reinhard von Haeften und seiner Frau einzuladen, spricht wenig gegen die These von der Konventionalität des Sprachlichen und Geselligen, das in Humboldts empfindsamen Briefen vorliegt. Der empfindsame Kult von Freundschaft und Liebe verlangt indessen die Äußerung des Sentiments im Rahmen der tugendhaften Zärtlichkeit,30 die im Übrigen allgemein als Zeichen einer sublimierten Triebdynamik gedeutet wird.31 Von Individualität ist also nicht im Sinne der Außergewöhnlichkeit der in den Briefen repräsentierten Beziehungen und Gefühle, auch nicht im Blick auf einen profilierten Individualstil zu sprechen. Dagegen steht die eigene, individuelle Person im Mittelpunkt der Briefe, sofern sie sich 29
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Vgl. de Terra: Humboldt, S. 30: Man könne „ihm eine gewisse unnatürliche Veranlagung nicht absprechen. Die Mutter hatte ihn eben enttäuscht. Schon der Knabe suchte Ersatz für ihre Liebe, so zum Beispiel in der Natur." Vgl. auch die Andeutung bei Hanno Beck: Alexander von Humboldt, 2 Bde., Wiesbaden: Steiner 1959, Bd. 1, S. 43: „Zudem erschwerte auch die Bedeutung, welche die Freundschaft und deren damaliger Kult für ihn hatten, die Bindung in Form einer Ehe. Daran war viel Zeitbedingtes, das ihm insofern zum Schicksal werden mußte." Dass Gefühl und Tugend zugleich gemeint seien, wenn die Empfindsamkeit von „Herz" spricht, betonen Sven Aage Jorgensen, Klaus Bohnen und Per Ohrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik 1 7 4 0 - 1 7 8 9 , München: Beck 1990 (=Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 6), S. 172 Sauder: Theorie der Empfindsamkeit, S. 15.
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als Subjekt von Wahrnehmungen, Gedanken und Empfindungen darstellen kann. So spricht ein Brief an Freiesleben über ein „erhöhtes Gefühl seiner Individualität und alles das schöne [...], welches das Bewußtsein so zu lieben, und so geliebt zu werden, hervorbringt."32 Humboldts Äußerungen seines Gefühls und seine Überlegungen zu den Anteilen an Spekulation und Empfindung in seiner Persönlichkeit werden zu Manifestationen einer sich selbst bewussten Individualität. Freilich geschieht dies nicht völlig spontan, originär, abseits von kulturellen Leitbildern und starken gedanklichen Vorgaben. Im Gegenteil sind sie es gerade, die zwischen der Psyche des Einzelnen und den möglichen Gegenständen und Lesern schriftstellerischer Produktionen vermitteln. Zwischen dem empfindenden Individuum und der Öffentlichkeit, die sich mit dem Autor über Natur und Wissen verständigen kann, vermitteln verschiedene Darstellungen von Subjektivität,33 allesamt nachweisbar und deutlich expliziert in Humboldts Jugendbriefen. Subjektivität zum einen also in den geschilderten freundschaftlichen Beziehungen, in denen die Aktivität der eigenen Psyche erfahren werden kann und sich repräsentiert — wie es im Brief an Freiesleben hieß: „ich fühlte mich selbst, meine Liebe zu Ihnen und die Wärme meiner Phantasie."34 Die Erkenntnis der eigenen Persönlichkeit bedarf der Spiegelung in der befreundeten. Geübt wird die Kunst der Charakterisierung, die sich schließlich im Selbstportrait fortsetzt, zunächst nicht als nüchterne Analyse, sondern als emphatische Kundgebung des „Wesens". Wiederum über Karl Freiesleben im April 1792: Es ist d o c h etwas so großes, sich mit Innigkeit zu lieben, daß der G e d a n k e allein eine W e l t v o n F r e u d e n in sich schließt. Ich kann I h n e n nicht sagen, w e l c h e n ang e n e h m e n E i n d r u k Sie aufs neue auf mich gemacht haben, so eine unaussprechliche Milde u n d Weichheit, die durch Ihr ganzes W e s e n v e r s c h m o l z e n ist, so eine schüchterne Bescheidenheit, innere Thätigkeit u n d o p f e r n d e Liebe f ü r unsere W i s s e n s c h a f t e n u n d K ü n s t e [.. ,] 35
Um Anteile des Gefühlsmäßigen geht es jeweils besonders, eigentlich sogar um das Verhältnis von Verstand und Empfindung, eine fast formel32 33
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J B , S . 172. Zur Geschichte des erkenntnistheoretischen und psychologischen Phänomens der Subjektivität vgl. den Artikel: „Subjektivität", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, Bd. 10, Sp. 459-473. Dort auch der Hinweis auf die popularphilosophische Bearbeitung des kantschen „transcendentalen Subjekts", das sich selbst zum Gegenstand wird (Sp. 457). Dass die populäre Fassung einer solchen Erkenntnisphilosophie der Subjektivität für viele von Humboldts Konzeptualisierungen der Natur eine große Rolle spielen wird, werden spätere Kapitel noch ausführlich behandeln. J B , S . 180. Ebd.
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hafte Verknüpfung in Humboldts Briefen.36 Dabei weiß der Verfasser, dass er sich einiger Schlüsselwörter spätaufklärerischen Anthropologie und sogar der Ästhetik37 bedient. Zu den möglichen Kenntnissen Humboldts über die Anthropologie des Verhältnisses von Verstand und Empfindung jedoch später. Hier zunächst noch weitere Phänomene der Selbstbespiegelung im Porträt, in der Charakterisierung. Im Falle des Freundes Reinhard von Haeften erweitert sich die freundschaftliche Selbstbespiegelung im Gegenstand der Sympathie zu einer regelrechten physiognomischen38 Charakterisierung: Dieser Reinhard v. Ha[e]ften ist seit 1 Jahre mein einziger und stündlicher Umgang. Ich wohne mit ihm zusammen, er besucht mich auf dem Gebirge. Ich habe, um ihn ganz zu genießen, mich von aller übrigen Gesellschaft losgerissen, und ich lebe mit ihm hier gerade wie ich in Freiberg mit Ihnen lebte. Aus dem allen müssen Sie schon schließen, daß dies kein gewöhnlicher Mensch ist und daß er auch Sie interessieren muß. Ich bin schon 8 Meilen geritten, um ihn nur einige Stunden zu sehen. Er ist sehr groß, größer als gewöhnlich Männer sind, nur 22 Jahre alt, sieht aber gesezter als ich aus. Er hat ein außerordentlich merkwürdiges Gesicht, man hält ihn überall für einen der schönsten Männer, ich finde ihn auch schön, aber besonders sah ich nie so einen Ausdruk der Reinheit der Seele, der unaussprechlichsten Güte und Gefälligkeit in menschlichen Zügen als in den seinigen. Er sieht so tiefempfindend und spirituell aus, als er ist. Sie könnten aber Monathe mit ihm zusammen sein und ahndeten beides nicht. Er ist nicht glücklich im Ausdruk des gemeinen Lebens, beredt und unendlich schön redend im Affekt.
Und so weiter über eineinhalb Manuskriptseiten.39 Die Persönlichkeit Haeftens wird für den fast aus den Augen verlorenen Freund Freiesleben charakterisiert, indem Humboldt ihren Reflex auf seine eigene Person darstellt. Der Absender unterzieht sich dieser Mühe, um das unteilbare Gefühl zu verallgemeinern und dadurch Freiesleben für eine gemeinsame Reise zu gewinnen. Die eigene Individualität prägt sich also im Wechselverhältnis der ineinander gespiegelten Persönlichkeiten aus, in den Projektionen zwischen der grammatischen ersten, zweiten und dritten Person. Der Ausdruck der Subjektivität geht in ihre Analyse, die Analyse in ihre Objektivierung über. Bis zur Literatur der subjektiven Wahrnehmung und Empfindung, die jeden Leser als Individuum verpflichtet, ist es nicht mehr weit. 36
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JB, S. 35, 67 und 40: „Aechte Freundschaft ist, wie die Liebe, ein Werk der dunkeln Ideen. Erst wenn die Neigung gefaßt ist, kommt die Vernunft und berichtigt die Empfindung" OB, S. 40). So in Humboldts Brief vom 3.7.1788 an Wegener: „Dein lezter Brief [...] hat in mir sehr gemischte Empfindungen erwekt, die, wie die Aesthetiker sagen, freilich die angenehmsten sind" (JB, S. 20). Zum Interesse der Empfindsamkeit an Physiognomik vgl. Sauder: Empfindsamkeit I, S. 1 1 0 und 121. JB, S. 378f.
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Die gefühlte Natur und das wissenschaftliche Naturstudium Nicht nur in den Freunden spiegelt und objektiviert sich die Individualität des Briefschreibers, auch die Natur ist in den Jugendbriefen für den Schreibenden ein Anlass, sich auf sich selbst zu beziehen. Zunächst ergänzt der Naturgenuss den Genuss der Freundschaft, die Merkmale des Empfindsamen dehnen sich einfach auf den „Tempel der Natur" aus.40 Die literarische Reminiszenz und die philosophische Reflexion fehlen dabei nicht: „Eben komme ich von einem einsamen Spazirgange aus dem Thiergarten zurük, wo ich Moose und Flechten und Schwämme suchte, deren Sommer jezt gekommen ist", schreibt Humboldt am 25. Februar 1789 an Wegener, und weiter: Wie traurig so allein herumzuwandern! Doch hat auch von einer anderen Seite betrachtet, dies einsame in der Beschäftigung mit der Natur, etwas anziehendes. So ganz im Genuß der reinsten, unschuldigsten Freude, von tausenden von Geschöpfen umringt, die sich (seeliger Gedanke der Leibnizischen Philosophie!) ihres Daseins freuen, das Herz zu dem erhoben, der wie Petrarca sagt, muove le stelle e loro viaggio torto, e da vita alle erbe, a i musä, allepietre ... Solche Betrachtungen, lieber Bruder, versezen einen in eine süße Schwermuth! Mein Freund Willdenow ist noch der einzige, der dieses mit mir empfindet. Aber seine und meine Geschäfte hindern uns, oft Hand in Hand in den großen Tempel der Natur zu treten.41 Hier stellt sich die Empfindung noch ganz an die Seite einer teleologischen Ansicht der Natur, wobei die Beziehung auf literarische Topoi ausgesprochen ist. Deutlicher zeigt ein weiterer Brief an Wegener aus diesem Jahr, wie sehr die Beschäftigung mit der Natur zur Wahrnehmung eigener Individualität beiträgt: Daß Du Botanik in Erholungsstunden treiben willst, freut mich unendlich. In Deiner Einsamkeit wirst Du kein anziehenderes Studium finden, das Dir reinere und wohlfeilere Freuden gewährte. Die Pflanzen (ohne Empfindelei42 zu reden) werden unsere Freunde, unter denen uns einige werther als andere sind. Auf jedem einsamen Spaziergange wandelt man wie mitten unter seinen Bekannten. Welche Freude, wenn man auf einmal viele seiner Lieblinge zusammen findet. Unbedeutende Gegenden erhalten Interesse für uns, weil wir hier zuerst eine Pflanze entdekten, die uns noch unbekannt war, weil wir dort die Blume vermissen, die vor kurzem noch blühte.43 Die Pflanzenwelt ist also auf die Phänomene der Freundschaft, ja auf die Sozialität des Menschen überhaupt bezogen, und zusätzlich auf ein wichtiges Element der Selbsterfahrung, die biographische Kontinuität. Doch 40 41 42 43
Vom typischen „Ineins von Naturbeschreibung und Empfindungsprotokollen" in der Empfindsamkeit spricht Wegmann, Diskurse, S. 93. JB, S. 40f. Zur sorgfältigen Abgrenzung wahrer Empfindsamkeit von Empfindelei vgl. Müller, Herzblut und Maskenspiel, S. 272f. JB, S. 48.
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auch diese, wie man meinen könnte, speziell für Humboldt bezeichnende Kombination von Empfindsamkeit und Botanik hat ihre kulturellen Antezedentien. Das Botanisieren ist in dieser Zeit eine gesellschaftsfähige Beschäftigung, die keineswegs in der strengen Übung von Linneschen Klassifikationen aufgeht, sondern zum Anlass für eine gefühlvolle Selbsterfahrung in der freien Natur wird. So führen es Rousseaus Reveries du promeneur solitaire von 177844 vor, in denen Autobiographik, Kultur des Gefühls und Botanik sich verschränken; das Salonfähige der botanischen Beschäftigung dagegen hatte sich mit großem Erfolg schon in Rousseaus 1781 in deutscher Ubersetzung erschienenen Botanik für Frauenzimmer45 ausgesprochen. Auch Humboldt ist die Beschäftigung mit Botanik zur „subjektiven Bildung des Verstandes" nicht fremd.46 Noch deutlicher als im Brief vom Februar 1789 ist der Zusammenhang von Empfindsamkeit, Autobiographie und Landschaft, von Selbstreflexion und Natur in der Schilderung Tegels für den Freund Freiesleben vom Juni 1792. Eine regelrechte Landschaftsbeschreibung, in der das charakteristische Wort „mahlerisch" nicht fehlt, endet in der Konfession: Wenn ich mich noch je2t, da ich frei und ungestöhrt hier lebe, hingeben will in den Genuß, den die reizende, anmuthsvolle Natur hier in so reichem Maaße gewährt, so werde ich zurükgerufen durch die widrigsten Eindrükke, durch Erinnerungen an meine Kinderjahre, die fast jeder leblose Gegenstand hier rege macht. So wemüthig solche Erinnerungen aber auch sind, so interessant werden sie einem zugleich auch durch den Gedanken, daß gerade dieser Aufenthalt so viel zu der jezigen Stimmung meines Charakters, zu der Richtung meines Geistes auf das Studium der Natur p. beitrug. Doch genug hiervon. Ich ermüde Sie durch Betrachtungen über mich selbst.47
Ein weiteres Motiv verbindet den Genuss von Natur und Landschaft mit den Zeichen der Empfindsamkeit, es ist Zivilisationskritik auf den Spuren Jean-Jacques Rousseaus,48 eine neue Variante jener Behauptung von Freundschaft und Liebe gegen die Kälte und Berechnung der Welt, von
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Jean-Jacques Rousseau: Reveries du Promeneur solitaire [1778], in: ders. : Oeuvres completes I, Paris: Gallimard 1959, speziell die zweite Promenade, S. 1002-1010. J.J. Rousseaus Botanik für Frauenzimmer in Briefen an die Frau von L***. Aus dem Französischen übersetzt, Mannheim 1781. Französische Erstausgabe unter dem Titel Lettres sur la botanique, in: Melanges: Geneve 1781, vgl: Jean-Jacques Rousseau : Oeuvres completes, Bd. 4, Paris: Gallimard 1969, S. 1149-1195. JB, S. 41. Geradezu als Rousseaunachfolger bezeichnet Hinrich Hudde Alexander von Humboldt. Hinrich Hudde: Naturschilderung bei den Rousseaunachfolgern, in: Klaus Heitmann (Hg.): Europäische Romantik II, Wiesbaden: Athenaion 1982, S. 135-152 (= Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, hg. von Klaus von See, Bd. 15). JB, S. 192. Vgl. auch den Brief an Freiesleben vom 14.12.1795, JB, S. 473. Deutlich exponiert in Jean Jacques Rousseau: Discours sur l'origine et les fondements de l'inegalite [1755], in: ders.: Oeuvres completes, Bd. 3, Paris: Gallimard 1964, S. 109-236.
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der in anderen Briefen schon die Rede war. 49 Natur und Landschaft versichern die empfindende Seele ihrer selbst im Gegensatz zur Korruption des zivilisierten Lebens, so wie besondere, als wahr erlebte Augenblikke der Freundschaft. An die Ende des 18. Jahrhunderts längst zum Topos gewordene Heimat Rousseaus, an die klassische Szene seiner Entdeckung des Landschaftsgefühls, den Genfer See und die Alpen, 50 erinnert Humboldt: Guter, Herzens-Karl, ich sehe Dich noch immer als das hohe Ziel moralischer Reinheit an, welches ich nie erreiche. Es ist eine gewisse Milde, Sanftheit, gefällige Ruhe, eine Pflanzenreinheit [!] in Dir, welche mich allein ewig an Dein Wesen binden könnte. Der Mensch ist ein Produkt seiner Eltern und der Zeit. Menschen verderben den Menschen. Ich bin mit jedem Jahre schlechter geworden, mit dem meine Verhältnisse verwikkelter wurden. Aber ich werde sie vereinfachen und — aus den Palmenwäldern kehre ich zurük, wie ich fühle, daß ich noch werden kann. [...] Herzensjunge, wäre ich eine Stunde lang an Deiner Seite, nezte Deine Hand mit meinen Thränen, und dieser Gedanke wäre weg aus Deiner Seele. War es den Abend bei Lausanne am Genfer See, den Himmelanstrebenden Felsen gegenüber, war's da nicht in uns, wie es in der Granatenschenke war? 51
Die Anspielungen auf die Palmenwälder und auf die Granatenschenke scheinen realistische Motive aus den Jahren der Reisevorbereitungen oder sentimentaler Erinnerungen zu sein, und doch sind gerade diese Wörter literarisch besetzt. Schon längst verband sich mit der Rousseauschen Zivilisationskritik die Vorstellung von der Flucht in ursprüngliche, und darum auch ferne und exotische Länder. In einer in Kuba verfassten Erinnerung an den Londoner Aufenthalt des Jahres 1789 ordnet Humboldt denn auch sein damaliges Fernweh viel mehr einer adoleszenten Krise zu, gewissermaßen einem exemplarisch ausgelebten Werther-
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Zur Kritik am Weltleben, an der höfischen Sphäre der Aristokratie, zum Preis des Landlebens und der Zurückgezogenheit vgl. Mog: Ratio und Gefuhlskultur, S. 42f.; Wegmann: Diskurse, S. 51 f. Ein „wunderschöner Prospekt" aus den Alpen auch in Humboldts Brief an Christiane von Waidenfels vom Oktober 1795, JB, S. 337. Zur Entdeckung der Alpen als Modell der natürlichen Landschaft schlechthin vgl. Richard Weiss: Das Alpenerlebnis in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Horgen-Zürich, Leipzig 1933; Marjorie Hope Nicolson: Mountain Gloom and Mountain Glory. The Developement of the Aesthetics of the Infinite, New York 1963 [1959]; Dieter Groh und Ruth Groh: Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen. Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung, in: Heinz-Dieter Weber (Hg.): Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz 1989, S. 53-95. JB, S. 528. Für Humboldt war Rousseaus Zivilisationskritik offenbar schon zum Cliche geworden. Mit kritischem Blick auf Ernst Platner äußert er sich über Leute, die „in den Stand der Natur zurüktreten, a la Rousseau auf allen Vieren gehen, und wie die Philosophen im Luzian Erdschwämme suchen" (Brief an Sömmering vom 28.1.1791, JB, S. 122).
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Gefühl, als einem spezifischen wissenschaftlichen Interesse.52 Die typische Zivilisationskritik artikuliert sich eben als Fernweh und exotische Phantasie. So sehr die empfindsamen Briefe um die eigene Subjektivität und vermeintlich nur private Belange kreisen: In ihrer Rhetorik und Topik tragen sie die Bausteine jener Verallgemeinerung in sich, die Subjektivität als Motiv öffentlicher, vor allem literarischer Kommunikation legitimieren. Goethes Werther war seit 1774 zu einem weltliterarischen Erfolg geworden, weil er einen radikalen Subjektivismus kunstvoll gestaltete. Humboldt fand den Übergang von seiner privaten Subjektivität in die öffentliche Sphäre über einen anderen Prozess der Gestaltung, den er an seiner eigenen Person vornahm. Es handelt sich um die Stilisierung der eigenen Individuation zum Bildungsprozess. Insofern die eigene Bildung an der Bildung teilhat, darf alles in sie hineingezogen werden, darf sie alles aus sich hervorrufen: Das Publikum, die Literatur, die Natur, den Kosmos. Die individuelle Bildung und der „Übergang ins Litterarische" Die Beschäftigung mit der Naturwissenschaft ist vor dem Hintergrund dieser empfindsam-spätaufklärerischen Thematisierung von Subjektivität nicht ein spezifisches Wissensgebiet, auf das sich die intellektuellen Energien des jungen Humboldt konzentrieren, nachdem er eine Phase polyhistorischer und fast enzyklopädischer Studien auf den verschiedensten Gebieten, der Altertumskunde, der Sprachen, der Philosophie, Ästhetik, der politischen und Kameralwissenschaften durchlaufen hat. Die wissenschaftliche Arbeit gehört zur Persönlichkeitsentwicklung im umfassenden Sinne. Ja die Erkenntnis des Menschlichen erfährt in dieser Epoche selbst wesentliche Impulse von der naturwissenschaftlichen Analyse von Körper und Seele. Humboldt geht sowohl den Weg von einzelnen Experimenten und Forschungen zu einem umfassenden Menschenbild,53 so wie er andererseits den Status seiner speziellen Studien im Zusammenhang einer umfas52
53
A. v. Humboldt: Aus meinem Leben, hg. von Kurt-R. Biermann, München: Beck 1987, S. 39f.: „Ein Wunsch wie dieser, der mich ewig begleitete, das Streben nach Ländern, in denen wir durch grenzenlose Räume von den unsrigen getrennt sind, schmeichelt der jugendlichen Eitelkeit wegen der Energie, in der wir uns selbst vorstellen, aber es gibt unserm Wesen zugleich eine melancholische Stimmung, in der wir die ,Wonnen der Tränen' fühlen. [...] Ich wäre in die fernste Südsee geschifft, und hätte nie einen wissenschaftlichen Zweck erfüllt. Alles, was auf bürgerliche Verhältnisse Bezug hatte, wurde mir verächtlich, jede Gemächlichkeit des häuslichen Lebens und der feineren Welt ekelte mich an. Ich lebte in einer Ideenwelt, die mich von der wirklichen abzog. [...] Ich weinte oft, ohne zu wissen warum, und der arme Forster quälte sich zu ergründen, was so dunkel in meiner Seele lag." Vgl. dazu auch das Kapitel über Humboldts Schrift Versuche über die gereifte Muskel- und Nervenfaser, in dem auch von seinen Selbstversuchen die Rede ist.
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senden Persönlichkeitsentwicklung reflektiert. Zum Beispiel in einem Brief v o m Mai 1792, der nicht zufällig an den Reformpädagogen Joachim Heinrich Campe gerichtet ist. Campe hatte die konsequente Kultivierung auch aller affektiven Vermögen mit dem Ziel einer harmonischen Entfaltung des ganzen Menschen in programmatischen Schriften gefordert. Wenn Wilhelm von Humboldt diese Vorstellung allseitiger Ausbildung auf die Formel gebracht hat, so bewegt er sich deutlich in der Nähe seines Lehrers Campe, mit dem er 1789 das revolutionäre Paris bereiste: „Der wahre Zweck des Menschen [...] ist die höchste proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßlichste Bedingung." 54 So steht es in den Ideen einem Versuch, die Gründen der Wirksamkeit des Staates ψ bestimmen, mit denen Wilhelm genau in dem Jahre 1 7 9 2 befasst war, in dem .Alexander in so unverkennbarer Nähe zu ähnlichen Konzepten an ihren gemeinsamen Lehrer Campe schrieb: Mein Leben, seitdem ich Hamburg verließ, ist äußerst unruhig, im Ganzen aber angenehm, wenigstens lehrreich und prüfend für mich gewesen. Ich war ein Jahr lang auf der Bergakademie zu Freiberg, ich machte Fußreisen nach Böhmen, dem Sächsischen Erzgebirge, der Ober-Lausitz p. Unter sehr einfachen Verhältnissen lebend, fand ich wenig Menschen, mit denen ich ganz harmonirte, viele aber, die mich liebten und denen ich fühlte, etwas zu sein. Dabei entwikkelt sich denn am meisten unser Inneres, man empfindet, daß man sich selbst etwas werth ist, wenn man es anderen wird, man wird gleichgültiger für äussere Verhältnisse, deren Wechsel einen weniger trift, empfänglicher für moralische Eindrükke und schafft sich gleichsam eine innere Welt, in der man thätig und glüklich lebt. Ich fühle, daß ich in diesen lezten Jahren an Selbständigkeit zugenommen habe. Mit wenigen Bedürfnissen genieße ich die Unabhängigkeit, deren unter allem Zwange größerer und kleinerer politischer Verhältnisse ein denkender Mensch fähig ist, eine Freiheit, die wir uns selbst schenken und die unvergänglich, wie unser Dasein ist. Bei vielfachen Reisen und ich kann es sagen bei großer Anstrengung (denn ich brachte 1 Jahr lang alle Tage wenigstens 5 Stunden in der Grube zu) habe ich glükliche Gelegenheit gehabt, meine Kenntnisse von Bergbau, Gebirgskunde, Chemie und selbst Pflanzenkunde zu vermehren. Ich habe mich viel mit Versuchen beschäftigt. Das Studium der Natur füllt meine ganze Muße aus, es gewährt ein so reines Vergnügen, dem ich kein anderes gleichzuschätzen weis, an das sich jedes moralische Gefühl ankettet und das mir die glüklichsten Stunden meines Lebens geschenkt hat.55
54 55
W. v. Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen [1792], Stuttgart: Reclam 1987, S. 22. J B , S . 188.
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Eine exemplarische Darstellung des neuen Bildungsideals,56 die harmonische Verbindung von speziellen Kenntnissen, gefestigter Persönlichkeit, Innerlichkeit, Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein, und - hier taucht der programmatische Begriff von Wilhelm von Humboldts Individualismus auf - „Freiheit" im Rahmen der gegebenen sozialen und politischen Grenzen, gesellschaftlicher und geselliger Tugenden, Empfindungen, maßvollem Glück. Nicht zufallig auch nimmt die Rechenschaft über den eigenen Bildungs- und Entwicklungsgang (von dem „Inneren", das sich „entwikkelt", ist ja wörtlich die Rede) den Charakter einer autobiographischen Skizze an. Es gilt, dem Leben in seiner stetigen Progression den Charakter des Ganzen, des Zusammenhangs zu geben, und dieser Zusammenhang ist es, die „innere Welt", die allein der „äußeren Welt", also auch der Welt des Sozialen, aber auch der Welt der Natur, ein adäquates Pendant stellt. Die Individualität findet dabei vor allem in der Natur eine Projektionsfläche eigener Autonomie, die sich dann in der Freiheit der Bildung und wissenschaftlichen Forschung manifestiert. Die Selbstcharakterisierung Humboldts für Campe im Blick auf einen persönlichen Bildungs- und Entwicklungsgang steht im Briefwechsel keineswegs vereinzelt. Schon in einem Brief an Johann Leopold Neumann vom Juni 1791 wird das Projekt der eigenen Bildung und Entwicklung als durchaus unvollkommen geschildert, doch die wichtigen Kriterien sind da: „In meinen Urtheilen bin ich schnell und unvorsichtig, das müssen Sie meiner Jugend und den sonderbaren Verhältnissen meiner bisherigen Bildung verzeihen. Moralische Erscheinungen wirken unaufhaltsam auf mich ein, Lebhaftigkeit der Phantasie verwirrt mich - kurz, es kann Ihnen und Ihrer Gattin nicht entgangen sein, wie noch alles so unvollendet und unentwikkelt in mir liegt."57 Wenn auch viel weniger zuversichtlich als im Brief an Campe, ist doch in diesem etwas älteren ein ähnliches Idealbild angesprochen, die geeignete Balance von Gefühl, Phantasie, Moral in einer der Vollkommenheit zustrebenden Bildung und Entwicklung der gesamten Persönlichkeit. Um Balance, der man sich aus dieser oder jener Perspektive nähert, geht es im Blick auf Bildung immer wieder. So spekuliert Humboldt in einem Brief an Wegener vom Februar 1789 ausführlich über das rechte 56
57
Zur Rekapitulation des für Deutschland so charakteristischen Bildungskonzepts, das Wissensinhalte untrennbar mit der freien Entwicklung von Individualität und eines komplexen Persönlichkeitsideals verbindet, vgl.: Rudolf Vierhaus: „Bildung", in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart: Klett 1972, S. 5 0 8 - 5 5 1 , hier besonders S. 5 1 5 - 5 3 1 ; Koselleck (Hg.): Bildungsbürgertum, S. 21 f.; Rudolf Stichweh: Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung, in: ders.: Wissenschaft Universität Professionen. Soziologische Analysen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp T W 1994, S. 2 0 7 - 2 2 7 . JB, S. 142.
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Verhältnis von Vernunft und Empfindung und kommt zu dem Fazit: „Wer an seiner Ausbildung gehörig gearbeitet hat, mag sich immerhin den Eindrükken seines Herzens überlassen."58 Aber auch das „Gleichgewicht im physischen und moralischen Menschen" — so Humboldt an Maclean im November 1791 - wird angestrebt.59 Humboldts Jugendbriefe entwerfen in geradezu idealtypischer Weise jene Subjektivität, Individualität und Innerlichkeit, die im späten 18. Jahrhundert zum Ausgangspunkt einer neuen Literatur wird. Literatur zum einen in dem Sinne, dass die Thematisierung der Innerlichkeit, der persönlichen Entwicklung, des Lebenszusammenhanges in den Briefen ganz offensichtlich wesentlich an die Schriftlichkeit und an ihre Formulierung als solche gebunden ist. Hier geht es nicht einfach um das Protokoll von psychologischen oder intellektuellen Erfahrungen, die beschrieben werden könnten oder nicht. Das Element der Versprachlichung und mehr noch der Verschriftlichung ist unerlässlich. Fundamental sind die spezifische Medialität und Kommunikationssituation, in der Bildung, Entwicklung der Persönlichkeit und Lebenszusammenhang, die Verinnerlichung von äußerer Welt und die Integration zu einem psychophysischen Ganzen geleistet werden.60 Literatur aber mehr noch in dem Sinne, dass Brief, Tagebuch, Autobiographie, also die Genres, in denen sich Subjektivität vorzugsweise darstellt, als Grundformen in die neuere schöne Literatur, speziell den Brief- und Tagebuchroman eingehen.61 Hier werden die neuen Ausdrucksmöglichkeiten erprobt.62 Ja, es scheint, als seien die besonderen Ansprüche an Wahrhaftigkeit, die sich mit der neuen psychologisierenden Schreibweise verbinden, die Voraussetzung für die Entstehung einer Fiktionalität im modernen, radikalen Sinne; erst jetzt nämlich ist die Möglichkeit, sich in eine Romanfigur zu versetzen vollkommen, die Illusion perfekt.63 Und weil eben die bereits erprobte Innerlichkeit der 58 59 60
61
62 63
JB.S.40. JB, S. 157. Vgl. Müller, Herzblut und Maskenspiel, S. 267; Georg Jäger: Liebe als Medienrealität. Eine semiotische Problemexplikation, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie: Positionen, Kontroversen, Perspektiven, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 44—65; Koschorke: Alphabetisation, S. 612: „Schrift ist das kommunikationstechnische Korrelat des diskursiven Phänomens ,Seele'". Vgl. Habermas: Strukturwandel, S. 113f.; Koselleck: Einleitung, S. 23; Müller: Herzblut und Maskenspiel, S. 267; Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: IASL, 6. Sonderheft Forschungsreferate (1994), 3. Folge, S. 93-157, hier S. 106. Vgl. Nickisch: Brief, S. 49-51. Vgl. Wilhelm Voßkamp: Erzählte Subjektivität: Zur Geschichte des empfindsamen Romans im 18. Jahrhundert in Deutschland, in: Ortrud Gutjahr, Wilhelm Kühlmann, Wolf Wucherpfennig (Hg.): Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. Fest-
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Leser mit der jener fiktionalen Figuren so eng verwandt ist, stellt die neue Literatur auch das ideale Medium einer sozialgeschichtlich wichtigen Verallgemeinerung des Individuellen zur Menschlichkeit schlechthin dar. Diese Verallgemeinerung im Anthropologischen bewährt sich am Übergang von einer ständischen zu einer modernen „bürgerlichen" Gesellschaft.64 Zunächst sieht es so aus, auch in den Briefen Humboldts, als handele es sich um rein private Verständigungen, eben um Aspekte jener Innerlichkeit, die im Briefwechsel fast mehr originär hervorgebracht, als nachempfunden oder gespiegelt werden. Doch strebt diese Innerlichkeit durchaus nach Sozialität, zunächst in den Freundschaften, dann in der praktischen Tätigkeit, von der in den Briefen die Rede ist, schließlich auch in der literarischen Arbeit selbst. Die Verallgemeinerung des Privaten, des Innerlichen zum Menschlichen schlechthin konstituiert eine neue Form von Gesellschaft der zumindest in ihrer Innerlichkeit Gleichen, die sich nunmehr gerade in der literarischen Kommunikation und im Diskurs der Bildung verständigen. So ist die Briefkultur der Empfindsamkeit mit der Literatur im Sinne der Poesie vermittelt. Doch was Humboldt unter Literatur versteht, scheint damit zunächst wenig zu tun zu haben. Sicherlich üben sich seine Briefe an Henriette Herz in der fiktionalen Schreibweise. Und nachweislich kursieren die literarischen Lieblingswerke der Empfindsamkeit in Humboldts Bekanntenkreis, Cervantes' Don Quijote, Wielands Schriften, Lawrence Sternes Tnstram Shandy J65 Jacobis Woldemar,b(> eine Sammlung Tales and Romances.61 Dennoch, Humboldts eigener Einsatz für „Litteratur" ist weit entfernt von jener Ausprägung einer autonomen Ästhetik, einer Literatur, die darum um so geeigneter erscheint, das Publikum über die Schranken bestimmter Interessen hinweg schlechthin als Menschen zusammenzubinden, als sie keine praktischen Zwecke verfolgt.68
64
65 66 67 68
schrift für Wolfram Mauser, Würzburg: Königshausen und Neumann 1993, S. 339—352, hier S. 242. Der Zusammenhang von sozialem Wandel und der spezifisch empfindsamen Artikulation von Innerlichkeit wird in der Literatur allgemein herausgestrichen: Vgl. Mog: Ratio und Gefühlskultur, S. 28; Wegmann: Diskurse, S. 23; Voßkamp: Erzählte Subjektivität, S. 340; Schmidt: Die Selbstorganisierung, S. 21—23. Georg Jäger: Freundschaft, Liebe und Literatur von der Empfindsamkeit bis zur Romantik: Produktion, Kommunikation und Vergesellschaftung von Individualität durch „kommunikative Muster ästhetisch vermittelter Identifikation", in: SPIEL 9 (1990), Η. 1, S. 69-87. JB, S. 35. Vgl. Briefe von Wilhelm von Humboldt an Friedrich Heinrich Jacobi, hg. und erläutert von Albert Leitzmann, Halle: Niemeyer 1892, S. 42 (Brief aus Berlin vom 6.6.1796). J B , S . 156. Zur Entpragmatisierung als Entlastung vgl. Wegmann: Diskurse, S. 106; als Risiko gesellschaftlicher „Wirkungslosigkeit" bei Schmidt: Die Selbstorganisation, S. 419.
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Zwischen der brieflichen Entfaltung von Innerlichkeit und Subjektivität und jener Literatur, die es durchaus noch mit dem Praktischen und dem Didaktischen zu tun hat, vermittelt jedoch eben der Bildungsgedanke, der an die Totalität aller menschlichen Vermögen und die Individualität der einzelnen Subjekte gebunden ist. So auch im wichtigen Brief an Campe, in dem die Rede von der persönlichen Entwicklung nicht zufallig auf den Plan einer wissenschaftlichen Publikation über Halurgie kommt, und auf die Schwierigkeit, das „neue" Eigene darin, das „Ganze" stilistisch und inhaltlich so zu überarbeiten, dass es dem Publikum entgegenkommt.69 Von diesen Ansprüchen des ganzen Menschen an Bildung und Wissenschaft ergibt sich ein ganz selbstverständlicher Weg in die Praxis, die Sozialität und ein neues Verständnis auch gelehrten Schreibens. Wiederum an Freiesleben, im November 1794: Ihr Eifer fürs Praktische ist mir viel werth, warum wollen Sie aber dabei die litterarische Laufbahn aufgeben. Länger, auf längere Zeiten hinaus und daurender, auf mehrere Menschen, die man unterrichtet, in denen man Ideen aufregt, kann man doch durchs litterarische wirken. [...] Am schönsten für Sie, deucht mich, wäre, erst wie ich einen ganz praktischen Posten zu haben und dann ins Litterarische überzugehen. 70
Humboldts erste Besuche bei Schiller und Goethe in Jena liegen noch nicht lange zurück. Und auch sonst sind die Konstellationen des Jahres 1794 für die Erwägung einer literarischen Laufbahn interessant. Humboldt beschäftigt sich nicht nur mit gelehrten Veröffentlichungen, sondern auch mit Lehrwerken für junge Bergleute. Uber die Schwierigkeiten, „für Kinder zu schreiben",71 weiß er umso besser bescheid, als er sich neben dem allgemeinen Bildungshorizont auch genau die Lebensumstände und ein realistisches Verhältnis von Theorie und Praxis im Umfeld der Schüler vergegenwärtigt. Nicht zum ersten Mal befasst sich Humboldt mit didaktischer Literatur. Sie weckte schon im Zusammenhang mit einem von Zöllner geplanten elementaren Unterrichtswerk seine Neugier, und Humboldt erinnert sich aus diesem Anlass an Herders ABC-Bucb.72 In einem Brief vom Februar 1789, in dem von Zöllners „Encyclopedic für den kindlichen Verstand" die Rede ist,73 hieß es auch schon im Blick auf die schwer zugängliche botanische Fachliteratur: „Was helfen alle Entdekkungen, wenn es keine Mittel giebt, sie exsoterisch zu machen."74 Es ist die neue Sicht auf Pädagogik, Didaktik und schließlich auf gelehrte Werke, 69 70 71 72 73 74
JB,S. 189. JB, S. 376. JB, S. 312. JB, S. 43. Ebd. JB.S.41.
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ihre Unterordnung unter „die höchste proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen",75 wie es bei Wilhelm von Humboldt hieß, die den aus den empfindsamen Briefen und der Innerlichkeit hergeleiteten Begriff „Literatur" auch für die pragmatische Literatur angemessen erscheinen lässt. Als Alexander von Humboldt von Schiller eingeladen wird, zu den neuen Hören beizutragen, setzt sich seine Vorstellung von den didaktischen Genres einer spannungsvollen Konfrontation mit dem neuen Bildungsdenken der klassischen Ästhetik aus. Noch einmal ist zu fragen, ob die empfindsame, die privatbriefliche Grundlegung der publizistischen Tätigkeit und die Erweiterung der sich selbst bespiegelnden Innerlichkeit zur Öffentlichkeit der Gebildeten, wie sie hier vorgestellt wurden, in Humboldts Werk nur ein bald überwundenes Stadium blieben. Die beschriebene Selbstbezüglichkeit und Innerlichkeit vollzieht sich von vorneherein im Kontext einer konventionellen Rhetorik und vorgegebener Argumentationsstrukturen. Die literarische Betätigung erscheint daher nicht als spontanes Ergebnis eines unmittelbaren Erlebens, viel mehr ist sie das gegebene Mittel der gedanklichen und expressiven Modellbildungen von Individualität überhaupt. Dabei lösen die Analysen der Empfindungen und die Modellierungen von Subjektivität in Form von Briefen, Tagebüchern, autobiographischen Texten im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend die gelehrten rhetorischen und poetischen Studien in der Propädeutik zum Beruf des Dichters oder Literaten ab.76 Im gleichen Maße, in dem die Selbstgestaltung im Brief oder der Entwurf eines geschriebenen Ich zunehmend Züge eines fiktionalen Bildes annehmen,77 gelten die zunächst privaten und rein okkasionellen Briefwechsel als Übungsfeld literarischer Konstruktion schlechthin.78 Insofern dieses Verständnis von Individualität in der Literatur allgemein vorausgesetzt werden kann, wird Alexander von Humboldt in späteren Schriften immer wieder an die Empfindung, an die Einbildungskraft eines Publikums appellieren können, das sich aus individualisierten 75 76
77
78
W. v. Humboldt: Ideen zu einem Versuch, S. 22. Kerstin Stüssel: Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln. Poetik und autobiographisches Schreiben im 18. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 1993, S. 4. Vgl. auch allgemein Hans-Georg Pott: literarische Bildung. Zur Geschichte der Individualität, München: Fink 1995. Vgl. Manfred Jürgensen: Das fiktionale Ich. Untersuchungen zum Tagebuch, Bern München: Franke 1979. Jürgensen bezieht sich zwar vor allem auf die Form des Tagebuchs, doch lassen sich seine Thesen auch auf die Briefform übertragen: „Wo immer sich das Ich sprachlich reflektiert, entfaltete sich ein Prozeß der Fiktionalisierung" (S. 31). Regina Nörtemann: Brieftheoretische Konzepte im 18. Jahrhundert und ihre Genese, in: Angelika Erbrecht, Regina Nörtemann, Herta Schwarz (Hg.): Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays, Stuttgart: Metzler 1990, S. 2 1 1 - 2 2 4 , S. 211.
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Humboldts Erziehung zum Literaten
Subjekten zusammensetzt. Dabei wird der Autor eine Analogie zwischen der eigenen Erlebnis-, Erfahrungs- und Bildungsgeschichte mit der Natur und jenen Prozessen voraussetzen, die im Leser die beschworene Natur zum Motiv eigener Individualisierung macht. Auf explizite Bekenntnisse oder autobiographische Schriften kann Humboldt verzichten, so lange zwischen seinem empirischen Ich, der Ich-Stilisierung in seinen Schriften, seiner öffentlichen Autorschaft und den Lesern ein gemeinsames Konzept individueller Νaturerfahrung vermittelt. Die Totalität der eigenen Person, die als Humanum vorausgesetzt oder als Humanität angestrebt wird, lässt sich auf alle Erscheinungen des Moralischen, Ästhetischen, aber eben auch der Natur beziehen: Das ganze Subjekts reflektiert die ganze äußere Welt.79
79
Vgl. Stichweh: Bildung, Individualität, S. 217: „die Bildungstheorie gelangt zu einer Oniversalisierung von Bildung', d.h. ^u einer Ausdehnung der Anwendbarkeit des Begriffs aufEnüläten, die nicht Personen sind, durch eine entsprechende Oniversalisierung des Sinns von , Individuum'. "Weiter heißt es, dass „Individualität ein Verhältnis zum Ganzen der Welt besitzt und begründet. Bei [Wilhelm von] Humboldt beispielsweise findet sich die Formulierung, dass einer jeden Sprache eine Weltansicht eigen sei. Offensichtlich generiert Einzigartigkeit eine Beobachtungschance, die auf alles andere zuzugreifen erlaubt, ohne dass die Identität des Individuums gefährdet wird" (S. 218f.).
Humboldts philosophisches Curriculum Jede Naturwissenschaft, auf die sich keine Größenlehre anwenden läßt, fluktuiert. Alles kommt auf die Fragen an: wonach sind wir berechtigt, die Zahl der Stoffe zu vermehren, kann poinderable Materie aus unponderabler entstehen? Darf eine Chemie über das Wiegbare hinausgehen? Alles dies ist metaphysisch, und darüber dürfen nicht Meister der Scheidekunst wie Wiegleb und Westrumb, sondern Sie und Kant und vielleicht unser Forster entscheiden. Das Bedürfnis, eine Kritik der allgemeinen Naturwissenschaft zu schreiben, ist groß. 1
So schreibt Humboldt am 22. April 1792 aus Hamburg an Georg Christoph Lichtenberg in Göttingen. In der Forderung nach einer „Kritik der allgemeinen Naturwissenschaften" klingt der Titel der Kantischen Hauptschriften an. An Kants Unterscheidung zwischen einer „mechanischen" und einer „dynamischen" Naturphilosophie aus seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft von 1787 erinnert die Humboldtsche Unterscheidung zwischen einer Naturwissenschaft der Größenlehren, der „Scheidekunst", und einer, die es mit dynamischen Prozessen zu tun hat. So lange es keine quantifizierbaren Verfahren zur Beschreibung dieser dynamischen Prozesse gibt, fallen sie in die Zuständigkeit der Philosophie. Wie intensiv sich Alexander von Humboldt mit der noch neuen Philosophie Kants auseinandergesetzt hat, ist dem Briefwechsel und seinen Publikationen nicht genau zu entnehmen. Marcus Herz, zu dessen gelehrter Gesellschaft in Berlin Humboldt bereits achtzehnjährig zugezogen wurde, bekannte sich als Kantianer. Dass Wilhelm, der Bruder, sich eingehend mit den Schriften Kants befasst habe, geht aus dem Jugendbriefwechsel hervor, auch dass er, Alexander, hoffe, von diesem Studium mit zu profitieren.2 Einen unmittelbaren Einfluss Kants auf Humboldt erkannte man in seiner Konzeption der Geographie, doch ist die Forschung auch in diesem Punkt inzwischen zurückhaltender.3 In den Versu1 2
3
JB, S. 183. „Er wird sich noch tod studiren, mein Bruder. Er hat jetzt alle Werke von Kant gelesen und lebt und webt in seinem Systeme. Ich denke viel von ihm zu lernen. Denn jetzt habe ich nicht Zeit, an so etwas zu denken." Brief an Wegener vom 24.-27.2.1789 (JB, S. 3 9 ^ 5 , hier S. 44). Vgl. die Einleitung zu Alexander von Humboldt. Studienausgabe. 7 Bde., hg. von Hanno Beck, Bd. 1: Schriften zur Geographie der Pflanzen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S. 12f. Aus Kants Einleitung zur Vorlesung über die Physische Geographie habe Humboldt die Dreiteilung der Erfahrungskenntnisse nach systematischen, historischen und geographischen Gesichtspunkten übernommen, die allerdings nicht resdose zu trennen seien. Als Beleg für diese Übernahme führt Beck eine Fußnote aus den Florae fribergensis specimen von 1793 an, die „Physiographie", „Historia Telluris" und „Geognosia" unterscheide.
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eben über die gereifte Muskel- und Nervenfaser von 1797 wird der Verfasser sowohl die Kritik der reinen Vernunft als auch die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft von 1786 zitieren,4 die dann auch noch im Kosmos genannt werden.5 Wie Humboldt im oben angeführten Brief an Lichtenberg den Begriff „Metaphysik" verwendet, nämlich im Sinne der Anwendung von Prinzipien a priori auf Naturgegenstände, entspräche eher den Metaphysischen Anfangsgründen.6 Andererseits kann der Metaphysikbegriff Humboldts, so unbestimmt er hier vertreten wird, auch aus dem allgemeinen philosophischen Horizont der Epoche herrühren.7 Ob sich Humboldt wirklich systematisch mit den Schriften Kants auseinandergesetzt hat, oder ob er es bei gewissen Allusionen bewenden ließ, um sich auf der Höhe der Zeit zu zeigen, lässt sich kaum entscheiden. Ebenso wenig ist hinsichtlich seiner Lektüren weiterer Philosophen zu rekonstruieren. In Briefen an Wegener vom Februar und März 1789 ist wiederholt von Leibniz die Rede. Er gibt einen „seelige [n] Gedanke [n] der Leibnizischen Philosophie" wieder;8 empfiehlt ein Buch über Idealismus und Monadologie;9 äußert sich kritisch über die Vorlesung von Karl Philipp Moritz: „Welch ein Gemisch von Materialismus und Monadologie.
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Vgl. bereits Hanno Beck: Alexander von Humboldt, Wiesbaden: Steiner 1959, Bd. 1, S. 60f. Dort heißt es, dass der „24jährige Kants Dreiteilung aller Disziplinen in sehr sinnvoller, ja genialer Weise in die Geographie übertrug." Viel zurückhaltender dagegen Bernhard Fritscher: Zwischen Werner und Kant. Physische Geographie bei Alexander von Humboldt, in: Studia Fribergensia. Vorträge des Alexander-von-Humboldt-Kolloquiums in Freiberg vom 8. bis 10. November 1991 aus Anlaß des 200. Jahrestages von A. v. Humboldts Studienbeginn an der Bergakademie Freiberg, Berlin: Akademie-Verlag 1994 (=Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 18), S. 53—61. Die in den Floraefribergensis getroffene Unterscheidung weise vielmehr auf den befreundeten Botaniker Karl Ludwig Willdenow, auf den Geologen Werner und auf die ausdrücklich zitierte Schrift Eberhard August Wilhelm von Zimmermanns: Geographische Geschichte des Menschen zurück (S. 53). A. v. Humboldt: Versuche, Bd. 1, S. 377, 410, 422, 429. K, S. 30f. „Daher setzt eigentliche Naturwissenschaft Metaphysik der Natur voraus [...], Prinzipien, die nicht empirisch sind." „Alle wahre Metaphysik ist aus dem Wesen des Denkungsvermögens selbst genommen, und keineswegs darum erdichtet, weil sie nicht von der Erfahrung endehnt ist, sondern enthält die reinen Handlungen des Denkens, mithin Begriffe und Grundsätze a priori, welche das Mannigfaltige empirischer Vorstellungen allererst in gesetzmäßige Verbindung bringt, dadurch es empirische Erkenntnis, d.i. Erfahrung werden kann" (Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft [1786], in: ders.: Schriften zur Naturphilosophie, hg. von Wilhelm Weischedel (=Werkausgabe IX), Frankfurt a.M.: Suhrkamp TW 1996 (1977), S. 7-135, hier S. 14 und 17. Gegen eine wirklich intensive Rezeption der Metaphysischen Anfangsgründe spricht auch, dass Humboldt den Terminus der Kategorie kaum und den der Kategorientafel, soweit ich sehe, nie verwendet. J B , S . 41. JB, S. 44.
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Ein wahres Monadenfressen!"10 Der Kosmos zitiert Leibniz gelegentlich im Zusammenhang mit konkreten Problemen der Naturforschung, zum Beispiel der Mechanik von Uhren, der Vulkanologie oder der Astronomie.11 Spinoza, Wolff, Locke, Hume, Voltaire, Diderot, Rousseau,12 Lessing, Herder, Fichte,13 Hegel und Schelling:14 diese Namen gehören offenbar wie selbstverständlich in den Haushalt von Humboldts gründlicher Allgemeinbildung, so wie die der bekanntesten Philosophen des Altertums. Im Sinne einer solchen allgemeinen Kultur der Zeit, gängiger Schlagwörter, vulgarisierter Konzepte scheint der Verfasser des Reisewerks, der Ansichten der Natur, des Kosmos diese wichtigen Autoren und einige ihrer Haupttitel zu kennen und sich auf sie zu berufen. Wo es jedoch um den Nachweis spezieller Bezüge zwischen ihren Werken und Humboldts intellektueller Laufbahn geht, bleiben nur Vermutungen.15 Etwas anders steht es, wenn man dem Jugendbriefwechsel und speziell den Briefen an Wegener folgt, mit der Kenntnis der Berliner Spätaufklärer, die offenbar einen Schwerpunkt in jenem gründlichen philosophischen Propädeutikum bildeten, in dessen Genuss die Brüder Humboldt im Unterricht von Christian Wilhelm Dohm und vor allem Johann Jakob Engel gelangten. Berlin, und Tegel sei einmal dazugerechnet, die Stadt, in der Humboldt erzogen wurde, war ein Zentrum der Popularphilosophie. Die Namen Campe, Engel, Nicolai, Mendelssohn, Platner, Biester, Garve und Zimmermann sowie Humboldts flüchtigere oder intensivere Be10 11
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J B , S . 49. Leibniz wird im Briefwechsel mit Böckh öfter erwähnt, weil der Adressat an repräsentativem Ort einen Vortrag über seine Gedichte gehalten und dann zum Druck gebracht hat (August Böckh. Lebensbeschreibung und Auswahl aus seinem wissenschaftlichen Briefwechsel von Max Hoffmann, Leipzig: B.G. Teubner 1901, S. 435ff., Briefe von 1847). Auf die Vernachlässigung speziell der französischen Philosophen bei der ideengeschichtlichen Situierung von Humboldts Schriften hat Charles Minguet hingewiesen, wobei er weniger konkrete Belegstellen aus Humboldts Werk und Briefen als die Prägung des Zeitgeistes durch die Enzyklopädisten, Diderot, Buffon und Voltaire geltend macht. Charles Minguet: Alexandre de Humboldt. Historien et Geographe de PAmerique espagnole (1799-1804), Paris 1969, S. 65, 69, 70. Mit der neuen „Wissenschaftslehre" befassten sich Goethe, Schiller und Wilhelm von Humboldt intensiv gerade in den Wochen des Jenaer Aufenthaltes von Alexander von Humboldt im Frühjahr 1797. Die überlieferten Quellen zum Verhältnis zwischen Humboldt und Schelling wurden zusammengestellt von Petra Werner: Übereinstimmung oder Gegensatz? Zum widersprüchlichen Verhältnis zwischen A. v. Humboldt und F.W.J. Schelling, Berlin: Alexandervon-Humboldt-Forschungsstelle 2000 (^Berliner Manuskripte zur Alexander-vonHumboldt-Forschung, 15). So weist etwa das Verzeichnis der Bibliothek Humboldts bei seinem Tode lediglich eine englische Ausgabe der Kritik der Urteilskraft nach und eine einbändige Auswahl aus den Werken Herders. Henry Stevens: The Humboldt Library. A Catalogue of the Library of Alexander von Humboldt, London: Stevens 1863. Dagegen sind dort allein 20 Schriften August Boeckhs verzeichnet.
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kanntschaft mit diesen und weiteren Persönlichkeiten wurden schon genannt.16 Produktiv oder gar originell ist Humboldt auch in der Rezeption dieser Autoren kaum. Seine Erwähnungen und Ausführungen haben mehr den Charakter von Reminiszenzen an ein umfassendes Lernpensum. So auch und erst recht im Brief an Wilhelm Gabriel Wegener, den Studienfreund aus der Zeit in Frankfurt an der Oder, vom 9. bis 26. Juni 1988.17 Der Tenor ist eingangs der eines strebsamen Schülers, der mit Begeisterung, ja einer gewissen Verstiegenheit ausbreitet, was er sich alles an Gelehrsamkeit angeeignet hat. Der Brief gibt ein Probestück der kürzlich erworbenen Kenntnisse im Griechischen, zitiert, auch in lateinischer Sprache, Vergil, Horaz, Laktanz, Terenz, dazu Hippokrates und Sokrates sowie Cervantes und entfaltet eine regelrechte Abhandlung über das Pfingstwunder. Anlass ist eine Disputation, die Wegener in Frankfurt halten wollte, um ein Stipendium zu erlangen, „daß die fremden Sprachen, worin die Apostel redeten, nicht wunderbar mitgeteilte, vorher nicht besessene Gaben gewesen wären." Wegen des kurz darauf erlassenen „Religionsediktes" musste Wegener das Thema der Disputation ändern, 18 ein Hinweis darauf, dass das seit langem diskutierte Problem — Wunder versus Natur, Offenbarung versus Vernunft — von seiner Brisanz noch nichts verloren hatte.19
Zur philosophischen Kritik des Pfingstwunders Humboldt bewegt sich, was er auch bekennt, in seinen Erörterungen ganz im Schatten seines Lehrers Johann Jakob Engel, der mit seinem Schüler vorzugsweise Schriften von Moses Mendelssohn durchgenommen zu haben scheint, speziell die Morgenstunden und „Hylas und Philonous" aus dem von Engel selbst herausgegebenen Philosophen für die Welt..20 Dazu kommen Referate oder losere Bezugnahmen auf weitere einschlägige Autoren. Die Vermutung liegt nahe, dass Lehrer und Schüler sich von Wegeners Disputation anregen ließen, das Problem nach dem gegebenen Stande der philosophischen Literatur durchzuexerzieren. „Meine Gedanken über die Wunder sind ungefähr diese", beginnt der Verfasser des Briefes systematisch, um dann zum Pfingstwunder speziell 16 17 18 19
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Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. I, S. 46, nennt außerdem Teller und Spalding. JB, S. 9-18. JB, S. 18f. (Anmerkung 12). Zur allmählichen Rationalisierung, speziell auch Psychologisierung der Offenbarung vgl. den Artikel „Offenbarung", in: Religion in Geschichte und Gegenwart, hg. von Kurt Galling, Bd. 4, Tübingen: Mohr I960, S. 1607. JB, S. 13f. Humboldt schreibt das Gespräch fälschlich Engel selber zu.
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und von dort zum Phänomen des Spracherwerbs allgemein zu kommen. Humboldt holt aus: „Welt nennen wir den Inbegriff alles Irdischen oder Geschaffenen, im Zusammenhang betrachtet." 21 Verweist in diesem Satz das Irdische und Geschaffene auf das Objektive, so doch „Inbegriff und Betrachtung „im Zusammenhang" auf den subjektiven Aspekt der Erkenntnis. In der Tat beschäftigt sich der Verfasser des Briefes sogleich mit dem Problem objektiver Erkenntnis: Zwar sei das Denken in Kausalitäten ein a priori für „unsere Seele". Doch „Die Veränderungen oder Modifikationen unserer Seele sind in Bezug auf ihre Ursachen leichter zu betrachten. Denn hier bleiben wir bloß in den Grenzen unserer Vorstellungen, und die innere Empfindung ist die höchste Staffel der Evidenz. Das Verhältnis äußerer Wirkungen zu ihren Ursachen wird allein durch eine stets unvollständige Induktion bestimmt." 22 Ein großer Teil der Ausführungen wird sich daher mit den Fallen einer vermeintlich objektiven Betrachtung befassen, die in Wahrheit eine subjektive in all ihrer Befangenheit ist. „Unsere Seele hat einen so unwiderstehbaren Reiz, den Grund der Dinge zu erforschen, daß sie statt das Bekenntniß ihrer Eingeschränktheit abzulegen, lieber ein Nothmittel ergreift und zu einem Wunder ihre Zuflucht nimmt." 23 In seiner Erörterung des Pfingstgeschehens lässt Humboldt erkennen, dass er mit der in Berlin stark vertretenen Neologie und ihrer Kritik an der Orthodoxie und der dogmatischen Auslegung des Bibeltextes vertraut ist: 24 Zunächst wird also die biblische Überlieferung so weit wie möglich mit den Naturgesetzen in Übereinstimmung gebracht. 25 Um ganz sicher zu gehen, folgt Humboldt zum Teil der Tradition der „Wolfischen Schule", die er in einem späteren Briefe namentlich erwähnt.26 Dabei geht es um Logik, um Ursache und Wirkung, um den hinreichenden Grund, um Widerspruchsfreiheit, um Induktion und Deduktion, um Analyse. Natur, auf die sich die logischen Denkoperationen stützen, wird dabei zum Maßstab der Objektwelt. Und mehr: Widerspruchsfreiheit ist auch auf die Eigenschaften Gottes anzuwenden, dies beträfe die Metaphysik.27 Wahr21 22 23 24
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J B , S . 11. JB, S. 11. J B , S. 11. Zur starken Präsenz der Neologie in Berlin vgl. Nicoiao Merker: Die Aufklärung in Deutschland, München: Beck 1982, hier das Kapitel „Philosophie und Religion", S. 167— 233. Vgl. auch Ursula Goldenbaum: Der „Berolinismus": Die preußische Hauptstadt als ein Zentrum geistiger Kommunikation in Deutschland, in: Wolfgang Förster (Hg.): Aufklärung in Berlin, Berlin: Akademie-Verlag 1989, S. 339-362. Vgl. Hans-Joachim Waschkies: Alexander von Humboldts aufklärerisches Weltbild, in: Uta Lindgren (Hg.): Alexander von Humboldt. Weltbild und Wirkung auf die Wissenschaften, Wien, Köln: Böhlau 1990, S. 169-186, hier S. 173. Brief an Ernst Gottfried Fischer vom 11.8.1789, J B , S. 65. JB, S. 12.
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scheinlichkeit muss aber auch den Bibeltext auszeichnen, ein Kriterium also der historischen Quellenkritik.28 Schließlich ist auch und eben dort, wo es, wie im oben zitierten Passus, um die Fehlbarkeit des Verstandes geht, die Natur, und zwar des Menschen zu bedenken, dies ein anthropologisches Argument. Der Mensch nämlich soll nicht nur die Naturgesetze auf die Welt der Phänomene anwenden, sondern sich selbst als Anwendungsfall der Naturgesetze betrachten.29 Gerade die Fehlleistungen in der menschlichen Erkenntnis lassen sich auf Naturgesetze zurückführen, streng kausal oder final, und das hieße als Motivation psycho-logisch erklären.30 Unter welchen Aspekten auch immer Humboldt den Wunderglauben betrachtet: Natur im weitesten Sinne gilt als Maßstab objektiver wie subjektiver Seiten der Erkenntnis. Ein paar Beispiele für die charakteristischen Denkfiguren, die das behandelte Problem jeweils in den Schnittpunkt unterschiedlicher Aspekte des Naturgemäßen stellen: Auf die Diskussionen zwischen Orthodoxen und Neologen bezieht sich der Brief, wenn er die rationale Erklärung einiger Wunder zu radikalisieren sucht. Das geschieht mit Hilfe von Moses Mendelssohn, aus dessen Morgenstunden (ihre Entstehung hat Humboldt im Hause des Verfassers zum Teil mit verfolgt)31 gegen den Exegeten Karl Friedrich Barth zitiert wird: „Aber durch beständiges Erklären die Menschen zu gewöhnen, nur das für kein Wunder zu halten, was sie einsehen können, heißt der Wahrheit schaden. Wir gewöhnen uns, wie Mendelssohn sagt, so an das betasten und fühlen, daß wir nur das als Wahrheit erkennen, was in die Sinne fällt."32 Die rationale Logik einer Sache ist also auch anzunehmen, wo sie empirisch gar nicht nachgewiesen werden kann. In einem solchen Falle ist der Wunderglaube nicht durch die Objektivität des nur vermeintlich „wunderbaren" Phänomens zu widerlegen, sondern durch die Logik der menschlichen Psyche, die sich natürlicherweise an bequeme oder gewohnheitsmäßige Annahmen hält. Es sind dabei vor allem die sogenannten „niederen Seelenvermögen", die die höheren, also Verstand und Vernunft, beeinträchtigen können. Diese niederen Seelenvermögen, von denen in 28 29 30
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JB, S. 12. Vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart: Klett Cotta 1981, S. 125. Hier liegt einer der wichtigsten Gründe für die „Vernaturwissenschaftlichung" künsderischer Menschendarstellung. Vgl. Horst Thome: Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Vorgeschichte der deutschen Klassik, Frankfurt a.M.: Lang 1978. Thome sieht als eine der Grundlagen des Realitätsmodells, das für die Philosophie und fiktionale Literatur der Aufklärung gleichermaßen verbindlich sei, eben das Denken in kausalen Strukturen. Wahrscheinlich war Humboldt bei Lesungen Mendelssohns aus dem Manuskript zugegen, vgl. Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. I, S. 29. JB, S. 13.
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den vorigen Kapiteln unter verschiedenen Aspekten schon die Rede war, kehren nun also auch als wichtiges Konzept in Humboldts philosophischem Curriculum wieder. Sie bilden parallel zur Geschichte der rationalistischen Philosophie ein Leitmotiv der Aufklärung: 33 von Leibniz' „petites perceptions" über Baumgartens „gnoseologia inferior", der „perceptio confusa", bis zur „sinnlichen Erkenntnis", die zum Kernbegriff der spätaufklärerischen und klassischen Ästhetik werden sollte.34 Die Erörterung erkenntnistheoretischer Probleme aus anthropologischer Sicht, das heißt vor allem aus der Perspektive der sinnlichen Erkenntnis beschäftigt Humboldt im Brief an Wegener auch weiterhin, wenn er sich zunächst auch einer metaphysischen Frage zuwendet. Gegen den Einwand, Wunder helfen die Absichten Gottes auf kürzestem Wege, die Gesetze der Natur gewissermaßen überholend, zu verwirklichen, führt Humboldt an: W e n n wir die Weisheit G o t t e s in seiner S c h ö p f u n g b e w u n d e r n sollen, a n t w o r t e ich, k ö n n e n wir die W i r k u n g e n nur i m Z u s a m m e n h a n g e mit d e n endlßichen] K r ä f t e n der N a t u r betrachten. W o l l e n wir G o t t mit in die S c h ö p f u n g v e r f l e c h t e n , s o wiederspricht es seiner Weisheit auch, daß er die B ä u m e , ehe sie F r ü c h t e tragen, blühen läßt, daß er d e n M e n s c h e n , statt des B r o d t e s , K o r n w a c h s e n läßt 3 5 [...] M e i n f o r s c h e n d e r G e i s t ist nur b e m ü h t , d e n G e s e z e n u n d R e g e l n nachzuspühren, n a c h welchen der unermeßliche S c h ö p f u n g s - P l a n e n t w o r f e n ist. U n d seine V e r n u n f t g e b r a u c h e n ist keine V e r m e s s e n h e i t , ist, wie P o p e i m Allg e m e i n e n ] G e b e t e sagt, G e h o r s a m g e g e n die Gottheit. 3 6
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„Als Periodisierungskriterium taugen »Vernunft« und »Gefühl« offensichtlich nicht" — so Kondylis, der die Aufklärung nicht als rationalistische Kultur im Vorfeld einer „romantischen" Gefühlskultur sieht, sondern als kontinuierliche Auseinandersetzung zwischen Verstand und Gefühl (Kondylis: Die Aufklärung, S. 339). Vgl. Hans Rudolf Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, Basel Stuttgart: Schwabe 1973; Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten, Wiesbaden: Steiner 1972 (=Studia Leibniziana Supplementa, 9); Friedhelm Solms: Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder, Stuttgart: Klett-Cotta 1990; Zu Johann Georg Sulzers Ästhetik der niederen Erkenntnisvermögen vgl. Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992, Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S. 4 1 0 439. In groben Zügen dürfte Sulzers Ästhetik im Berlin der siebziger und achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts allgemein bekannt gewesen sein. Die seinem Denken nahe stehenden Autoren Plainer und Zimmermann waren Humboldt wenigstens ihrem Namen nach bekannt. Dass die Natur nicht auf willkürliche Eingriffe von Gott angewiesen ist, um ihre Zwecke zu erreichen, ist eine zentrale These einer Linie aufklärerischer Philosophie, etwa Kants in seinen vorkritischen Schriften. Vgl. Artikel „Natur", in: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984, S. 4 2 1 - * 7 8 , hier S. 471. J B , S. 14f.
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Es ist also im Grunde nicht mehr Gott, der der Natur ihren Weg im Einzelnen vorzeichnet, sondern die Vernunft selber, der man durch den Gebrauch der eigenen Vernunft nachspüren kann. Gott erscheint dabei in ambivalenter Weise einerseits in die Natur völlig inkorporiert, andererseits doch noch ihr gegenübergestellt.37 Dass Humboldt Gott und Natur weitgehend aneinander angleicht, nimmt sicherlich Elemente des Spinozismus auf. Wenn aber schon der Begriff „Spinozismus" Ende des 18. Jahrhunderts sehr unterschiedliche Filiationen seiner Rezeption umfasst, so lässt sich noch viel weniger sagen, wie genau Humboldt sich auf Spinoza beziehen konnte. Er kannte ihn zumindest aus den Auseinandersetzungen Friedrich Heinrich Jacobis mit den Berliner Aufklärern. Der Streit über Lessings Spinozismus38 entzündete sich 1785 und war noch nicht beigelegt, als Humboldt 1789 Jacobi besuchte.39 Noch 1790 schreibt Humboldt aus Hamburg an Georg Christoph Lichtenberg mit Blick auf den Streit.40 Im früheren Brief an Wegener von 1788 zitiert Humboldt im übrigen direkt aus der Ethik, „pleraeque oriuntur controversiae quia homines altenus mentem male interpretantur, vel mentem suam non rede explicant. " tl Neben der rationalen, das heißt den Naturgesetzen entsprechenden Erklärung der Welt der objektiven Erscheinungen also wiederum die Berücksichtigung der Menschennatur, der psychologischen Kritik der Erkenntnis. Während jedoch die Welt des Physischen optimistisch auf Kausalität und Zweckmäßigkeit bezogen werden kann, oder zumindest Grund und Ziel anzunehmen sind, auch wo sie nicht unmittelbar in die Augen fallen, ist Humboldts Beurteilung der Logik, der die Psyche gehorcht, in diesem Fall insgesamt pessimistischer. Der Mensch macht es sich im Denken bequem, zieht das Einfachere und Naheliegende vor. Festzuhalten bleibt im Blick auf Humboldts spätere Tätigkeit als Publizist und Forscher, dass er gelernt hat, Natur nicht schlicht als Welt der physischen Erscheinungen anzusehen, sondern auch Natur des Menschen erkenntniskritisch als mögliche Fehlerquelle zu berücksichtigen. Doch 37 38
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Vgl. zu dieser Ambivalenz Kondylis: Die Aufklärung, S. 364. Zum Spinozismusstreit vgl. „Spinozismus", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 9, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, Sp. 1 3 9 8 - 1 4 0 1 , hier Sp. 1400. Vgl. den Brief an Johann Friedrich Zöllner aus Göttingen vom 5.8.1789 über Jacobi (JB, S. 63). Brief vom 3.10.1790: „Die Wunden, welche der Spinozistische Streit so manchem geschlagen hat, sind hier noch nicht vergessen" (JB, S. 109). In diesem letzten Brief wird der Spinozismusstreit bereits auf die ablehnende Haltung der Hamburger Klopstock und Reimarus gegenüber Kant bezogen, die in der „Berliner Partei" geeignete Alliierte sehen. Vgl. mit Bezug auf diesen Brief Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 197f. J B , S . 13.
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nicht nur als Fehlerquelle. Anthropologisches interessiert Humboldt auch dann, wenn es überhaupt um die Genese von Wissen geht, sei es nun Wissen im Sinne von Mythen, von Symbolen, historischen Quellen, archäologischen Monumenten oder von empirisch erhobenen Daten. Sie sind nicht allein Ergebnis einer vom physischen Menschen abgezogenen Vernunfttätigkeit. Die niederen Seelenvermögen, die sinnliche Erkenntnis ist vielfach an ihnen beteiligt. Der nächste Abschnitt des langen Briefes an Wegener, datiert 24. Jun. 1788, wendet sich genau dieser Seite der Menschennatur zu, nicht der pessimistisch gesehenen der Fehlurteile, sondern der optimistisch beurteilten der natürlichen Genese von Erkenntnis.42 Es geht nun um das „Pfingstwunder" speziell, um die Möglichkeit, durch Offenbarung die Beherrschung einer oder der Sprache schlechthin zu erlangen. Während sich Humboldt zuvor auf Spinoza, Pope, Mendelssohn und Engel berief, zitiert er diesmal Locke: „die angeborenen Ideen [müssten uns] in eine psychologische Verwirrung sezen."43 Eine These zum Ursprung der Sprache schließt Humboldt damit aus. Im übrigen liegt in Berlin die Erinnerung an die Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften von 1769 über den Ursprung der Sprache noch nahe, an die Teilnehmer des Preisausschreibens, an den Sieger Johann Gottfried Herder, und an die umstrittenen Positionen.44 Humboldt gibt eine Abbreviatur der Debatte: „Diese berühmte Süßmilchische Hypothese ist wohl am scharfsinnigsten in einer Abhandlung des jüngeren, leider! so früh verstorbenen Jerusalem: »Daß die Sprache dem ersten Menschen durch Wunder nicht mitgetheilt sein kann« widerlegt worden. (Lessing hat diese Abhandlung nebst 4 anderen mit Anmerkungen 1776 herausgegeben. Wenn sie Dir einmal in die Hände fällt, rathe ich Dir, sie zu lesen)."45 Und weiter geht es mit „Herders vortreflicher Preisschrift (über den Ursprung der Sprache)" von 1772,46 und, in einer Erörterung über Fähigkeiten und Fertigkeiten
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Zum konzeptionellen Zusammenhang von sinnlicher Erkenntnis und genetischer Erkenntnistheorie vgl. Kondylis: Die Aufklärung, S. 293. J B , S . 15. „En supposant les hommes abandonnes ä leurs facultes naturelles, sont-ils en etat d'inventer le language?" Vgl. den Kommentar zu Herders Preisschrift in: Johann Gottfried Herder: Über den Ursprung der Sprache, in: Frühe Schriften 1764—1772, hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985 (=Werke in 10 Bänden, hg. von Martin Bollacher u.a., Bd. 1), S. 1274. J B , S . 15. Es ist Muthmann zu widersprechen, der behauptet, Herder werde von Humboldt nirgends erwähnt (Friedrich Muthmann: Alexander von Humboldt und sein Naturbild im Spiegel der Goethezeit, Zürich Stuttgart: Artemis 1955, S. 39). Sein wichtiger Hinweis auf die Zusammenhänge von Sprache und Anthropologie, Ahnen und Wissen in den Werken Humboldts zeigt, dass ihm mehr eine ganze Debatte, als der einzelne Autor Herder bekannt
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der Seele, mit Campe und „seinem Beweise für die Unsterblichkeit der Seele" von 1780 und wiederum Engels, wohl mündlich entwickelter Kritik an Campe.47 Humboldts Referat beweist wiederum eher eine allgemeine Erinnerung an einen zeitgenössischen philosophischen Disput als eine gründliche und kritische Auseinandersetzung mit den einzelnen Quellen. Als ultima ratio bleibt wiederum der Hinweis auf die Natur: „kommt nicht endlich die ganze streitige Materie auf das simple Problem heraus zu zeigen, daß die Fertigkeit zu reden durch kein anderes Mittel als durch Uebung erlangt werden könne, da uns doch die ganze thierische und selbst die menschliche Natur lehrt, daß ähnliche Fertigkeiten auch durch andere Mittel erlangt werden? [...] Ich vermag mir das Räthsel nicht zu lösen, Simo sum, non Oedipust£"48 Am Ende äußert sich Humboldt vage über einen möglichen „Raptus", als Manifestation dessen, was man „Ausgießung des Η [eiligen] G[eistes]" nennt.49 Ein Versuch wohl, ähnlich wie es Herder in seiner Preisschrift versucht hatte,50 den Begriff der Offenbarung so weit wie möglich an die Psyche und Physis des Naturgeschöpfes Mensch anzunähern.51 Die niederen Seelenvermögen in der Naturforschung Die Zeugnisse für Humboldts Kenntnis der Schriften Herders sind dürftig.52 Dies ist umso bedauerlicher, als gerade Herder als Kompilator und Popularisierer wichtiger Strömungen der Aufklärung und ihrer Vermittlung an das 19. Jahrhundert gilt.53 Immerhin führt der Kosmos Herders
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war. Es handelt sich schließlich auch um Reaktionen auf Preisausschreiben der Berliner Akademie der Wissenschaften. J B , S . 16. JB, S. 16f. J B , S . 17. Vgl. auch den Kommentar zu Herder: Uber den Ursprung der Sprache, in: Werke, Bd. 1, S. 1281. Der Begriff der Offenbarung werde in der Aufklärung häufig dadurch rationalisiert, dass man Natur und Mensch selbst als „sinnliche Offenbarung der göttlichen Herrlichkeit" betrachte (Kondyüs: Die Aufklärung, S. 576). Eine extreme Manifestation der natürlichen Sprachfahigkeit und Sprachfertigkeit des Menschen wäre in diesem Sinne eine sinnliche Offenbarung. „Bei den Berliner Gelehrten vermißte er »immer mehr die universelle Bildung und Humanität im Herderschen Geiste«." So Gutzkow in seiner Autobiographie (Gutzkows Werke, Bd. 4, hg. von Peter Müller, Leipzig Wien: Bibliographisches Institut [o.J.], S. 291). Vgl. Kondylis: Die Aufklärung, S. 615.
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Ideen %ur Geschichte der Menschheit als Quelle an54; auch hier, wie im Falle von Über den Ursprung der Sprachen lässt sich die Intensität der Auseinandersetzung mit dem Text kaum rekonstruieren. Von einer starken Wirkung der Herderschen Schriften auf Humboldt ist auszugehen.55 Vor dem Hintergrund von Humboldts allgemeiner Vertrautheit mit den wichtigsten philosophischen Debatten im Berlin der 1780er Jahre erscheint es durchaus möglich, dass ihm auch Herders Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume, ebenfalls der Berliner Akademie der Wissenschaften auf ein Preisausschreiben hin eingereicht und 1778 gedruckt, bekannt war. Zumindest darf das Werk zur Illustration dessen herangezogen werden, was in Humboldts Jugendbriefwechsel allenthalben begegnet, nämlich die Hochschätzung der Empfindung und der niedern Seelenvermögen, des Psychologischen und Ästhetischen in Fragen der Erkenntnis. Eine zentrale These aus diesem wichtigen Text sei in Erinnerung gerufen. Die Psyche erkennt die Phänomene nicht in Begriffen, sondern in Bildern, per Analogie, zumal über die Analogie zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, zwischen Mensch und Welt, zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos. Der empfindende Mensch fühlt sich in Alles, fühlt Alles aus sich heraus, und druckt darauf sein Bild, sein Gepräge. So ward Newton in seinem Weltgebäude wider Willen ein Dichter, wie Bujfon in seiner Kosmogonie, und Eeibni^ in seiner prästabilierten Harmonie und Monadenlehre. Wie unsre ganze Psychologie aus Bildwörtern bestehet, so wars meistens Ein neues Bild, Eine Analogie, Ein auffallendes Gleichnis, das die größten und kühnsten Theorien geboren. Die Weltweisen, die gegen die Bildersprache deklamieren, und selber lauter alten, o f t unverstandenen Bildgötzen dienen, sind wenigstens mit sich selbst uneinig. A b e r wie? Ist in dieser »Analogie Menschen« auch Wahrheit? Menschliche Wahrheit gewiß, und von einer höheren habe ich, so lange ich Mensch bin, keine Kunde. [...] Was wir wissen, wissen wir nur aus Analogie, v o n der Kreatur zu uns und von uns zum Schöpfer. 5 6
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K, S. 320. Aus der Zeit der Redaktion am Kosmos auch der Brief an Friedrich von Raumer, der Herders Werke erwähnt. Friedrich von Raumers litterarischer Nachlaß, Erster Band, Berlin: Ernst Siegfried Mitder 1869, S. 24. Vgl. Eberhard Knobloch: Naturgenuss und Weltgemälde. Gedanken zu Humboldts Kosmos, in: HiN V (2004), H. 9, S. 9. Einige der wichtigsten konzeptionellen Analogien zwischen Herder und Humboldt werden hier genannt. Die Einheit des Menschengeschlechts, die Genese der Geschichte der Menschheit und Kultur aus der Geschichte der Natur, die erkenntnistheoretische Valenz der Ästhetik, S. 9. Dort auch der Hinweis auf die verräterische Lesart eines Pliniuszitats, das Humboldt offensichtlich nach Herder zitiert (S. 10). Johann Gottfried Herder: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774— 1787, hg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher. Werke in zehn Bänden, Bd. 4, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994, S. 327-393, hier S. 330.
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Herder lagert also das Verhältnis zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt tiefer als Kant, der in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft darstellt, wie die „metaphysische Körperlehre" die Vernunft auf sich selbst und ihre eigenen Grenzen stets zurückverweist: Denn der Vernunft, „wenn Wißbegierde sie auffordert, das absolute Ganze aller Bedingungen zu fassen, [bleibt] nichts übrig, als von den Gegenständen auf sich selbst zurückzukehren, um, anstatt der letzten Grenze der Dinge, die letzte Grenze ihres eigenen sich selbst überlassenen Vermögens zu erforschen und zu bestimmen."57 Bei Herder dagegen statt des „sich selbst überlassenen Vermögens der Vernunft" die Empfindung, die Analogie zwischen Kreatur, Mensch und Schöpfer statt der metaphysischen die anthropologischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Noch einmal: Will man Herders Schrift schon nicht als unmittelbare Quelle für Humboldts eigene Überlegungen anerkennen, so kann sie doch als Illustration eines für die Zeit charakteristischen Denkens in Erinnerung gerufen werden, eines Denkens, das Humboldt vertraut und wichtig war. Auf Konjekturen und Assoziationen ist der Leser von Humboldts Briefen und Schriften ohnehin immer wieder angewiesen, wenn es um die Rekonstruktion seines weiteren philosophischen Curriculums geht. Die Betonung der Empfindung in Erkenntnisprozessen und die Koppelung der Seelenvermögen Verstand und Gefühl, von deren häufiger Beschwörung in den Briefen im vorangehenden Kapitel schon die Rede war, kann vor dem Hintergrund von Humboldts philosophischen Studien mit Johann Jakob Engel nicht überraschen. Auch in späteren Etappen des philosophischen Bildungsweges spielt die Konkurrenz der Seelenvermögen und ihre unterschiedliche Bewertung eine große Rolle. Einen nachhaltigen Eindruck scheint Humboldt bei einem Besuch in Pirmont im Sommer 1789 und im Frühjahr 1790 in Pempelfort von Friedrich Heinrich Jacobi empfangen zu haben. Die Bekanntschaft wird für Humboldt offenbar zum Anlass, die Berliner Aufklärer und ihre rationalistische Religionskritik etwas distanzierter zu betrachten. So berichtet er am 5.8.1789 aus Göttingen an Johann Friedrich Zöllner: „Es ist mir unbegreiflich, wie Menschen in Berlin (die den Namen von Philosophen doch gewiß nicht verdienen) Jacobi für einen mittelmäßigen, oberflächlichen! Schwärmer halten können. Er spricht doch über Berlin mit edler Mäßigung. Ich habe ihn sogar Engel und Mendelssohn warm vertheidigen hören, wenn junge Leute durch Schimpfen auf sie ihm zu schmeicheln glaubten."58
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Kant, Metaphysische Anfangsgründe, S. 135. JB, S. 63.
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Worin nun die Sympathie für Jacobi als Philosophen liegt, lässt sich einem Brief aus derselben Zeit an den Mathematiker Ernst Gottfried Fischer entnehmen. Fischer hatte ein Buch über Kometen verfasst, das sich nicht auf Induktion und Analyse stützt, sondern den Erkenntnissen verpflichtet ist, die aus den niederen Seelenvermögen hervorgehen. Gerade im Bezug auf das Weltall und die Gestirne lag der Epoche der Ausweg aus der empirischen Erkenntnis in die „gnoseologia inferior" nahe.59 Humboldt beginnt daher, um Fischer sein Kompliment über das Buch auszusprechen, mit einer Kritik der „Wolfischen Schule", deren Verdienste er zwar anerkennt, deren Konsequenzen er jedoch bedauert. Sie habe die Analytik zu einer Höhe gebracht, auf der sie nie vorher stand. Aber diese Verwechslung des Aesthetischen, der Erscheinungen, mit dem Grunde derselben, mit den Dingen an sich selbst, diese Sucht alles demonstriren zu wollen, was nicht demonstrabel ist (sobald wir nicht von dem Möglichen, sondern von dem Wirklichen reden) dieser Eigensinn alles zu verwerfen, was nicht demonstrirt worden ist — haben eine Intoleranz unter den Philosophen bewirkt, die dem Denken unerträglicher ist, als der angenommene Glaube einer Religionspartei. Man hat den Theismus, der aus manchen Gründen der Empfindung und Analogie so wahrscheinlich und beruhigend wird, zu einem dogmatischen Theismus gemacht. Man spricht den Bannfluch des Atheismus gegen die aus, die eine reine Kritik auf einen vernünftigen Skeptizismus leitet.60
Das Ästhetische wird in diesem Zusammenhang nicht schlechthin angegriffen, sondern nur im Rahmen der unzulässigen „Verwechslung" zweier Erkenntnisformen — ein Zeichen eher dafür, dass Humboldt das Ästhetische durchaus auch im Rahmen der Erkenntniskritik berücksichtigt. Er hebt die polemischen Kontexte der verschiedenen Positionen, der rationalistischen in der Schule Wolffs, und der auf sinnliche Erkenntnis, auf Empfindung gegründeten, selbst heraus.61 Wurde im Brief über das Pfingstwunder unter Berufung auf Mendelssohn eine bestimmte Tendenz der Neologie kritisiert, so verlagert sich in diesem Schreiben an Fischer die Sympathie, die nun deutlicher den niederen Seelenvermögen in der Frage der Wahrheitsfindung gilt. Anders als man es von einem zukünftigen 59
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So heißt es in der „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" Kants von 1755, über den „Anblick eines bestirnten Himmels": „Bei der allgemeinen Stille der Natur und der Ruhe der Sinne redet das verborgene Erkenntnisvermögen des unsterblichen Geistes eine unnennbare Sprache und gibt unausgewickelte Begriffe, die sich wohl empfinden, aber nicht beschreiben lassen." Vgl. Rudolf Unger: „Der bestirnte Himmel über mir...". Zur geistesgeschichtlichen Deutung eines Kant-Wortes [1924], in: ders: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Aufsätze zur Literatur- und Geistesgeschichte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1966, S. 4 0 - 6 6 , hier S. 42. JB, S. 65. Die polemische Funktion der wichtigsten Thesen der Aufklärung, die jeweils als Gegenpositionen entstünden, betont Kondylis mehrfach (Kondylis: Die Aufklärung, S. 19 und öfter).
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Verfechter empirischer Naturforschung erwarten dürfte, sucht Humboldt dabei die niederen Seelenvermögen stark zu machen. Noch einmal fallen die Schlagworte, die Herder in seiner Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele in den Mittelpunkt gestellt hatte: „Empfindung" und „Analogie": Wenn meine Hochachtung für Sie noch zunehmen kann, so schätze ich Sie doppelt darum, weil Sie mehr dem Wege der Empfindung und Analogie, als dem Wege der Demonstration gefolgt sind. Beide sind gleich unsicher; Demonstration hat hier keinen Vorzug vor der Analogie; nehmen wir ein metaphysisches Anschauen wie ein physisches an, und dies ist eigentlich (wie ich aus eigenen Gesprächen mit ihm weiß) Jakobis verschriener Glaube, so schließt die Empfindung gar die Demonstration aus; ist, wie ein Axiom über dieselbe erhaben. Wo Gewißheit nicht zu erlangen ist, muß man Wahrscheinlichkeit und Beruhigung suchen. Und wer kann im volleren Maße leztere reichen, als jene gefällige, einschmeichelnde Philosophie, die Ihrem psychologischen Traum und Ihrer Lehre von den Kometen so viele Anhänger verschafft hat. Die strenge Methode des Objectiven gilt jetzt nur noch zur Kritik; die Periode mathematischer Philosophie ist vorüber - aber die Periode philosophischer Mathematiker hebt an.62 „Psychologische Träume" - als „Bemerkungen und Träume" hatte Herder seine Schrift untertitelt - verwirft Humboldt also nicht schlechterdings, sondern sieht sie als legitime Elemente der Philosophie. Gegenüber Fischer meldet Humboldt aber auch Zweifel an. Sie beziehen sich darauf, dass das analogische Denken weder zu widerlegen noch zu beweisen ist, während die strenge Analyse immer nur begrenzt anzuwenden sein wird. Es ist ein Problem der Erkenntnisphilosophie, mit dem es Humboldt ein Leben lang zu tun haben wird, zumal dann, wenn er mit der ganzen physischen Welt zu tun hat, wie in diesem Brief: Gesezt wir kämen je dahin, alle Gewächse und Thiere und Mineralien, alle Sterne über uns und Länder neben uns kennen zu lernen - ist die Welt nicht ein zufälliges Ding, nicht veränderlich. Wie wollten wir z.B. nur je die Gesetze der Natur ausspüren, da keine Analogie uns vergewissern kann, ob nicht den folgenden Tag das Wasser brennt, die Steine zerfließen... [...] die Kometen mögen wohl das Paradies der Astronomen sein, aber was läßt uns vermuthen, daß sie sonst vollkommner, als unser Planet sind, der uns im Verhältniß nach dem, was darauf zu lernen ist, gewiß nach 200 000 000 Jahren noch terra incognita sein wird!63
Der pragmatische Idealismus des Kosmos Die Zweifel, die Humboldt schon im Brief des Jahres 1789 umtreiben, begleiten ihn noch bei der Abfassung der einleitenden Seiten zum Kosmos, 62 63
JB, S. 65. JB, S. 66.
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der erst 1845 erscheinen wird. Die methodischen Überlegungen, die nun den Weg zur Darstellung der ganzen physischen Welt ebnen sollen, rufen Humboldts frühe Überlegungen zum Verhältnis von empirischem, rationalem und kausalem Denken auf der einen Seite und analogischem, sinnlichem Erkennen auf der anderen in Erinnerung. In den einleitenden Betrachtungen zum ersten Band ist vom „fast bewußdosen Gefühle höherer Ordnung und innerer Gesetzmäßigkeit der Natur" 64 die Rede, von der ,,schaffende[n] Phantasie" und der „symbolisierende[n] Ahndung", 65 vom ,,dunkle[n] Gefühl des Einklangs, welcher in dem ewigen Wechsel ihres [der Natur] stillen Treibens herrscht." 66 Dabei gilt die Annäherung an die Natur über Empfindung, Ahnung, Träume als Anreiz zur wissenschaftlichen Beschäftigung der Natur. Dichtung, Malerei und Gartenbau, so führen es die entsprechenden Kapitel des Zweiten Bandes vor, die Medien sinnlicher Erkenntnis, gelten als privilegierte „Anregungsmittel zum Naturstudium." 67 Das Verhältnis von sinnlicher und wissenschaftlicher Erkenntnis der Natur ist komplementär, denn die modernen Kulturen des Abendlandes kennen sowohl die wissenschaftliche als auch die ästhetische Beschäftigung mit der Natur. Es ist zuerst ein Verhältnis der historischen Aufeinanderfolge, und zwar philo- wie ontogenetisch. Humboldt führt sich selbst als Beispiel an: er sei als Kind von den Reisebeschreibungen Forsters und anderer fasziniert gewesen, von der Landschaftsmalerei von den Gärten und Gewächshäusern.68 Analog zur Bildung des einzelnen, der von den niederen zu den höheren Formen der Erkenntnis fortschreitet, entfaltet sich auch die Bildung der Menschheit: Wenn nun der Mensch, indem er die verschiedenen Entwicklungsstufen seiner Bildung durchläuft, minder an den Boden gefesselt, sich allmälig zu geistiger Freiheit erhebt, genügt ihm nicht mehr ein dunkles Gefühl, die stille Ahndung von der Einheit aller Naturgewalten. Das zergliedernde und ordnende Denkvermögen tritt in seine Rechte ein; und wie die Bildung des Menschengeschlechts, so wächst gleichmäßig mit ihr, bei dem Anblick der Lebensfülle, welche durch die ganze Schöpfung fließt, der unaufhaltsame Trieb, tiefer in den ursachlichen Zusammenhang der Erscheinungen einzudringen.69
Vor allem aber erscheint die Erkenntnis unter anthropologischen Gesichtspunkten als eine Art Heuristik, als Feld anschaulicher Hypothesenbildung. Die niederen Seelenvermögen und die sinnliche Erkenntnis sind
64
K, S. 11.
65 66 67 68 69
K, S. K,S. K, S. K,S. K, S.
16. 10. 189. 190. 17.
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in dem Maße gerechtfertigt, als die zuverlässigen Aussagen der exakten Naturforschung in ihrer Reichweite nur sehr begrenzt sein können: Die Vielheit der Erscheinungen des Kosmos in der Einheit des Gedankens, in der Form eines rein rationalen Zusammenhanges zu umfassen, kann, meiner Einsicht nach, bei dem jetzigen Zustand unseres empirischen Wissens nicht erlangt werden. Erfahrungswissenschaften sind nie vollendet, die Fülle sinnlicher Wahrnehmungen ist nicht zu erschöpfen; keine Generation wird sich je rühmen können, die Totalität der Erscheinungen zu übersehen.70 Möglichkeiten zur Kompensation dieser Grenzen des Wissens liegen nicht in einer als spezifisch naturwissenschaftlich legitimierten Hypothesenbildung, sondern ausdrücklich in einer Kombination von im weiteren Sinne kulturellen und wissenschaftlichen Formen der Auseinandersetzung mit der Natur. Unter der Überschrift „Begrenzung und wissenschaftliche Behandlung einer physischen Weltbeschreibung" heißt es: Es geziemt nicht dem Geiste unserer Zeit, jede Verallgemeinerung der Begriffe, jeden auf Induktion und Analogien gegründeten Versuch, tiefer in die Verkettung der Naturerscheinungen einzudringen, als bodenlose Hypothesen zu verwerfen, und unter den edlen Anlagen, mit denen die Natur den Menschen ausgestattet hat, bald die nach einem Causal-Zusammenhang grübelnde Vernunft, bald die regsame, zu allem Entdecken und Schaffen nothwendige und anregende Einbildungskraft zu verdammen.71 Es ist eine Aussage, die Humboldts Herkunft aus der Aufklärung deutlich belegt: „die nach einem Kausalzusammenhang grübelnde Vernunft", das ist die Metaphysik der Natur, das a priori der menschlichen Vernunft angesichts der Phänomene. Die „regsame Einbildungskraft", das ist die sinnliche Erkenntnis, die kreative Leistung der niederen Seelenvermögen. Die Koppelung der beiden Seelenvermögen, die hier noch nicht einmal hierarchisch geordnet sind, macht deutlich, dass Humboldts philosophisches Denken wissenschaftliche Methode und Anthropologie nicht trennt. Ein weiteres Beispiel für die erkenntnistheoretische Relevanz der niederen Seelenvermögen: Neben dem sicheren Wissen steht das Vermuthen und Meinen. Eine philosophische Naturkunde strebt sich über das enge Bedürfniß einer bloßen Naturbeschreibung zu erheben. Sie besteht, wie wir mehrmals erinnert haben, nicht in der sterilen Anhäufung isolirter Thatsachen. Dem neugierig regsamen Geist des Menschen muß es erlaubt sein, aus der Gegenwart in die Vorzeit hinüberzuschweifen, zu ahnden, was noch nicht klar erkannt werden kann, und sich an den alten, unter so vielerlei Formen immer wiederkehrenden Mythen der Geognosie zu ergötzen.72
70 71 72
K, S. 35. K, S. 37. K, S. 123.
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Ein Plädoyer also für die methodische Zulässigkeit früherer Formen der Naturerkenntnis.73 In Humboldts Spätwerk ist die Komplementarität unterschiedlicher Methoden, der induktiven, der empirischen, der rationalistischen auf der einen, und einer analogischen der niederen Erkenntnisvermögen auf der anderen, vor allem durch die Relevanz aufeinanderfolgender historischer Stufen gerechtfertigt. Doch der Historiker Humboldt wird dabei leicht in den Augen seiner Leser selbst zur wandelnden Historie. In der Tat hängen die widersprüchlichen oder schwankenden Versuche ihn ideengeschichtliche zu situieren am Ende auch mit seiner Langlebigkeit und seiner Fähigkeit zur Assimilation historischer Erscheinungen zusammen. Den einen ist er Zeit seines Lebens der Aufklärung 74 verpflichtet, andere rechnen ihn zum Idealismus,75 wieder andere betonen die Ubereinstimmung seiner Konzepte mit dem „romantischen Weltbild".76 Diese Zuschreibungen, die vor allem einem allgemeinen Eindruck aus den Schriften Humboldts wiedergeben, die stets empirische Naturforschung mit Ästhetik, Geschichte, Psychologie verbinden, diese Zuschreibungen kommen zumindest in dem einen Punkt überein: Ein konsequenter Vertreter einer strengen „exakten" Naturwissenschaft wurde Humboldt nie. Seine umfassende Perspektive, die einem Auseinanderfallen der Rede von Natur in die später so benannten „zwei Kulturen" widerstrebt, lässt sich ideengeschichtlich am sichersten dort verankern, wo Humboldts erste Eindrücke von Erkenntnistheorie und Erkenntniskritik liegen können: in der Berliner Spätaufklärung, die sich für ihn nie ganz erübrigt zu haben scheint. So hat er offenbar das Argumentieren im Dualismus von Verstand und Gefühl, von Analyse und Analogie und seine Vorliebe für genetisches Denken aus der Anthropologie des späten 18. Jahrhunderts bis in die Sphäre der Göttinger Universität und der Kultur von Weimar und Jena mitgenommen. Haben seine jugendlichen Bildungseindrücke im Umkreis der Popularphilosophen sich auch um die Suggestionen des Kantianismus und Idealismus, von Klassik und Romantik erweitert, so scheint Humboldt sie doch zu keiner Zeit verleugnet zu haben. Das Ergebnis ist ein niemals systematisch begründeter, kaum beim Namen 73 74
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Zu den Grenzen der Empirie weitere Belege in K, S. 35—39. Z.B. Mario Bunge: „Humboldt war der letzte philosophe der Aufklärung" (Mario Bunge: Alexander von Humboldt und die Philosophie, in: Pfeiffer, Humboldt, S. 17-30, hier S. 30). Gerhard Hennemann: Grundzüge der Naturphilosophie und ihrer Hauptprobleme, Berlin: Duncker und Humblot 1975 (=Erfahrung und Denken. Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften, 44). Christian Köchy: Ganzheit und Wissenschaft. Das historische Fallbeispiel der romantischen Naturforschung, Würzburg: Königshausen und Neumann 1997 (=Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften, 180), S. 74.
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genannter „schwacher" Idealismus: Idealismus, weil Humboldt stets die Erkenntnisleistung des Subjekts bei der Wissenschaft von der Natur voraussetzt, „schwach", weil Subjektivität, Individualität, Empfindung selbst als wesentlich natürlich, als anthropologische Gegebenheiten anzusehen sind. Die Eindrücke aus Pempelfort und Göttingen und die Kultur von Weimar und Jena können dieses spätaufklärerische Denken umso weniger außer Kraft setzen, als sie selbst wesentlich auf ihm beruhen. Ein Passus aus der methodischen Einleitung des Kosmos sei zur Illustration von Humboldts „schwachem Idealismus" angeführt: Man mag nun die Natur dem Bereich des Geistigen entgegensetzen, als wäre das Geistige nicht auch in dem Naturganzen enthalten, oder man mag die Natur der Kunst entgegenstellen, letztere in einem höheren Sinn als den Inbegriff aller geistigen Productionskraft der Menschheit betrachtet; so müssen diese Gegensätze doch nicht auf eine solche Trennung des Physischen vom Intellectuellen führen, dass die Physik der Welt zu einer bloßen Anhäufung empirisch gesammelter Einzelheiten herabsinke. Wissenschaft fangt erst an, wo der Geist sich des Stoffes bemächtigt, wo versucht wird, die Masse der Erfahrungen einer Vemunfterkenntnis zu unterwerfen; sie ist der Geist, zugewandt zu der Natur. Die Außenwelt existirt aber nur für uns, indem wir sie in uns aufnehmen, indem sie sich in uns zu einer Naturanschauung gestaltet. So geheimnißvoll unzertrennlich als Geist und Sprache, der Gedanke und das befruchtende Wort sind, eben so schmilzt, uns selbst gleichsam unbewußt, die Außenwelt mit dem Innersten im Menschen, mit dem Gedanken und der Empfindung zusammen. »Die äußerlichen Erscheinungen werden so«, wie Hegel sich in der Philosophie der Geschichte ausdrückt, »in die innerliche Vorstellung übersetzt.«77 Die Passage beruft sich eher aus diplomatischen Gründen auf Hegel, nicht etwa, weil es sein philosophisches System zu unterstützen gilt.78 Interessanter ist der Hinweis auf den Kontext der Geschichtsphilosophie. Denn wenn Humboldts „schwacher Idealismus" sich in der beschreibenden Naturwissenschaft noch so spät im 19. Jahrhundert bewährt, so ist dies zweifellos einer produktiven und plausiblen Allianz mit der ebenso empirischen wie philosophischen Geschichtschreibung zu verdanken.
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K, S. 36f. Einem Brief an Boeckh ist im Übrigen zu entnehmen, dass Humboldt Hegel im Kosmos eher aus diplomatischen Rücksichten respektvoll zitiert, jedoch dabei keineswegs ein philosophisches Bekenntnis ablegen wollte. Hegel habe sich gegenüber Varnhagen kritisch über die Kosmosvorlesungen von 1827 geäußert, in denen Humboldt sich gegen ein „rein ideelles Naturwissen" ausgesprochen habe. Es geht nun um eine posthume Verneigung, „da ich nicht werde vermeiden können, den sehr geachteten, jetzt ungerecht verfolgten Mann bald dort oben zu sehen [...] von Hegel citire ich etwas ernstes und ehrenvolles. So komme ich zu meinen Zwecken ohne Liebe für beide [Schelling und Hegel], aber mit mehr Achtung für Hegel" (Brief vom Herausgeber auf 1843 datiert: Böckh: Lebensbeschreibung, S. 425).
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Ein weiteres Residuum der spätaufklärerischen „niederen Erkenntnisvermögen" in der Wissenschaft ist die Rhetorik.79 Wo die Herstellung eines logischen oder methodischen Zusammenhangs nicht mehr zulässig scheint, da darf es, neben dem historischen wenigstens noch den durch die stilistische Lizenz suggerierten geben. Etwa in der Metapher und im Vergleich: In diese Stilfiguren rettet sich die von der Popularphilosophie hochgeschätzte „Analogie" und „Empfindung". So bezeichnet Humboldt, wie schon zitiert, die Zunahme wissenschaftlicher Kenntnisse als „Wachstum", er vergleicht die Geologie mit der Sprachgeschichte. Oder er schreibt, wie „dasselbe Bild, das früh dem inneren Sinne als ein harmonisch geordnetes Ganze, KOSMOS, vorschwebte, sich zuletzt wie [!] das Ergebniß langer, mühevoll gesammelter Erfahrungen darstellt."80 So überbrückt der Rhetoriker Humboldt den Hiatus zwischen einer Empirie, die nicht in der Lage ist, Zusammenhänge zu begründen, und einer Metaphysik oder Ästhetik, die nicht induktiv arbeiten kann.
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Gerd Ueding erinnert an den Zusammenhang von Erkenntnisart, Stil und Wirkungsintention und zidert Baumgarten: „Will der Philosoph bloß nach den Regeln der Logik verfahren, so ist er nicht beredt, er kann aber von seinen Gegenständen auch schön denken und also beredt schreiben. In gewissen Umständen hat er das letzte nötig, weil er in einer Welt ist, wo er auch mit andern Leuten zu tun hat als denen, die abstrahieren können" Gerd Ueding: Rhetorik und Popularphilosophie, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 1980, S. 112-134, hier S. 128. K, S. 9f.
Humboldts Antikenstudien: Methode und Ideal Eine Hommage an August Böckh In einer Glückwunschadresse an August Böckh, der seit fünfzig Jahren an Universitäten lehrt, gibt Humboldt 1857 einen autobiographischen Rückblick auf verschiedene Stationen seiner Beschäftigung mit der Philologie alter Sprachen. „Als ich mich in Göttingen mit meinem Bruder Wilhelm vereinigte, ehe dieser im Jahre 1789 eine Excursion nach Paris machte, frequentierte ich, auf seine Aufforderung, mit ihm die philologischen Collegia des Seminars und hatte das seltene Glück, daß der ehrwürdige Christian Gottlob Heyne mir ein aufmunterndes litterarisches Wohlwollen schenkte."1 Es hätte des Hinweises auf das Revolutionsjahr und auf Paris nicht bedurft, um das historisch Prägnante eines Studiums im Göttingen jener Jahre zu betonen. Die Brüder trafen dort ein, als die Universität sich als Avantgarde der Naturforschung und der historischen Disziplinen einen vorzüglichen Ruf erworben hatte. Neben den Seminaren von Christian Gottlob Heyne und des Orientalisten Johann David Michaelis besuchte Humboldt dort auch die Kollegien von Georg Christoph Lichtenberg und Johann Friedrich Blumenbach sowie des Historikers Ludwig Thimotheus Freiherr von Spittler. Auch in seiner weiteren Darstellung für Böckh führt Humboldt, nach Heyne und Michaelis, Namen an, die in der Philologie und Altertumsforschung Epoche gemacht haben. Eine Arbeit über die „Webstühle der Alten", in den Göttinger Monaten entstanden, habe er 1794 zur Begutachtung an Friedrich August Wolf geschickt. Später, nach seiner amerikanischen Reise, habe er in Paris die Zeit gefunden, vermöge der aufopferndsten Freundschaft von Carl Benedict Hase, dem vielbegabten Hellenisten, welchen Villoisin früh erkannt und liebgewonnen hatte, mich wieder mit griechischer Litteratur, durch die Vorträge Champollions und Lettonnes über das alte Reich in Ägypten wie über die hellenische und römische Eroberungszeit, mich mit dem Ursitze menschlicher Ausbildung, zuletzt als notwendiger Vorbereitung zu einer Expedition nach Inner-Asien, durch mehrjährigen Unterricht des persischen Reisenden Andrea de Nerciat und des größten Orientalisten neuerer Jahrhunderte, Silvestres de Sacy, mit der iranischen Sprache zu beschäftigen.
Und weiter schreibt Humboldt, um Verständnis für das Pathos seiner Erinnerungen werbend: „Ich nenne, wie durch litterarische Eitelkeit 1
Max Hoffmann: August Böckh. Lebensbeschreibung und Auswahl aus seinem wissenschaftlichen Briefwechsel, Leipzig: Teubner 1901, S. 451.
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getrieben, die Lebensereignisse, welche den Wahn begründen konnten, mich in diesem geselligen Kreise fast heimisch zu fühlen."2 In die Liste klingender Namen fügt Humboldt wie selbstverständlich den seines Bruders ein, „dem Übersetzer des Agamemnon von Aeschylos, mit dem Ubersetzer olympischer, pythischer und nemeischer Oden des Pindar." 3 Wiederum seinem Bruder habe er die Bekanntschaft, diesmal der Berliner Koryphäen auf diesen Gebieten zu verdanken. Rühmt Humboldt den Jubilar, indem er ihn mit den Namen der Illustren aufruft, oder schmeichelt er nicht vielmehr seinem eigenen Namen? Tatsächlich wird Böckh wie den Brüdern Humboldt zugleich ein Denkmal errichtet: „In dem stillen, anmuthigen, durch Natur und Kunst geschmückten Landsize Tegel wurde ich bald Zeuge von ihrem wissenschaftlichen Verkehr, oft und innig belebt durch Bopps Gegenwart wie durch den Einfluß Jacob Grimms und Christian Lassens, auf den geheimnisvollen Wegen der Sprachentwickelung, welche die verschiedenen Theile des einigen, gleichberechtigten Menschengeschlechtes wandeln." 4 Daraufhin die Erinnerung an beider Lehrtätigkeit, an die eigenen Kosmosvorlesungen 1827, und an „den Vorzug, unter Böckhs Schülern aufzutreten: im November 1833 in den Vorlesungen über Griechische Alterthümer, in den Jahren 1834 und 1835 über Griechische Litteraturgeschichte, neben den mich belehrenden Vorträgen meines theuren Freundes [des Chemikers Eilhard] Mitscherlich."5 Als über Sechzigjähriger also hat Humboldt Böckhs Vorlesungen besucht, offenbar eifrig mitschreibend. Die Verbundenheit mit dem Altphilologen bewährt sich über Humboldts Tod hinaus. August Böckh gehört zu denen, die 1859 eine vielbeachtete akademische Trauerrede auf den Verstorbenen halten.6 Es ist ein weites Feld, das Humboldt 1857 dem Jubilar absteckt: Sein Fach und das seiner gelehrten Kollegen umfasst neben den klassischen Sprachen und Literaturen auch die Orientkunde, die vergleichende Sprach- und Kulturgeschichte der gesamten alten Welt. Vom späten achtzehnten Jahrhundert bis zur Mitte des neunzehnten differenzieren sich neue Disziplinen in der Altertumsforschung heraus, andererseits aber 2 3 4 5 6
Ebd., S. 452. Ebd. Ebd. Ebd. Wieder abgedruckt in: Kurt-R. Biermann: Beglückende Ermunterung durch die akademische Gemeinschaft. Alexander von Humboldt als Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, Berlin: Akademie-Verlag 1992 (=Beiträge zur Alexander von HumboldtForschung, 17), S. 83ff. Zur Geschichte von Humboldts ausgeprägtem Interesse für die Philologie gehört auch, dass er im September 1837anlässlich der Hundertjahrfeier der Universität Göttingen lieber an der Gründung des Deutschen Philologenvereins teilnahm als an der Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte in Prag.
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sind die das Studium der Alten erweiternden Fächer noch so wenig etabliert, dass Humboldts Erinnerung an wenige bahnbrechende Forscher genügt, um verschiedene Fachgebiete einerseits, aber auch den Zusammenhang und die Überschaubarkeit eines größeren Forschungskomplexes anzudeuten. Die Namen der Berühmten stehen für das, was sich in jenen Jahren überhaupt über die Alte Welt wissen und lernen lässt. Die Verbindlichkeit der persönlichen Beziehungen, die Humboldt mit seinen Erinnerungen beschwört, dient nicht zuletzt der Suggestion, die Kenntnis der Gegenstände sei für einen Dilettanten nicht ganz unmöglich, da er ja mit den wichtigsten mit ihnen befassten Gelehrten gebildeten Umgang pflegte. Die Geselligkeit des Gesprächs und der Korrespondenz, die so sehr an die gelehrte Sozialität des achtzehnten Jahrhunderts erinnert, überbrückt in den autobiographischen Beobachtungen für den Jubilar die inzwischen längst eröffnete Kluft zwischen Spezialistentum und Dilettantismus. Die Unvermeidlichkeit der alten Sprachen Was hat man unter Humboldts Dilettantismus auf diesem Gebiet zu verstehen? Ist es das Wissen jener Kenner und Liebhaber, die bis weit ins 19. Jahrhundert zwar keine formelle Ausbildung haben und keiner vergüteten Berufstätigkeit nachgehen, die in ihrer Kompetenz die Professionellen dennoch übertreffen können?7 Oder ist es der Dilettantismus derjenigen, deren Unzulänglichkeiten neben der Seriosität der Fachleute sofort offenbar werden? Der vielleicht mehr persönlichem Ehrgeiz zuzuschreiben ist als der tatsächlichen Kompetenz?8 Wie bewandert war Humboldt auf dem Gebiet der Altertumskunde und der klassischen Philologien, was war sein Interesse bei diesen Studien, wie spiegeln sie sich in seinen Forschungen und Publikationen wieder? Bei dem vorzüglichen Privatunterricht, den die Brüder im Elternhaus genossen haben, kann man eine allgemeine Kenntnis der lateinischen Sprache, der Grammatik und einiger klassischen Autoren voraussetzen. Dazu kommt in den Jahren 1788 und 1789 Privatunterricht im Griechischen. Die Zitate aus kanonischen Texten, die sich in Humboldts Briefen von den Anfängen her bis in seine spätesten Jahre finden, sind daher nicht einem spezifischen Interesse an der Altphilologie zu verdanken, sondern 7
8
Vgl. Richard Toellner: Liebhaber und Wissenschaftler. Zur Rolle des Amateurs in der Geschichte der Wissenschaften. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 9 (1986), S. 137— 145, hier S. 143. Zur Wortgeschichte und zu den Bedeutungen um 1800 vgl. H[ans] Rudolf Vaget: Der Dilettant. Eine Skizze der Wort- und Bedeutungsgeschichte, in: J B D S G 14 (1970), S. 1 3 1 158.
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gehören zum geselligen Umgang unter den Gebildeten aller Disziplinen wie selbstverständlich dazu. Es ist dann nicht die individuelle Vorliebe des Absenders oder des Adressaten, die das klassische Zitat angebracht erscheinen lassen.9 In den frühen Briefen an Wilhelm Gabriel Wegener, dies wurde schon gesagt, gefallt sich der Absender besonders in Zitaten und Anspielungen. Hier schreibt ein Student an einen Studenten und gibt sich betont gelehrt. Eben für Wegener ist auch die Schilderung der Kämpfe mit der griechischen Grammatik und einiger Niederlagen vom Juni 1788 bestimmt.10 Doch tapfer schickt Humboldt dem Freund eine Textprobe, zusammen mit der Bemerkung: „Je mehr ich über die griechische] Sprache nachdenke, desto mehr werde ich in meiner vorgefaßten Meinung bestätigt, daß sie die Grundlage aller gelehrter Kenntnisse sei."11 Der Brief bezieht sich abermals auf den Lehrer Johann Jakob Engel, wenn er dessen Überzeugung wiedergibt, „wie wir in Philosophie, Aufklärung, Geschmack, Künsten p. um mehrere Jahrhunderte weiter sein würden, wenn die Abendländfische] Kirche in dem mächtigen Streite der Bischöfe nicht das Ubergewicht behalten und dadurch römische, statt griechische, Litteratur, die Kopien statt der Originale, eine mittelmäßige Sprache für die ausgebildetste, vollkommenste Sprache eingeführt hätte."12 Jene für die deutsche Klassik so entscheidende Blickwendung von der römischen zur griechischen Antike,13 seit Winckelmann zum Schlagwort geworden, die gesuchte Affinität zwischen deutscher und altgriechischer Kultur deutet sich an. Exzentrischer erscheint das vorübergehende Interesse der Brüder Humboldt für das Hebräische. Eine Zeitlang haben sie in „jüdischer Kurrentschrift" mit Henriette Herz korrespondiert.14 Von den Vorlesungen, die Karl Philipp Moritz nach seiner Rückkehr aus Italien 1789 an der Berliner Akademie über die Theorie der schönen Künste hielt — sicherlich ein wichtiges Ereignis in der Geschichte der Antikenrezeption im Deutschland jener Jahre — scheint Humboldt dagegen einen zwiespältigen Eindruck gewonnen zu haben.15 9
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Zu Zitaten und Themen aus dem Bereich der Antike in Humboldts Briefwechsel vgl.: Detlef Haberland: „Unendlichkeit als Begrenzung". Alexander von Humboldts Korrespondenzen und die Antike, in: Rainer Baasner (Hg.): Briefkultur im 19. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 1999, S. 3 5 8 - 3 8 3 . JB,S. 9. J B , S . 10. J B , S . 10. Vgl. Rudolf Pfeiffer: Die klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen, München: Beck 1982 [engl. Erstausgabe 1976], Kapitel „Winckelmann, der Schöpfer des Neohellenismus", S. 2 0 7 - 2 1 3 . Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. 1, S. 48. Vgl. den Brief an Wegener vom 27.3.1789: „Das Kollegium ist gewiß das glänzenste, was in Deutschland gelesen wird. Ich hörete ihn einmal. Sein Vortrag ist edel, fließend und nur zu
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Der Besuch des philologischen Seminars in Göttingen im Jahre 1789 hat dagegen sogleich Humboldts persönlichen Ehrgeiz geweckt.16 Den Briefen an Wegener ist zu entnehmen, dass Humboldt sich bewusst war, im Zentrum bahnbrechender Leistungen auf den in Göttingen so hervorragend vertretenen Gebieten Naturforschung, Jura, Philologie und Geschichte zu sein. So stellt sich die gelegentliche Teilnahme am Seminar von Heyne und an den Vorlesungen von Michaelis in der HumboldtBiographik als achtunggebietende Episode dar. Für du Bois-Reymond etwa, der 1883 anlässlich der Stiftung der Humboldt-Denkmäler in Berlin eine Würdigung des Naturforschers im historischen Zusammenhang versucht, zählen der Besuch der Göttinger Universität in jenen Jahren so wie die Aufenthalte in Weimar und Jena zu den prägenden Bildungseindriicken nicht nur Alexander von Humboldts, sondern zum Inbegriff der Kultur der ganzen Epoche. Seine zugleich schöngeistigen und empirischnaturwissenschaftlichen Beschäftigungen repräsentieren für du BoisReymond offenbar in eindrucksvoller Weise die Stärken, aber auch die Grenzen der deutschen Kultur im frühen 19. Jahrhundert. Aus Heynes Schule hervorgegangen, und noch als Sechzigjähriger mit der Kollegienmappe unter dem Arm in unseren Hörsälen unter Böckhs Studenten Platz nehmend, war er der Mann, die Brücke zu schlagen zwischen der alten und der neuen Zeit, zwischen dem philologisch-historischen, ästhetisch-spekulativen Deutschland, wie die Jahrhundertwende es sah, und dem mathematisch-naturwissenschaftlichen, technisch-induktiven Deutschland unserer Tage.17
Doch in diese Würdigung mischen sich auch kritische Töne. Für das späte 18. Jahrhundert hat Du Bois-Reymond kaum Sympathien: Nun bemächtigt sich der deutschen Gesellschaft ein vorwiegend schöngeistiges Interesse. Während aber der für zartere Regungen empfängliche Teil der Gebildeten ein ästhetisches Traumleben führt, werden strengere Geister durch die Betrachtung der Antike gefesselt, oder sie versenken sich in die Tiefen der gleichzeitig gereiften kritischen Philosophie. So war weithin der Sinn der Nation
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rednerisch. Aber die Materialien! Welch ein großes Gemisch an glänzenden Irrtümern ... Höre nur: ,Ein Wesen geht in das andere über, eine niedere Organisation wird von der höheren verschlungen und veredelt. Das Thier frißt die Pflanze, der Mensch das Thier. So wird die Pflanze erst Thier, dann Mensch.' [...] Dann: ,Die Natur schuf den Menschen, um durch ihn ihre eigene Vollkommenheit zu beobachten.' Aber neben allem diesem viel scharfsinniges, wahre Aufblize des Genies" (JB, S. 48f.). In einem Rückblick aus dem Jahre 1801, also aus Amerika, schreibt Humboldt: „In Göttingen lebte ich allein für Naturgeschichte und Sprachen, zu welchen letzteren mich meine Freundschaft mit Woltmann und Eitelkeit mehr als wahrer Hang hinzog. Ich fand dort Link und Persoon, mit denen ich eine literarische Gesellschaft stiftete." A. v. Humboldt: Aus meinem Leben, S. 34f. Emil du Bois-Reymond: Die Humboldt-Denkmäler vor der Berliner Universität, in: Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Emil du Bois-Reymond, hg. von Ingo Schwarz und Klaus Wenig, Berlin: Akademie Verlag 1997 (=Beiträge zur Alexandervon-Humboldt-Forschung 22), S. 8 4 - 2 0 3 , hier S. 201.
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der Wirklichkeit entfremdet, und nur noch dem schönen Schein und ideellen Wahrheiten zugewandt. 18
Humboldt wird nun gelobt, insofern er allen schöngeistigen Interessen zum Trotz Empiriker war, und getadelt, insofern er in der empirischen Beschreibung verharrte, ohne zur eigentlichen naturwissenschaftlichen Theoriebildung aufzusteigen.19 Von Wirklichkeitsfremde und Träumerei ist jedoch in Humboldts philologischen Studien der Göttinger Zeit wenig zu sehen. Die Faszination scheint nicht von einem vagen Ästhetentum und von Antikenschwärmerei auszugehen, sondern von der philologischen Methode, die eine nach neuesten Gesichtspunkten streng wissenschaftliche ist. Von einer wirklichen Konkurrenz der naturwissenschaftlichen und der humanistischen Bildung, wie sie du Bois-Reymond aus der Perspektive des späten 19. Jahrhunderts suggeriert, war um 1790 noch keine Rede, sie ist als Problem der späteren Zeit offenbar in die frühere hineingelesen worden. Tatsächlich verbindet sich Humboldts Arbeit in Heynes Seminar von Anfang an mit einem ausgesprochenen Interesse an der Auswertung von historischen Quellen für naturkundliche und technische Fragestellungen. Die Philologie, wie sie hier gelehrt wurde, führte dabei beispielhaft in empirische, positivistische Forschung ein, insofern es um die kritische Sichtung eines tendenziell unbegrenzten historischen Datenmaterials ging. So kann die Philologie, wie sie sich von Göttingen aus allmählich in ganz Deutschland durchsetzte, als Leitdisziplin der induktiven Forschung,20 gründlicher analytischer Verfahren,21 als exakte Wissenschaft par excellence gelten.22 In der systematischen Erschließung und methodischen Korrelation von verschiedenen Kenntnissen löste sie die ältere Polyhistorie durch eine zugleich historische und philosophische Wissenschaft ab.23 18 19 20
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Ebd., S. 190. Ebd., S. 193. Franz Schnabel, zit n. Ingrid Strohschneider-Kohrs: Textauslegung und hermeneutischer Zirkel - Zur Innovation des Interpretationsbegriffes von August Böckh, in: Hellmut Flashar u.a. (Hg.): Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1979, S. 84-102. S. 101. Friedrich August Wolf habe in den Prolegomena ad Momerum zuerst „den Anstoß zur Anwendung der analytischen Methode auf dem Felde des Epos" gegeben (Pfeiffer: Die Klassische Philologie, S. 217). Zur Einheit des Wissenschaftsbegriffs vor Mitte des 19. Jahrhunderts vor der Spaltung in Natur- und Geisteswissenschaften sowie zum Verständnis der Philologie als Exakte Wissenschaft vgl. Holger Dainat: Vom Nutzen und Nachteil, eine Geisteswissenschaft zu sein. Zur Karriere der Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften, in: Peter J. Brenner (Hg.): Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp TM 1993, S. 66-98, hier S. 69 und 73. Vgl. Axel Horstmann: Die „Klassische Philologie" zwischen Humanismus und Historismus. Friedrich August Wolf und die Begründung der modernen Altertumswissenschaft, in:
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Naturforschung als Gelehrsamkeit Wie hat man sich Humboldts Arbeit in Heynes Seminar und seinem Umfeld vorzustellen? Der Bruder Wilhelm urteilte über die altphilologischen Kenntnisse Alexanders, der sich erst seit 1788 systematisch im Griechischen unterrichten ließ, zurückhaltend. In einem Brief vom Juli 1789 an Friedrich Heinrich Jacobi schrieb er, neben Mathematik, Naturkunde, Technologie „beschäftigt er sich mit philologischen Arbeiten, und Heyne braucht ihn hie und da zur Erklärung solcher Stellen der Alten, die eine vertrautere Bekanntschaft mit ihren Künsten und Handwerken erfordern."24 Anfang 1794 schrieb Wilhelm distanziert in einem Brief an Friedrich August Wolf: Sollte ich Ihnen nie gesagt haben, daß mein Bruder Vorjahren mit einer Abhandlung über die Webereien der Alten schwanger ging? Jetzt hielt ich die Idee für längst vergessen, aber neulich schreibt er mir, daß er an die Ausführung geht, und bittet mich, ihm eine oder die andere Stelle anzuzeigen, und zuletzt das Ganze durchzugehen. Sagen sie mir doch recht offenherzig, ob Sie glauben, daß da etwas Neues zu sagen ist. Die Hauptidee meines Bruders vor Zeiten war das Aufrechtstehen der Stühle. Aber das scheint mir sehr bekannt. Doch bin ich gar nicht weder in moderner noch in antiker Weberei bekannt. Mir aber, gestehe ich, arridirt (unter uns) die ganze Idee nicht. Erstlich ist bei solchen Untersuchungen der Gewinn nicht sonderlich. Dann hat mein Bruder kaum die lateinischen Hauptschriftsteller je ordentlich und verweilend gelesen, geschweige die Griechen.
Wilhelm von Humboldt fügt jedoch auch, seine Ambivalenz dem Bruder gegenüber eingestehend, hinzu: „Ich könnte so nicht arbeiten, obgleich ich freilich auch nie etwas zustande bringen werde."25 Die Abhandlung über die Weberei der Antiken sollte in der Tat nie zur Vollendung oder zum Druck gelangen, obwohl Alexander selber in dieser Angelegenheit einen Vorstoß bei Friedrich August Wolf versuchte. In einem Zusatz zu einem Brief Wilhelms kommentiert er das offensichtlich beigelegte und in der Folge verlorene Manuskript, wobei es um die Geschichte der Verbreitung bestimmter technischer Merkmale antiker
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Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 1 (1978), S. 5 1 - 7 0 . Über die Bedeutung von Heynes Seminar und die Vielzahl der dort erschlossenen Sachgebiete, S. 53. Briefe von Wilhelm von Humboldt an Friedrich Heinrich Jacobi, hg. und erläutert von Albert Leitzmann, Halle: Niemeyer 1892, S. 22 (Brief an Jacobi vom Juli 1789). Wilhelm von Humboldt: Briefe an Friedrich August Wolf, textkritisch herausgegeben und kommentiert von Philip Mattson, Berlin, New York: de Gruyter 1990, S. 23 (Brief vom 1.1.1794). Im Gegensatz dazu jedoch die Empfehlung Georg Forsters an Johannes von Müller von 1790: „Ajoutez ä cela que tout cet edifice de connaissances pratiques ou iramediatement applicables aux besoins des etats modernes est appuye sur un excellent fond de litterature grecque et romaine et de philosophic, dont il a ceuilli les fleurs sans en negliger les parties les plus austeres" (Albert Leitzmann: Georg und Therese Forster und die Brüder Humboldt. Urkunden und Umrisse, Bonn: Röhrscheid 1936, S. 170f.).
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Webstühle geht und die genaue Bezeichnung dieser Merkmale im Griechischen und Lateinischen.26 In einem Brief von 1789 an Wegener schreibt Humboldt außerdem über die Studie: Das opus ist gar wunder gelehrt - so daß es mich selbst anekelt. Ich habe die Entdekkung gemacht, daß der Weberstuhl der Alten gerade der Hau/elissestahl sei, den die Sarazenen nach Frankreich gebracht haben. Das läßt sich aus K u p f e r n aus dem Herkulanum, aus dem Onomastikon des Pollux, aus dem Isidor, aus den Vatikanischen MSS des Vergil, aus dem Homer & erweisen. D e r Beweis ist sehr lang. Heyne hat viel Freude darüber. Was scapus, pecten, radius, insubulum & gewesen sei, wird nun alles leicht.. ," 27
Was aus dem Brief über den verlorenen Aufsatz zu erschließen ist, gilt auch für eine 1790 zum Druck gelangte Arbeit aus Göttinger Zeiten, Mineralogische Beobachtungen über einige Basalte am Rhein2*: Der Titel gibt sich empirisch, wie nur eine naturwissenschaftliche Untersuchung zur Mineralogie. Doch schon das Inhaltsverzeichnis belehrt über den großen Anteil, den die Altphilologie an der wohl von Georg Forster mit angeregten Untersuchung hat.29 Die Studie beginnt mit „Zerstreuten Bemerkungen über den Basalt der ältern und neuen Schriftsteller", es folgt „Etwas über den Syenit der Alten" und „Ueber den Basalt des Pünius und den Säulenstein des Strabo", dann „Ueber den λίθος ηρακλεια der Alten". Die eigentlichen „Mineralogischen Beobachtungen" beginnen erst auf Seite 77 des Oktavbandes. Die philologische Anlage der naturkundlichen Untersuchung stellt natürlich kein Novum dar. Bis zum 18. Jahrhundert, im Schulunterricht sogar bis ins fortgeschrittene 19. Jahrhundert,30 ist die Beschäftigung mit Naturforschung oft noch philologischen Charakters,31 ja der Begriff der Wissenschaft lässt sich weithin kaum anders definieren denn als Quellen26 27 28 29 30
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Brief vom 8.3.1794, JB, S. 325f. J B , S . 70. Mineralogische Beobachtungen über einige Basalte am Rhein, Braunschweig: Vieweg 1790. Vgl. Leitzmann: Georg und Therese Forster, S. 153, dort auch zur Aufteilung der Studie in einen philologischen und mineralogischen Teil (S. 154). Vgl. Otto Brüggemann: Naturwissenschaft und Bildung. Die Anerkennung des Bildungswertes der Naturwissenschaft in Vergangenheit und Gegenwart, Heidelberg: Quelle und Meyer 1967, S. 38: Die naturwissenschaftlichen Disziplinen seien mit Ausnahme der Mathematik bis weit ins neunzehnte Jahrhundert keine eigenständigen Unterrichtsfacher, sondern Prüfungsbestandteil, etwa im Zusammenhang mit der Erläuterung klassischer Autoren. „Die theologisch gebundene Naturkunde löst sich im Ubergang zur systematisch sammelnden und rubrizierenden, experimentierenden und erklärenden Naturwissenschaft von ihrem philologischen' Charakter und emanzipiert sich von den im Trivium vermittelten .freien Künsten' der Poesie und Rhetorik" (Uwe Pörksen: Aspekte einer Geschichte der deutschen Naturwissenschaftssprache und ihrer Wechselwirkung zur Gemeinsprache [1984], in: ders.: Deutsche Wissenschaftssprachen. Historische und kritische Studien, Tübingen: Narr 1986, S. 10-39, hier S. 17).
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Zusammenhang, wobei die klassischen Quellen am höchsten bewertet sind.32 Die Sprache der Wissenschaft ist traditionell das Lateinische, insofern die gelehrten Gegenstände, seien sie nun naturkundlicher oder historischer Art, aus den antiken Quellen rekonstruiert werden, insofern aber auch die Lehre der naturwissenschaftlichen Gegenstände der Grammatik, Rhetorik und Logik unterstehen. Erst allmählich löst sich die Naturwissenschaft vom Trivium ab. Zu betonen ist allmählich: Neben der Modernisierung der Wissenschaft lebt die Latinität, das Erbe der Quellen und der Rhetorik, bis weit ins 18. und sogar 19. Jahrhundert fort, in einer Kultur, die erst im Rückblick unzeitgemäßer erscheint, als sie es den Zeitgenossen war. Die Nationalsprache setzte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts nach und nach als geeigneteres Vehikel der Vermitdung an ein größeres Publikum und als vernünftiges Medium zur Darstellung pragmatischen Wissens durch.33 Doch nach wie vor stellten die klassischen Sprachen den Schwerpunkt der höheren Schulbildung, ist auch die daneben hochkommende Pflege der Muttersprache der Rhetorik und Poetik verpflichtet, ist das Lateinische Voraussetzung des Universitätsstudiums.34 Diese Situation des Übergangs vom Lateinischen zu den Nationalsprachen in wissenschaftlichen Publikationen spiegelt sich auch in der Bibliographie der Werke Humboldts. Die in deutscher und französischer Sprache verfassten Publikationen überwiegen, je nach dem Ort der Veröffentlichung und dem Publikum, an das sie sich wenden. Daneben jedoch finden sich, der Konvention entsprechend vor allem in der Botanik, lateinische Abhandlungen. Im Jahr der Schrift über die Basalte 1790 erscheint eine Observatio critica de Elymi Hystncis charactered 1791 die Vlantae
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Vgl. Rudolf Stichweh: Die Autopoiesis der Wissenschaft, in: ders.: Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 52-83. Die Naturwissenschaften seien bis ins achtzehnte Jahrhundert nicht als autopoietische Systeme anzusehen. „Frühmodeme Wissenschaft stellt man sich am besten als einen Wissens^usammenhang vor, der sich aus Bestandteilen zusammensetzt, die aus den heterogensten Quellen überkommen sind" (S. 55). Weiter stellt Stichweh dar, wie das experimentelle Forschen in der Naturwissenschaft allmählich die Quellenkritik verdrängt (S. 59). Daß die „frühmoderne Wissenschaft [...] als Text, als Enzyklopädie, als Bibliothek oder als Zusammenhang von Sätzen [...] eine handlungsfreie kulturelle Existenz besitzt und nur gelegentlich durch kommunikative Benutzung aktualisiert [...] wird" (S. 62), kann wohl bestritten werden. Die Arbeit an den Texten, welcher Art auch immer, ist sicherlich als Handlung, als kulturelle Praxis einer bestimmten Elite zu verstehen. Zum Übergang zu den Nationalsprachen in der Wissenschaft vgl. R. Stichweh: Selbstorganisation in der Entstehung des modernen Wissenschaftssystems, in: ders.: Wissenschaft, Universitäten, Professionen, S. 84—98, S. 91. Vgl. Gert Ueding: Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode, 3. Aufl., Stuttgart, Weimar: Metzler: 1994, S. 120, 150. Magazin für Botanik 1790, Nr. 7, S. 36ff., Nr. 9, S. 32ff.
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subterraneae (Fribergenses) desaiptae,36 1793 die Florae fribergenses specimen, der die Aphorismis ex doctnna physiologiae chemicae plantarum37 beigefügt sind. Bis zum großen Reisewerk, dessen botanische Abteilungen zum Teil in lateinischer Sprache verfasst sind,38 folgt Humboldt dieser Tradition. Mit der Praxis des gelehrten Latein, auf welchem Niveau auch immer es geübt worden sein mag, gehen stilistische Vorlieben einher, die sich auch auf das Deutsche übertragen. So heißt es im Vorwort zum Kosmos·. „Ich ziehe nach der Art der Alten die Wiederholung derselben Worte jeder willkührlichen Substituierung uneigentlicher oder umschreibender Ausdrücke vor."39 Soweit ist also nichts Bemerkenswertes an Humboldts Befassung mit den antiken Sprachen, eher könnte es ein konservativer Zug in der wissenschaftlichen Arbeit einer Epoche sein, deren Wendung zum Gebrauch der Nationalsprachen zunächst der Öffnung für ein breiteres Publikum dienen soll; in der exakte Naturwissenschaft sich ohnehin immer weniger über das Quellenstudium, immer mehr über Experiment und Beobachtung, allenfalls noch über eine lateinische Nomenklatur, konstituiert. Später, mit der Etablierung wissenschaftlicher Einzeldisziplinen, die zunehmend Sache von Spezialisten werden, bleibt es bei der Konkurrenz einiger moderner Wissenschaftssprachen, die nunmehr unwiederbringlich die Universalität der lateinischen abgelöst haben.40 In diesem späteren Stadium kommt es dann zu einer regelrechten Dichotomisierung von Philologie und Naturforschung, zu einer Konkurrenz von Naturwissenschaft und humanistischer Bildung überhaupt,41 oder, um es mit Hans Blumenberg zuzuspitzen, zu einer Konkurrenz von Naturwissenschaft und Büchern.42 Wenn sich die exakte Naturwissenschaft später, im fortgeschrittenen 19. 36 37 38
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Annalen der Botanik 3 (1792), S. 53-58. o.O. 1793, die Aphorismen S. 133-182. So die Bände 8 bis 14: Nova genera et species plantarum, quas in peregrinatione ad plagam aequinoctialem orbis novi collegerunt, descripserunt, partim adumbraverunt A. Bonpland et A. de Humboldt, ex schedis autographis Amati Bonplandi in ordinem digessit C.S. Kunth, accedunt Alexandri de Humboldt notationes ad geographiam plantarum spectantes. 7 vol. Lutetiae Parisorum: Schoell 1815-1825. K, S. 6. Zur „nationalsprachlichen Heterogenität der Wissenschaft" vgl. Stichweh: Wissenschaft, Universität, Professionen, S. 91. Vgl. Andreas W. Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848-1914, München: R. Oldenbourg 1998, S. 44. Zur Konkurrenz von „Sprachunterricht und Sachunterricht" seit dem 18. Jahrhundert vgl. Brüggemann: Naturwissenschaft und Bildung, S. 15— 27. „Denn nicht nur zwischen den Büchern und der Welt besteht eine alte Feindschaft, sondern auch zwischen den Büchern und der Naturwissenschaft eine jüngere. Das Pathos des Experiments ist gegen den Hort der Bibliotheken gerichtet, insistiert auf seiner Frische der Erfahrung im Blick durch Fernrohr und Mikroskop, auf Thermometer und Barometer" (Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 18).
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Jahrhundert, mit den Attributen klassischer Bildung umgibt, so spricht das für eine problematische Trennung von nunmehr zwei Kulturen, die sich gesellschaftlich legitimieren, indem sie sich jeweils der Tradition humanistischer Bildung zurechnen.43 Humboldt, noch einmal, befindet sich um 1800 in einer Übergangssituation, was das Verhältnis von alten Sprachen und Naturforschung betrifft. Er beschäftigt sich von den ersten Veröffentlichungen an nicht nur mit der Verdeutschung und damit der Verbreitung dessen, was er zuvor im hermetischeren Latein verfasst hatte,44 sondern alsbald auch mit dem Nebeneinander unterschiedlicher Bildungssprachen und national unterschiedener wissenschaftlicher Milieus. Doch im Gegensatz zum Hauptstrom der Naturforschung gibt er dabei die engere Beziehung zur Antike und zur Philologie der alten Sprachen zu keinem Zeitpunkt preis 45 Wenn aber Humboldts Berufung auf antike Texte weiter nicht heraussticht aus in einer Naturforschung, die den Schwerpunkt erst allmählich vom Quellenreferat auf empirische Datenerhebung, Experiment, genaue Deskription und wissenschaftliche Hypothesenbildung verlagert — warum macht dann das Göttinger Seminar in Humboldts Biographie Epoche? Ein Brief an Wegener eben aus dem betreffenden Jahr 1789 zeugt von der Faszination, die die Göttinger Eindrücke, und speziell die damals noch neue Seminarform auf den Absender ausgeübt haben. Wenn man Heynes Homer hört, die Art, wie er die ältesten Mythen interpretiert, seine Art, über die Kindheit des Menschengeschlechts zu raisonniren und seine immerwährenden Vergleichungen des Homers und des Moses — so sieht man die richtige Erklärung des Alten Testaments gleichsam von selbst entstehen. Heyne ist der Mann, dem unser Jahrhundert gewiß am meisten verdankt, religiöse Aufklärung durch eigene Lehre und Bildung junger Volkslehrer, Liberalität im Denken, Anfang einer gelehrten Archeologie und erste Verbindung des Aesthetischen mit dem Philologischen. Dennoch hat Heyne noch nie ein Kompendium geschrieben, ohnerachtet er über 12 Kollegia lieset, Röm[ische] Litteratur, Griech fische] Litteratur, Archeologie, über die Tragiker, über den Aristophanes, über den Homer, Vergil, Horaz, Plautus und Cicero, Grichfische] Antiquitäten und Römfische] Antiquitäten. Diese Kollegia folgen alle in gewisser Reihe auf einan43
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„Nur in humanistischer Terminologie ließ sich die Bildungsdiskussion führen", vgl. Daum, Wissenschaftspopularisierung, S. 55. Vgl. auch Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt a.M., Leipzig 1999, S. 198: „Man übernahm den Denk- und Argumentationsstil der Philologen und wechselte lediglich die Stoffe aus, so daß keine den Naturwissenschaften angemessene pädagogische Theorie aufkommen konnte." Aphorismen aus der chemischen Physiologie der Pflanzen. Aus dem Lateinischen von Gotth. Fischer, nebst einigen Zusätzen von Joh. Hedwig und einer Vorrede von Chr. Fr. Ludwig, Leipzig: Voss 1794. Friedrich Sengle beobachtet bei Alexander von Humboldt ein „noch ganz humanistisches Verhältnis zur Antike" (ders.: Biedermeierzeit, Bd. 2: Formenwelt, Stuttgart: Metzler 1972, S. 268).
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der, weil sie ursprünglich fürs Seminarium und dann für solche sind, die (wie mein Bruder) sich zum Seminarium halten. 46
An gegenwärtige und ehemalige Seminaristen erinnert Humboldt, die ihrerseits als Vermittler der neuen Beschäftigung mit der Antike wirken können, und fährt fort: „Die Seminaristen sind mein angenehmster und lehrreichster Umgang. Mit [Karl Ludewig] Woltmann, der (wie es Bürger selbst nennt) bewunderungswürdiges Talent zur deutschen, ja selbst griechischen Dichtkunst hat, bin ich täglich zusammen. [...] Ich bin täglich Abends von 9-11 Uhr mit ihm zusammen, wo wir den Plautus und Petron lesen. Es ist der Göttingische methodus vivendi, nicht früher auszugehen. Denn alles hat hier einen affektirten Fleiß."47 An den Einfluss der philologischen Methode Heynes auf andere Fächer erinnert Humboldt ebenfalls: „Auch auf die Jurisprudenz hat Heyne durch sein Seminarium gewirkt, wo immer viel Juristen sind, der junge Prozessor] Hugo [...] interpretiert hier die Römischen] Gesetze mit philolog[ischer] Gelehrsamkeit, weil man den Sinn des Gesezgebers nur dann fassen kann, wenn man weis, in welchem Gehalt die Worte bei ihm und überhaupt bei seinem Zeitalter stehen."48 Obwohl er sich im zitierten Brief an Wegener keineswegs positiv über Michaelis äußert, dessen Vorlesungen er zeitweise besuchte, hat die Kenntnis dieses Mannes, oder zumindest das Stadtgespräch über seine Lehre, den tiefen Eindruck von Heynes Seminar im Sinne der vergleichenden Altertums- und Orientstudien zweifellos ergänzt und verstärkt. An Anregungen für das Naturstudium hat es im Göttingen Lichtenbergs und Blumenbachs, der gerade mit der Bearbeitung von H. Bruces Reisen zu den Nilquellen befasst war,49 sicherlich nicht gefehlt. Die stärksten Eindrücke scheinen aber doch vom Studium der antiken Quellen ausgegangen zu sein. „Ich lebe hier ganz der Philologie. Wenn ich noch ein Paar Jahr hier bleibe, denke ich, mich (so sauer es mir wird) in die griechische Litteratur gut hineinzuarbeiten."50
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JB, S. 68. JB, S. 69. JB, S. 69. Disziplinengeschichtlich und institutionengeschichtlich lässt sich Heynes Lehrtätigkeit in Göttingen nicht eindeutig dem Fach Philologie zuordnen, sondern eher einem unscharf umgrenzten Feld von Antikenstudien. Vgl. Ulrich Schindel: Die Anfänge der Klassischen Philologie in Göttingen, in: Reinhard Lauer (Hg.): Philologie in Göttingen. Sprach- und Literaturwissenschaft an der Georgia Augusta im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2001 (=Göttinger Universitätsschriften, 18), S. 9-24, hier S. 17. Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. 1, S. 89. Brief an Wegener, 17. 8. 1789, JB, S. 70.
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Die Methode der historischen Quellenkritik Doch nicht in einer profunden Kenntnis der griechischen und lateinischen Sprache und Literatur hat man, wenn man seinen Berichten folgt, Humboldts Gewinn aus den Göttinger Monaten zu suchen, sondern in der Einübung in die historisch-kritische und vergleichende Methode. Das Lateinische und Griechische, mit denen sich Heyne und Michaelis befassen, sind eben nicht mehr die Grundlagen eines allgemeinen Propädeutikums, des Triviums, sondern eine historische Wissenschaft. Die Philologie der alten Sprachen, und mehr noch die Altertumskunde im weiteren Sinne, wird zur Leitdisziplin einer exakten Rekonstruktion von Texten und prinzipiell jeder Überlieferung. Ihre Historizität fällt umso mehr ins Gewicht, als sie gegen dogmatische Auffassungen, seien sie nun theologischer Art oder nicht, zu verteidigen sind. Historisierung wird hierbei zum Synonym für Säkularisierung, Textkritik zum Inbegriff einer rationalen Methode, die wenigstens über das Wahrscheinliche Auskunft und Rechenschaft gibt, wo die Quellen selbst nicht „das Wahre" sind. Die Wirkungen einer so verstandenen Philologie und Altertumskunde als historischer Wissenschaft schlechthin51 sind für Humboldts Werke von erheblichem Gewicht. Zunächst einmal geben die Quellen Auskunft über historische Wissensbestände. Einer exakten Wissenschaft, die sich jeweils auf einem neuesten Stand bewegt, scheinen solche Wissensbestände entbehrlich. Doch Humboldts Disziplinen, die er ausübt, und die er selber erst mit konstituieren wird, sind vielfach geschichtlich angelegt. Es geht nicht schlicht um Inventare und Deskriptionen bestehender Phänomene, seien es Mineralien, Pflanzen, Tiere. Es geht um geologische Formationen, deren historischen Charakter Humboldt durchaus erkennt, es geht um Vegetationen und Zoologien, die sich mit den Kulturen etabliert und verschoben haben, es geht, in der Astronomie, der Vulkanologie, der Meteorologie um Daten, bei denen der moderne Forscher auf Beobachtungen über große Zeiträume hin angewiesen ist. Es geht im umfassenden Sinne um Landschaften, von denen Humboldt seit seiner Jugendlektüre der Reisen Forsters weiß, dass es, wo immer der Mensch siedelt, Kulturlandschaften sind, und selbst da, wo das Ursprüngliche weiter zu bestehen scheint, in den Urwäldern und Steppen Lateinamerikas, sieht Humboldt es in der Perspektive einer zukünftigen Kultur. Du Bois-Reymonds Vorwurf, Humboldt lasse es an der experimentellen Methode, an der Mathematisierung der Naturwissenschaft und an der ausgereiften Theoriebildung 51
Zur klassischen Philologie als historischer Wissenschaft par excellence vgl. Ulrich Muhlack: Zum Verhältnis von Klassischer Philologie und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, in: Philologie im 19. Jahrhundert, S. 2 2 5 - 2 3 9 .
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fehlen,52 geht also am Gegenstand seiner Forschungen vorbei. Seine Naturwissenschaft ist eine beschreibende. Mag es eine ausschließlich deskriptive sein, so muss doch hinzugefügt werden, dass es eine historisch-deskriptive ist. Die Historizität der Quellen nicht als Hindernis, sondern als Ansporn einer exakten wissenschaftlichen Arbeit zu nutzen, hat Humboldt in Göttingen gelernt. Beschreibung in historischer Hinsicht setzt freilich eine mindestens implizite Methode voraus, die den Mangel naturwissenschaftlicher Theoriebildung kompensiert. Denn Humboldt schließt in die geschichtliche Rekonstruktion durchaus die Kritik der Überlieferung, speziell der sich fortsetzenden Irrtümer und des Wortgebrauchs sowie der Authentizität der dokumentierten Beobachtungen mit ein, und damit auch die Kritik des geschichtlichen Erkenntnisprozesses selbst. Deutlich wird dies besonders an den historischen Teilen des Reisewerks, der Relation historique du Voyage aux regions equinoxiales du Noupeau Continent, speziell aber an den drei umfangreichen Bänden des nicht zufällig so genannten Examen critique de l'histoire de la geographie du Nouveau Continent, et des progres de Gastronomie nautique aux XVe et Xl/Ie siecles,53 Unter den Werken Humboldts eines der am wenigsten bekannten, von dem er selber an den Geographen Heinrich Berghaus schrieb: „Es ist ein langweiliges, aber sehr gewissenhaft abgefaßtes Buch. [...] Ich habe zeigen wollen, daß die großen Entdeckungen des 15ten Jahrhunderts ein Reflex des früher Geahndeten waren." 54 Das heißt nichts anderes, als dass welthistorische Begebenheiten selbst durch Quellenstudien induziert sind. Das Register der deutschen Ausgabe von 1835 bis 1851 gibt Auskunft darüber, wie weit sich Humboldt in die Quellen seit der Antike vertieft hat.55 Die Anfange des Briefwechsels mit August Böckh fallen in die Phase der Redaktion der deutschen Ausgabe. Es ist, sicher nicht zufällig, auch die Zeit, in der Humboldts gesteigertes Interesse an philologischen Fragestellungen ihn in die Vorlesungen des Altertumskundlers trieb. Der Briefwechsel nun zeigt, worin Humboldts philologische Besorgnisse liegen: Es 52 53
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Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Emil du Bois-Reymond, S. 193. Paris: Gide 1 8 1 4 - 1 8 3 4 . Deutsche Erstausgabe unter dem Titel: Kritische Untersuchungen über die historische Entwickelung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und die Fortschritte der nautischen Astronomie in dem 15. und 16. Jahrhundert. Aus dem Franz. von Jul. Ludw. Ideler, 3 Bde, Berlin: Nicolai 1836. Briefwechsel Alexander von Humboldt's mit Heinrich Berghaus aus den Jahren 1 8 2 5 bis 1858, Jena: Hermann Costenoble 2 1869, Bd. 2, S. 199. Vgl. auch Alfred Dove, in: Bruhns: Alexander von Humboldt, S. 368: „Sein strengstes und vielleicht eben darum sein vorzüglichstes wissenschaftliches Werk." Ein Urteil, das im Rahmen einer dem Positivismus verpflichteten Biographie nicht überrascht. Vgl. das Namen- und Sachverzeichnis; A. v. Humboldt: Kritische Untersuchungen, Bd. 3, S. 1 9 5 - 3 1 6 . Unter den am häufigsten erwähnten Autoren finden sich Achilles Tatius, Aristoteles, Herodot, Plato, Plinius, Plutarch, Polybius, Ptolemaeus, Strabo und Tacitus.
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geht um die Klärung griechischer und lateinischer Passagen, speziell um die genaue Bedeutung einzelner Wendungen, es geht um die Zuverlässigkeit von Wörterbüchern und Textausgaben, um die Korrektur der im Text wiedergegebenen griechischen Zitate, um die Identifikation von Autoren und die Datierung antiker Quellen.56 Dem schließen sich im Jahr der Publikation des ersten Bandes der Kritischen Untersuchungen 1834 unmittelbar die laufend anfallenden Fragen zur Asie centrale und zum Kosmos an. Nur ein Beispiel: Ich weiß keine Worte zu finden, um mich zu entschuldigen, aber troz allen Nachsuchens in Groddeck, Ukert und Matthiä kann ich mir nicht heraushelfen, um zu finden, ob der Pherekydes, der schon wie Herodot die ganze nördliche Erdhälfte für Europa erklärte, also Europa über Asien ausdehnte, der athenische Pherekydes sei? Die Meinung ist darum so wichtig, weil sie erklärt, warum Nordeuropa so reich an Gold sei (Herod. III, 116. Ukert I, 2, 213, auch I, 1, 53), was auf Ural und Altai hindeutet, weil den Alten die langweilige Einerleiheit des Nordens vorschwebte. Ganz Sibirien ist eine Fortsetzung der Hasenheide, und so scheint auch zu Strabos Zeit (XI p. 509) die Idee verbreitet zu sein, daß die Fichtenwälder ein Kennzeichen für Europa wären. 57
Soviel ist diesem Briefwechsel zu entnehmen: Über vierzig Jahre nach dem Besuch des Heyneschen Seminars hat sich die Altphilologie als historische Wissenschaft so weit etabliert, dass ihr einflussreicher Vertreter an der Berliner Universität, August Böckh, für Humboldt zur Autorität nicht nur in Fragen der Textkritik geworden ist: Mit größter Selbstverständlichkeit geht Humboldt davon aus, dass es ein wissenschaftsgeschichtliches Interesse an der Antike wie an den Quellen der frühen Neuzeit geben kann. Bei Böckh stößt er schon deswegen mit seinen Anfragen auf Sympathie, weil dieser Altertumswissenschaft selbst als ein Sprach- und Sachwissen gleichermaßen umfassendes Studium begreift: „Inwiefern aber die Aeusserungen der Thätigkeit eines alterthümlichen Volkes grossentheils in Sprachdenkmälern überliefert sind, sie auch die nicht sprachlichen Thatsachen und Gedanken, welche der Philolog wieder erkennen soll, enthalten, wird die Sprache der Philologie zugleich Mittel zum Wiedererkennen fast aller übrigen Erzeugnisse des Alterthums."58 Die Philologie hat, Böckhs methodischer Vorlesung zufolge, mit der Rekonstruktion historischer Wissensbestände im allerweitesten Sinne zu 56
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Hoffmann: August Böckh, S. 411—413. Wegen hispanischer und portugiesischer Quellen beriet sich Humboldt mündlich und schriftlich mit dem Kenner Ignaz von Olfers. Vgl. Briefe Alexander von Humboldt's an Ignaz von Olfers. Generaldirektor der Kgl. Museen in Berlin, hg. von E.W.M. v. Olfers, Königsberg Nürnberg Leipzig: Sebald 1913, XII. Hoffmann: August Böckh, S. 418, Brief von 1840. Böckh: Lieber die Logisten und Euthynen, zit. n. Ernst Vogt: Der Methodenstreit zwischen Hermann und Böckh und seine Bedeutung für die Geschichte der Philologie, in: Philologie im 19. Jahrhundert, S. 1 0 3 - 1 2 1 , hier S. 116.
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tun, keineswegs bloß des Literarischen, Schöngeistigen. Humboldt würdigt denn auch in seinem Jubiläumsgruß von 1857 neben dem Idealisten, dem „philosophisch ordnenden Geiste, welcher immer nach dem allgemeinen Zusammenhange der Ideen, der Gefühle und großen Begebenheiten, die durch jene nach Verschiedenheit der Volksstämme bestimmt werden, kräftig gestrebt hat", auch den Erforscher positiver Materialien, „welcher das Maß in der Rhythmik, in der Musik, den räumlichen Verhältnissen und den Handelsgewichten alter Völker erspähet, einen Schatz von Inschriften entziffert und großartig die Staatshaushaltung wie das Seewesen der Athener vor unsern Augen entfaltet hat."59 Mit Böckh bespricht Humboldt sich in den 1840er Jahren auch in Angelegenheiten einer geplanten Werkausgabe Friedrichs II.60 Es geht dabei um die Konstituierung und Vermittlung einer Herausgeberkommission, der neben Alexander von Humboldt unter anderen August Böckh, Leopold von Ranke, Friedrich von Raumer und Jacob Grimm angehören. Es geht um die Gewinnung von A.W. Schlegel als Kenner der französischen Sprache und als geeignetem Verfasser eines Vorworts. Die kritischen Äußerungen zur Rolle Schlegels (gipfelnd in: „er ist eine alberne Person")61 stehen im Kontext redaktioneller und verlagstechnischer Schwierigkeiten mit einer solchen Ausgabe. Humboldt versucht, die Position des schlecht bezahlten Redakteurs Paul Ackermann gegenüber dem firmierenden Herausgeber Schlegel mit seinem glanzvolleren Namen zu stärken, einen geeigneten Korrektor zu finden für die großenteils in französischer Sprache verfassten Werke. Ein Argument für einen muttersprachlichen Redaktor findet Humboldt in der Historizität der Textgrundlage und der Schriftsprache des Verfassers, die bei der Neuausgabe zu Fehlern führen könnten. Tatsächlich ist Humboldt dabei kaum persönlich mit speziellen philologischen Problemen konfrontiert. Auch bei den posthumen Werken seines Bruders, zu denen er Vorworte verfasst, den Gesammelten Werken, den Sonetten und der Kamsprache,62 überlässt er die Erstellung der Textgestalt einem anderen,63 schreibt er Vorworte, die mehr der allgemeinen Würdigung des Bruders und seiner Gedankenwelt, als speziell den Texten oder gar ihren philologischen Aspekten gelten. Einzig zur Einleitung des 59 60 61 62
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Hoffmann: August Böckh, S. 452. Den besten Eindruck von den damit verbundenen Nöten gibt der Briefwechsel mit Böckh, Briefe zwischen 1841 und 1846; Hoffmann: August Böckh, S. 4 1 9 - 4 3 3 . Hoffmann: August Böckh, S. 428. Wilhelm von Humboldt: Sonette, Berlin: Georg Reimer 1853; Wilhelm von Humboldt's gesammelte Werke, Berlin: G. Reimer 1841 ff.; Wilhelm von Humboldt: Über die KawiSprache auf der Insel Java, Berlin: Dümmler 1832, auch 1836. Eduard Buschmann im Falle der Kawisprache, im Falle der Gesammelten Werke Karl Brandes.
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Werkes Όeher die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues hat Alexander von Humboldt aus der Erinnerung Dazugehöriges aus gemeinsamen Gesprächen beigesteuert.64 Besonders die Vorreden zu den nachgelassenen Schriften des verstorbenen Bruders sind ein Dokument für die eintretende Historizität der Werke, für die Ablösung der Überlieferung von der unmittelbaren Wirksamkeit ihres Verfassers. Eine der nachdrücklichen Lehren, die Humboldt aus der historischen Methode des Göttinger Seminars und seinen späteren philologischen Studien gezogen haben wird, ist die radikal geschichtliche Betrachtung jeder, auch der eigenen Geistesproduktion. Gerade im Blick auf die rasante Hinfälligkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse wird es Alexander von Humboldt wichtig, die eigenen Werke mit möglichst vielen Merkmalen einer philologischen Altersbeständigkeit auszustatten. Dies geschieht nicht nur durch die Besorgung von Ausgaben in verschiedenen Sprachen und Ausstattungen und möglichst hohen Auflagen, sondern vor allem durch ihre Charakterisierung als kultureller Überlieferung, die weit über die Speicherung und Ergänzung eines rein technischen Wissens hinausgeht. Die späteren Ausgaben der Ansichten der Natur bemühen sich zwar um die Aktualisierung der Daten, um dem wissenschaftlichen Fortschritt standzuhalten: „Fast alle wissenschaftlichen Erläuterungen sind ergänzt oder durch neue, inhaltsreichere ersetzt worden,"65 gibt der Verfasser im Vorwort zur zweiten und dritten Auflage an; Höhenbestimmungen seien „von früheren Irrtümern befreit"66. Dazu kommt dann aber auch die Profilierung als Kulturzeugnis: Humboldt schließt den Rhodischen Genius nach der Erstveröffentlichung in den Hören 1795 in die Neuauflage der Ansichten 1827 mit ein, obwohl der Inhalt dieser didaktischen Erzählung dann in der Ausgabe von 1848 ausdrücklich als wissenschaftlich längst obsolet erklärt wird. Der Beitrag ist jedoch kulturhistorisch geadelt: „Schiller, in jugendlicher Erinnerung an seine medizinischen Studien, unterhielt sich während meines langen Aufenthaltes in Jena gern mit mir über physiologische Gegenstände."67 Eine Erläuterung zur Lebenskraftdiskussionen um 1800 unterstreicht die historische Perspektive auf die naturkundliche Erzählung.68 In der paradox erscheinenden größeren Altersbeständigkeit der historischen Studien gegenüber dem stets veraltenden neuesten Stand der Naturwissenschaften darf auch ein Motiv für Humboldts kulturhistorische Anlage großer 64 65 66 67 68
Wilhelm von Humboldt: Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java, Berlin: Dümmler 1832. Alexander von Humboldt: Ansichten der Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen, Frankfurt a.M.: Eichborn 2004, S. 10. Im Folgenden zitiert als: „AN", Seite. AN, S . l l . AN, S. 10. AN, S. 4 3 1 ^ 3 4 .
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Partien des Kosmos gesehen werden. Die antiquarische Arbeit des Philologen geht dabei in die monumentaüsierende hinüber. Die komparative Methode und die Rechtfertigung des Mythos Neben der Auswertung positiver Daten aus alten Quellen, welche die historische Kritik dieser Quellen voraussetzt, ist in der komparatistischen Methode seit Heynes Vergleichen von Homer und Bibel 1789 der zweite wichtige Impuls für Humboldts philologische und altertumskundliche Studien zu suchen. Wie es im Glückwunschschreiben des greisen Humboldt an Böckh zu lesen ist, stehen „die verschiedenen Theile des einigen, gleichberechtigten Menschengeschlechtes"69 zur Debatte. Unterschiede und Gemeinsamkeiten also, die Ergebnisse verschiedener Disziplinen und Spezialstudien, aber in der Synopse. Im zweiten Band des Kosmos heißt es: Verglichen unter einander und als Objekte der Naturkunde des Geistes betrachtet, nach der Analogie ihres inneren Baues in Familien gesondert, sind die Sprachen (und dies ist eines der glänzendsten Ergebnisse der Studien neuerer Zeit, der letztverflossenen sechzig bis siebzig Jahre) eine reiche Quelle des historischen Wissens geworden. Eben weil sie das Produkt der geistigen Kraft des Menschen sind, führen sie uns mittels der Grundzüge ihres Organismus in eine dunkle Ferne, in eine solche, zu welcher keine Tradition hinaufreicht. Das vergleichende Sprachstudium zeigt, wie durch große Länderstrecken getrennte Völkerstämme mit einander verwandt und aus einem gemeinschaftlichen Ursitz ausgezogen sind; [...] Zu dieser Art von Untersuchungen über die ersten altertümlichen Sprachzustände, in denen das Menschengeschlecht im eigentlichsten Sinne des Worts als ein lebendiges Naturganzes betrachtet wird, giebt die lange Kette der indogermanischen Sprachen vom Ganges bis zum iberischen Westende von Europa, von Sizilien bis zum Nordkap, vielfachen Anlaß.70
Hier klingt der Impetus der aufklärerischen Kulturgeschichte nach, der Studien zum „Menschengeschlecht" von Mendelssohn, Lessing, Heynes eben, Michaelis, auch des unterschwellig gegenwärtig zu haltenden Herder bis hin zu den Studien des Bruders. Die „glänzendsten Ergebnisse der Studien [...] der letztverflossenen sechzig bis siebzig Jahre": damit wird sicherlich auch auf die Göttinger Philologie angespielt - und Humboldt ist einer ihrer letzten Zeitzeugen —, vielleicht auch auf die berühmte Debatte über die Entstehung der Sprachen, die der Brief an Wegener von 1788 so lebhaft vergegenwärtigte. Vergleichende Sprachstudien bilden ein kontinuierliches gemeinsames Interesse der Brüder Humboldt. Alexander profitiert vom stetigen Austausch über diese Gegenstände und vom ausgezeichneten Ruf, den Wilhelm bei berühmten Kollegen (Bopp, Las69 70
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sen, Böckh) genießt, zumindest im Sinne einer allgemeinen Informiertheit über Tendenzen und Methoden der Forschung. Seinerseits hat er später die posthume Ausgabe des Werkes über die Kawisprache mit betreut. Im Vorwort zu Wilhelm von Humboldts Uber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts schreibt der Bruder über die geplante Fortsetzung dieser Untersuchung über die Sprachen der Südsee durch eine weitere zu den altamerikanischen.71 Dabei konnte eine ganze Reihe von eigenen Erkenntnissen, speziell aus dem Reisewerk, als Material zu den weit fortgeschrittenen Vorarbeiten dienen.72 Im Kosmos greifen dann die Passagen, die dem vergleichenden Sprachstudium im Rahmen einer Naturgeschichte der Menschheit gewidmet sind, Formulierungen des Bruders aus seinen Schriften zum teil wörtlich auf.73 Das historische und vergleichende Sprachstudium steht gewissermaßen auf der Grenze zwischen den später so deutlich getrennten natur- und geisteswissenschaftlichen Studien: Die Linguistik mit ihren systematischen und deskriptiven Verfahren gilt bis heute als naturwissenschaftliche unter den geisteswissenschaftlichen Disziplinen. In Alexander von Humboldts Kosmos sind es Grundbegriffe der Biologie, die die eigentümliche Zwischenstellung der komparativen Sprachgeschichte zwischen „Natur"- und „Geisteswissenschaft" charakterisieren. Es ist keine spezielle Vorliebe Humboldts für eine naturwissenschaftliche Metaphorik in bezug auf geschichtliche Gegenstände. Spezifisch historische, linguistische und philologische Verfahren sind um 1800 weithin einem ursprünglich naturgeschichtlichen Denken verpflichtet, das sich zunehmend dynamisiert, mit genetischen und organologischen Konzepten auflädt.74 Erst später entwickeln sich der Naturgeschichte, speziell der Biologie entlehnte termini zu Metaphern, die als solche kaum noch wahrgenommen werden. Spra71
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Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts, Berlin: Dümmler 1836, S. X. Einschlägige Titel und Passagen sind: Essai politique sur le Royaume de ία Nouvelle Espagne·. 2. Buch, 6. Kap. (Diversite des langues); Relation historique [...], Bd. 1, 3. Buch, 9. Kap (Über die Sprachen der Chaymas); Bd. 2, 7. Buch, Note a) Remarque sur la comparaison des racines dans les langues qui different par leur structure grammaticale, S. 231 -440; Bd. 3, 10. Buch, 27. Kapitel (Ape^u general de la population des Antilles comparee ä la population du Nouveau-Continent, sous les rapports de la diversite des races, de la liberte personnelle, du language et des cultes); Ueber die bei verschiedenen Völkern üblichen Systeme von Zahlzeichen und über den Ursprung des Stellenwertes in den indischen Zahlen (Abhandlungen der berliner Akademie der Wissenschaften 1829). Vgl. Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Sprache, Stuttgart: Reclam 1993, S. 30 Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp T W 1976, speziell das Kapitel: „Verzeitlichung und Historisierung in der Wissenschaftsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts".
Humboldts Antikenstudien: Methode und Ideal
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chen seien Objekte einer Naturkunde des Geistes", in „Familien gesondert" (wie in der biologischen Klassifikation), Sprachen haben einen „Organismus", es geht um die „Verwandtschaft" der Völkerstämme, das „Menschengeschlecht" als „lebendiges Naturganzes", so steht es bei Humboldt noch im Kosmos,15 wobei er sich ganz auf Wilhelm von Humboldts Schriften stützen kann. Auch die Metapher von der „langen Kette der indogermanischen Sprachen" ist eines der etabliertesten Bilder zur Kennzeichnung von naturalen Zusammenhängen.76 Nicht die Historisierung der Natur ist hier bemerkenswert, sondern ein Sprachgebrauch, an dem sich erkennen lässt, in welchem Umfang ein ursprünglich biologisches Entwicklungsdenken von Organischem und Genetischem an der Historisierung kulturellen Wissens beteiligt ist.77 Humboldt sieht ganz offensichtlich, so auch im zitierten Passus aus dem Kosmos, die Differenzen der Rassen und Kulturen als Teil einer universalen Anthropologie, also auch als Teil der Naturgeschichte. Und der umgekehrte Schluss liegt nahe, dass die in der Altertumskunde geübte Wissenschaft des synchronen und diachronen Vergleichs seit den Göttinger Tagen Humboldt zu einem analogen Verfahren in der Naturforschung ermutigt hat. Zumindest muss sich dem Studenten die Verwandtschaft zwischen den biologischen Klassifikationen und Systematisierungen und der komparativen Methode der Philologen aufgedrängt haben. Freilich waren sprachtheoretische Überlegungen lange zuvor für die Herausbildung von Systematiken und Klassifikationen in der Naturforschung nötig.78 Die Erkundung der Mineralien, Pflanzen und Tiere aller Kontinente steht bei Humboldt im Zeichen ihrer globalen Distribution von weltweit vertretenen Vegetationen, Landschaften, Klimaten. Das Universale interessiert hier wie in der Historiographie und begründet sich auf Analogiebildungen, auf Vergleiche, auf die Prämisse, dass es sich eben um die eine Erde, um die eine Menschheit handelt. Die Emphase des aufklärerischen 75 76
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K, S. 242f. Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp T W 1993 [engl. 1936]. Vgl. besonders die Kapitel: „Die Kette der Wesen und die Biologie des 18. Jahrhunderts" (S. 274ff.) und „Das Eindringen der Zeit" (S. 292ff.). Vgl. Alwin Diemer: Die Differenzierung der Wissenschaften in die Natur- und Geisteswissenschaften und die Begründung der Geisteswissenschaften als Wissenschaft, in: ders. (Hg.): Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert. Vorträge und Diskussionen im Dezember 1965 und 1966 in Düsseldorf, 1968, S. 174—223. Uber den Anteil der Chemie an der Entwicklung der analytischen Methode in der Philologie; über die Linguistik als Naturwissenschaft; über die Verwandtschaft von Biologie und Geschichte im genetischen Denken vgl. S. 205—209. Lepenies (Ende der Naturgeschichte, S. 36) nennt Logik, Systematik und alphabetische Ordnungen als originäres Sprachwissen, das für die Naturforschung unabdingbar sei.
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Universalismus übersteht in Humboldts Werk die naturwissenschaftliche Differenzierung auch deswegen, weil die Rückbindung an die Historie und Philologie niemals aufgegeben wird. Und hier ist es, in den historischen Fächern, wo die Übertragung des Universalismus auf die akribischen positiven Studien gerechtfertigt ist. Historische Methode bei Alexander von Humboldt also als kritische, als komparative und schließlich als Konstituente eines universalen Gegenstandes. Deutet man Alexander von Humboldt ausschließlich als Naturforscher, so erscheint seine Deskription und Empirie, bei aller Messfreudigkeit und aller Akribie der Zahlen, als hinter dem Stande der modernen, mathematisierten Naturwissenschaft zurückstehend. Sieht man ihn als Historiker und Philologen der Natur und der Naturwissenschaft, so erscheint der überkommene aufklärerische Universalismus als Prämisse einer globalen Formulierung empirischer Befunde. Mitte des 19. Jahrhunderts, als naturwissenschaftliche und historische Disziplinen sich weiter differenziert haben, kann Humboldt daher so mühelos das verkappt idealistische Subjekt aller Historie, sei es nun der Geist, seien es die Völker, die Sprache mit der aus dem 18. Jahrhundert überkommenen Rede vom Menschengeschlecht amalgamieren. Seit den Göttinger Tagen, vielleicht auch schon seit dem Berliner Umgang mit den jüdischen Familien Mendelssohn, Friedländer, Herz, gehört es zu Humboldts universaler Auffassung des Menschengeschlechts, auch seine ältesten Urkunden mit zu berücksichtigen. Denn die vergleichenden linguistischen Studien dienen nicht zuletzt dem Rückschluss auf das nicht mehr historisch zu Rekonstruierende. Entwicklungsgeschichtlich sollen Linien bis über die Ränder des Überlieferten hinaus gezogen werden. Zumindest die Grenze zwischen Geschichte und Mythos überschreitet Humboldt ohne zu zögern. Der Kosmos rechtfertigt, was in Deutschland durch Heyne und Michaelis eingeführt wurde: Den „Mythos als notwendige Denkweise früherer Kulturen" 79 anzusehen. Der Geschichtsforscher durchbricht die vielen übereinander gelagerten Nebelschichten symbolisirender Mythen, um auf den festen Boden zu gelangen, wo sich die ersten Keime menschlicher Gesittung nach natürlichen Gesetzen entwickelt haben. Im grauen Alterthume, gleichsam am äußersten Horizont des wahrhaft historischen Wissens, erblicken wir schon gleichzeitig mehrere leuchtende Punkte, Centra der Cultur, die gegeneinander strahlen: so Ägypten [...]; Babylon, Ninive, Kaschmir, Iran, und China.80
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Vgl. Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 206. K , S. 245.
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Zum Studium der Antike gehört der Reiz des beginnenden „wahrhaft historischen Wissens", aber auch die Herausforderung der Interpretation eines vorhistorischen, eines mythischen Denkens. Die Alten Griechen als Ideal Humboldts Studium der alten Sprachen und Kulturen und ihres Vergleichs erscheint im Kosmos so weit historisiert, die komparative Methode so konsequent auf die orientalischen und mesoamerikanischen Kulturen ausgedehnt, dass es schwerfällt, dahinter ein „klassisches" Antikenideal zu erkennen. Von Winckelmanns Aktualisierung des Humanismus für das 18. Jahrhundert scheint der Naturforscher mehr die geschichtliche Methode als die Stilisierung eines kulturellen Musterbildes zu übernehmen. So ist die Rede von den „Hellenen, [...] dem hochbegabten Stamme [...], in dessen Cultur die unsrige am tiefsten wurzelt und aus dessen Ueberlieferungen wir einen wichtigen Theil aller früheren Völkerkunde und Weltansicht schöpfen."81 Der Superlativ der besonderen Verbundenheit mit der griechischen Kultur steht neben der relativen Stellung der Alten: Sie sind die Vermittler des noch Älteren. Dennoch klingt aus den späten Charakterisierungen des ideengeschichtlichen zweiten Bandes des Kosmos das Pathos der Griechenbegeisterung des Klassizismus nach und eine Wertung, die die Identifikation dieser einen alten Kultur mit dem Studium des Historischen schlechthin zum Ausgangspunkt einer idealistischen Geschichtsschreibung hat werden lassen: Indem sich durch die Thatkraft eines, in seinem Inneren so oft erschütterten Volkes ein so reich bewegtes Leben nach außen entfaltete, wurden, bei zunehmendem Wohlstande, durch die Verpflanzung einheimischer Cultur überall neue Keime der geistigen National-Entwickelung hervorgerufen. Das Band gemeinsamer Sprache und Heiligtümer umfaßte die femesten Glieder. Durch diese trat das kleine hellenische Mutterland in die weiten Lebenskreise anderer Völker. Fremde Elemente wurden aufgenommen, ohne dem Griechenthum etwas von seinem großen und selbständigen Charakter zu entziehen. [...] Es war in den Colonien wie im ganzen Hellenismus ein Gemisch von bindenden und trennenden Kräften. Diese Gegensätze erzeugten Mannigfaltigkeit in der Ideenrichtung und den Gefühlen, Verschiedenheiten in Dichtungsweise und melischer Kunst; sie erzeugten überall die reiche Lebensfülle, in welcher sich das scheinbar Feindliche nach höherer Weltordnung zu mildernder Eintracht löste. 82
Auch die späte Äußerung gegenüber dem jungen Friedrich Althaus verrät die längst zum Gemeinplatz gewordene winckelmannsche Diktion: „Die 81 82
K, S. 260. K, S. 264f.
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Humboldts Erziehung zum Literaten
Griechen sind ein anthropomorphistisches Volk, das Alles menschlich zu veredeln, Alles in die Kreise schöner Gestalten zu erheben strebt." Freilich fehlt auch in dieser Würdigung des hellenisch Klassischen nicht der Kulturvergleich, diesmal mit dem „dunkleren Charakter" der Semiten.83 Für den Entwurf einer globalen Geographie, für die Stilisierung eigener Werke als zugehörig zur deutschen Klassik, für die Anbindung der modernen Naturwissenschaften an ein allgemeines Bildungsideal, für die Profilierung eines literarischen Kanons im Kosmos: Immer wieder wird Humboldt sich auf die alten Griechen als ideales Volk beziehen, in dem sich Humanität, Freiheit, ein ideales Natur- und Weltverhältnis zuerst historisch verwirklichten. Es wird noch jeweils zur Sprache kommen. Neben den Überlieferungen des vorderen, mittleren und fernen Orients, neben den altamerikanischen Kulturen zitiert Humboldt im Kosmos auch die klassischen antiken Autoren, und unter ihnen, der Vielfalt der Aspekte entsprechend, Lyriker, Tragiker, Epiker, Historiker. Sie alle sind Teil einer Geschichte des Wissens von der Natur und vom Naturganzen, sie sind aber auch selber Teil einer als Naturgeschichte verstandenen Entwicklung der Menschheit. Homer, Hesiod, Pindar, Äschylos, Sophokles, Euripides, Pythagoras, Anaxagoras, Hippokrates, Sokrates, Plato, Aristoteles, Theophrastes, Diodor, Herodot, Polybius, Cicero, Cäsar, Vitruv, Vergil, Ovid, Lucan, Tibull, Livius, Plutarch, Sueton, Tacitus, Strabo, „der alles registrierende Plinius" (gemeint ist der Ältere), Diogenes Laertius, Origenes, Longus, Achilleus Tatius. Daneben zitiert Humboldt in einigen Fällen Minores. Doch deutlich hält er sich, was die Rekonstruktion der antiken Überlieferung betrifft, an einen Kanon. Und die genauere Lektüre der Kapitel über andere alte und modernere Kulturen würde ebenfalls eine enge Bindung an kanonische Texte zutage fördern. Es gibt also für Humboldt klassische Autoren im emphatischen Sinne, so wie es klassische Zeitalter in der Menschheitsgeschichte gibt. Drei Epochen sind es, die er hervorhebt: Die Antike, die im größten Umfang geographische und kulturelle Räume erschlossen, aus Älterem bahnbrechende Synthesen gewonnen und bis in die Gegenwart überliefert hat; die Zeit der Wiederentdeckung Amerikas und der Erforschung dieses unbekannten Kontinents. Und mehr zwischen den Zeilen als explizit ist die Gegenwart dazuzurechnen, mit ihrer rasanten Erweiterung von Kenntnissen und Wissenschaften, an der der Autor selbst keinen geringen Anteil hat. Zwischen die klassische Antike und den Neuhumanismus der Gegenwart ist also die Renaissance, der Humanismus, das Zeitalter der Entdeckungen geschaltet. Es ist der Zug ins Weite, in die
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Gespräche Alexander von Humboldts, hg. von Hanno Beck, Berlin: Akademie Verlag 1959, S. 287 (Gespräch vom 13.3.1850).
Humboldts Antikenstudien: Methode und Ideal
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Ferne, ins Globale, für Humboldt mit Fortschritt, mit Erkenntnis, mit Freiheit assoziiert, der diesen Epochen den Charakter idealer Menschheitszeitalter verleiht. Ihre exzeptionelle geschichtliche Stellung legt es auch nahe, die Gegenwart ausgerechnet auf die griechische Antike zu projizieren. Um ein privilegiertes Zeitalter handelt es sich aus der Sicht Humboldts auch bei der Epoche, in der er selbst mit der Antike vertraut wurde. Die Zeit, die das Antikenideal formuliert, umgibt sich damit zugleich mit einem Pathos, das die eigene geschichtliche Stellung hebt. Das Aper9u, das die eigenen Göttinger Studien in der Hommage an Böckh mit dem Jahr 1789 und der Pariser Reise des Bruders in Verbindung brachte, deutet darauf hin: Die Philologie jener Jahre ist nicht die weltfremde Beschäftigung mit dem Ältesten, sondern die Kultur einer Avantgarde: Sie ist vorrangig eine säkulare Kultur, deren Rationalität gegen die orthodoxe Theologie und gegen jede Art von Dogmatismus geltend gemacht wird. Die kritische Methode ist eine auch der philosophischen und gesellschaftlichen Kritik.84 So wird das Antikenideal zugleich zu einem Ideal der Freiheit. Humboldt bescheinigt denn auch eine vorzügliche „Liberalität im Denken"85. Und in den Jahren der militärischen Niederlage liegt es nahe, für die Ansichten der Natur ein Motto zu wählen, das Antikes, Natur und Freiheit assoziiert: „Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte / Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte; / Die Welt ist vollkommen überall, / Wo der Mensch nicht hinkommt in seiner Qual." Hier vermischt sich das Freiheitsdenken der Klassik mit dem der Naturschwärmerei etwa Rousseaus und der Empfindsamkeit, das Pathos von 1789 mit dem von 1806.86 Noch in einem späten Gespräch mit Friedrich Althaus über Niebuhrs posthum erschienene Vorträge über die Griechische Geschichte meint Humboldt: „Niebuhr ist nicht zum Zusammenhang einer freien Weltansicht gekommen; der Begriff der allgemein menschlichen Freiheit ist ihm nicht aufgegangen."87 Wie sehr sich Humboldts Griechenbild mit der Avantgarde des späten 18. Jahrhunderts zugleich geprägt hat, sieht man etwa auch an der anerkennenden Erwähnung von Friedrich Schlegels Aufsätzen zur Antike in einem Brief an Varnhagen von 1833.88
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Die „kritische Philologie" sei ein „bewegendes Moment der Aufklärung" und „an drei revolutionären Tendenzen des 18. Jahrhunderts beteiligt: dem deutschen Jakobinismus, dem ästhetischen Programm des romantischen Lebensstils, der Kritik der christlichen Religion." So Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen, S. 197. JB, S. 68. AN, S. 8. Vgl. Gespräche, S. 325, 27.12.1852. Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1 8 2 7 - 1 8 5 8 , hg. von Ludmilla Assing, Leipzig: Brockhaus 1860, S. 17.
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Humboldts Erziehung zum Literaten
Aus der Sicht der Epoche, in der du Bois-Reymond die Wissenschaft exemplarisch vertrat, konnte der Humanismus als antiquierte Erscheinung wirken: Um 1800 trug er, und für den späteren Humboldt nach wie vor, alle Merkmale des Fortschrittlichen an sich. So wie sich in der Beschäftigung mit der Antike allmählich die Merkmale des Avantgardistischen verloren, in dem Maße in dem sich der Humanismus als Ersatzreligion des neuen Jahrhunderts etablierte, wurde zur Floskel, was um 1800 als Motiv einer neuen, kritischen und säkularen Umdeutung der Vergangenheit und der Prämissen der eigenen, sehr gegenwärtigen Epoche galt. Der alte Humboldt durfte sich nicht mehr als Vertreter einer Avantgarde betrachten; dafür wurde er seinen jüngeren Zeitgenossen einer der letzten Zeugen der längst verklärten deutschen Klassik.
Naturforschung und Literatur in der Diskussion: Jena und Weimar 1794-1797
Zwischen Literaturpolitik und philosophischer Naturwissenschaft Alexander von Humboldt als Teil des Mythos Klassik Biographen üben sich gerne im gehobenen Stil, wenn es an die Schilderung der Begegnung von Goethe und Humboldt im Jahre 1794 geht.1 Nicht allein der Held einer Biographie selbst ist prominent — diese Prominenz scheint für einen Augenblick zu verblassen oder noch einmal gesteigert zu werden durch den Abglanz, der von einem illustren Zeitgenossen auf die Hauptperson fällt. Der Leser freut sich dann für Humboldt, dass er durch den Umgang mit dem Olympier endgültig in den Kreis der Geisteshelden aufgenommen ist, oder für Goethe, der demnach doch als Naturforscher ernst zu nehmen ist, da kein geringerer als eben der (später) so berühmte Gelehrte ihn mehrfach besucht und sich ernsthaft mit ihm austauscht. In der Geistesgeschichte wird der Begegnung eine umso größere Bedeutung zugesprochen, als sich in dem Austausch die Potenziale der einzeln schon gewichtigen Persönlichkeiten noch einmal potenzieren. So kann behauptet werden: „Der Goethe-Humboldtsche Geistesaustausch der Jahre 1794—7 gehört zu den eindringlichsten und folgenreichsten Verhältnissen in Goethes Leben; im Leben Alexanders aber ist er der tragende Grund seines gesamten Wirkens geworden", und „Humboldts gesamtes Werk ruht auf dem Grunde Goethischer Wissenschaftslehre; es ist ohne Goethes naturwissenschaftliche Methodik gar nicht zu denken."2 Oder umgekehrt für Goethe, „daß man Alexanders Bedeutung für den Naturforscher Goethe nur mit der vergleichen kann, die Schiller für den Dichter Goethe besaß."3 Aus einem sicherlich sehr angeregten Umgang 1
2 3
Zur Dokumentation des Verhältnisses zwischen Goethe und Alexander von Humboldt vgl.: Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander von Humboldt, hg. von Ludwig Geiger, Berlin: Hans Bondy 1909; Karl Schneider-Carius: Goethe und Alexander von Humboldt. Zum Gedenken an Humboldts Todestag vor 100 Jahren, in: Goethe-Jahrbuch NF 21 (1959), S. 163-182 (mit Angaben von Dokumenten außerhalb des Briefwechsels); Kurt-R. Biermann: Goethe in vertraulichen Briefen Alexander von Humboldts, in: GoetheJahrbuch 102 (1985), S. 11-33; Ilse Jahn und Andreas Kleinert (Hg.): Das Allgemeine und das Einzelne. Johann Wolfgang Goethe und Alexander von Humboldt im Gespräch, Halle: Hirzel 2003 (=Acta Historica Leopoldina, 38). Walther Linden: Weltbild, Wissenschaftslehre und Lebensaufbau bei Alexander von Humboldt und Goethe, in: Goethejahrbuch NF 7 (1942), S. 82-100, hier S. 84, 100. Wolfgang Hagen Hein: Humboldt und Goethe, in: ders. (Hg): Alexander von Humboldt. Leben und Werk, Frankfurt a.M.: Weisbecker 1985, S. 46-55, hier S. 46.
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Naturforschung und Literatur in der Diskussion
wird eine „niemals und durch nichts getrübte Freundschaft das ganze Leben hindurch",4 mag sie sich im übrigen auch nur in einem gelegentlichen Briefwechsel, der auf Persönliches kaum eingeht, in der Übersendung neuer Druckerzeugnisse5 und in sehr seltenen Besuchen niederschlagen.6 Wenn Gegensätze doch nicht zu verleugnen sind, werden sie bereinigt zu einer wenigstens eindeutigen Opposition: Goethe und Humboldt sind „in dem innersten Wesen ihrer Liebe zur Natur diametral verschieden."7 Oder aber die Charaktersierung rettet sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, der in der „universalen Ausrichtung" beider leicht zu entdecken ist.8 In jenen Monaten der Jahre 1794, 1795 und 1797, in denen es zu einem intensiven Austausch zwischen Goethe und Humboldt gekommen ist, waren in Jena wie in Weimar noch Dritte an den Gesprächen beteiligt. Das Fest der Geistesheroen lässt sich jedoch mühelos auf weitere historische Persönlichkeiten ausdehnen, sorgfaltig die Symmetrie wahrend: „Beide Brüder [gemeint sind die Humboldts] waren zu Goethes freudigem Erstaunen aus dem Holz der faustischen Maßlosigkeit geschnitzt."9 Alexander von Humboldt mit seinen konkreten Beschäftigungen und versatilen Umgangsformen habe Goethe näher gestanden als der ungleich vergrübeitere ältere Bruder, wenn auch die Korrespondenz mit diesem 4
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Adolf Meyer-Abich: Die Vollendung der Morphologie Goethes durch Alexander von Humboldt. Ein Beitrag zur Naturwissenschaft der Goethezeit, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1970, S. 118. Oder: „Sowohl in seiner Physik wie in seiner Physiologie ist Humboldt immer ein universaler Morphologe Goethescher Observanz gewesen" (S. 128). Ähnliche Bewertungen schon in: Adolf Meyer-Abich: Biologie der Goethezeit. Klassische Abhandlungen über die Grundlagen und Hauptprobleme der Biologie von Goethe und den großen Naturforschern seiner Zeit, Stuttgart: Hippocrates-Verlag 1949. (Über A. v. Humboldts. 181-188). Vgl. Hein, Humboldt und Goethe, S. 47. In Goethes Bibliothek befinden sich 15, teils mehrbändige Titel Humboldts, von den frühen Florae Jribergensis speämen bis zu den Fragmens degeologie 1831, vgl. Hans Ruppert: Goethes Bibliothek. Katalog, Weimar: Arion 1958. Alexander von Humboldts Aufenthalte in Jena und Weimar im Herbst 1794, im Winter 1795, im Frühjahr 1797, dann kurz 1826 und 1831. Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. 1, S. 200. Meyer-Abich: Die Vollendung der Morphologie, S. 111; Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. 1,S. 200. Andreas B. Wachsmuth: Goethe und die Gebrüder von Humboldt. Die Jenaer Jahre 1794— 1797, in: Studien zur Goethezeit. Festschrift Lieselotte Blumenthal, hg. von Helmut Holtzhauer und Bernhard Zeller, Weimar: Böhlau 1968, S. 446-464, S. 450. Dagegen Walther May: Goethe. Humboldt. Darwin. Haeckel. Vier Vorträge, Berlin-Steglitz: Enno Quehl 1906, S. 26: Goethe sei eine Faustnatur, A. v. Humboldt dagegen eben nicht. Vgl. auch Wilhelm Richter: Der Wandel des Bildungsgedankens. Die Brüder Humboldt, das Zeitalter der Bildung und die Gegenwart, Berlin: Colloquium 1971 (=Otto Büsch, Gerhard Heinrich [Hg.], Historische und pädagogische Studien, 2), S. 35: Wilhelm und Alexander von Humboldt seien „das Brüderpaar der deutschen Klassik, indem sie den Goetheschen Raum in den beiden Bereichen Natur und Sprache, gleichsam die beiden Hemisphären der Goetheschen Kugel, durchdringen und verwalten."
Zwischen Literaturpolitik und philosophischer Naturwissenschaft
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umfangreicher und anspruchsvoller sei.10 Schiller stehe dem älteren Humboldt so nahe wie Goethe dem jüngeren.11 Ja, Alexander habe mit Schiller gewetteifert, was die Inspiration Goethes zu gegensätzlichen Beschäftigungen angeht: Während jener den neuen Freund an sein dichterisches Talent zu erinnern suchte, drängte Humboldt zur Vertiefung und Publikation naturwissenschaftlicher Untersuchungen.12 Schillers Abneigung gegen Humboldt sei nur ein Ausdruck seiner Eifersucht.13 Der nostalgische Rückblick bedarf der Polarisierungen jedoch nicht immer: So zeigt ein späterer Kupferstich (vgl. Abb. 1) beide Humboldts, Goethe und Schiller beziehungsreich in einer Montage, so wie sie im Jahre 1794 oder 1797 wohl kaum zusammengekommen sind, da sie einander wahrscheinlich entweder in größerem oder anders besetztem Kreise begegneten. Doch das Quadrat ist reich an kulturhistorischen Assoziationen: Das bildungsbürgerliche neunzehnte Jahrhundert umgibt, wie in diesem Kupferstich, seine Geistesheroen mit den Attributen des Genialen, mit Reben und Weingläsern, und nimmt ihre Begegnung als Sinnbild der deutschen Kultur jener Epoche überhaupt.14 Mythisierungen und Stilisierungen haben die Aufenthalte Alexander von Humboldts in Jena und Weimar zum Monument der nationalen Kulturgeschichte gemacht. Die Beteiligten sind daran gewiss nicht ganz unschuldig.15 Während Goethe und Humboldt sich seit den Tagen ihrer ersten persönlichen Bekanntschaft immer wieder gegenseitig ehrend erwähnten und so zur eigenen Monumentalisierung beitrugen,16 hat sich Humboldt als einer der letzten Zeitzeugen der Weimarer Klassik spät noch in ihre unmittelbare Nachfolge gestellt. 10 11
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Hein: Humboldt und Goethe, S. 46. Beck: Alexander von Humboldt, S. 65. Humboldt selbst schrieb am 11.5.1858 an einen Verehrer Schillers, der nach ihrem Verhältnis gefragt hatte: „Ich bin Schiller nie nahe gestanden", er sei während seiner Aufenthalte in Jena „fast allein ein Gegenstand der A u f merksamkeit von Goethe, der damals eine ganz naturhistorische Tendenz hatte", gewesen (Biermann: Goethe in vertraulichen Briefen, S. 30). Zu diesem späten Zeitpunkt waren Humboldt allerdings schon Schillers absprechende Äußerungen gegenüber Körner bekannt geworden. Hein: Humboldt und Goethe, S. 46. Gegen die topisch gewordene Gegenüberstellung meldet dagegen Biermann (Goethe in vertraulichen Briefen, S. 12) Bedenken an. Otto Krätz: Goethe und die Naturwissenschaften, München: Callwey 2 1992, S. 118. Den Hinweis auf die Spezifik dieser Ikonographie verdanke ich Gisela Febel. Vgl. Nicolaas A. Rupke: Goethe und Alexander von Humboldt, in: Elmar Mittler (Hg.): „Göthe ist schon mehrere Tage hier, warum weiß Gott und Göthe", Göttingen 2000 (=Göttinger Bibliotheksschriften, 13), S. 1 9 7 - 2 1 0 . Humboldt habe „die Nähe Goethes gesucht und auch zur Förderung des eigenen Ansehens instrumentalisiert" (S. 205). Vgl. Hartmut Böhme: Goethe und Alexander von Humboldt. Exoterik und Esoterik einer Beziehung, in: Ernst Osterkamp (Hg.): Wechselwirkungen. Kunst und Wissenschaft in Berlin im Zeichen Goethes, Bern, Berlin u.a.: Peter Lang 2002 (=Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 5), S. 1 6 7 - 1 9 2 .
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Naturforschung und Literatur in der Diskussion
Zur Einseitigkeit neigt allerdings auch eine Darstellung, die die Jenaer Monate im Leben Alexander von Humboldts mit ihren Beziehungen und Begegnungen zu bagatellisieren sucht, den „Rhodischen Genius", jene in Schillers Hören 1795 gedruckte Erzählung über die Lebenskraft abtut als Frucht der vorübergehenden Verführungskünste des schöngeistigen Milieus.17 Irreführend ist gleichfalls eine Bewertung dieser Monate, die einen nachhaltigen Einfluss der Sphäre um Schiller und Goethe auf Humboldt zwar anerkennt, ihn aber als nachteilig für die sonst vielleicht energischere Entwicklung des Forschers im Sinne einer stetig sich modernisierenden Naturwissenschaft ansieht.18 Humboldt gerät so mit Buffon und anderen in die Reihe derjenigen Naturforscher, deren literarische Ambitionen dem fortschreitenden 19. Jahrhundert zunehmend verdächtig erschienen.19 Einem Analytiker wie Gaston Bachelard verfallen Humboldts Versuche über die gereifte Muskel- und Nervenfaser aus jenen Jahren der Kritik am „vorwissenschaftlichen Geist".20
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Der „Rhodische Genius" sei „Ein Monstrum, gezeugt in den medizinisch-physiologischen Hörsälen der damaligen Zeit, geboren von jenem ,Mädchen für alles' der vis Vitalis und in orphische Windeln gewickelt, den Liebhabern des Weimar-Jenaischen Dichterkreises in die poetische Krippe gelegt." So Werner Rübe: Alexander von Humboldt. Anatomie eines Ruhmes, München: Deutscher Kunstverlag 1988, S. 70. Dies verschiedentlich die Meinung des späten 19. Jahrhunderts. Vgl. Emil Du BoisReymond: Die Humboldt-Denkmäler vor der Berliner Universität, in: Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Emil du Bois-Reymond, hg. von Ingo Schwarz und Klaus Wenig, Berlin: Akademie-Verlag 1997 (=Beiträge zur Alexander-von-HumboldtForschung, 22), S. 185-203, S. 193: Eine bestimmte Wirkung des Geistes der neunziger Jahre auf Humboldt sei bedenklich. Dies auch die Tendenz von Bruhns, der für Humboldt feststellt: „So schwanden vor dem wissenschaftlichen Bemühen um Erkenntnis der Natur die Träume symbolisierender Mythen und dichterischer Allegorien" (Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. 1, S. 209); grundsätzlich heißt es weiter, „dass Einbildungskraft nicht in die Naturforschung gehört, dass nirgends die phantasievolle, aprioristische Anschauung gefährlicher und verderblicher ist als in dem Gebiete der Naturwissenschaft, deren Gesetze in all ihrer Schärfe und Reinheit ohne einen Hauch subjectiver Empfindung erfasst und dargestellt werden müssen [...] die Wissenschaft dagegen verscheucht die himmlischen Gestalten, entgeistigt die Welt und bietet nur Zahl und Gesetz, Schranke und Entsagung" (S. 215). Zur späteren Diskreditierung literarisch profilierter Naturforscher des 18. Jahrhunderts vgl. Wolf Lepenies: Der Wissenschaftler als Autor. Buffons prekärer Nachruhm, in: ders.: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 131-168. Gaston Bachelard: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, Humboldt vereinige bei seinen Versuchen das „animistische" und das „substantialistische Hindernis" gegen den wissenschaftlichen Geist (S. 247).
Zwischen Literaturpolitik und philosophischer Naturwissenschaft
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In Jena „alles vereint" Selbst wenn man sich bei der historischen Rekonstruktion von Humboldts Aufenthalten in Jena und Weimar strenger an Sozial- und Diskursgeschichtliches hält, entsteht der Eindruck von einer außerordentlich prägnanten Situation.21 Humboldt wurde bei seinen Besuchen zugleich in verschiedene Foren und Kontexte gezogen. Er folgte sicherlich der Einladung seines Bruders und seiner Schwägerin, Caroline von Dacheröden, die über ihre Freundschaft mit Charlotte Schiller auch zuerst die Bekanntschaft zwischen Wilhelm von Humboldt und Schiller vermittelt hatte. Alexander von Humboldt wurde nun wiederum an Schiller empfohlen, der ihn an seinem neuen Zeitschriftenprojekt der Hören beteiligen wollte. Zugleich erwartete man sich aber auch in der Residenz kompetente Beratung in Fragen des Bergbaus, was wiederum im besonderen Interesse des Herzogs Karl August22 und Goethes lag, der allerdings mit Humboldt noch eine ganze Reihe weiterer Fragen zu erörtern fand. Zu den großen Erwartungen, die sich offenbar an dessen Besuche knüpften, berechtigte nicht nur das glänzende Studienpensum, das ihn inzwischen von Berlin und Frankfurt an der Oder über Göttingen und die Hamburger Handelsakademie bis an die Freiberger Hochschule für Bergbau und Mineralogie geführt hatte, sondern auch die beachtlichen Erfolge im sächsischen Bergbau als Oberbergrat in preußischen Diensten. Zu Erwartungen berechtigten auch seine Aphonsmi ex doctrina phjsiologiae chemicae plantamm, 21
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Stellvertretend für eine Klassik-Forschung, die sich von den Mythisierungen der personalisierten Geschichtsschreibung verabschiedet hat, um sich verstärkt sozialhistorischen und diskursgeschichtlichen Fragen zuzuwenden: Walter Müller-Seidel: Naturforschung und deutsche Klassik. Die Jenaer Gespräche im Juli 1794, in: Festschrift Benno von Wiese, hg. von Vincent J. Günter u.a., Berlin: Schmidt 1973, S. 61-78, dort vor allem auch die Kritik an einer personalisierenden Geschichtschreibung (S. 61), die Betonung der Beteiligung mehrerer, nicht nur des Dichterpaares, an der Klassik, und der vitalen Bedeutung des Horenprojektes für den intensivierten Austausch zwischen Goethe und Schiller (69). Der Versuch, vorschnelle ideengeschichtliche Etikettierungen im Sinne von „Klassik", „Romantik", „Idealismus" zu vermeiden, kennzeichnet den von Friedrich Starck herausgegebenen Band: Evolution des Geistes. Jena um 1800: Natur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Spannungsfeld der Geschichte, Stuttgart: Klett-Cotta 1994. Auf die Aussagekraft allein einer Datums- und Ortsangabe verlässt sich Theodore Ziolkowski: Das Wunderjahr in Jena 1794/95, Stuttgart: Klett-Cotta 1998. Seit 1998 befasst sich an der Universität Jena der Sonderforschungsbereich 482 der DFG mit dem „Ereignis Weimar Jena. Kultur um 1800." Vgl. etwa den Brief an Reinhard von Haeften vom 19.12.1794 aus Jena: „An Geistesnahrung hat es mir indeß nicht gefehlt. Göthe hat Wort gehalten und kam um meinethalben herüber. Er war drei Tage bei uns, unendlich freundlich gegen mich. Er wollte mich mit Gewalt mit nach Weimar nehmen, weil es ihm der Herzog eingeprägt hatte, mich mitzubringen. Aber so gern ich mit Göthe bin (er ist mir hier eigentlich der liebste), so wären denn doch leicht die Feiertage darauf gegangen. Ich hätte Dich 6 Tage später gesehen, und diesen Verlust ersetzt mir nichts" (JB, S. 388).
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Naturforschung und Literatur in der Diskussion
die er selbst für sein bis dahin bestes Werk hielt23 und die in der Jenaischen Allgemeinen Uteratur^eitung besprochen worden waren.24 Ebendiese Zeitschrift, von Christian Gottfried Schütz herausgegeben, hatte Alexander von Humboldt schon im August 1793 als Rezensenten in Fragen der Mineralogie angeworben.25 Seine Beteiligung an der Jenaischen Allgemeinen Uteratur^eitung blieb allerdings ebenso Episode wie die an den Hören.26 Doch auch für Humboldt stellte Jena ein wichtiges Reiseziel dar. Hier erhoffte er sich wichtige Impulse für seine Forschungen zur Tier- und Pflanzenphysiologie, die damals im Zentrum seines Interesses standen, sicherlich auch eine Beförderung seiner schriftstellerischen Ambitionen. Die diversen Gespräche und Erörterungen führten Humboldt nicht nur in verschiedene Sphären auf engem Raum. Bezeichnend ist für die Situation Weimar/Jena die Nähe von Universität und Residenz, wobei sich an die Universität wissenschaftliche Studien und literarische Aktivitäten mit den dazugehörigen institutionellen und politischen Dynamiken knüpften, an die Residenz Fragen der Verwaltung und Ökonomie sowie vielfältiger künstlerischer Initiativen. Die Städte waren groß genug, um wirtschaftlich und personell Bedeutendes zu veranstalten, andererseits aber so klein, dass die verschiedenen Sphären sich durchdringen konnten. Adel und Bürgertum, Hofhaltung und Akademie, Verwaltung und Wirtschaft lagen eng beieinander. So spiegeln auch die Dokumente zu Humboldts Aufenthalten in Jena und Weimar eben nicht den monolithischen Bund mit dem Olympier, sondern vor allem die bereits bekannte Atmosphäre von Begegnungen in geselligem und gesellschaftlichem Rahmen, im kaum definierten Zwischenbereich zwischen Privatleben, Profession und Politik.27 Die Verflechtungen zwischen den Bewohnern Weimars und Jenas, zwischen den Angehörigen des Hofes und der Universität, den Honoratioren und Beamten stehen für einen intensiven Austausch von Philosophie, Naturwissenschaft und Literatur. Humboldt befasste sich nicht mit einem der drei Problemfelder, dem der Naturwissenschaft allein. An Schiller empfahl er sich vor allem als Universalhistoriker der Natur und fand im wenig erfolgreichen Nachfolger Schillers als Professor für Geschichte Karl Ludewig Woltmann wieder, einen guten Bekannten aus 23 24 25 26 27
Brief an Karsten, 14.6.1793, JB, S. 252. 1793, Nr. 250, Besprechung der deutschen Ausgabe 1796, Nr. 10, S. 76. Brief an die Redaktionsmitglieder 10.8.1793, JB, S. 268. Tatsächlich hat Humboldt wohl nicht rezensiert, sondern eigene Beiträge im Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung abgedruckt: Löwenberg Nr. 32, 34, 40. So berichtet Caroline an Wilhelm von Humboldt am 28.4.1797: „Alexander scheint in Weimar sehr fetiert worden zu sein, er gloriiert sich aber nur damit, so viel es ihm gut scheint, mokiert sich über den Herzog, Goethe und alle Menschen, außer über die Amalie." Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, hg. von Anna von Sydow, Bd. 2, Berlin: Mittler 1907, S. 44.
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Göttinger Tagen. Fichtes neue Wissenschaftslehre wurde von Goethe, Schiller und Wilhelm von Humboldt intensiv erörtert, während sich Alexander in Jena aufhielt. Selbst wenn er an den Gesprächen nicht persönlich beteiligt gewesen sein sollte, wird sich ihm etwas vom intellektuellen Klima im Umfeld dieses lokalen und philosophiegeschichtlichen Ereignisses mitgeteilt haben. Fragen der Literatur und der Literaturpolitik wurden ihm im Zusammenhang mit Schillers ambitioniertem Hori«projekt so gegenwärtig wie vielleicht noch nie zuvor. Und wenn es um Naturforschung ging, sogar um die Ausbildung einer eigenständigen Disziplin, die später den Namen Biologie tragen sollte, so handelte es sich paradoxerweise zugleich um einen Prozess, der Privatgelehrte und Laien mit einschloss und sich sogleich in einem durchlässigen Milieu von vielfach Interessierten auf andere Gebiete, auf Kunst und Literatur vor allem übertrug. Auf die besondere Prägnanz der sozial- und diskursgeschichtlichen Situation im Jena jener Jahre bezog sich Humboldt wohl, als er in einem Brief bekannte: „Ich verlasse diesen Ort mit Wehmut. Wo findet man alles so vereint wieder?"28 Die Wissenschaft vom Leben Eine besonders dynamische Phase erlebte in jenen Jahren die Naturforschung in Jena, und zwar theoretisch wie institutionell. Der Theologe Carl Christian Erhard Schmid vertrat an der Universität Jena seit Mitte der 80er Jahre die kantische Philosophie und versuchte sie auch auf naturgeschichtliche Erkenntnisse anzuwenden. Alle Forschungen im Rahmen einer „dynamischen" Naturphilosophie, die Humboldt besonders interessierte, wurden dadurch ermutigt. Erst kürzlich war in Jena ein botanischer Garten neu eröffnet worden, zusammen mit Goethe initiiert von dem Botaniker August Johann Georg Carl Bartsch. Der hatte auch eine naturforschende Gesellschaft ins Leben gerufen, die in der ganz jungen Bekanntschaft zwischen Goethe und Schiller eine wichtige Rolle spielte.29 Vom Besuch der Vorlesungen des Anatomen Justus Loder über Bänderlehre ließen sich Goethe, Wilhelm und Alexander von Humboldt, der Kunsthistoriker Johann Heinrich Meyer, der junge Max Jacobi wie in Goethes Annalen bezeugt, auch durch tiefverschneite Wege nicht abhalten.30 Rückblickend auf diese Zeit äußert Humboldt sich Loder gegenüber 28 29 30
JB, S. 580, Brief an Friedrich von Schuckmann vom 14.5.1797. Vgl. Müller-Seidel: Naturforschung und deutsche Klassik. Vgl. die Annalen für 1794, MA, Bd. 14, S. 28. Vgl. Ilse Jahn: Die anatomischen Studien der Brüder Humboldt unter Justus Christian Loder in Jena, in: Beiträge zur Geschichte der Universität Erfurt (1392-1816), 14 (1967/69), S. 9 1 - 9 7 .
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höchst anerkennend und dankbar.31 Schiller nahm an dem Kursus nicht teil, stand aber als studierter Mediziner und Verfasser einer Dissertation, des Versuchs über den Zusammenhang der thierischen 'Natur des Menschen mit seiner geistigen von 1780 seinen Inhalten nicht sehr fern. Humboldt erinnert sich im Vorwort zu einer Neuausgabe des Rhodischen Genius in den Ansichten der Natur. „Schiller, in jugendlicher Erinnerung an seine medizinischen Studien, unterhielt sich während meines langen Aufenthaltes in Jena gern mit mir über physiologische Gegenstände. Meine Arbeit über die Stimmung der gereizten Muskel- und Nervenfaser durch Berührung mit chemisch verschiedenen Stoffen gab oft unsern Gesprächen eine ernstere Richtung."32 Auch Herder, von dessen Bekanntschaft mit Alexander von Humboldt und von dessen Teilnahme an den relevanten Gesprächen dieser Jahre nichts überliefert ist, hatte sich schon länger mit der vergleichenden Anatomie als Grundlage einer genetischen Naturbetrachtung befasst. In den Ideen, erst wenige Jahre zuvor erschienen, hatte er die (elektrische) Lebenskraft als wichtiges Element einer universalen Anthropologie angegeben33 und die von Humboldt praktizierte vergleichende Physiologie gerade auch unter dem Aspekt der Muskelreizung als Desiderat bezeichnet.34 So ist denn auch behauptet worden, dass in den Ideen eine der wichtigsten ungenannten Quellen von Humboldts Studien dieser Jahre zu sehen sei.35 Mit vergleichender Anatomie beschäftigten sich Humboldt und Goethe noch und wieder 1795, aber auch mit Fragen der Botanik,36 der Mineralogie,37 des Bergbaus.38 Im Frühjahr 1797 waren die Gespräche erneut der Geologie gewidmet. Vor allem aber nahm Humboldt mit Goethe in diesen Monaten wie auch schon 1795 eine ganze Reihe von galvanischen 31 32
33
34 35
36 37 38
Jahn: Die anatomischen Studien der Brüder Humboldt, S. 95, Brief vom 1.4.1798, JB 614f. AN, S. 10. Dass die Erinnerung möglicherweise täuscht, legt die Fortsetzung nahe, in der von der angeblich „besonderen Vorliebe" Schillers für die Erzählung die Rede ist. Vgl. auch den Brief an August Böckh von 1849 (Hoffmann: August Böckh, S. 438): „[...] Goethe und besonders Schiller eine besondere Vorliebe dafür". Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hg. von Martin Bollacher, in: Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden, Bd. 6, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1989, S. 82. Ebd., S. 93f. Vgl. Cedric Hentschel (Zur Synthese von Literatur und Naturwissenschaft bei Alexander von Humboldt, in: Heinrich Pfeiffer [Hg.]: Alexander von Humboldt. Werk und Weltgeltung, München: Piper 1969, S. 31—95): Neben Schillers Dissertation Herders Ideen für den Humboldt des Rhodischen Genius eine Anregung (S. 41). Vgl. Briefe von Humboldt an Goethe vom 21.5.1795 und 6.2.1806. Ebd., S. 289, 297. Brief Humboldts an Goethe vom 16. 7.1795, ebd., S. 292. So erhoffte sich Goethe vom Oberbergrat Humboldt, dem es in kürzester Zeit gelungen war, die Erträge des sächsichen Bergbaus erheblich zu steigern, eine Begutachtung des 111menauer Bergbaus. Vgl. Brief vom 18.6.1795, ebd. S. 292.
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Versuchen durch.39 Über das „Galvanische Fluidum" trug er 1797 auch in der „Naturforschenden Gesellschaft" vor. Es handelt sich um ein Thema, bei dem der Vortragende auf große Anteilnahme, wenn nicht gar die Sensationslust eines gemischten Publikums rechnen konnte.40 Die Wissenschaftsgeschichte hat die Konzentration von theoretischen und praktischen Bemühungen um die vergleichende Anatomie in Jena, die auch Goethe, die Brüder Humboldt, Meyer und Jacobi in Loders Vorlesung trieb, in ihrer Bedeutung für die Ausdifferenzierung einer eigenständigen Disziplin der Biologie gewürdigt.41 Die praktischen Übungen im Sezieren, im Winter 1794/95 durch die anhaltende Kälte sehr begünstigt, gingen in philosophische Überlegungen über, die wiederum weit in Fragen der Ästhetik und Literatur ausgreifen sollten. So interessierte sich Wilhelm von Humboldt im Blick auf eine Anthropologie der Geschlechter für die vergleichende Anatomie. Seine Studien gingen in die Beiträge Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur und Uber männliche und weibliche Form ein.42 Wilhelm von Humboldt hatte sich in der Abhandlung auf Blumenbachs Uber den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäft und auf Alexander von Humboldts Studien bezogen, die Namen wurden erst in der Redaktion des 1795 anonym in den Hören erschienenen Aufsatzes getilgt.43 Goethe suchte Belehrung bei Loder, weil er seit Jahren dabei war eine Morphologie zu entwickeln, die sich von der Anatomie des leblosen Körpers zu den dynamischen Entwicklungsprozessen und ihrer Verallgemeinerung in der gesamten Tier- und Pflanzenwelt wandte. Im Zusammenhang mit der Vorlesung drängten beide Brüder Humboldt Goethe seine Erkenntnisse zu diktieren, was im Januar 1795 geschah. Es handelt sich um den Ersten Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie·, ausgehend von der Osteologies Goethes Studien zur vergleichenden Anatomie wurden zwar erst später veröffentlicht und können daher nicht als wegweisend für die wissenschaftliche Formulierung der Morphologie 39 40
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Vgl. Brief an Goethe vom 21.5.1795, Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander von Humboldt, S. 289, und wiederum die Annalen: MA, Bd. 14, S. 36, 53. Vgl. Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Diszipünen. Physik in Deutschland 1740-1890, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 206: Das „Bildungs- und Unterhaltungsbedürfnis eines Oberschichtenpublikums" werde seit ca. 1750 von Versuchen zur Elektrizität besonders angesprochen. Vgl. Ilse Jahn: „Biologie" als allgemeine Lebenslehre, in: dies. (Hg.): Geschichte der Biologie, 3. Aufl., Jena: Fischer 1998, S. 274-301. Vgl. Jahn: Die anatomischen Studien, S. 92. Vgl. Schillers Brief an Cotta vom 30.1.1795, NA 27, S. 132. MA, Bd. 14, S. 36: „Alexander von Humboldts Einwirkungen verlangen besonders behandelt zu werden. Seine Gegenwart in Jena fördert die vergleichende Anatomie; er und sein älterer Bruder bewegen mich, das noch vorhandene Schema [der vergleichenden Osteologie] zu dictiren."
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gelten. Dennoch sind sie für die aktuelle Diskussion jener Jahre um die theoretische Formulierung der Biologie als eigener Disziplin paradigmatisch.45 Übrigens identifizierte Alexander von Humboldt Goethes Stärken als Naturforscher vor allem auf dem Gebiet der vergleichenden Anatomie und Morphologie. Caroline von Humboldt berichtet ihrem Mann im Mai 1797: „Goethe war Sonnabend und Sonntag hier. Alexander scheint ihn bewogen zu haben, jetzt seine optischen Versuche liegen zu lassen und seine anatomischen herauszugeben."46 Schließlich erwartete auch Alexander von Humboldt entscheidende Aufschlüsse von Loders Anatomiekurs, weil er versuchte, in Pflanzen und Tieren die „Lebenskraft" empirisch nachzuweisen. Das Ergebnis der mehrjährigen Studien waren die Versuche über die gereifte Muskel- und Nervenfaser. Bei Abschluss der großen Arbeit gab Humboldt die Hypothese einer eigenen Lebenskraft unabhängig von den organischen Substraten auf. Dennoch unternahm er mit seiner Studie erstmals den Versuch, unabhängig von medizinischen Fragestellungen, Thesen zu einer allgemeinen Physiologie der Pflanzen und Tiere zu entwickeln, womit die theoretische Formulierung dieser Disziplin vorangetrieben wurde. Die naturwissenschaftlichen Studien, die in Jena betrieben wurden, sind grundlegend jedoch nicht nur für die relevanten Disziplinen. Da es um nichts geringeres ging als um die Frage nach dem Leben, dem Unterschied zwischen Organischem und Anorganischem, nach der Genese, der Bildung von Individuen und Gattungen, wirkten sich die Forschungen sogleich auf Philosophie und Ästhetik aus. Leben, Organismus, Kraft, Gestalt und Bildung wurden zu Schlüsselwörtern einer neuen Literatur.47 Dies lag schon an der unmittelbaren Nachbarschaft sehr unterschiedlicher Interessen und Beschäftigungen. Die konsequente und kontinuierliche Befassung mit der Naturforschung der Brüder Humboldt und Goethes fiel in die Zeit, in der im Winter 1794/95 Schillers Ästhetische Erziehung und Goethes Wilhelm Meister diskutiert, die Redaktion der Römischen Elegien abgeschlossen wurde. Im Frühjahr 1797 sollte es nicht nur um Galvanik gehen: Goethe und Humboldt unterhielten sich über die Naturgeschichte 45 46 47
Vgl. Jahn, „Biologie" als allgemeine Lebenslehre, S. 276-280. Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, Bd. 2. Berlin 1907, S. 47. Es seien dort „zwei mächtige, historiographisch erfolgreiche Traditionen des späten 19. Jahrhunderts virtuell außer Kraft gesetzt: die polemisch-strikte Gegenüberstellung von spekulativer' Naturphilosophie und ,exakter' Naturwissenschaft einerseits und die methodisch-systematische Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften andererseits" (Lothar Müller: Der totale dynamische Prozeß. Zur experimentellen Universalisierung des Galvanismus bei Johann Wilhelm Ritter, in: Friedrich Starck [Hg.]: Evolution des Geistes. Jena um 1800: Natur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Spannungsfeld der Geschichte, Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 636-659, S. 636). Freilich lässt sich wohl nur „außer Kraft setzen", was schon „in Kraft ist", was wohl im Blick auf die genannten methodischen und disziplinaren Unterscheidungen für 1800 noch nicht zutrifft.
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des Plinius. Schließlich gibt es eine interessante Parallele zwischen den physiologischen Versuchen Humboldts, an denen Goethe sich beteiligte, und der Entstehung seiner polemischen Schrift Über litteranschen Sansculottismus. Doch dazu später mehr. Schillers Hören: Literaturbegriff und Literaturpolitik Die parallele Beschäftigung mit Naturforschung und Literatur gibt nicht nur zu Spekulationen Anlass, sie schlägt sich in einer naturgeschichtlichen Semantik nieder, die wichtige ästhetische Diskussionen jener Jahre beherrscht. In einem Brief vom 18. Juni 1795 an Alexander von Humboldt bezeichnet Goethe beider Befassung mit der Natur als komplementär und darum für beide Seiten stimulierend, und verwendet dabei den Terminus „Gestalt": „Da Ihre Beobachtungen vom Element, die meinigen von der Gestalt ausgehen, so können wir nicht genug eilen, uns in der Mitte zu begegnen."48 „Bildung", „Gestalt" weisen auf das Kunstwerk insofern hin, als es nun vor allem in Analogie zum Organismus konzipiert wird. So formuliert die neue Ästhetik ihre Normen in Analogie zur wissenschaftsgeschichtlichen Debatte um mechanische und dynamische Naturwissenschaft.49 Der Zusammenhang ist nicht neu: Physiologie und Anthropologie stehen seit dem Sturm und Drang bei verschiedenen, aus der schönen Literatur bekannten Konzepten, wie „Leben", „Empfindung", „Leidenschaft", Pate.50 Die Erforschung der dynamischen Natur verlieh der Wissenschaft eine philosophische Tendenz, die Assoziationen mit der Literatur möglich erscheinen ließ. Dies ist die Konstellation, in der sich auch Schiller als Herausgeber einer neuen Zeitschrift, der Hören, für den Naturforscher Alexander von Humboldt als potentiellen Beiträger interessieren konnte. Die Geschichte ihrer Zusammenarbeit scheint sich auf den einzigen und wenig erfolgreichen Beitrag zu den Hören, die Erzählung Die Lebenskraft oder Der Rhodische Genius zu beschränken. Alles andere wird überschattet 48 49
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Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander von Humboldt, hg. von Ludwig Geiger, Berlin: Hans Bondy 1909, S. 291. Vgl. Wolfgang Pross: „Natur", Naturrecht und Geschichte. Zur Entwicklung der Naturwissenschaften und der sozialen Selbstinterpretation im Zeitalter des Naturrechts ( 1 6 0 0 1800), in: IASL 3 (1978), S. 3 8 - 6 7 , S. 48 zu „analoger Apperzeption", auf der der Begriff „der organischen Entwicklung" um 1800 beruhe. Vgl. auch Wilhelm Voßkamp: Klassik als Epoche. Zur Typologie und Funkdon der Weimarer Klassik, in: Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München: Fink 1987 (=Poetik und Hermeneutik, 12), S. 4 9 3 - 5 1 4 , hier S. 504. Vgl. Horst Thome: Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Vorgeschichte der deutschen Klassik, Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1978, S. 270f.
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Naturforschung und Literatur in der Diskussion
durch Schillers überraschend scharfe Ablehnung des 28jährigen Naturforschers in einem Brief an Körner vom August 1797: es ist der nakte, schneidende V e r s t a n d der die Natur, die i m m e r unfaßlich u n d in allen ihren Punkten ehrwürdig u n d unergründlich ist, schaamlos ausgemessen hab e n will u n d mit einer Frechheit die ich nicht begreife, seine F o r m e l n , die o f t n u r leere W o r t e , u n d i m m e r n u r enge B e g r i f f e sind, zu ihrem M a a ß s t a b e macht. K u r z mir scheint er f ü r seinen G e g e n s t a n d ein viel zu grobes O r g a n u n d dabey ein viel zu b e s c h r ä n k t e r V e r s t a n d e s m e n s c h zu seyn. E r hat keine Einbildungskraft u n d so fehlt i h m nach m e i n e m Urteil auch das nothwendigste V e r m ö g e n zu seiner W i ß e n s c h a f t — d e n n die N a t u r m u ß angeschaut u n d e m p f u n d e n w e r d e n , in ihren einzelnen Erscheinungen, w i e in ihren h ö c h s t e n Gesetzen. 5 1
Die Heftigkeit des Angriffs ist wohl nur mit einer persönlichen Enttäuschung zu erklären oder mit der Sensibilität von Schiller wichtigen Fragestellungen, die Alexander von Humboldt möglicherweise unwissend verletzt hat. Körners besonnene Antwort52 konnte offenbar Schiller nicht dazu bewegen, seine Meinung zu revidieren, noch vermochte sie die düstere Wirkung zu verhindern, die das Urteil aus dem letzten Jahr von Humboldts Jenaer Aufenthalten auf die Wahrnehmung der früheren Beziehungen zwischen dem Dichter und dem Naturforscher in der Geschichte hatte. Dabei verlief die erste Begegnung im Frühjahr 1794 so positiv, dass Schiller im Sommer Alexander von Humboldt als Autor für die Hören anwarb. In der „Einladung zur Mitarbeit" heißt es ja: „indem man bemüht sein wird, die Wissenschaft selbst, durch den innern Gehalt, zu bereichern, hofft man zugleich den Kreis der Leser durch die Form zu erweitern."53 Und so dürfte Schiller gerade in dieser Hinsicht sehr hohe Erwartungen an die Beteiligung Humboldts geknüpft haben. An Körner schrieb er jedenfalls im September: „Von Humboldts Bruder, der Preußischer Oberbergrat ist, haben wir über Philosophie des Naturreichs sehr guteAufsätze zu erwarten. Er ist jetzt in Deutschland gewiß der Vorzüglichste
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Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 26, Briefwechsel, Schillers Briefe 1.3.1790-1794, hg. von Edith Nahler und Horst Nahler, Weimar: Böhlau 1992, S. 112f. Im Folgenden als NA zitiert. Vgl. auch Ingo Schwarz: „Ein beschränkter Verstandesmensch ohne Einbildungskraft" Anmerkungen zu Friedrich Schillers Urteil über Alexander von Humboldt, in Humboldt im Netz IV, 6 (2003). „Sein Bestreben alles zu messen und zu anatomieren gehört zur scharfen Beobachtung und ohne diese gibt es keine brauchbaren Materialien für den Naturforscher. Als Mathematiker ist es ihm auch nicht zu verdenken, daß er Maas und Zahl auf alles anwendet, was in seinem Wirkungskreise liegt. Indessen sucht er doch die zerstreuten Materialien zu einem Ganzen zu ordnen, achtet die Hypothesen, die seinen Blick erweitern, und wird dadurch zu neuen Fragen an die Natur veranlaßt." N A 36, S. 112. NA 22: Vermischte Schriften, hg. von Herbert Meyer, Weimar: Böhlau 1958, S. 103.
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in diesem Fache, und übertrifft an Kopf vielleicht seinen Bruder, der gewiß vorzüglich ist."54 Worauf sich das Vertrauen stützte, das Schiller in Alexander von Humboldts Fähigkeiten setzte, lässt sich am besten aus dessen Reaktion auf die Einladung zur Mitwirkung am Projekt ermitteln. In diesem Brief stellte sich Humboldt nämlich so weit wie möglich auf die intellektuellen Vorlieben des Adressaten ein und konnte dabei dennoch glaubhaft machen, dass sie weitgehend mit den eigenen Projekten übereinstimmten: Nie habe ich von einem literarischen Unternehmen mehr erwartet als von dem Ihrigen, wo grosse Kräfte eine grosse Wirkung hoffen lassen. Es freut mich unendlich, daß Sie die Naturkunde aus Ihrem Plane nicht ausschließen. Res ardua vetustis novitatem dare, omnibus naturam et naturae suae omnia. Wie man die Naturgeschichte bisher trieb, wo man nur an den Unterschieden der Form klebte, die Physiognomik von Pflanzen und Tieren studirte, Lehre von den Kennzeichen, Erkennungslehre, mit der heiligen Wissenschaft selbst verwechselte, so lange konnte unsere Pflanzenkunde z.B. kaum ein Object des Nachdenkens spekulativer Menschen sein. Aber Sie fühlen mit mir, daß etwas Höheres zu suchen, daß es wiederzufinden ist; denn Aristoteles und Plinius, der den ästhetischen Sinn des Menschen und dessen Ausbildung in der Kunstliebe mit in die Naturbeschreibung zog, diese Alten hatten gewiss weitere Gesichtspunkte als unsere elenden Registratoren der Natur. Die allgemeine Harmonie in der Form, das Problem ob es eine ursprüngliche Pflanzenform gibt, die sich in tausenderlei Abstufungen darstellt, die Vertheilung dieser Formen über den Erdboden; die verschiedenen Eindrücke der Fröhlichkeit und Melancholie, welche die Pflanzenwelt im sinnlichen Menschen hervorbringt; der Contrast zwischen der todten unbewegten Felsmasse, selbst der unorganisch scheinenden Baumstämme und der belebten Pflanzendecke, die gleichsam das Gerippe mit milderndem Fleische sanft bekleidet; Geschichte und Geographie der Pflanzen oder historische Darstellung der allgemeinen Ausbreitung der Kräuter über den Erdboden, ein unbearbeiteter Teil der allgemeinen Weltgeschichte; Aufsuchung der ältesten Vegetation in ihren Grabmälern (Versteinerungen; Steinkohlen, Torf u.s.w.); allmähliche Bewohnbarkeit des Erdbodens; Wanderungen und Züge der Pflanzen, der geselligen und isolierten; Karten darüber, welche Pflanzen gewissen Völkern gefolgt sind; allgemeine Geschichte des Ackerbaues; Vergleichung der cultivirten Pflanzen mit den Hausthieren, Ursprung beider; Ausartungen: welche Pflanzen fester, welche loser an das Gesetz gleichmässiger Form gebunden sind, Verwilderung gezähmter Pflanzen (so amerikanische, persische Pflanzen, wild von Tajo bis Oby); allgemeine Verwirrungen in der Pflanzengeographie durch Colonisation — das scheinen mir Objecte, die des Nachdenkens werth und fast ganz unberührt sind.55 Was Schiller zusagen musste, ist die selbstverständliche Beziehung auf die Antike, im klassischen Zitat wie in der Besinnung auf Aristoteles und Plinius; es ist die fast polemische Forderung nach einer „spekulativen" 54 55
NA 27, S. 45. NA 35, Brief vom 6.8.1794, S . 3 6 f .
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Annäherung an die Naturforschung, die ganz an die Unterscheidung von „Brotgelehrtem" und „philosophischem" Kopf aus Schillers Antrittsvorlesung erinnert;56 es ist der Aufschwung ins Idealische, denn „etwas Höheres" sei nicht nur zu suchen, sondern wiederzufinden. Damit gesellt sich zu der ohnehin universalgeschichtlichen Annäherung an die Naturwissenschaft („der unbearbeitete Teil der allgemeinen Weltgeschichte")57 ein zusätzlicher, geschichtsidealistischer Impetus. Neben die historische und spekulative Betrachtung des Gegenstandes tritt nun, weiter Schillers Absichten folgend, das Ästhetische: Es gelte, wie bei den Alten, „den ästhetischen Sinn des Menschen und dessen Ausbildung in der Kunstliebe mit in die Naturbeschreibung" einzubeziehen. Nicht nur sollen die „Eindrücke" der Pflanzenwelt auf den „sinnlichen Menschen", also wirkungsästhetische Fragen erörtert werden. Die Natur selbst ist in Begriffen der Ästhetik beschrieben: „allgemeine Harmonie in der Form", „Abstufungen", „Vertheilung" und „Contrast" können als kunstgemäße Dispositionen einer urwüchsigen Schönheit der Erscheinungen gelesen werden. Dazu der Vergleich von dem „mit milderndem Fleische sanft bekleideten Gerippe", eine Anthropomorphisierung (wie auch die der „Vegetation in ihren Grabmälern"), die pflanzengeographische Phänomene an das Ideal der menschlichen Gestalt heranrückt. Zuletzt die Semantik der Moral, die ohne weiteres von der historischen Anthropologie der „allmählichen Bewohnbarkeit des Erdbodens" auf die „Gesellschaft" der Pflanzen übertragen wird. Sie wandern und ziehen, sind gesellig und isoliert, folgen den Völkern, sind kultiviert oder ausgeartet, sind fester oder lose an Gesetze gebunden. Die Übertragung der Semantiken vom einen auf den anderen Bereich, wobei die Botanik für Soziales, das Soziale für Biologisches, beides für Ästhetisches und auch Geschichtliches einstehen kann, ist in Humboldts Brief nichts Originäres. Schiller muss jedoch die Weiträumigkeit und Tragweite von Humboldts Ansätzen, die sich in publizistischen Projekten realisieren ließen,58 fasziniert haben. Es schien um nichts anderes zu gehen als um die Anwendung der eigenen, in Universalgeschichte, Ästhetik und Philosophie, neuerdings am Leitfaden der Kantischen Kritiken entwickel-
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Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte. Eine akademische Antrittsrede, in: NA 17, S. 360-363. Dass der Zusammenhang zwischen Botanik und der moralischen und politischen Geschichte des Menschen in Humboldts Werk eine Rolle spielt, beobachtet auch Hentschel: Zur Synthese von Literatur und Naturwissenschaft, S. 45. Wolf Lepenies führt daher Humboldts Brief an Schiller zusammen mit den Aphorismen zur Pflanzenphysiologie, dem „Rhodischen Genius" und den Ansichten der Natur als Beispiele für eine Kultur an, in der die Rollen des Wissenschaftlers und Literaten auf respektable Weise vereinbar schienen (Lepenies: Der Wissenschafder als Autor, S. 134).
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ten Grundsätze, die auch Humboldt nicht ganz fremd waren, auf die Naturgeschichte. Im Rückblick wird deutlich, wie viel Humboldt von dem für den Herausgeber der Hören Skizzierten tatsächlich weiterverfolgt und verwirklicht hat. Zum Teil hat er das in Aussicht Gestellte grundsätzlich erörtert, wie in den Ideen über eine Geographie der Pflanzen, vieles findet sich wenigstens in beispielgebenden Falluntersuchungen an unterschiedlichen Stellen des Gesamtwerkes zerstreut. Doch Schiller hatte kaum Gelegenheit, Humboldts weiteren Weg als Schriftsteller zu verfolgen. Sein erster und einziger Beitrag für die Hören, Der rhodische Genius, blieb wohl hinter den Erwartungen weit zurück. Mit den Versuchen über die gereifte Muskel- und Nervenfaser, konnte er sich offensichtlich nicht anfreunden.59 Obwohl Wilhelm von Humboldt ihm das Buch empfahl, indem er ausdrücklich auf die philosophischen Implikationen der darin vertretenen dynamischen Naturforschung aufmerksam machte,60 könnte Schiller von den massenhaft dokumentierten Experimenten abgestoßen worden sein. Wie immer sein Eindruck von diesem Buch und seinem Verfasser gewesen sein mag, es hinderte ihn nicht daran, im Musenalmanach des Jahres 1798 ein Lobgedicht Karl Gustav von Brinkmanns auf den jungen Naturforscher abzudrucken.61 Zwischen den anfanglich hochfliegenden Erwartungen beiderseits und Schillers vernichtendem Urteil aus dem Jahre 1797, von dem Humboldt sich bis in die 1840er Jahre nichts träumen ließ, liegt der Beitrag zu den Hören Die Lebenskraft Die Sekundärliteratur hat dieser Erzählung kein künstlerisches und intellektuelles Gewicht bescheinigen können, weshalb sie eher als Episode der Wissenschaftsgeschichte erwähnt wird. Sie im Kontext der programmatischen Aussagen und literaturästhetischen Erörterungen in den Hören zu sehen, dazu gab es daher bis jetzt keinen Anlass. Doch gerade dieser Kontext ist es, der auf Humboldts weitere schriftstellerische Laufbahn, auf seine Profilierung als Autor spezifischer Texte mit erheblicher Wirkung einige bezeichnende Schlaglichter wirft.
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Die kritischen Äußerungen im Brief an Körner fallen jedenfalls in die Zeit, in der der Verleger Georg Jakob Decker Schiller ein Exemplar der Abhandlung übersandte. Brief vom 22.7.1797 [NA 37, S. 75], der Brief an Körner vom 7.8.1797. Brief vom 25.6.1797: „Sie werden nunmehr sehr bald sein Buch erhalten. Ich habe es in diesen Tagen mit großer Freude gelesen. Es herrscht ein treflicher Geist darin, ein Geist, den ich nicht richtiger als einen physiologischen nennen kann, ich meyne damit den, der nicht nur allein dazu gemacht ist, die Natur als Natur zu beobachten, sondern auch im engeren Verstände, lebendige Kräfte als lebendige anzusehn und zu behandeln, was bisher, bei der Sucht mechanischer und mathematischer Erklärungsarten, so selten der Fall gewesen ist" (NA 37, S. 47). Vgl. NA 37 II, S. 312
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Naturforschung und Literatur in der Diskussion
Zunächst zur Programmatik der Zeitschrift. Zwei Punkte stehen als plausibles Motiv am Beginn der Bekanntschaft zwischen Humboldt und Schiller: Die Bemühung um eine Vermittlung zwischen Wissenschaft und Allgemeinwissen und die Hoffnung, eine „Gesellschaft" von Autoren unterschiedlicher Interessen möge das lesende Publikum zu einer Gesellschaft der Gebildeten zusammenschließen. Schon in der Einladung zur Mitarbeit an den Höreη hatte Schiller betont, er wolle seine Autoren vereinigen zu einer „Gesellschaft bekannter Gelehrten".62 Die Absicht ist eine doppelte: „Treten nun die vorzüglichsten Schriftsteller der Nation in eine literarische Assoziation zusammen, so vereinigen sie eben dadurch das vorher geteilt gewesene Publikum, und das Werk, an welchem alle Anteil nehmen, wird die ganze lesende Welt zu seinem Publikum haben."63 Hier geht es zunächst um die Bündelung von Marktsegmenten,64 weiter um die Überwindung der Spaltung der Gesellschaft in mehrfacher Hinsicht: Die Zeitschrift appelliert an „ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich und über allen Einfluß der Zeiten erhaben ist, sie [die Gemüter] wieder in Freiheit zu setzen und die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen."65 Hier also die Erinnerung an die Revolution. Doch weiter geht es um den Ausgleich sozialer Differenzierungen zu Lasten des allgemein Menschlichen, wie es auch ausführlicher in den gleichzeitig entstehenden und alsbald in den Hören abgedruckten Briefen über die ästhetische Erhebung des Menschen dargestellt ist.66 In der Ankündigung der Zeitschrift heißt es: Man wird streben, die Schönheit zur Vermitderin der Wahrheit zu machen und durch die Wahrheit der Schönheit ein daurendes Fundament und eine höhere Würde zu geben. So weit es tunlich ist, wird man die Resultate der Wissenschaft von ihrer scholastischen Form zu befreien und in einer reizenden, wenigstens einfachen, Hülle dem Gemeinsinn verständlich zu machen suchen. Zugleich aber wird man auf dem Schauplatze der Erfahrung nach neuen Erwerbungen für die Wissenschaft ausgehen und da nach Gesetzen forschen, w o bloß der Zufall zu spielen und die Willkür zu herrschen scheint. A u f diese Weise glaubt man zu der Aufhebung der Scheidewand beizutragen, welche die schöne Welt von der gelehr-
62 63 64
65 66
Einladung zur Mitarbeit, NA 22, S. 103. Ebd., S. 104. Zur Segmentierung, Anonymisierung und zum Wachstum der Leserschaft im späten 18. Jahrhundert, die in anderer Hinsicht jedoch homogenisiert werden konnte vgl. Reinhart Wittmann: Gab es eine Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts?, in: Roger Chattier, Guglielmo Cavallo (Hg.): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt a.M., New York 1999, S. 421^154, hier S. 442. Vgl. die „Ankündigung", NA 22, S. 106. NA 20 I, S. 322-325.
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ten zum Nachteile beider trennt, gründliche Kenntnisse in das gesellschaftliche Leben und Geschmack in die Wissenschaft einzuführen. 67
Ein Autor wie Alexander von Humboldt konnte daher für den Herausgeber der Hören in doppelter Hinsicht interessant sein: Er versprach, die Wissenschaft dem „Gemeinsinn" verständlich zu machen und als Autor Übergänge zwischen der „schönen" und der „gelehrten Welt" zu bewerkstelligen. Die Programmatik impliziert Fragen nach den geeigneten Gattungen, sie impliziert Fragen erkenntnisphilosophischer Art: von beidem wird im nächsten Kapitel die Rede sein. Das Programm umfasst aber auch literaturpolitische Aspekte. Tatsächlich treten hinter dem anspruchsvollen Programm alsbald literaturpolitische Querelen hervor: der Kampf um Subskribenten, um Rezensionen, die Parteibildungen in Konkurrenz zu anderen Zeitschriften, vor allem auch die Diskussion über die elitäre Attitüde der Beiträger und Beiträge, die ganz im Gegensatz zu der angekündigten Öffnung für weite Kreise stehe.68 Alexander von Humboldt nimmt sogleich an der Schillerschen Literaturpolitik teil oder wird zu ihrem Gegenstand: Zunächst beruft sich Schiller gerne auf ihn als zukünftigen Mitarbeiter, wenn er weitere Autoren anwirbt.69 Auch bei der Acquise neuer Leser beweist Humboldt Geschick.70 Kaum ist jedoch sein „Rhodischer Genius" erschienen, gerät auch sein Verfasser in den Rezensentenkrieg, der bald um die Hören entbrennt. Der Herausgeber empfindet die überaus freundliche Besprechung Reichardts in seiner Zeitschrift Deutschland71 als reinen Hohn. „Das 5te Stück (das schlechteste von allen) ist als das interessanteste vorgestellt, Voßens Gedichte, der Rhodische Genius von Humboldt sehr herausgestrichen, 67 68
69 70 71
NA 22, S. 107. Vgl.: Manfred Misch: Die Hören, in: Schiller-Handbuch, hg. von Helmut Koopmann, Stuttgart: Kröner 1998, S. 752-757. Weitere Literatur dazu: Günther Schulz: Schillers „Hören". Politik und Erziehung. Analyse einer deutschen Zeitschrift, Heidelberg 1960 (=Deutsche Presseforschung, Bd. 2); R. Otto: Die Auseinandersetzung um Schillers Hören, in: Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, Bd. 1. hg. von H.-D. Dahnke und B. Leistner, Berlin, Weimar 1989, S. 3 8 5 ^ 5 0 ; Helmut Brandt: „Die ,hochgesinnte' Verschwörung gegen das Publikum". Anmerkungen zum Goethe-Schillerschen Bündnis, in: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik, hg. von Wilfried Barner, Eberhard Lämmert und Norbert Oellers, Stuttgart: Cotta 1984, S. 19-35, S. 25 besonders über das Scheitern des Versuchs, die Programmatik auf beständige Koalitionen auch mit Vertretern der jüngeren Schriftstellergeneration zu gründen. Peter-Andre Alt (Schiller. Leben — Werk — Zeit, Bd. 2, München: Beck 2000, S. 197—206) legt dar, dass Schillers persönliche literarpolitische Interessen die zunächst angestrebte Konzentration unterschiedlicher Kräfte ausschlossen. Etwa in den Briefen an Herder vom 4.7.1794 (NA 27, S. 18) und an Gottlieb Hufeland vom 2.10.1794 (NA 27, S. 62). Vgl. Schillers Brief an Cotta 13.2.1795, NA 27, S. 140. Vgl. den Kommentar zum Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, MA 8.2., S. 222ff.
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und was des Zeuges mehr ist. Es ist durchaus mit einem nicht genug verhehlten Ingrimm geschrieben."72 Die inzwischen wohl gedämpfte Meinung über Alexander von Humboldt, so weit führt Schillers Engagement in literaturpolitischen Querelen, ändert sich erneut, als es 1796 um die Giemen geht: „Alexander von Humboldt soll über die Xenien recht entzückt sein, sagt mir sein Bruder. Das ist doch wieder eine neue Natur, die sich den Stoff assimilieren kann."73 Gegenüber dem betroffenen Johann Friedrich Reichardt dagegen äußert sich Humboldt in Ausdrücken des Bedauerns.74 Auch Schillers späteste Äußerungen über Alexander von Humboldt stehen im Zeichen der Literaturpolitik. Im August 1804 rät Schiller seinem Verleger Johann Friedrich Cotta geradezu vom Druck der Humboldtschen Dokumentation seiner amerikanischen Expedition ab: „Um die Reisebeschreibung des andern Herrn ν Humboldt wird unter den Buchhändlern ein grosses Reissen seyn, und es ist auch von Seiten des Publicums eine große Erwartung. Aber Herr ν Humboldt hat keine gute Gabe zum Schriftsteller, und seine Reise möchte leicht interessanter gewesen seyn als die Beschreibung derselben ausfallen dürfte."75 Und Cotta, soviel Einfluss hat wohl Schillers Wort bei seinem Verleger, antwortet im September desselben Jahres tatsächlich: „Was Sie mir wegen Humboldts Reise schreiben, finde ich sehr gegründet und will also davon abstehen. An Johannes Müller habe ich dagegen eine wichtige Acquisition gemacht [...]." 76 Spätestens in solchen Briefen wird deutlich, dass es bei Schillers Animosität gegen Humboldt nicht nur um konzeptionelle Differenzen geht, sondern auch um eine mögliche Aufmerksamkeit beim Publikum und bei Verlegern, die die beiden Autoren zu Konkurrenten macht. Ganz im Widerspruch zu Schillers kritischen Worten kündigt der nichtsahnende Humboldt noch 1805 demselben Verleger an, er werde seine Reisebeschreibung Schiller widmen,77 und setzt, natürlich nach wie vor in Unkenntnis der verfänglichen Briefe, ein Schillerzitat an den Anfang seiner Ansichten der Natur von 1808. Eine Schrift seines Bruders Wilhelm über Schiller unterzieht er 1830 auf Wunsch des Verfassers gerne
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Schiller an Goethe, 27.1.1796, MA 8.1, S. 156. Brief vom 13.11.1796, MA 8.1, S. 269. „Ach! Die XenietA Mußte ich das auch noch in Deutschland erleben. Sie kennen meine Verhältnisse, wissen, wie mein Geist und selbst mein Herz an Menschen hängt, die auch Ihnen sonst nahe waren. Nun ist Unfrieden da, wo nur ein Zwek, ein Streben sein sollte. Vorwärts bringt das die Menschheit nicht" (Brief vom 22.2.1797, JB, S. 569). N A 3 2 , S. 160(31.8.1804). NA 40, S. 244. „Meine Reise wird Schillern dedicirt". Brief vom 24.1.1805, zit. n. Biermann: Goethe in vertraulichen Briefen, S. 19.
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einer kritischen Lektüre.78 Cotta dem Sohne schreibt er noch 1839, Schiller „war ein Mensch, mehr menschlich als Goethe, dessen Heros-Natur mit innerlich stets fremder blieb".79 Zur Distanznahme kommt es erst sehr spät, nachdem der Briefwechsel mit Körner im Druck erschienen war. Die gegensätzlichen Bewertungen des Verhältnisses, von außen betrachtet nicht anders als ironisch zu lesen, deuten auf ein gemeinsames Motiv: Distanznahme wie Allianzenbildung sind wichtig auf einem Markt, der sich schnell verändert, wobei ein spezifisches Literaturverständnis so entschieden umkämpft wird, wie das heterogene Publikum, dass sich zur möglichst zahlreichen und einflussreichen Leserschaft des einen oder anderen Autors vereinigen soll. Schillers Erwartungen an Humboldt wurden im unmittelbaren Umfeld der Hören enttäuscht. Dennoch hat der Schriftsteller Alexander von Humboldt in Jena zweifellos einen Eindruck von dem dynamischen Zusammenhang zwischen differenzierenden und homogenisierenden Tendenzen der Literatur erhalten. Wenn denn Literatur und Naturforschung erfolgreich zusammenwirken sollten, dann im Blick auf eine Leserschaft der gebildeten, ähnlich der, die Schiller in den Hören imaginiert hatte. Nicht der Khodische Genius sollte sich ein solches Publikum schaffen, die Ansichten der Natur, die Reisebeschreibung und der Kosmos würden aber ein solches Publikum finden, trotz Schiller. Wenn er es nicht in Jena zuerst verstand, so haben ihm die Eindrücke dieses Milieus doch zweifellos bestätigt, was er um die Zeit der ersten Bekanntschaft mit Schiller an Freiesleben schrieb: „Länger, auf längere Zeiten hinaus, und daurender, auf mehrere Menschen, die man unterrichtet, kann man doch durchs litterarische wirken."80
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Wilhelm von Humboldts Briefe an Christian Gottfried Körner, hg. von Albert Leitzmann Berlin: Bering 1940 (=Historische Studien Heft 367), S. 103: „Mehrere andere Stellen habe ich auf Erinnerung meines Bruders abgeändert, und überhaupt im Styl noch vieles anders gestellt. Es waren zu viele verschlungene Perioden übrig geblieben, welche der Deutlichkeit und dem Wohlklange schadeten" (Tegel 23.5.1830). An Georg von Cotta, 5.5.1839, in: Briefe an Cotta 1 8 3 3 - 1 8 6 3 , hg. von Herbert Schiller, Stuttgart, Berlin 1934, S. 19, zit. n. Biermann: Goethe in vertraulichen Briefen, S. 23. JB, S. 376.
Die Lebenskraft oder Der rhodische Genius. Antike, Historie, Didaxe in Humboldts Erzählung Für die Hören des Jahrgangs 1795 schrieb Humboldt eine in der Antike angesiedelte didaktische Erzählung über das brisante Thema „Lebenskraft." Der Einladung des Herausgebers zur Mitarbeit wurde er damit insofern gerecht, als die neue Zeitschrift ausdrücklich die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft mit der schönen Literatur in Einklang bringen wollte und dabei ein zusammengesetztes Publikum zu erreichen suchte. Was ist das für eine Erzählung, die von Friedrich Schlegel wohlwollend besprochen wurde,1 von Schiller aber mit Enttäuschung wahrgenommen? An dem Vorgrunde des Gemäldes sah man Jünglinge und Mädchen in eine dichte Gruppe 2usammengedrängt. Sie waren ohne Gewand, wohlgebildet, aber nicht von dem schlanken Wüchse, den man in den Statuen des Praxiteles und Alkamenes bewundert. Der stärkere Gliederbau, welcher Spuren mühevoller Anstrengungen trug, der menschliche Ausdruck ihrer Sehnsucht und ihres Kummers, alles schien sie des Himmlischen oder Götterähnlichen zu entkleiden und an ihre irdische Heimath zu fesseln. Ihr Haar war mit Laub und Feldblumen einfach geschmückt. Verlangend streckten sie die Arme gegen einander aus; aber ihr ernstes trübes Auge war nach einem Genius gerichtet, der, von lichtem Schimmer umgeben, in ihrer Mitte schwebte. Ein Schmetterling saß auf seiner Schulter, und in der Rechten hielt er eine lodernde Fackel empor. Sein Gliederbau war kindlich rund, sein Blick himmlisch lebhaft. Gebieterisch sah er auf die Jünglinge und Mädchen zu seinen Füßen herab.2
So wird das rätselhafte Bild in der Stoa poikile des antiken Syrakus, „rhodischer Genius" genannt, beschrieben. Dessen Entschlüsselung durch den greisen Pythagoreer Epicharmus scheint erst möglich, als zufällig ein Gegenstück aufgefunden wird. Noch einmal die Ekphrasis: „Der Genius stand ebenfalls in der Mitte, aber ohne Schmetterling, mit gesenktem Haupte, die erloschene Fackel zur Erde gekehrt. Der Kreis der Jünglinge und Mädchen stürzte in mannigfachen Umarmungen gleichsam über ihm 1
2
Die Erzählung „enthält eine treffende Allegorie über einen Gegenstand aus der Naturwissenschaft, für die man nur selten sinnreiche Einkleidung erfand, während man die Lehren der Moral mit den plattesten überhäufte. Der kleine Aufsatz ist gefällig und blühend geschrieben; das Ende läßt eine sanfte Rührung zurück." August Wilhelm von Schlegel's sämmtliche Werke, hg. von Eduard Böcking, Leipzig: Weidmann'sche Buchhandlung 1846, Bd. 10, S. 89. AN, S. 426.
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zusammen; ihr Blick war nicht mehr trübe und gehorchend, sondern kündigte den Zustand wilder Entfesselung, die Befriedigung lang genährter Sehnsucht an."3 Bild und Gegenbild sind am Ende der Erzählung als allegorische Darstellungen des Todes und der Lebenskraft entschlüsselt. Der Genius des Todes trägt dabei deutlich die Merkmale, die Lessing in seiner Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet programmatisch gegen die klappernden Gebeine der mittelalterlichen christlichen Allegorien des Todes herausgestellt hatte.4 Der hübsche jugendliche Genius steht bei Lessing für ein natürlicheres Verhältnis zur wenn auch vergänglichen Körperlichkeit des Menschen, die hinter den sinnenfeindlichen Traditionen des christlichen Abendlandes wiederzuentdecken sei. Humboldt nun übertrifft Lessing weit in der Betonung des Physischen, das für ihn zum Physiologischen geworden ist. Christliche oder platonische Askesegedanken, „geistige Liebe"5 und auch die Vermögenshierarchie, die der Rationalität den Vorrang vor der Sinnlichkeit gibt, diese Konzepte werden in der Erzählung als mögliche Interpretationen an das Bild vom rhodischen Genius herangetragen. Doch der Erzähler lässt sie hinter sich: „Die Weiseren schwiegen, ahndeten etwas Erhabeneres, und ergötzten sich in der Poikile an der einfachen Composition der Gruppe."6 Die der aufklärerischen Aufwertung der Sinnlichkeit günstige Vorstellung vom Genius mit erhobener oder gesenkter Fackel erweitert der Autor nämlich um Jünglinge und Mädchen, die das Stoffliche symbolisieren, das sich unter dem Einfluss eben der Lebenskraft oder des Todes unterschiedlich verhält. Unter Lebenskraft versteht Humboldt, wie er schon im Anhang zu seinen Florae fribetgensis speämen erläutert hatte,7 ein nicht genau qualifiziertes Prinzip, das chaotische anorganische Stoffmassen zu einer funktionsfähigen und harmonischen Ordnung zusammenzwingt, die mit dem Tode des Organismus verfällt. Das junge Volk, die Materie also, die den Rückfall ins Chaotische des Anorganischen gewissermaßen orgiastisch feiert, stellt eine Fortschreibung der Lessingschen Bilddeutungen vom Genius mit gesenkter Fackel dar, die in der Tat Tod und Sexualität assozi3 4
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Ebd., S. 427. Gotthold Ephraim Lessing: Werke, hg. von Herbert G. Göpfert, Bd. 6: Kunstheoretische und kunsthistorische Schriften, hg. von Albert von Schirnding, München: Hanser 1974, S. 405^162, hier S. 414f. AN, S. 427. Robert van Düsen interpretiert daher die Erzählung aus der Sicht von Humboldts Vertrautheit mit „platonic thought", zu dem auch „his dialectical method of reasoning" und „the style characteristic of the dialogues" spreche. Robert van Dusen: The literary ambitions and achievements of Alexander von Humboldt, Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1971 (= Europäische Hochschulschriften I, 52), S. 27. AN, S. 427.
Florae fribergensis S. 135ff.
speämen plantas cryptogamicas praesertim
subterraneas exhibens, Berlin 1793,
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iert. Dabei ist die Anziehung und Trennung der Geschlechter nur ein Bild für die Dynamik organischer und anorganischer Stoffe.8 Der Zusammenhang von Naturforschung und Literatur wird zuerst durch die allegorischen Darstellungen hergestellt.9 Sie sind bildliche Präsentationen abstrakter Konzepte, wobei diese und jene in einem wichtigen Aspekt übereinstimmen: Die harmonischen Gesetze, die Epicharmus in der Natur der Lebenskraft ausmacht, sind analog mit der im ersten Bild triumphierenden, im zweiten Bild gerade noch wahrnehmbaren „Komposition der Gruppe."10 Lebenskraft steht dabei in einer Reihe mit Bildung und Organismus, Vorstellungen, die im Anthropologischen und Anthropomorphen ideal verkörpert sind und sowohl Biologie, Pädagogik, Psychologie als auch Ästhetik betreffen.11 Eben darum stellt Lebenskraft als grenzüberschreitender Leitgedanke ein Faszinosum für die Literatur der Zeit dar und befassen sich nicht nur Schiller, Goethe, Herder, Wilhelm von Humboldt mit dem Gedanken.12 Alexander von Humboldt wagt sich also konsequent gerade als Verteidiger der Lebenskraft in das Gebiet des Poetischen und, wenigstens auf dem Wege der Ekphrasis, in die bildende Kunst vor. Der Übergang von Naturforschung zu Ästhetik wird in der Erzählung zusätzlich mit der pythagoreischen Philosophie und ihrer Vorliebe für „harmonische Gesetze" 13 gerechtfertigt, dagegen distanziert sie sich von der „democritischen Freundschaft und Feindschaft der Atome",14 die nur auf anorganische Stoffe passe. Im Rhodischen Genius nähert sich Humboldt diesen zwischen Stoff und Form vermittelnden Lieblingsvorstellungen der deutschen Klassik und Romantik („Vorstellungen"15 heißen bei ihm auch die Gemälde zweideutig genug), jedoch nicht symbolisch, sondern allegorisch. Nicht die Erzählung selbst, sondern die in ihr erörterten Gemälde sind es. Allenfalls ist die Erzählung emblematisch, wenn man denn die Über8
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Sie sind dagegen nicht das Thema, wie Maike Arz vorauszusetzen scheint: Literatur und Lebenskraft. Vitalistische Naturforschung und bürgerliche Literatur um 1800, Stuttgart: Metzler und Poeschel 1996, S. 42. Schon Winckelmann habe in seinem Versuch einer Allegorie 1766 daraufhingewiesen, dass diese Form besonders geeignet sei, „to portray the mystery of nature" (van Dusen: The literary ambitions, S. 31). AN, S. 427. Der Zusammenhang zwischen Lebenskraft und Form interessiere Alexander von Humboldt, im Gegensatz zu seinem Bruder, nicht, meint van Dusen (The literary ambitions, S. 27) zu Unrecht. Vgl. allgemein Arz: Literatur und Lebenskraft. Wilhelm von Humboldt empfiehlt Schiller brieflich am 4. 12.1795 die Lektüre von Hufelands soeben erschienenen Ideen über Pathogenic und Einfluß der Lebenskraft auf Entstehung und Form der Krankheiten und Reils Archiv flir Physiologie, I. Stück (NA 36, S. 39). Goethe liest in jenem Jahr ebenfalls Hufelands Buch. AN, S. 428. AN, S. 429. AN, S. 425.
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schrift, „Die Lebenskraft", als inscriptio, die Ekphrasis als pictura und die ausgiebig rekonstruierten Deutungsprozesse als breit entfaltete Subscriptio liest. Durch die Deutungen, die die Gemälde erfahren, wird die Erzählung zu einer didaktischen, ein Genre, dessen Nähe zur Rhetorik Humboldt offenbar erkannt und genutzt hat. Schon die Florae fribergensis speämen hatten die ersten Sätze über die Lebenskraft in der Form des Aphorismus vorgetragen, wobei zunächst an die Tradition medizinischer und naturphilosophischer Lehrsätze zu denken ist.16 Der Übergang in die sogenannte schöne Literatur zeichnete sich in Humboldts Aphorismi noch nicht ab, wurde aber vom Gattungscharakter keineswegs ausgeschlossen. Gerade die im Aphorismus mit Vorliebe behandelten anthropologischen und medizinischen Fragestellungen wurden im Zwischenfeld diverser Diskurse erörtert, weshalb auch ein enger Zusammenhang zwischen der allmählichen poetischen Aufwertung der Gattung „Aphorismus" und ihrer bevorzugten Thematik des Anthropologischen gesehen wird.17 Die lehrhaften Thesen seiner Aphorismen in einer didaktischen Erzählung, also einer verwandten Gattung auszubauen, musste also für Humboldt naheliegen. Die Lehrsätze werden nun jedoch im Rhodischen Genius durch einen kollektiven Erkenntnisprozess entfaltet. An diesem Erkenntnisprozess wirkt im Grunde das gesamte Volk von Syrakus mit, „viele Klassen": genannt sind insbesondere „Krieger" und „Künstler",18 die die Stoa poikile besuchen, der Herrscher, vor allem aber mit seinen Schülern der Philosoph Epicharmus. „Er ward von dem niederen Volke und doch auch von dem Tyrannen geehrt. Diesem wich er aus, wie er jenem freudig und oft hülfreich entgegenkam."19 Es soll also ausdrücklich, so schwierig die Entschlüsselung des allegorischen Bildes auch sein mag, nicht um esoterisches Wissen gehen. Aufklärung ist der Inhalt der Erzählung, Aufklärung ihr Zweck, womit Humboldt vermutlich der Ankündigung der Hören und ihrem Versprechen, Wissenschaft den Gebildeten allgemein bekannt zu machen, in zweifacher Hinsicht gerecht zu werden hoffte. Didaktisch wirkt nun vor allem die allmähliche Annäherung an die Lösung des Bilderrätsels. Deutungen werden vorgestellt und verworfen, neue Anhaltspunkte bekanntgegeben (die Herkunft des Bildes, Autorschaft, Vergleichbarkeit mit Ähnlichem, schließlich der zufällige Fund des 16 17 18 19
Harald Fricke: Aphorismus, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Klaus Weimar u.a. Bd. 1, Berün, New York 1997, S. 104-106, hier S. 105. Vgl. Friedemann Spicker: Der Aphorismus. Begriff und Gattung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912, Berlin, New York: de Gruyter 1997, S. 42f. AN, S. 425. AN, S. 428.
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Naturforschung und Literatur in der Diskussion
Gegenstücks). Schließlich die Lehrsituation als solche. Auf der einen Seite ein greiser Philosoph, beseelt von den „harmonischen Gesetzen, nach denen Weltkörper im großen, und Schneeflocken und Hagelkörner im kleinen sich kugelförmig ballen", 20 täglich den Anblick der historischen Kunstwerke und des Meeres suchend, „ein Bild des Unbegrenzten, Unendlichen [...], nach dem der Geist vergebens strebt". 21 Auf der anderen Seite die ihn umgebenden Schüler. Die Erläuterung des allegorischen Gemäldes wird zu einem Vermächtnis des Sterbenden. Die Aura eines Heiligen trägt zum Pathos bei. Die Lehrstunde wird gewissermaßen zur letzten Predigt, und wenig fehlt zum Missionsbefehl: „dann rief er seine Schüler zusammen und hub mit gerührter Stimme an", 22 heißt es, und abschließend: G e h , Polykles, und sage dem Tyrannen, was du gehört hast! Und ihr meine Lieben, Euryphamos, Lysis und Skopas, tretet näher und näher zu mir! Ich fühle, daß die schwache Lebenskraft auch in mir den irdischen Stoff nicht mehr lange beherrschen wird. E r fordert seine Freiheit wieder. Führt mich noch einmal in die Poikile, und von da ans offene Gestade. Bald werdet ihr meine Asche sammeln! 23
Humboldt nutzt also das bekannte Rezept didaktischer Erzählungen, 24 den Leser am Lern- und Erkenntnisprozess mehrerer Personen, und speziell eines Individuums zu beteiligen, das anschaulich, in diesem Falle am eigenen Leibe, die neue Erkenntnis erfährt. Das Wissen wird erzählerisch individualisiert, so abstrakt im Übrigen auch sein mag, was Epicharmus seinen Schülern darlegt. Die persönliche Erfahrung geht in die Erfahrungen der Zeitgenossen und der angrenzenden Generationen, und damit in die Geschichte über. Um die Geschichtlichkeit des Erkennens geht es in Humboldts Erzählung nämlich auch. Sie ist eine historische Erzählung weit mehr als eine allegorische. Didaxe und Vermitdung wissenschaftlicher Erkenntnis an ein größeres Publikum finden nämlich ein bewährtes Mittel in der historisierenden Entfaltung generischen und überzeitlichen Wissens. Die Mitteilung einer persönlichen Einsicht an einen größeren Kreis und die Rekonstruktion der Genese des Wissens über die Lebenskraft sind in der fiktionalen historischen Erzählung gut aufgehoben. Nicht in einer zeitlos klassischen Antike ist die Handlung angesiedelt, sondern in dem Syrakus der Dionysier, also um 400 vor der neuen Zeitrechnung, und Epicharmus stammt „aus der Schule des Pythagoras". 25 An 20 21 22 23 24 25
AN, S. 428. AN, S. 428. AN, S. 428. AN, S. 430. Die Erzählung stehe in der Tradition Karl Wilhelm Ramlers, so van Düsen: The Literary Ambitions, S. 32. AN, S. 428.
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kulturellen Reminiszenzen fehlt es nicht, schon weil es um ein Gemälde aus der Sammlung verherrlichender Kunstwerke geht: Die Gegenstände und die Künstler sind gleichermaßen Teil der Geschichte: Cecrops, Harmodius, Aristogiton einerseits, Apelles, Callimachus, Praxiteles, Alkamenes andererseits. Wichtiger als die genaue Datierung ist die räumliche und zeitliche Dynamik, die dem Erkenntnisprozess seine grundsätzliche Historizität gibt. Denn um zu erkunden, worum es sich bei dem bildlich Dargestellten handeln könnte, schickt man Kopien nach Griechenland, das Gegenstück taucht hingegen auf, als die Saison des Seehandels in den östlichen Mittelmeerraum eröffnet wird. Zum Teil ist das geschichtliches Kolorit, zum Teil jedoch Grundlage für dynamisches, prozesshaftes, kommunikatives Denken, das für die Erläuterung des naturhistorischen Problems umso wichtiger ist, als es hierbei um eine analoge Dynamik geht. Die Parallelen zwischen biologischer und historischer Zeitlichkeit liegen auf der Hand: Nicht nur ist die Lebenskraft im Bilde mit Gesten und Attributen der politischen Herrschaft ausgestattet („gebieterisch", „Herrscherblick", „befehlend", „zwingt sie, [...] seinem Gesetze zu folgen", „beherrschen"),26 die an die Tyrannis der Dionysier erinnert; nicht nur ist die Materie analog dem Volke, dem die Sympathien des Philosophen gelten („gehorchend", „ihrer alten Rechte uneingedenk", im „Zustand wilder Entfesselung", „der Fesseln entbunden", „Freiheit").27 Es ist die Sprache des Politischen und 1795 durchaus Zeithistorischen, die auf die naturalen Prozesse angewendet wird. Umgekehrt wird die Dynamik des Biologischen, werden Wachstum und Vergänglichkeit zum Urbild des Zeitlichen. Denn nicht nur Generationen einer Gattung folgen auf einander, sondern die chemische Grundlage alles Physiologischen ermöglicht eine völlig unhierarchische Nachkommenschaft: „So ging die todte Materie, von Lebenskraft beseelt, durch eine zahllose Reihe von Geschlechtern; und derselbe Stoff umhüllte vielleicht den göttlichen Geist des Pythagoras, in welchem vormals ein dürftiger Wurm in augenblicklichem Genüsse sich seines Daseins erfreute."28 Es sind orphische Gedanken, die (ähnlich denen zur Metempsychose) eben wegen ihrer Eignung zur Historisierung von Naturvorgängen in der Literatur der Epoche Anklang finden.29 Die Annäherung historischer und naturaler Prozesse hat freilich ihre logische Grenze, wo es um die Erörterung eines Wissens über Natur geht, das im datierbaren Altertum keinen Platz haben kann. Das Wissen von der 26 27 28 29
AN, S. 426ff. AN, S. 430. Ebd., S. 322. Van Düsen, The Literary Ambitions, S. 31.
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Natur, das Humboldt mit dem Rhodischen Genius vulgarisieren will, ist im Syrakus der Dionysier anachronistisch. Es geht um die Chemie der anorganischen und organischen Stoffe, die in der Natur nicht als reine Elemente vorkommen. Um dieses Konzept in den Mund des antiken Philosophen legen zu können, wählt Humboldt die bei den Zeitgenossen beliebte Semantik der (demokritischen) Freundschaft und Feindschaft, des wohltätigen Aneinanderkettens der Geschlechter, der Geselligkeit, des Eilens, Trennens, Fliehens, Vereinigens, des Ungepaarten, Jungfräulichen, der Trägheit, der Störung. Eine Vermischung gesellschaftlicher und naturaler Semantiken, die in Goethes späterem Roman als vielfach changierende Gleichnisrede von den „Wahlverwandtschaften" wiederkehrt. Auf die fast unvermeidliche Belegung naturgeschichtlicher Semantiken mit moralischen Kategorien weist noch der beiläufig ausgesprochene Zweifel an der Materialität des Lichtes hin. „Kein irdischer Stoff (wer wagt es, das Licht diesen beizuzählen?) ist daher irgendwo in Einfachheit und reinem, jungfräulichem Zustande zu finden."30 Die Anachromismen nimmt der Historiker Humboldt in Kauf: Begründen kann er sie mit der Logik jeder historischen Erzählung: Die zeitliche Distanzierung ermöglicht, wie die Fiktionalität ohnehin, eine Komprimierung und Reduktion der Aussage, die in einem zeitgenössischen Rahmen schwieriger, in modernem technischem Vokabular und in der gelehrten Abhandlung schon gar unmöglich wäre.31 Sie erleichtert andererseits die Illustration des grundsätzlich historischen Charakters von Erkenntnis, um die es dem Verfasser offensichtlich zu tun ist. Sie gibt darüber hinaus dem mehr Verkündigten als Gelehrten der didaktischen Erzählung die Autorität alles Altehrwürdigen. Dichtung zwischen Begriff und Bild. Der poetologische und polemische Kontext Humboldts Rhodischer Genius kann sicherlich als ehrgeizige Bemühung des Verfassers um die Interessen der Hören gesehen werden. Schiller jedoch schätzte die Erzählung nicht, und es gibt Hinweise auf mögliche Gründe dafür. Denn ausgerechnet von den didaktischen Genres, auf die Humboldts Wahl wegen der beabsichtigten Verbindung von Naturforschung 30 31
AN, S. 429. Obwohl zu Recht bemerkt worden ist, dass seit der Aufklärung termini technici, speziell auch Fremdwörter aus den verschiedensten Wissensgebieten in die schöne Literatur eingezogen sind. Vgl. Josefine Nettesheim: Poeta doctus oder Die Poetisierung des Wissens von Musäus bis Benn, Berlin: Humblot und Duncker 1975; S. 36 ist von einem „stilrevolutionierenden Einbruch des Wissens" in die Literatur die Rede.
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und schöner Literatur begreiflicherweise gefallen war, distanzierte sich der Herausgeber der Hören eben in dieser Zeitschrift und eben im Jahr 1795 dreimal an programmatisch auffälliger Stelle. Einmal im zweiundzwanzigsten der Ästhetischen Briefe über die Erziehung des Menschen, die unmittelbar vor Humboldts Erzählung zu erscheinen beginnen.32 Dann in der großen Abhandlung LIber naive und sentimentalische Dichtung, wobei die didaktische Literatur eindeutig dem „Reich der Begriffe" zugeordnet wird, im kantischen Sinne also weder der „Sinnenwelt", noch der „Ideenwelt", der allein die Dichtung gerecht werden könne.33 Und schließlich in dem Aufsatz Von den notwendigen Grenzen des Schönen besonders im Vortrag philosophischer Wahrheiten, später erweitert und unter dem Titel Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen abgedruckt.34 Gerade diese letzte Abhandlung, deren Differenzierungen als Folie auch für die Beschreibung späterer Schriften Humboldts dienen könnten, zeigt deutlich Spuren des polemischen Zusammenhangs, in dem sie Schiller für den schleunigen Druck überarbeitet hatte. Anlass war nämlich die Ablehnung eines Beitrags von Fichte Über Geist und Buchstab der Philosophie für die Hören durch den Herausgeber, der sich daraufhin mit Fichtes deutlicher Kritik an jenen unzulässigen Vermengungen poetischer und begrifflicher Rede konfrontiert sah, die er, Schiller, sich zuschulden kommen lasse.35 Schiller setzt also am 24.6.1795 dazu an, die „Wechselwirkung zwischen Bild und Begriff' 36 brieflich zu verteidigen. Doch zeigen die verschiedenen Ansätze der überlieferten Konzepte, dass er sich seiner Sache wohl nicht ganz sicher war. Umso zurückhaltender befasst sich Schiller in Von den notwendigen Grenzen des Schönen mit der möglichen Vermitdung von Wissenschaft und Literatur, mit der auch Humboldt zu dieser Zeit und später befasst war. Er unterscheidet zwischen einer wissenschaftlichen, einer populären und einer schönen Diktion.37 Die drei Formen der Darstellung tragen einem historischen Differenzierungspro32
33 34 35 36
37
Hören 1795, 1., 2., 6. Stück. Schiller, NA, 20, S. 282: „Nicht weniger widersprechend ist der Begriff einer schönen lehrenden (didaktischen) oder bessernden (moralischen) Kunst, denn nichts streitet mehr mit dem Begriff der Schönheit, als dem Gemüth eine bestimmte Tendenz zu geben." Hören 1795, 11. und 12. Stück, 1796, 1. Stück, NA 20, S. 453: „eine didaktische Poesie ohne innern Widerspruch" lasse sich nur mit ganz bestimmten Einschränkungen denken. Von den notwendigen Grenzen des Schönen. Uber die Gefahr ästhetischer Sitten. Hören 1795, 11. Stück, N A 21, S. 3 - 2 7 . Die Nationalausgabe folgt dem Zweitdruck von 1800. Vgl. den Kommentar zu NA 21, S. 317f. NA 27, S. 202. Zum Komplex vgl. Bernd Bräutigam: Szientifische, populäre und ästhetische Diktion. Schillers Überlegungen zum Verhältnis von „Begriff und Bild" in theoretischer Prosa, in: ders. und Burghard Damerau (Hg.): Offene Formen. Beiträge zur Literatur, Philosophie und Wissenschaft im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1997, S. 92— 117. NA, 21, S. 10.
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zess Rechnung: Durch „das Geschäft der Abstraktion"38 sei die naturgegebene harmonische Ganzheit des Menschen verloren. Wissenschaftliche Erkenntnis setze die bewusste Ausschaltung bestimmter Vermögen voraus, speziell der Einbildungskraft, die der Arbeit des Verstandes mit Teilvorstellungen aufgeopfert werden müsse. Dem entspreche eine soziale Teilung des schreibenden und lesenden oder hörenden Publikums. Den wenigen Wissenschaftlern stehen die vielen gegenüber, die dennoch einen Anspruch auf die Kenntnis jener Wahrheit machen, die sich hinter den abstrakten Ergebnissen der Wissenschaft verberge. Der Vermittler werde also gut daran tun, den Beweis für einen wissenschaftlichen Sachverhalt fortzulassen, wenn er sich im populären Vortrag mehr den Ergebnissen, und zwar individualisierend, versinnlichend, an die reproduzierende Einbildungskraft appellierend wende. Diese Art des populären Vortrags nennt Schiller didaktisch, freilich auch „bloß didaktisch'''', insofern es darüberhinaus eine „schöne Diktion" gibt: Sie vereint „Sinnlichkeit im Ausdruck und Freiheit in der Bewegung",39 stellt die Wahrheit als möglich und wünschenswert dar. Gehört nun Humboldts Erzählung nach Schillers Unterscheidung zum populären Vortrag, zum bloß didaktischen, insofern sie sich weitgehend reproduzierend verhält, sowohl was die Wissensinhalte, als auch was die produktive und rezeptive Einbildungskraft betrifft? Oder gehört sie, schon weil es eine fiktionale Erzählung ist, in den Bereich der schönen Schreibart? Das lässt sich schon deswegen nicht entscheiden, weil Schiller im Aufsatz Von den notwendigen Grenzen des Schönen allgemein philosophisch und ästhetisch, kaum jedoch im Sinne einer konkreten Rhetorik oder Poetik argumentiert, niemals Beispiele anführt oder das Gattungsproblem anspricht. So kommt es zu impliziten Bewertungen, bevor noch die Praktikabilität der einzelnen Vortragsarten erörtert wird. Schiller ordnet die drei Typen nämlich zwei verschiedenen Hierarchien zu: Nur das schöne Produkt „spricht als reine Einheit zu dem harmonierenden Ganzen des Menschen, als Natur zur Natur;"40 und schon zuvor bezeichnete Schiller das Ergebnis der schönen Schreibart als „organisches Produkt, wo nicht bloß das Ganze lebt, sondern auch die einzelnen Theile ihr eigenthümliches Leben haben; die bloß wissenschaftliche Darstellung ist ein mechanisches Werk, wo die Theile, leblos für sich selbst, dem Ganzen durch ihre Zusammenstimmung ein künstliches Leben erteilen."41 Die eindeutig wertende Metaphorik verdient genauere Beachtung. Sie degradiert gewissermaßen das größere Abstraktionsvermögen des Wissen38 39 40 41
NA, NA, NA, NA,
21, 21, 21, 21,
S. S. S. S.
14. 8. 14. 9.
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schaftlers, der „die Leser [...] auswählt",42 und macht die Beteiligung des traditionell niedrigeren Vermögens, der Einbildungskraft, zum unablässigen Mittel der Reintegration des ganzen Menschen. Schönheit scheint jedoch auch nicht für die Vielen zu sein. Da bleibt für den, der die Leser „nehmen muß, wie er sie findet",43 von Schiller offenbar wenig geschätzt, der populäre, bloß didaktische Vortrag, der den Kompromiss sucht und dabei sowohl die höchsten Ansprüche des Verstandes als auch die der Kunst enttäuscht. Humboldt setzte sich offenbar zwischen die Stühle der Sinnenwelt und der Ideenwelt, gerade als er glaubte, der vom Herausgeber gewünschten Synthese von Wissenschaft und Ästhetik mit der Versinnlichung von Begriffen nahezukommen. Die historische Dimension der Ausdifferenzierung zwischen Wissenschaft und Kunst wird in einer anderen Debatte stärker akzentuiert, die Schiller im selben Jahr 1795, ebenfalls als Herausgeber der Hören, aber an anderer Front, nämlich mit Herder führt. Der hatte im Herbst diesen Jahres seinen Beitrag Iduna vorgelegt und sich sogleich brieflich mit Schiller über dessen Kritik auseinandersetzen müssen.44 Es geht um die Möglichkeit, eine urwüchsige nordeuropäische Mythologie für die zeitgenössische Dichtung fruchtbar zu machen, nachdem der historische und zunehmend akademische Charakter der griechischen Mythologie offenbar geworden sei. Herders Aufsatz ist ausdrücklich auch als Kommentar zu Schillers Gedicht Die Götter Griechenlands von 1788 gemeint.45 Dort wurde eine idealische Antike besungen, „Da der Dichtung zauberische Hülle / Sich noch lieblich um die Wahrheit wand" 46 Gestalten und Handlungen der griechischen Mythologie, gleichermaßen den Verstand und die Einbildungskraft ansprechend, seien, so das philosophische Gedicht, durch zwei nachfolgende Kulturen außer Kraft gesetzt worden: Einmal — und hier bedient sich Schiller eines Bildes, das auch Humboldt seiner Erzählung vom rhodischen Genius zugrundelegt - durch das Christentum: „Damals trat kein gräßliches Gerippe / Vor das Bett des Sterbenden. Ein Kuß / Nahm das letzte Leben von der Lippe, / Seine Fackel senkt' ein Genius."47 Und noch ausgiebiger geht das Gedicht auf die naturwissenschaftliche, zunehmend abstrahierende, die mythische und darum poetische Welt 42 43 44
45 46 47
NA, 21, S. 7. NA, 21, S. 7. Hören 1796, 1. Stück. Johann Gottfried Herder: Werke, Bd. 8, hg. von Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1998, S. 155—172. Zur Diskussion vgl. Schillers Brief an Herder vom 4.11.1795 (NA 2, S. 97f.), Herders Antwort vom 10.11.1795 (NA 36, S. 15f.) Herder: Werke, Bd. 8, S. 159. NA 2.1, S. 363. NA 2.1, S. 365.
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entzaubernde Kultur ein: „Wo jezt nur, wie unsre Weisen sagen, / Seelenlos ein Feuerball sich dreht, / Lenkte damals seinen gold'nen Wagen / Helios in stiller Majestät."48 Und: Gleich dem todten Schlag der Pendeluhr, Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere Die entgötterte Natur. Morgen wieder neu sich zu entbinden, Wühlt sie heute sich ihr eig'nes Grab, Und an ewig gleicher Spindel winden Sich von selbst die Monde auf und ab.49
Während Goethes und Humboldts Bemühungen um Morphologie und Physiologie gerade gegen das mechanistische Verständnis der Natur eine philosophischere Sicht entwickeln, assoziiert Schiller wie im Aufsatz Von den notwendigen Grenzen des Schönen Naturwissenschaft und Abstraktion, Naturwissenschaft und Mechanik. So scheint es für ihn auch keinen Weg von der Kunst zur Wissenschaft zu geben. Ihre Mechanik ist das Motiv für eine nicht mehr rückgängig zu machende Ausdifferenzierung von Wissenschaft und Kunst einerseits und die Fragmentierung menschlicher Vermögen andererseits. Freilich scheint Schillers Gedicht selbst die These zu widerlegen. Denn es ist ein philosophisches Gedicht, durchaus gedankenvoll, aber darum nicht minder reich an anschaulichen Bildern, die sehr wohl die Einbildungskraft ansprechen. Herder plädiert nun in seinem Beitrag Iduna dafür, im Zeitalter der modernen Wissenschaft die Einbildungskraft durch mythologische Erzählungen und der Mythologie entnommene Vorlagen für die bildende Kunst anzusprechen. Schiller hätte damit rechnen können, dass Herder, von den Kantischen Kritiken ganz unbeirrt, weiterhin anthropologisch von einer Kontinuität oder auch Gleichzeitigkeit der menschlichen Vermögen ausgeht und daher auch von einer lediglich graduellen Unterscheidung von wissenschaftlicher und künsderischer Darstellung. Schließlich ziehen sich Überlegungen dazu durch Aufsätze und Schriften verschiedener Phasen. Schon im zweiten Kritischen Wäldchen von 1769 hatte Herder die „Entdeckungen der Naturlehre" als denkbaren Ersatz der Mythologie zur „inneren Bereicherung der Poesie" empfohlen, wobei es allerdings um Fabel, Dichtung und Handlung gehen müsse, nicht lediglich um Gleichnisse.50 In Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele 1778 schrieb er den bahnbrechenden Philosophen und Naturforschern der Neuzeit eine
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NA 2.1, S. 363. NA 2.1, S. 366. Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke, Bd. 3, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1878 (Reprint Hildesheim: Olms 1967, S. 1 8 9 - 3 6 4 , hier S. 260f.)
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ganz besondere Kraft der Imagination zu.51 Und 1787, in Über Bild, Dichtung und Fabel, sollte es wieder um die Vorgaben der Wissenschaft gehen, die an die Einbildungskraft appellieren.52 Grundsätzlich hieß es bei Herder in Über den Rinfluß der schönen in die höhern Wissenschaften von 1778: Schöne Wissenschaften sind die, welche die sogennannten untern Seelenkräfte, das sinnliche Erkenntnis, den Witz, die Einbildungskraft, die sinnlichen Triebe, den Genuß, die Leidenschaften und Neigungen ausbilden [...] Wir nennen oben und unten, hoch und niedrig, was nur vergleichungs- und beziehungsweise so ist; im Ganzen aber ist ein richtiger Verstand ohne richtige, wohlgeordnete Sinne, ein bündiges Urteil ohne gezähmte und zu ihrem Dienst erweckte Einbildungskraft, ein guter Wille und Charakter ohne gut geordnete Leidenschaften und Neigungen nicht möglich. Also ists Irrtum und Torheit, die höhern ohne die schönen Wissenschaften anzubauen, in der Luft zu ackern, wenn der Boden brachliegt.53
Damit geht Herder auch von einer ganz anderen Priorität im pädagogischen Curriculum aus als Schiller, der eben im Aufsatz Von den notwendigen Grenzen des Schönen den Pädagogen die Erziehung zuerst zum wissenschaftlichen, dann zum Schönen angeraten hatte. In Iduna schließlich, Herders Beitrag für die Hören von 1795, heißt es bündig: „Ohne Dichtung können wir nun einmal nicht sein; ein Kind ist nie glücklicher, als wenn es imagfniert und sich sogar in fremde Situationen und Personen dichtet. Lebenslang bleiben wir solche Kinder; nur im Dichten der Seele, unterstützt vom Verstände, geordnet von der Vernunft, besteht das Glück unseres Daseins." 54 Humboldt hat allen Grund dazu, in seinen Schriften, so sehr sie Ästhetisches berühren und voraussetzen, eher Herders anthropologisches Kontinuum der Vermögen stillschweigend vorauszusetzen, als sich zu Schillers strengerer Unterscheidung der Vermögen zu bekennen, zumal die modernere Naturforschung in Schillers Sicht als Entzauberer, als Zerstörer des naiv Poetischen dasteht, und Humboldt sich möglicherweise gerade deswegen, ohne es freilich zu ahnen, die Sympathien des verehrten Dichters verscherzt hat.55 Wer sich als Schriftsteller auf die Mythologie oder Mythenähnliches verlässt, darüber waren sich Schiller und Herder einig, kann es nämlich nicht in naiver Weise tun, und auch der Verfasser des Rhodischen Genius ist sich im Rückblick zumindest andeutungsweise der Problematik bewusst. Jedenfalls berichtet er, die Erzählung „enthält die Entwicklung einer physiologischen Idee in einem halb mythischen Gewand."56 51
Herder: Werke, Bd. 4, hg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994, S. 330. 52 Herder: Werke, Bd. 4, S. 631-677, hier S. 666. 53 Herder: Werke, Bd. 4, S. 221 f. 54 Herder: Werke, Bd. 8, S. 156f. 55 Erinnert sei an Schillers Brief an Körner vom 6.8.1797, NA 29, S. 112f. 56 AN, S. 431.
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Höchstens „halb" mythisch ist dieses Gewand allerdings. Denn hinter der Einfuhrung von allegorischen Gemälden (auch wenn sie dynamische Prozesse darstellen, auch wenn in ihnen ein Genius die Hauptfigur ist) steht noch keine mythologische Handlung, sowenig wie hinter einer historischen Erzählung, die in der Antike angesiedelt ist und deren Protagonist mit dem eigenen Leibe das Exempel auf die biologische Regel gibt.57 So bezeichnet Humboldt denn auch in derselben Anmerkung zum Rhodischert Genius von 1849 mit einem Zitat aus dem Kosmos die inzwischen längst verworfene These, die in der Erzählung vertreten wird, als „Mythen von den imponderablen Stoffen und von eigenen Lebenskräften in jeglichem Organismus", und sie „verwickeln und trüben die Ansicht der Natur."58 Nichts mehr hat dieser Mythosbegriff mit jenem von Schiller und Herder erläuterten zu tun, der in der um 1800 virulenten Frage nach der literarischen Veranschaulichung abstrakten Wissens unter radikal historisierten Bedingungen eine so große Rolle spielte. Und erst recht distanziert er sich von jener „neuen Mythologie", die in der Nachbarschaft der romantischen Naturphilosophie eine so große Rolle spielte.59 Einer Naturwissenschaft, die sich mehr und mehr auf ihre Exaktheit, auf die Empirie, auf ihre Theorie zugute hält, wird „Mythos" zum Schimpfwort, es sei denn, es geht ausdrücklich um Kulturgeschichte. Hinter der Diskussion um die aktuelle Möglichkeit, eine neue Mythologie zu erfinden oder die alte zu erneuern, steht im Grunde die Vorstellung, die Mythologie verbinde die verschiedenen menschlichen Vermögen und umgehe damit die Einteilung in Verstand und Sinnlichkeit, Wissenschaft und Kunst. Schillers, Fichtes, Herders Erörterungen für die Hören stehen dabei mitten in der Entwicklung dessen, was später funktionale Differenzierung der Gesellschaft und zugleich Herausbildung der autonomen Systeme von Kunst und Wissenschaft genannt werden wird. Gerade der Mangel an Autonomie der didaktischen Literatur, im Gegensatz zur philosophischen oder schönen ist es ja, die Schiller moniert. Der 57 58 59
Von „mythical narration", wie van Düsen sagt, kann keine Rede sein (van Düsen: The Literary Ambitions, S. 27). Ebd., S. 325. Im Zeichen der Mythologie kann sich etwa Wilhelm Nienstedt auch eine Erneuerung der didaktischen Literatur vorstellen, deren herkömmliche und neuere Vertreter er durchaus kritisiert: „In jene erste und ursprüngliche Beziehung nun der Philosophie mit der Poesie, als die nur Individualität zu erzeugen sucht, setzen wir das Wesen der didaktischen Kunst oder [...] das Lehrgedicht als der sich individuell gestaltenden Philosophie." (Wilhelm Nienstedt: Von der didaktischen Poesie, in: Phöbus. Ein Journal für die Kunst. Herausgegeben von Heinrich von Kleist und Adam H. Müller 1 [1808], 7. Stück, 8. Stück, Nachdruck: Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 3 4 0 - 3 5 1 , 394-402, hier S. 346, die Anempfehlung von mythologischen Erzählungen S. 402. Die radikale Trennung von Wissenschaft und Dichtung im späteren 19. Jahrhundert sieht Sengle (Biedermeierzeit, Bd. 2, S. 278) in einer Reaktion der deutschen Literatur auf den Geist der Universalpoesie.
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Unterschied zwischen einer solchen, in Schülers Sicht inzwischen offenbar obsoleten didaktischen Literatur (mag sie im übrigen bis weit ins 19. Jahrhundert so beliebt sein wie sie will)60 und der gesuchten, allein das Epitheton schön verdienenden Dichtung wird aus zwei gelegentlichen Äußerungen Wilhelm von Humboldts deutlich. Der Rhodische Genius, erklärt er in einem Brief an Charlotte Diede von 1829, sei „allerdings eine bloße Erdichtung, und die sich auf nichts Historisches stützt. Die Erfindung soll auch nur zur Einkleidung der philosophischen Idee dienen, deren Entwickelung der Zweck des ganzen Aufsatzes ist."61 Ganz im Gegensatz dazu bescheinigt Wilhelm von Humboldt Schiller, „seine Gedichte erzeugen die Idee, umkleiden sie nicht bloß."62 Wilhelm von Humboldts Bemerkung gilt offenbar den Qualitäten einer Poesie, die „autonom" wirkt, insofern sie als „Ganzes" für sich steht, durch nichts auf einen Zweck hindeutet, der ihr äußerlich sein könnte. Unter solchen Umständen kann es in der Tat eine didaktische Literatur oder sonst eine, die wissenschaftliche Inhalte vermittelt, gar nicht geben. Zwei Erben der Lehrdichtung: Roman und Elegie Welche „autonome" Dichtung tritt denn überhaupt das Erbe jener didaktischen Literatur an, zu deren späten, aber keineswegs spätesten Vertretern Oer rhodische Genius zählt? Eine Fortsetzung findet die traditionelle Lehrdichtung in der immer radikaleren Verschiebung vom Inhalt des Wissens auf den Prozess des Lernens und von dort auf eine immer stärker individualisierte Erfahrung.63 Wieland und Goethe beschreiten diesen Weg in der Form des Bildungsromans, Goethe und Schiller in der Form der Elegie.64 Dabei wäre nicht mehr ein Gespräch, ein Vortrag, ein Brief der Rahmen, ein Exempel oder Vergleich das Ornament zu einer Lehre, die auch von diesen literarischen Konventionen abgelöst werden könnte. Es ginge stattdessen um eine Romanfigur, das Ich einer autobiographischen Erzählung, das lyrische Ich eines Gedichtes, in dem das Wissen allmählich 60 61 62
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Vgl. Friedrich Sengle: Biedermeierzeit, Bd. II, S. 92: „Das Lehrgedicht überlebt die Romantik". Wilhelm von Humboldts Briefe an eine Freundin [Charlotte Diede, geb. Hildebrand], hg. von Albert Leitzmann, 2 Bde., Leipzig: Insel 1909, Bd. 2, S. 107. Zit. n. Hans-Wolf Jäger: Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland. In kritischen Zusätzen zu L.L. Albertsens Buch ,Das Lehrgedicht', in: DVjS 4 4 (1970), S. 5 4 4 - 5 7 5 , S. 572. Vgl. Horst Thome: Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Vorgeschichte der deutschen Klassik, Frankfurt a.M.: Lang 1978, S. 114, er bezeichnet „das Lehrgedicht des 19. Jahrhunderts als dargestellten Vorgang der Wahrheitsfindung", wobei es gegenüber dem Roman dennoch zum „geschlossenen System" tendiere. Auch H.-W. Jäger bezeichnet die „Elegie als höhere Art von Didaxe".
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Gestalt annimmt. Gelehrte Inhalte erhalten dabei eine Qualität, die der von Erlebnissen, von authentischen Erfahrungen tendenziell gleich ist, und die Organe der Anverwandlung des Wissens sind die des ganzen Menschen. Nimmt man den sogenannten Bildungs- oder Erziehungsroman und als Beispiel Wielands Agathon, so fällt sogleich auf, wie alle Inhalte seines Curriculums psychologisierend in biographische Zusammenhänge eingewoben werden. Kaum etwas unterscheidet dann die Auseinandersetzung mit einem Philosophen im Syrakus der Tyrannen von den Liebeserfahrungen mit der einen oder ganz anderen Frau, Schwester oder Geliebten. Bei Humboldt dagegen gibt es zwar Syrakus, die Tyrannis, einen Philosophen und junge Leute, die von ihm lernen wollen, der Zusammenhang zwischen der Lehre und dem Leben ist dabei aber mehr kurz angesprochen als in eine Handlung gekleidet, das heißt im Sinne der aristotelischen Poetik als Mythos vorgetragen. Eine wichtige Voraussetzung für das allmähliche Verlassen traditioneller Lehrdichtung ist also mit der literarischen Darstellung der subjektiven Aneignung von Kenntnissen und Erfahrung gegeben. So weit geht die literarische Subjektivierung des Lernbaren, dass ein Roman mit dem Titel Wilhelm Meisters Lehrjahre und der gerade in jenen Jahren entsteht, in denen Humboldt den Verfasser häufiger frequentiert, interpretiert werden konnte als ironische Wechselbeziehung zwischen der erzählten Handlung, den pädagogischen Inhalten und der autobiographischen Stilisierung des Verfassers.65 Eine solche Projektion der gebildeten Person des Autors auf den gebildeten und bildenden Inhalt eines Hauptwerkes wird es auch in Humboldts Karriere noch geben, im Kosmos, wobei allerdings die erzählte Handlung entfällt. An ihre Stelle tritt dafür teilweise die Kulturgeschichtschreibung, die von der allmählichen Erkenntnis des Universums erzählt; an ihre Stelle tritt die Imagination einer romanhaften Erzählung, die die Leser dem vielgereisten Verfasser des Kosmos wie schon der Ansichten andichten. Reiseberichte wie die Delation historique du Voyage aux Kegions equinoxiales, die sich freilich in keiner Weise zur Autonomieästhetik zählen lassen, gehören dafür um so mehr zur belehrenden Literatur. Eine zweite Gattung, mit der die Klassik zur Fortsetzung der didaktischen Dichtung experimentiert, ist die Elegie. Geradezu als Inbegriff einer Poesie, die Wissensbestände der Naturforschung bruchlos in poetischen Ausdruck übergehen lässt, wird Goethes Metamorphose der Pflanze von 1798 interpretiert. Die Lehrdichtung sei dabei unter dem Vorzeichen der „Er-
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Vgl. Uwe Steiner: „Wilhelm Meister", in: Goethehandbuch, hg. von Bernd Witte und Peter Schmidt, Bd. 3, Prosaschriften, Stuttgart, Weimar: Metzler 1997, S. 1 1 3 - 1 5 2 , hier S. 138.
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lebnisdichtung" erneuert,66 spiegele doch der Lehrinhalt, die Pflanzenmetamorphose eben, die Geschichte einer Liebesbeziehung des „lyrischen Ich" und der angesprochenen „Geliebten." Der große Roman und die Elegie, die Goethe in den 1790er Jahren schreibt, setzen dabei den dynamischen Lebensprozess in die Erzählung bzw. in die Bewegung des „lyrischen Ich" um. So eng ist der konzeptionelle Zusammenhang zwischen dynamischer Naturauffassung und Poetologie, dass von diesen Texten als von einer „literarischen Biologie" gesprochen worden ist.67 Ebenfalls der Gattung Elegie gilt Schillers Interesse, und zwar noch im Jahre 1795, nach der Auseinandersetzung mit Fichte über die notwendigen Grenzen des Schönen und der mit Herder über alte oder neue Mythologien. Schiller prüft, was Wissen und Literatur abseits einer traditionellen Lehrdichtung vereinen könnte. Sein erster Versuch mit dieser Form ist der später einfach Elegie genannte Spa^ergang, so wie Humboldts Erzählung ebenfalls in den Hören und ebenfalls 1795 veröffentlicht. Wenn auch das naturgeschichtliche Denken sich dabei weniger aufdrängt als in Goethes Metamorphose der Pflanze, so genügt doch eine Erinnerung an seinen unmittelbar im Kontext stehenden Aufsatz Von den notwendigen Grenzen des Schönen, um die konzeptionelle Verzahnung von biologischer Semantik und Poetik zu erhellen. Da hieß es ja, das Schöne sei ein „organisches Produkt, wo nicht bloß das Ganze lebt, sondern auch die einzelnen Teile ihr eigentümliches Leben haben."68 Schillers Spaziergänger nun wandert durch eine Landschaft, in der sich allmählich verschiedene idealtypisch imaginierte historische und kulturelle Räume entfalten. Offenbar meinte 66
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Schon bei Carl Gustav Carus, der sein Lob Goethes freilich nutzt, um sich seinerseits von der didaktischen Literatur zu distanzieren: „Es ist freilich schrecklich und vernichtet alles poetische Leben, wenn in sogenannten didaktischen Gedichten Gelehrsamkeit zur Schau gelegt wird und der gebildete Mensch von dem Dichter mit neuer Bildung absichtlich überzogen werden soll" (Carl Gustav Carus: Goethe. Zu dessen näherem Verständnis [1843], Dresden: Jess 3 1953, S. 119). Carus wird mit Goethe und Humboldt zusammen gerne als Beispiel für ein „Konvergenzphänomen" angeführt, welches ein der „systematischen Ausdifferenzierung [von Wissenschaft und Kunst] selbst inhärentes Komplement derselben" sei: Daniel Fulda und Thomas Prüfer: Das Wissen der Moderne. Stichworte zum Verhältnis von wissenschaftlicher und literarischer Weltdeutung und -darstellung seit dem späten 18. Jahrhundert, in: dies. (Hg.): Faktenglaube und fiktionales Wissen. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne, Frankfurt a.M.: Lang 1996, S. 1— 22, hier S. 5. Dies auch die Grundthese bei Jutta Müller-Tamm: Kunst als Gipfel der Wissenschaft. Ästhetische und wissenschaftliche Weltauslegung bei Carl Gustav Carus, Berlin, New York: de Gruyter 1995, S. 1 - 8 [Einleitung], Ulrich Kinzel: Von der Naturbeschreibung zur .literarischen Biologie'. Transformationen im literarischen Diskurs an der Wende zum 19. Jahrhundert, in: IASL 20 (1995), H. 2, S. 75-115. Die epistemologische Voraussetzung für eine solche Poetologie sieht Kinzel in einer Wendung vom sinnlichen Empirismus zu einer Erforschung der unsichtbaren Dynamiken, die die genetischen Prozesse leiten. NA 21, S. 14.
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Schiller, dass die philosophischen und historischen Inhalte hier dem lyrischen Ich und der poetischen Rede besser amalgamiert wurden, als in seinen vorangehenden philosophischen Gedichten. An Körner schrieb er, der Spaziergang habe unter allen seinen „Sachen die meiste poetische Bewegung." Das „eigentümliche Leben", das „Organische", die „Bewegung" sind dabei nicht mehr Modelle der Naturforschung, sondern Merkmale einer autonomen Ästhetik geworden. Vergebens empfahl Wilhelm von Humboldt 1797 seinem Freund Schiller die neu erschienenen Versuche über die gereifte Muskel- und Nervenfaser unter Hinweis auf einen „physiologischen" Geist, der darin herrsche, „dazu gemacht [...], lebendige Kräfte als lebendige anzusehn und zu behandeln, was bisher, bei der Sucht mechanischer und mathematischer Erklärungen, so selten der Fall gewesen ist."69 Denn nicht am biologischen oder organizistischen Denken schieden sich Schillers und Humboldts Wege, sondern an der Frage der Autonomieästhetik. Dennoch ist Schillers Elegie Spa^ergang an exponierter Stelle mit Alexander von Humboldts Schriften in einem Atemzug genannt worden. In Joachim Ritters berühmt gewordenen Aufsatz über die „Landschaft" vertreten beide Autoren eine epochale Problematik. Die Zeit um 1800, in deren Genossenschaft sich Schiller und Humboldt teilen, habe die Vorstellung von schöner Landschaft in dem Maße entwickelt, in dem Natur als technisch und wirtschaftlich objektivierte dem modernen Subjekt mehr und mehr entfremdet sei. Die neu entdeckte ästhetische Landschaft trete also an die Stelle der ehemals einfach genutzten oder nutzlosen, nunmehr aber verlorenen Natur, und zwar paradigmatisch sowohl in Schillers Elegie als auch in Humboldts Ansichten der Natur.70 Ritters Interpretation von Schillers Elegie ist nicht unangefochten geblieben.71 Aber auch im Blick auf Humboldt sind die Thesen des Aufsatzes kritisch zu prüfen. Dass die „Gleichzeitigkeit von wissenschaftlicher Objektivierung und ästhetischer Vergegenwärtigung im Verhältnis zur Natur nicht 2ufälüg" sei,72 dass die ästhetische Landschaft zur „Entzweiungsstruktur der modernen Gesellschaft" gehöre,73 diese Thesen sind nämlich durch Humboldts Schriften nicht ohne weiteres zu erhärten. Denn nichts in seinem umfangreichen Oeuvre deutet darauf hin, dass er die technischen und ökonomischen Aspekte der Natur als das Andere des 69 70 71
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Brief vom 25.6.1797 (NA 37, S. 47). Joachim Ritter: Landschaft: Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, in: ders.: Subjektivität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 1 4 2 - 1 6 3 , 1 7 2 - 1 9 0 . Zur Kritik von Ritters Interpretation von Schillers Elegie vgl. Wolfgang Riedel: „Der Spaziergang". Ästhetik der Landschaft und Geschichtsphilosophie der Natur bei Schiller, Würzburg: Königshausen und Neumann 1989, S. 79. Ritter: Landschaft, S. 154. Ebd., S. 161.
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landschaftlichen Denkens angesehen hätte. Weder riskiert bei Humboldt die wissenschaftlich-technische Objektivierung der Natur Sinndefizite im Sinne der einen Natur, noch bildet die Ästhetik den einzigen Zugang zu einer ganzheitlichen Naturbetrachtung, die vielmehr durch genetische oder komparative Deskriptionsverfahren bei Humboldt auch geleistet werden soll.74 Die verschiedenen Funktionen der Befassung mit Natur ergänzen sich, sie stehen nicht in einem konkurrierenden oder kompensierenden Verhältnis. Die niederen und mitderen seelischen Vermögen, die für die subjektive Empfindung und damit auch für die Ästhetik wichtig sind, werden ebenso propädeutisch und heuristisch dem Erkenntnisprozess eingefügt. Die schöne Landschaft, wie noch zu zeigen, ist dabei vielfach der Kunsttheorie verpflichtet, nicht jedoch einer Autonomieästhetik. Anders bei Schiller. Er nimmt eine Analyse des Modernisierungsprozesses vor und befasst sich mit den Problemen funktionaler Differenzierung der Gesellschaft wie der menschlichen Vermögen. Sie können in ihrer Gesamtheit und in Freiheit nur in der Kunst betätigt werden. In diesem Zusammenhang werden die Einbildungskraft und die sinnliche Erkenntnis in der Hierarchie der seelischen Vermögen höher bewertet und zum Angelpunkt der neuen Autonomieästhetik gemacht. In der Einbildungskraft und sinnlichen Erkenntnis entsteht die Landschaft bei Schiller wie bei Humboldt. Während für Schiller feststeht, dass der ganze Mensch sich nur noch in der Kunst erleben kann, betätigt sich bei Humboldt der ganze Mensch in einer Erkenntnis, die von den dunklen Ahnungen, über die Einbildungskraft bis zur philosophischen Erkenntnis reicht. Schillers Elegie muss selber „leben", wenn er mit ihr zufrieden sein soll; Humboldts Interesse gilt der Erkenntnis der Lebenskraft, und es macht nichts, wenn dieses Interesse sich auch einer poetischen oder fiktionalen Gattung bedient.75 Schiller muss seine Kunst von Humboldts bloß didaktischem Verfahren abgrenzen. Humboldt dagegen wird unbedenklich Schiller zitieren, wenn es um die Kulturgeschichte der Naturerkenntnis geht, wobei es in der Tat nicht ohne Verflachungen und Banalisierungen geht. Welchen Gebrauch Humboldt von Schillers großer Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung in seinem literaturgeschichtlichen Abriss 74
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So heißt es auch bei Ritter über Humboldt: „Er hat - wohl zuletzt - die ästhetische Entdeckung und Vergegenwärtigung der Natur als Landschaft im Zusammenhang der auf den ,Kosmos' gerichteten ,Theorie' begriffen" (Ritter: Landschaft, S. 151). Wegen des formal und ästhetisch ganz konservativen Charakters der Erzählung ist es auch nicht angemessen, sie als programmatische Formulierung einer für die Literatur um 1800 angestrebten „Durchdringung von Naturwissenschaft und Kunst" zu nennen, wie bei Marianne Schüller: Das Gewitter findet nicht statt oder Die Abdankung der Kunst. Zu Adalbert Stifters Roman „Der Nachsommer", in: Poetica 10 (1978), S. 2 5 - 5 2 , hier S. 39.
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im zweiten Band des Kosmos macht, wird noch zu zeigen sein. Doch gleich in der Einleitung zum ersten Band zitiert er die große Elegie. Da ist die Rede davon, wie „in dem Kampf der streitenden Elemente das Ordnungsmäßige, Gesetzliche nicht bloß geahndet, sondern vemunftmäßig erkannt wird, wo der Mensch, wie der unsterbliche Dichter sagt: ,sucht den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht.',,76 Die Fußnote weist dann als Quelle die Hören des Jahres 1795 aus und zitiert die gesamte Passage, in der von den gelehrten Studien „im stillen Gemach" die Rede ist. Schillers Elegie hieße freilich nicht mit ihrem zweiten Titel Der Spa^iergang, wenn der dort geschilderte Stubengelehrte nicht aus seinen gelehrten Beschäftigungen in eine physische Bewegung gerissen würde, die dann erst die Landschaft konstituiert und zur „poetischen Bewegung" wird. Nun haben Humboldts Leser ihren Autor kaum „im stillen Gemach", sondern als die Landschaft erwanderndes Subjekt imaginiert, ein Subjekt allerdings, das seine Empfindung in den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess zurückzwingt. Und so wird im Kosmos aus dem, was bei Schiller „poetische Bewegung" war, ein rhetorisches Versatzstück, ein Ornament, ein Zitat zur Legitimation des gelehrten Unternehmens. Das Legitimierende ist damit zugleich aber auch limitiert. Poesie ist ein Anregungsmittel zum Naturstudium, nicht mehr und nicht weniger. Das Verhältnis zwischen Schiller und Alexander von Humboldt ist das eines produktiven Missverständnisses. Schiller suchte seine neue Literaturpolitik auf eine Allianz der älteren mit jungen Autoren und die Formierung eines neuen Publikums zu gründen. Doch diese offensive Reaktion auf die Segmentierung des literarischen Marktes missglückte, ihre Absichten unterlagen den immensen Ansprüchen des Literaturtheoretikers Schiller mit seiner totalisierenden Ästhetik. Wie sehr Humboldt in Schillers Augen als Beflissener der neuen Ästhetik scheiterte, hat er sich wohl niemals richtig bewusst gemacht. Die Lehren aus der zielstrebigen Literaturpolitik in Jena und Weimar hat er sich gemerkt und für seine weitere Karriere als Schriftsteller nutzen können.
Humboldts Versuche über die gereifte Muskel- und Nervenfaser: Experiment und Erfahrung Die Erforschung der Lebenskraft als nicht-normale Wissenschaft Während Oer Rhodische Genius deutlich im Zeichen der Allianz zwischen Naturforschung und schöner Literatur steht, die für die Jenaer Bemühungen der 1790er Jahre charakteristisch ist, scheint es, dass sich Humboldt mit seinen umfangreichen Versuchen über die gereifte Muskel- und Nervenfaser, 1797 im Druck erschienen,1 eindeutig in die naturwissenschaftliche Praxis begab. Die physiologischen und morphologischen Forschungen, die in den Studien zur vergleichenden Anatomie konvergierten, faszinierten allerdings gerade deswegen auch unter ästhetischen und im engeren Sinne poetologischen Gesichtspunkten, weil sie von philosophischer Grundsätzlichkeit und immenser Tragweite für die Interpretation des Lebens zu sein versprachen, nicht nur des Lebens im Sinne der Naturforschung, sondern auch im Sinne des psychischen, des sozialen, des politischen und historischen Lebens. Die Kehrseite dieser fundamentalen, in angrenzende Gebiete übergreifenden Forschung ist ihr vielfach diffuser Charakter, ihre theoretische und methodische Vagheit, ihre prekäre Stellung im Vorfeld disziplinärer Wissenschaft. Die Fragen, die in Jena im Beisein Alexander von Humboldts erörtert wurden, aus der vergleichenden Anatomie, Morphologie, Physiologie, Galvanismus, der Optik — es sind Materien einer unkonventionellen, im Flusse befindlichen Wissenschaft. Eine solche Wissenschaft, die bisherige Verfahren grundsätzlich in Zweifel zieht, sich bei aller Unsicherheit über den zu beschreitenden Weg ganz neuen Fragen widmet, sich Bedeutendes für die Lösung nicht nur wissenschaftlicher Fragen verspricht und sich dabei im Vorfeld gefestigter Theoriebildungen und stabiler Disziplinen bewegt, eine solche Wissenschaft hat Thomas Kuhn als „nicht normale" Wissenschaft bezeichnet.2 Sofern ihre Bemühungen später erfolgreich sind, befinden sich solche Forschungen in einer „vorrevolutionären Phase", lösen eine wissenschaftliche „Revolution" aus und installieren neue Paradigmata. Für Humboldts Forschungen dieser Jahre 1
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Alexander v. Humboldt: Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt, 2 Bde., Posen: Decker, und Berlin: Heinrich Augast Rottmann 1797, 496, 468S. Vgl. Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp TW 1979 [1962/70], zum Konzept der „normalen Wissenschaft" vgl. S. 25ff.
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ist nun eine weitere von Kuhns Thesen erhellend: Die Unsicherheiten, mit denen es eine nicht mehr normale Forschung zu tun hat, werden im allgemeinen dadurch ausgeglichen oder übertönt, dass die Forscher sich auf Bedeutungen beziehen, die gar nicht auf wissenschaftlichem Wege hervorgebracht werden, sondern in der Philosophie, der Rhetorik, der Ästhetik, der Geschichte. 3 Humboldts Versuche über die gereifte Muskel- und Nervenfaser bestätigen diese These. Rhetorik, Philosophie, Autobiographik, Subjektivität spielen eine umso größere Rolle, als die wissenschaftlichen Hypothesen und experimentellen Verfahren sich auf epistemologisch schwankendem Grund befinden. Man darf sogar annehmen, dass der gewaltige Umfang der Arbeit von fast 1000 Druckseiten und die Masse der vorangehenden Versuche (4000 galvanische Versuche und vergleichende Beobachtungen an ca. 300 Tierarten)4 selbst ein Hinweis auf die Labilität der Thesen ist. Megalomane Züge hat nicht nur der Umfang der Versuche, sondern auch die Reichweite der gestellten Fragen, die nichts Geringeres betreffen als den Unterschied zwischen Organischem und Anorganischem, zwischen Geist und Materie, zwischen Seele und Körper, zwischen Leben und Tod. Die Vorarbeiten begleiten die Jahre, in denen Humboldt Jena häufiger und länger besuchte und in denen er an den praktischen und theoretischen Übungen mit dem Anatomen Loder teilnahm.5 Humboldt versucht zu klären, ob es, unabhängig von Magnetismus und Elektrizität, ein pflanzenund tierphysiologisches „galvanisches Fluidum" gibt, das heißt ein Substrat, das die Irritation der Muskel- und Nervenfaser ermöglicht. Die Hypothesen, von denen Humboldt ausgeht, und das Ziel seiner Untersuchungen sind später als irrelevant erkannt worden. Dadurch sind die Versuche bezeichnend für eine Phase der Wissenschaftsgeschichte, in der 3 4 5
Kuhn, Die Struktur, S. 87. Vgl. Ilse Jahn: „Biologie" als allgemeine Lebenslehre, in: dies. (Hg.): Geschichte der Biologie j e n a 1998, S. 274-301, hier S. 280. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang vgl. vor allem: Ilse Jahn: Dem Leben auf der Spur. Die biologischen Forschungen Alexander von Humboldts, Leipzig, Jena, Berlin 1969. Rudolf Stichweh: Elektrizität als Fokus der Formation disziplinarer Gemeinschaft und disziplinarer Identität, in: ders.: Die Entstehung des modernen Systems, S. 252-317; Alexander von Humboldt als Experimentator und seine Faszination durch die „Galvanik", in: Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Emil du Bois-Reymond, hg. von Ingo Schwarz und Klaus Wenig, Berlin: Akademie-Verlag 1997 (^Beiträge zur Alexandervon-Humboldt-Forschung, 22), S. 17-31. Marco Segala: F.lectricite animale, magnetisme animal, galvanisme universel: A la recherche de l'idenrite entre l'homme et la nature, in: L'electricite dans ses premieres grandeures (1760-1820), in: Revue d'histoire de sciences 2001, S. 71-85. Auch Segala betont, dass die Forschungen vor allem in Deutschland zu philosophischen Weiterungen geführt hätten und nennt außer Humboldt und Ritter Johann Chrisdan Reil, Samuel Thomas Sömmering und Karl Friedrich Burdach.
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die eigene Qualität des Galvanismus neben der Elektrizität diskutiert wurde,6 und die im Rückblick als „retardierend" innerhalb des szientifischen Rationalisierungsprozesses bezeichnet worden sind.7 Zur Zeit der Versuche ist die Diskussion jedoch noch völlig offen. Erst 1800 wird die Voltasche Säule entdeckt, während Humboldt sich in Amerika aufhält. Eine spezifische Elektrizität von Organismen erscheint seither zwar unwahrscheinlich,8 doch die Identität von Elektrizität und galvanischen Strömen in tierischen und pflanzlichen Organismen sollte tatsächlich erst in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts zweifelsfrei nachgewiesen werden.9 Die Korrespondenz mit Emil du Bois-Reymond ist ein Dokument für Humboldts endgültigen Abschied vom Galvanismus.10 Einen bedeutenden innovativen Aspekt bescheinigt die Wissenschaftsgeschichte Humboldts Forschungen: Es ist die chemische Anlage der vergleichenden physiologischen Untersuchungen, die ganz verschiedene Organismen diversen Stoffen aussetzen, wobei nicht mehr eine medizinische Fragestellung, sondern eine Theorie der Physiologie allgemein gesucht wird.11 Die Versuche bewegen sich also durchaus pragmatisch auf die Ausdifferenzierung einer eigenen Disziplin „Biologie" zu.12 Zugleich verraten sie die immense Erwartung, mit Hilfe des Galvanismus das Rätsel des Lebens lösen zu können, und erscheinen dadurch typisch für eine eher irrationale Phase der Elektrizitätsforschung besonders in Deutschland.13 So ging es in den Versuchen auch um die Bestimmung des Verhältnisses von organischer und anorganischer Materie, ein Problem, das an Grundsätzlichkeit wohl nur noch durch die Abwägung zwischen materialistischen und idealistischen Erklärungen bestimmter Prozesse zu überbieten ist, die Humboldt ebenfalls nicht ausließ.14 Vom Konzept einer eigenen Lebenskraft, die der Erzählung vom Rhodischen Genius von 1794 den Obertitel gibt, hat sich der Verfasser der großen Abhandlung über die 6
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Dass nicht die gleichen, aber ähnliche Reiz-Versuche im 18. Jahrhundert sehr häufig durchgeführt wurden, erwähnt die Einleitung zum Briefwechsel zwischen Alexander v. Humboldt und Emil Bois-Reymond: Alexander von Humboldt als Experimentator, S. 19. Stichweh: Die Entstehung, S. 300. Ebd., S. 306. Vgl. Jahn: Dem Leben auf der Spur, S. 70. Briefwechsel zwischen Alexander v. Humboldt und Emil Bois-Reymond, S. 25. Ebd. S. 40. Jahn: „Biologie" als allgemeine Lebenslehre, S. 281. Mit Bezug auf die Elektrizitätsforschung, speziell den Galvanismus heißt es bei Stichweh: „Wieder stehen irrationale Motive, totalisierende Entwürfe, unbegrenzte Anwendungshoffnungen und die Antizipation der Entschlüsselung der letzten Geheimnisse des Lebens im Vordergrund der Wissenschaft" (Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems, S. 300). Zur Erörterung der Sensibilität als denkbarer Ureigenschaft der Materie, vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart: KlettCotta 1981, S. 265.
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gereizte Muskel- und Nervenfaser schon während ihres Entstehens verabschiedet. Die Rechtfertigung der sinnlichen Erkenntnis Zunächst jedoch zu den Merkmalen des Buches, die für nicht-normale Wissenschaft so charakteristisch sind und zu größeren Überschneidungen mit der „schönen" Literatur führen: das Philosophische, das Ästhetische, das Subjektive, appellative und affektive Funktionen des Textes, Performanz, Evokation sozialer und historischer Kontexte. In einigen Fällen sind diese Merkmale der nicht-normalen Wissenschaft im Text lediglich zu verzeichnen, und die Annahme ist berechtigt, dass sie dem Verfasser unterlaufen. Die wichtigsten Überlegungen zur Methodik und Erkenntniskritik sind zum Beispiel nicht eingangs systematisch entwickelt, sondern sie finden sich zerstreut an verschiedenen Stellen, kaum hierarchisiert oder argumentativ aufeinander bezogen, so dass sie jeweils akuten Erklärungsnöten zu entspringen scheinen. Andererseits bindet der Verfasser seine Rede selbst in den Kontext einer ungeklärten epistemologischen Situation ein und reflektiert verschiedentlich Elemente einer nicht-normalen Wissenschaft. Schon der Titel 1/ersuche über die gereifte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt weist über die Grenzen der gesicherten Wissenschaft hinaus. Genaue Beobachtungen werden um ungesicherte Hypothesen ergänzt. Das Motto thematisiert ebenfalls eine Wissenschaft, die die ausgetretenen Pfade verlässt: „Alius error est praematura atque proterva reductio doctrinarum in artes et methodos, quod cum sit plerumque scientia aut parum aut nil profici. Baco Verul. De augment. Scient. Lib. I." Es ist eine sicherlich konservative Berufung auf die altehrwürdige Autorität Bacons. Das Risiko, das der Verfasser mit seiner eigenen Unvoreingenommenheit einzugehen bereit ist, wird traditionsbewusst in den Anfängen der neuzeitlichen Naturwissenschaftsgeschichte verankert. Ein Klassikerzitat hilft auch über einen weiteren kritischen Punkt der Abhandlung hinweg. Die Verknüpfung zwischen der empirisch beschriebenen Versuche und den Hypothesenbildungen erscheint vielfach als problematisch. Bitte, meine geringen Versuche nicht mit den theoretischen Muthmassungen zu vermengen, welche ich mir hier und da einzustreuen erlaubt habe. Jene stehen fest, wenn auch diese, welche ich für ganz unbedeutend halte, längst wiederlegt sind. Ich trenne daher gern beide von einander, nicht aus Unglauben an eine rationale Naturlehre überhaupt, nicht als gehörte ich zu der Classe von Menschen, die (nach Seneca's Ausspruch) tarn funt umbratiles, ut putent, in turbido esse,
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quicquid in luce est, sondern weil in den hier bearbeiteten Gegenständen der Physiologie bis jetzt noch genügsame Erfahrungen fehlen, um auch nur mit einiger Zuversicht die Ursachen der Erscheinungen bestimmen zu können. 15
So deutlich wie hier in Aussicht gestellt, sind im laufenden Text Versuche und „Muthmassungen" meistens nicht getrennt. Der Begriff des Versuchs scheint zwar, so wie er hier verwendet wird, wenig problematisch. Sein epistemologischer Status ist jedoch am Ende des 18. Jahrhunderts keineswegs geklärt, speziell dann, wenn es wie bei Humboldt um sogenannte „Imponderabilien", Wärme, Elektrizität, Magnetismus, Licht, geht.16 Einerseits bezieht sich das Experiment auf einen Begriff von Empirie, der ganz der Beobachtung und dem Respekt vor den Phänomenen gilt, auf der anderen Seite setzt die Anordnung des empirischen Materials weitreichende Hypothesen voraus, die ins Spekulative weisen. Experimente, wie Humboldt sie durchführte, bewegen sich dabei im Vorfeld der historisch jüngeren methodischen Unterscheidung von sogenannter „exakter" und „erklärender" auf der einen und „beschreibender" Naturwissenschaft auf der anderen Seite.17 Mit dem historisch wenig entwickelten Stand seiner spezifischen Forschungen rechtfertigt auch Humboldt das prekäre Verhältnis von Experiment und Hypothese. Seine kritischen Reflexionen betreffen aber mehr noch die Erkenntniskritik jeder Naturwissenschaft: Der letzte Zweck jeder wissenschaftlichen Naturlehre ist der, Begriffe von bestimmten Naturdingen zu construiren, oder ihre innere Möglichkeit durch Anwendung der Mathematik anschaulich zu machen. [...] Unendlich wenig Phänomene der äusseren Sinnenwelt sind aber einer solchen Anwendung fähig und bei den meisten muss man sich begnügen, sie auf allgemeine Erfahrungsge-
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A. v. Humboldt: Versuche, Bd. 1, S. 14. Stichweh: Die Entstehung des modernen Systems, S. 23, über den methodisch und experimentell schwierigen Status von Wärme, Elektrizität, Magnetismus, Licht. Vgl. auch S. 116, zur Theorie der Imponderabilien. Zur wissenschaftsgeschichtlich jüngeren Ausdifferenzierung von Erklärung und Beschreibung vgl. Alwin Diemer: Die Differenzierung der Wissenschaften in die Natur- und Geisteswissenschaften und die Begründung der Geisteswissenschaften als Wissenschaft, in: ders. (Hg.): Beiträge zur Entstehung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert. Vorträge und Diskussionen im Dezember 1965 und 1966 in Düsseldorf, 1968, S. 174—223, hier S. 180. Vgl. auch Rudolf Stichweh: Technik, Naturwissenschaft und die Struktur wissenschaftlicher Gemeinschaften: Wissenschaftliche Instrumente und die Entwicklung der Elektrizitätslehre, in: ders.: Wissenschaft Universität Professionen. Soziologische Analysen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp TW 1994, S. 99—131. „Es entspricht diesem von vornherein asymmetrischen Verhältnis von instrumentell realisierter und natürlicher Elektrizität, daß es in der Elektrizitätslehre im Unterschied zu anderen Gebieten der Naturlehre [...] nie ein Beobachtungsparadigma gegeben hat, das konkurrierend neben ein Experimentalparadigma hätte treten können" (103). „Beobachtung vs. Experiment jedenfalls ist unter diesen Umständen keine konstitutive Dichotomie mehr" (S. 104).
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Naturforschung und Literatur in der Diskussion setze, die weder ein Bewusstseyn ihrer Notwendigkeit bei sich führen, noch eine Darstellung a priori in der Anschauung erlauben, systematisch zu reduciren. 18
Tatsächlich verweist Humboldt hier, an etwas versteckter Stelle auf Kants Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Im zweiten Band wird die Kritik der reinen Vernunft zitieren, und zwar eine bezeichnende Passage: „Es gibt in der Naturkunde eine Unendlichkeit von Vermuthungen in Ansehung deren niemals Gewissheit erwartet werden kann, zu denen also der Schlüssel nicht in uns und in unserem reinen Denken, sondern ausser uns liegt und eben darum in vielen Fällen nicht aufgefunden werden, mithin kein sicherer Aufschluss erwartet werden kann." 19 Ohne Zweifel war sich Humboldt bewusst, epistemologisch unsicheres Gelände zu betreten. So werden auch die Konsequenzen aus der wissenschaftlich nichtnormalen Situation mit Bedacht gezogen: Humboldt beruft sich auf die niederen Seelenvermögen, vor allem auf die sinnliche Erkenntnis, wenn es darum geht, die experimentell nicht zu schließende Lücke zwischen empirischer Beobachtung, Mathematisierung und Spekulation zu schließen. Der Verfasser bedenkt, wie „wir den causalen Zusammenhang einiger Wirkungen einsehen, anderes ahnden lernen";20 er spricht über ein Verhältniss zwischen zwei Gattungen von Erscheinungen (Vorstellungen) denen des äussern und des innern Sinnes. Selbst das totale Stillschweigen unsers Gefühls kann nichts gegen die Möglichkeit jener Einwirkung beweisen, da die Existenz von (dunklen) Vorstellungen, welche noch nicht im Bewusstseyn vorgestellt werden und deren Wirkungen sich doch äussern, wohl nicht geläugnet werden kann. 21
Und schließlich wird neben den Ahnungen und den dunklen Vorstellungen auch dem analogischen Denken eine wissenschaftliche Berechtigung eingeräumt. „Wenn der Verstand um die Ursachen räthselhafter Erscheinungen verlegen und durch lange Gewohnheit noch nicht in eine träge Gleichgültigkeit verfallen ist, so greift er gleichsam spielend zu den entferntesten Analogien, um aus ihnen Licht über das streitige Problem zu ziehen." 22 Auf drei Gebieten betätigt sich in den 1Versuchen die sinnliche Erkenntnis: In der Analogie- oder Metaphernbildung, wobei sie wissenschaftliche Hypothesen ersetzt; in einer Versuchspraxis, die subjektive Sinneswahrnehmungen auswertet; und schließlich in der Relevanz von autobiographischer und historischer Erfahrung, die als Fortsetzung der experimentellen Erfahrung anzusehen ist. 18 19 20 21 22
A. v. Humboldt: Versuche, Bd. 1, S. 376. A. v. Humboldt: Versuche, Bd. 2, S. 46. Ebd., Bd. 1, S. 378. Ebd., Bd. 2, S. 46. Ebd., Bd. 1,S. 467.
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„Spielend zu den entferntesten Analogien greifen" — der Verfasser der Versuche führt es vor, wenn er die Verschiedenheit von Elektrizität, Magnetismus, Galvanismus mehr vermutet als beweist: „Vielleicht aber sind galvanisches, elektrisches und magnetisches Fluidum verwandt und verschieden, wie thierisches Blut, Milch und Pflanzensaft." 23 Oder noch mehr, wenn in einem Versuch an die biblische Einflößung göttlichen Odems erinnert wird: „Unter allen physikalischen Versuchen, welche ich je die Freude hatte, in Gegenwart anderer Naturforscher anzustellen, habe ich keinen gefunden, der wegen seiner unendlichen Feinheit so in Erstaunen setzt, als diese Belegung mit Hauche [...] Das Experiment sieht einem Zauber ähnlich, indem man bald — Leben einhaucht, bald den belebenden Odem zurücknimmt!"24 An anderer Stelle geht es um die Erweckung aus dem „Scheintode" 25 All das sind Reminiszenzen an eine Praxis der wissenschaftlichen Demonstration, die gerne spektakuläre Effekte nutzt, auch weil das Publikum oft nicht nur eines von Spezialisten ist. Es sind, wenn man Gaston Bachelard folgt, Urstände eines „vorwissenschaftlichen Geistes",26 es sind aber auch, wenn man wiederum mit Thomas Kuhn interpretiert, intellektuelle Lizenzen, wie sie für Krisenzeiten der Wissenschaft im Vorfeld wissenschaftlicher Revolutionen typisch sind.
Das Experiment als „Experience" Die Versuche über die gerettete Muskel und Nervenfaser widmen sich vergleichend ganz unterschiedlichen Pflanzen und Tieren. So weit es aber um die Irritabilität von Muskeln und Nerven beim Menschen geht, lassen sich die objektiven Aspekte der Erregbarkeit um subjektive ergänzen. Humboldt führt Selbstversuche zur Irritabilität durch, und so wird bei ihm, um einen Titel Goethes aufzugreifen,27 der „Versuch" zum „Vermittler zwischen Subjekt und Objekt". Wahrnehmung und Darstellung der Sinnesphysiologie, der Schmerz und die Wahrnehmung des Schmerzes, Versuchsobjekt und Experimentator sind im Humboldt der Selbstversuche eins: 23 24 25 26
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Ebd., S. 545. Ebd., S. 78f. Ebd., Bd. 2, S. 18 Als „Hindernisse" für die Entfaltung des wissenschaftlichen Geistes findet Bachelard in Humboldts Versuchen explizit das „animistische" und das „substantialistische" (Bachelard: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, S. 247). Geltend machen könnte er auch den „mondänen Charakter der Wissenschaft im 18. Jahrhundert" (S. 67); „die mißbräuchüche Ausweitung geläufiger Bilder" (S. 128); die „Verführung der Metaphern" (S. 134). Grundsätzlich auch die These: „Der literarische Charakter ist ein wichtiges und oft schlechtes Kennzeichen vorwissenschaftlicher Bücher" (S. 140f.). So ist eine der Schriften zu Optik und Farbenlehre von 1792 übertitelt. MA 4.2, S. 321, S. 323 dann auch die Legitimation der „Erfahrung".
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Eine zwei Zoll breite Wunde meiner rechten Schulter war mit Zink, eine ähnliche Wunde der linken mit Silber armirt. Ein Eisendraht, welcher mit dem Zink zusammenhing, ging mir durch den Mund, (und zwar zwischen der Oberlippe und der spongiösen Substanz der Oberzähne,) einer zweiten Person aber über die Zunge weg. Als nun der Eisendraht gegen das Silber gebogen ward, und mit ihm in Berührung trat, sah man meinen Muscul. cucullar. lebhaft zucken, ich fühlte ein schmerzhaftes Brennen und Pochen in der Schulter, ich sähe ein blitzähnliches Leuchten vor beiden Augen, und die zweite Person schmeckte die Säure auf der Zunge. Alle diese heterogene Erscheinungen waren in einem Augenblicke vorhanden, ungeachtet der Communicationsdraht eine Länge von einigen Fussen hatte. 28
Die Wissenschaftsgeschichte hat dergleichen Selbstversuche in der Physiologie mit der Zeit diskreditiert als nicht quantifizierbar und niemals unter gleichen Umständen wiederholbar. Schmerz ist keine wissenschaftliche Größe einer mathematisierten Experimentalforschung. Für Humboldt gilt er jedoch — wie übrigens auch für Johann Wilhelm Ritter, als er 1797 in Jena Humboldts Experimente überprüft und fortsetzt — 29 als ein gültiges Sinnesdatum der beschreibenden Naturwissenschaft neben anderen.30 Der Labilität der Sinneseindrücke ist sich der Verfasser bewusst: „Die Versuche über die Empfindung müssen mit großer Vorsicht angestellt werden, da die Phantasie und die erwartungsvolle Stimmung, mit welcher man zum Experimentieren schreitet, so leicht zu Täuschungen führt. Da dieselbe ohnedies auf etwas bloss subjectivem beruhen, so wird jeder unpartheiische Beobachter am liebsten an sich selbst Erfahrungen sammeln."31 Und außerdem „ist es sehr gut, dass die leidende Person dem Galvanisieren nicht selbst zusieht."32 Die Kritik der Versuchsbedingungen wird nicht vermieden, das Methodenproblem durchaus erkannt, doch Humboldt nimmt den individuellen Aspekt der subjektiven Beobachtung als Teil einer anthropologischen Erörterung des physiologischen Problems in Kauf. So wie er zwischen den Reaktionen von alten und jungen Menschen unterscheidet,33 von
28 29 30
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A. v. Humboldt: Versuche, Bd. 1, S. 206. Vgl. Müller: Der totale dynamische Prozeß, S. 646. Zu den elektrophysiologischen Selbstversuchen Humboldts und Ritters vgl. Johannes Bierbrodt: Naturwissenschaft und Ästhetik 1 7 5 0 - 1 8 1 0 , Würzburg: Königshausen und Neumann 2000 (=Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 279), S. 244f. A. v. Humboldt: Versuche, Bd. 1, S. 307. Ebd., S. 327. „Ist der jugendliche, biegsame Körper nicht schon darum rei2empfänglicher, reicher an sympathetischen Erscheinungen der Bewegung und Empfindung, als die rigide Faser des Greises, weil jener die empfangenen Eindrücke schneller auf einen, oder mehrere Nerven fortleitet, wo dieser einer unmittelbaren Rührung seiner sensiblen Organe bedarf?" (A. v. Humboldt: Versuche, Bd. 1, S. 171).
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„fetten" und „mageren",34 so erörtert er die Kontingenz der Selbstversuche: „Die Empfindung, welche der Metallreiz erregt, hat für mich auch nicht die entfernteste Aehnlichkeit mit der des elektrischen Ausströmens. Es ist ein Schmerz sui generis."35 Und weiter: „Bis zur Abstumpfung meiner gereizten Nerven, durch fortgesetzte Stimulation, habe ich es nie bringen können."36 Erkenntniskritisch wird also schlicht die Kategorie der Erfahrung geltend gemacht, nicht viel anders als in der „Erfahrungsseelenkunde" der Epoche. Der chemische Process des Löbens der Thier- und Pflanzenwelt steht dem Titel zufolge zur Debatte, doch der Höhepunkt der experimentellen Bemühungen ist der Mensch: An keiner andern ist man so tief in die Bildung einzelner Theile und ihrer Functionen eingdrungen, an keiner andern scheint die thierische Faser so leise erregbar, an keiner andern ist das Verhältnis eines Wesens gegen die ganze physische und intellectuelle Welt so sorgfältig erörtert, an keiner andern sind die Wirkungen der Vorstellungskraft auf Bewegungen in der Materie so sichtbar, als gerade in der menschlichen Organisation. [...] Wer sich daher irgend einem Theile der Naturbeschreibung ernsthaft widmet, sollte jenes Studium nicht vernachlässigen, wäre es auch nur um einzusehen, welche unabsehbare Fülle von Kräften in ein Aggregat irdischer Stoffe zusammengedrängt sein kann.37
Nicht nur stehen Humboldts Experimente zwischen der Chemie, der Physik und der Biologie der Pflanzen und Tiere. Es geht mit der Erforschung der Lebenskraft und des Lebensprozesses um Grundsätzliches, dem Humboldt an der Grenze von „physischer" und „intellectueller" Welt auf die Spur zu kommen hofft. Erneut also steht das „commercium mentis et corporis" der spätaufklärerischen Anthropologie zur Diskussion, diesmal die Reizbarkeit, die Irritablilität, deren konzeptioneller Zusammenhang mit der eher literarisch-psychologischen Kultur der Empfindsamkeit dennoch vorausgesetzt werden kann.38 Auf diesem Wege hofft Humboldt nicht nur das Substrat der Lebenskraft zu finden, sondern auch etwas zur Erforschung des „Seelenorgans" beitragen zu können: „Das Empfindliche in der menschlichen Bildung ist nämlich das Seelenorgan allein, und der Nerv (sammt dem Wirkungskreise, den er verbreitet), ist das Medium zwischen dem Seelenorgan und den einwirkenden reizenden Objecten der äussern Sinnenwelt."39 34 35 36 37 38
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Ebd, Bd. 1, S. 229. Ebd., S. 329. Ebd., S. 330. Ebd., S. 4f. Vgl. Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart: Metzler 1988: Zum Zusammenhang von empirischer Naturforschung, Physiologie, Empfindsamkeit, zugleich auch zum Mangel an „fachlicher Autonomie" der entsprechenden Diskurse S. 36—38. A. v. Humboldt: Versuche, Bd. 1, S. 223, vgl. auch S. 297f.
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Aus der Sicht einer neueren Erkenntnistheorie, die den subjektiven Aspekt der Wahrnehmung aus dem wissenschaftlichen Experiment ausgeschlossen hat, soweit es nicht eben um die Erforschung dieser Subjektivität geht, vereinen Humboldts Selbstversuche in unzulässiger Weise den Ausdruck individueller Erfahrung mit dem Anspruch, generalisierbare Aussagen hervorzubringen. Im Gebrauch der Epoche sind die Termini Experiment und Erfahrung jedoch eng miteinander konnotiert. In der französischen und spanischen Ubersetzung werden denn auch aus den titelgebenden Versuchen, den Experimenten, die Experiences sur le Galvanisme, bzw. die Yisperienäas acerca delgalvanismo.w Subjektivität und Individualität sind im Experiment ausdrücklich zugelassen, nicht nur, weil es über einen Teil der Phänomene (etwa den Schmerz) keine anderen denn subjektive Erkenntnis geben kann, sondern auch, weil Subjektivität ein Wahrheitskriterium darstellt.41 Die Erkenntnisse sind umso authentischer, als sie konkreten Personen zugeschrieben werden können, ihre Aussage bedeutet im Zusammenhang des Experiments einen Zuwachs an Empirie.42 Die Subjektivität der Darstellung, vor allem auch das Pathos des schmerzhaften Eigenversuchs,43 ist daher ein Verfahren der Plausibilisierung. „So viel ich weiß, bin ich der erste gewesen, der es versucht hat, Muskelbewegungen durch Entblössung der Nerven an sich selbst hervorzubringen. Die Folge des Abschnitts wird lehren, dass ich durch den Gewinn an neuen Erfahrungen reichlich für die selbst erregten Schmerzen belohnt worden bin."44 40
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Experiences sur le Galvanisme, et en general sur l'irritation des fibres musculaires et nerveuses; trad, de l'allem. par Gruvel avec des additions par F.N. Jadelot, Paris: Fuchs 1799; Esperiencias acerca del galvanismo, y en general sobre la irritation de las fibras musculares y nerviosas. Traducido del aleman al frances y publicado con algunas adiciones por J.F.N. Jadelot, y en castellano por D.A.D.L.M. Madrid: Imprenta de la administracion del real arbitrio de beneficiencia 1803. Um 1800 sind noch verschiedentlich Beiträge über Versuche mit im Titel als „Experiences" gekennzeichnet. Vgl. das Verzeichnis der abhängigen Schriften. Zur Subjektivität als wissenschaftlicher Kategorie bei Goethe und Humboldt vgl. Dorothea Kuhn: Über den Grund von Goethes Beschäftigung mit der Natur und ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis, in: JBDSG 15 (1971), S. 157-173, S. 172. Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration 1789-1830, Bd. 2.: Das Zeitalter der napoleonischen Kriege und der Restauration 1806—1830, München: Beck 1989, S. 203-204. „Empirie bedeutet demnach nicht bloß die Beobachtung und Schilderung der Phänomene, sondern schon deren .sinnvolle Kombination' bzw. Interpretation; sie ist ein Ganzes, das die Phänomene an sich und die subjektive Tätigkeit des Forschers in sich schließt - d.h. auch seine Grundhaltung. Für d'Alembert bedeute Empirie .observation' und .experience'." Kondylis: Die Aufklärung, S. 307. In der Sekundärliteratur je nachdem heroisiert (vgl. Siegmund Günther: Alexander von Humboldt. Leopold von Buch, Berlin: Ernst Hoffmann 1900 [=Geisteshelden, 39], S. 36) oder pathologisiert (Rübe: Alexander von Humboldt, S. 60). A. v. Humboldt: Versuche, Bd. 1., S. 306.
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Plausibel soll das Geschilderte aber nicht nur wirken, weil es persönlich verbürgt ist. Plausibel wird es, weil es erzählt wird. Humboldts Versuche über die gereifte Muskel- und Nervenfaser wahren über längere Passagen den Charakter einer genuinen Erzählung. In ihr wird die Genese der jeweiligen Erkenntnis an eine Handlung und an den Verlauf der subjektiven Erfahrung gebunden — ein Zusammenhang, der die wissenschaftliche Abhandlung in die Nähe anderer narrativer Formen wie die Autobiographie oder den Roman rückt. Der Experimentator und Autor stellt sich als weltläufig, fleißig, zuverlässig dar und er begründet, warum er trotz Amtern und Reisen seine Versuche in aller Gründlichkeit und in nödger Menge habe durchführen können. Die Glaubwürdigkeit der Person und der Umstände unterstreicht die Seriosität der wissenschaftlichen Untersuchungen. Glaubwürdig wird der Wissenschaftler auch durch die Hingabe an seine Forschung. Emphase und Pathos sind daher zugelassen. Sie illustrieren die Authentizität der Situation, in der Erkenntnisse gewonnen werden: „Noch mehr!", 45 „Aber nein!", 46 „Soweit die Tatsachen!", 47 „Ja! Es war herrlich zu sehen", 48 „Ja! Ich war noch glücklicher".49 Dazu rhetorische Fragen, Äußerungen des Erstaunens, 50 der Euphorie, des Zweifels: „Hätte ich die oben erzählten Versuche nicht mit so vieler Sorgfalt angestellt, nicht so lange Zeit fortgesetzt, so wäre ich fast geneigt gewesen, den Verdacht der Täuschung gegen mich selbst zu erregen. Mehrere Wochen nachher, am Ende des Jänners 1796 ward ich aber, beim Experimentieren, aufs angenehmste überrascht, und von der Richtigkeit meiner Beobachtungen überführt."51
Wissenschaftliche Erkenntnis als literarische Handlung Im Blick auf aktuelle Standards wissenschaftlicher Darstellung fällt an Humboldts umfangreicher Abhandlung über die gereizte Muskel- und Nervenfaser auf, dass zu den wissenschaftlichen Fakten und Aussagen eine Vielzahl kontingenter Erfahrungen hinzutreten. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse erscheinen daher nur bedingt generalisierbar. Es entsteht sogar der Eindruck, dass die Rhetorik der Subjektivität eine Geltung erhebt, die wissenschaftliche Geltung weitgehend ersetzt.
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A. v. Humboldt: Versuche, Bd. 1, S. 26. Ebd., S. 36. Ebd., S. 48. Ebd., S. 86. Ebd., S. 128. Ebd., S. 68, 82 u. ö. Ebd., Bd. 1., S. 85.
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Naturforschung und Literatur in der Diskussion
Dagegen wird in der neueren Prosa naturwissenschaftlicher Arbeiten die Geltung einer wissenschaftlichen Aussage durch die konsequente Eliminierung vieler derjenigen Textmerkmale unterstrichen, die Humboldt als Autor praktiziert. Ausdrucks- und Appellverhalten, gar poetische Funktionen, insgesamt das, was als „Kontaktfunktion" in einem expositorischen Text bezeichnet wird, werden unterdrückt.52 Dagegen treten seit dem 19. Jahrhundert und bis heute andere Merkmale hervor: Wort, Satz und Text werden in absteigender Reihenfolge gewichtet, „Handlungsprädikate" „deagentiviert", dominierend sind ein unpersönlicher Stil, passivische Konstruktionen, hypothetische Ausdrucksweisen, komprimierte Nominalgruppen, Effizienz, Sachlichkeit, Explizität, Präzision oder Terminologisierung.53 Der Gewinn einer solchen Praxis wissenschaftlicher Darstellung liegt vermeintlich in der Kontrolle anthropomorphisierender Tendenzen der Wissenschaft. 54 Es wird damit der Gefahr begegnet, dass die beschriebene und erklärte Natur aus der Projektion menschlicher Eigenschaften hervorgeht, unter der Hand ein zufälliger Mikrokosmos den einen Makrokosmos präformiert. Die objektive Natur entsteht dann aus einem konsequenten Prozess der Entpoetisierung, Entmythologisierung, Ent-Naturisierung und Ent-Anthropomorphisierung. 55 Sachlich begründet ist auch die Ausblendung der rhetorischen Vermittlung sozialer Verständigungsprozesse über den Gegenstand der Forschung.56 Genau diese Ausblendung hat jedoch auch ihre problematische Seite, da sie die Rückübersetzung wissenschaftlich konstruierter
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Vgl. Uwe Pörksen: Aspekte einer Geschichte der deutschen Naturwissenschaftssprache und ihrer Wechselwirkung zur Gemeinsprache, in: Deutsche Wissenschaftssprachen. Historische und kritische Studien, Tübingen: Narr 1986, S. 10—39, hier S. 16. Referiert aus Lutz Danneberg: Darstellungsformen in Geistes- und Naturwissenschaften, in: Peter J. Brenner (Hg.): Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Taschenbuch Materialien 1993, S. 99-137, hierS. 116. So gibt Michel Foucault, offenbar kritisch, die Anthropologie als verborgenes oder offensichtliches Gelenk zwischen Empirie und Metaphysik aus, das die Anfange der wissenschaftlichen Biologie, Ökonomie und Linguistik kennzeichne: „Es ist zweifellos nicht möglich, den empirischen Inhalten einen transzendentalen Wert zu geben, noch, sie in Richtung auf eine konstituierende Subjektivität zu verlagern, ohne wenigstens verschwiegen einer Anthropologie Raum zu geben"; Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 7. Aufl., Frankfurt a.M. Suhrkamp TW 1988 [1966], S. 306. Und in anderem Zusammenhang: Die „Anthropologisierung ist heutzutage die große innere Gefahr der Wissenschaften" (S. 417). Paul Konrad Kurz: Literatur und Naturwissenschaft, in: ders.: Über moderne Literatur. Standorte und Deutungen, Frankfurt a.M.: Josef Knecht 1967, S. 72-100, hier S. 89. Darauf besteht Niklas Luhmann aus gegebenem Anlass: Unverständliche Wissenschaft. Probleme einer theorieeigenen Sprache, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt 1979, S. 34-43.
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Erkenntnis in die Alltagswelt erheblich erschwert.57 Vor allem aber erweckt die Dekontextualisierung und Entrhetorisierung den Anschein einer sachlogischen Neutralität, die nicht gegeben ist. Auch ein entrhetorisierter, versachlichter Text bewegt sich innerhalb eines rhetorischen Paradigmas.58 Während die objekdvierende Wissenschaftsprosa diese Prämisse zu tilgen sucht, ist sie in einem Text wie Humboldts Versuchen deutlich markiert. Festgelegt wird da nämlich zunächst die dem Gegenstand angemessene Stilhöhe: „und werde mich dabei der Einfachheit des Ausdrucks bedienen, welche der große Gegenstand, über den ich meine Vermuthungen wage, verdient."59 So wenig wie versachlichte Texte der Rhetorik entkommen, so trügerisch ist auch die Ausblendung jedes sozialen Verständigungsprozesses aus dem wissenschaftlichen Text.60 Die Sachlichkeit des Textes und epistemologische Fundierung ist unweigerlich Teil eines kommunikativen Zusammenhangs, der im Wissenschaftstext wesentlich als Ausschluss von Laien durch Eliten funktioniert.61 Wo hingegen die Forschung ihre Genese mit all ihren biographischen, psychologischen, historischen Aspekten in die wissenschaftliche Darstellung mit einbezieht,62 ist zumindest auf die Kontextualität jeder wissenschaftlichen Erkenntnis verwiesen. Die Thematisierung der Darstellungsverfahren und die Explizitheit rhetorischer Mittel werden dabei zum Instrument der Erkenntniskritik als solcher. Artikulierte Subjektivität ist dann kein Zeichen von „Naivität",63 „naiv" erscheint vielmehr eine Darstellung, die vorgeblich nur der Logik der Sache unterstellt ist. 57 58
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Karl-Heinz Göttert: Ringen nach Verständlichkeit. Ein historischer Streifzug, in: DVjS 65 (1991), S. 1-14, hier S. 12. Von einer existentiellen Unhintergehbarkeit der Rhetorik auch im Bezug auf naturwissenschaftliche Gegenstände geht Hans-Georg Gadamer aus: Die Ausdruckskraft der Sprache. Zur Funkdon der Rhetorik für die Erkenntnis, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt 1979, S. 45-55. Er betont, „daß trotz Galilei und Kopernikus die rhetorische Weltauslegung für uns beherrschend und allwirksam bleibt" (S. 48). A. v. Humboldt: Versuche, Bd. 1, S. 2. Vgl. dagegen Steven Shapin, Simon Shaffer: Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life, Princeton, New Jersey: Princeton University Press 1985. Die Autoren rekonstruieren politische und philosophische Diskurse und Rhetoriken, innerhalb derer fur physikalische Experimente zum Vakuum wissenschaftliche Wahrheit geltend gemacht wird. Die Untersuchung gilt als exemplarisch, insofern sie als eine der ersten die Praxis des naturwissenschaftlichen Experiments konsequent kulturalistisch deutet. Dies das Argument von Hans-Martin Gauger: Wissenschaft als Stil, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt 1979, S. 22—33. Daraufhin Luhmanns Verteidigung exklusiver Wissenschaftsterminologien, vgl. FN 56. Ebd., S. 11 Of. Dies ist gegen Adolf Portmann einzuwenden, der dies ausschließen möchte. (Adolf Portmann: Die Sprache im Schaffen des Naturforschers, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt 1965, S. 61-75, hier S. 69).
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Naturforschung und Literatur in der Diskussion
Humboldts Versuche über die gereifte Muskel- und Nervenfaser entwerfen Experimentalwissenschaft als kommunikative und soziale, zumindest aber biographische Handlung. Die Überzeugung, wenn nicht Überredung des Publikums ist dabei die Kehrseite einer Forschung, die wesentlich vom Austausch unter den Gelehrten und von ihrer Bestätigung des Unternehmens zehrt. Dabei gilt das Historische, Soziale und Biographische als Argument für die Plausibilität des Exponierten. Der Experimentator qualifiziert seine Versuche durch seinen persönlichen Umgang mit wissenschaftlichen und anderen Autoritäten des öffentlichen Lebens (Sömmering, Blumenbach, Hufeland, Pfaff, Pictet, Volta, Scarpa, Chladni), bedenkt diese Kapazitäten mit dem Ton der Hochachtung, etwa in metonymischen Ausdrücken („Der grosse Physiker von Como [Volta] erzählte mir [...]") 64 , betont, dass er seine Versuche auf Drängen der arrivierteren Forscher veröffentliche.65 Die gelehrte Öffentlichkeit setzt dabei die Vorgeschichte der einschlägigen Forschungen fort. Nicht also die Wiederholbarkeit des Versuchs an jedem Ort, zu jeder Zeit unter gleichen Bedingungen beglaubigt das Beobachtete, sondern der dynamische Kommunikationszusammenhang der Gelehrten, die Beteiligung des Autors an diesem Zusammenhang und ihr historisches Telos.66 Das Publikum wird nun angesprochen, insofern es sich tendenziell zur Gruppe der wissenschaftlich und im weiteren Sinne intellektuell Handelnden zuzählt. Das Performative dieser Schreibweise kann man als mehr oder weniger lautere Kompensation von Schwächen in der Methodik oder in der Theoriebildung ansehen. Oder aber als Reflexion auf die kommunikative, das heißt hier literarische Komponente eines wissenschaftlichen Verhaltens. Humboldt als Autor der Versuche über die gereifte Muskel- und Nervenfaser bewegt sich also nicht mehr im Kontext der polyhistoirischen Gelehrsamkeit, und noch nicht im Umfeld einer spezialisierten Fach- oder Wissenschaftspubüzistik, sondern im Kontext einer gelehrten Öffentlichkeit, die eigentlich die literarische ist.67 Wenige, aber wichtige Überlegungen gelten 64 65 66
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A. v. Humboldt: Versuche, Bd. 2, S. 361. Ebd., Bd. 1 , S . 7. Zu Aspekten der forschenden Gemeinschaften im Zusammenhang mit der Erforschung der Elektrizität seit dem 18. Jahrhundert vgl. Stichweh: Die Entstehung des modernen Systems, S. 2 5 2 - 3 1 7 . Vgl. auch Alexander von Humboldt als Experimentator, S. 30: „Zur Verifikation der Versuchsergebnisse waren die Forscher auf Demonstrationsversuche vor Zeugen angewiesen, da es sich bei den Versuchsgeräten meistens um Unikate der Experimentatoren handelte." Von einer „Wandlung der polyhistorischen ,Gelehrsamkeit' alten Stils zur lebendigeren, der polemischen Auseinandersetzung dienenden Wissenschafts- und Literaturpraxis der bürgerlichen Intelligenz im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts" spricht Siegfried Seifert mit bezug auf die Jenaische Allgemeine Literaturzeitung (Siegfried Seifert: „Eine vollständige Ubersicht der Kantischen Grundsätze". Die Jenaer „Allgemeine Literatur-Zeitung" und ihr
Humboldts Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser
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in den Versuchen dieser literarischen Öffentlichkeit: „Ich war mit diesen Versuchen (welche ich zuerst bei meinem Aufenthalt in Jena gemeinschaftlich mit Herrn von Göthe und meinem älteren Bruder anstellte) lebhaft beschäftigt, als ein Zufall mich auf eine merkwürdige Entdeckung lenkte."68 Jena steht dabei nicht nur für Autobiographik und Kontingenz der Forschung, es kann durchaus als Metonymie einer Wissenschaft gelesen werden, die sich als Umsetzung des gelehrten Gesprächs in literarische Öffentlichkeit vollzieht. Die Schwächen einer nicht normalen Wissenschaft werden dabei nicht nur rhetorisch und philosophisch kompensiert, sie werden zum Motiv eines besonders hoch bewerteten Erkenntnisinteresse, das Humboldt schlechthin als „litterarisches Interesse" identifiziert. So heißt es in der Einleitung zum zweiten Band der Versuche polemisch: Man hält den philosophischen Forschungsgeist zurück, die Bahn zu verfolgen, auf der er sich den innern Zusammenhängen seiner Erkenntnis aufzufassen schmeichelt, und setzt ihm ein bestimmtes äusseres Ziel, nach dem er mittelbar hinarbeiten soll. Man vergisst, dass die Wissenschaften einen innern Zweck haben, und verliert das eigentlich litterarische Interesse, das Streben nach Erkenntniss, als Erkenntniss, aus dem Auge. 69
Erkenntnis ist nicht ein objektiviertes Wissen, sie ist nicht ein subjektiver Akt, sie ist vielmehr ein Pro2ess, der sich im Lesen und Schreibens einer gelehrten oder forschenden Gemeinschaft vollzieht.
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Beitrag 2ur Kritik in einer Zeit des Umbruchs und Aufbruchs, in: Friedrich Strack (Hg.): Evolution des Geistes: Jena um 1800: Natur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Spannungsfeld der Geschichte, Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 275-293, S. 287. A. v. Humboldt: Versuche, Bd. 1, S. 76. Ebd., Bd. 2, S. 4.
Die amerikanische Reise und ihre europäische Veröffentlichung
Humboldts Reise und seine „Reise" Berühmt ist Alexander von Humboldt vor allem für seine amerikanische Reise in den Jahren 1799 bis 1804. Die Wissenschaft beruft sich bis heute auf Ergebnisse seiner Expedition, und weit über die gelehrte Welt hinaus war und ist das Publikum fasziniert von der Abenteuerlichkeit eines spektakulären Unternehmens, das ein einzelner Privatmann geplant und zu einem glücklichen Ende mit bleibendem Erfolg geführt hat — unterstützt natürlich von vielen, unter denen Aime Bonpland an erster Stelle zu nennen ist. Die asiatische Expedition des Sechzigjährigen im Jahre 1829 konnte in der Vorstellung der Zeitgenossen und Späteren nie mit der amerikanischen konkurrieren. Seither gilt Alexander von Humboldt als Inbegriff eines reisenden Forschers und als Verfasser von Werken, die entweder schon dem Titel nach, in ihrem Gegenstand oder zumindest in Spuren Dokumentationen dieser Reise sind. Humboldt ist also Verfasser von „Reisen". In diesem metonymischen Ausdruck, der das empirische Ereignis auf seine symbolische Darstellung überträgt, liegt der Ausgangspunkt für Überlegungen, die das Literar- und Kunstgeschichtliche betreffen ebenso wie das Wissenschaftsgeschichtliche. Das gilt vor allem für die Ansichten der Natur und einen guten Teil der vielbändigen Voyage aux regions equinoxiales du Nouveau Continent als sein umfangreichstes und niemals ganz vollendetes Werk.
Der „geographische Modus der Erfahrung" 1 und seine Universalisierung Die Reisen der Neuzeit haben die gelehrte Welt mit einer Überfülle empirischen Materials konfrontiert, die die überkommenen Formen der Taxonomie, Systematisierung und Archivierung an ihre Grenzen geführt haben.2 Die Zufälligkeit der Anlässe, Zwecke und Routen dieser Reisen und der vielen begegnenden Eindrücke steht im Gegensatz zu einer Forschung, die immer höhere Ansprüche an die Methoden und Techniken 1 2
S o formuliert Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1 7 4 0 - 1 8 9 0 , Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 46. ,,[W]eil der wirkliche, geographische und irdische R a u m , in d e m wir uns befinden, uns die miteinander verflochtenen Wesen in einer O r d n u n g zeigt, die in Beziehung zur großen Fläche der Taxinomten nichts anderes als Zufall, U n o r d n u n g oder Verwirrung ist." Michel Foucault: D i e O r d n u n g der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 7. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp T W 1988 [1971, Paris 1966], S. 192. E b e n diese U n o r d n u n g werde in einer genetisch-historischen Betrachtung der N a t u r aufgehoben, die freilich im Gegensatz zur Klassifikation stehe.
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Die amerikanische Reise und ihre europäische Veröffentlichung
der wissenschaftlichen Aufarbeitung stellt. Auch Humboldts amerikanische Reisen hingen 1799 bis 1804 in einer kriegerischen Epoche von vielen Unwägbarkeiten ab. Günstige Gelegenheiten schienen ihn vorerst nach Nordafrika und dann unter französischer Ägide zu einer Weltumsegelung zu führen — Pläne, die durch die Politik vor allem Frankreichs und Englands vereitelt wurden. Ähnlich hätte es mit dem dann doch geglückten Aufbruch aus Spanien, aus La Coruna, geschehen können. Selbst am lateinamerikanischen Reiseziel wurden die Itinerarien Humboldts und Bonplands immer wieder umgelenkt, was zunächst nicht auf die systematische Erschöpfung bestimmter Fragestellungen hindeutet, und das, obwohl die Reise — durchaus exzentrisch in ihrer Epoche — rein wissenschaftlichen und nicht wirtschaftlichen, politischen oder militärischen Zwecken galt.3 Die einschneidenste Änderung der Route betraf wohl Humboldts Verzicht auf eine Heimkehr über die Südsee und Asien, die erst die Expedition zu einer wirklichen Weltreise gemacht hätte.4 Die Abhängigkeit von Transportgelegenheiten, Gastgebern, Korrespondenten, den spanischen Behörden und ihrem Gegensatz zu portugiesischen und englischen Interessen, von Krankheiten sowie vor allem von den Pfaden, die frühere Erforschungen in den bereisten Gebieten physisch und intellektuell geebnet hatten,5 bestimmte allenthalben Humboldts und Bonplands Bewegungen. Auf der anderen Seite führte gerade die zunächst chaotische, massenhaft angesammelte Erfahrung vieler Reisenden, Humboldts wie seiner Vorgänger, zu einer neuen Qualität des empirischen Denkens. Im 18. Jahrhundert wurde der Globus soweit erschlossen und dokumentiert, dass sich erstmals der Eindruck einer umfassenden und fassbaren Erde einstellte.6 Rational ließ sich vom Bekannten auf das noch Unbekannte schließen;
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Vgl. Margot Faak und Christian Suckow: Einleitung zu Alexander von Humboldt: Reise durch Venezuela. Auswahl aus den amerikanischen Reisetagebüchern, hg. von Margot Faak, Berlin: Akademie-Verlag 2000 (=Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 12), S. 11. Vgl. zum Beispiel Humboldts Brief an Clavijo y Fajardo vom 12.6.1802: „Le nombre de nos Manuscriptes, plans, dessins, collections a tellement augmente que la crainte de les exposer par le Voyage aux Philippines et au Cap comme la Consideration que nos instrumens commencent ä se deranger, nous a fait prendre la resolution de ne pas retourner par l'Asie, mais de revenir par Lima, Acapulco, le Mexique et la Havane." „Das Große und Gute wollen". Alexander von Humboldts Briefe aus Amerika 1799-1804, hg. von Ulrike Moheit, Berlin: Akademie-Verlag 1993 (=Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 16), S. 181. Im Folgenden zitiert als BaA, Seite. Faak weist darauf hin, dass Humboldt insofern nicht vorwiegend Pionier völlig unbekannter Gegenden und Fragestellungen war, als ein großer Teil seiner Bemühungen der kritischen Uberprüfung der vorliegenden Literatur galt (Faak: Reise durch Venezuela, S. 13). Vgl. Gerhard Schulz: Erfahrene Welt. Berichte deutscher Weltreisender am Ubergang vom 18. ins 19. Jahrhundert, in: Antipodische Aufklärungen. Festschrift Leslie Bodi, hg. von
Humboldts Reise und seine „Reise"
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kaum noch stand hingegen zu erwarten, dass es das ganz Andere, das völlig Überraschende sein würde. Je mehr der Reisende die Orte seiner wissenschaftlichen Beobachtungen konsequent wechselt, desto mehr ist er zu Generalisierungen befähigt; dagegen müsste Sesshaftigkeit, wie Rudolf Stichweh darlegt, zur methodischen Beschränkung für die von Humboldt entwickelte „kosmische Physik" oder „physique du monde" werden. 7 Wissenschaftliche Aussagen von globaler Tragweite setzen daher einen „implizit geographischen Modus der Erfahrung im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert" voraus.8 Allein die Reisetätigkeit, die Anwesenheit an Orten, die sich vielleicht weniger in Einzelheiten, dafür aber in der Kombination und im Zusammenhang ihrer Elemente unterscheiden, erzeuge einen „multidisziplinären Komplex", so wiederum Stichweh, auf den der Begriff der „Humboldtian Science", das heißt „the science of measuring worldwide variables" angewendet worden sei.9 Die neuere Kulturwissenschaft widmet sich verstärkt den räumlichen Verhältnissen, von denen die Formulierung und Organisation spezifischen Wissens abhängt.10 Das Motiv für diesen Ansatz liegt in der Kontextuaüsierung theoretischer Erkenntnis, die nicht in einem neutralen Raum entstehe, sondern in konkreten geographischen, regionalen, lokalen, sozialen Räumen, in der räumlichen Disposition institutionellen und disziplinären Arbeitens oder der Vermittlung dieses Wissens zwischen sozialen Sphären, schließlich in Abhängigkeit von Symboliken und Repräsentationsformen, die Platz brauchen und lokalisierbar sind. Es handelt sich um einen Perspektivenwechsel, der auch Humboldts Reise und ihre Auswertung betrifft: Die einander ablösenden Aufenthalte in Amerika und Europa determinieren die wissenschaftliche Arbeit und ihre Dokumentation.
7 8 9 10
Walter Veit, Frankfurt a.M., Bern New York 1987, S. 4 3 9 - 4 6 5 , hier S. 448 („dadurch wird die Erde wirklich rund"). Ausdrücklich im Blick auf Humboldt stellt dies Stichweh heraus: Zur Entstehung des modernen Systems, S. 475. Ebd., S. 46. Stichweh bezieht sich dabei (S. 46) auf Susan Faye Cannon: Science in Culture: The Early Victorian Period, New York: Dawson and Science History 1978. Eine prägnante Zusammenfassung dieses jüngeren Zweigs der kulturalistischen Wissenschaftsgeschichtsschreibung gibt Mitchell G. Ash: Räume des Wissens — was und w o sind sie?, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 235-242. In der Fortsetzung des Konzeptes der „Humboldtian Science" befasst sich Andreas Daum mit der Räumlichkeit der Humboldtschen Erkenntnisweise: Alexander von Humboldt, die Natur als .Kosmos' und die Suche nach Einheit. Zur Geschichte von Wissen und seiner Wirkung als Raumgeschichte, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 243—268. Uber die Forschungsreise als räumlicher Modus der Wissensorganisation vgl. Jean-Marc Drouin: Von Linne zu Darwin: Die Forschungsreisen der Naturhistoriker, in: Michel Serres (Hg.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998 [Paris 1989],
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Die amerikanische Reise und ihre europäische Veröffentlichung
Im Lichte einer Kulturwissenschaft des Raumes rückt auch die Beschreibung der Reise als multidisziplinäres Unternehmen in eine veränderte Perspektive. Denn es sind nicht schlechthin die Ergebnisse institutionalisierter wissenschaftlicher Disziplinen, die ein Reisender wie Humboldt seinen Aussagen über den Globus zugrundelegt. Vielmehr ist es die unermüdliche Datenerhebung und Interpretationstätigkeit eines einzelnen und seines Mitarbeiters, zahlreiche Phänomene und Parameter betreffend. Natürlich setzt diese Forschung einen gegebenen Stand der Wissenschaften voraus. Die Infrastruktur dieser Wissenschaften, derer sich Humboldt und Bonpland bedienten, vor allem die Instrumente 11 und wachsenden Archive sind jedoch dabei aus ihrem herkömmlichen Kontext disloziert, man kann auch sagen, die institutionellen und sozialen Grundlagen einer bereits etablierten Wissenschaft sind auf die individuelle Betätigung zweier Reisender an variablen Orten reduziert, womit ein wichtiges Moment wissenschaftlicher Differenzierung und Institutionalisierung ignoriert oder wieder rückgängig gemacht wird.12 Humboldt und Bonpland üben sich also in einer individualistischen und zugleich itinerierenden Wissenschaft, die zwangsläufig radikale Beschränkungen gegenüber einer institutionalisierten Forschertätigkeit voraussetzt. Die drastischste ist eben die Reduktion des gesamten Erkenntnisprozesses auf ein oder zwei empirische Subjekte, die nur kompensiert werden kann durch die Annahme der restlosen Universalisierbarkeit individuell erworbenen Wissens. Die amerikanische Reise wird daher in der Wahrnehmung der Zeitgenossen weniger zu einer neuen „Conquista" hinter wissenschaftlichem Vorzeichen als zu einer neuen Robinsonade: Das Individuum Humboldt repräsentiert die gesamte Menschheit; nicht insofern sie sich die einsam erschlossene Natur Untertan zu machen versteht, sondern insofern sie die Natur in einsamer Leistung, so will es scheinen, erkennt. Das Vertrauen in die universale Geltung der eigenen intellektuellen, affektiven und moralischen 13 Vermögen schlägt sich allenthalben in Humboldts Schriften nieder, von den einen als Eitelkeit und Größen11
Zur Ausstattung der Reisenden mit neuesten und präzisen, zugleich portablen, aber nur bedingt tropentauglichen Instrumenten vgl. Max Seeberger: „Geographische Längen und Breiten bestimmen, Berge messen". Humboldts wissenschaftliche Instrumente und seine Messungen in den Tropen Amerikas, in: Alexander von Humboldt. Netzwerke des Wissens, S. 57f.
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Zur Individualität des reisenden Forschers vgl. Peter Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur: ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte, in: IASL. Sonderheft 2, Tübingen 1990. Erst später werde der individuelle Forschungsreisende abgelöst vom „reisenden Forschungsinstitut" (S. 189).
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Brenner spricht von „reflektierter Empirismus, der durchgängig auf einer moralischen Basis fußt" (Brenner: Der Reisebericht, S. 461).
Humboldts Reise und seine „Reise"
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wahn, von den anderen als einzigardge Souveränität bewertet, und führt dazu, dass die wissenschaftlichen Aussagen über globale Phänomene nicht mehr ablösbar erscheinen von der Person des Reisenden und seiner ureigensten Erfahrung. Humboldt dem Reisenden wird nun hyperbolisch die Kenntnis des ganzen Erdballs, der ganzen Welt zugeschrieben. Es wird sich noch zeigen, wie sehr er selbst den Eindruck unterstützte, bei seinen Reisen ausschnitthaft alles nur Denkbare gesehen und erforscht zu haben. Die Universalisierung der individuellen Leistungen gleicht nicht nur den Mangel institutioneller und diskursiver Umgebungen aus. Im Gegenteil: der Autor der Reise stilisiert seine Itinerarien vielfach zur Bewegung in der reinen Natur, verschleiert dabei immer wieder die Notwendigkeit, sich auch in Amerika in ausgetretenen pragmatischen und kognitiven Pfaden zu bewegen.14 Denn gerade die Natur garantiert, ganz in der Tradition der Aufklärung, die Universalität der sonst vielleicht kontingent wirkenden Erfahrungen. Die Vernunft hinter der forschenden Tätigkeit ist angeboren, sie ist den physischen Phänomenen selbst inhärent; der gefühlsmäßige Einklang zwischen dem Reisenden und der Natur ist in seiner Anthropologie begründet; und wenn Humboldt den Völkern des Neuen Kontinentes in weltbürgerlicher Absicht begegnet, so artikuliert sich eine Moral, die im Naturrecht gründet. Der Zusammenhang zwischen Vernunft, Empfindung, Moral ist zwingend. Die Erkenntnis eines ganzen Kontinents, und später der ganzen physischen Welt ist nur unter der Voraussetzung durch ein einziges Subjekt zu bewältigen, dass dieses eine Subjekt die wichtigsten Prädikate der universalen Natur in sich trägt oder von Natur aus sich assimilieren kann: Vernunft, Schönheit, Erhabenheit, Freiheit. Die Möglichkeiten, diese universalisierbare Kombination menschlicher Vermögen in der Erkenntnis der Natur zu artikulieren, sind dabei kaum in einer disziplinären Forschung präformiert, sondern in der Philosophie sowie in Gattungen der bildenden Kunst und der Literatur. Dabei ist die wissenschaftliche Ausbeute der Reise zweifellos eindrucksvoll. Dazu gehören etwa die imposanten Listen von Pflanzen,15 die Humboldt und Bonpland erstmals beschrieben haben. Es gehören dazu Dokumentationen und neue komparative und synthetische Verfahren der 14
15
Vgl. Marie Louise Pratt: Imperial Eyes — Travel writing and Transculturation, London, New York: Roudedge 1992, S. 111-143, S. 126. Pratt deutet im Rahmen ihrer Interpretation eines kolonialen Habitus in Humboldts Reisebeschreibung die Isolierung der Natur als ideologische Eliminierung der Bevölkerung. Vgl. Nova genera et speäes plantarem, 7 Bde., Paris 1815-1826 und Synopsis plantarum, 4 Bde., Paris 1822-1826, in denen die 3000 von Humboldt und Bonpland gesammelten Species dokumentiert sind. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 327 und 336.
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Deskription, die dem Prozess der wissenschaftlichen Disziplinenbildung, Institutionalisierung und Professionalisierung entschiedene Impulse verliehen haben.16 Die Fortschreibung Humboldtscher Erkenntnisse in der Disziplinengeschichte legt aber den Anspruch, die Totalität der Natur zu beschreiben, schon sehr bald ab.17 Neben der speziellen forschenden Tätigkeit, die für den Wissenschaftsbegriff des späteren 19. Jahrhunderts und bis heute nichts zu wünschen übrig lässt, beherrscht Humboldts Erkundungen und ihre Dokumentation in Text und Bild dagegen noch das Pathos eines prinzipiell erschöpfenden Subjektes, eines Wissens, das sich in einem einzelnen so gut repräsentiert wie in ganzen Gelehrtengenerationen. Diesem Subjekt stehen philosophische und künstlerische Wege zur Erkenntnis ganz ebenso an wie sonst Datenerhebungen und Theoriebildungen. Der später erhobene Vorwurf, Humboldt habe ja gar nicht alles aus eigener Kenntnis sehen können, und der dazugehörige, er habe sich dichterische Freiheiten herausgenommen,18 muss an einem historischen Verständnis von Humboldts Forschertätigkeit abgleiten. Er ging davon aus, dass ein einzelner um so mehr erkennen kann, je größer das Spektrum der erschließenden Kulturtechniken ist, über das er persönlich verfügt. Gelehrte und poetische Bücher, technische und künstlerische Abbildungen, Karten, Tabellen, Präparate, Instrumente, alles besteht gleichrangig nebeneinander, sofern sich nur eine Persönlichkeit kompetent damit befasst. Dieser persönlichen Autorität wird das Publikum mehr als jeder einzelnen ihrer Darlegungen glauben. Wie eng der Individualismus der Erkenntnis an die spezifisch geographische Erfahrung gebunden blieb und der Immanenz disziplinarer Erkenntniswege vorgelagert war, illustriert die von Humboldt entscheidend vorangetriebene Magnetismusforschung. Nachdem er selbst an verschiedenen Orten und unter verschiedenen Bedingungen magnetische Messungen durchgeführt hatte, regte Humboldt an, dass über den Globus Messstationen verteilt und dadurch aus den Itinerarien eines einzelnen Reisenden die simultanisierte Erhebung durch mehrere Personen vor Ort hervorging. In den Protokollen der Messungen und ihrem Vergleich erschöpfte sich dabei dem frühen Humboldt die Mathematisierung der Forschung. Die so erhobenen Daten lösten sich jedoch in der Koordination der mathematischen Auswertung von den empirischen Forscherindi16 17 18
Faak: Reise durch Venezuela, S. 14. Ebd. Vorbehalte dieser Art meldet Bernhard Richter an: Die Entwicklung der Naturschilderung in den deutschen geographischen Reisebeschreibungen mit besonderer Berücksichtigung der Naturschilderung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Euphorion, 5. Ergänzungsheft, Leipzig, Wien 1901, S. 1 - 9 3 , hier S. 9.
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viduen. Die Emanzipation der disziplinären Wissenschaft von der geographischen Erfahrung vollzog sich dann in den Arbeiten des von Humboldt überaus geschätzten jüngeren Karl Friedrich Gauß, dessen Berechnungen die Magnetismusforschung in eine weit abstraktere Phase der Theoretisierung zogen. Ein mathematischer Raum ersetzte zunehmend den geographisch erfahrenen, zugleich löste sich der Erkenntnisprozess, der sich heuristisch in einem zentralen Raum bewegte, von der Empirie der Erscheinungen. Humboldt konnte diese Forschung wohl auch insofern nicht mehr ganz nachvollziehen, als in ihr Reisetätigkeit, sinnliche Erfahrung und Autopsie kaum noch eine Rolle spielten.19 Zeit seines Lebens legte er größtes Gewicht auf seine ureigensten Wahrnehmungen vor Ort und hielt Naturforschung ohne Aufenthalt in der Natur offenbar für widersinnig, zumindest stark reduktiv. Dem Zoologen Achille Valenciennes gegenüber machte er zum Beispiel aus diesem Grund seinen Lehrer Georges Cuvier lächerlich, einen treffenden deutschen Ausdruck mit Genuss in den französisch abgefassten Brief einfügend: „Rien ne caracterise plus ce que nous apellons .Stubengelehrter'. Quelqu'un qui est accoutume ä voir la nature en grand et ä vivre en plain air n'aurait pas de ses images mesquines. „20 Kritisiert wird damit offenbar die Begrenztheit einer Forschung, die sich mit der Arbeit im Freien auch der spezifischen Qualität von Erfahrung begibt, wobei Humboldt zugleich die Größe, also Erhabenheit der Natur auf der einen und die Kümmerlichkeit der im Zimmer analysierten Präparate zum Qualitätsmerkmal der Forschung schlechthin macht. Es ist nur ein Hinweis auf die rhetorische Prägung empirischer Naturwahrnehmungen bei Humboldt. Die „philosophische Reise" als literarische Gattung Der geographische Modus der Erfahrung, der Humboldts Reise und ihre wissenschaftliche Ausbeute bestimmt, wirkt sich also auf die Konstruktion disziplinengeschichtlich verwertbarer Erkenntnisse aus. Doch eben kaum in der Disziplinengeschichte, selbst nicht in der Geographie als Sammelwissenschaft, finden sich die Modelle, die den reisenden Humboldt als Autor prägen, so dass er in der öffentlichen Wahrnehmung zum Symbol 19
20
Vgl. John Cawood: Terrestial Magnetism and the Development of International Collaboration in the Early Nineteenth Century, in: Annals of Science 34 (1977), S. 5 5 1 - 5 8 7 , besonders S. 580-586. Vgl. auch Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauss, hg. von Kurt-R. Biermann, Berlin: Akademie-Verlag 1977 (^Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 4), S. 8. Jean Theodorides: Une amitie de savants au siecle dernier: Alexander von Humboldt et Achille Valenciennes (Correspondance inedite), in: Biologie Medicale LIV 63e annee, numero hors serie. Fevrier 1965, S. I - C X X I X , hier S. LIV.
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der Naturerkenntnis schlechthin wird. Die Universalisierung individueller Erfahrung, die erst empirisches Wissen als Repräsentation der ganzen Natur möglich macht - sie hat ihren Platz in der literarischen Gattung der Reisebeschreibung, genauer in einer bestimmten Phase ihrer Geschichte. Mit Humboldt komme diese Phase zum Abschluss: „die Epoche des philosophischen Reiseberichts', wie ihn die späte Aufklärung hervorgebracht hat, ist nach Humboldt endgültig zu Ende."21 Humboldt selbst hat sich zu dem Vorbild bekannt, das ihm beim Verfassen seiner „philosophischen" Reise, und mehr noch, beim Reisen selbst vorschwebte. Zu den prägenden Eindrücken unter seinen Jugendlektüren gehörte Georg Forsters Reise um die Welt, die Beschreibung der Expedition unter James Cook 1772 bis 1775 in die Südsee, die ihn in ganz Europa schon als jungen Mann berühmt gemacht hatte.22 Wie aus einer authentischen Reise ein reflektiertes literarisches Werk wird, konnte Humboldt übrigens persönlich erfahren, als er etwa zehn Jahre nach seiner ersten Bekanntschaft mit der Reise um die Welt in den Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790 die Dokumentation einer Reise in Händen hielt, auf der er den Autor Forster selbst begleitet hatte.23 In Forsters Reisebeschreibungen fand Humboldt auch das Modell für die Universalisierbarkeit individueller Erfahrung: Mögliche Widersprüche, Zweifel und Ambivalenzen wurden in Forsters jüngerem wie älterem großen Reisewerk durch die Vernunft und Empfindung des Berichtenden aufgefangen, übrigens auch die Skepsis, der Enthusiasmus, die Ideale. Alles war vergleichbar, wenn einmal die Geltung universaler Normen für jedes Individuum vorausgesetzt wurde. Noch für Humboldt sollte es so sein: Selbst das Befremdlichste, was ihm auf seinen Reisen begegnete, blieb mit dem Vertrauten vergleichbar, war Teil der einen Welt.24 Ein Mann, der seine Kinder säugt, war kein Wunder, keine Monstrosität, sondern ein natürliches, wenn auch seltenes Phänomen. Ein wichtiger Begriff der Humboldtschen Studien ist daher das „Oszillieren", das heißt die unbestimmte, aber durchaus von der Natur gesetzlich bestimmte Bandbreite möglicher Variationen. Nicht nur der Vergleich innerhalb einer Klasse von Phänomenen sichert Gemein21 22 23 24
Brenner: Der Reisebericht, S. 467. A Voyage round the World, London 1777, deutsche Übersetzung des Verfassers 1778— 1780. 3 Bde., Berlin 1 7 9 1 - 1 7 9 4 . Wilhelm Richter: Der Wandel des Bildungsgedankens, Berlin: Colloquium 1971, S. 26. Vgl. auch Engelhard Weigl: Enthusiasmus. Alexander von Humboldts Rezeption der tropischen Natur, in: Internationaler Germanisten-Kongreß in Tokyo 1990. Begegnung mit dem „Fremden". Grenzen - Traditionen - Vergleiche, hg. von Eijiro Iwasaki, Bd. 7, Sektion 12 und 13, München: Iudicium 1991, S. 2 3 2 - 2 3 8 , S. 235: „Das Mittel der Beschreibung ist der Komparativ".
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samkeit. Selbst die Erscheinungen ganz unterschiedlicher Forschungsgebiete sind einander korrelierbar, gehören sie doch der einen Landschaft, der einen Natur an, dem einen Denken. Extrapolationen aus dem Gegebenen erleichtern den Nachvollzug von Genesen und den Entwurf von Prognosen, aus stichpunktartigen Datenerhebungen ergeben sich Kontinuitäten und Analogien. Der angenommenen Rationalität der einen Welt, die alles umfasst und mit der die Unwägbarkeiten des Reisens auf wissenschaftliche Parameter reduziert werden können, steht verwandt die Vernunft des Reisenden gegenüber. Aber auch fühlend, in der sinnlichen Erkenntnis, kann er die Masse der Phänomene zur Einheit zusammenfügen. Wenn schon Humboldts Versuche und diverse Beobachtungen Wissenschaft auf die Geschichtlichkeit und Anthropomorphic jeder Erfahrung beziehen, so noch viel mehr die Reisebeschreibung.25 Das Genre wurde seit dem 18. Jahrhundert zu einer „angesehenen, gewissermaßen obligaten Gattung."26 Zweifellos hatte es mit der Identifikation von Lesern mit reisenden Autoren und Autorinnen zu tun, deren Intelligenz und Empfindung faszinierten und Teilnahme weckten. Die Personalunion aus historischer Gestalt des Reisenden, Hauptfigur der Reiseerzählung und Autor verknüpfte Erfahrung, verallgemeinerndes Wissen und die Form ihrer Vermitdung aufs engste.27 Die Aufmerksamkeit galt außer den fremden Ländern und Gegenden, in die ihr Weg die Reisenden führte, doch stets auch der betonten oder verschleierten Darstellung subjektiver Erfahrung. Besonders wenn das Gefühlsleben der Reisenden repräsentiert wurde, lag der Übergang in die Kunstform der fiktionalen Reise nahe. Die Möglichkeiten variierten von den sachlicheren Reiseberichten bis zur SenHmental Journey Lawrence Sternes von 1768, in dem der fiktive Reiseverlauf auf Schritt und Tritt unwillkürlich innerliche Erlebnisse auslöst. Wohin immer das Pendel ausschlägt, ins Objektive oder ins Subjektive, ins Dokumentarische oder ins Fiktionale: Die Gattung ist für Wissensverarbeitung und Wissensvermitdung zwischen der Empirie und Kontingenz des Reiseverlaufs auf der einen und der synthetischen Kraft 25
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Eine der frühesten literargeschichtiichen Würdigungen Humboldts im Kontext der Reiseliteratur findet sich bei Heinrich Kurz: Geschichte der deutschen Literatur mit ausgewählten Stücken aus den Werken der vorzüglichsten Schriftsteller, Leipzig: Teubner 1859, 3. Bd., S. 763f. Der Verfasser ist in der Literatur dieser Gattung offensichtlich gründlich instruiert. Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 2, S. 239. Sengle geht auch auf die für die Gattung typische „Spannung zwischen Sachlichkeit und Beseelung" ein (S. 247), etwa in Adalbert von Chamissos „Reise um die Welt", die auch unter dem Eindruck der Humboldtschen Forscherexistenz stattfand und geschrieben wurde (vgl. auch Brenner: Der Reisebericht, S. 451). Vgl. Brenner: Der Reisebericht, S. 21.
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eines als unhintergehbar angesehenen individuellen und doch allgemein verständlichen Denkens und Fühlens ideal. Humboldts Reisebericht bewegt sich sehr weit ins Sachliche, ohne dass jedoch die anthropologische Grundlegung des Wissens aufgegeben würde. Die Geistesgeschichte hat diese anthropologische Fundierung universalisierbaren Wissens als Humanismus bezeichnet, womit besonders unterstrichen wird, dass der Verfasser seine Forschungen ganz selbstverständlich auf Werte und Normen bezieht. Die politische und moralische Seite jener Reisen, die aufgeklärte Subjekte in ferne Länder führt, zeigt den Reisenden als „Weltbürger", ein Terminus durchaus europäischen Ursprungs.28 Mehr noch als der Begriff des Humanisten oder auch der des Kosmopoliten, der in der aktualisierenden Würdigung Humboldts geltend gemacht wird, um seine Globalisierungsfähigkeit ante litteram zu unterstreichen, bezieht sich der Begriff des Weltbürgers auf die naturrechtliche Fundierung derjenigen Normen, die von der aufklärerischen Philosophie als universal ausgegeben werden. In einem solchen naturrechtlichen Denken gründet Humboldts Kritik an der Sklaverei, an Erscheinungen der ökonomischen Ausbeutung, seine Teilnahme an den Unabhängigkeitsbewegungen in Lateinamerika. Ein Leitbegriff in Humboldts moralischen Urteilen ist Freiheit, die ebenfalls naturrechtlich fundiert ist, und die sich als Sympathie mit den Ideen von 1789 artikuliert. In der Idealisierung der alten Griechen als eines freien und menschlich vollkommenen Volkes schafft sich diese naturrechtliche Vorstellung eine historische Manifestation und ein geeignetes Symbol. Die traditionellere Geistesgeschichte und Ideengeschichte hat einzelne und zumeist isolierte Bewertungen Humboldts bestimmter politischer und ökonomischer Erscheinungen für das Ganze seiner Überzeugung genommen und an einem angenommenen gegenwärtigen Stand der politischen und ethischen Diskussion bemessen. Seine Adelskritik, seine Verurteilung der Sklaverei, seine Kritik ökonomischer Ausbeutung, sein Antiklerikalismus, seine Sympathie für die Unabhängigkeitsbewegungen seien zu loben.29 Die neuere Forschung revidiert hingegen Humboldts 28
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Im Zeichen dieser Weltbürgerlichkeit steht auch Ottmar Ettes Untersuchung: Weltbewußtsein. Alexander von Humboldt und das Projekt einer anderen Moderne, Weilerswist: Velbriick Wissenschaft 2002. Ette versucht den historischen Begriff der Weltbürgerlichkeit, dessen Wurzeln in der europäischen Aufklärung er nicht verkennt (S. 72), so weit wie möglich auf aktuelle Theoreüsierungen von Interkulturalität und Alteritätserfahrungen zu beziehen. Nur ein Beispiel: Manfred Kossok: Alexander von Humboldt als Geschichtsschreiber Lateinamerikas, in: Michael Zeuske (Hg.): Alexander von Humboldt und das neue Geschichtsbild von Lateinamerika, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 1992 (=Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung, 2), S. 1 8 - 3 1 , hier S. 24. Charakteristisch für die Identifikation von Person und moralischen Normen ist auch eine von Manfred Osten herausgegebene Anthologie aus Texten Humboldts unter dem Titel
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weltbürgerliche Sicht auf Amerika in einer lebhaften Produktion von kulturwissenschaftlichen Beiträgen, denen Theorien der Transkulturalität, Interkulturalität oder Alterität zugrundeliegen.30 Dabei verfallen die expliziten und impliziten Urteile, die der Reisende Humboldt zu den Erscheinungen interkultureller Relationen fällt, als Teile historischer Diskurse und der Mentalitätsgeschichte einer ideologischen oder historischen Kritik. Wenn aber, wie hier versucht wird, Humboldts Modellierung von Wissen an aufklärerische Philosophie, an die Prämisse der anthropologischen Einheit von Vernunft, Ästhetik und Ethik und ihre Universalisierung und deren spezifische Erkenntnismodalitäten an Gattungskonventionen gebunden sind, dann stoßen implizite Normen, die mit inter- oder transkulturalistischen Theorien, besonders postkolonialer Kulturtheorie einhergehen, bei der Interpretation seiner Reisebeschreibung leicht an ihre Grenzen. Sobald der Begriff „Eurozentrismus" fällt, kann keine Kritik an einer von mehreren denkbaren historischen Varianten mehr geleistet werden, unter denen Humboldt hätte auswählen können, 31 sondern nur noch wirkungslos die Unhintergehbarkeit eines kulturellen Horizontes denunziert werden.32 Dieser Horizont schließt sich um Humboldt als eine gelehrte Kultur, von der seine empirischen Recherchen ausgehen und zu deren Ergänzung sie beitragen sollen. Diese Kultur wiederum umfasst ein Spektrum wissenschaftlicher und philosophischer Interpretamente, deren fundamentale Kritik nicht zur Diskussion stand, sondern höchstens ihre Korrektur im Rahmen einer für die Aufklärung konstitutiven Selbstkritik. Sie umfasst eine Sozialisation in spezifischen Milieus, deren amerikanische
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„Über die Freiheit des Menschen. Auf der Suche nach Wahrheit", Frankfurt a.M.: Leipzig: Insel 1999. Außer der bereits genannten Studie von Pratt, Imperial Eyes von 1992: Paul Michael Lützeler (Hg.): Schriftsteller und „Dritte Welt", Frankfurt a.M.: Fischer 1996; Thomas Strack: Alexander von Humboldts amerikanisches Reisewerk. Ethnographie und Kulturkritik um 1800, in: German Quarterly 69 (1996), S. 233—246; Susanne Zantop: Kolumbus, Humboldt, Heine: Über die Entdeckung Europas durch Amerika, in: Alfred Opitz (Hg.): Differenz und Identität. Heinrich Heine, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1998, S. 79-89; Djelal Kadir und Dorothea Lökkermann (Hg.): Other Modernisms in an Age of Globalization, Heidelberg: Winter 2002. Pratt: Imperial Eyes, geht von der irritierenden Wahrnehmung aus, dass Humboldts Modellierung Amerikas sowohl für kolonisierende Europäer als auch für neue hispanoamerikanische Eliten akzeptabel sei (S. 112). Dagegen Eoin Bourke: „Der zweite Kolumbus?" Überlegungen zu Alexander von Humboldts Eurozentrismus, in: Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Tagungsakten des internationalen Symposions zur Reiseliteratur 1994, hg. von Theo Harden und Anne Fuchs, Heidelberg: Winter 1995 (=Neue Bremer Beiträge, 8), S. 137—151, wobei Bourke auf Humboldts „rationalistische Anthropologie" hinweist. Engelhard Weigl sieht denn auch eine Kontinuität zwischen den europäischen Landschaftbeschreibungen und denen in Lateinamerika und begründet damit, warum „die geistes- und mentalitätsgeschichtliche Stunde der Alteritätserfahrung noch nicht gekommen war": Engelhard Weigl, hier S. 234.
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Dependancen Humboldt anerkannte und von denen er sich als Autor und Gelehrter niemals distanzierte.33 Unter der Voraussetzung einer universalisierbaren Erkenntnisphilosophie führte die Reise nach Amerika nicht aus der einen Humboldt bekannten Welt heraus. Ihr Zweck war nicht die Erforschung des Anderen,34 sondern die empirische Füllung und Erweiterung bekannter Paradigmata. Ihr Ziel waren nicht die amerikanischen Länder, sondern die Zentren europäischer Bildung und Gelehrsamkeit, waren Berlin oder Paris. In einer neueren Studie, die den Zusammenhang zwischen Humboldts empirischen Reisen, den Konventionen und Varianten der Gattung Reiseliteratur und der Konstruktion spezifischer Wissensformen unterstreicht, wird als eigentlicher Abschluss der Reise sogar der mehrwöchige Aufenthalt in Rom im Jahre 1805 ausgegeben. Dort habe sich Humboldt noch einmal jenes „Orbis" vergewissert, der sich in der Urbs symbolisch repräsentiere: in der römischen Translatio der alten Welt und der weltweiten Präsenz der katholischen Kirche, in den Archiven, Bibliotheken und Sammlungen, die universales Wissen und das Erbe der Menschheit verwalten.35 Humboldts Kommentierung des Kupferstiches, der zuerst als Frontispiz für die Relation kistorique gedacht war, dann aber dem Atlas geographique et physique eingebunden wurde (vgl. Abb. 2), lässt ebenfalls auf die konsequente Einfügung aller neuen Erkenntnisse in einen abendländischen Kosmos schließen. Keinen besseren Vergleich findet Humboldt für die Erhebung des indigenen Amerika durch „humanitas, litterae, fruges", als die Kolonisierung des Mittelmeerraums durch die Griechen: das Titelkupfer, nach einer Zeichnung von Gerard gestochen, stellt Amerika dar; angesichts der Schrecken der Eroberung spenden Minerva und Merkur Trost. Darunter stehen die Worte humanitas, litterae, fruges. Plinius der Jüngere schreibt Maximus, dem Quästor von Bithynien, als dieser zum Statthalter der Provinz Achaia ernannt wurde: ,Bedenkt, daß die Griechen den anderen Völkern Kultur, Wissenschaft und Nahrung schenkten.' Eben diese Güter verdankt Amerika
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Humboldts vorübergehende Pläne sich als Forscher auf Dauer in Mexiko-Stadt niederzulassen, beruhen auf der Erwartung, diese Stadt werde bald mit europäischen Zentren konkurrieren können. Vgl. Petra Dietsche: Das Erstaunen über das Fremde, Frankfurt a.M.: Lang 1984 (=Europäische Hochschulschriften, I, 748), S. 100. Marie Noelle Bourget: Ecriture du voyage et construction savante du monde: Le carnet d'Italie d'Alexander von Humboldt (=Preprint des MPI für Wissenschaftsgeschichte, 266, Berlin 2004), S. 65: „Rome est pour le voyageur, durant les quelques semaines de son sejour, la ville universelle par excellence, qui offre dans ses monuments, ses musees et ses bibliotheques le materiau d'une enquete complete, tant sur l'histoire physique de la terre que sur les arts et les civilisations des peuples du monde"
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d e m alten K o n t i n e n t . W a f f e n , G e w ä n d e r , S c h m u c k , B a u t e n u n d Statuen sind mit großer G e n a u i g k e i t u n d T r e u e wiedergegeben. 3 6
Wo immer Humboldts Reisebeschreibungen Lesern von heute die Konfliktualität kolonialer Situationen verraten, sind einige wissensgeschichtliche und gattungsgeschichtliche Unvermeidlichkeiten zu berücksichtigen. Die Reisebeschreibung begünstigt zu Humboldts Zeit den Vergleich des Fremden mit dem Eigenen im Zeichen der einen Vernunft; sie begünstigt aber auch die Gestaltung oder den impliziten Ausdruck von Widersprüchen, die in die progressive Selbstkritik der Aufklärung eingehen können. Das symptomatische Beispiel für einen aufklärerischen Universalismus, der sich an einer Situation der „Fremde" abarbeitet, ist Humboldts Schilderung des Eindringens in die Grabhöhlen von Ataruipe, gleich dreifach überliefert als Tagebuchaufzeichnung, in den Ansichten der Natur und in der Relation historique. Die Textstufen variieren, wie der Romanist Ottmar Ette gezeigt hat, unterschiedliche Deutungen eines Vorgangs, der je nachdem als wissenschaftliche Erforschung mumifizierter Leichname eines ausgestorbenen indigenen Stammes gedeutet wird oder als Somatisierung eines verdrängten Tabubruchs erscheint.37 Im Lichte eines spätaufklärerischen Universalismus und der von Humboldt vorausgesetzten Anthropologie bieten sich folgende Deutungen der Episode an: Zum einen gibt es auch in Europa, und Humboldt hat es im Umfeld seiner anatomischen Studien erfahren, konkurrierende Diskurse, Normen und rationale Erklärungen, wenn es um die wissenschaftliche Erforschung von Leichnamen geht. Die Ächtung der Grabschändung aus theologischen Gründen oder aus Gründen einer säkularisierten Pietät auf der einen und das wissenschaftliche Interesse an der Sektion bezeugen die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Kulturstufen innerhalb des europäischen Modernisierungsprozesses. Zweitens sieht Humboldts Kulturanthropologie Ahndungen und Träume, dunkle Empfindungen auf der einen Seite und die sichere wissenschaftliche Erkenntnis auf der anderen als Stufen eines progressiven Kulturprozesses an.38 Im Falle der Höhlen von Ataruipe werden die mahnenden Führer der archaischeren Kulturstufe zugerechnet. Zur gewaltsamen Rationalisierung dessen, was die einheimischen Führer in Ataruipe als Tabubruch perhorreszieren, glaubt sich der Forscher berechtigt, soweit er sich auf die Überlegenheit der rezenteren Kulturstufe beruft. Von der eigenen Überlegenheit ist Humboldt überzeugt, insofern er die aufgeklärte Vernunft nicht als europäischen Diskurs, sondern als Universalie auffasst. Die 36 37 38
A. v. Humboldt: Reise in die Äquinoktialgegenden, S. 1609. Ette: Weltbewußtsein, S. 186-191. Eoin Bourke („Der zweite Kolumbus?", S. 145) spricht zu Recht von einem Stufenleiterkonzept des Fortschritts.
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animistische und die rationalistische Stufe der Kulturentwicklung können aus Humboldts Sicht aber auch als niedere und höhere seelische Vermögen ein und desselben Subjekts beschrieben werden. So gibt es, vor allem in den Ansichten der Natur, das Bewusstsein von einem authentischen Konflikt, der als Anerkennung der kulturhistorisch archaischeren Normen wirkt, aber auch als Anerkennung der eigenen niederen Seelenvermögen. Gerade die Phänomenologie der Empfindungen ist im Tagebuch, aber auch in der Reisebeschreibung oder in einer essayistischen Ansicht der Natur zugelassen. Ihr Gattungscharakter gestattet die Darstellung und den Ausdruck von Gefühlsregungen, seien sie nun schlechthin menschliche oder Residuen älterer Kulturstadien. Die Reisebeschreibung erzählt davon, welche Wirkung die Höhlen von Ataruipe auf die Einbildungskraft der Reisenden ausgeübt haben.39 Und die Ansichten der Natur berichten gar davon, wie die Leichname aus den profanierten Grabstätten zusammen mit vielen anderen wissenschaftlichen Materialien und der gesamten Besatzung des Schiffes, auf dem sie nach Europa befördert werden sollten, untergingen — dem schaudernden Publikum steht es frei, an die Macht der alten Götter und an ihre Rache zu glauben.40 Es ist ja eben ein Kriterium der literarischen Gattung Reisebericht, erst Recht der Gattung Tagebuch, dass sie Subjektivität jenseits der vernünftigen Erörterung als authentische Erfahrung vermitteln, oder Symbole, die ungleichzeitigen oder konkurrierenden Kulturen angehören, nebeneinander dulden. Das Zusammenwirken der intellektuellen, ästhetischen und affektiven Einsichten und Wertsetzungen binden das Reisen als Modus der Naturforschung eng an die literarischen Verfahren der „Reise". In der Humboldt-Forschung gibt es nur wenige prägnante Ansätze, die eigentliche Reisebeschreibung innerhalb seiner vielbändigen Voyage, die Relation historique du Voyage aux regions equinoxiales du Nouveau Continent, von 1814 bis 1825 erschienen, als Beispiel der Gattung zu analysieren.41 Dabei reflektiert gerade die gattungsgeschichtliche Analyse eines Textes wie der Voyage die konstitutiven Spannungen zwischen dem empirischen Reisenden und der Haupt- und Identifikationsfigur der Erzählung, zwischen dem Forscher, der vor Ort beobachtet, sammelt und protokolliert, und dem Verfasser, der im zeitlichen Abstand das Material überarbeitet und mit Verlegern zum Druck, mit Buchhändlern in das Publikum bringt und in Rezensionsexemplaren der Kritik vorlegt. Der literaturwissenschaftliche 39 40 41
A. v. Humboldt: Reise in die Äquinoktialgegenden, S. 1256. AN, S. 192; A. v. Humboldt: Reise in die Äquinoktialgegenden, S. 1 5 6 3 - 1 5 9 7 . Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 2, S. 267-270; Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur, S. 455—467; ders.: Gefühl und Sachlichkeit. Humboldts Reisewerk zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie, in: Archiv für Kulturgeschichte 73 (1991), S. 135— 168. Ette im Nachwort zu seiner Ausgabe der Reise in die Äquinoktialgegenden.
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Blick auf die Relation historique legt erst die Distinktion von Autor, Erzähler und Held nahe, für die der Name Humboldt zugleich einsteht. Das Publikum wird den Verfasser mit dem Helden identifizieren, das Subjekt der Erfahrung mit dem Wissen, das der Autor zu Papier bringt. Zwischen der Erfahrung und der Publikation liegen jedoch verschiedene Stufen der Bearbeitung und ein Weltmeer. Die Entstehung der „Reise": Amerika In einer ersten Phase dokumentierte Humboldt die Beobachtungen auf der Reise, in einer zweiten wertete er diese Beobachtungen aus. In Amerika sieht man Humboldt, jedenfalls dem eigenen Zeugnis zufolge, aber auch nach der Prüfung seiner Aufzeichnungen, bei allen pragmatischen und intellektuellen Schwierigkeiten als weitgehend souveränen Hauptakteur der Expedition. Mit dem Aufbruch nach Lateinamerika begab er sich, der bis dahin überwiegend in Zentren der europäischen Gelehrtenschaft studiert und gearbeitet hatte, in ein Gebiet mit nur wenigen etablierten Institutionen (Bibliotheken, Sammlungen, Laboren) und zusätzlich in eine .zum Teil völlige Isolation von der Heimat. Gelegentlich berichtet er: „Mais comment recevoir un livre d'Europe dans cette partie du monde! Depuis 21/2 ans je n'ai eu qu'une seule fois des lettres de l'ancien Continent."« Das mitgebrachte Instrumentarium und die Reisebibliothek mussten schon wegen der Transportprobleme auf dem Festland sehr beschränkt sein. Humboldt und Bonpland waren unabhängig von Auftraggebern und Institutionen und fanden an Ort und Stelle vielleicht interessierte und gebildete, nur selten aber in der Naturforschung kompetente Gesprächspartner, wie den hochverehrten Botaniker Jose Celestino Mutis, den die beiden im Juni 1801 in Bogota besuchten. Interessierte Begleiter bei einzelnen Exkursionen fielen für Humboldt so wenig ins Gewicht, dass er sie nur am Rande in seiner Relation erwähnte. Der historische Zufall, dass Humboldt nicht als Teil einer offiziellen Expedition unter englischer oder französischer Führung zu einer Reise um die Welt oder sei es nach Nordafrika aufbrach, sondern einzig begleitet von dem alter ego und mitfinanzierten Bonpland als Privatmann, verleiht erst der Reise und ihrer späteren Publikation das Ansehen einer gewaltigen Individualveranstaltung.43 Als solche kündigt sie Humboldt schon in Spanien einem Berliner Freund unter Verwendung von Pathosformeln an: 42 43
Brief an Jose Clavijo y Fajardo vom 25.11.1801, S. 160. „Humboldt mußte mit Bonpland allein aufbrechen und begründete damit seinen Ruhm" (Faak: Reise durch Venezuela, S. 15).
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Werfen Sie einen Blick auf den Welttheil, den ich von Californien an bis zum Patagonenlande zu durchlaufen (messen und zerlegen) gedenke - welch ein Genuß in dieser wunderbar großen und neuen Natur! So unabhängig, so frohen Sinnes, so regsamen Gemüths hat wohl nie ein Mensch sich jener Zone genähert. Ich werde Pflanzen und Thiere sammeln, die Wärme, die Elasticität, den magnetfischen] und electr[ischen] Gehalt der Atmosphäre untersuchen, sie zerlegen, geographische] Längen und Breiten bestimmen, Berge messen — aber dies alles ist nicht der Zweck meiner Reise. Mein eigentlicher, einziger Zweck ist, das Zusammen- und Ineinander-Weben aller Naturkräfte zu untersuchen, den Einfluß der toten Natur auf die belebte Thier- und Pflanzenschöpfung. 44
So wird Humboldt nicht müde, schon in Briefen aus dem neuen Kontinent seinen Status als Privatmann immer wieder zu betonen, zunächst, um dem Vorwurf des Dilettantismus etwa auf dem Gebiet der Astronomie vorzubeugen,45 dann aber, angesichts des Geleisteten zunehmend im Bewusstsein der eigenen Exzeptionalität: „Je puis me flatter que notre herbier est un des plus grands qui a ete rapportes en Europe. Nos Manuscripts contiennent plus que 6000 descriptions d'especes [...]." 46 Die Isolation von Institutionen und Repräsentanten der Forschung ermöglichte Humboldt sicherlich ein emphatisches Erlebnis der eigenen überragenden Kompetenz in vielen Bereichen und der Inkarnation zahlreicher und zugleich erfolgreicher Rollen. Notgedrungen, und, wie sich herausstellen sollte, sehr zu seinem Vorteil, lag alles was die Forschung und ihre Dokumentation unmittelbar betraf, direkt in seiner Hand und der seines einzigen Mitarbeiters. Eben weil der Transport von Gesteinen und Präparaten auf das Nötigste beschränkt werden musste, charakterisiert Humboldt seine Forschung zu Recht als ein Sammeln hauptsächlich von Beobachtungen, nicht von gegenständlichem Material. Diese besonderen Umstände der Expedition tragen dazu bei, dass ganz überwiegend Humboldt persönlich als Autor der Dokumentation anzusehen ist, und sogar, dass der Gedanke einer umfassenden Darstellung der Natur als ganzer ursächlich mit dem privaten und inoffiziellen Charakter der Reise zusammenhängt. Es handelt sich ja kaum um Objekte, die andere genauso gut auswerten könnten, sondern um Datenerhebungen und Beobachtungen, die a priori von der Wahrnehmung und Registrierung des einen und vielfach einsamen Humboldt abhängen, das heißt auch in einem späteren Redaktionsprozess wiederum zum größten Teil den ursprünglichen Verfasser fordern, der anders als eine Experten44 45
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A n David Friedländer, Madrid, 11.4.1799, JB, S. 657. Brief an Franz Xaver Freiherr von Zach vom 1.9.1799 (BaA, S. 53), ähnlich auch an Ludwig Bollmann, 15.10.1799 (BaA, S. 62), an Jerome Joseph de Lalande, 14.12.1799 (BaA, S. 68), an Antoine Franiois Comte Fourcroy, 16.10.1800 (BaA, S. 101), an Manuel Espinosa y Tello, 8.11.1803 (BaA, S. 258). A n Jean Baptiste Joseph Delambre, 29.7.1803 (BaA, S. 245).
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gruppe Synthesen leisten kann, vielleicht sogar mangels einer stärker spezialisierten und professionalisierten Fokussierung der Reiseziele. Ein Brief an Antoine Fra^ois de Fourcroy, Mitglied des Pariser Institut, erhellt diesen Zusammenhang zwischen dem Status als Privatier und der Tendenz der Fragestellungen ins Große und Ganze; graduell geht die Bescheidenheit des Privatmannes in eine selbstbewusste Attitude über, wendet sich Humboldt dem Totalen zu, entweder weil er vor den Spezialfragen resigniert, oder weil er versucht sie zu übersteigen. Vous connaissez assez la nature de mon voyage, les difficultes et les frais d'un transport au milieu d'un vaste continent, pour savoir que mon but est plutot d'amasser des idees que des choses. Une societe des naturalistes, envoyee par un gouvernement, accompagnee de peintres, d'empailleurs, de collecteurs ... peut et doit embrasser tout le detail de l'histoire naturelle descriptive. Un homme prive qui, avec une fortune mediocre, entreprend le voyage autour du Monde, doit se bomer aux objets d'un interet majeur. Etudier la formation du globe et des couches qui le composent, analyser l'atmosphere, mesurer avec les instruments les plus delicats son elasticite, sa temperature, son humidite, sa charge electrique et magnetique, observer l'influence du climat sur l'economie animale et vegetable, rapprocher en grand la chimie et la phisiologie des etres organises, voilä le travail que je me suis propose. Mais sans perdre de vue ce but principal de mon voyage, vous concevez facilement, mon digne ami, qu'avec beaucoup de volonte et peu d'activite, deux hommes qui parcourent un continent inconnu, peuvent en meme tems rassembler bien des choses, faire bien des observations de detail. 47
Die Reise nach Lateinamerika demnach eine gigantische Individualveranstaltung, wobei aus der Not des Privatunternehmens die Tugend eines ins Totale ausgreifenden Werkes mit einem hauptverantwortlichen Autor wird. Dies gilt natürlich mit der Einschränkung, dass Bonpland ebenfalls Aufzeichnungen vornahm, vor allem im Botanischen.48 Und mit dem zweiten, wesentlichen Vorbehalt, dass Humboldt, nicht ohne Grund, seine Aufzeichnungen für den Fall seines Todes zur posthumen Veröffentlichung durch verschiedene Fachleute bestimmte.49 Damit ist schon der Zustand der amerikanischen Aufzeichnungen und eine erste redaktionelle Arbeit an den Forschungsergebnissen angesprochen. Humboldt, der abgesehen von unmittelbaren Niederschriften vor Ort auf den kurzen Raststationen zwischen seinen zum Teil wochenlangen Exkursionen zusammenfassende Berichte, besonders über den Reiseverlauf verfasste, oder auch auf Schiffsreisen zu Meere und Bootsreisen zu Flusse,50 pflegte schon in Amerika verschiedene Stufen der Bearbeitung des Materials: Urschrift und gelegentlich Reinschrift, Protokoll und, 47 48 49 50
Vgl. den Brief an Fourcroy vom 16.10.1800, BaA, S. 100. Es gibt ein Journal botanique de Humboldt et Bonpland (Faak: Reise durch Venezuela, S. 29). Ebd., S. 21,23. Ebd., S. 18.
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ebenfalls gelegentlich, kleinere Abhandlung.51 Die Konvolute seiner Reisetagebücher, überwiegend in deutscher Sprache verfasst, mit der Dauer des Aufenthaltes jedoch auch französisch und lateinisch, vor allem wo einzelne Sachverhalte im Zusammenhang erörtert werden,52 und unter Verwendung französischer, spanischer, lateinischer Wörter, diese Hefte umfassen zugleich Berichte zum Reiseverlauf, Tabellen und wissenschaftliche Beobachtungen, Zeichnungen, Kartenskizzen. Einzelnes scheint Humboldt schon in Amerika entweder ergänzt oder mit Randbemerkungen sowie mit redaktionellen Anweisungen versehen zu haben („dies nicht zum Druck")53 oder herausgelöst und verschickt, anderes zeigt Spuren einer späteren Bearbeitung, eingefügte Artikel, Briefe, Zettel, neuere Literaturangaben, weitere Randbemerkungen und Durchstreichungen, offenbar nach Drucklegung zum betreffenden Thema. Dies alles ergibt, nach einer Maßnahme des greisen Humboldt, neun in Schweinsleder gebundene Kompendien,54 zu denen Kollektaneen loser Zettel für den Kosmos gehören:55 der Überlieferungszustand macht es begreiflich, dass bisher nur die unmittelbar zum Reiseverlauf gehörenden Passagen herausgelöst, in eine chronologische Reihenfolge (die es nicht immer gibt) gebracht und publiziert worden sind.56 Eben diese Berichte zur eigentlichen Reise werden mit den Jahren des amerikanischen Aufenthaltes karger,57 und damit auch die Lektüre, die einen schöngeistigen Leser vielleicht begeistern könnte. Ein Vergleich mit der Druckfassung der Relation historique ist ohnehin nur für ungefähr das erste Drittel der Reise möglich, da es zur Ausarbeitung der späteren Routen nicht mehr gekommen ist.58 So schwierig sich das alles unter einem philologischen Gesichtspunkt im Abstand von zweihundert Jahren darstellt: Für die Deutung des Forschers und Autors Humboldt sind damit geringfügige Probleme gegeben, auch in epistemologischer Sicht ist daran wenig rätselhaft. Es überwiegt der Eindruck eines unermüdlichen, vieles überblickenden Dokumentators. Auf eine mögliche Unterscheidung zwischen dem Reisediaristen Humboldt und dem Spezialforscher gleichen Namens deutet allenfalls hin, dass schon auf der Reise einige Hefte bestimmten Spezialfragen vorbehalten wurden, etwa zur Astronomie, Hygrometrie, für Barometerstandsmessun-
51 52 53 54 55 56 57 58
Ebd., S. 23. Ebd., S. 24. Ebd., S. 23. Ebd., S. 19. Ebd., S. 19. Ebd., S. 22. Biermann: Miscellanea Humboldtiana, S. 66. Faak: Reise durch Venezuela, S. 21.
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gen,59 was aber nicht ausschließt, dass andere Beobachtungen auch sehr speziellen Charakters sich (mit oder ohne eigene Überschrift) im Fließtext der Tagebücher finden.60 Insgesamt scheint es aber um eine im Vergleich zu Forster zwar etwas weiter ins Disziplinare ausgreifende, doch insgesamt intellektuell einheitliche Reise-, Forscher- und Schriftstellertätigkeit zu gehen. Humboldts Aufzeichnungen setzen voraus, dass er sich nur vorübergehend in einem Zustand der Isolation von europäischen Forschungseinrichtungen befand. Was er tut, tut er für ein gebildetes Publikum und für den Fortschritt der Wissenschaften in einer völlig anderen Umgebung. Es wird in dem jahrzehntelangen Prozess der Auswertung für die vielbändige Voyage aux Regions equinoxiales vor allem auch um die Umsetzung für ein höchst anspruchsvolles Publikum mit ganz verschiedenen Interessen gehen: Gelehrte und Laien, Europäer unterschiedlicher Sprachen, Leser mit mehr oder weniger Geld, Schöngeister und Erudierte. Mit diesem Vorsatz macht sich Humboldt zum Vermittler zwischen der zum Einen und Einsamen stilisierten Gestalt des umfassend Gebildeten und heldenhaft Forschenden, des Privatmannes, des Ungebundenen und Freien (in ökonomischer, nationaler, ständischer Hinsicht) und einem zunehmend differenzierten Publikum. Er muss sich für lange Zeit, sogar für den Rest seines Lebens auf eine höchst spannungsvolle Existenz einlassen: Zum einen ist das Bild des alles überblickenden und nahezu persönlich verkörpernden Humboldt zu wahren; und das wird immer dann der Fall sein, wenn er je nach Lage den Bürger an sich, den über den Dingen stehenden Adeligen, den schlechthin Gebildeten, den allseits beheimateten Kosmopoliten, den unabhängigen Privatmann, den bedürfnislosen Asketen, den unbestechlichen Reichen, den mit der Natur verschworenen und darum Freien, den rasdosen Wanderer, ja den Menschen als solchen in den Vordergrund rückt. Und andererseits muss er als legitimer Partner immer höher differenzierter sozialer Gruppen in der wissenschaftlichen und literarischen Öffentlichkeit fungieren. Da muss er sich als Geologe, Botaniker, Meteorologe, Zoologe, Chemiker, Geograph, Ethnologe und Linguist, als Historiker, wenn es um das Wissen geht, oder als Verleger, als Korrespondent, Diplomat, als Höfling, Mitglied verschiedener Kommissionen, wenn die institutionelle und wirtschaftliche Fundierung seiner Tätigkeiten ansteht, beweisen. Beide Tendenzen in der Bearbeitung seiner Reise entfalten sich größtenteils in den Sphären einer literarischen Öffentlichkeit oder Quasi-Öffentlichkeit. Beide Funktionen, die des Helden und Menschen schlechthin wie die des Spezialisten und Experten, knüpfen
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Ebd., S. 18. Ebd., S. 18.
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sich an Prozesse der Autorschaft und des literarischen Marktes im weitesten Sinne. Außerdem sind sie, wie sich zeigen wird, nicht nur komplementär, sondern möglicherweise sogar die beiden Seiten eines dialektischen Prozesses, in dem die notwendige Spezialisierung im massenhaft akkumulierten Wissen durch ein personales Symbol der umfassenden Kenntnis des Naturganzen kompensiert wird, und zwar notwendig in Medien der Literatur. Es geht um die Versöhnung zwischen dem Mann aus den Wäldern, dem Helden des Orinoko und Chimborazo, wo alles „groß", „frei" und „einfach" ist, und dem Beherrscher der Disziplinen, Fußnoten, und Sprachen, der Hörsäle, Laboratorien, Museen, Druckereien, Bibliotheken, Sitzungs- und Empfangssäle, auch eleganten Salons, wo alles euphorisch der Allwissenheit oder beängstigend dem Zustande der völligen Unüberschaubarkeit zustrebt. Schon während der Arbeit an den amerikanischen Aufzeichnungen bedient Humboldt beide Vorstellungen. Enthusiastische Tagebuchaufzeichnungen und poetische Anspielungen gehen unmittelbar in Tabellen und kleinere Abhandlungen über. Selbst jene Briefe, die Humboldt, mehr oder weniger ausdrücklich ihres privaten Charakters entledigt, zum Abdruck in europäischen Zeitschriften anbietet, zeigen beide Tendenzen. Zum einen schickt er sie an Gelehrte, die sich nicht nur für den Gegenstand der Abhandlung interessieren dürften, sondern zugleich Herausgeber oder zumindest Korrespondenten von Zeitschriften sind. Etwa an Mitglieder der Academie des Sciences am Institut de France und des Bureau des Longitudes in Paris. So schreibt er an Jean Baptiste Joseph Delambre am 25.11.1802, deutlich einen gewissen ornatus pflegend: le manque de tems me le rend impossible d'ecrire, comme je le devais, ä l'Institut National qui vient de me doner la marque la plus touchante de l'interet et des bontes dont il m'honore. Cela me rapella qu'au sommet de Guaguapichincha, oü j'ai ete souvent et que j'aime comme sol classique, La Condamine et Bouguer regurent leur premiere letre de la ci-devant Academie, et je me figure que Pichincha, si magna licet componere parvis, porte bonheur aux Physiciens. Comment vous exprimer, Citoyen, la jouissance avec laquelle j'ai lu cette lettre de l'Institut et les assurances reiterees de Votre souvenir [...] Recevez tous ensemble l'hommage de mon tendre attachement et de ma reconnaissance constante!61
Es folgt ein Bericht, der unmittelbar in Tabellen und kleinere Abhandlungen übergeht, womit kleine Teilergebnisse der Reise vorab an geeigneter Stelle deponiert wären, ohne dass Humboldt auf lebhafte und nachdrückliche Schilderungen der Ereignisse auf der Reise verzichtete.62 Delambre 61 62
BaA, S. 199 f. So heißt es in einem anderen Brief an Delambre vom 24.11.1800: „J'ai couche pendant trois mois en plein air dans les bois; entoure de tigres et des serpens hideux, ou sur des plages couvertes de crocodiles" (BaA, S. 117).
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wird die an ihn adressierten Briefe im Magasin encyclopediqui63 veröffentlichen oder in den Annales du Musee d'histoire naturelle,64 Ähnlich verfahren andere Korrespondenten Humboldts in Frankreich, Deutschland und Spanien, auch Nachdrucke in weiteren Zeitschriften und anderen Sprachen gibt es.65 Diese Publikationen bestätigen den engen Zusammenhang von persönlicher Korrespondenz und Zeitschriftenpublikation. Sie deuten aber auch auf eine etwas weiter fortgeschrittene Disziplinenbildung und Spezialisierung der französischen Zeitschriften hin. Während in Frankreich Humboldts Briefe ganz überwiegend in naturkundlichen Zeitschriften erscheinen, sind diese unter den deutschen Zeitschriften, die sie abdrucken nicht die wichtigsten. Briefe an den Bruder und an den Berliner Botaniker Karl Ludwig Willdenow erscheinen nämlich, möglicherweise auch, weil hier ein besonderes lokales Interesse besteht, in den Zeitschriften, die sich an ein allgemeines Publikum wenden, zum Teil in Fortsetzungen: in der Neuen Berlinischen Monatsschrift,66 in der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek,67 in der Spenerschen Zeitung,68 in der Allgemeinen Uteratur-Zeitung.69 Allerdings finden sich in diesen Briefen auch eher Erzählungen von spannenden Reisebegebnissen, von Heldentaten und Strapazen. Dramatisch ist der Bericht von dem Sturm auf dem Orinoko, von der sinkenden Piroge, die im letzten Moment gerettet wird, von Krokodilen, Jaguaren und einem
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6 (1903), S. 537-549, auch in Neue berlinische Monatsschrift 10 (1903), S. 242-268. 3 (1804), S. 228-232 [auch in Annale« der Physik 16 (1804), S. 489-493]; S. 396-404; der Brief an Delambre vom 4.11.1800 im Moniteur vom 24.4.1801, S. 898-899. Dort am 27.5.1801, S. 1031 auch ein Brief an Fourcroy, in den Annates du Museum dagegen auch ein Brief an Wilhelm von Humboldt 2 (1803), S. 322-337 und an Antonio Jose Cavanilles, 4 (1804), S. 4 7 5 ^ 7 8 . Weitere Adressaten von Briefen, die in einschlägigen Zeitschriften veröffentlicht wurden, sind Karl Maria Erenbert Freiherr von Moll, Chrisdan Friedrich Gödeking, Franz Xaver Freiherr von Zach, Philipp Baron Forell, Jose Clavijo y Fajardo, Jean Claude de Lamethrie, Jeröme Joseph de Lalande, Antoine Fran$ois Comte Fourcroy, Antonio Jose Cavanilles, die respektiven Veröffentlichungen in: Jahrbücher der Berg- und Hüttenkunde 4 (1799), S. 3 9 9 401, 4 (1800), S. 437-441, 441^*44; Allgemeine Uteratur-Zeitung 1799, Sp. 1324; Monatliche Korrespondenz %ur Beförderung der Erd- und Himmelskunde 1 (1800), S. 392-425; Anales de historia natural 1 (1799), S. 125-127, 2 (1800), S. 251-261, 262-268; Journal de Physique 49 (1799), S. 423-436, 53 (1801), S. 61 ·, Annetten der Physik 4 (1800), S. 443-455, 7 (1801), S. 329-335, 335-347; Magasin encyclopedique 6 (1799), S. 376-391, 9 (1803), S. 413-445; Annales de Chimie 35 (1800), S. 102—111; Anales de dencias naturales 6 (1803), S. 281-287; Allgemeine geographische Ephemeriden 14 (1804), St. 4, S. 510-511. 6 (1801), S. 130, 131-136, 136-141, 394-400, 7 (1802), S. 439-452, 453, 10 (1803), S. 6 1 77, 81-90,11 (1804), S. 407^109. 58 (1801), St. 1, Η. 1, S. 60-64. 18.7.1801, S. 3-5, 21.7.1801, S. 4-6. Intelligenzblatt 1802, 181, Sp. 1487-88.
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undurchdringlichen Urwald am Ufer des kaum befahrenen Stromes, auf die sich die Schiffbrüchigen gefasst machen müssten.70 In der Guayana, w o man wegen der Mosquiten, die die Luft verfinstern, K o p f und Hände stets verdeckt halten muß, ist es fast unmöglich, am Taglicht zu schreiben; man kann die Feder nicht ruhig halten, so wüthig schmerzt das G i f t dieser Insekten. Alle unsere Arbeit geschah beim Feuer, in einem Theile der indianischen Hütten, w o kein Sonnenstrahl eindringt und in die man auf dem Bauch kriecht. Dort aber erstickt man fast vor Rauch [.. ,].71
Oder wie Humboldt kurz vor Cartagena, erneut einem Schiffbruch nur knapp entkommen, sich an Land unversehens neuer Todesgefahr ausgesetzt sieht: „aber kaum war ich mit meinen Begleitern ausgestiegen, so hörten wir Ketten rasseln und baumstarke, endaufene Neger - Cimarrones —, aus dem Gefängnis von Cartagena entsprungen, stürzten mit Dolchen in den Händen aus dem Gebüsch hervor."72 Oder von einer Wanderung in Peru: „nos bottes nous pourrirent aux jambes, et nous arrivames les pieds nus et couvertes de meurtrissures ä Carthago."73 Wilhelm von Humboldt gelingt es, diese lebhaften Reiseberichte nicht nur in Berlin, in Biesters Neuer berlinischen Monatsschrift unterzubringen74 oder in Nicolais Neuer allgemeiner deutscher Bibliothek,sondern auch - nicht umsonst ist er ein vielgereister Diplomat —, sie in Frankreich und Spanien veröffentlichen zu lassen.76 Schon vor und unmittelbar nach Humboldts Rückkehr wurden einige der Briefe als Sammlung abgedruckt.77 Unzweifelhaft geht es Humboldt bei seinen Briefen aus Amerika und ihrer Veröffentlichung nicht nur um die Rettung möglicherweise gefährdeter Forschungsergebnisse, sondern auch um eine Vorbereitung der europäischen Öffentlichkeit auf seine Rückkehr und publizistische Tätigkeit. Ganz auf dieser Linie bewegt sich auch ein Brief an einen flüchtigen Bekannten, der gebeten wird, in den Vereinigten Staaten Humboldts Ankunft in Cumanä zu melden und zugleich den Autor dort bekannt zu 70 71 72 73 74 75
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17.10.1800, BaA,S. 106. An Willdenow 21.2.1801, BaA, S. 128. 1.4.1801, BaA, S. 135. 25.11.1802, BaA, S. 208. 6 (1801), S. 131-136; 136-141; S. 394-400; 7 (1802), S. 439-452. 58 (1801), 1. St., Η. 1, S. 60-64. An Karl Ludwig Willdenow gehen ebenfalls Briefe eher allgemeinen Interesses, die er entweder in der Spenerschen Zeitung, im „Intelligenzblatt" der Allgemeinen deutschen Bibliothek oder in der Neuen Berlinischen Monatsschrift abdrucken lässt. Wilhelm von Humboldt reiste 1799 bis 1800 sieben Monate lang durch Spanien und hielt sich in Paris auf, bis er 1801 eine längere Reise durch das Baskenland unternahm. Jean Claude Delamethrie (Hg.): Notices d'un voyage aux tropiques, in: Journal de Physique, Paris 1804, H. 2; deutsche Übersetzung Erfurt 1805; [Friedrich Wilhelm von Schütz:] Alexander von Humboldts [...] Reisen um die Welt und durch das Innere von Südamerika, 2 Bde., Hamburg, Mainz 1805, 1807. Auffällig wiederum die unterschiedlichen Publikationsorte: naturkundliche Zeitschrift in Frankreich, eine Publikation, die sich vor allem auch an jugendliche Leser und ein abentuerlustiges Publikum wendet, in Deutschland.
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machen: „so bitte ich Sie in 1 oder 2 der gelesensten Amerikanischen] Zeitungen (solche, die nach England gehen) die simple Notiz einrücken zu lassen, daß Η [...] in dem Hafen von Cumana angelangt sei [...] lassen Sie (um Misdeutungen zu vermeiden) den Artikel so einrücken, daß er nicht von mir eingeschickt aussieht."78 Und weiter: „Sie haben in Nordamerika physiologische] Schriftsteller, in deren Köpfen ich meinen Ideen Leben wünschte. Das Werk heißt: Versuche über die gereizte Muskel und Nervenfaser [...] vielleicht veranlassen Sie gelegentlich dessen Verbreitung."79 Schließlich sichert sich Humboldt auch bei den Ergebnissen, die er vorausschickt, Urheberrechte. Materialsammlungen - Gesteine, Pflanzen und Tiere, hatten er und vor allem auch Bonpland als glänzender botanischer Präparator trotz des Schwerpunktes auf den persönlichen Beobachtungsprotokollen in begrenztem Umfang angelegt und aus Furcht, sie könnten auf den unsicheren Reisewegen und noch dazu in Kriegszeiten verloren gehen, zum Teil in Doubletten nach Europa verschifft. Während eine Sammlung tatsächlich wie befürchtet Schiffbruch erlitt, erhielt Karl Ludwig Willdenow in Berlin ein Herbarium, dem Humboldt allerdings die Auswertung und ihre Publikation nur ausschnittweise gestattete, da die kompetente Deskription und Kommentierung die Autopsie in situ voraussetze.80 Ähnlich behielt sich Humboldt bei allen errechneten Daten eine spätere mathematische Überprüfung vor und warnte vor überhasteten Veröffentlichungen.81 Neben der fachlichen Akribie spricht zweifellos auch die Wahrung von Urheberinteressen aus diesem Vorgehen. Die Entstehung der „Reise": Europa Nach seiner Rückkehr bereitete sich Humboldt auf die Anpassung seiner Resultate an die Erfordernisse eines europäischen Publikums und an die Ansprüche einer vielfach professionalisierten und institutionalisierten Wissenschaft vor. Er begab sich zuerst nach Paris, und nicht etwa nach Spanien, von wo aus er mit der vollen Unterstützung des Monarchen aufgebrochen war. In Paris fand Humboldt das damals wichtigste Zen78 79 80 81
An Bollmann, Cumanä, 15.10.1799 (BaA, S. 62f.). BaA, S. 63. Brief an Willdenow, Havanna 21.2.1801 „nur nicht viele und alle, weil es unmöglich ist, nach trockenen Exemplaren so gut zu beschreiben als nach dem, was wir in der Natur selbst aufgezeichnet" (BaA, S. 125). „Quisiera que solo se imprimiese lo que yo mismo escribo en mis cartas ό memorias, porque nadie ignora que las primeras ideas solo son un bosquejo que deba concluirse, y que los cälculos y medidas exigen un examen ulterior y detenido" (An Cavanilles, 22.4.1803, BaA, S. 227).
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trum naturwissenschaftlicher Tätigkeit; zugleich fand er dort in Kriegszeiten das günstigste Umfeld für eine umfassende gesellschaftliche Anerkennung im Zeichen kosmopolitischen Umgangs. Caroline von Humboldt weiß ihrem Mann davon zu berichten.82 In Berlin hielt Humboldt in der Akademie der Wissenschaften in kurzer Zeit eine Reihe von Vorträgen ganz unterschiedlicher Thematik, ebenso am Institut National in Paris. Kleinere Abhandlungen zu unterschiedlichen Fragen erschienen sehr bald im Druck.83 Dabei schätzte Humboldt das Pariser Publikum, vor allem die Forscher am Museum, am Jardin des plantes als gewichtiger ein als die Berliner Akademiemitglieder. Den Pariser Wissenschaftlern stellte er seine Sammlungen vor: Alle Mitglieder des Instituts haben meine Manuskript-Zeichnungen und Sammlungen durchgesehen, und es ist eine Stimme darüber gewesen, daß jeder Teil so gründlich behandelt worden ist, als wenn ich mich mit diesem allein abgegeben hätte. Gerade Berthollet und Laplace, die sonst meine Gegner waren, sind jetzt die Enthusiastischsten. Berthollet rief neulich aus: ,Cet homme reunit toute une Academie en lui!'84
So lässt er sich von anerkannten Autoritäten offiziell bestätigen, dass der private und individuelle Charakter seiner Reise die Konkurrenzfähigkeit seiner Leistungen unter Bedingungen einer Gesellschaft von Gelehrten und Gebildeten nicht beeinträchtigt. Schon bewegt sich Humboldt ja nicht mehr unter Indianern und Kreolen, Missionaren und kolonialen Grundherren, aber eben auch nicht mehr im Umfeld einer aufklärerischen naturforschenden Tätigkeit unbestimmter Definition wie noch fünfzehn Jahre zuvor in den gelehrten Gesellschaften Berlins oder Jenas, sondern in einer Welt, in der die eigene Vielseitigkeit erklärungsbedürftig ist. Humboldt wählte freilich Paris als Aufenthalts- und Publikationsort auch, weil die Stadt neben den interessanteren wissenschaftlichen Gesprächspartnern und Einrichtungen auch die besseren Voraussetzungen zur Drucklegung des anspruchsvollen Werkes bot. Mehrere Verlage waren dort in jenen Jahren mit der Herausgabe von Prachtausgaben befasst, die 82
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„Alexander fährt fort, den größten Effekt hier zu machen. Er ißt selten bei mir seit den ersten Tagen seines Hierseins, weil alle ihn haben wollen [...] Seine Sammlungen sind ungeheuer" (16.9.1804). Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, Bd. 2, hg. von Anna von Sydow, Berlin: Mittler 1907. Im Pariser Institut am 17. und 24. 9., am 15. und 29. Oktober 1804 über den Reiseverlauf, am 19., 26., 11., am 17. 12. 1804, am 7. und 21.1., am 11. und 25. 2. sowie am 4. 3. über Geologie, Meteorologie, Magnetismus, Eudyometrische Messungen, Pflanzengeographie, Fische, eine Affenart, Längen- und Breitenmessungen. An der Berliner Akademie 1806 und 1807 über die Urvölker Amerikas, Physiognomik der Pflanzen, die Schneegrenze, Steppen und Wüsten, Katarakte des Orinoko (die Reihe der Akademievorträge wird in die Ansichten der Natur aufgenommen). „Das Große und Gute wollen". Alexander von Humboldts amerikanische Briefe, hg. von Ulrike Moheit, 14.10.1804.
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neben der schriftstellerischen Versiertheit der Autoren auch die künstlerische und technische Meisterschaft von Stechern, Illuminatoren und Drukkern und nicht zuletzt die erfolgreiche wirtschaftliche Kalkulation von Herstellungskosten, Honoraren und Absatzmöglichkeiten voraussetzten. Humboldt konnte sich schon durch einige in Paris vorgelegte „Tableaus" und „Voyages pittoresques" davon überzeugen, dass sich sein vielbändiges Buch nur dort, und keinesfalls in Deutschland auf höchstem Niveau verwirklichen ließ.85 Mit der Drucklegung der Voyage beginnt nun Humboldts faszinierende und zugleich problematische Doppelstrategie: Er selber behält sich uneingeschränkt die Regie über das vielbändige Werk vor, und stützt damit, zumal nachdem der eher praktisch veranlagte Bonpland von der Arbeit an der Dokumentation völlig überfordert war, das öffentliche Bild, in dem der souveräne Reisende identisch sein soll mit dem souveränen Verfasser der Voyage. Zum anderen begibt er sich mit den Jahren und Jahrzehnten in ein Geflecht von konzeptionellen und pragmatischen Hindernissen, die bei der Realisierung des Monumentalunternehmens auftreten und ganz im Widerspruch zu dem Einheitsdenken des Helden und Autors stehen. Zunächst versprach man sich ja den Abschluss der Bände binnen „zwei bis zweieinhalb Jahren", 86 und bald schon sollte eine neue, asiatische Expedition mit einer vergleichbar umfassenden Auswertung folgen und das Bild des Tropenfahrers durch das des Weltreisenden überbieten.87 Die Ubersichten über das tatsächlich erschienene Reisewerk88 zeigen freilich, dass nach einer ersten überaus intensiven Publikationsphase der französischen Quartausgabe von 1805 bis ungefähr 1811 weitere Bände nur nach und nach bis 1836 erschienen, womit die Oktavausgabe, die Ubersetzung ins Deutsche, ja auch nur das Grundwerk, die Relation historique noch nicht einmal zum Abschluss gekommen und die geplanten Bände zur Geologie gar nicht erst in Angriff genommen wären. Das Werk mit dem Titel Voyage aux Regions equinoxiales du Nouveau Continent fait en 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 et 1804, par Α. de Humboldt et Λ. Bonpland blieb also endgültig Fragment. Da sind vorerst die biographischen und psychologischen Probleme eines Langzeitunternehmens. Allmählich verblassten die magischen Mo85 86 87
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Vgl. Julius Löwenberg: Alexander von Humboldt. Biographische Übersicht [...], Stuttgart I960, S. 13. Vgl. Humboldts Brief an Pictet, 3.2.1805. Lettres d'Alexandre de Humboldt a MarcAuguste Pictet, in: Le Globe. Journal de Geographie, Geneve 1868. Vgl. etwa den Brief an Goethe, 6.2.1806: „Ich arbeite trotz dem allen viel und lebe in der Vergangenheit, in Ihren Schriften und in den Ebenen am Euphrat und Himalus, den ich zu besuchen gedenke" (Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander von Humboldt, S. 298). Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 437—446
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mente und die ersten charismatischen Auftritte nach der Heimkehr des Reisenden aus den Urwäldern. Je mehr sich die Arbeit hinzog, desto mehr entschwanden dem Verfasser oder Herausgeber die Situationen der ursprünglichen Expedition mit ihren Eindrücken und die Erinnerung an Fakten, die heimgebrachte Daten ergänzen sollten. Dabei hatte Humboldt noch in Amerika gehofft: „Meine Einbildungskraft wird noch mehrere Jahre warm genug bleiben, um einst ein nicht unvollständiges Bild des Ganzen daraus zusammenzusetzen, um einst andere einen Theil der Freude mitgenießen zu lassen, welchen jene große und dabei so sanfte und milde Natur gewährt."89 In solchen bemerkenswerterweise eher ästhetikgeschichtlichen denn wissenschaftlichen Termini beschwor Humboldt in seinem Tagebuch die Abfassung der Reisedokumentation aus einem Geiste und einem Guss. Doch was einerseits einen immer längeren Atem verlangte, schien schließlich mit dem Verzicht auf andere Reise- und Publikationsprojekte bis zum Asienwerk und zum Kosmos zu teuer erkauft.90 Die Überprüfung gemessener Befunde war von Anfang an vorgesehen, doch die Aktualisierung der Ergebnisse anhand der neu erscheinenden Literatur holte Humboldt mit den Jahren immer mehr ein,91 abgesehen von weiteren Expeditionen,92 die seinem Unternehmen das Aktuelle und damit Spektakuläre nahmen. Dazu kamen Probleme mit den Mitarbeitern, auf die Humboldt eben doch nicht verzichten konnte. So sehr sich Bonpland auf der Reise bewährt hatte, so wenig schien er geeignet, auch nur den botanischen, freilich für sich schon monumentalen Teil der Voyage zu einem überzeugenden Abschluss zu führen. Dem zu Hilfe gerufenen Karl Ludwig Willdenow musste nach dessen frühem Tode schon 1811 Karl Sigismund Kunth folgen, der auf den Unterlagen seines Vorgängers offenbar überhaupt nicht aufbauen konnte.93 Mit Jabbo Oltmanns, der große Teile des Receuil d'obeservations astronomiques übernahm, hatte Humboldt insofern mehr Glück, als er die ihm anvertraute Aufgabe zügig zum Abschluss 89 90 91 92
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Faak, Reise durch Venezuela, S. 81. Vgl. Biermann: Miscellanea Humboldtiana, S. 67. Biermann: Miscellanea Humboldtiana, S. 65; Faak: Reise durch Venezuela, S. 22. . Faak nennt Jean-Baptiste Boussingault, Hermann Burmeister, Rudolph Amandus Philippi, Eduard Poeppig, Wilhelm Reiß und Alphons Stübel, Robert Hermann Schomburgk und Richard Schomburgk, Johann Baptist Spix und Carl Friedrich Martius sowie Maximilian Prinz von Wied, die allein zu Humboldts Lebzeiten größere Lateinamerika-Expeditionen vornahmen (S. 14). Vgl. Julius Löwenberg: Alexander von Humboldt. Biographische Übersicht [...], Stuttgart 1960, S. 18. Kunth bearbeitete schließlich einen Großteil der zweibändigen Plantes equinoxiales (1805-1817), die Nova genera et speäes plantarum in sieben Bänden (1815-1825), die zweibändige Monographie des Melastomacees (1816-1823), die Mimoses et autres plantes tigumineuses (1819-1824), die zweibänige Revision des Graminees (1829-1834) sowie die Synopsis plantarum in vier Bänden (1822-1826).
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brachte. Bereits gedruckte Teile des Receuil d'observations de ^oologie et d'anatomie ließ Humboldt jedoch vernichten, allerdings wohl eher, weil er mit den Kupferstechern unzufrieden war, als mit den Autoren Georges Cuvier, Pierre Andre Latreille, Achille Valenciennes, die respektive Kapitel zur Anatomie, zur Insektenkunde, zur Meeresbiologie und zur Atemphysiologie bei Mensch und Warmblütern beigesteuert hatten.94 Die Mitarbeit anderer ist also nicht die Folge des Versagens des Verfassers in Partien, die er unmöglich hätte in gleicher Weise erforschen können. Nicht nur ließ sich Humboldt ja nach seiner Rückkehr offiziell bestätigen, dass er für alle einzelnen Fragestellungen kompetent war. Diejenigen Bände und Abschnitte, die er ganz allein verantwortete, erwiesen sich als teils wegweisend, wie die Pflanzengeographie, teils grundlegend, wie das Mexiko- und Kubawerk, teils zumindest konkurrenzfähig, wie das hauptsächlich quellenhistorische Εxamen critique, die Beobachtungen zur Zoologie, die kulturgeschichtlichen und andere Teile der Relation historique oder der Atlas pittoresque. Möglicherweise genoss Humboldt zwar in jeder einzelnen dieser Fragestellungen den Bonus eines prominenten Gelehrten und Reisehelden. Doch der Vorwurf, es handele sich um indiskutable und dilettantische Beiträge, wurde nie wirklich geäußert, selbst als zu seinen späteren Lebzeiten etablierte Spezialisten und distanziertere Beobachter dem Angehörigen einer älteren Generation weniger ehrfürchtig begegneten. Die historische Überholtheit 40 und 50 Jahre alter Publikationen stand dabei ja auch nicht zur Debatte. Die einzelnen Disziplinen waren also zur Zeit von Humboldts jahrelanger Drucklegung am Reisewerk noch nicht so weit ausdifferenziert und institutionalisiert, dass ein einzelner, wenn auch ausnahmehaft, nicht doch noch in verschiedenen dieser Fachgebiete hätte wirken können. Anders natürlich als im Falle von Kartographen und Kupferstechern handelt es sich bei der Delegierung von einzelnen Partien an Fachleute, an den Astronomen, an Botaniker und Biologen mehr um eine quantitative Entlastung des Hauptverfassers, so wie die in Auftrag gegebenen Ubersetzungen der französisch abgefassten Bände nicht die sprachlichen Fähigkeiten Humboldts berühren; er konnte oder wollte einfach der Übertragung ins Deutsche nicht weitere Arbeitsjahre opfern. Die Frage nach dem inneren Zusammenhang der von Humboldt verfassten und herausgegebenen unterschiedlichen Partien stellt sich freilich innerhalb des Reisewerks mit ganz anderem Recht. Nicht fachliche Inkompetenz in den einzelnen Bereichen, sondern eine Schwäche bei der Konzeption des Gesamtunternehmens sind viel mehr für den enttäuschenden Erfolg der Voyage verantwortlich. Die 94
Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 1 7 1 - 1 7 2 .
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differierende Thematik der einzelnen Bände, auch ihr strukturell und optisch ganz unterschiedlicher Charakter hätte sich wohl durch einen überzeugenden Gesamtplan und seine konsequente Durchsetzung umfangen lassen. Klarheit bestand bei Humboldt von Anfang an wohl nur darüber, dass das Werk eine eigentliche Reisebeschreibung, eine Statistik über Mexiko, spezielle Bände über astronomische Berechnungen, Botanik, Zoologie, Geologie, Magnetismus sowie Altanten zur Geographie der „regions equinoxiales du Nouveau continent" umfassen sollte. Es sollte, auch das stand vorab fest, in einer aufwendigen Quart- und Folio- sowie in einer preisgünstigeren Oktavausgabe erscheinen, auf jeden Fall und möglichst zeitnah in französischer und deutscher Sprache.95 Schließlich wünschte Humboldt, dass es den allerhöchsten wissenschaftlichen und künsderischen, aber auch bibliophilen Ansprüchen genügen sollte. Schon in Amerika hatte er Übersichten über das Gesamtwerk skizziert,96 jedoch immer wieder verworfen und korrigiert. So gab es zu Lebzeiten Humboldts keine Systematik, in die Käufer und Leser die nach und nach erscheinenden Bände hätten einfügen können, noch nicht einmal eine konsequente Durchzählung von Serien,97 Bänden und Teilbänden, keine durchgehend praktikable Kompatibilität einzelner Bände der Quart- und Oktavausgabe, der französischen und deutschen. Nicht einmal eine konsequente Titelgebung einzelner Auslieferungen, die von denselben oder einander ablösenden Verlagen bei dem allmählichen Erscheinen der verschiedenen Bände und Ausgaben sowie von Separatdrucken nötig gewesen wäre, wurde beobachtet. Die Humboldtforschung kämpft, bei der Praxis, teils vier bis fünf Titelblätter pro Band und verschiedene davon bei diversen Auslieferungen einzubinden, bei einer höchst zufalligen und inkonsequenten Anschaffungspraxis damaliger Forschungsinstitutionen und Bibliotheken (von ihrem seitherigen Schicksal einmal abgesehen), mit einem bibliographischen Chaos.98 95 96
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Vgl. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 68. Schon am 21.2.1801 sieht Humboldt in einem Brief an Willdenow neben der eigentlichen Reisebeschreibung („Was jeden gebildeten Menschen interessiert", BaA, S. 122) fünf weitere Abteilungen zur Geognosie, zur geographischen Astronomie, zur Physik und Chemie, zur Zoologie und zur Botanik vor (BaA, S. 124). Dagegen an Pictet, am 3.2.1805: „Zur Annehmlichkeit des Publikums und der Redaktion denke ich elf verschiedene Werke zu publizieren" [es folgt die Aufzählung] („Das Große und Gute wollen". Alexander von Humboldts amerikanische Briefe, hg. von Ulrike Moheit, S. 239). Biermann: Misecellanea, S. 62, Löwenberg: Alexander von Humboldt, S. 15. Destouches hatte demnach nach Humboldts Tode eine Einteilung des Reisewerks vorgenommen, die sich inzwischen zwar durchgesetzt hat, jedoch weder die Chronologie des Erscheinens respektiert noch die Logik, nach der die Bände zum Teil aufeinander aufbauen. Um so mehr sind die Verdienste der Bibliographie selbständiger Werke, begonnen von Horst Fiedler und abgeschlossenen von Ulrike Leitner (Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften) zu rühmen.
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Dies alles betrifft nur den formalen Teil der Ausgabe, die Humboldt nicht ganz bewältigt hat. Doch auch die inhaltliche Konzeption ist problematisch. So bewertete Humboldt die große und die kleine Ausgabe unterschiedlich, wobei Abweichungen für den Leser nicht deutlich werden konnten. Weiter wünschte er, dass sich Übersetzungen der Relation historique auf die große Ausgabe beziehen mögen," während in Oktav neben der getreuen Übersetzung gelegentlich auch eine Zusammenfassung von Teilen der großen Ausgabe erschien.100 Die sechs Bände zur Botanik mit 17 Teilbänden wiederum folgten, während sie von mindestens vier Autoren zum Teil in verschiedenen Ausgaben und Formaten gleichzeitig von 1805 bis 1835 bearbeitet werden, unterschiedlichen Deskriptionsstandards und gar botanischen Systematiken.101 Die Atlanten, speziell der mit den „pittoresken Ansichten", bei deren Druck Humboldt allergrößte Mühen und Kosten nicht scheute, ließ einen kommentierenden Textteil erwarten, wobei jedoch am Ende einzelnes ganz unkommentiert blieb, der Kommentar zum geographischen Adas dagegen zum mehrbändigen Separatum des lELxamen critique ausuferte,102 anderes aber zur Erläuterung aus ganz verschiedenen Stellen des übrigen Werkes zusammengesucht werden musste. Text und Bild ergänzten sich also nur sporadisch und höchst asymmetrisch. Während der geologische Teil, der sich sachlich sehr gut von den anderen hätte abgrenzen lassen, wie erwähnt, gar nicht vorgelegt wurde, finden sich andererseits Wiederholungen: Besonders die bis zuletzt unvollendete Relation historique fasert inhaltlich in andere Bände aus, was in der Natur der Sache liegt, da sie neben dem eigentlichen Reiseverlauf ganz unterschiedliche Themen und Probleme behandelt. Andererseits hatte gerade die eigentliche Reisebeschreibung als Leitfaden oder zumindest Blickfang auch für ein etwas breiteres Publikum wirken sollen, wollte Humboldt doch darin niederlegen, „was jeden gebildeten Menschen interessiert".103 Als Zugpferd der gesamten Voyage konnte die Relation historique aber schon deswegen nicht dienen, weil sich allein die Veröffentlichung der französischen Originalausgabe sehr lange, von 1814 bis 1825, hinzog und schon die drei realisierten der veranschlagten vier Bände in sechs Auslieferungen und drei verschiedenen Verlagen erschienen.104 Humboldt hielt die deutsche Erstausgabe, besorgt von F.G.
99 100 101 102 103 104
Bietmann: Miscellanea Humboldtiana, S. 62. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 70. Leitner: Das Leben eines Literaten, S. 19. Leitner: Das Leben eines Literaten, S. 16. Brief an Willdenow 21.2.1801, BaA, S. 122. Schoell, Maze, Smith, Gide, vgl. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 67.
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Gmeün und Paul Usteri, von 1815 bis 1832 gedruckt,105 für ungenügend, obwohl er sie nach eigenem Zeugnis nie gelesen hatte,106 während er eine späte Neuausgabe von Hermann Hauff107 autorisierte. Deren Bände erschienen jedoch erst 1859 bis 1860, also teils nach Humboldts Tod, der sie daher nicht mehr überprüfen und auch nichts mehr gegen die Auslassung ganzer Passagen der französischen Vorlage und der Fußnoten, gegen Umstellungen und Ubersetzungsfehler unternehmen konnte. Zwei neuere deutsche Ausgaben des Reiseberichts legen ebenfalls, wofür es auch gute Gründe gibt,108 nicht die Übertragung des integralen französischen Textes vor. Bei der Entstehungs- und Editionsgeschichte dieses Haupt- und Kernstücks des gesamten Reisewerkes wundert es nicht, dass auch die übrigen Teile als disparat und heterogen aufgenommen wurden. Wer etwa hoffte, in den Kuba- und Mexiko-Bänden eine Fortsetzung der Reisebeschreibung zu finden, wurde durch die völlig andere Anlage der Titel mit ihrer weit nüchterneren Anordnung statistischen Materials getäuscht. Selbst innerhalb einzelner Bände irritierte Humboldt die Rezensenten, die einen sachlich und schriftstellerisch kompetenten Autor erwarteten und doch Wiederholungen, Weitschweifigkeit, Unübersichtlichkeit monierten.109 Kritisch äußert sich die Biographik seit Löwenberg nicht nur über Humboldts Fähigkeiten zur Disposition und Koordination der Voyage, sondern auch über sein Verhältnis zu Kupferstechern, Verlegern und Buchhändlern. Seine extremen Ansprüche an die Herstellung der prachtvollen Bände verführten ihn dazu, aus dem ererbten Vermögen hohe Summen als Honorare für Stecher und Kartographen und für den Druck ganzer Bände vorzuschießen, andererseits aber auch noch in Fahnen und fertige Bögen umfangreiche Korrekturen einzufügen, ja ganze Ausliefe105 Die Übersetzung wurde lange Therese Huber und Ludwig Ferdinand Huber zugeschrieben, dagegen Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 83. 106 Humboldt an Georg Cotta, Berlin, 20.1.1840. 107 Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 85. 108 Alexander von Humboldt: Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinentes, hg. und mit Anmerkungen versehen von Ottmar Ette, Frankfurt a.M. Leipzig: Insel 1991, S. 1607. Alexander von Humboldt: Die Forschungsreise in den Tropen Amerikas, hg. und kommentiert von Hanno Beck. Studienausgabe, Bd. II, 1 - 3 , Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997. Zu Auslassungen und Kürzungen in dieser Ausgabe vgl. die editorischen Auslassungen, Bd. 3, S. 397. 109 Vgl. Nicolaas A. Rupke: Die kritische Rezeption des Mexiko-Werks von Alexander von Humboldt, in: Alexander von Humboldt — Aufbruch in die Moderne, hg. von Ottmar Ette, Ute Hermanns, Bern M. Scherer, Christian Suckow, Berlin: Akademie-Verlag 2001 (=Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 21), S. 265-273. Rupke führt am Beispiel dieses einen Werkes und seiner zahlreichen Rezensionen die durchaus nach nationalen Erwartungen differierende Bewertung des erfolgreichen Buches vor, wobei stilistische und Formfragen eine große Rolle spielen (S. 269).
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rungen zu verwerfen. Dass er Freiexemplare großzügig gerade an wohlhabendere unter den Interessenten verschenkte, trieb die Kosten weiter in die Höhe. Am vorläufigen Ende der Drucklegung war Humboldt beinahe zahlungsunfähig. Die Gesamtherstellungskosten werden auf 80.000 Francs, die Anschaffungskosten für ein vollständiges, wenn auch noch nicht abgeschlossenes und ungebundenes Werk der großen Ausgabe auf 9574 Francs oder 2553 Taler geschätzt, wobei natürlich in Rechnung zu stellen ist, dass ein großer Teil der Bände über insgesamt 1200 Kupferstiche enthält.110 Das Erscheinen der Bände verzögerte sich immer wieder, weil die Verleger einander ablösten und Restauflagen mit neuen Lieferungen kompiliert werden mussten. Der Absatz blieb weit hinter den optimistischen Prognosen zurück. Auf den Titelblättern erscheinen nach und nach, zum Teil auch in Kooperation, die Verlegernamen [F.] Schoell, Levraut, Librairie grecque-latine-allemande, Maze, Gide [fils], Dufour, Treuttel und Würtz, Smith, A.H. Renouard, Bourgeois. Demgegenüber sind die deutschen Partner der französischen Herausgeber der Voyage, Cotta vor allem, weniger Nicolai, erstaunlich konstant, ohne dass sie freilich die Heterogenität und Verspätung der einzelnen Bände hätten ausgleichen können.111 Der Verkauf stagnierte jedenfalls in Frankreich wie in Deutschland zunehmend, indem die Kosten explodierten und der Zusammenhang des ganzen Werkes mit seiner wirren Folge einzelner Teilbände, Serientitel sowie verschiedenen Lieferungen und Ausgaben nicht mehr überschaubar war.112 Rezensionen erschienen ohnehin nicht im Blick auf das gesamte Projekt, sondern auf die in diesem oder jenem Land einzeln ausgelieferten oder von Humboldt selbst verschenkten Bände. Unter kaufmännischen Gesichtspunkten war das Reisewerk ein Misserfolg. Mindestens einer der Verleger habe über dem Unternehmen Konkurs anmelden müssen.113 So sei denn Humboldts Rückkehr nach Deutschland im Jahre 1827 und die resignierende Komplettierung nur eines Teils des Projektes letztlich auch auf permanente Querelen mit Konkursverwaltern, Gerichten und Gläubigern in Paris zurückzuführen gewesen, auf die jahrelangen vergeblichen Bemühungen, konfiszierte Platten, Bögen, Fahnen in kompetentere und solventere Verlegerhände zu
110 Vgl. Biermann: Miscellanea Humboldtiana, S. 62. 111 Aus buchgeschichtlicher Sicht wird dabei der im Verlag Cotta bis dahin ungewöhnliche Aufwand in Illustrationen und Ausstattung der Bände hervorgehoben. Vgl. Dorothea Kuhn: Johann Friedrich und Georg von Cottas Bemühungen um die Buchillustration, in: Herbert G. Göpfert (Hg.): Buch und Leser, Hamburg: Hauswedell 1977, S. 105-121, hier S. 110. 112 Vgl. Biermann: Miscellanea Humboldtiana, S. 64f. 113 Ebd., S. 62.
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übergeben.114 Was Humboldt nicht schon zur Bestreitung der Reisekosten und zur mäzenatischen Unterstützung anderer Forscher ausgegeben hatte, verzehrte so das Projekt des Reisewerks. Schließlich musste er notgedrungen sein Amt als Kammerherr Friedrich Wilhelms III. antreten. In der Humboldt-Forschung existiert das Reisewerk in seiner Gesamtheit eher als Topos einer Gelehrtenbiographie denn als vielbändiges Buch mit spezifischem Werkcharakter. Selbst physisch, als vollständige Reihe prächtiger Bände hat es kaum ein Zeitgenosse, ja wohl noch nicht einmal Humboldt selbst je besessen oder vielleicht gar gesehen. Noch 1830 schrieb er an den Geographen Heinrich Berghaus: Leider, leider! Meine Bücher stiften nicht den Nutzen, der mir vorgeschwebt hat, als ich an ihre Bearbeitung und Herausgabe ging; sie sind zu theuer! Ausser dem einzigen Exemplar, welches ich zu meinem Handgebrauch besitze [im Nachlasse habe sich aber kein komplettes gefunden], 115 gibt es in Berlin nur noch zwei Exemplare von meinem amerikanischen Reisewerke. Eins davon ist in der königlichen Bibliothek und vollständig, das zweite hat der König in seiner Privatbibliothek, aber unvollständig, weil auch dem Könige die Fortsetzungen zu hoch gekommen sind. 116
Über eine tatsächliche Lektüre des Ganzen, das heißt aller Bände, mit der übrigens auch Humboldt von Anfang an gar nicht gerechnet hatte,117 oder auch einzelner Bände lassen sich nur Vermutungen, und wohl eher pessimistische, anstellen. Humboldts Fragmente: disziplinäre, institutionelle, ökonomische und texttheoretische Aspekte Das Ganzheitspathos des Reisenden und des Naturforschers, das auch der Autor einzelner Bände immer wieder beschwört, blieb also in der langjährigen Arbeit am vielbändigen Reisewerk auf der Strecke. Das Reisewerk, wie es bei Humboldts Tod vorlag, diskreditiert dabei den Helden der Wälder, den Universalisten und freien Menschen schlechthin nicht etwa, weil es sich den Gesetzen einer zunehmenden fachlichen Differenzierung hätte beugen müssen. Das Multidisziplinäre behinderte Humboldt nicht primär wegen der Vielzahl der Probleme, für deren jedes einzelne er nicht 1 1 4 Ebd., S. 65. 1 1 5 Vgl. Löwenberg, Alexander von Humboldt. Bibliographische Übersicht, S. 15. 1 1 6 Briefwechsel Alexander von Humboldt's mit Heinrich Berghaus aus den Jahren 1825 bis 1858, 2. Auf., Jena: Hermann Costenoble 1869, Bd. 1, S. 255. 1 1 7 Vgl. den Brief an Willdenow vom 21.2.1801: „Meine Idee ist, da meine Reise so viele Gegenstände umfaßt, welche unmöglich denselben Leser interessieren können, die Beobachtungen in verschiedenen Teilen dem Publikum vorzulegen" („Das große und Gute wollen." Alexander von Humboldts amerikanische Briefe, S. 88).
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kompetent gewesen wäre. Es behinderte ihn in der Quantität, die zwangsläufig Arbeitsteiligkeit voraussetzte. Die Arbeitsteilung wiederum war nicht mit Humboldts freischwebender Existenz vereinbar. Sie hätte entweder institutionell oder zumindest unternehmerisch organisiert sein müssen. Der oberflächliche Vergleich mit verschiedenen ebenfalls monumentalen Publikationsprojekten, die Humboldt bekannt gewesen sein können, zeigt die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den institutionellen, auch politischen und ökonomischen Voraussetzungen. Die Encyclopedie, an die Humboldt vielleicht wegen ihres buchhändlerischen Erfolgs dachte,118 war doch von vielen Gelehrten in unterschiedlicher Stellung verfasst worden und hatte dabei zahlreiche verlegerische Manöver und Debakel zu überstehen; Georges-Louis Leclerc de Buffons Histoire naturelle Generale et Particuliere war das Ergebnis jahrzehntelanger Bemühungen einer Gruppe von Gelehrten, die unter Anleitung des Verwalters der königlichen Gärten arbeiteten, und dennoch wurde sie im 19. Jahrhundert mehr und mehr als eine historisch überholte Erscheinung wahrgenommen, deren rhetorischer Charakter einer wissenschaftlichen Aktualisierung grundsätzlich im Wege stand. Das Historische Wörterbuch der deutschen Sprache,119 bei dem es sich ja um das Grundwerk einer einzigen Disziplin handelte, erschien 1854—1960. Wenn die Brüder Grimm zu Lebzeiten wenigstens bis zum Buchstaben „E" kamen, hing es mit ihrer Stellung als Universitätsprofessoren zusammen, eine akademische Kommission musste das Projekt fortführen. Im Vergleich damit hatte Humboldt zwar einen kongenialen Bruder, den er bei der Verfassung des Reisewerks jedoch kaum in Anspruch nahm; und wenn er nicht Gefahr lief, wegen seines politischen Engagements seines Lehrstuhls verlustig zu gehen, so genoss er doch auch niemals die damit verbundenen Privilegien weder in Göttingen noch sonst wo. Seine Freiheit der Forschung war damit auch eine ökonomische und die einer weitgehenden institutionellen Heimatlosigkeit, anders übrigens auch als bei den Verfassern der Monumenta Germaniae Historica. Die monumentale Description de l'Egypte, die ab 1809 in Paris erschien, hatte es wie die Humboldtsche Voyage mit dem komplizierten Verhältnis von Text und Bild zu tun, wurde aber „sous les ordres de Napoleon Bonaparte" verfasst. Dass Humboldt sein Reisewerk nicht in gleichem Maße als nationales Unternehmen ansah, zeigt schon die intendierte Publikation in zwei Sprachen zugleich. Ja es scheint, als habe das sehr zurückhaltende oder ablehnende Verhalten Napoleons gegenüber dem Heimkehrer Humboldt 118 Vgl. Robert Darnton: Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopedie: Oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn? Berlin: Wagenbach 1993 [Cambridge 1773]. 119 Historisches Wörterbuch der deutschen Sprache, hg. von der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Leipzig: Hirzel 1854—1960.
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mit einer Animosität zu tun, die der Initiator des Ägyptenfeldzuges für diesen erfolgreichen Teil seiner Invasion, der Description gegenüber dem einzelnen und privaten Veranstalter einer vergleichbar bedeutenden Expedition und eines ähnlichen Prachtwerkes empfand.120 Als Kurator einer Ausgabe der Sämtlichen Werke Friedrichs des Großen schließlich konnte Humboldt in Berlin nachvollziehen, was es heißt, ein Gesamtwerk im Namen einer Akademie im königlichen Auftrage herauszugeben — es hat nur wenig gemeinsam mit der Publikation der Voyage. Wer also zu Humboldts Lebzeiten ein monumentales, vielbändiges und kostspieliges, auch noch illustriertes Buchwerk, womöglich auf mehreren Fachgebieten zugleich, in verschiedenen Ausgaben und mehreren Sprachen veröffentlicht, muss entweder im Auftrag des Staates oder Monarchen handeln, einer Kommission Rede stehen, Teil eines wirklichen Autorenkonsortiums sein, in einem festen Anstellungsverhältnis bei einer wissenschaftlichen Institution stehen oder sich als Amateur bezeichnen lassen. Nichts davon trifft im Falle Alexander von Humboldts zu. Er versuchte vielmehr, in einer Epoche rasanter politischer und kultureller Veränderungen, dem Druck zur Identifikation mit einer oder nur wenigen der herausdifferenzierten gesellschaftlichen Funktionen, mit Spezialistentum und Professionen zu widerstehen. Dabei konnte er von einigen Tendenzen profitieren: Dieser Differenzierungsprozess verlief naturgemäß träge, sowohl in Frankreich als auch in Deutschland wurden neben und oberhalb des Experten „Litteraten" und „Gelehrte" im weiteren Sinne zugelassen. Die Epoche suchte selbst der Tendenz zur Aufsplitterung des Wissens und der damit Beschäftigten zumindest in symbolischen Akten der Repräsentation etwas entgegenzusetzen, und Humboldt beteiligte sich persönlich an solchen Anstalten. Und weiter ließen die neuen, stärker differenzierten Gesellschaften Europas bestimmte Ausnahmeerscheinungen zu, Helden und Exzentriker121 wie Humboldt es war, ja brauchte sie wohl eben in dem Maße, in dem sich eine Vorstellung von Individualität und Identität jenseits festgelegter sozialer Rollen und Funktionen kulturell durchsetzte und behauptete. Im Modernisierungsprozess, den Humboldt seit dem Ancien Regime, über 1789, 1806, 1830 und 1848 weit hinaus als Zeuge und Akteur begleitete, konnte es ihm sehr wohl anstehen, dass er im Abglanz der Privilegien eines Barons und seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit lebte, zugleich aber mit der Bedürfnislo120 Vgl. Otto Kratz: „Dieser Mann vereint in sich eine ganze Akademie". Humboldt in Paris, in: Alexander von Humboldt. Netzwerke des Wissens, S. 113—127, S. 113. 121 Wie Brenner darlegt, erklärt sich der hohe Anteil von Aristokraten an den Expeditionen und ihrer literarischen Verarbeitung im 19. Jahrhunderts mit der Möglichkeit, einen gesellschaftlichen Statusverlust durch die Ausnahmesituation der Reise zu kompensieren (Brenner: Der Reisebericht, S. 471).
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sigkeit eines Asketen und mit den Idealen des Bürgerlichen und der Humanität schlechthin im Munde. Humboldts Multidisziplinarität scheint in gewissem Maße seinen sozialen Indeterminismus vorauszusetzen. Wo sich aber diese Vielseitigkeit in einem so monumentalen und komplexen Werk niederschlagen sollte, konnte der Verzicht auf institutionelle Organisation von Arbeitsteilung nur durch ökonomische Organisations formen abgefangen werden, das heißt durch die Bindung der publizistischen Tätigkeit an Mechanismen des Marktes. Humboldts Vertrauen auf seine privaten Ressourcen beweist, dass er die verschiedenen Funktionen des wirtschaftlichen Produktionsund Distributionsprozesses unterschätzte. Dass die Professionalisierung der Buchproduktion, des Drucks, der Redaktion, des Verlags, der Kritik keine Erscheinung war, die dem umfassenden und vielseitigen Geist eines Forschers und Autors untergeordnet war, sondern dass sie die Mechanismen einer differenzierten Gesellschaft von Kritikern und Lesern bedienten, hat Humboldt erst aus dem Scheitern seines visionären Projektes erfahren. Das Fragmentarische seines Reisewerks im ganzen und in einzelnen Teilen, die wie die Relation historique oder das Examen critique nie zum Abschluss gelangten, deutet aber nicht nur auf eine problematische Stellung in der Disziplinengeschichte, in der Geschichte der Institutionen und im ökonomischen Kontext. Auch aus texttheoretischer Sicht ist das Fragmentarische von Humboldts Hauptwerken beschrieben worden, bis zum Kosmos, der möglicherweise nicht nur deswegen unvollendet blieb, weil der Verfasser über dem abschließenden fünften Band verstarb. Zwischen dem Anspruch, die ganze Natur darzustellen und der Vielzahl von Disziplinen, die zu berücksichtigen sind, zerfällt das Reisewerk in Bände und Kapitel, die vielfach aufeinander verweisen, ohne dass sich formal ein Abschluss erkennen ließe. Diese formale Unabgeschlossenheit lässt zwei Schlüsse zu: Humboldt versuchte etwas zu leisten, was ihm dann doch nicht gelungen ist, wobei er am Umfang und der Komplexität des Vorhabens scheiterte. Das Fragmentarische des Reisewerks wäre also ein pragmatisches Problem ambitionierter Autorschaft. Pragmatisch bliebe dieses Problem auch dann, wenn es nie und unter keinen Umständen hätte gelöst werden können. Von einer solchen pragmatischen Sicht auf den Fragmentcharakter der Reise hebt sich jedoch eine Beschreibung ab, die die Unabgeschlossenheit als Funktion einer spezifischen Ästhetik und Philosophie darstellt. In diesem Sinne sprach Hans Blumenberg im Blick auf Humboldt vom „Pathos des Fragments,"122 worin ihm Ottmar Ette folgt.123 Im Kontext 122 Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 285.
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der Epoche wäre vor allem an die Vorliebe romantischer Schriftsteller für die Repräsentation des Absoluten im absichtlich Bruchstückhaften zu erinnern. Kann man sagen, dass Humboldt intentionale Fragmente schrieb? Ein Zitat aus dem Briefwechsel mit Varnhagen aus dem Jahr 1841, das Blumenberg anführt, scheint es zu bestätigen. „Daß ein solches Werk [wie der Kosmos] nicht vollendet wird von Einem aus dem KometenJahr 1769 ist sonnenklar. Die einzelnen Fragmente sollen so erscheinen, daß die welche mich begraben sehen, in jedem Fragmente etwas Abgeschlossenes sehen." Blumenberg lässt allerdings Humboldts aufschlussreiche Einfügung beiseite, in der er die „einzelnen Fragmente, in Massen von zwölf bis fünfzehn Bogen" erscheinen lassen will. Ganz offensichtlich ist von abgeschlossenen Folgen und Bruchstücken im technischen Sinn die Rede, nicht von einer Poetik des Fragments. Humboldt wollte vollenden und empfand das Unerledigte als bleibende Verpflichtung. Und mehr noch, er war so weit Empiriker, dass der quantitative Abschluss in einem epistemologisch zwingenden Zusammenhang mit der Illustration naturgesetzlicher Zusammenhänge stand. So häuften sich auch zu den Ansichten der Natur von Auflage zu Auflage die Anmerkungen, so bemühte sich Humboldt um die lückenlose Rekapitulation und Kritik der Literatur. An Valenciennes schrieb er 1834 anlässlich der Arbeit an dem Examen critique de l'histoire de la geographie du Nouveau Continent. j'ai de la peine ä suffire ä des travaux litteraires, que je continue avec une erudition qui peut paroitre ennuyeuse mais ä la laquelle preside une pensee, celle de prouver qu'il n'y a jamais eu de lacune, que les grandes decouvertes comme les grandes et salutaires revolutions ont ete les effets d'un developpement organique, de combinaisons longtems et tacitement preparees, que chaque siecle vient ä bout de ce qui caracterise sa tendance principale. 124
Unmissverständliche Belege gibt es auch für Humboldts feste Absicht, den Kosmos zu vollenden.125 Was zuvor in bezug auf die Geschichte gesagt wurde, gilt in gleichem Maße für die Natur: Humboldt setzte ein naturgesetzliches Ganzes und einen Zusammenhang voraus, die zwar empirisch im einzelnen nicht zu beweisen waren, für die aber Hinweise zusammengetragen werden konnten, und dabei kam es sehr wohl auf formale und konzeptionelle Vollendung an. Das Fragmentarische war dabei sicherlich ein notwendiger Effekt zu ehrgeiziger Zielsetzungen und der Tücke der materialen Masse, nicht jedoch eine gezielte Strategie in einer Ästhetik oder Erkenntnisphilosophie, die ohnehin auf Transzendenz angelegt gewesen wäre. 123 Ette: Reise, S. 1567. 124 S. LXXXI, 22.8.1834. 125 Biermann: Miscellanea Humboldtiana, S. 68.
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Dennoch ist auffällig, dass der Schriftsteller Humboldt vor allem in jenen literarischen Genres erfolgreicher war, die Unabgeschlossenheit und Vorläufigkeit der Aussage intentional abfangen: Essai, Ideen, Ansichten, und auch in solchen Gattungen, die der Exposition von Wissen feste Grenzen setzen, wie Gemälde oder Tableau. Unweigerlich führt die Frage nach Humboldts Formulierungen wissenschaftlicher und philosophischer Wahrheiten zum Gattungscharakter seiner Schriften.
Wissenschaft und Einbildungskraft. Genres literarischer Naturdarstellung Die literarisch-wissenschaftliche Ausbeute von Humboldts Reise der Jahre 1799 bis 1804 umfasst höchst unterschiedliche Textformen. Das Großprojekt der Voyage aux Regions equinoxiales du Nouveau Continent, ursprünglich auf erschöpfende Quantität und eine Gesamtdarstellung der bereisten Gebiete ausgelegt, zerfaserte mit den Jahrzehnten konzeptionell und formal immer mehr und blieb endgültig Fragment. Die unvollendet gebliebenen Arbeiten Humboldts seien nicht mit intentionalen Fragmenten zu verwechseln, so hieß es. Eine dezidierte Ästhetik des Skizzenhaften, des Vorläufigen verfolgen einige von Humboldts kürzeren Texten hingegen durchaus. Einzelne Teile des Reisewerks, etwa der Essai sur lageographie desplantes und die separaten Ansichten der Natur üben sich in einer solchen Vorläufigkeit und bewältigen eben darum die Fülle des empirischen Materials besser. Es hängt mit dem Gattungscharakter dieser Texte zusammen, der sich schon im Titel oder in den Überschriften einzelner Abschnitte ankündigt: Ideen, Ansichten, Naturgemälde, Physiognomik im Deutschen, oder Vues, Tableaus, Atlas pittoresque oder Essais, wenn man sich an französische Bezeichnungen hält. Diese Titel oder Überschriften benennen gebräuchliche Gattungen oder aber zumindest Darstellungskonventionen, die formal wenig bindend sind. Sie lassen vermuten, dass subjektive Wahrnehmungen zur Darstellung kommen, und die Pluralbildung in einigen dieser Titel verweist auf eine gewisse Vorläufigkeit des Exponierten. Dennoch sind die gemeinten Genres auf Zusammenhänge, Einheitliches, Ganzheitliches, repräsentative Totalitäten angelegt, so wie die „Landschaften", ein zentrales Konzept in Humboldts Schriften. Die repräsentierte Totalität scheint in diesen Texten von Organisationsprinzipien abzuhängen, die ursprünglich künsderischen oder poetischen Charakters sind. Setzt man die Autonomie von Kunst und Wissenschaft einmal voraus, dann bedient sich der Schriftsteller Humboldt eines Tricks, indem er künstlerische Modi der Darstellung für eine vermeintlich empirische Ganzheit einstehen lässt. In der historischen Rekonstruktion aber lassen sich Kunst und Wissenschaft unbeschadet ihrer angenommenen Autonomie denken. Die Konventionen und Genres der literarischen Darstellung konstituieren dann nicht nur eine symbolische Welt, sondern ein wissenschaftlich relevantes Wissen.
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Essai, Ideen, Ansichten Neben der Bezeichnung Voyage deutet vor allem die von Humboldt selbst gewählte des ,Essai' auf eine literarische Form im engeren Sinne hin, im Reisewerk vertreten durch den Essai politique sur le Royaume de la Nouvelle Espagne von 1811 und den Essai politique sur File de Cuba von 1826. Gerade diese beiden Werke, die ja auf französisch und für ein frankophones Publikum als ,Essais' bestimmt waren, sind schon wegen ihres großen Umfangs von jeweils zwei Bänden nicht mit dem in Deutschland zum Gattungsbegriff verfestigten Verständnis von ,Essay' oder ,Essai' vereinbar. Eher erinnern sie an Humboldts große Abhandlung unter dem Titel Versuche über die gereifte Muskel- und Nervenfaser; wobei allerdings das Wort Versuche ins Französische Experiences übersetzt wird. Humboldts Werke über Mexiko und Cuba sind keineswegs stärker als andere Werke des Verfassers durch einen essayistischen Stil gekennzeichnet. Mit dem Titel ist höchstens auf ein Stadium empirischer Befassung hingewiesen, das noch keine definiten Schlussfolgerungen über den erforschten Gegenstand als ganzen zulässt. Einen für die Gattung des Essay charakteristischen Stil findet man eher im Essai sur la geographie des plantes von 1805. Wenn Humboldt als Essayist bezeichnet worden ist, und zu Recht, so geschah es jedoch vor allem mit Blick auf die Beiträge zu den Ansiebten der Natur.1 Gemeint ist damit wohl die Mischung aus Sachbezogenheit und Subjektivität im Text, die Tendenz, einen Gegenstand auf überschaubarem Raum vorläufig abzuhandeln, ohne irgend systematische Vollständigkeit zu beanspruchen, eine offene Form des Vollzugs und der Vermittlung von Wissen, der weithin ansprechende Stil. Die Beiträge zur ersten Ausgabe von 1808, Ideen einer Physiognomik der Gewächse, Über Steppen und Wüsten und Über die Wasserfalle des OHnoco bei Atures und Maypures sind übrigens Druckfassungen von Vorträgen, die Humboldt zuerst vor der gelehrten Zuhörerschaft der Berliner Akademiemitglieder, freilich Vertretern unterschiedlicher Fächer, hielt. Der essayistische Charakter der Texte wäre dann auch ein Nachklang der Redesituation. Auf eine gewisse Popularität hatte es Humboldt, der sich nach mehrjähriger Abwesenheit dem deutschen Publikum in neuem Glänze empfehlen wollte, dabei durchaus abgesehen. Die Ansichten der Natur sind denn auch auf lange Sicht, das heißt auch aus der der Literatur1
Heinz Schlaffer: Essay, in: Reallexikon der Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin, New York: de Gruyter 1997, S. 522-525, hier S. 524. Es sind, mit Ausnahme von Die Lebenskraft oder Der rhodische Genius·. Ueber die Steppen und Wüsten-, Ueber die Wasselfälle des Orenoco bei Atures und Maypures, Das nächtliche Thierleben im Urwalde-, Ideen einer Physiognomik der Gewächse·, Ueber den Bau und die Wirkungsart der Vulkane in den verschiedenen Erdstrichen; Das Hochland von Caxamarca und erster Anblick der Südsee.
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geschichtschreibung, erfolgreicher als jedes andere Buch Humboldts gewesen. Seitdem Francis Bacon, einer der Gründerväter der Gattung, seine Essays schrieb, sind sie vorzugsweise Fragen und Gegenständen der empirischen Welt, speziell auch der Naturforschung gewidmet. Humboldt, der Bacon, wie gesehen, zitierte, mag sich der Tradition bewusst gewesen sein. Vorbilder konnte er außerdem bei Georg Forster, dessen essayistische Ansichten vom Niederrhein auch bei der Titelgebung der Ansichten der Natur Pate gestanden haben werden, außerdem bei Lichtenberg, selbst bei Goethe finden. Jüngere Zeitgenossen widmeten sich ebenfalls dem Essay zur Behandlung naturgeschichtlicher und naturphilosophischer Fragen, Novalis etwa, Schelling oder Carl Gustav Carus. Eindeutige Distanznahmen Humboldts von diesen literarischen Projekten fallen eher in eine spätere Zeit. Es ist also denkbar, dass sich Humboldt mit seinen Ansichten gerne im Kontext einer spezifisch deutschen, philosophischen Naturforschung sah. Auf wissenschaftliche Absicherung legte er größtes Gewicht, auf philosophische Tragweite jedoch auch. Bezeichnend ist, dass der Anteil der wissenschaftlichen Anmerkungen in den Ansichten der Natur von Ausgabe zu Ausgabe wächst. Bei der Großzügigkeit, mit der diverse Gattungsmerkmale zur Bestimmung einzelner Prosatexte als Essays angeführt werden können, spricht jedoch nichts dagegen, die wissenschaftlich ambitionierten Ansichten dennoch dazuzuzählen. Wichtig erscheint vor allem die umrisshafte Erschöpfung eines Problems, ausgehend von einem bestimmten, durchaus auch subjektiven Anlass, die Mischung aus Sachlichkeit und persönlich gefärbter Zugangsweise im Haupttext. Das als essayistisch bezeichnete ist ein sprachliches Verfahren, Synthesen zu erzeugen oder vorwegzunehmen, die im Grunde wissenschaftlich erst zu erweisen wären. Nicht dass Humboldt die ästhetische Konstruktion von Einheiten und Ganzheiten in der Natur leugnet, insofern er sich als Forscher ausgibt. Er erkennt sie vielmehr als völlig legitimes Erkenntnismittel an, und zwar besonders in den Ansichten der Natur. Dabei verlässt er sich auf eine Voraussetzung, über die jeder Leser verfügt, die Einbildungskraft nämlich. In der Ästhetik des späten 18. Jahrhunderts ist es eine zentrale Kategorie.2 Sie bezeichnet jenes psychologische Vermögen, das diverse Partikel des Wissens, ob sie nun aus individueller Erfahrung oder aus der Kultur der Zeit stammen, bei geeigneten Anstößen unwillkürlich zu Neuem zusammenfügt. Verwandt und von Humboldt fast synonym verwendet ist die „Phantasie".3 2
3
Vgl. Jochen Schulte-Sasse: Einbildungskraft/Imagination, in: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch, Bd. 1, Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 8 8 - 1 2 0 , zur Aufwertung der Einbildungskraft im 18. Jahrhundert S. 8 9 - 1 0 2 . Vgl. AN, S. 60, 237.
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Gerade die Reiseliteratur der Epoche wendet sich vielseitig an die Einbildungskraft des Lesers: Mit ihrer Hilfe bezieht er Unbekanntes auf Bekanntes, Entferntes auf näher Gelegenes, bestimmte Schilderungen auf Topoi der Literatur oder der Malerei, verknüpft er in Zeit und Raum vereinzelte Ereignisse nach der Logik bekannter Abläufe zu Erzählungen. Die Einbildungskraft lässt sich als ein Vermögen der Verkürzung und Synthese von Daten zu bedeutungsvollen Einheiten ansehen, wobei eben nicht das rationale Denken streng wissenschaftlicher Operationen gefordert ist. Empfindungen, das heißt durch sinnliche Wahrnehmung hervorgerufene Eindrücke, erzeugen spontan komplexe Vorstellungen, wobei die Übergänge zwischen den impulsgebenden Daten und den Ergebnissen ihrer Synthese keiner strengen Regel folgen. Humboldt, kurzum, verlässt sich in den Ansichten der Natur ausdrücklich auf die aus Dichtung und Kunst bekannte Einbildungskraft oder auch Phantasie als Heuristik, deren Legitimität er einfach voraussetzt.4 Wer wie Humboldt die Einbildungskraft beschäftigt und zugleich die Welt belehren möchte, verzichtet auf methodische Strenge. Es entsteht ein gleitender Übergang zwischen Ästhetik und Wissenschaft und eine Verwendung von Begriffen, die selbst dort, wo sie eindeutig dem Bereich der Kunst und schönen Literatur zugehören, vom Vergleich in die Metapher, von der Metapher in die wörtliche Bedeutung hinüberschwimmen, für den Leser oft nicht auf den ersten Blick wahrnehmbar. 5 Die Eigenschaften der annähernden und abfärbenden Schlagworte teilen sich dabei den Gegenständen der Untersuchung mit, wie sich noch zeigen sein wird. Was Humboldt unter „Ideen" versteht, muss sich mit diesem Verfahren vertragen. Sie stehen im Titel zu zwei Abhandlungen, die als wissenschaftlich besonders innovativ und wegweisend in der Geschichte der Geographie und Botanik gelten: Die schon in die erste Ausgabe der Ansichten aufgenommenen Ideen einer Physiognomik der Gewächse von 1806 und die Ideen einer Geographie der Pflanzen von 1807, die Übersetzung des Essai sur la geographie des plantes aus dem monumentalen Reisewerk. Dem französischen „Essai" entsprechen dabei recht gut die deutschen „Ideen". Bei der Titelgebung der einen wie der anderen Ideen haben vermutlich vor allem Herders vierbändige Ideen ur Philosophie der Geschichte der Menschheit von 1784 bis 1791 als Vorbild gedient, im Bewusstsein der zeitgenössi4
5
Brenner: Der Reisebericht, S. 464: „Die naturwissenschaftliche Methode wird ergänzt durch eine ästhetische, die besonders in den Landschaftsbeschreibungen hervortritt. Sie wird von Humboldt als eigenständiges und legitimes Verfahren begriffen, nicht nur als Ausdruck subjektiver Beliebigkeit." „he frequendy jumps from one association to another through a series of relative and subordinate clauses which leave his reader uncertain about his original premises and conclusions": Robert van Dusen: The Literary Ambitions and Achievements of Alexander von Humboldt, Frankfurt a.M.: Lang 1971 (=Europäische Hochschulschriften I, 52), S. 57.
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sehen Leser soweit präsent, dass sie an eine unmittelbare Nachfolge denken durften. Auch aus inhaltlichen Gründen liegt, wie noch zu zeigen, eine Herder-Reminiszenz Humboldts nahe. Möglicherweise hat er auch an Kants Ideen ψ einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, ebenfalls aus dem Jahre 1784, gedacht. Wilhelm von Humboldts Ideen einem Versuch, die Gründen der Wirksamkeit des Staates ψ bestimmen von 1792 waren dem Bruder sicherlich bestens, dem Publikum seinerzeit freilich noch nicht bekannt. Schellings Ideen ψ einer Philosophie der Natur von 1797 kannte Humboldt möglicherweise. Kaum jedoch ist an „Ideen" als synthetische Urteile der Vernunft a priori zu denken, die in Kants erster großer Kritik, eben der reinen Vernunft von 1781 entwickelt werden. Humboldt hatte zwar das Buch wohl mit einer gewissen Gründlichkeit studiert, doch bekennt er sich in den genannten Schriften wie auch sonst nirgends zu der Kantschen Terminologie in ihrer philosophischen Konsequenz. „Idee" versteht er offenbar mehr als vorwegnehmende und verkürzende Darstellung eines im Einzelnen erst noch auszuarbeitenden Wissens, wobei die psychologische Intuition und die ästhetische Produktivität ebenso zulässig sind wie die Operationen der Vernunft. Dies passt auch zu den titelgebenden Ansichten der Natur, die an eine subjektive, ausschnitthafte Darstellung von Naturgegenständen denken lassen, ganz im Sinne des Essai. Der Wortgebrauch der Zeit versteht unter „Ansicht" ein Bild oder eine Zeichnung, die eine Landschaft darstellt, verwandt den Veduten oder Panoramen.6 Die Vorrede von 1808 erhärtet denn auch den Eindruck, den man aus dem Titel gewinnen kann, dass ein Zusammenhang zwischen sachlicher Darstellung, schöner Literatur und bildender Kunst durchaus beabsichtigt ist: Überblick der Natur im großen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses, welchen die unmittelbare Ansicht der Tropenländer dem fühlenden Menschen gewährt: sind die Zwecke, nach denen ich strebe. Jeder Aufsatz sollte ein in sich geschlossenes Ganzes ausmachen, in allen sollte eine und dieselbe Tendenz sich gleichmäßig aussprechen. Diese ästhetische Behandlung naturhistorischer Gegenstände hat, trotz der herrlichen Kraft und der Biegsamkeit unserer vaterländischen Sprache, große Schwierigkeiten der Komposition. Reichthum der Natur veranlaßt Anhäufung einzelner Bilder, und Anhäufung stört die Ruhe und den Totaleindruck des Gemäldes. Das Gefühl und die Phantasie ansprechend, artet der Styl leicht in eine dichterische Prosa aus. Diese Ideen bedürfen hier keiner Entwickelung, da die nachstehenden Blätter
6
Wieder bei Sengle der Hinweis auf den Zusammenhang zwischen der literarischen „Ansicht" oder „Aussicht" als „Ersatz für das gemalte Panorama, das wohl aus der spätbarokken Theatermalerei hervorging, sowie den Formen der Veduten und Prospekte" (Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 2, S. 246).
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mannigfaltige Beispiele solcher Verirrungen, solchen Mangels an Haltung darbieten.7
Bis auf den „Beweis vom Zusammenwirken der Kräfte" gelten alle Besorgnisse des Autors der ästhetischen Behandlung des Gegenstandes, speziell offenbar der unter künstlerischen Gesichtspunkten so wichtigen Einheit in der Mannigfaltigkeit. Zum einen hat es der Verfasser mit Problemen der nicht alltäglichen Sprache zu tun, mit „Stil", „Prosa", dem „Dichterischen". Zum anderen mit „Komposition", „Bild", „Totaleindruck" und „Gemälde", dem Bereich der bildenden Kunst entnommenen Metaphern, die im Rahmen von Humboldts beschreibender Prosa fast schon nicht mehr als Metaphern anzusehen sind. Das Bildkünstlerische ist dabei eher das Organisationsprinzip der sprachlichen Darstellung von Phänomenen denn stilistische Ausschmückung — das wird noch deutlicher werden. Gemeinsam ist jedenfalls dem Sprachlichen und dem recht konkret aufgefassten Bildlichen, dass es „dem fühlenden Menschen" „Genuß" gewährt, unter Umständen „Gefühl" und „Phantasie" anspricht. Gerade in diesem letzten Punkt scheint Humboldt Zurückhaltung üben zu wollen. Tatsächlich soll jedoch die Wechselwirkung zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis, ästhetischem Eindruck und „moralischer" Wirkung gesucht werden. Nicht nur betont Humboldt, dass der Genuss, „welchen ein empfanglicher Sinn in der unmittelbaren Anschauung findet [...] mit der Einsicht in den inneren Zusammenhang der Naturkräfte vermehrt wird" (es folgt ein Hinweis auf die wissenschaftlichen Anmerkungen);8 gleich anschließend unterstreicht der Verfasser der Vorrede den „ewigen Einfluß [...], welchen die physische Natur auf die moralische Stimmung der Menschheit und auf ihre Schicksale ausübt." 9 Es ist der Moment, die von Krieg und Besatzung betroffene deutsche Leserschaft mit einem Schillerzitat („Auf den Bergen ist Freiheit!") in das „Dickicht der Wälder, durch die unabsehbare Steppe und auf den hohen Rücken der Andeskette" einzuladen.10 Neben den schönen Gegenständen sind es also erhabene, die der Verfasser mit seinen Ansichten der Natur evozieren will, wenn denn schöne Gegenstände den Geschmack, erhabene die Sittlichkeit des Lesers ansprechen. Es wird sich zeigen, dass die verbindlichen Worte des Verfassers der Vorrede durchaus nicht nur Ornament sind. In der Vorrede zur zweiten und dritten Auflage von 1826 respektive 1849 erscheint dagegen das Zusammenwirken von Ästhetik und Erkenntnis schon gelockert. Ging es in den einleitenden Seiten zur ersten Ausgabe um die ästhetische Behandlung naturgeschichtlicher Gegenstände und ihre 7 8 9 10
AN, S. 7. AN, S. 8. Ebd. Ebd.
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Probleme, so erkennt Humboldt jetzt in den nunmehr historisch gewordenen Ansichten die „zwiefache Richtung dieser Schrift (ein sorgsames Bestreben, durch lebendige Darstellung den Naturgemäß zu erhöhen, zugleich aber nach dem dermaligen Stande der Wissenschaft die Einsicht in das harmonische Zusammenwirken der Kräfte zu vermehren)."11 Offenbar haben sich, trotz der Voraussetzung „harmonischer" Kräfteverhältnisse in der Natur, Kunst und Wissenschaft inzwischen soweit auseinanderbewegt, dass es gewisser Kautelen bedarf: Es sind damals schon die mannigfaltigen Hindernisse angegeben, welche der ästhetischen Behandlung großer Naturszenen entgegenstehn. Die Verbindung eines litterarischen und eines rein scientifischen [!] Zweckes, der Wunsch, gleichzeitig die Phantasie zu beschäftigen und durch Vermehrung des Wissens das Leben mit Ideen zu bereichern: machen die Anordnung der einzelnen Theile und das, was als Einheit der Composition gefordert wird, schwer zu erreichen. 12
Kein Zweifel — gegenüber der ersten Ausgabe, die vor allem in bezug auf rhetorische und poetische Fragen als solche Bedenken trägt, sieht die Vorrede zu den späteren das Problem mehr in der Grenzüberschreitung zwischen Kunst und Wissenschaft, ein Hinweis auf die mittlerweile weiter fortgeschrittene Differenzierung der Systeme. Landschaft: malerisch Die vollzogene Differenzierung der Systeme, der Geographie etwa auf der einen und der bildenden Kunst auf der anderen Seite, muss den Blick auf die Genese der humboldtschen physiognomischen Geographie verstellen. Sie entwickelt sich aus einem Verständnis von „Himmelsstrichen", „Erdstrichen", „Zonen", „Räumen", „Gegenden", die Humboldt als landschaftlich charakterisiert. „Landschaft" changiert dabei eigentümlich zwischen verschiedenen Bewertungen, die einmal auf ästhetische Konstruktion, dann auf psychologische Wirkung, dann auf pragmatische Zwecke hindeuten. Humboldt liebt es, die semantischen Felder der verschiedenen Konnotate nebeneinanderzustellen und ineinander übergehen zu lassen, so auch in der Exposition der These seiner Ideen einer Physiognomik der Gewächse·. Wer demnach die Natur mit Einem Blicke zu umfassen und von LocalPhänomenen zu abstrahiren weiß, der sieht, wie mit Zunahme der belebenden Wärme, von den Polen zum Äquator hin, sich auch allmählich organische Kraft und Lebensfülle vermehren. Aber bei dieser Vermehrung sind doch jedem Erdstriche besondere Schönheiten vorbehalten: Den Tropen Mannigfaltigkeit und 11 12
A N . S . 9. Ebd.
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Größe der Pflanzenformen; dem Norden der Anblick der Wiesen und das periodische Wiedererwachen der Natur beim ersten Wehen der Frühlingslüfte. Jede Zone hat außer den ihr eigenen Vorzügen auch ihren eigenthümlichen Charakter. Die urtiefe Kraft der Organisation fesselt, trotz einer gewissen Freiwilligkeit im abnormen Entfalten einzelner Theile, alle thierische und vegetabilische Gestaltung an feste, ewig wiederkehrende Typen. Sowie man an einzelnen organischen Wesen eine bestimmte Physiognomie erkennt; wie beschreibende Botanik und Zoologie im engern Sinne des Wortes Zergliederung der Thier- und Pflanzenformen sind: so giebt es auch eine Naturphysiognomie, welche jedem Himmelsstriche ausschließlich zukommt. 13
Auffallig ist an der Passage die eigentümliche Engführung von ästhetischen und moralischen Begriffen, wo es offenbar um einen pflanzengeographischen Grundsatz geht: von „Schönheiten", ist die Rede, von „Vorzügen", „Charakter", „Gestaltung", „Typen", „Physiognomie". Sie alle rufen in den Lesern bestimmte Vorstellungen wach. In dem einen Wort „Landschaft", um das jene anderen als Attribute gravitieren, stecken die kulturell überformte Natur, etwa die besiedelte, die bearbeitete, weiter die bildliche oder poetische Darstellung eines Naturausschnitts, dazu die moralischen und affektiven Wirkungen, die natürliche Zonen oder auch ihre Darstellung auf Betrachter und Bewohner ausüben, und schließlich der Gegenstand einer spezifischen geographischen Deskription, die Landschaft soweit zu objektivieren scheint, dass sie vielfach als das Primäre, das urwüchsig Naturgegebene erscheint. Dem ist aber durchaus nicht so. Landschaft, so kann man für alle semantischen Valenzen des Wortes sagen, ist ein Kulturprodukt, das Ergebnis materieller Bearbeitungen, ästhetischer oder psychologischer Zuschreibungen. Georg Simmel fasste es am Beginn des 20. Jahrhunderts noch einmal zusammen und sprach von dem „eigentümlichen geistigen Prozeß, der [...] erst die Landschaft erzeugt." Weiter oben hieß es bei Simmel: „Unser Bewußtsein muß ein neues Ganzes, Einheitliches haben, über die Elemente hinweg, an ihre Sonderbedeutung nicht gebunden und aus ihnen nicht mechanisch zusammengesetzt - das erst ist die Landschaft." 14 Nur indem die diversen Zuschreibungen sich allmählich von ihrem Herkunftsbereich lösen, erscheinen sie zuletzt als naturwüchsige Eigenschaften des vermeintlich objektiven Gegenstandes Landschaft. Humboldt, der in seinen Werken nirgends die kulturelle Deszendenz des Landschaftsbegriffs verleugnet, ist jedoch ein Meister darin, aus der Ästhetik und Psychologie soviel für die wissenschaftliche Konstitution seiner Naturausschnitte zu beziehen, dass schließlich alle ihre Qualitäten und Konnotate gewissermaßen in der scheinbar objektiven geographischen Landschaft aufgehen. 13 14
AN, S. 245. Georg Simmel: Philosophie der Landschaft [1913], in: ders.: Das Individuum und die Freiheit. Essais. Berlin: Wagenbach 1984, S. 130-139, hier S. 130.
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Zunächst zur Landschaftsmalerei, von der sich kaum noch sagen lässt, dass sie gegebene Phänomene abbildet; mindestens ebenso ist richtig, dass ihre Konventionen den Gegenstand erst konstituieren.15 Das gilt speziell für die Bildausschnitte und die Perspektive, die so gewählt sein müssen, dass die Erscheinungen in einer ansprechenden Anordnung, das heißt Komposition, und Beleuchtung zur Wirkung kommen. So sehr die Reise die bildende Kunst stimuliert, indem auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse in sie einfließen, so sehr lenken die Konventionen der Landschaftsmalerei auch die Erwartungen der Reisenden, die zu Hause gelernt haben, die fremde Gegend, wenn sie sich dafür eignet, sogleich als „malerisch" zu identifizieren.16 Dabei hängen diese Konventionen auch von den materiellen Gegebenheiten der Reisen, der Erreichbarkeit von Zonen, den Verkehrsmitteln ab. Wenn Dolf Sternberger zuspitzend sagt: „Die Eisenbahn bildete die neu erfahrbare Welt der Länder und Meere selber zum Panorama aus,"17 dann darf man das auf Humboldts Zeiten etwa so übertragen: Das Schiff, das Reittier, die Wanderungen, und immer nur im unverzichtbaren Gehrock, prägen die Perspektive auf das, was Landschaft sein soll: „Aus der üppigen Fülle des organischen Lebens tritt der Wanderer betroffen an den öden Rand einer baumlosen, pflanzenarmen Wüste. Kein Hügel, keine Klippe erhebt sich inselförmig in dem unermeßlichen Räume."18 So führt Humboldt den Leser mit dem „Wanderer" aus den Plantagen an den Rand der südamerikanischen Llanos heran. Der Wanderer könnte aber auch ein Seereisender sein oder in einer Kutsche fahren: „Selbst wenn der Schiffer durch ein Meer, das wiesenartig mit Seetang bedeckt ist, nach der Mündung des Gambia steuert; ahndet er, wo ihn plötzlich der tropische Ostwind verläßt, die Nähe des weitverbreiteten wärmestrahlenden Sandes."19 Oder: „Wenn man in den niedrigen tatarischen Fuhrwerken sich durch weglose Teile dieser Krautsteppen bewegt, kann man nur aufrecht stehend sich orientieren und sieht die waldartig
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Vgl. Norbert Schneider: Geschichte der Landschaftsmalerei. V o m Spätmittelalter bis zur Romantik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 11. Demnach „können auch .landscapes of fact' (Κ. Clark), realistisch oder naturalistisch wiedergegebene Landschaften, schon durch die Wahl des Motivs, die eine besondere Präferenz bedeutet, sozialpsychologisch einen hohen Symbolgrad aufweisen." Vgl. Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 2, S. 251: Reiseliteratur sei oftmals „nicht nur pittoresk geschrieben, sondern die Landschaft schon in dieser Form erlebt." Als Beispiel führt Sengle einen Brief Wilhelm von Humboldts an Forster über das Heidelberger Schloss an. Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, Hamburg: Ciaassen 1955, hier S. 50. Sternberger folgt übrigens im Titel seiner Essais durchaus der Humboldtschen Tradition, wenn er sich zu Ansichten und einer Methode bekennt, die „rein physiognomisch, anordnend und beschreibend" sei (S. 7). AN, S. 15. AN, S. 17.
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dichtgedrängten Pflanzen sich vor den Rädern niederbeugen."20 Eine Ansicht, ein Blick, ein Bild eröffnen sich, keine geographische Erscheinung unabhängig von der Wahrnehmung des Betrachters und seinen Bewegungen.21 Wo aber die Bewegung aufgegeben ist, postiert sich der Wanderer an exponierter Stelle und übt sich im „Gipfelblick", der die Erweiterung landschaftlichen Sehens zur wissenschaftlichen Übersicht ermöglichen soll.22 Auch bei Humboldt also bezeichnet Landschaft nicht das Vorgängige, einen objektiv gegebenen Teil der Natur, sondern das Gemälde, welches ihn darstellt, zumindest aber jenen keineswegs zufälligen Ausschnitt, der als malerisch, als bildfähig ausgegeben wurde, weil er bestimmten Kriterien des Geschmacks entspricht. Dem Sprachgebrauch um 1800 zufolge liege in dem Wort Landschaft ein ästhetischer, vor allem ein wirkungsästhetischer Sinn, so hat es Gerhard Hard wiederholt dargestellt, zugleich vor einer anachronistisch modernen geographische Lektüre von Humboldts Schriften warnend.23 Die Begriffe „Totalbetrachtung", „Totaleffekt", „Totaleindruck", „Totalgestaltung", „Gesamteindruck", „Gesamtresultat", „Gesamtwirkung", bewegen sich demnach in jenem Bereich zwischen der Kunsttheorie und der Erfahrungsseelenkunde, aus dem Humboldt die ästhetischen und psychologischen Qualitäten der Landschaft gewinnt. Bis in den Kosmos gehöre die Landschaft ausdrücklich nicht in den Bereich der Objekte, sondern in den der Empfindungen. 24 Sie manifestieren sich in einem Begriff wie dem des Malerischen. „Das Malerische italiänischer Gegenden beruht vorzüglich auf diesem lieblichen Contraste zwischen dem unbelebten öden Gestein und der üppigen Vegetation, welche inselförmig darin aufsproßt,"25 schreibt Humboldt in den Ideen einer Physiognomik der Gewächse. Das „Malerische" ist dabei keineswegs nur ein metaphorischer Ausdruck, wie sich zeigt. Gleich im Anschluss an die zitierte längere Passage, in der so beziehungsreich von Charakter und Physiognomie der Natur die Rede war, heißt es: „Was der 20 21
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A N , S . 18. Zum Wanderer als Funkdon, die im Text das Wissen und die Wahrnehmung zwischen Individuation und Verallgemeinerung organisiert vgl. Graczyk: Das literarische Tableau, S. 272-274. Vgl. wiederum Graczyk, S. 284. Gerhard Hard: „Kosmos" und „Landschaft". Kosmologische und landschaftsphysiologische Denkmotive bei Alexander von Humboldt und in der geographischen HumboldtAuslegung des 20. Jahrhunderts, in: Heinrich Pfeiffer (Hg.): Alexander von Humboldt. Werk und Weltgeltung, München: Piper 1969, S. 1 3 3 - 1 7 7 ; Gerhard Hard: Der ,Totalcharakter der Landschaft'. Re-Interpretation einiger Textstellen bei Alexander von Humboldt, in: Gerhard Engelmann (Hg.): Alexander von Humboldt. Eigene und neue Wertungen der Reisen, Arbeit und Gedankenwelt, Wiesbaden: Steiner 1970, S. 49—73. Ebd., S. 152. AN, S. 243.
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Maler mit den Ausdrücken: schweizer Natur, italiänischer Himmel bezeichnet, gründet sich auf das dunkle Gefühl dieses localen Naturcharakters. Luftbläue, Beleuchtung, Duft, der auf der Ferne ruht, Gestalt der Thiere, Saftfülle der Kräuter, Glanz des Laubes, Umriß der Berge: alle diese Elemente bestimmen den Totaleindruck einer Gegend."26 Bis zur Synästhesie des auf den Bergen ruhenden Duftes werden Sinneseindrücke genannt, die sich im Topos der „schweizer Natur" etwa niederschlagen; es ist alles andere als ein wissenschaftlicher Begriff, es ist eine ästhetische Konvention, technisch umsetzbar („Umriß", „Glanz", „Gestalt"), überwiegend an die Einbildungskraft appellierend, also an die gefühlsmäßige Verknüpfung einer unbestimmten Menge von nicht klar definierten Merkmalen zu einem „Totaleindruck". Gerade dieses „dunkle Gefühl" lässt Humboldt gelten, als Annäherung an ein komplexes Naturphänomen, das er noch zu präzisieren sucht.27 Dass er dabei ganz ausdrücklich an die Tradition der Landschaftsmalerei denkt, erschließt sich rückblikkend aus dem betreffenden Abschnitt aus dem Kosmos, Jahrzehnte später verfasst.28 Zu diesem Zeitpunkt kann Humboldt nicht nur die älteren Landschaftsmaler seit Lorrain, Poussin und den großen Holländern, die er nennt, als intuitive Vorläufer einer genaueren Kenntnis bestimmter Gegenden bezeichnen; indessen hat sich, vom Verfasser des Kosmos ermutigt, eine Landschaftsmalerei zu wissenschaftlichen Zwecken auf höchstem Niveau etabliert.29 Als denkbare Gewährsleute für das Landschaftsverständnis um 1800, das die Ansichten prägt, nennt Hard Literaten und Künstler, Psychologen 26 27
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AN, S. 345. Humboldt sehe „die Beschreibung der Natur und der Geschichte ihrer Erforschung als eine der Kunst, insbesondere der Landschaftsmalerei vergleichbare Aufgabe." Hans Holländer: Weltentwürfe neuzeitlicher Landschaftsmalerei, in: Jörg Zimmermann (Hg.): Das Naturbild des Menschen, München: Fink 1982, S. 183-224, hier S. 184. Dabei seien die „künstlerischen Mittel selbst ebenso Gegenstand des Bildes wie die dargestellte Welt" (183). „Landschaftsmalerei in ihrem Einfluß auf die Belebung des Naturstudiums. - Graphische Darstellung der Physiognomik der Gewächse. — Charakteristik ihrer Gestaltung unter verschiedenen Zonen" (K, S. 225-234). Als Maler, die unmittelbar unter dem Eindruck der Humboldtschen Beschreibungen stehen, werden genannt: Ferdinand Bellermann, Johann Moritz Rugendas, Frar^ois Mathurin Adalbert de Courcy, Albert Berg, Eduard Hildebrandt, Frederic Edwin Church. Einige dieser Maler werden auch im Kosmos lobend erwähnt (K, S. 230). Aus der Landschaftsmalerei seiner Zeit wählt Humboldt, entsprechend dem durchaus empiristischen Interesse an der Malerei, sehr restriktiv aus. Uber die Impulse, die Humboldt einer neuen, der Empirie verpflichteten Landschaftsmalerei verliehen hat, vgl. Renate Löschner: Alexander von Humboldt und das Amerikabild im 19. Jahrhundert, in: Johann Moritz Rugendas in Mexiko. Ein Maler aus dem Umkreis Alexander von Humboldts (Ausstellungskatalog), Berlin: Hellmich 1992, S. 9-17; Otto Krätz: Alexander von Humboldt. Wissenschafder, Weltbürger, Revolutionär, München: Callwey 1997, S. 165-172; Pablo Diemer: Humboldt und die Kunst, in: Alexander von Humboldt. Netzwerke des Wissens, S. 137-154.
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und Philosophen, unter ihnen Johann Georg Sulzer,30 Ch. A. Semler,31 C. G.Fernow, Philipp Otto Runge, aber auch William Gilpin, dessen Reisebeschreibungen und Schriften seit den 1790er Jahren ins Deutsche übertragen wurden.32 Vor allem Gilpin ist es, der den Begriff des „picturesque" im dynamischen Wechselverhältnis von Kunst, Landschaftsgärtnerei und Reisekultur fest etabliert hat.33 Das „Pittoreske" ist einer der wichtigsten Effekte, auf den es die in England zur Vollkommenheit gebrachte Kunst der Landschaftsgartengestaltung abgesehen hat. Sie hat dazu beigetragen, das Ästhetische und die Wirkung auf das Gemüt des Betrachters vom durchaus Künstlerischen auf die reale Landschaft zu übertragen. Auch zu dieser Form der Inspiration zu wissenschaftlicher Beschäftigung bekennt sich Humboldt ausdrücklich im Kosmos, wo von englischen Landschaftsgärten, von Arboreten und Gewächshäusern die Rede ist, die eine authentische Vegetation simulieren.34 Der heuristische Status der Gartenkunst wie der Landschaftsmalerei ist klar: Was zuerst als schöne und gefällige Gruppe erscheint, im Gemälde oder im Garten, konstituiert sich dabei dem Wissenschaftler erst viel später als objektiver Funktionszusammenhang der indigenen Klimaerscheinungen, Gesteine, Pflanzen und Tiere. In Humboldts Ideen einer Physiognomik der Gewächse lässt sich nun der Vorgang der wechselseitigen Übertragungen nachvollziehen: Von der Wirkung der schönen Komposition des Künstlers zu der des harmonischen Zusammenhangs der Naturkräfte, von den natürlichen Gruppen zu ihrer Identifikation als „malerisch". Die neueren Rekonstruktionen von Humboldts Reisen an originalen Schauplätzen haben diesen kulturellen Zusammenhang erhärten können. Im Vergleich zwischen den Fotographien empirischer Landschaften und Humboldts Skizzen vor Ort fällt, selbst bei gleicher Wahl des Bildausschnitts, die konstitutive Rolle von künstlerischen Konventionen in einer vermeintlich realistischen Darstellung auf (vgl. Abb. 3).35
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Johann Georg Sulzer: Unterredungen über die Schönheit der Natur, Berlin 1750. Christian August Semler: Untersuchungen über die höchste Vollkommenheit in den Werken der Landschaftsmalerei, Leipzig 1800. W. Gilpin: Bemerkungen, vorzüglich über Naturschönheit, Leipzig 1792; ders.: Bemerkungen über Wald-Szenen, Leipzig 1800; ders.: Reise durch West-England, Leipzig 1805. Vgl. Malcolm Andrews: The Search for the Picturesque. Landscape Aesthetics and Tourism in Britain, 1 7 6 0 - 1 8 0 0 , Aldershot: Gower Publishing 1989. K, S. 235-239. Vgl. etwa Donald Mclntyre: Die Amerikanische Reise. A u f den Spuren Alexander von Humboldts, Hamburg: Gruner und Jahr 1990, S. 280. Das Foto von den Wasserfallen bei Regia lässt in Louis Bouquets Kupferstich nach einer Zeichnung Humboldts des gleichen Motivs die Topik der erhabenen und heroischen Landschaft erkennen.
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Die erhabene Landschaft: Rhetorik, Philosophie, Ästhetik Noch unmittelbarer als in der Malerei scheint die Wirkung auf Gemüt und Einbildungskraft von den Landschaften in der schönen Literatur auszugehen, wobei wohl kulturhistorisch von einer Genese der literarischen Landschaften aus den malerischen auszugehen ist. Die technischen Medien der Dichtung wirken zwar weniger unmittelbar als die der Malerei, beschwören aber doch in der Imagination des Lesers alle Sinne. In Humboldts Ideen einer Physiognomik der Gewächse besteht das Literarische gleichgewichtig neben dem Malerischen, und wieder im Übergang von wissenschaftlichen Beschreibungen: So wie die oryctognostische Kenntniß der Gesteinsarten sich von der Gebirgslehre unterscheidet; so ist von der individuellen Naturbeschreibung die allgemeine, oder die Physiognomik der Natur, verschieden. Georg Forster in seinen Reisen und in seinen kleinen Schriften; Göthe in den Naturschilderungen, welche so manche seiner unsterblichen Werke enthalten; Buffon, Bernardin de St. Pierre und Chateaubriand haben mit unnachahmlicher Wahrheit den Charakter einzelner Himmelsstriche geschildert.36
Es sind die Namen der Autoren, Gelehrter und Dichter, die Humboldt etwa vierzig Jahre später auch in dem Kapitel des Kosmos, das den „Anregungsmitteln zum Naturstudium" gewidmet ist, bedenken wird.37 Humboldts Literaturverständnis und seine Vorstellungen von literarischen Naturschilderungen scheinen sich demnach ganz an dem historischen Ort und dem Niveau dieser Namen zu orientieren. Die Leser der Ansichten werden aber in Humboldts eigenen Beschreibungen durchaus auch Elemente aus einem viel älteren Repertoire finden. Seine Werke sind durch die gleichzeitige Übung von ungleichzeitig entstandenen kulturellen Konventionen geprägt. Der neueste Stand der zeitgenössischen Naturforschung, der sich später durch die vermeintliche historische Neutralität von Terminologien legitimieren sollte,38 diesen „neuesten Stand" vermittelt Humboldt seinen Lesern mit einer ganzen Bandbreite überlieferter Darstellungsmittel. Das wäre nicht so erfolgreich, wenn er für ein hochspezialisiertes Publikum schriebe, das zu seiner Zeit erst allmählich entsteht. Die Wahl einer Leserschaft in den gebildeten Ständen, denen die Gelehrten sich zuzählen dürfen, bedeutet jedoch auch, dass viele aus früheren Zeiten überlieferte Elemente in der humboldtschen Prosa weiterhin Widerhall 36 37 38
AN, S. 246. K, S. 220f. Über die Historizität und damit potentielle Veränderungen von gegenwärtig .kanonisierten' Darstellungsformen in den Naturwissenschaften vgl. Lutz Danneberg: Darstellungsformen in Geistes- und Naturwissenschaften, in: Peter J. Brenner (Hg.): Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 9 9 - 1 3 7 , hier S. 102.
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finden, während andernorts eine exklusive Wissenschaft exklusive Disziplinen, Institutionen und Terminologien elaboriert. Die Voraussetzungen, die ein Leser Humboldts bis heute mitbringen muss, um die Texte oder etwas von den Texten zu verstehen, sind deswegen viel weniger standardisiert, als bei wissenschaftlichen Publikationen der ausdifferenzierten Fachdisziplinen.39 Das gibt den Lesern zwar Freiheit und erleichtert Popularität; es verführt allerdings auch zu selektivem Verständnis und zu Festschreibungen, die Humboldts geschichtlicher Stellung nicht gerecht werden. Freilich liegt der Verdacht nahe, dass Humboldt seine kulturhistorische Versatilität auch absichtlich in den Dienst einer Uneindeutigkeit der Bewertungen und Zuschreibungen stellt, die ganz wie in der Kunst Bedeutungen oder die Annahme von Bedeutungen durch Uberdeterminiertheit auch da ermöglichen, wo es keine wissenschaftliche Definition gibt. Es sind vor allem Darlegungen des sinnvollen Zusammenhangs des Naturganzen historisch ganz unterschiedlicher Deszendenz, in deren Kontext Humboldt seine „physique du monde" entwickelt. Der Begriff des Erhabenen ist in letzter Zeit als erschließend für Humboldts Landschaftsschilderungen erkannt worden. Dabei führt keine Rekonstruktion des Erhabenen in der Zeit um 1800 um Kants Bestimmungen in der Kritik der Urteilskraft herum.40 Die Applikation auf Humboldts Ansichten der Natur liegt nahe und bringt in der Tat Übereinstimmungen zutage. Indessen gibt es auch eine rhetorische Tradition des Sublimen, auf deren Topoi Humboldt durchaus nicht verzichtet. Solche Topoi vor allem erleichtern es, dass Leser im Fremden das Vertraute wiedererkennen. Humboldt also greift tief in das Archiv der Rhetorik und Topik hinein: Wenn der Mensch mit regsamem Sinne die Natur durchforscht oder in seiner Phantasie die weiten Räume der organischen Schöpfung mißt, so wirkt unter den vielfachen Eindrücken, die er empfängt, keiner so tief und mächtig wie der, welchen die allverbreitete Fülle des Lebens erzeugt. Überall, selbst nahe an den beei-
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Cedric Hentschel: Zur Synthese von Literatur und Naturwissenschaft bei Alexander von Humboldt, in: Heinrich Pfeiffer (Hg.): Alexander von Humboldt. Werk und Weltgeltung, München: Piper 1969, S. 31-95, S. 49: Humboldt gelinge es, „die Umgangssprache des Alltags, die gehobene Sprache der herkömmlichen Literatur und die Fachsprache des Spezialisten zusammenzuschmelzen." Um Kants Definition des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft legt Daniel Tobias Seger seine Interpretation von Humboldts Ansichten und Kosmos an. Dabei bezieht er sich vor allem auf die Subjektivierung des Erhabenen, die Kants Kntik von älteren Texten wie Edmund Burkes A Philosophical inquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful von 1757 abhebt, und behandelt die drei Referenztexte von Kant und Humboldt als weitgehend synchron. Daniel Tobias Seger: „...die wunderbar aneignende Kraft des Gemüthes...". Alexander von Humboldt und das Erhabene, in: Scientia poetica 6 (2002), S. 59-76.
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Die amerikanische Reise und ihre europäische Veröffentlichung sten Polen, ertönt die Luft von dem Gesang der Vögel wie von dem Summen schwirrender Insekten. 41
Fülle und Reichtum sind Merkmale des Schönen, illustriert mit einem pars pro toto, dem Vogelsang und dem Schwirren der Insekten, sinnlichen Details, die schon insofern sie Akustisches betreffen, kaum Gegenstand der üblichen Naturgeschichte sind, sondern eher typische Elemente der Dichtung, von der bukolischen42 bis zur romantischen,43 und hier sogar, um der Emphase willen, in die Nähe der eisigen Pole gerückt. Besonders die späte Ergänzung der Ansichten, Das nächtliche lieben im Urwalde, glänzt in der Evokation akustischer Eindrücke, und wurde mit romantischen Naturschilderungen Chateaubriands verglichen, die Humboldt bekannt waren.44 Humboldt bewegt sich an der genannten Stelle jedoch im Rahmen von Deskriptionen, die aus der Literatur längst bekannt sind.45 Er bedient sich markanter Merkmale zur metonymischen Bezeichnung größerer Erscheinungen („bald die entwickelte Knospe [...], bald die reifende Frucht" für Pflanzen in verschiedenen Wachstumsperioden)46 starker Kontraste (etwa des Einheimischen und Exotischen, des Größten und des Kleinsten, des „unbewaffneten und bewaffneten Auges"),47 gängiger Metaphern und beliebter epitheta ornans: „Ungleich ist der Teppich gewebt, welchen die blütenreiche Flora über den nackten Erdkörper 41 42
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AN, S. 237. Albert Langen bezeichnet die „verbale Dynamik", das heißt eine Semantik, die der Bewegung von Wasser, Pflanzen- und Tierwelt, meteorologischen Erscheinungen gilt, als typisch für die Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das Verfahren der verbalen Dynamisierung ziele im Grunde auf die Schilderung seelischer Vorgänge, die sich in der Landschaftsschilderung spiegelten. Albert Langen: Verbale Dynamik in der dichterischen Landschaftsschilderung des 18. Jahrhunderts, in: Alexander Ritter (Hg.): Landschaft und Raum in der Erzählkunst, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975, S. 112—191 [Erstdruck in: Zeitschrift für deutsche Philologie 70 (1948/49), S. 249-313], Auf die Vorliebe der Rokokoliteratur für das Kleine und Intime und für akustische Reize geht Alfred Anger ein: Landschaftsstil des Rokoko, in: Euphorion 51 (1957), S. 151-191, dort auch „Schwirren" als beliebtes Wort der Epoche (S. 156 u. ö.). Richard Alewyn etwa stellt die Vorliebe des Autors für die körperlosen Elemente seiner Landschaften, Licht und Klang, Atmosphärisches in den Mittelpunkt seiner Interpretation einer Eichendorff-Passage, darin auch den Unterschied zu den Naturschilderungen des 18. Jahrhunderts bezeichnend, die Materielles in Bewegung setzen. Richard Alewyn: Eine Landschaft Eichendorffs, in: Paul Stöcklein (Hg.): Eichendorff heute. Stimmen der Forschung mit einer Bibliographie, München: Bayerischer Schulbuchverlag 1960, S. 19—43 [Erstdruck in: Euphorion 51 (1957), S. 42-60], hier S. 26 und 34. Annette Graczyk: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München: Fink 2004, S. 260f. Das eher Konventionelle von Humboldts literarischem Stil stellt van Düsen heraus (The literary Ambitions, S. 44). AN, S. 241. AN, S. 237f.
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ausbreitet", ist zu lesen, und als Schlussfolgerung: „überall darf der Mensch sich der nährenden Pflanzen erfreuen."48 Das alles ist sachlich und rhetorisch keineswegs neu und erinnert an die Topoi der physikotheologischen Dichtung, die seit dem frühen 18. Jahrhundert, etwa bei Barthold Hinrich Brockes, nicht müde wurde, in der Natur die just für den Menschen gedachte Schönheit und Zweckmäßigkeit auszumachen.49 Dass Humboldt diese noch nicht sehr weit zurückliegende physikotheologische und in der Pädagogik oder Laientheologie bewährte Dichtung von Kind auf kannte, ist zu vermuten; der literaturgeschichtliche Teil aus dem Kosmos findet für Brockes und seine Zeitgenossen, speziell auch für die Gattung des naturbeschreibenden Lehrgedichts den geeigneten Platz.50 Bis auf die Tradition der Fabel, die dem Leser und Schüler wohlbekannte Tiere so weit vermenschlicht, dass sie fast zu Inbegriffen bestimmter Charaktereigenschaften, Tugenden und Laster, werden, greift Humboldt indirekt zurück. Als Zwischenglied zwischen der altehrwürdigen Tierfabel und Humboldts Geographie kann der Klassiker der Naturgeschichte Georges Louis Leclerc de Buffon gelten, von Humboldt in den Ideen einer Physiognomik der Gewächse gepriesen, obwohl sein Ruhm schon damals zu verblassen begann.51 Dass die Ansichten der Natur durchaus Buffons Histoire naturelle als Vorlage verpflichtet sein könnten, die Humboldt natürlich sehr gut bekannt war, legt die Anthropomorphisierung der Tiere nahe, die je nachdem bestimmten Stilebenen und Standesniveaus zugeordnet werden können und zugleich einer Rhetorik, die traditionell spezifischen Gattungen zugeordnet ist. Noch im Beitrag Das nächtliche Tierleben im Urwalde von 1849, finden sich Spuren der anthropomorphisierten Zoologie. Humboldt berichtet vom „schmerzhafte [n] Verlust eines großen Hundes vom Doggengeschlechte (unsres treuesten und freundlichsten Reisegefährten)", es sei „ungewiß, ob er vom Tiger zerrissen sei", und dann erst folgt ein Absatz über die „schwarzen Jaguars", die in der Tat mit dem „Tiger" gemeint sind, „wahrscheinlich dieselben, denen wird die Unthat zuschreiben konnten."52 So macht sich der Leser über das Bekannteste, den Hund und seine sprichwörtliche Treue, mit dem Unbekanntesten, dem Jaguar, vertraut. Wenn man das angedeutete Geschehen als Handlung auffasst, so ist das Personal dieser Handlung höheren Standes, wie in der Rhetorik 48 49
50 51 52
AN, S. 241. Zur Vereinbarkeit von Naturwissenschaft und Theologie, die für die Dichtung nach Newton fruchtbar wird, vgl. Karl Richter: Literatur und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Lyrik der Aufklärung, München: Fink 1972, S. 154f. und öfter. K, S. 221. Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte, S. 142. AN, S. 220.
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festgelegt. Als Vorliebe für das erhabene Personal muss Humboldts Konzentration auf größere Spezies gewertet werden, auf Bison, Pferd, Tiger, Jaguar, den „Condor, der Riese unter den Geiern."53 In der Botanik Unter den Pflanzen sind es die Palmen, „die höchsten und edelsten Pflanzengestalten",54 „deren einige sich zu mehr als der zwiefachen Höhe des königlichen Schlosses zu Berlin erheben und welche der Inder Amarasinha sehr charakteristisch die Könige unter den Gräsern nannte,"55 der „colossale" Drachenbaum.56 Auch im ersten Abschnitt der Ansichten der Natur, Uber Steppen und Wüsten ist das Erbe der Fabel und der Buffonschen Histoire naturelle zu bemerken. Es geht um eine Vegetationsperiode in den Südamerikanischen Llanos. Humboldt muss notgedrungen einige wenige Züge auswählen, um den Jahreszyklus einer riesigen Zone zu umreißen. Zunächst bezeichnet er die Gegend als völlig wild und ursprünglich. Erschlossen wird diese wilde Zone dem Leser auf den Spuren von Rindern, Pferden und Maultieren, ausgewilderten Haustieren, die Einwanderer in die teilweise kolonisierte Gegend gebracht haben. Werden die Tiere also in einem vitalen Wechselverhältnis mit ihrer konkreten geographischen Umgebung gezeigt, was Buffon noch nicht versuchte, so sind sie in anderer Hinsicht noch stark anthropomorphisiert Sie geleiten die Leser von der Zivilisation in die Wildnis und übernehmen die Rolle von Pionieren. Sie sind die Helden der Erzählung, die von Anfang an im Zeichen des Heroischen steht, worauf auch die Semantik der Tugenden und Laster hindeutet: „Die ungeheure Vermehrung dieser Tiere der alten Welt ist um so bewundernswürdiger [!], je mannigfaltiger die Gefahren sind, mit denen sie in diesen Erdstrichen zu kämpfen haben."57 Die Tiere werden zu Identifikationsfiguren für Leser, die sich mit ihnen einer exotischen Umwelt ausgesetzt sehen, die erleben, wie sie sich gegen Hitze und Dürre, gegen Kakteen und „vampirartige" Fledermäuse, Jaguare und Krokodile behaupten oder erliegen. Wenn bei Buffon einzelne Tiere, besonders Pferde, das erhabene Personal der Tragödie stellten und dabei den Adel repräsentierten, so geht es Humboldt weniger um die Affirmation der Ständeordnung im Bilde der Natur. Das Erhabene der Natur soll als wichtigste Qualität gewahrt werden, und doch auch verallgemeinert. So nimmt Humboldt an einem Vorgang teil, der als „Verbürgerlichung erhabener Wesenszüge" bezeichnet wurde, aber noch ganz vor dem Hintergrund einer rhetorischen und
53 54 55 56 57
AN, AN, AN, AN, AN,
S. S. S. S. S.
237. 251. 329. 248. 29.
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topischen Tradition des Erhabenen funktioniert. 58 Die „Mutterpferde", die in der überfluteten Steppe ihre Fohlen auf die „höheren Bänke" 59 retten, geben ein Symbol gewissermaßen bürgerlichen Heroismus. Die Beschreibung des Tierlebens in einer breit entfalteten Semantik des Kampfes und der Not erlaubt den Schluss, dass Humboldt im naturalen Geschehen die aktuellen Kriegswirren der Jahre 1805/06 subümiert hat. 60 Die Erzählung gipfelt im „ K a m p f der Pferde und Zitteraale. Die v o n Buffon bekannte Anthropomorphisierung treibt Humboldt, der ausdrücklich von „Schauspiel" und „Szene" spricht, hier zu neuer Blüte: Ein malerisches Schauspiel gewährt der Fang der Gymnoten. Man jagt Maulthiere und Pferde in einen Sumpf, welchen die Indianer eng umzingeln, bis der ungewohnte Lärm die muthigen [!] Fische zum Angriff reizt. Schlangenartig sieht man sie auf dem Wasser schwimmen und sich, verschlagen [!], unter den Bauch der Pferde drängen. Von diesen erliegen viele der Stärke unsichtbarer Schläge. Mit gesträubter Mähne, schnaubend, wilde Angst im funkelnden Auge, fliehen andere das tobende Ungewitter. Aber die Indianer, mit langen Bambusstäben bewaffnet, treiben sie in die Mitte der Lache zurück. Allmählich läßt die Wuth des ungleichen Kampfes nach. Wie entladene Wolken zerstreuen sich die ermüdeten Fische. Sie bedürfen einer langen Ruhe und einer reichlichen Nahrung, um zu sammeln, was sie an galvanischer Kraft verschwendet haben. Schwächer und schwächer erschüttern nun allmählich ihre Schläge. Vom Geräusch der stampfenden Pferde erschreckt, nahen sie sich furchtsam dem Ufer, wo sie durch die Harpune verwundet und mit dürrem, nicht leitendem Holze auf die Steppe gezogen werden. Dies ist der wunderbare Kampf der Pferde und Fische. Was unsichtbar die lebendige Waffe dieser Wasserbewohner ist; was, durch die Berührung feuchter und ungleichartiger Theile erweckt, in allen Organen der Thiere und Pflanzen umtreibt; was die weite Himmelsdecke donnernd entflammt, was Eisen an Eisen bindet und den stillen wiederkehrenden Gang der leitenden Nadel lenkt: Alles, wie die Farbe des geteilten Lichtstrahls, fließt aus Einer Quelle; alles schmilzt in eine ewige, allverbreitete Kraft zusammen.61 Deutete die Erzählung einer dramatischen Handlung zunächst auf die Tradition von Epos und Drama, so erinnern die abschließenden Betrachtungen und ihre Sprache an Ode oder Hymnus. Die Elektrizität als omnipräsentes Phänomen rückt an die Stelle anderer erhabener Gegenstände des Lobpreises, ja mit ihrer „einen ewigen, allverbreiteten Kraft" erinnert sie an die Anrufung Gottes. Auch darin folgt Humboldt der Tradition der physikotheologischen Dichtung und ihrer Nachfolger, die das Gotteslob 58
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Christian Begemann: Erhabene Natur. Zur Übertragung des Begriffs des Erhabenen auf Gegenstände der äußeren Natur in den deutschen Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts, in: DVjS 58 (1984), S. 74-109, hier S. 96f. AN, S. 32. Vom „Katastrophismus" Humboldts in diesem Text spricht Graczyk, Das literarische Tableau, S. 339. AN, S. 34.
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nach und nach durch das Lob der Natur als Schöpfung, dann der entgötterten Natur ersetzte und dabei die bekannten Attribute vom einen auf das andere übertrug.62 Aus der Sicht der Rhetorik wird auch das Verhältnis von wissenschaftlichem Sachtext und sogenannter schöner Literatur, das in Humboldts Ansichten herrscht, deutlicher. Das Erhabene wird in der Rhetorik der verschiedenen genera vor allem zur Bewegung der Gemüter, zum Pathos (movere) eingesetzt, während der Belehrung (docere) als Teil des Pragmatischen dagegen der einfache Stil angemessen sein soll. Die Wirkung dominiert in einzelnen Passagen daher weit über die reine Information, die mit den verschiedenen Ausgaben immer extensiver in den Anmerkungen entfaltet wird. Wenn unter dem senkrechten Strahl der niebewölkten Sonne die verkohlte Grasdecke zu Staub zerfallen ist, klafft der erhärtete Boden auf, als wäre er von mächtigen Erdstößen erschüttert. Berühren ihn dann entgegengesetzte Luftströme, deren Streit sich in kreisender Bewegung ausgleicht, so gewährt die Ebene einen seltsamen Anblick. Als trichterförmige Wolken, die mit ihren Spitzen an der Erde hingleiten, steigt der Sand dampfartig durch die luftdünne, electrisch geladene Mitte des Wirbels empor: Gleich den rauschenden Wasserhosen, die der erfahrne Schiffer fürchtet. Ein trübes, fast strohfarbiges Halblicht wirft die nun scheinbar niedrigere Himmeldecke auf die verödete Flur. 63
Die Wortwahl zielt vom „Schiffer" bis zur „Flur" auf die höhere Stilebene, Erdbeben und Seestürme, um die es sich nicht handelt, werden um der Erhöhung vergleichsweise herangezogen, es entsteht die Schilderung eines klassischen erhabenen Topos, eines locus terribilis,64 bis hin zu den Assoziationen des Todes, dem Zerfallen zu Staub. Das Gegenstück zum locus terribilis, der locus amoenus, findet sich bei Humboldt wesentlich seltener, wenn etwa „von den anmutigen Tälern von Loja [...], dem Garten der Anden-Gebirge" die Rede ist.65 Neben dem Erhabenen, das der Rhetorik und der Topologie verpflichtet ist, entfaltet Humboldt auch eine modernere Phänomenologie des Erhabenen, die an die neuere Subjektphilosophie gebunden ist. In der 62
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65
Wolf Lepenies, der diesen Vorgang sogar für die Schriften Buffons interpretiert hat, macht auch auf einen zeitgenössischen Kritiker aufmerksam, Johann Georg Hamann, der „im dichterischen Charakter der Werke Buffons die Konsequenz einer mißlungenen Säkularisierung gesehen" habe (Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte, S. 151). AN, S. 29f. Ein anderes Beispiel, ebenfalls aus Über Steppen und Wüsten·. „Gegen Süden umgiebt die Steppe eine schaudervolle Wildniß. Tausendjährige Wälder, ein undurchdringliches Dikkicht erfüllen den feuchten Erdstrich zwischen dem Orinoco und dem Amazonenstrome. Mächtige, bleifarbige Granitmassen verengen das Bett der schäumenden Flüsse. Berge und Wälder hallen wider von dem Donner der stürzenden Wasser, von dem Gebrüll des tigerartigen Jaguar, von dem dumpfen, regenverkündenden Geheul der bärtigen Affen" (S. 35). GP, S. 88.
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Auseinandersetzung mit Edmund Burkes Λ Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and beautiful von 1757 hatte Kant, und im Anschluss an Kant auch Schiller das Erhabene so definiert, dass es sich im autonomen Subjekt ereignet, welches sich selbst als frei erlebt, sobald es sich über das Uberwältigende in Natur und Geschichte moralisch erhebt.66 Kant unterscheidet in der Kritik der Urteilskraft das mathematisch Erhabene und das dynamisch Erhabene,67 und beide Formen lassen sich in Humboldts Schriften wiederfinden. Das dynamisch Erhabene, wie gesehen im Kampf der Tiere oder auch in der stoischen Gelassenheit des Inkanachkömmlings beim Anblick der Denkmale des zerstörten Reiches,68 in der Betrachtung von Sturm und anderen extremen Klimaerscheinungen, Erdbeben, Vulkanausbruch. Dagegen identifiziert Kants Kritik der Urteilskraft das mathematisch Erhabene in der Kontemplation des überwältigend Großen, dem gegenüber sich das Subjekt seiner selbst vergewissert. Humboldt schreibt mit Blick auf die rivalisierenden Stämme Guyanas, wobei die Leser der Erstausgabe von 1808 noch andere Kriege assoziieren werden: „Darum versenkt, wer im ungeschlichteten Zwist der Völker nach geistiger Ruhe strebt, gern den Blick in das stille Leben der Pflanzen und in der heiligen Naturkraft inneres Wirken; oder, hingegeben dem angestammten Triebe, der seit Jahrtausenden der Menschen Brust durchglüht, blickt er ahndungsvoll aufwärts zu den hohen Gestirnen, welche in ungestörtem Einklang die alte, ewige Bahn vollenden."69 Erhaben ist die Natur für Humboldt umso mehr, als die Äquinoktialgegenden, der Gegenstand der Ansichten und der Höhepunkt seiner „Physique du monde" gewissermaßen die Steigerung zu der Natur der gemäßigten Zonen darstellen. Zum einen wegen der größeren Artenvielfalt und -dichte. Der tropische Sternenhimmel ist außerdem noch mehr 66
Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, hg. von Werner Strube, Hamburg 1980; Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 5, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, S. 3 3 3 - 3 5 5 ; Friedrich Schiller: Über das Erhabene, in: NA, 21, S. 3 8 - 5 4 (datierbar auf 1794 bis 1796). Mit den drei Namen ist eine lange und komplizierte Begriffs- und Problemgeschichte angedeutet, die in einer inzwischen unübersehbaren Forschungsliteratur aufgearbeitet wird. Zum Beispiel: Karl Vietor: Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur, in: K.V.: Geist und Form, Bern 1952, 234—266, 346-357. Zur Literatur des Erhabenen rechnete Friedrich Kirchner Humboldts Naturschilderungen bereits in seiner Literaturgeschichte: Die deutsche Nationalliteratur des Neunzehnten Jahrhunderts, Heidelberg: Georg Weiß 1894, S. 55.
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Es handelt sich um die §§ 2 5 - 2 9 . „In den traurigen architektonischen Resten dahingeschwundener alter Herrlichkeit wohnen in Cajamarca Abkömmlinge des Monarchen. [...] Sie leb[en] in großer Dürftigkeit, doch genügsam, ohne Klage, voll Ergebung in ein hartes, unverschuldetes Verhängnis." AN, S. 37.
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Sternenhimmel als der nördliche. In einer Erläuterung zur Physiognomik der Gewächse heißt es: „Unter dem Äquator allein genießt der Mensch des einzig schönen Anblicks, zugleich alle Gestirne des südlichen und nördlichen Himmels zu sehen. Einige unserer nördlichen Sternbilder erscheinen von dort aus betrachtet, wegen ihres niedrigen Standes, von wunderbarer, fast furchtbarer Größe".70 Die Eigenart des Exotischen und Tropischen liegt für Humboldt im Vergleich mit den bekannten europäischen Gegenden vor allem im Monumentalen: Nirgends durchdringt [die Natur] uns mehr mit dem Gefühl ihrer Größe, nirgends spricht sie uns mächtiger an als in der Tropenwelt [...] Die Erinnerung an ein fernes, reichbegabtes Land, der Anblick eines freien, kraftvollen Pflanzenwuchses erfrischt und stärkt das Gemüth; wie, von der Gegenwart bedrängt, der emporstrebende Geist sich gern des Jugendalters der Menschheit und ihrer einfachen Größe erfreut.71
Es ist die Vergegenwärtigung der eigenen Freiheit angesichts der großen Natur, die klassische Konstellation des subjektiv Erhabenen. Neben der räumlichen Dimension verleiht die zeitliche den Naturerscheinungen erhabene Größe. Anschaulicher wird das absolute Alter in der Vegetation als in den viel älteren Gesteinen, dazu kommt der stete Wechsel der Wachstumsperioden. Alter wie jahreszeitliche Vegetationsphasen wären für den Betrachter ganz gleichgültig, wenn er sie nicht, unwillkürlich psychologisierend, auf die eigene Lebenszeit und die Historizität der Menschenwelt bezöge. In der Konfrontation von eigenem Zeitgefühl und naturgeschichtlichen Epochen hebt sich die Monumentalität der Erscheinungen ab und fordert vom Betrachter moralische Erhebung über das Bewusstsein der eigenen Hinfälligkeit: Die Pflanzenschöpfung dagegen wirkt durch stetige Größe auf unsere Einbildungskraft. Ihre Masse bezeichnet ihr Alter, und in den Gewächsen allein sind Alter und Ausdruck stets sich erneuernder Kraft mit einander gepaart. Der riesenförmige Drachenbaum, den ich auf den canarischen Inseln sah und der 16 Schuh im Durchmesser hat, trägt noch immerdar (gleichsam in ewiger Jugend) Blüthe und Frucht. Als französische Abenteurer, die Bethencourts, im Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts die glücklichen Inseln eroberten; war der Drachenbaum von Orotava (heilig den Eingeborenen wie der Ölbaum in der Burg zu Athen oder die Ulme zu Ephesus) von eben der colossalen Stärke als jetzt. In den Tropen ist ein Wald von Hymenäen und Cäsalpinien vielleicht das Denkmal von mehr als einem Jahrtausend.72
Naturgeschichtliches reduziert Humboldt mit Absicht auf die Dimensionen der menschlichen Lebenszeit, der Geschichtschreibung in Jahrhun70 71 72
AN, S. 386. In den Reisebeschreibungen des 19. Jahrhunderts scheint die Überschreitung des Äquators als Weiheszene Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 2, S. 258. AN, S. 172 AN, S. 248.
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derten und schließlich der Mythologie. Diese Anthropomorphisierungen machen das Prozesshafte der Natur anschaulich, zugleich aber führen sie unweigerlich auf das Erhabene. Das was „gleichsam" gesagt wird, „ewige Jugend", greift als Qualität auf den Gegenstand der Botanik und Geographie über, als das Monumentale und Kolossale.73 Auch in einem weiteren der Einbildungskraft so günstigen Aspekt der Naturforschung, der Paläontologie und der Erdgeschichte der neueren Zeit, nutzt Humboldt durch suggestive Beispiele aus dem Repertoire des Erhabenen die Verwandtschaft von Phantasie und wissenschaftlicher Hypothesenbildung: Dringen wir gar in das Innere der Erde, durchwühlen wir die Grabstätte der Pflanzen und Tiere, so verkünden uns die Versteinerungen nicht bloß eine Verteilung der Formen, die mit den jetzigen Klimata in Widerspruch steht, sie zeigen uns auch kolossale Gestalten, welche mit denen, die uns gegenwärtig umgeben, nicht minder kontrastieren als die erhabenen, einfachen Heldennaturen der Hellenen mit dem, was unsere Zeit mit dem W o r t Charaktergröße bezeichnet.
Die Metapher der Grabstätte und dessen, was sie verkündet, und der Vergleich mit den Heldenzeiten schreiben der Vergangenheit der Natur Erhabenheit zu. Erhaben sind auch, der gewählten Stilhöhe nach, den der Verfasser rhetorisch dem erdzeitlichen Gegenstand angemessen hält, die Erzählungen von den geologischen und kulturhistorischen Veränderungen, die nach Humboldts These zur Erosion und Verarmung der Vegetation im Mittelmeerraum und Nordafrika geführt haben. Was hier eine wissenschaftliche Hypothese ist, eine Konjektur aus einigen gegebenen Daten, wird in Humboldts Bearbeitung für den Leser eine Heldenerzählung, und zwar deswegen, weil die Semantik den naturgeschichtlichen Abläufen durchaus den Charakter des Epischen, eigentlich sogar Mythischen gibt.74 Wieder rückt Humboldt die Qualität der menschlichen 73
74
Die Erläuterung 12 zur Physiognomik der Gewächse behandelt ausführlicher die individuelle Geschichte des Drachenbaums von Orotava, fahrt dann aber fort über das „Monumentale jener colossalen Lebensgestalten, der Eindruck der Ehrwürdigkeit, den sie bei allen Völkern erzeugen" und über die wissenschaftliche Bestimmung des Lebensalters individueller mehrhundertjähriger Pflanzen, vor allen im Hinweis auf Decandolles De la longevite des arbres. AN, S. 299-308, hier S. 301. Ernst Cassirer hat betont, dass in jedem Fall „der Raum seinen bestimmten Gehalt und seine eigentümliche Fügung erst von der Sinnordnung erhält, innerhalb deren er sich jeweilig gestaltet. Je nachdem er als mythische, als ästhetische oder als theoretische Ordnung gedacht wird, wandelt sich auch die ,Form' des Raumes." (Ernst Cassirer: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum [1931], in: Alexander Ritter (Hg.): Landschaft und Raum in der Erzählkunst, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975 [=Wege der Forschung 418], S. 17-35, hier S. 26. Da sich bei Cassirer einmal die Unterscheidung zwischen mythischem und ästhetischem Raum findet, liegt es nahe, sie auf Humboldts Ansichten anzuwenden. Dabei klärt sich, dass Humboldts Räume, so sehr er sie auch mit der Semantik des Mythologischen belegt, doch eigentlich ästhetische sind, da das Mythologische ja als Reminiszenz eine Strategie des erzählenden und beschreibenden Autors ist.
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Kulturgeschichte mit ihren Wertsetzungen nicht nur vergleichsweise in die Nähe der Erdgeschichte, sondern erklärt die Erdgeschichte selbst durch die Merkmale des Erhabenen gleichsam zum Mythos. Mögliche Bezüge auf die Kantsche Beschreibung des mathematisch und dynamisch Erhabenen lassen sich bis in den Kosmos hinein nachweisen. Wenn der Autor an Varnhagen von Ense schreibt: „Der eigentliche Zweck ist das Schweben über den Dingen,"75 und wenn die Erhebung über die Fülle und Größe der Erscheinungen ein wichtiges Organisationsprinzip bei der Darstellung der Physischen Welt im Kosmos ist, dann ist damit auch die Selbstvergewisserung eines freien Subjekts im Angesicht der erhabenen Natur gemeint.76 Die subjektphilosophische Bestimmung des Erhabenen nach Kant und Schiller wird in Humboldts Schriften jedoch immer wieder durch handfeste rhetorische Traditionen durchkreuzt. Zu diesen Traditionen gehört auch das Pathos. Wenn der wissenschaftliche Erkenntnisdrang den Forscher in Situationen treibt, in denen die Psyche sich behauptet, wo die Physis unter der Ubermacht der Natur zu erliegen droht, dann scheint dies im Zeichen des dynamisch Erhabenen zu stehen. Die Ausmalung der Strapazen, unter denen Humboldt und Bonpland in die Urwälder und bis nahe an den Gipfel des Chimborazo vordringen, nach damaliger Kenntnis des höchsten Berges der Erde, bedient allerdings auch topische Elemente des Pathos. Erhabenes der Subjektivität und Erhabenes der Rhetorik scheinen im Widerspruch zu Humboldts empirischen Darstellungen zu stehen, die Quantitäten und Qualitäten in der objektiven Natur suchen. Doch auch wo Humboldt sich vermeintlich in die nüchterne Ordnung der naturwissenschaftlichen Parameter begibt, „die absolute Größe und der Grad der Entwicklung, welche die Organismen erreichen, die zu einer Familie gehören", schwingt die Faszination der Größe im Sinne des Erhabenen mit. In ihrer Erwartung begibt sich der Forscher in unbekanntes Terrain: „Wie, wenn man einmal ein Land entdeckte, in dem holzige Schwämme, Cenomyce rangiferina, oder Moose hohe Bäume bildeten?"77 Die Annahme neuer, größerer Varietäten bekannter Spezies weckt Phantasien von 75
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Brief an Varnhagen vom 28.4.1841, in: Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827-1858, hg. von Ludmilla Assing, Leipzig: Brockhaus 1860, S. 92. Bei Seger, „...die wunderbar aneignende Kraft des Gemüts", weitere Nachweise von Zitaten aus dem Kosmos, die darauf hindeuten, dass Humboldt sich im Spätwerk sehr viel expliziter der einschlägigen Semantik des Erhabenen im subjektphilosophischen Sinne bedient. Seger ergänzend sei vermutet, dass dies wohl mit der Diffusion trivialer Lektüren der Kantschen Kritik der Urteilskraft zu tun hat, die sich in einer konventionaüsierten Rede von der Wirkung sublimer Gegenstände auf das Subjekt niederschlägt. AN, S. 249.
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Exotischem und Abenteuerlichem, auch wenn es am Ende um noch unbekannte Naturgesetze geht.78 Schon die enge Nachbarschaft empirischer Details mit solchen, die auf Rhetorik und Einbildungskraft verweisen, lässt jedoch vermuten, dass es sich hier um wechselseitige Übertragungen handelt. Die Subjektivierung der Rhetorik hätte dann ihr Pendant in einem kunstgeschichtlichen Prozess, der topische Qualitäten immer mehr der objektiven Natur unmittelbar zuschreibt. Da sich Humboldt in seinen Ansichten der Natur explizit auf die Tradition der Alpenschilderung bezieht, liegt auch der Schluss nahe, dass er am Ende das Gebirge nicht mehr nur als Auslöser erhabener Empfindungen ansieht, sondern objektiv als erhaben ansieht. Was Humboldt einleitend zu seinem Essay Über die Wasserfälle des Orinoco bei Atures und Maipures sagt, speziell von der Wirkung auf den Betrachter, wurde in der Reiseliteratur seiner Zeit und der vorangehenden Generation immer wieder über die Schweizer Alpen gesagt. Und bereits im Blick auf die Alpenlandschaft und ihre Bewohner hat sich die wechselseitige Übertragung des Begriffs Freiheit vom Menschen auf die Natur und umgekehrt zum Topos verfestigt.79 Humboldt erinnert selbst an jene Gegenden, die seinen Lesern von eigenen Reisen oder zumindest aus Lektüren und Abbildungen bekannt gewesen sein werden, wenn er von „ruinen- und burgartig[en] Felsmassen", von „savoyischen Gletschern" spricht, um die Wasserfälle des Orinoco zu beschreiben. Die Tropen übertreffen jedoch die Eindrücke der europäischen Gebirge noch an Monumentalität und Reichtum. Die Äquinoktialgegenden, die Humboldt bereist hat, werden dadurch zum Inbegriff der erhabenen Natur, zur Metonymie des Kosmos. Neben die rhetorische und die idealistische Konturierung des Erhabenen tritt bei Humboldt eine bildkünstlerische Tradition, die im Wechselverhältnis von Naturnachahmung und Wirkungsästhetik das Erhabene zunehmend von der Modalität der Darstellung auf die vorfindliche Natur überträgt. Humboldts Schriften führen implizit die Begriffsgeschichte des Erhabenen im Zeitraffer vor: Vom durchaus Rhetorischen mit seiner Adäquation von sublimem Stil und sublimen Gegenständen der Natur und Geschichte über die Bezeichnung der psychologischen Wirkung des Erhabenen auf den Betrachter, der Erhabenheit des Subjekts bis hin zu einer Natur, die vom Auslöser erhabener Empfindungen vermöge eines 78 79
AN, S. 250. Die Ursprünglichkeit der Landschaft wird dabei leicht mit der traditionell republikanischen Verfassung, das heißt bürgerlicher Freiheit assoziiert. Für die Assoziation von Freiheit und Landschaftsgartenkunst vgl. Michael Gamper: „Die Natur ist republikanisch." Zu den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzeptionen der deutschen Gartenliteratur im 18. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen und Neumann 1998 (Epistemata 247).
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Übertragungsprozesses zur objektiv erhabenen wird.80 An diesem Punkte langt die Literargeschichte in den Reisebeschreibungen des 19. Jahrhunderts an, die eine besondere Vorliebe für das Erhabene pflegen und Natur schlechthin als erhaben bezeichnen.81 Physiognomik und Charakteristik So wie das Erhabene in Humboldts Schriften von ganz unterschiedlichen Konnotaten dieses Begriffs aus der Rhetorik und Poetik wie aus der Malerei zehrt, das heißt auch genetisch ganz ungleichzeitigen Phasen der Begriffs- und Problemgeschichte des Erhabenen angehören kann, so zeigen auch Physiognomik und Charakteristik, die er als Schlüsselbegriffe seiner deskriptiven Geographie verwendet, eine gewisse Mehrdeutigkeit; sie können sogar als besonders zähes Ingrediens jener Differenzierungsprozesse gelten, die Humboldt auf der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert begleitet. So lassen sich Charakteristik und Physiognomik bei Humboldt in zwei fast entgegengesetzte Richtungen erweitern und steigern: Einmal auf dem Wege der psychologischen, sittlichen, kulturellen und historischen Wirkung von bestimmten Landschaften auf ihre Bewohner, wobei von dem Einfluss auf das Gemütsleben der Ureinwohner bis zur subjektivsten Empfindung der jüngsten Zeitgenossen angesichts charakteristischer Naturerscheinungen alle Varianten denkbar sind. Zum anderen basiert die Physiognomik auf einem Katalog bestimmter Merkmale zur sachlichen Beschreibung von Phänomenen und gibt sie im Analytischen wie Synthetischen ein neutrales Instrument global applizierbarer Deskriptionen komplexester Naturerscheinungen. In diese Richtung bewegt sich ja Humboldts Tableau physique. Von beiden Konsequenzen einer physiognomischen Betrachtung der Natur wird noch die Rede sein: der Subjektivität der in die Empfindung von Landschaften Versunkenen wie dem Tableau physique als paradigmatischem Schema einer universalen wissenschaftlichen Deskription. Doch zunächst zu den Ideen einer Physiognomik der Gewächse, jenem Teil aus den Ansichten der Natur, der vielleicht unter wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten am gewichtigsten ist, insofern er einer neuartigen Pflanzengeographie den Weg ebnet. Die Physiognomik Humboldts gehö80
81
Diesen Vorgang der allmählichen Übertragung des Erhabenen aus der Rhetorik auf Ästhetik und Psychologie bis auf die äußeren Gegenstände der Natur ist Gegenstand der Untersuchung von Christian Begemann: Erhabene Natur. Zur Übertragung des Begriffs des Erhabenen auf Gegenstände der äußeren Natur in den deutschen Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts, in: DVjS 58 (1984), S. 7 4 - 1 0 9 . Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 2, S. 249.
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re zu den umstritteneren Teilen seiner geographischen Wissenschaft, heißt es.82 Sicherlich erinnert sie an ältere Überlieferungen, die kaum mit den sogenannten exakten Wissenschaften des späteren 19. Jahrhunderts zu verbinden wären. Sie erinnert entfernt an die mittelalterliche Signaturenlehre, die die äußere Erscheinung von Pflanzen als Hinweis auf verborgene Qualitäten und analogische Beziehungen zu Phänomenen aus der anorganischen, Tier- oder Menschenwelt deutete. Als Grundwerk der neuzeitlichen Physiognomik gilt Giovanni Deila Portas De humana physiognomia von 1586. Der Verfasser versuchte im Anschluss daran sogar eine Phytognomica. Humboldts Zeitgenossen werden sich jedoch durch seine Ideen einer Physiognomik der Gewächse vor allem an Johann Caspar Lavaters vierbändige Physiognomische Fragmente von 1775 bis 1778 erinnert gefühlt haben. In der Tat wies Lavater auch den Weg zu einer Physiognomik der Gewächse, ohne freilich an die Möglichkeit einer Alternative zu gängigen botanischen Klassifikationen zu denken: „II y a done pour le Mineralogiste une Physiognomie des mineraux; pour le Botaniste une physsiognomie des plantes; pour le naturaliste et le Chasseur une Physionomie des animaux."83 Lavaters Aktualisierung della Portas in seinen Physiognomischen Fragmenten traf den Nerv der Epoche so weit, dass einige berühmte Zeitgenossen zu seinen Studien beitrugen oder mit ihm polemisierten. Zu den zeitweiligen Mitarbeitern Lavaters gehörte auch Goethe, der in den 1780er Jahren seine mineralogischen und geologischen Erforschungen von Landschaften auf „Physiognomie" bezog.84 Lavater ordnete die einzelnen Gesichtszüge und Körpermerkmale bestimmten charakterlichen Eigenschaften zu, wobei es um die Identifikation moralischer Eigenschaften hinter den physischen Zeichen ging. Die Erscheinung des Menschen sei lesbar. Die Physiognomik gehört demnach zu dem, was Hans Blumenberg als „Lesbarkeit der Welt" bezeichnet hat, und sogleich auch als zwiespältige Erscheinung des späten 18. Jahrhunderts: Zwar gehe sie von der rationalen Erfassung, ja empirischen der Wirklichkeit aus, was sich auch in der Analyse und Inventarisierung der lesbaren Zeichen niederschlägt. Über ein solches Inventar von Zeichen verfügt in der Tat auch die Humboldtsche Pflanzenphysiognomik. Auf der anderen Seite hat die Lesbarkeit von Welt einen zumindest im historischen Rückblick metaphysischen Aspekt: Lesbarkeit, um weiter 82
83 84
Brigitte Hoppe: Physiognomik der Vegetation zur Zeit von Alexander von Humboldt, in: Uta Lindgren (Hg.): Alexander von Humboldt. Weltbild und Wirkung auf die Wissenschaften, Wien, Köln: Böhlau 1990, S. 77-102, hier S. 80. Zit. n. Hoppe: Physiognomik, S. 89 Vgl. Ilse Jahn: „Biologie als allgemeine Lebenslehre", S. 276f., die auch daran erinnert, dass Goethe seine geologischen Forschungen in Herders Ideen %ur Philosophie der Geschichte der Menschheit einbrachte.
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Blumenberg zu folgen, setzt nämlich die Ganzheit der Natur voraus, die Erwartung, dass sie sich, wie die Geschichte, wie das Leben, als sinnvolle Einheit erschließt. Ganz ist die Natur dabei nicht nur durch quantitative Vollständigkeit, sondern durch qualitative Vollkommenheit. Auf die Physiognomischen Fragmente angewendet würde das bedeuten: Jedes Gesicht wird zwar in seinen einzelnen Bestandteilen gelesen, dabei jedoch auf ein angenommenes Ideal von Schönheit und moralischer Gutheit hin interpretiert, was in der Lavaterschen Bemühung, aus Konjekturen ein Christusporträt zu erstellen, gipfelt. Es handelt sich eben um jene „Interpretation des Wirklichen vom Möglichen her", von der Blumenberg im Blick auf die „Herstellung von Lesbarkeit" spricht. Gerade am Übergang zum 19. Jahrhundert bezeichne sie den Übergang zwischen dem älteren Schöpfungsglauben und einer radikal säkularisierten Welt, einen „Schwebezustand zwischen göttlicher und menschlicher Zuständigkeit."85 Von einer solchen prekären, vielleicht aber auch günstigen Zwischenstellung auf dem Wege von einer göttlichen Schöpfung zu einer säkularen Natur, die trotzdem im profanen Gewand einige ihrer göttlichen Attribute nicht verlieren soll, etwa die Vollkommenheit, ihre Evidenz, ihre Schönheit, zeugen diverse Versuche zu einer Physiognomik der Natur um 1800. Während Humboldt und Bonpland in Amerika mit einem ersten Entwurf zu dem Tableau physique beschäftigt waren, erschien 1802 in Leipzig K.F. Struves Versuch einer Physiognomik der Erde oder die Kunst, aus der Oberfläche der Erde auf ihren obern Inhalt schließen. Carl Gustav Carus Briefe über die Landschaftsmalern von 1831 mit ihren Λndeutungen einer Physiognomik der Gebirge als Beilage waren eigentlich nur noch ein Nachtrag zu Humboldts physiognomischer Sicht auf Landschaften unter zugleich wissenschaftlichem und künstlerischem Aspekt, wobei die vorausgesetzte Schönheit der Natur bei Carus offenbar als Substitut göttlicher Ordnung fungiert. Humboldts Physiognomik, soviel vorab, befindet sich ebenfalls am Übergang zwischen einer älteren Voraussetzung göttlicher Ordnung und rationaler Analyse. Aus der Sicht des Botanikers Humboldt bezeichnet Physiognomik zunächst nichts anderes als ein Verfahren der Deskription, das sich von der bekannten Linneschen Klassifikation abhebt: „der botanische Systematiker trennt eine Menge von Pflanzengruppen, welche der Physiognomiker sich gezwungen sieht, miteinander zu verbinden."86 Die Physiognomik identifiziert also zunächst einmal spezifische Einheiten innerhalb der ungeord-
85 86
Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 163. Vgl. auch den Zusatz S. 294f. „Die Aufzählung nach physiognomischer Verschiedenheit ist ihrer Natur nach keiner strengen Klassifikation fähig."
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neten Natur.87 Was sie zu einer Gestalt zusammenfasst, hebt sie zugleich aus der Umgebung heraus.88 Dieses Verfahren nähert sich dabei der Morphologie Goethes an, doch betont Humboldt vor allem die Gestalt von Stamm und Blatt, der gesamten Kontur und Färbung von Pflanzen, eigentlich sogar von Pflanzengruppen, hat also weniger als Goethe die Metamorphose und damit genetische Aspekte der vegetativen Zyklen im Auge, die Linne gewissermaßen dynamisieren. Goethes große Zustimmung zu Humboldts Aufsatz hat vor allem in einer dem Künstlerischen verwandten Betrachtungsweise ihren Grund. Der Verfasser der Ideen einer Physiognomik der Gewächse hatte diesen Aufsatz am 6.2.1806 mit der Erinnerung nach Weimar geschickt: „Auch ist Ihnen der südliche Himmel nicht fremd und Sie haben ja Naturphysiognomische Reisen unter Ihren Schweizerischen und Italienischen Zeichnungen."89 Goethes Rezension des Aufsatzes in der Jenaischen Allgemeinen Uteratur^eitung des gleichen Jahres mit extensiven Zitaten betont daher auch nach einer Würdigung der über Linne und Jussieu hinausgehenden botanischen Leistung in wissenschaftlicher und auch philosophischer Hinsicht den „ästhetischen Hauch", den Humboldt der Naturforschung verleihe und die glücklichen Folgen für „Gemüth" und „Einbildungskraft": so tut hier der Mann, dem die über die Erdfläche verteilten Pflanzengestalten in lebendigen Gruppen und Massen gegenwärtig sind, schon vorauseilend den letzten Schritt, und deutet an, wie das einzeln Erkannte, Eingesehene, Angeschaute, in völliger Pracht und Fülle dem Gefühl zugeeignet, und wie der so lange geschichtete und rauchende Holzstoß, durch einen ästhetischen Hauch, zur lichten Flamme belebt werden könne. [...] alles das Beste und Schönste, was man von Vegetation jemals unter freiem und schönem Himmel gesehen, wird wieder in der Seele lebendig, und die Einbildungskraft geschickt gemacht und aufgeregt dasjenige, was uns durch künstliche Anstalten, durch mehr oder weniger unzulängliche Bilder und Beschreibungen überliefert worden, sich auf das kräftigste und erfreulichste zu vergegenwärtigen.90
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„Sätze, in denen der Natur bestimmte Charakterzüge zugesprochen werden, sind der Ausdruck hochaggregierter Erfahrungen. Sie benennen einen intuitiv erfaßten Gesamteindruck von der Natur und formulieren ihn in physiognomischer Weise." Gernot Böhme: Was ist Natur? Charaktere der Natur aus der Sicht der modernen Naturwissenschaft [1990], in: ders.: Natürlich Natur. Uber Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 56-76, hier S. 67. So beschreibt Manfred Smuda das physiognomische Verfahren der landschaftlichen Physiognomik im Anschluss an Merleau-Ponty: Natur als ästhetischer Gegenstand und als Gegenstand der Ästhetik. Zur Konstitution von Landschaft, in: ders. (Hg.): Landschaft. Frankfurt a.M.: 1986, S. 4 4 - 6 9 , hier S. 48f. Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander von Humboldt, hg. von Ludwig Geiger, Berlin: Bondy 1909, S. 298. MA, 6.2, S. 770-775, hier S. 770.
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Humboldts pflanzenphysiognomische Deskription ist dem Malerischen im technischen Sinne durchaus verpflichtet: „Wo die Gewächse sich als Massen darstellen, fließen Umrisse und Vertheilung der Blätter, Gestalt der Stämme und Zweige in einander. Der Maler (und gerade dem feinen Naturgefühl des Künstlers kommt hier der Ausspruch zu!) unterscheidet in dem Hintergrunde einer Landschaft Pinien oder Palmengebüsche von Buchen-, nicht aber diese von anderen Laubholzwäldern!"91 Aus der Sicht von Humboldts Ideen einer Physiognomik der Gewächse leistet der Maler in seiner intuitiven Erfassung komplexer Formen und Farben größerer Räume einen Beitrag zur Deskription der Erdoberfläche in ihrer markantesten Erscheinung, vorausgesetzt, wie Humboldt es tut, dass die Vegetation noch stärker den optischen Eindruck prägt als die geologische Oberflächengestalt der Erde. Das physiognomische Deskriptionsverfahren zielt dabei weit stärker als alle vorangehenden botanischen Klassifikations- und Ordnungsraster auf das tatsächliche Auftreten von Vegetationen in spezifischen Lagen und daher auch auf die geographischen und klimatischen Parameter, die dieses Auftreten ermöglichen. Im Vorfeld einer solchen Pflanzenphysiognomik leistet der Landschaftsmaler durch die optische Disposition der sichtbaren Massen zunächst in Rudimenten und oberflächlich eine Analyse des botanischen Phänomens, um sogleich durch die Technik der Darstellung eine Synthese zum Naturgemälde vorwegzunehmen. Für den Naturforscher Humboldt ist das künstlerische Verfahren gerade wegen des verkürzenden Vorgriffs auf das Totale heuristisch bedeutend.92 Die Deskription, die der naturalistische und doch intuitiv zu symbolischen Gruppen zusammenfassende Maler leistet, deutet verborgene, aber notwendige organische Zusammenhänge an. Darüber hinaus erlaubt die Physiognomik der Pflanzen Vergleiche zwischen verschiedenen Landschaften, wobei Analogien zwischen weltweit distribuierten Vegetationen sichtbar werden. Ihre Verteilung und Zusammensetzung muss demnach spezifischen und hochkomplexen Naturgesetzen folgen. In einem späteren Zusatz heißt es: D i e Physiognomik der G e w ä c h s e soll nicht ausschließlich bei den auffallenden Kontrasten der F o r m verweilen, welche die großen Organismen einzeln betrachtet darbieten; sie soll sich an die Erkenntnis der G e s e t z e wagen, welche die Physiognomie der Natur im allgemeinen, den landschaftlichen Vegetationscharakter 91 92
AN, S. 249. Zur erkenntnistheoretischen Bedeutung der physiognomischen Wahrnehmung bei Humboldt vgl. Hermann Noack: Naturgemälde und Naturerkenntnis. Alexander von Humboldts „ K o s m o s " in problemgeschichtlicher Rückschau, in: Klaus Hammacher (Hg.): Universalismus und Wissenschaft im Werk und Wirken der Brüder Humboldt, Frankfurt a.M.: Klostermann 1976 (^Studien zur Philosophie und Literatur des 19. Jahrhunderts, 31), S. 46-70, hier S. 55.
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der ganzen Erdoberfläche, den lebenden Eindruck bestimmen, welche die Gruppierung kontrastierender Formen in verschiedenen Breiten- und Höhenzonen hervorbringt. 93
Die künstlerischen Konzepte aus der Physiognomik — „das dunkle Gefühl dieses lokalen Naturcharakters" und der „Totaleindruck einer Gegend" sind also aus Humboldts Sicht legitime und wichtige Propädeutiken einer exakteren empirischen Erforschung komplexer Zusammenhänge in der Pflanzengeographie. Am Tableau physique des Λndes et pays voisins, dem Naturgemälde der Tropenländer sind die Fortsetzungen der physiognomischen Betrachtungsweise in einer empirischen Datenerhebung zum Zwecke induktiver Naturforschung noch zu erläutern. Zunächst jedoch zu der anderen Tendenz der Physiognomik, die ganz im Gegensatz dazu ins Anthropologische, Kultur- und Sittengeschichtliche geht bis hin zur neueren Psychologie der Empfindungen und Ästhetik. Hatte Lavaters Physiognomik einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Aussehen und moralischen Eigenschaften verschiedenster Persönlichkeiten gesucht, so verfolgt Humboldts Physiognomik der Pflanzen einen ganz anderen Weg von den unterschiedlichen Erscheinungen der Landschaften zu der Wirkung, die sie auf einzelne ihrer Betrachter und Bewohner und auf ganze Bevölkerungen der betreffenden Gegenden ausüben. Das mehr oder weniger Stimmungsvolle der Naturbeschreibungen, die Humboldt seinen Lesern selber vorlegt oder auf die er sich allgemein bezieht, erschöpft sich demnach nicht in flüchtigen Anmutungen, es ist ein Indiz für bestimmte kulturelle Prägungen: Solche Schilderungen sind aber nicht bloß dazu geeignet dem Gemüthe einen Genuß der edelsten Art zu verschaffen; nein, die Kenntniß von dem Naturcharakter verschiedener Weltgegenden ist mit der Geschichte des Menschengeschlechtes und mit der seiner Cultur aufs innigste verknüpft. Denn wenn auch der Anfang dieser Cultur nicht durch physische Einflüsse allein bestimmt wird, so hängt doch die Richtung derselben, so hangen Volkscharakter, düstere oder heitere Stimmung der Menschheit großentheils von klimatischen Verhältnissen ab. Wie mächtig hat der griechische Himmel auf seine Bewohner gewirkt!94
Und es folgen Ausführungen zum Zusammenhang zwischen Geographie, Klima, Botanik und Zoologie einerseits und der Kultur und dem „Volkscharakter" besonders der nördlicheren und der mediterranen Nationen, ganz wie er von Montesquieu vorbereitet und in Deutschland vor allem von Winckelmann und dann von Herder bekannt gemacht worden ist.95
93 94 95
AN, S. 294. AN, S. 249. Auf diese denkbaren Gewährsleute Humboldts bei seiner Anwendung der Klimatheorie weist auch van Düsen hin (The Literary Ambitions, S. 40).
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Physiognomik erscheint zuletzt als Ausdruck der Landschaft: einzelne Pflanzenformen wirken heiter, andere majestätisch oder melancholisch.96 Die beliebte Opposition von Nord und Süd, die längst das Mediterrane gegen das Nordische ausspielt, verschiebt Humboldt, Forster folgend, zu einem Kontrast des Mitteleuropäischen und exotischen Äquatorialgegenden, die zum Sehnsuchtsbild werden, so tendenziös wie auch die Überzeichnung des einsamen Nordländers in Kälte und Ödnis: Die krankenden Gewächse, welche unsere Treibhäuser einschließen, gewähren nur ein schwaches Bild von der Majestät der Tropen-Vegetation. Aber in der Ausbildung unserer Sprache, in der glühenden Phantasie des Dichters, in der darstellenden Kunst der Maler ist eine reiche Quelle des Ersatzes geöffnet. Aus ihr schöpft unsere Einbildungskraft die lebendigen Bilder einer exotischen Natur. Im kalten Norden, in der öden Heide kann der einsame Mensch sich aneignen, was in den fernsten Erdstrichen erforscht wird; und so in seinem Innern eine Welt sich schaffen, welche das Werk seines Geistes, frei und unvergänglich wie dieser ist.97
Humboldts Hinweise bleiben im Rahmen der bekannten Stereotype, und seine eigenen Ausführungen zur Geographie diverser Weltgegenden beschränken sich auf Andeutungen der möglichen Einflüsse auf ihre Völker und Kulturen. Auch wenn Humboldt diese Fragen nur anreißt, sie sind und bleiben bis zum Kosmos ein wichtiges Motiv für die intensive Befassung mit der spezifischen Physiognomik einzelner Regionen und ihrer kulturellen und psychologischen Wirkung. Auch hier also kommt es zu einem Fazit, das schon öfter zu ziehen war: Wichtig ist für Humboldts Verständnis von Erkennen und Wissen, dass er sowohl Forschung im Dienste einer bereicherten Phantasietätigkeit erlaubt, aber auch umgekehrt die Einbildungskraft als Mittel „höherer Erkenntnisse." Denn keineswegs unterhöhlen die stereotypen, und dennoch phantasieanregenden Oppositionen zwischen Nord und Süd die wissenschaftliche oder zumindest philosophische Geltung der Klimatheorie. Für Humboldt ist es ein Gegenstand der seriösesten Forschung, der „Einfluß der physisichen Welt auf die moralische, das geheimnißvolle Ineinanderwirken des Sinnlichen und Außersinnüchenf; es] giebt dem Naturstudium, wenn man es zu höheren Gesichtspunkten erhebt, einen eigenen, noch zu wenig erkannten Reiz."98 Die höheren, wissenschaftlichen und philosophischen Gesichtspunkte sind demnach zugleich die geheimnis- und reizvollen, nicht anders zu gewinnen als durch eine Produktivität der menschlichen Einbildungskraft, die dem Wissenschaftlichen weit vorausgreift. Selbst wenn vieles dabei der Vermutung überlassen 96 97 98
AN, S. 257. AN, S. 261. AN, S. 247.
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bleibt, als entscheidender Angelpunkt zwischen Naturforschung und Universalgeschichte darf die Physiognomik nicht unterschätzt werden. Sie ist zumindest ein Ansatz und eine Hilfswissenschaft im Rahmen legitimer Studien von Natur und Geschichte. Andererseits zeichnet sich zu Humboldts Zeit bereits ab, dass die Subjektivität von Landschaftswahrnehmungen und den ausgelösten Empfindungen auch im Widerspruch zu einer wissenschaftlichen Deskription der Natur stehen kann. Physiognomik und Charakter von Naturlandschaften stellen sich mehr und mehr als Rückprojektionen von Stimmungen und Gemütslagen dar, die der Mensch unter dem Einfluss objektiver Naturgegebenheiten, aber auch kultureller Normen, entwickelt und daraufhin der Umgebung selbst wieder zuschreibt. Die Annahme von Zusammenhängen zwischen Natur und Empfindung setzt daher unweigerlich eine Anthropomorphisierung der Natur voraus, die nach und nach in Verdacht gerät, mit Wissenschaft nicht mehr vereinbar zu sein. Unter Humboldts Zeitgenossen ist die bewertende Deskription von Physiognomik und Charakteristik als Kulturtechnik zwar noch so weit verbreitet, dass erst im Rückblick die ihnen innewohnende Anthropomorphisierung, etwa als Instrument einer beschreibenden Geographie, in Frage gestellt wird." Andererseits gibt es auch unter Humboldts Zeitgenossen Hinweise darauf, dass die Wechselwirkungen von Gemütsleben und Natur viel mehr ins Gebiet einer neueren, radikalen Ästhetik gehören, und viel weniger Elemente einer wissenschaftlichen Beschreibung sein können. Anders gesagt: Wo Schönheit einzig eine Frage der Kunst ist, lässt sich die ästhetische Wirkung der Natur nicht mehr für eine beschreibende Wissenschaft von der Natur verwenden. Soll die Analyse der Empfindungen angesichts bestimmter Landschaften dagegen eine Rolle in der gelehrten Naturbeschreibung spielen, dann muss es wohl ein genuines Naturschönes geben. Die Frage führt, auch im Blick auf Humboldts Schriften, in ein weites Feld, dem ein eigenes Kapitel zu widmen ist. Zunächst jedoch zum empirischen Aspekt der Physiognomik, zum Tableau physique.
99
So raeint Egon Schwarz zur „anthropomorphen Ausdrucksweise" der Humboldtschen Physiognomie: „Gewöhnlich werden subjektive Gemütsregungen oder ästhetische Empfindungen bedenkenlos in die Naturschilderungen hineingetragen." (Egon Schwarz: Naturbegriff und Weltanschauung. Deutsche Forschungsreisende im frühen 19. Jahrhundert, in: Reinhold Grimm, Jost Hermand (Hg.): Natur und Natürlichkeit, Königstein: Athenäum 1981, S. 1 9 - 3 6 , hier S. 21). Die Frage ist nur, warum denn Humboldt überhaupt Bedenken haben sollte, dies zu tun.
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Humboldts Tableau physique und Goethes „phantasirte Landschaft" Humboldts Tableau physique des Andes et pays voisins erschien in der französischen Ausgabe 1805 als separater Folioband zum Essai sur la geographie des plantes und wurde der deutschen Ausgabe der Pflan^engeographie von 1807 als loses Blatt beigegeben. Eine erste Skizze hatte Humboldt, wie in den Ideen einer Geographie der Pflanzen rekapituliert, bereits 1803 in Guayaquil entworfen, nach seiner Rückkehr in Paris von Lorenz Adolf Schönberger ausführen, von Pierre Jean Francis Turpin die „letzte Hand" daran legen, schließlich von Louis Bouquet stechen lassen.100 Es handelt sich um einen „senkrechten Durchschnitt nach einer Fläche [...], die durch den Rücken der Andenkette, von Osten gegen Westen gerichtet ist", wobei das Profil „ihren höchsten Gipfel, den Chimborazo" durchschneidet (vgl. Abb. 4).101 Das Tableau zeigt im mittleren Teil, dem eigentlichen Andenprofil, jene physiognomische Betrachtungsweise der Natur, von der die Rede war: Verschiedene Vegetationsformen, die je nach der Höhe über dem Meere begegnen, sind so wie der Stille und Atlantische Ozean, der Ubergang zu Felsen und zum ewigen Schnee, Wolken und Luftbläue im kolorierten Kupferstich stilisiert ausgeführt. Im rechten Teil des Profils finden sich, gewissermaßen in die Berghänge eingeschrieben, die Namen von Pflanzen, die für die jeweiligen Biosphären typisch sind. Auf beiden Seiten des Profils verzeichnen Skalen in Relation zu Höhenmetern und Toisen sechzehn verschiedene Parameter, darunter meteorologische, thermische und optische, auch chemische, dazu Angaben zur Zoologie und zur Bodenkultur, für die ein Zusammenhang mit der jeweiligen Vegetation vorausgesetzt wird. Schließlich Hinweise auf Berggipfel anderer Kontinente. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt also in der Angabe und Korrelation exakter empirischer Daten. Die Interpretation der Tabellen, ihre Rückführung auf bestimmte Naturgesetze und die Annahme funktionaler Zusammenhänge weisen in die Richtung einer induktiven Naturforschung. In Humboldts Begriffen handelt es sich dabei um eine Fortführung des Empirischen durch das Philosophische: „Der Empiriker zählt und mißt, was die Erscheinungen unmittelbar darbieten, der Philosophie der Natur ist es aufbehalten, das allen Gemeinsame aufzufassen und auf Prinzipien zurückzuführen."102 Die Erweiterung und Übertragung der wichtigsten Ergebnisse des Tableau physique auf andere Gegenden der Welt, ja seine Ausdehnung auf globale Zusammenhänge wäre dabei lediglich eine Sache des Vergleichs mit weiteren empirischen Datenreihen. Ähnli100 GP, S. 72f. 101 GP, S. 75. 102 G P , S . 102.
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che Naturgemälde für andere Zonen und zusätzlich botanische Karten regt Humboldt in seinen Ideen selber an, womit zugleich auch die Grenzen dieses einen Naturgemäldes deutlich gemacht sind.103 Andererseits eignet dem Tableau und Humboldts Kommentaren dazu ein Zug ins Totale. Der Anspruch, „alle [!] physikalischen Erscheinungen, welche die Oberfläche der Erde und der Luftkreis von dem 10. Grad nördlicher bis zum 10. Grad südlicher Breite darbietet,"104 in diesem einen Naturgemälde zu repräsentieren, scheint ein Vorgriff vom Empirischen auf das als philosophisch Bezeichnete zu sein. Einer verkürzten Darstellung der gesamten Natur nähert sich das Tableau vor allem deswegen, weil Humboldt belegt, wie sich zum Äquator hin eine immer größere Artenvielfalt in immer begrenzteren Regionen konzentriert. Wo sich dieses Phänomen zusätzlich mit einer exzeptionellen höhentopographischen Stufung verbindet, wie bei den geologisch jungen vulkanischen Andengebirgen, ist von der empirischen Erscheinung zur Synopse sämtlicher denkbaren Vegetations formen nur ein Schritt. „Die große Höhe, zu welcher der Boden sich über der Wolkenregion unter dem Äquator erhebt, gewährt den Einwohnern dieser Gegend das sonderbare Schauspiel, daß sie außer den Bananengewächsen und Palmen auch von Pflanzen umgeben sind, welche man oft den europäischen und nordasiatischen Klimaten eigen glaubt."105 Und daraufhin die Erhebung des Empirischen zum Kosmos in nuce: „So genießt der Tropenbewohner den Anblick aller Pflanzenformen. Die Erde offenbart ihm auf einmal alle ihre vielfachen Bildungen, wie die gestirnte Himmeldecke von Pol zu Pol ihm keine ihrer leuchtenden Welten verbirgt."106 Das Tableau ist also eine Auswahl und metonymische Verknappung von dem, was sich tatsächlich in der Natur findet. Was in diesem Sinne als Ideallandschaft (das heißt Schema) bezeichnet wurde, geht jedoch, der Text der Pflan^engeographie deutet es an, in eine Ideallandschaft im viel emphatischeren Sinne über.107 Ihr Totales hängt wesentlich mit einer genuin bildkünstlerischen Disposition der Darstellung zusammen. Nur auf den ersten Blick beschränkt sich das Tableau auf die schematische Illustration der wissenschaftlichen Befunde, tatsächlich aber bindet Humboldt das Gemälde in seinen Kommentaren so weit an künstlerische Begriffe,
103 GP, S. 51,99. 104 GP, S. 74, ähnlich, doch etwas vorsichtiger S. 70: „Dieses Naturgemälde berührt gleichsam alle Erscheinungen, mit denen ich mich fünf Jahre lang währen meiner Expedition nach den Tropenländern beschäftigt habe." 105 G P , S . 65. 106 G P , S . 66. 107 Vgl. Beck, Alexander von Humboldt, Bd. 2, S. 67.
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dass Zusammenhang und das Ganze sich nicht mehr nur empirisch oder philosophisch herleiten lassen, sondern auch ästhetisch motiviert sind. Da ist zum einen der „ikonographische Ansatz", der zu Recht für Humboldts Profil herausgestrichen wurde.108 In Richtung der bildenden Kunst weist ja schon Humboldts Titelgebung: „Tableau physique" und mehr noch das deutsche „Naturgemälde der Anden", wenn auch darunter kursiv gesetzt ist „gegründet auf Berechnungen und Messungen."109 Beide Traditionen würden durch Humboldts Tableau aktualisiert. Im Text findet sich außerdem die Formulierung vom „physikalischen Gemälde",110 wohl die wörtlichste Übersetzung von „Tableau physique". Doch was ein „Naturgemälde" und ein „Tableau" sein soll, lässt sich zunächst nur schwer abgrenzen von einem „Adas pittoresque", von „Vues", von „pittoresken Ansichten" oder „Ansichten der Natur", die es in Humboldts französischem und deutschem Werk ja auch gibt; und das eine 'Naturgemälde,, das heißt der Kupferstich mit dem Andenprofil und flankierenden Tabellen, hat wiederum wenig mit dem „Naturgemälde" gemein, das Humboldt sich Jahrzehnte später im Kosmos zu entwerfen anschickt. Sind diese Überschriften nicht für Darstellungen rein empirischer Forschungsergebnisse passend, so sind es einige von Humboldts Bemerkungen über die Pflanzengeographie und das Naturgemälde noch weniger. So bekennt der Verfasser der Ideen, neben einem philosophischen auch ein ästhetisches Interesse wecken zu wollen: Wenn ich einerseits hoffte, daß mein Naturgemälde neue und unerwartete Ideen in denen erzeugen könnte, welche die Mühe nicht scheuen, eine Zusammenstellung zahlreicher Tatsachen zu studieren, so glaubte ich andererseits auch, daß mein Entwurf fähig wäre, die Einbildungskraft zu beschäftigen und derselben einen Teil des Genusses zu verschaffen, welche aus der Beschauung einer so wundervollen, großen, oft furchtbaren und doch stets wohltätigen Natur entspringt. 111
Humboldt räumt zwar ein: „Ein Bild, welches an nebenstehende Skalen profilartig gebunden ist, kann an sich keiner sehr malerischen Ausführung fähig bleiben. Alles, was geometrische Ausführung erheischt, ist dem Effekt entgegen."112 Dennoch gehen Ansprüche in beide Richtungen: „Aber in dieser geometrischen Vorstellung sollten zwei sich oft fast 108 Günter Metken: Humboldts „Naturgemälde" und die Kolossalbilder von Frederic Edwin Church, in: Merkur 52 (1998), H. 11, Nr. 596, S. 1063-68, hier S. 1065. 109 Vgl. Annette Graczyk: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München: Fink 2004. Sowohl eine taxonomische als auch eine bildkünsderische Tradition des Tableaus fließen am Ende des 18. Jahrhunderts im neuen Genre des literarischen Tableaus zusammen. 1 1 0 G P , S . 69. 1 1 1 G P , S . 71. 1 1 2 G P , S . 73.
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ausschließende Bedingungen zugleich erfüllt werden, Genauigkeit der Projektion und malerischer Effekt."113 Das Plädoyer fürs Malerische am Tableau physique hat zwei Gründe. Zum einen weist das Künstlerische auf die idealtypische Darstellung oder sogar symbolische Repräsentation eines Großen und Ganzen hin, auf das es Humboldt auch in epistemologischer Hinsicht ankam. Zum anderen nehmen der kommentierende Text so wie auch Humboldts Beiträge zu den Ansichten der Natur entschiedene Wertungen vor, die in der Rhetorik eines Sachtextes vielleicht nicht weiter auffallen, deren Umsetzung in eine bildliche Darstellung jedoch unweigerlich über das rein Schematische hinausweisen würde in den Bereich der Landschaftsmalerei. Ein Missverständnis, das sich zwischen Humboldt und seinem prominenten Zeitgenossen Goethe anbahnte, lässt sich ganz aus dem vielfach ästhetischen Denken in den Ideen einer Geographie der Pflanzen erklären. Humboldts Briefe an Goethe aus der Zeit der Physiognomik der Gewächse und der Geographie der Pflanzen tun ein Übriges, um die botanischen Schriften in ein künstlerisches Licht zu setzen. „Der erste Teil meiner Reisebeschreibung, das Naturgemälde der Tropenwelt, ist Ihnen zugeeignet," heißt es in einem Brief von 1806. „Mein Freund Thorwaldsen in Rom, ein ebenso großer Zeichner als Bildhauer, hat mir eine Vignette [vgl. Abb. 9] entworfen, welche auf die wundersame Eigentümlichkeit Ihres Geistes, auf die in Ihnen vollbrachte Vereinigung von Dichtkunst, Philosophie und Naturkunde anspielt." Weiter schildert Humboldt, welche Verzögerung es bei der Auslieferung der Pßan^engeographie gebe, weshalb er zunächst die „kleine Abhandlung über Physiognomik der Gewächse" mitschicke. Es sei „ein roher Versuch, physikalische und botanische Gegenstände ästhetisch zu behandeln." Der Brief empfiehlt die Lektüre mit den schon andernorts zitierten Worten: „Auch ist Ihnen der südliche Himmel nicht fremd und Sie haben ja Naturphysiognomische Reisen unter Ihren Schweizerischen und Italienischen Zeichnungen."114 Die Sprache der Kunst kann nicht verwundern im Blick auf die Ideen ψ einer Physiognomik der Gewächse, die Humboldt seinem Schreiben beigelegt hat - hier gibt es ja in der Tat einen methodisch begründeten Zusammenhang zwischen Malerei und Pflanzengeographie. Doch erstreckt sich die Rede von der Zwischenstellung zwischen Philosophie, Dichtkunst und Naturkunde oder von Ästhetik und Naturforschung auch auf die angekündigte Geographie der Pflanzen mit dem dazugehörigen „Naturgemälde der Tropenwelt". In dieser Abhandlung wird der künstlerische Zugang zur Pflanzenphysiognomie, die ihrerseits Grundlage der Pflanzengeographie 1 1 3 GP, S. 74. 1 1 4 Brief an Goethe, 6.2.1806; Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander von Humboldt, S. 297, 298.
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sein müsse, betont. Die ästhetischen Wertbezeichnungen dominieren zunächst deskriptive termini technici: „Auf der Schönheit der einzelnen Formen, auf dem Einklänge oder dem Kontrast, welcher aus ihrer natürlichen Gruppierung entsteht, auf der Größe der organischen Massen und der Intensität des Grünes beruht der Vegetationscharakter einer Zone."115 Als Goethe die Pflant^engeographie, vorläufig ohne das Naturgemälde, erhält, ist er durch das Fehlende doppelt herausgefordert: Er bittet dringend um die Zusendung wenigstens eines Probedrucks und fühlt sich inspiriert, einen eigenen Versuch zu einem Naturgemälde als Illustration zur Geographie der Pflanzen zu wagen. Es liegt sicherlich auch an Humboldts so entschiedenen Hinweisen auf die künstlerische Tendenz seiner pflanzengeographischen Bemühungen, dass Goethe unbedenklich sogleich aus der Schule der Landschaftsmalerei heraus tätig wird. Ich habe den Band schon mehrmals mit großer Aufmerksamkeit durchgelesen, und sogleich, in Ermangelung des versprochenen großen Durchschnittes, selbst eine Landschaft phantasirt, wo nach einer an der Seite aufgetragenen Scala von 4000 Toisen die Höhen der europäischen und americanischen Berge gegen einander gestellt sind, so wie auch die Schneelinien und Vegetationshöhen bezeichnet sind. Ich sende die Copie dieses halb im Scherz, halb im Ernst versuchten Entwurfs und bitte Sie, mit der Feder und mit Deckfarben nach Belieben hinein zu corrigiren, auch an der Seite etwa Bemerkungen zu machen. 116
Die enge Verbindung zwischen Landschaftskunst und genauer botanischer Deskription verfolgte Goethe in diesem Jahr weiter, als er sich in mehreren Anläufen mit dem kürzlich verstorbenen Weggefährten aus italienischen Zeiten, Philipp Hackert beschäftigte.117 Während es keine Zeugnisse zu Humboldts unmittelbarer Reaktion auf Goethes „Landschaft" gibt, ist ein später Brief an Johann Georg von Cotta überliefert, in dem es heißt, Goethes Versuch sei „wenig glüklich, weil Perspektive und vertikaler Durchschnitt vereint waren."118 Im Übrigen ist leicht zu erkennen, dass Goethe Humboldts Kommentar zum Tableau nicht zu genau gelesen hat, denn seine „Landschaft" ist im Vergleich zum Naturgemälde „seitenverkehrt",119 das heißt entgegen den Angaben Humboldts120 liegt der Osten links, der Westen rechts. In ande1 1 5 G P , S . 64. 1 1 6 Goethes Werke, WA, IV: Briefe, Bd. 19, S. 297, Brief vom 3.4.1807. 1 1 7 Zum Komplex der biographischen und kunsthistorischen Schriften über Hackert gehört auch eine Handschrift des Malers, die Goethe im Juni 1807 mit redaktionellen Zusätzen und Korrekturen versah: Über Landschaftsmalerei. Theoretische Fragmente, in: MA 9, S. 848—854. Dort ist von der minutiösen Berücksichtigung der botanischen Morphologie durch den Landschaftsmaler die Rede (S. 851-854). 1 1 8 Vgl. Kurt-R. Biermann: Goethe in vertraulichen Briefen Alexander von Humboldts, in: Goethe-JB 102 (1985), S. 1 1 - 3 3 , hier S. 28. 119 Alexander von Humboldt: Studienausgabe, Bd. 1, S. 311. 120 GP, S. 75.
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rer Hinsicht setzt jedoch Goethes Parallelaktion einige explizite Details aus den Ideen einer Geographie der Pflanzen ins Bild, die Humboldts Tableau unterdrückt. Goethes Zeichnung ist, gestochen von Thomas Starcke, in den Allgemeinen Geographischen Ephemenden des Jahres 1813 veröffentlicht worden,121 und nach dieser Vorlage hat es sogar einen französischen Druck gegeben (Vgl. Abb. 5). An den Herausgeber der Ephemenden, Friedrich Justin Bertuch, sandte Goethe eine Erläuterung,122 die einiges wiederholt, was schon im Brief an Humboldt stand und in ähnlichen Wendungen auch in den Annalen auf das Jahr 1807 wiederkehren sollte.123 Aus diesen Charakterisierungen lassen sich Rückschlüsse auf Goethes zugleich eigenwillige und begeisterte Lektüre der Pflan^engeographie Humboldts ziehen. Höhenangaben und die Bezeichnung verschiedener Gipfel der Alten und Neuen Welt gibt es bei Goethe wie bei Humboldt, Grenzen für Vegetationen, geologische und klimatische Erscheinungen hier wie da. Zusätzlich deutet Goethe auf der einen Seite die Stadt Mexiko, auf der anderen das Hospiz des St. Bernhard an, und ein winziger Humboldt winkt sogar von den Höhen des Chimborazo dem ersten Bezwinger des Montblanc, Saussure, auf dem Alpengipfel zu, während noch darüber der Höhenrekordler GayLussac in einer Montgolfiere schwebt; über Humboldts Haupte scheint ein Condor zu kreisen, „und um zu bedeuten, daß wir vom Flußbette, ja von der Meeresfläche zu zählen anfingen, ließ ich unten ein Krokodil herausblicken, das zu dem Übrigen etwas kolossal gerathen sein mag",124 erläutert Goethe. Von Humboldts Tableau physique weicht die Darstellung vor allem in der starken Perspektivierung der beiden Gebirgsmassen ab, wobei das europäische links mehr im Vordergrund, das amerikanische rechts weiter hinten postiert ist. Goethe kann allerdings durch die perspektivischen Fluchtlinien das Gefalle der Berghänge natürlicher darstellen als das Andenprofil, das unter dem Diktat des Papierformats auf eine schmale Achse gedrängt ist und daher steil ansteigt und fällt. „Eine solche widersinnig erscheinende Verzerrung der Umrisse darf aber diesen Länderprofilen [nicht] vorgeworfen werden", rechtfertigt Humboldt, „da es in Arbeiten dieser Art auf strenge Befolgung fester Regeln und nicht auf malerische Ähnlichkeit ankommt."125 Probleme der Ubergänge zwischen Malerei und Wissenschaft können also schon in den respektiven Empirievorstellungen liegen. 121 122 123 124 125
MA 9, S. 9 1 1 - 9 1 5 . MA 9, S. 9 1 5 - 9 1 7 . M A 1 4 . S . 232. M A 9 , S . 916. GP, S. 79.
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Bei Goethe ist die perspektivische Betonung der übrigens ganz untopographisch eingezeichneten Alpengipfel im Vordergrund durch die Beleuchtung ausgeglichen: die europäischen Berge liegen, von Norden gesehen, im Schatten, während das starke Licht der Morgensonne die weiter hinten gelegenen Anden erhellt. Zutreffend also bezeichnet Goethe seine Landschaft als „eine symbolische Darstellung",126 wobei er sicherlich deutlich vom später publizierten Naturgemälde der Tropenländer abweicht, weniger jedoch von Humboldts schriftlichen Ausführungen in der Physiognomik der Gewächse und der Geographie der Pflanzen·, dort ist ja ausdrücklich von der amerikanischen Natur als einer Steigerung der europäischen die Rede,127 die physikalischen Lichtverhältnisse in den Tropen bieten sich zu metaphorischen Assoziationen an,128 und auch die europäische Perspektive prägt die Schilderungen in der Pflanzengeographie; Humboldt jedenfalls erinnert seine Leser gern an bekanntere Vegetationen und Zoologien, auch an die Alpen,129 um so den Blick vom Gewohnten zum Ungewohnten zu lenken. Die kaum als Statisterie erkennbaren Figürchen der Entdecker Saussure, Gay-Lussac und Humboldt in Goethes Landschaft schließlich erinnern an jene wissenschaftshistorische Dimension, der etwa in der Farbenlehre130 viel Platz eingeräumt wird, und die auch in Humboldts Schriften von den Ansichten über das Examen cntique bis zum Kosmos zunehmen. Neben der Überschrift „Naturgemälde" konnte also auch die Rhetorik von Humboldts Briefen und Schriften durchaus zum Entwurf einer „symbolischen Landschaft" als Pendant zum erwarteten Tableau physique verführen. Aus geographiegeschichtlicher Sicht erschien es dann aber nicht wichtig, dass Goethes Zeichnung zugleich auch eine Antwort auf das Widmungsblatt ist, auf das Humboldt begreiflicherweise Goethes Aufmerksamkeit besonders lenkte.131 In der Zeichnung zu dem Stich hatte Bertel Thorwaldsen einen Apoll mit der Leier die Statue der vielbrüstigen ephesischen Diana als „Symbol der Natur" enthüllen lassen, zu deren Füßen eine Steinplatte mit der Aufschrift „Metamor, der Pflanzen" lehnt.132 Den Ernst dieser allegorischen Darstellung wendet Goethe mit 126 127 128 129 130 131 132
M A , 9 , S . 917. GP, S. 64f. GP, S. 121. GP, S. 94f. MA, 10, S. 473-919 (Materialien zur Geschichte der Farbenlehre). Hanno Beck in: A. v. Humboldt: Studienausgabe, Bd. 1, S. 311. Dies die Deutung von Wolfgang-Hagen Hein: Humboldt und Goethe, in: ders. (Hg.): Alexander von Humboldt. Leben und Werk, Frankfurt a.M.: Weisbecker 1985, S. 46-55, S. 49-51. Zur Vignette gibt es die sorgfältige und ausführliche ikonographie- und motivgeschichtliche Untersuchung von Pierre Hadot: Zur Idee der Naturgeheimnisse: beim Betrachten des Widmungsblattes in den Humboldtschen ,Ideen zu einer Geographie der
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seinen winkenden Naturforschern und dem „colossalen Crocodil" mehr ins Heitere. Das Krokodil fehlt im Kupferstich nach der Zeichnung, dafür erscheint hier in der monumentalen Steinplatte des Vordergrundes eine Gravur mit einer feierlichen Zueignung. Goethe fasst also in seiner Landschaft zusammen, was bei Humboldt deutlich in die künstlerisch gelehrte Darstellung und ein separates, übrigens nur einer kleinen Auflage beigeheftetes Widmungsblatt zerfällt. Dennoch ergeben sich aus der gleichzeitigen Betrachtung beider oder aller dreier Blätter zusätzliche Einsichten. Zunächst ist nach der Bedeutung jener Metamorphose der Pflanzen zu fragen, die Humboldt unter Goethes naturkundlichen Schriften am höchsten schätzte. 133 Die Abhandlung gehört zu den durchaus ernst zu nehmenden Quellen der Pßan ^engeographie. D a ist zum einen der morphologische Zugang, der über die Linnesche Klassifikation hinauszugehen sucht und dabei vor allem von der gesamten Gestalt der Pflanzen ausgeht. Dann gibt es bei Goethe eine Berücksichtigung pflanzenphysiologischer und sogar geographischer Aspekte, 134 die bei Humboldt zu einer Übersicht der unterschiedlichsten Parameter, die das Auftreten bestimmter Vegetationen beeinflussen, erweitert ist. Weniger wichtig erscheint in der Pßan^engeographie im Vergleich zur Metamorphose dagegen der Lebenszyklus der einzelnen Vegetationsperioden und der Pflanzenindividuen. Was aber Thorwaldsens Zeichnung, durchaus im Sinne Goethes, hervorhebt, ist die allgemein kulturgeschichtliche Bedeutung der Naturforschung, eine philosophische Frage nach der Erkenntnis und der Erkennbarkeit der Natur durch den Menschen und für den Menschen, gesteigert zu einer Idealgestalt mit göttlichen Attributen, eben Apoll. Die Natur in Gestalt der Artemis ist dabei nicht eine empirisch und gesetzlich restlos objektivierbare, sondern ein rätselhaftes Gegenüber jener Erkenntnisbemühungen, die nicht auf das Wissenschaftliche beschränkt sein müssen, sondern auch subjektive Erfahrungen und Ästhetik zulassen, in jedem Fall aber von der Ambivalenz der Enthüllung bestimmt sind: der von Goethe so gerne variierten Spannung von Offenbarung und Verbergung. 135 Weit entfernt davon, bloßes Ornament zu sein, nimmt das Widmungsblatt eine wissenschaftsgeschichtliche und kulturgeschichtliche Pflanzen'. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz 1982, Nr. 8, Wiesbaden: Steiner 1982. 133 Vgl. Biermann: Goethe in vertraulichen Briefen, S. 23 (Brief an Guhrauer vom 21.6.1849) und S. 26 (an Heinrich Düntzer, ohne Datum). 134 MA 3.2, S. 327ff. 135 Hadot weist Formulierungen dieses Gedankens, die eben in der ikonographischen Tradition der entschleierten Göttin, aber auch in der philosophischen des Piatonismus stehen, bei Goethe, Schiller und auch bei den Romantikern bis zu den Lehrlingen Sais nach (Hadot Zur Idee der Naturgeheimnisse, S. 18-32).
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Annäherung an die Problematik der Pflanzengeographie vorweg, die für Humboldts Ideen leitend ist und auch Goethes „symbolische" Landschaft prägt. In dieser sind die epochemachenden Naturforscher mit eingezeichnet und die landschaftsprägenden Orte, Hospiz des St. Bernhard und Mexiko-Stadt. Bei Humboldt läuft die Geschichte der kulturellen Vorstellungen über Natur und der Entdeckungen mit der Deskription der Phänomene stets mit. Die menschliche Erkenntnis feiert sich und historisiert sich zugleich in der Darstellung des enthüllenden Apoll. Wenn also das Widmungsblatt auf das Tableau und den Text der Ideen verweist, so kann ein anderes Frontispiz, das zum Atlas geographique et physique du Nouveau Continent von Barthelemy Roger als weiteres Pendant angesehen werden (vgl. Abb. 2). Das an seinen Attributen leicht zu erkennende Paar Athena und Hermes hilft dem allegorisierten Amerika in Gestalt eines gebeugten Inkafürsten auf. In der Erkenntnis aller natürlichen und kulturellen Aspekte des erforschten Landes feiert sich vor allem die europäische Kultur: „Humanitas, Litterae, Fruges", die in der Weltgeschichte universalisierbar erscheinen.136 Zwischen den allegorischen Zeichnungen, die sich auf älteste Überlieferungen beziehen, und Humboldts modernstem Tableau physique scheint es allerdings weder ikonographisch noch erkenntnisphilosophisch irgendwelche Gemeinsamkeiten zu geben. So exponiert wie die verschiedenen Abbildungen in der Vielzahl der Bände des Reisewerks sind, ergänzen sie sich allenfalls. Das Naturgemälde der Tropenwelt bewahrt ja, wie gesagt, nur Reste jener heuristisch wertvollen bildkünstlerischen Disposition massenhafter vegetativer Erscheinungen und scheint doch überwiegend schematische Illustration zu den kompakten Datenskalen zu sein. Besonders das Kulturgeschichtliche spielt kaum eine Rolle. Die Genese des Naturgemäldes belehrt jedoch eines Besseren. Das universelle Gebirge als Topos Die Vorgeschichte des Tableau endet nicht in den ersten Jahren von Humboldts und Bonplands Amerikareise, sondern reicht weiter in die Zeit seiner Vorbereitung auf diese Expedition zurück. Ein erster Ansatz zu 136 Vgl. die prägnante Beschreibung und Interpretation des Frontispizes von Helga von Kügelgen: Amerika als Allegorie. Das Frontispiz zum Reisewerk von Humboldt und Bonpland, in: Alexander von Humboldt. Netzwerke des Wissens, Bonn 1999, S. 133. Kügelgen betont vor allem den topischen Charakter der Darstellung, die in geographischen Werken, vor allem Adanten eine lange Tradition hat. Die empirischen, topographischen Elemente der Darstellung, Humboldts Atlas pittoresque entnommen, fügen sich bruchlos in den Kontext der topischen Allegorie.
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einer pflanzengeographischen Arbeit ist die Rezension der Beobachtungen auf Reisen nach dem Riesengebirge von Thadäus Haenke aus dem Jahre 1791, in der die Disposition der gefundenen Pflanzen nach Höhenlagen des Gebirges besonders gelobt wird.137 Doch schon vorher, 1790, habe Humboldt nach eigenen Angaben Georg Forster einen ersten Entwurf zu einer Pflanzengeographie vorgelegt,138 der sich allerdings nicht erhalten hat. Dies lässt, erinnert man sich an den teilweise kulturhistorischen und geographiegeschichtlichen Einschlag von Forsters botanischen Beobachtungen auf seinen Reisen, einen wichtigen Gedanken zu, der andernorts ausdrücklich formuliert wird, dass nämlich die Genese der Humboldtschen Ideen entschieden an universalgeschichtliche und anthropologische Fragestellungen gebunden ist. In einem Brief an den Mathematiker Johann Friedrich Pfaff vom 12.11.1794 kündigt Humboldt denn auch eine Arbeit in diesem Sinne an: „das Buch soll in 20 Jahren unter dem Titel: ,Ideen zu einer zukünftigen Geschichte und Geographie der Pflanzen oder historische Nachricht von der allmähligen Ausbreitung der Gewächse über den Erdboden und ihren allgemeinsten geognostischen Verhältnissen' erscheinen."139 Und schließlich ist an den langen Brief zu erinnern, mit dem Humboldt sich schon einige Monate zuvor dem Universalgeschichder und Herausgeber der Hören, Schiller, als zukünftigen Mitarbeiter empfahl.140 Den universalhistorischen Zugang zu einer Geographie der Pflanzen und Tiere legten schon einige aktuelle Veröffentlichungen nahe: Eberhard August Wilhelm von Zimmermann hatte im Zusammenhang mit seiner Geographischen Geschichte des Menschen und der allgemein verbreiteten vierfiißigen Thiere 1779—1783 eine zoologische Weltkarte entworfen,141 und Herder, höchst wahrscheinlich ein verschwiegener Gewährsmann Humboldts, hatte schon im ersten Band seiner Ideen von 1784 ein Kapitel über „Das Pflanzenreich unserer Erde in Beziehung auf die Menschengeschichte" vorgelegt. Die kühnen Vergleiche zwischen Menschen- und Pflanzenleben, die Herder auf diesen Seiten anstrengt, wird Humboldt sich nicht angeeignet haben. Aber die Schlussfolgerungen und das Forschungsprogramm, die daran anschließen, schlagen so sehr in Humboldts Gebiet, dass es eher verwundert, sie nicht in den einleitenden Seiten der T?flan%engeographie gewürdigt zu sehen. Es scheint ganz unwahrscheinlich, dass 137 Alexander von Humboldt: Annalen der Botanick 1791, S. 78—83. Teilweise wieder abgedruckt in A. v. Humboldt: Studienausgabe, Bd. 1, S. 33f. 138 Ebd., S. 44. 139 J B , S . 370. 140 NA, 35, S. 37 (6.8.1794). 141 Johann Gottfried Herder: Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, hg. von Martin Bollacher, in: ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 6, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1989, S. 250.
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Humboldt das folgende nicht gekannt haben sollte, und höchstens die allzu große Übereinstimmung hat ihn den Autor Herder sogleich verdrängen lassen. In den Herderschen Ideen also heißt es: Bei der Verbreitung und Ausartung der Pflanzen ist eine Ähnlichkeit kenntlich, die sich auch auf andere Geschöpfe über ihnen anwenden läßt und zu Aussichten und Gesetzen der Natur vorbereitet. Jede Pflanze fordert ihr Klima, zu dem nicht die Beschaffenheit der Erde und des Bodens allein, sondern auch die Höhe des Erdstrichs, die Eigenheit der Luft, des Wassers, der Wärme gehöret. [...] Die botanische Philosophie, die Pflanzen nach der Höhe und Beschaffenheit des Bodens, der Luft, des Wassers, der Wärme ordnet, ist also eine augenscheinliche Leiterin zu einer ähnlichen Philosophie in Ordnung der Tiere und Menschen. 142
Herder weist auch in einer Fußnote auf Jean-Louis Soulavie hin, der in seiner „hist. naturelle de la France meridionale (P.II.T.I) [1780-1784] einen Entwurf %ur allgemeinen botanischen Geographie des Pflanzenreichs gegeben."143 Von der universalgeschichtlichen Genese der Humboldtschen Pflan^engeographie ist am Tableau physique nicht mehr viel zu erkennen, wenn man etwa die Kolonne ausnimmt, die die „Cultur des Bodens nach Verschiedenheit der Höhe" bezeichnet. Anders steht es mit dem Textteil der Ideen einer Geographie der Pflanzen. Dort wird neben Fragen der Paläontologie auch die spontane oder kulturbedingte Migration von Pflanzen behandelt mit ihren bedeutenden Folgen für die Kulturgeschichte insgesamt.144 Keinem geringeren als Schelling und seinem System des Transzendentalen Idealismus vertraut Humboldt das Fazit an: „so nehmen dagegen, nach dem Ausspruche eines tiefsinnigen Denkers, selbst Naturveränderungen einen echt historischen Charakter an, wenn sie Einfluß auf menschliche Begebenheiten haben."145 Diese Überlegungen gelten wohl auch der günstigen Positionierung der Botanik und Geographie in einer angenommenen Hierarchie der Disziplinen, bei der die historischen Studien gewiss höher angesiedelt sind als die rein naturforschenden. Ein spezifisch anthropologisches und kulturgeschichtliches Interesse Humboldts an der synoptischen Darstellung des Naturgemäldes ist jedoch sicherlich auch von anderer, eher literarischer Seite angeregt worden. Zu nennen ist das Genre der Robinsonade, zu Humboldts Zeiten schon längst und noch lange populär. Die Geschichte des Gestrandeten, der auf seiner einsamen Insel alles findet, was der Mensch zum Leben braucht, reduziert die eine Natur und Schöpfung zwar physikotheologisch auf das dem Menschen Nützliche und Förderliche. Warum soll aber nicht in den 142 143 144 145
Herder: Ideen, S. 62f. Ebd., S. 63. Ebd., S. 5 1 - 6 1 . Ebd., S. 61.
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Humboldt bekannten Robinsonaden — ohne Zweifel gehört Robinson der Jüngere seines Lehrers Joachim Heinrich Campe von 1779 dazu,146 vielleicht auch die Wunderliche Fata einiger Seefahrer [...] von Johann Gottfried Schnabel147 - warum soll Humboldt nicht von diesen Schilderungen einer für Menschen vollkommenen Natur zum Zwecke moralischer Nutzanwendungen nicht zu geographischen Konzepten inspiriert worden sein? Robinson der Jüngere hat jedenfalls nach einer Reise, die Humboldt später in ähnlichen Etappen über die Kanaren bis in die Karibik tatsächlich unternehmen sollte, in den Gewässern der Äquinoktialgegenden des Neuen Kontinents Schiffbruch erlitten, so wie sein Vorläufer in Daniel Defoes Roman von 1719.148 Der erste Robinson war nach einer authentischen Begebenheit auf eine Insel nicht weit von der Mündung des Orinoco verschlagen worden, den Humboldt weiter oben befahren würde. Dass Campe keine wirklich konkrete Vorstellung von der dortigen Natur haben konnte und sich auf Angelesenes beschränken musste, heißt nicht, dass er sich nicht um eine möglichst authentische Darstellung der von seinem Schüler später empirisch erforschten Gegend bemüht hätte.149 Die Insel als verkleinertes Abbild des Universums bewahrt dabei ihre Faszination. Kant bezieht sich in seiner Anthropolgie in pragmatischer Hinsicht auf Linnes Hypothese einer „Ur-Insel", auf deren Gebirgen sich idealtypisch die Vielfalt aller Naturerscheinungen in gedrängtester Fülle konzentriert.150 Inspiriert vor allem von Forsters Reise um die Welt und eben auch von dem fast gleichzeitig erschienenen, wenn auch ungleich drögeren Jüngeren Robinson, konnte Humboldt schon in frühen Jahren von der Fülle und dem Reichtum tropischer Landschaften als dem Inbegriff der Natur träumen. Später erklärte er sich ausdrücklich tief beeindruckt von den Werken 146 J. H. Campe: Robinson der Jüngere zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder, Hamburg 1779; zit. n. der Ausgabe Stuttgart: Reclam 1981. 147 Johann Gottfried Schnabel: Die wunderliche Fata einiger Seefahrer [...], Nordhausen: Johann Heinrich Groß 1 7 3 1 - 1 7 4 3 . 148 Der Campesche Robinson reist von Hamburg über London, durch den Kanal auf die Kanarischen Inseln, wobei ausdrücklich der von Humbldt später bestiegene Pic de Teneriffa genannt wird, bis zu den karibischen Inseln. 149 Im „Vorbericht" erklärt der Verfasser, „lieber wahre Gegenstände, wahre Produkte und Erscheinungen der Natur - und zwar in Beziehung auf diejenige Weltgegend, wovon die Rede ist, - in meine Erzählung aufnehmen" zu wollen (Campe: Robinson, S. 5f.). 150 Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 6, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, S. 675, FN. „Man kann mit dem Herrn Linne für die Archäologie der Natur die Hypothese annehmen, daß aus dem allgemeinen Meer, welches die ganze Erde bedeckte zuerst eine Insel unter dem Äquator, als ein Berg hervorgekommen, auf welchem alle klimatische Stufen der Wärme, von der des heißen am niedrigen Ufer derselben, bis zur arktischen Kälte auf seinem Gipfel, samt den ihnen angemessenen Pflanzen und Tieren, nach und nach entstanden."
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Bernardin de St. Pierres und auch Chateaubriands. 151 Die Natur, einmal zu didaktischen Zwecken inventarisiert, dann wieder mehr zu stimmungsvollen Landschaftsgemälden entfaltet, ist in diesen literarischen Texten wie in Humboldts Naturgemälde topographisch begrenzt und dabei mit den Attributen des vollständigen, geordneten und schönen K o s m o s ausgestattet. Freilich sind diese K o s m e n unterschiedlich bewertet: Stellt man die Scenes de la Nature (1784) und auch Paul et Virginie (1788) von Bernardin de St. Pierre neben die Robinsonaden, so fällt vor allem auf, wie sich die Naturvorstellung von der physikotheologischen Zweckmäßigkeit immer mehr zu einer empirischen Darstellung von Artenvielfalt und organischen Zusammenhängen wandelt. Schönheit und Erhabenheit passen sich dem mehr theologischen und pragmatischen, dann wieder mehr naturphilosophischen und empirischen Verständnis von Natur an. Was ein begrenzter Inbegriff der gesamten Natur ist, ändert vom Paradies der Genesis bis zu Bernardin de St. Pierre zwar kontinuierlich sein Ansehen, die religiösen, philosophischen, pragmatischen und ästhetischen Valenzen sind jeweils anders darin gewichtet, aber keiner der literarischen Kosmen, keine Insel, sei es die Robinsons oder die Virginies, verzichtet völlig auf die Vorstellung einer von der Vorsehung für den Menschen so schön und nützlich gestalteten Natur. Die empirische Genauigkeit der Beobachtungen und die Einsicht in organische Wechselbeziehungen, die Ästhetik der Fülle und des Reichtums der Natur wachsen gewissermaßen in die Aufgabe der gottgewollten Schöpfung und Ordnung hinein. Auch Humboldt wird bis an sein Lebensende die Analogie zwischen dem ästhetischen und ökonomischen Reichtum einer Natur für den Menschen und der funktionalen Ordnung der empirischen Naturerscheinungen bewahren und es seinen Lesern anheimstellen, in der Natur die Zeichen der Schöpfung oder Vorsehung wiederzufinden. Welche Konsequenzen die literarische Topik und Motivgeschichte im übrigens für die Ideen- und Wissensgeschichte hat, zeigte sich schon früh in Humboldts Briefen. Rousseau hatte in der Landschaft des Genfer Sees die gleichzeitige Präsenz des nördlichen und südlichen Klimas und aller vier Jahreszeiten erkannt, wobei er sich seinerseits auf einen älteren T o p o s bezog, 1 5 2 den er allerdings populär machte. 1795 entwarf Humboldt ein Naturgemälde des Vierwaldstättersees. Sein steil ansteigendes und in karge Gebirge übergehendes Umland verändert sich kontinuierlich von jener „milden Region" [...] „wo die grüne Aue sich gleichsam in die grüne 151 AN, S. 182; K , S. 58. 152 Ruth Groh, Dieter Groh: Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen. Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung, in: Heinz-Dieter Weber (Hg.): Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz: Universitäts-Verlag 1989, S. 53-95, hier S. 67.
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Fläche des Sees verliert" bis zu den Bergjochen mit „ewigem Schnee bedeckt."153 Noch im Kosmos erinnert Humboldt an Julie als Schlüsseltext jenes 18. Jahrhunderts, das auch seine frühen Vorstellungen geprägt habe.154 Der Leser der Pflan^engeographie und der Betrachter des Tableau physique, die bei Rousseau nachschlagen, sehen sich erneut an die Kraft von Topoi erinnert, die sich zuerst angesichts der europäischen Alpen herausgebildet haben: „la nature semblait encore prendre plaisir ä s'y mettre en opposition avec eile-meme, tant on la trouvait differente en un meme lieu sous divers aspects!" So heißt es in der Nouvelle Heloise von 1759, und weiter: „Au levant les fleurs du printemps, au midi les fruits de l'automne, au nord les glaces de l'hiver: eile reunissait toutes les saisons dans le meme instant, tous les climats dans le meme lieu, des terrains contraires sur le meme sol, et formait l'accord inconnu partout ailleurs des productions des plaines et Celles des Alpes." Rousseau vergisst nicht, die Totalität der Ansicht auf das Senkrechte der Gebirgslandschaft zurückzuführen, die einem synoptischen Überblick besonders günstig ist: „car la perspective des monts, etant verticale, frappe les yeux tout ä la fois et bien plus puissamment que celle des plaines, qui ne se voit qu'obliquement, en fuyant, et dont chaque objet vous en cache un autre."155 Es geht Rousseau um nichts weniger als um den Anblick eines „nouveau monde", der mit den Charakteristiken des Mannigfaltigen, des Erhabenen, des Schönen ausgestattet ist. Humboldt war also, als er sich daranmachte, die Eigentümlichkeit der Neuen Welt in einer kompakten Übersicht zu präsentieren, der Weg philosophie- wie ästhetikgeschichtlich geebnet. 1795, als er zum ersten Mal eine botanische Landschaftsbeschreibung nach verschiedenen Höhenlagen versuchte, hatte er daher durchaus traditionsbewusst als Gegenstand den Vierwaldstättersee gewählt und darin die Attribute des Erhabenen und Amönen, die Versatzstücke der Landschaftsmalerei, den „letzten zuckenden Strahl der Abendesonne", „ein klares Bächchen", „die Kirche", „Fischerhäuser", am Wasser spielende Knaben nicht ausgelassen.156 Ob Humboldt die Andenlandschaft umso leichter beschreiben konnte, als ihm die des Genfer Sees vertraut war, oder ob er seinen Lesern die Identifikation der neuen Welt mit der alten erleichtern wollte: In den Ansichten der Natur wird er die Provinz Caracas
153 154 155 156
G P , S . 37. K , S . 221. Jean-Jacques Rousseau: Julie ou La Nouvelle Heloise, Paris: Flammarion 1967, S. 44. Datiert auf Ende August/Anfang September 1795. Vgl. A. v. Humboldt: Studienausgabe, Bd. 1, S. 37. Zur kulturhistorischen Tiefendimension der Synopse vgl. Graczyk: Das literarische Tableau, S. 254.
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und das Tal von Aragua mit der Landschaft um den Genfer See in einem Atemzug nennen.157 Die Verräumlichung der zeitlichen Natur im Tableau Das Landschaftsmalerische und literarische Naturschilderungen aus der Literatur sind also für die Genese von Humboldts Konzeption einer Pflanzengeographie in universalgeschichtlicher Perspektive wichtig gewesen. Und doch manifestieren sie sich kaum als Motive in seinem „Naturgemälde der Tropenwelt", das nur in Rudimenten das Malerische und in einer einzigen Kolonne einen kulturgeschichtlichen Aspekt berücksichtigt. Die diversen Vorläufer und Fermente des Tableau physique behandelt Humboldt an anderen Orten seines Reisewerks, und es bliebe dem gewaltigen Fassungsvermögen eines idealen Lesers und Betrachters vorbehalten, neben die ohnehin schon synoptische Darstellung des Andenprofils noch zusätzlich bildliche und textliche Ausführungen aus anderen Teilen des Reisewerks zu legen, wobei etwa das Thorwaldsenche Widmungsblatt, die Titelseite der Vues des Cordilleres, Humboldts zahlreiche gelehrte und schöngeistige Reminiszenzen sich gegenseitig ergänzten und kommentierten. Dass dies nur virtuell, aber kaum tatsächlich möglich ist, kennzeichnet Humboldts Reisewerk als Produkt einer problematischen disziplinären Differenzierung. Diese Differenzierung springt aus der Spannung von Synopse und Geschichte, von Tabelle und zeitlicher Dynamik heraus. Zeigt nämlich das Tableau physique einen gegenwärtigen, gewissermaßen statischen Zustand der Andenbiologie, so deuten doch die Daten der flankierenden Skalen auf die immense Dynamik physiologischer, chemischer, physikalischer Interdependenzen hin, die durchaus auch Prozessuales weit über die jahreszeitlichen Zyklen hinaus zulassen. Die Pflanzengeographie behandelt denn auch Paläontologie und die spontane und beabsichtigte Herausbildung neuer Varietäten über längste Zeiträume. Kant war es, der die eigentliche Naturgeschichte von dem älteren Sinn des Begriffs absetzte, indem er sie auf eine ,,systematische[n] Darstellung der [Sinnenwelt] in verschiedenen Zeiten und Ortern" beschränkte — dies in den Metaphyischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft von 1786.158 In Uber den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie von 1788 hieß es außerdem: „Allein nur den Zusammenhang gewisser jetzigen Beschaffenheiten der Naturdinge mit ihren Ursachen in der ältern Zeit nach Wirkungsgesetzen, die wir 157 A N , S . 39. 158 Immanuel Kant: Schriften zur Naturphilosophie, hg. von Wilhelm (=Werkausgabe IX), 9. Auf., Frankfurt a.M.: Suhrkamp T W 1996, S. 12.
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nicht erdichten, sondern aus den Kräften der Natur, wie sie sich uns jetzt darbietet, ableiten, nur bloß so weit zurück verfolgen, als es die Analogie erlaubt, wäre Naturgeschichte."159 Das „Ende der Naturgeschichte", um mit Wolf Lepenies zu sprechen, bedeutete also nach Kant den Beginn einer eigentlichen, wirklichen Naturgeschichte. Humboldt steht dieser eigentlichen Naturgeschichte, speziell in Gestalt einer Geschichte der kultivierten Natur, aber auch in der zur Philosophie erhobenen Physiologie sehr nahe. Der Weg von der älteren zu der neueren Naturgeschichte, von der Deskription der vielen einzelnen Erscheinungen zu einer „philosophischen" Erkenntnis von Kausalzusammenhängen über lange Zeiträume, a priori oder nach Erfahrungsgrundsätzen, dieser Weg und Wandel ist begleitet von Prozessen der Erweiterung und Beschränkung des berücksichtigten Materials, die sich symptomatisch in Problemen der Darstellung niederschlagen. So auch im Tableau physique: Es schließt die ästhetischen und historischen Komponenten der Pflan^engeographie weitgehend aus, bewahrt sie nur in Spuren, um sich um so mehr auf die empirischen Datenreihen und ihre insinuierte Interdependenz zu beziehen, aus der eine eigentliche Geschichte von Kausalitäten erst abgeleitet werden müsste. Dieser Ausschluss ist aber nicht gemeint, wenn in der Zeit um 1800 die Hochkonjunktur des Terminus Tableau, sei damit nun ein Gemälde oder eine literarische Schilderung gemeint, vor allem der zeitlichen Vertiefung synchroner Zusammenhänge zu verdanken ist. Michel Foucault hat sich unter dem Aspekt dieser Historisierung und Dynamisierung der Naturforschung für das Genre des Tableaus interessiert. Demnach habe das 18. Jahrhundert in „Herbarien, Naturalienkabinetten, Gärten"160 die Gegenstände der Naturforschung nebeneinander disponiert, wobei das Zeitliche entschieden dem Räumlichen untergeordnet gewesen sei. Die Botanik biete sich gerade für eine „taxonomische Erkenntnis ausgehend von unmittelbar wahrnehmbaren Variablen"161 an, weil alle unterscheidenden Merkmale sich am besten in eine „kontinuierliche, geordnete, algemeine Übersicht (tableau)" einfügen ließen. Erst allmählich jedoch, (und damit wäre der historische Moment, in dem Humboldt nach Amerika aufbrach, bezeichnet) werden die „internen Gesetze des Organismus [...] an die Stelle der unterscheidenden Merkmale zum Gegenstand der Wissenschaft der Natur."162 Die Folge sei eine zunehmende Historisierung
159 Ebd., S. 142. 160 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988 [Paris 1966], S. 172. 161 Ebd., S. 179. 162 Ebd., S. 189.
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und Dynamisierung, die in eher klassifikatorischen und synoptischen Darstellungsformen zur schwierigen Aufgabe der Wissenschaft werde.163 Die Übertragung des Begriffs „Tableau" auf literarische Genres versucht die Anforderungen einer Raumkunst mit denen einer Zeitkunst zu versöhnen.164 Die Vorliebe Humboldts für entsprechende Titeigebungen, Ansichten, Vues, Tableaus, Gemälde: es wäre nicht nur ein Hinweis darauf, dass die deskriptive Prosa vielfach bildkünsderischen Traditionen verpflichtet ist und einer Simultaneisierung ihrer Objekte zustrebt. Die Kehrseite dieser Tendenz wäre die Dynamisierung und Historisierung der im Gemälde aufgerufenen Totalität gleichzeitiger Erscheinungen. Im Tableau physique wirken die widerstrebenden Tendenzen dieser Amalgamierungen bildkünstlerischen und zeitkünstlerischen Denkens noch nach. Interdependenzen zwischen Parametern, die sich nicht anders denn in dynamischen Prozessen manifestieren können, werden in die Statik von Skalen zurückgedrängt, während die physiognomische Darstellung der makrovegetativen Erscheinungen im Andenprofil aus der Zweidimensionalität, ja tendenziell sogar aus der räumlichen Gleichzeitigkeit in einen lebensvolleren Zusammenhang hinausdrängt. Methodisch und darstellerisch bewältigt ist jedoch die Korrelation der diversen Parameter nicht. Zumindest sind sie, wenn es sich nicht gerade um „Luftbläue" und allenfalls noch „Schwächung der Lichtstrahlen" handelt, sondern um Elektrizität, Luftdruck, und „chemische Natur des Luftkreises" gar nicht mehr bildlich darstellbar, also alles andere als malerisch. Vollends die großen naturhistorischen Entwicklungen sind im Gemälde nicht mehr sichtbar. Die physiognomische Kunst integriert nicht dynamische Prozesse in taxonomische Ordnungen, vielmehr zerreißt die Kontinuität von Wissen und Kunst unter der Last einer Wissenschaft, die Multidisziplinarität darstellerisch synthetisieren will. Eine gewisse ästhetische Anmutung geht vom Tableau physique aus,165 als „Gesamtkunstwerk avant la lettre" wird es 163 Ebd. 164 Zur problemgeschichtlichen Darstellung dieses Zusammenhangs vgl. Annette Graczyk: Das literarische Tableau, München: Fink 2004, die von Louis Sebastien Merrier über Goethe bis zu Humboldt und Garl Gustav Carus paradigmatische Vertreter dieser Tendenz interpretiert. Das Genre, das in neuer Weise Räumliches und Zeitliches zugleich dazustellen strebe, reagiere auf einen bis dahin beispiellosen Zuwachs empirischen Wissens. Vgl. auch Annette Graczyk: Das Tableau als Antwort auf den Erfahrungsdruck und die Ausweitung des Wissens um 1800. Louis-Sebasüen Merciers Tableau von Paris und Alexander von Humboldts Naturgemälde, in: Inge Münz-Koenen und Wolfgang Schaffner (Hg.): Masse und Medium: Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000, Berlin: Akademie-Verlag 2002, S. 41-59. Während das Naturgemälde des Tableau physique gewisse Synthese leiste, könne der Kosmos seinen Anspruch ein Naturgemälde zu geben nicht mehr überzeugend einlösen (S. 59). 165 Graczyk: Das literarische Tableau, S. 322, rechnet das Tableau nicht mehr zur „künstlerischen Darstellung".
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zu Unrecht bezeichnet.166 Eine Beteiligung der Urteilskraft, die auch in der Kunst produktiv wird, muss deswegen beim Entwurf des Tableau physique nicht ausgeschlossen werden. Nach Kant leitet die Urteilskraft auch den Forscher bei schematischen Darstellungen, „da einem Begriffe, der der Verstand faßt, die korrespondierende Anschauung a priori gegeben wird."167 Die Grenzen für die gewünschte Zusammenschau historischer Prozesse und weltweiter gleichzeitiger Erscheinungen im Rahmen werden im Übrigen auch zur Gefahr für die Differenzierung einer eigenen Disziplin. Gerade mit Blick auf die geschichtlichen Gegenstände seiner Forschungen sagt Humboldt selbst in der Exposition zu seinen Ideen einer Geographie der Pflanzern „Alle diese Verhältnisse sind unstreitig schon hinlänglich, um den weiten Umfang der Disziplin zu schildern, welche wir mit dem nicht ganz passenden Namen einer Pflanzengeographie belegen."168 Und wo schon die Bezeichnung einer Disziplin die Problematik einer neuartigen konzeptionellen Komplexität verrät, da sind jene geographischen Darstellungsformen, die Humboldt vor allen anderen anregt, nämlich die Karte und das Profil, von vorneherein Hilfsmittel, die notwendig diverser Kommentare und Kontextualisierungen bedürfen, auch über den Textteil der Pflan^engeographie hinaus. Humboldts Tableau ist das Dokument eines Differenzierungsprozesses, den es zugleich vorantreibt und leugnet.
166 Vgl. Ette: Weltbewußtsein, S. 209. 167 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 295. 168 G P , S . 61.
Beschreibende Naturforschung, Rhetorik der descriptio, Nachahmung der Natur Auf zwei Wegen geht Kunst in Humboldts Schriften in Wissenschaft über: der Malerei und auch der Dichtung wird entweder ein heuristischer Wert für die wissenschaftliche Beobachtung und Erkenntnis der Natur zugesprochen wie in den Ideen einer Physiognomik, der Gewächse·, oder die Künste werden als Anregungsmittel des Naturstudiums begrüßt, wie einige Kapitel des Kosmos es tun. Vorausgesetzt ist dabei, dass die Künste Natur abbilden, daß sie mimetisch verfahren. Kunst muss ihrem Wesen nach Natur nachahmen, und Wissenschaft ihrem Wesen nach beschreibend sein, damit die Voraussetzung für ihr einvernehmliches Neben- und Miteinander in Humboldts Werken gegeben ist. Beschreibende Naturwissenschaft Die Naturwissenschaft Humboldts, die sich mit einer Kunst der Naturnachahmung verbindet, ist nicht theoretisch und nicht experimentell, sondern prinzipiell deskriptiv. Was unter beschreibender Naturforschung zu verstehen sei, exponieren die einleitenden Passagen zum Kosmos von 1845, der ja im Untertitel als „Entwurf einer physischen Weltbeschreibung" ausgegeben wird. Dem Begriff der Beschreibung oder auch „Naturschilderung"1 stellen Vorrede und Umleitende Betrachtungen die „Thatsachen", die „Welt ,als Gegenstand des äußeren Sinnes'", die „sinnlichen Anschauungen", die „Empirie", die „Erfahrungswissenschaften", an die Seite.2 Es fehlen nicht die bis heute geltenden Attribute des Wissenschaftlichen: „Gründlichkeit", „das Messen und Auffinden numerischer Verhältnisse", „die sorgfältige Beobachtung des einzelnen".3 Schon in der Geographie der Pflanzen (fast vierzig Jahre zuvor) ging es um „sichere, durch Zahlen auszudrückende Tatsachen", hieß es von der „beschreibenden Geognosie", sie sei „eine zuverlässige Wissenschaft", und sollte ausschließlich die Rede sein von dem, „was die empirische Beobachtung unmittelbar gibt".4 Ob es nun um Empirismus oder Phänomenologie5 1 2 3 4 5
K, S. 4. K, S. 5, 28, 36, 22, 35. K, S. 4, 18. A. v. Humboldt: Studienausgabe, Bd. I, S. 44, S. 138, 144. Zum unterschiedlichen Status von Beschreibung in Phänomenologie, Empirismus und Positivismus vgl. Emil Angehrn: Beschreibung zwischen Abbild und Schöpfung, in: Be-
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geht (Humboldts Formulierungen weisen in beide Richtungen) - die wissenschaftliche Beschreibung ist in ihrem Geltungsbereich beschränkt: sie gibt, wie auch in der späteren Epistemologie üblich, das Vorstadium der Theoriebildung. Bei Humboldt liest man: „Das Messen und Auffinden numerischer Verhältnisse, die sorgfältigste Beobachtung des Einzelnen bereitet zu der höheren Kenntniß des Naturganzen und der Weltgesetze vor."6 Daraus folgt ein gewisses Gebot zur Bescheidenheit, die der Verfasser gleich als Tugend ins rechte Licht zu rücken weiß: „Dem Charakter meiner früheren Schriften, wie der Art meiner Beschäftigungen treu, welche Versuchen, Messungen, Ergründung von Thatsachen gewidmet waren, beschränke ich mich auch in diesem Werk [dem Kosmos] auf eine empirische Betrachtung."7 Also auch Versuche, auch das Experimentelle, das doch wohl über die beschreibende Naturforschung hinausgeht? Der Kosmos referiert lediglich ihre Ergebnisse im Rahmen einer Beschreibung der physischen Welt. Es ist für den Autor so wenig ein methodisches oder ein begriffliches Problem wie die Berufung auf das „bewaffnete Auge", auf „Fernrohr und Mikroskop", das die Welt der Phänomene gleichwohl entschieden verändert hat. Für Humboldt stärken und erweitern sie die natürlichen Organe des Naturforschers, ohne sie der Instrumentalität zu unterwerfen oder gar einer Deformation auszusetzen.8 Gemessene Daten und Ergebnisse von Experimenten unterstützen also das Geschäft einer originären Naturbeschreibung. Beschreibung ist dabei lediglich die Vorstufe einer theoretischen Naturwissenschaft oder Naturphilosophie, und eben um seine Arbeit von diesen abzuheben betont Humboldt: „Was ich physische Weltbeschreibung nenne (die vergleichende Erd- und Himmelskunde), macht daher keine Ansprüche auf den Rang einer rationellen Wissenschaft der Natur, es ist die denkende
6 7 8
schreibungskunst. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer, München: Fink 1995, S. 59-74, hier S. 62f. K, S. 18. K, S. 36. Karlheinz Barck nimmt Humboldts Überlegungen zum telescopischen Sehen und zur fortgeschrittenen Mathematisierung der Astronomie seit dem 17. Jahrhundert im dritten Band des Kosmos zum Anlass, in diesem Werk eine neuartige Aisthesis materialis im Gegensatz zur zeitgenössischen idealistischen Ästhetik zu identifizieren, die über Helmholtz, Poe, Baudelaire und die Daguerrotypie geradewegs zur Medienästhetik Marshall McLuhans (S. 31) führe. Freilich gab es zu den Ästhetiken Hegels und Schellings, die bei Barck genannt werden (S. 28), aus Humboldts Sicht auch andere Alternativen, unter anderem alles, was sich auf ältere Traditionen bezog. Von älteren Reflexen der Ästhetik auf die Galileische und Keplersche Astronomie, von jeder Humboldt vorausgehenden Rhetorik der descriptio oder Ästhetik der Naturnachahmung ist jedoch bei Barck keine Rede, und so wirkt Humboldt als einsamer Initiator einer ästhetischen Avantgarde. Karlheinz Barck: „Umwandlung des Ohrs zum Auge". Teleskopisches Sehen und ästhetische Beschreibung bei Alexander von Humboldt, in: Bernhard Dotzler, Ernst Müller (Hg.): Wahrnehmung und Geschichte. Markierungen zur Aisthesis materialis, Berlin 1995, S. 27—42.
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Betrachtung der durch Empirie gegebenen Erscheinungen, als eines Naturganzen."9 Der Satz wirft zunächst mehr Fragen auf, als er klärt, denn er deutet an, dass es auch nicht bei einer um Messergebnisse und etablierte Naturgesetze erweiterten Beschreibung bleibt. Das Naturganze nämlich, so weiß Humboldt selbst, lässt sich auf empirischem Wege nicht gewinnen. An anderer Stelle in der gleichen Einleitung wird ausdrücklich davon die Rede sein, dass Empirie nicht zur „Einheit des Naturbegriffs" führen könne. Ihre Grenzen sind auch im Kosmos, wie schon zuvor, deutlich gemacht. Der Verfasser bezeichnet die Wissenschaft als „weit von dem Zeitpunkte entfernt, wo es möglich sein könnte, alle unsere sinnlichen Anschauungen zur Einheit des Naturbegriffs zu conzentriren."10 Oder: „Erfahrungswissenschaften sind nie vollendet, die Fülle sinnlicher Wahrnehmung ist nicht zu erschöpfen."11 Gerade die Einsicht in die Grenzen der Empirie lässt Humboldt ein Unbehagen angesichts wissenschaftlicher Darstellungsformen empfinden, die im Grunde kumulativ und deskriptiv verfahren, aber Einheitlichkeit und Ganzheit zu versprechen scheinen - nämlich Enzyklopädik und Systematik, von denen er seinen Kosmos sogleich entschieden abgrenzt: Eine physische Weltbeschreibung darf daher nicht mit der sogenannten Encyklopädie der Naturwissenschaften (ein weitschichtiger Name für eine schlecht umgrenzte Disciplin) verwechselt werden. In der Lehre vom Kosmos wird das Einzelne nur in seinem Verhältniß zum Ganzen, als Theil der Welterscheinungen betrachtet; und je erhabener der hier bezeichnete Standpunkt ist, desto mehr wird diese Lehre einer eigenthümlichen Behandlung und eines belebenden Vortrags fähig.12
Es bleibt offen, wie der Empiriker das Einzelne auf das Ganze beziehen will, und der „hier bezeichnete Standpunkt" wurde zuvor nur vage angedeutet, als die Rede war von dem „hohen Standpunkte [...], auf den wir uns zu einer allgemeinen, durch wissenschaftliche Erfahrungen begründeten Weltanschauung erheben."13 Festzuhalten bleibt vorläufig, dass die Art der Betrachtung der Natur untrennbar von einer spezifischen „Behandlung" und einer besonderen Rhetorik zu sein scheint. Ebenfalls abgrenzend, polemisch fast, die Charakterisierung von Systematiken:
9 10 11 12
13
K, S. 22. K, S. 36. K, S. 35. K, S. 25. Auf die entscheidenden Impulse, die auf eine beschreibende Naturforschung von der Encyclopedic und ihren Autoren ausging, weist jedoch Ernst Cassirer hin, zugleich auch auf die Probleme der Systematik eingehend: Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen: Mohr (Paul Siebeck) 1932, S. 9 9 - 1 0 2 . K, S. 25.
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Die Einzelheiten, auf welche sich alle unmittelbare Wahrnehmung beschränkt, können logisch in Classen und Gattungen geordnet werden. Solche Anordnungen führen [...] als ein naturbeschreibender Theil den anmaßenden Titel von Natur-Systemen. Sie erleichtern freilich das Studium der organischen Gebilde in ihrer linearen Verkettung unter einander, aber als Verzeichnisse gewähren sie nur ein formelles Band; sie bringen mehr Einheit in die Darstellung, als in die Erkenntniß selbst.14 U n d w i e d e r u m ex negativo d e u t e t H u m b o l d t an, w a s er sich u n t e r e i n e m „ b e s c h r e i b e n d e n N a t u r g e m ä l d e " vorstellt. E s „soll a b e r nicht b l o ß d e m E i n z e l n e n n a c h s p ü r e n ; es b e d a r f nicht zu seiner Vollständigkeit d e r A u f z ä h l u n g aller Lebensgestalten, aller N a t u r d i n g e u n d N a t u r p r o c e s s e . D e r T e n d e n z e n d l o s e r Z e r s p l i t t e r u n g des E r k a n n t e n u n d G e s a m m e l t e n w i d e r s t r e b e n d , soll d e r o r d n e n d e D e n k e r t r a c h t e n , d e r G e f a h r der e m p i r i schen Fülle z u e n t g e h e n . " 1 5 E s scheint, als seien H u m b o l d t die g r u n d s ä t z l i c h e n E i n w ä n d e K a n t s u n d Hegels gegen eine Darstellbarkeit d e r e m p i r i s c h e n W e l t als T o t a l i t ä t d u r c h a u s gegenwärtig. Bei K a n t heißt es in d e r Kritik der Urteilskraft v o n 1790: Also müssen wir in der Natur, in Ansehung ihrer bloß empirischen Gesetze, eine Möglichkeit unendlich mannigfaltiger empirischer Gesetze denken, die für unsere Einsicht dennoch zufällig sind (a priori nicht erkannt werden können); und in deren Ansehung beurteilen wir die Natureinheit nach empirischen Gesetzen, und die Möglichkeit der Einheit der Erfahrung (als Systems nach empirischen Gesetzen), als zufällig.16 U n d Hegel steigert in seiner Kritik des N a t u r s c h ö n e n K a n t s V o r b e h a l t e d a d u r c h , dass er i m Blick auf empirische N a t u r e r s c h e i n u n g e n v o r allem die „Abhängigkeit u n d B e s c h r ä n k t h e i t des u n m i t t e l b a r e n einzelnen D a seins" b e t o n t , „ E n d l i c h k e i t statt I d e e u n d Freiheit". U n d g e n a u e r w i r d in der Ästhetik erläutert, dass die N a t u r e r s c h e i n u n g e n wie die „ e n d l i c h e Wirklichkeit des G e i s t e s " [...] an und für sich selber keine Wahrheit haben, sondern dieselbe nur in der Beziehung aufeinander durch das Ganze darstellen. Dies Ganze als solches genommen entspricht wohl seinem Begriffe, ohne sich in seiner Totalität zu manifestieren, so daß es in dieser Weise nur ein Inneres bleibt und deshalb nur für das Innere der denkenden Erkenntnis ist, statt als das volle Entsprechen selber in die äußere Realität sichtbar hinauszutreten und die tausend Einzelheiten aus ihrer Zerstreuung zurückzurufen, um sie zu einem Ausdruck und einer Gestalt zu konzentrieren. 17 14 15 16 17
K,S. 35. K,S. 38f. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft [1790]. Werkausgabe, Bd. 10, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp TW 1974, S. 92. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I.Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Werke Bd. 13, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986, S. 200f.
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Das Ganze der Natur kann also gar nicht Gegenstand einer Beschreibung von empirisch Gegebenem sein. Seine Darstellung ist daher, ob man nun Kant oder Hegel folgt, auf ein Subjekt angewiesen, sei es, daß es Metaphysisches voraussetzt, sei es, dass es die Erscheinungen bestimmten Ideen oder Urteilen a priori unterordnet. Vom „ordnenden Denker" ist freilich bei Humboldt die Rede, vom „ordnenden Geist", von der Betrachtung nach „leitenden Ideen" und von den Erscheinungen „als eines Naturganzen".18 Also doch idealistische Philosophie? Es scheint ja, dass Humboldt die Konsequenzen, die Kant und Hegel aus der Unmöglichkeit der Erkenntnis und Darstellung des empirischen Naturganzen ziehen, teilt, das heißt, das Ganze der physischen Welt als Begriff a priori oder als Produkt eines tätigen Geistes ansieht. Auf der anderen Seite geht jedoch Humboldt in seiner Einleitung zum Kosmos mit aller Entschiedenheit gegen die idealistische Naturphilosophie der Romantik an. Und hierbei zeigt sich, daß es ihm gar nicht um Erkenntnisphilosophie geht, sondern allenfalls um Methode, und um Methode auch nicht im Sinne einer hochentwickelten theoretischen Naturforschung („rationellen Wissenschaft der Natur**)}'* sondern schlicht um die Pragmatik der Beschreibung eines vorausgesetzten und gar nicht erst zu hinterfragenden Naturganzen. „Kosmos" und das Naturganze bezeichnen also, genau wie der „ordnende Denker" und das Verfahren „nach leitenden Ideen" vorläufig rein pragmatische Regulative bei der Beschreibung der Natur. Eine solche pragmatische Verwendung von Leitbegriffen sieht nun die Kritik der Urteilskraft in der Befassung mit der Natur durchaus vor, ja bezeichnete sie als notwendig, wenn denn überhaupt der Mensch zu Erkenntnissen gelangen soll. Zwar werden dort die „objektive Zweckmäßigkeit der Natur" und schon gar die Physikotheologie in ihrer Zirkelhaftigkeit widerlegt.20 Doch Kant unterscheidet einen apriorischen Begriff der Zweckmäßigkeit von einem pragmatischen. Der Forscher, der sich mit empirischen Naturgesetzen befasst, darf und muss sogar bestimmte Maximen aufstellen. Wenn also einerseits gilt: „Die Zweckmäßigkeit der Natur ist [...] ein besonderer Begriff a priori, der lediglich in der reflektierenden Urteilskraft seinen Ursprung hat,"21 so ist andererseits anerkannt: Es „muß die Urteilskraft für ihren eigenen Gebrauch es als Prinzip a priori annehmen, daß das für die menschliche Einsicht Zufällige in den besonderen (empirischen) Naturgesetzen dennoch eine, für uns zwar nicht zu ergründende aber doch denkbare, gesetzliche Einheit, in der Verbindung 18 19 20 21
K, S. 3 9 , 4 , 12, 22. K, S. 22. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 333. Ebd., S. 89.
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ihres Mannigfaltigen zu einer an sich möglichen Erfahrung enthalte." Zweckmäßigkeit der Natur ist also ein heuristisch eingeführtes Prinzip. „D.i. die Natur wird durch diesen Begriff so vorgestellt, als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte."22 Humboldts „leitende Ideen" und sein „ordnender Denker" angesichts der physischen Welt lassen sich sehr wohl auf Kants Prinzipien der Urteilskraft a priori beziehen. Tatsächlich setzt ja auch das Verfahren des Vergleichs weltweit zerstreuter Phänomene nach bestimmten variablen Parametern feste Bezugsgrößen voraus, die heuristisch die globale Interdependenz aller involvierten Naturgesetze voraussetzen. Und ähnliches gilt für die Deskription als solche: Gegenstand und Beschreibung müssen übereinkommen in einem Punkt, über den es eine Verständigung a priori gibt.23 Von der Bedeutung der schematischen Darstellung mit ihrem „a priori" bei Kant und für Humboldt war schon die Rede.24 Von der Pragmatik, die aus Kants Zulassung bestimmter Maximen in der Naturforschung spricht,25 ist auch die Einleitung zum Kosmos geprägt, ohne dass es für den Leser nötig wäre, ein intensives Studium der Kantschen Kritik der objektiven Teleologie der Natur bei Humboldt vorauszusetzen.26 Humboldts Rede vom Naturganzen, als das die einzelnen empirischen Erscheinungen darzustellen seien,27 bedient nämlich einen gewissen Common-Sense-Idealismus ganz neben und unabhängig vom transzendentalen. Die Verbeugung vor Hegel, dem immer noch einflussreichen Verstorbenen, in der Einleitung zum Kosmos mit dem Zitat aus der 22 23
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26 27
Ebd. „Nun basierte jede klassische Mimesiskonzeption [...] auf der Rolle, welche darin der Homoiesis (Ähnlichkeit) zugewiesen wurde, welche ihrerseits eine feste Bezugsgröße implizierte, damit überprüft werden konnte, ob eine hervorgebrachte Ähnlichkeit als gelungen gelten konnte oder nicht" (Luiz Costa Lima: „Mimesis/Nachahmung", in: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe: historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4, Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 8 4 - 1 2 1 , hier S. 100). Vgl. den letzten Abschnitt des vorangegangenen Kapitels. Bei Kant erhält die Zweckmäßigkeit, die der Natur vom Subjekt ihrer empirischen Erkenntnis zugesprochen wird, den Status einer Heuristik. „Daher spricht man in der Teleologie, so fern sie zur Physik gezogen wird, ganz recht von der Weisheit, der Sparsamkeit, der Vorsorge, der Wohltätigkeit der Natur, ohne dadurch aus ihr ein verständiges Wesen zu machen (weil das ungereimt wäre); aber auch ohne sich zu erkühnen, ein anderes verständiges Wesen über sie, als Werkmeister, setzen zu wollen, weil dieses vermessen sein würde: sondern es soll dadurch nur eine Art der Kausalität der Natur, nach einer Analogie mit der unsrigen im technischen Gebrauche des Vernunft bezeichnet werden, um die Regel wornach gewissen Produkten der Natur nachgeforscht werden muß, vor Augen zu haben" (S. 333). Prägend scheint eher die Lektüre der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft gewesen zu sein. K, S. 22.
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,Philosophie der Geschichte': „Die äußerlichen Erscheinungen werden so [...] in die innerliche Vorstellung übersetzt"28 - diese Verbeugung ist höchst unverbindlich. Ähnlich vage und flüchtig die Erwähnung Schellings.29 Der linguistische Aspekt Die „leitenden Ideen" im Kosmos sind Instrumente eines praktischen Idealismus, keines transzendentalen. Für den durchwegs pragmatischen Charakter von Humboldts kritischen Überlegungen spricht auch, dass er sich kaum auf eine begriffsgeschichtliche Kritik jener Disziplinen und Konventionen einlässt, die er ablehnt, sondern schlicht mit dem Sprachgebrauch jeder naturforschenden Praxis auseinandersetzt, wobei die Adäquatheit referentieller Rede bewertet wird. Linguistische Fragen, speziell semantischen und etymologischen Charakters begleiten Humboldts Schriften seit seinen frühesten, wie gezeigt wurde, seit den altphilologischen Studien in Göttingen und seinen Arbeiten zum Auftreten bestimmter technischer und naturhistorischer Fragen in antiken Quellen. Über die Jahre konnte Alexander von Humboldt verfolgen, wie sich in den Werken des Bruders zugleich mit dem existentiellen auch der historische Charakter von Sprachen immer deutlicher profilierte.30 Sprachen entwickelten sich demnach im Verhältnis zu konkreten Lebensräumen, auch geographischen, und so konnte Humboldt seine Beschreibungen, die geographische Erfahrung voraussetzten, unmittelbar an eine Kulturanthropologie der Sprachen anschließen. Eine kulturanthropologisch-historische Kennzeichnung von Sprachen findet sich als einleitende Überlegung zu Das nächtliche Tierleben im Urwalde, einem neuen Beitrag zur dritten Auflage der Ansichten der Natur von 1849. Humboldt geht von einer originären mimetischen Qualität der Sprachen von Stämmen und Völkern aus, die ursprünglich in engstem Austausch mit der Natur lebten. Erst eine spätere Konventionalisierung der Wörter nimmt ihnen die präzise Referentialität:
28 29
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K, S. 37. „Nicht ein todtes Aggregat ist die Natur: sie ist ,dem begeisterten Forscher' (wie Schelling in der trefflichen Rede über die bildenden Künste sich ausdrückt) die heilige, ewig schaffende Urkraft der Welt, die alle Dinge aus sich selbst erzeugt und werktätig hervorbringt'" (K, S. 25). Von einer intensiven Teilnahme an den linguistischen Forschungen des Bruders zeugen vor allem die Briefe der 1820er Jahre: Briefe Alexander von Humboldts an seinen Bruder Wilhelm, hg. von der Familie von Humboldt in Otmachau, Berlin: Gesellschaft deutscher Literaturfreunde 1923.
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Wenn die, stammweise so verschiedene Lebendigkeit des Naturgefühls, wenn die Beschaffenheit der Länder, welche die Völker gegenwärtig bewohnen oder auf früheren Wanderungen durchzogen haben, die Sprachen mehr oder minder mit scharf bezeichnenden Wörtern für Berggestaltung, Zustand der Vegetation, Anblick des Luftkreises, Umriß und Gruppirung der Wolken bereichern; so werden durch langen Gebrauch und durch litterarische Willkühr viele dieser Bezeichnungen von ihrem ursprünglichen Sinn abgewendet. Für gleichbedeutend wird allmählich gehalten, was getrennt bleiben sollte; und die Sprachen verlieren von der Anmuth und Kraft, mit der sie, naturbeschreibend, den physiognomischen Charakter der Landschaft darzustellen vermögen. 31
Humboldt beruft sich auf den „linguistischen Reichthum"32 im Arabischen und Persischen sowie im Altkastilischen und die „Unzahl von charakteristischen Benennungen"33 für spezifische landschaftliche Phänomene. Erst an einer späteren Stelle des kleinen Aufsatzes wird er sich skeptisch über gewisse Interpretationen der Indios äußern, wenn sie etwa, nach dem nächtlichen Getöse im Walde befragt, antworten: „Die Thiere freuen sich der schönen Mondhelle, sie feiern den Vollmond." 34 Einleitend jedoch verpflichtet der Verfasser die beschreibende Naturforschung überhaupt auf jenen linguistischen Realismus, der den natur- und landschaftsverbundenen Sprachgemeinschaften eigen sei: Das unablässige Streben nach dieser Wahrheit ist im Auffassen der Erscheinungen wie in der Wahl des bezeichnenden Ausdruckes der Zweck aller Naturbeschreibung. Es wird derselbe am leichtesten erreicht durch Einfachheit der Erzählung von dem Selbstbeobachteten, dem Selbsterlebten, durch die beschränkende Individualisirung der Lage, an welche sich die Erzählung knüpft. Verallgemeinerung physischer Ansichten, Aufzählung der Resultate gehört in die Lehre vom Kosmos, die freilich noch immer für uns eine inductive Wissenschaft ist; aber die lebendige Schilderung der Organismen (der Thiere und der Pflanzen) in ihrem landschaftlichen, örtlichen Verhältnis zur vielgestalteten Erdoberfläche (als ein kleines Stück des gesamten Erdenlebens) bietet das Material zu jener Lehre dar. 35
Es ist eine Feststellung normativen Charakters. Die beschreibende Naturforschung soll sich an jener ursprünglichen Sprachpraxis orientieren, die umso mimetischer erscheint, je mehr sie sich phänomenologisch gibt und an die Unhintergehbarkeit von Beobachtung und Erfahrung anknüpft. Dass Sprache einen geographischen Lebensraum realistisch repräsentieren kann, hängt dabei mit der vom Bruder Wilhelm entwickelten Theorie der
31 32 33 34 35
AN, S. 215. Ebd. Ebd. AN, S. 224. AN, S. 216.
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Genese einzelner Sprachen aus den lebensräumlichen Bedingungen ihrer Sprecher zusammen.36 Während sie in den Ansichten der Natur nur angedeutet wird, ist im Kosmos die Kritik an einem Sprachgebrauch, der mit der kulturellen Elaboration zugleich an Referentialität verliert und an Arbitrarität gewinnt, vertieft. In der betreffenden Passage ist allerdings der Akzent anders gesetzt: Humboldt zeichnet eine Naturforschung, in der die Beobachtung von vorneherein mangelhaft, dilettantisch, die Begriffsbildung daher unzutreffend und mehr und mehr gegenüber der Welt der Phänomene verselbständigt ist. Hier spricht der Verfasser nicht von der Genese von Sprachen in pragmatischem Umgang mit umgebender Natur, sondern von einer fortgeschrittenen Zivilisation, die sich linguistisch nicht auf der Höhe der Empirie bewegt: „Aus unvollständigen Beobachtungen und noch unvollständigeren Inductionen entstehen irrige Ansichten vom Wesen der Naturkräfte: Ansichten, die, durch bedeutsame Sprachformen gleichsam verkörpert und erstarrt, sich, wie ein Gemeingut der Phantasie durch alle Classen einer Nation verbreiten."37 Ja, die Tradierung alter Sprachformen ist es selbst, die überholte Ansichten von der Natur am Leben erhält: „Die dogmatischen Ansichten der vorigen Jahrhunderte [...] erhalten sich auch als ein lästiges Erbteil in den Sprachen, die sich durch symbolisirende Kunstwörter und geisdose Formen verunstalten."38 Andernorts ist von den „Anmaßungen einer dogmatisirenden Phantasie" die Rede.39 Humboldt setzt sich dabei nicht etwa kritisch mit einer naturwissenschaftlichen Begriffsbildung auseinander. An der grundsätzlich mimetischen Leistung und potentiellen Adäquatheit der Alltagssprache hegt er keinen Zweifel, sofern sie sich auf empirische Sachverhalte bezieht. Dabei bleibt es bis zum Kosmos. Eher geht es um polemische Abgrenzungen. Und so wird gerade die in bezug auf Natur praktikable und adäquate Sprache der Beschreibung zum Argument gegen die idealistischen Synthesen der romantischen Naturphilosophen, denen Humboldt ja nicht immer ganz ablehnend gegenüberstand. Demnach haben naturphilosophische Systeme eine kurze Zeit lang, in unserem Vaterlande, von den ernsten und mit dem materiellen Wohlstande der Staaten so nahe verwandten Studien mathematischer und physikalischer Wissenschaften abzulenken gedroht. Der berauschende Wahn des errungenen Besitzes, eine eigene, abenteuerlich-symbolisirende Sprache, ein Schematismus, enger, als ihn je das Mittelalter der Menschheit aufzwängte, haben, in jugendlichem Mißbrauch edler 36 37 38 39
Vgl. im Kosmos etwa S. 11, wo von der „eigentümlichen Natürlichkeit" „heimischer Volksdialekte" die Rede ist. K, S. 17. K, S. 10. K , S . 19.
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Kräfte, die heiteren und kurzen Satumalien eines rein-ideellen Naturwissens bezeichnet. 40
Was unter einer „abenteuerlich-symbolisierenden Sprache" zu verstehen sei, geht aus einem Brief an Varnhagen von 1841 hervor. Humboldt kündigt an, daß eine ehrenvolle Erwähnung Schellings sein ansonsten grundsätzliches Verdikt gegen dessen Naturphilosophie und die einiger Zeitgenossen mildern soll. Es folgen einige Gedankenblüten, zum Beispiel: „Amerika ist eine weibliche Form, lang, schlank, wässrig, und im 48° eiskalt. Die Breitengrade sind Jahre, die Frau wird alt mit 48."41 Rhetorik der descriptio Die Kritik an diesem oder jenem Sprachgebrauch führt Humboldt nirgends zu einer Grundsatzkritik am referentiellen Charakter der deskriptiven Sprache oder zur Forderung einer spezifischen Terminologie für Naturforscher. Linguistische Überlegungen gehen daher nicht in Fragen der Definition oder Terminologie über, sondern drängen in eine ganz andere Richtung, in die der Rhetorik. Die Referentialität der Sprache, ihr Realismus läßt sich nämlich als Rhetorik des adäquaten Ausdrucks fassen. Das Problem der Darstellung, zunächst auf den Objektbereich konzentriert, öffnet sich dadurch zur Wirkung beim Leser. Während der Entstehung des Kosmos befassen sich die Briefe an den selbsterwählten Mentor, August Varnhagen von Ense, mit einem Stilideal, das neben der Objektivität und Sachgerechtheit auch präzise rhetorische Funktionen erfüllen muß: Die Hauptgebrechen meines Stils sind die unglückliche Neigung zu allzu dichterischen Formen, eine lange Partizipal=Konstruktion und ein zu großes Konzentriren vielfacher Ansichten, Gefühle in einen Periodenbau. Ich glaube, daß diese meiner Individualität anhaftenden Radikal=Übel durch eine daneben bestehende ernste Einfachheit und Verallgemeinerung (ein Schweben über der Beobachtung, wenn ich eitel so sagen dürfte) gemindert werden. Ein Buch von der Natur muß den Eindruck wie die Natur selbst hervorbringen. Worauf ich aber besonders geachtet, und worin meine Manier von Forster und Chateaubriand ganz verschieden ist, ich habe gesucht, immer w a h r beschreibend, bezeichnend, selbst szientifisch wahr zu sein, ohne in die dürre Region des Wissens zu gelangen. 42
Wer Humboldts Begriff der „Beschreibung" lediglich für eine spezifische Operation exakter Naturwissenschaft, einer empirischen und induktiven Forschung hielt, die aus dem überlieferten Vokabular schöpfen kann, wird durch dergleichen Äußerungen eines besseren belehrt. Der Referentialität 40 41 42
K, S. 36. Varnhagen, S. 91. Varnhagen, S. 23.
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wissenschaftlich genauer Beschreibungen stellt sich mindestens gleichgewichtig die Rhetorik der descriptio an die Seite, in der vieles auf die Wirkung ankommt. Auffällig ist freilich, daß das Bekenntnis zur Rhetorik am Ende doch zu bezwecken scheint, dass sie für den Leser unsichtbar wird. Ihre Aufgabe ist erschöpft, wenn sie beim Leser eine Wirkung hervorruft, die von der Natur ganz unmittelbar auszugehen scheint. In der Physiognomik waren Heiterkeit, Erhabenheit, Melancholie schließlich objektive Merkmale einer geographischen Landschaft, deren Korrespondenz mit den Gefühlen des Betrachters schlechthin naturgegeben war. In der Rhetorik einer Darstellung wird es sich zeigen, ob dieses Korrespondenzprinzip anerkannt oder geleugnet wird. Es gibt eine Rhetorik der Eigentümlichkeit und der Lebendigkeit, die in der Naturbeschreibung adäquat ist, und eine der Willkür, die selbst unnatürlich ist. So wie in lexikalischer Hinsicht zwischen der Empirie der Erscheinungen und der authentischen Erfahrung des Sprechers kein Platz mehr blieb für die Arbitrarität eines Zeichens, und arbiträr nur das Gutdünken jener Redner schien, die sich gar nicht der Natur als Erfahrung ausgesetzt haben, so ist nun auch der Stil einer Darstellung ganz unmittelbar von der Natur selbst vorgegeben. Dabei ist die Rhetorik für Humboldt so selbstverständlich ein Wahrheitsinstrument, dass sie explizit verwendet werden darf, ohne störend zwischen Leser und Objekt zu treten.43 „Ich ziehe nach Art der Alten die Wiederholung derselben Worte jeder willkürlichen Substituierung uneigentlicher oder umschreibender Ausdrücke vor," heißt es wie beiläufig im Kosmos,44 dessen „Lehre" ja „einer eigenthümüchen Behandlung und eines belebenden Vortrags fähig" sein sollte.45 Wiederum an Varnhagen, und wohl nicht zufällig im selben Brief, der die romantischen „Saturnalien" ausmalte, umreißt Humboldt die rhetorische Anlage seines opus magnum: „Ich wünschte das Werk selbst in Allgemeinheit und Größe der Ansicht, in Lebendigkeit und wo möglich Anmuth des Stils, Uebertragung der technischen Ausdrücke in glücklich gewählte, beschreibende, mahlende Ausdrücke [sie!]."46 Und weiter: „Dem Oratorischen muß das einfach und wissenschaftlich Beschreibende im43
Darin unterscheidet sich Humboldts Teilhabe an einer generell der Rhetorik verpflichteten Sachprosa von neueren Formen der Wissenschaftsprosa, die ihre Rhetorizität zu verleugnen suchen. Zum Unterschied zwischen einer bewußten und unbewußten, markierten und unmarkierten Organisation beschreibender Texte nach kulturellen Vorgaben vgl. Gillian Beer: Problems o f Description in the Language o f Discovery, in: George Levine (Hg.): One Culture. Essays in Science and Literature, Madison, Wisconsin: T h e University o f Wisconsin Press 1987, S. 3 5 - 5 8 .
44 45 46
K , S. 6. K , S. 25. Varnhagen, S. 91.
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merfort gemischt sein. So ist die Natur selbst. Die funkelnden Sterne erfreuen und begeistern, und doch kreist am Himmelsgewölbe alles in mathematischen Figuren. Die Hauptsache ist, daß der Ausdruck immer edel bleibe, dann fehlt der Eindruck von der Größe der Natur nicht."47 Die Gleichzeitigkeit von Ästhetischem und Wissenschaftlichem im Kosmos, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus erkenntnistheoretischer Sicht problematisch erscheinen könnte, ist es unter rhetorischer schon weniger. Denn die Beredsamkeit geht von einer genuinen Adäquatheit der Rede in bezug auf den Gegenstand aus, in der Sachgerechtheit und Schönheit zusammenliegen.48 So kommt es zur Engführung zwischen dem „Buch von der Natur" und der „Natur selbst", zwischen dem „Eindruck" der Natur selbst und dem ihrer Darstellung.49 Für Humboldt geht es sicherlich auch darum, das zur Erkenntnis notwendige Element der unmittelbaren Erfahrung in die Belehrung einzubringen. So wie das theoretische Subjekt mit dem erlebenden identisch ist, muss das belehrte zugleich rhetorisch einer sinnlichen Erfahrung ausgesetzt werden. Auch gattungsgeschichtlich verweist der Kosmos auf die rhetorische Tradition der sachgerechten und zugleich wirkungsorientierten descriptio. Dem Titel nach ist das Buch ja explizit „Beschreibung", also descriptio, und es überrascht nicht, sowohl die Reisebeschreibung als auch die Kosmographie als die wichtigsten Gattungen zu finden, in denen sich die Rhetorik der descriptio auf dem Wege von der Antike und dem Mittelalter bis in die neueste Zeit erhält.50 Ebenfalls traditionsgemäß stellt sich im Kosmos die descriptio (Beschreibung) neben den ornatus (die Ausschmükkung, von Humboldt als das Oratorische selbst bezeichnet), denn die descriptio der Weltbeschreibung kann als extreme „amplificatio", als Ausschmückung der abstrakteren definitio (hier der Natur) angesehen werden. Das von Humboldt gewählte Stilniveau folgt einer klassischen Regel der Rhetorik, denn die spezielle descriptio der Natur wird vom aptum bestimmt: Anmuth, Größe, Lebendigkeit, Allgemeinheit bezeichnen die 47 48
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Varnhagen, S. 92. Vgl. A.W. Halsall: Beschreibung, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992, Bd. 1, Sp. 1 4 9 5 - 1 5 1 0 . In der Rhetorik des 18. Jahrhunderts finde sich die Unterscheidung zwischen einer direkten Beschreibung, die in der Aufzählung der Bestandteile des Beschriebenen bestehe, und einer indirekten, die die Wirkung auf den Betrachter bezeichne (Sp. 1503). Vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 283. Blumenberg bezieht sich auch auf Humboldts Erinnerung an Plinius, dessen Buch der Natur von Anfang an als so mannigfaltig wie die Natur selbst angesehen worden sei. Der charakteristische Unterschied zwischen der Adäquation bei Plinius und der bei Humboldt sei die Verschiebung von einer gemeinsamen Qualität auf die vergleichbare Wirkung. Vgl. Nikolaus Henkel: „Descriptio", in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin, New York: de Gruyter 1997, S. 337-339.
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Angemessenheit in bezug auf den Gegenstand (die Größe und Schönheit der Natur selbst). Dann aber gilt die Wahl des Stilniveaus auch der Wirkung: denn der Kosmos soll belehren (docere), und dem kommt ein mitderes, „allgemeines" Stilniveau am besten entgegen, er soll aber auch „movere" und „delectare", insofern von erhabenen und schönen Gegenständen erhaben und schön zu sprechen ist, und hierbei bedarf es der „Größe" und „Anmuth" allerdings. In den Kosmos gehen denn auch Reste jener lobenden Rede ein, die sich oft mit der descriptio verbindet, etwa im Städte- oder Landschaftspreis. Vorläufig ist festzuhalten, dass Humboldt offenbar eine Analogie zwischen der Größe und Anmut der Natur und einer ebensolchen Sprache ihrer Beschreibung voraussetzt. Die Rhetorik beherrscht aber nicht nur Humboldts Überlegungen zum angemessenen Stil, sondern auch und erst recht die Suche nach der geeigneten Anordnung des massenhaften Materials. Der Vortrag setzt die geeignete dispositio voraus. Die Vorrede zur ersten Auflage der Ansichten der Natur sprach bereits von „Schwierigkeiten der Composition," wobei der Gefahr einer bloßen „Anhäufung" die Beherrschung des Stoffs durch „Haltung" entgegengestellt wird.51 Während der Arbeit am Kosmos schreibt Humboldt an Varnhagen: „Die Hauptsache nach der ich strebe ist die Komposition, das Beherrschen großer mit Sorgfalt und genauer Sachkenntniß zusammengetriebener Massen. Die Benutzung unserer herrlichen, schmiegsamen, harmonischen (!), darstellenden Sprache ist erst ein sekundaires Streben." 52 Auch im Kosmos fehlt der Hinweis auf die Schwierigkeiten der Composition nicht.53 Dabei wird auch der Zusammenhang zwischen der Anordnung der Inhalte und ihrer Bewertung genannt. So geht etwa die „Reihenfolge" in der Entfaltung des Naturgemäldes in die „Gradation" nach der „allmälig gesteigerten Intensität" über.54 Dispositio erscheint schließlich als „Ergründung ordnungsgemäßer Gliederung", die in der Welt der Phänomene schlicht gegeben ist, deren Auffindung aber und Humboldts Auswahl der Kulturbereiche ist bezeichnend - Naturwissenschaft, Philosophie, Geschichte und „Wohlredenheit" sich gleichermaßen zur Aufgabe gemacht haben. „Wie in jenen höheren Kreisen der Ideen und Gefühle, in dem Studium der Geschichte, der Philosophie und der Wohlredenheit, so ist auch in allen Theilen des Naturwissens der erste und erhabenste Zweck geistiger Thätigkeit ein innerer, nämlich das Auffinden von Naturgesetzen, die Ergründung ordnungsmäßiger Gliederung in
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A N , S. 7. Varnhagen, S. 215. K , S. 4. K , S. 12.
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den Gebilden, die Einsicht in den nothwendigen Zusammenhang aller Veränderungen im Weltall."55 Die rhetorische Anordnung des Textes spürt nicht allein der empirischen Ordnung der Natur selbst nach, sie beleuchtet die Schönheit und Erhabenheit, die den Begriff Ordnung erst als bedeutungsvollen Zusammenhang erscheinen lassen.56 Nicht anders ist zu verstehen, dass die Beschreibung des Kosmos von den „Tiefen des Weltraums und der Region der fernsten Nebelflecke" ausgeht und sich allmählich herabbewegt und nähert bis zu den „microscopisch kleinen Organismen".57 Der Leser wird zuerst auf einen erhabenen Standpunkt gestellt und von diesem Standpunkt aus nach Hause geführt. Die Dispositio disponiert nicht nur das Objekt und das Wissen von diesem Objekt, sondern auch den Leser im Raum des Wissens. Auch die einleitenden Betrachtungen zum Kosmos stellen einen allerengsten Zusammenhang zwischen Gegenstand, Betrachter und Rhetorik her. Der Verfasser befürchtet, es werde ihm nicht immer gelingen, mich mit der Bestimmtheit und Klarheit auszudrücken, welche die G r ö ß e und die Mannigfaltigkeit des Gegenstandes erheischen. Die Natur aber ist das Reich der Freiheit; und um lebendig die Anschauungen und Gefühle zu schildern, welche ein reiner Natursinn gewährt, sollte auch die Rede sich stets mit der W ü r d e und Freiheit bewegen, welche nur hohe Meisterschaft ihr zu geben vermag. 5 8
Wenn sich Humboldt aber, wie es hieß, „mahlender Ausdrücke" 59 bedienen will — bewegt er sich dann nicht wiederum in gefährlicher Nähe jener „abenteuerlich-symbolisierenden Sprache", vor der er nachdrücklich warnte? Einleitend steht im Kosmos: „Nur eine kleine Zahl sinniger Bilder der Phantasie, welche, wie vom Duft der Urzeit umflossen, auf uns gekommen sind, gewinnen bestimmtere Umrisse und eine erneuerte Gestalt."60 Eine solche Ehrenrettung der Phantasie kann nicht verwundern, wo doch der Einbildungskraft auch im Prozess der Forschung in den Schriften Humboldts bislang eine tragende Rolle zukam. Wie aber hielt es Humboldt mit der Metapher? „Beschreibende, mahlende Ausdrücke", sind es nicht bildhafte? Wer aus diesem Stilideal Humboldts auf einen 55 56
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K, S. 24. Eckehard Czucka geht davon aus, dass die Darstellung der empirischen Totalität bei Humboldt angesichts eines enormen Erfahrungsdruckes vor allem von dessen „Emphatischer Prosa" abhängt. Eckehard Czucka: Emphatische Prosa. Das Problem der Wirklichkeit der Ereignisse in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Sprachkritische Interpretationen zu Goethe, Alexander von Humboldt, Stifter und anderen, Stuttgart: Franz Steiner 1992, S. 13. K, S. 38. K , S . 19. Vamhagen, S. 91. K, S. 10.
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programmatischen Gebrauch von Metaphern schließt, irrt.61 Zwar gibt es im Kosmos und natürlich auch in anderen Schriften wichtige Metaphern; Netz, Gewebe, Teppich, die jeweils komplexe Naturerscheinungen auf der Erdoberfläche bezeichnen, gehören dazu. Metaphern wie diese haben jedoch in ihrer Konventionalität überwiegend illustrative, didaktische Funktion.62 Im Stilistischen bevorzugt Humboldt denn auch den direkten Vergleich, wie im Empirischen: Der Weltraum lässt sich mit dem Meere unseres Planeten vergleichen, und folgerichtig „geben die Aichungen die Länge der Visionsradien, gleichsam [eine Lieblingsvokabel Humboldts] die jedesmalige Länge des ausgeworfenen Senkbleies."63 „Ut pictura" „Mahlende Ausdrücke" sollen fast synonym sein mit den beschreibenden, mit denen sie in einem Atemzug genannt werden. Die Formulierung ist zwar selbst eine Metapher, bezieht sich aber auf die mimetische Kraft der Malerei, die Humboldt ausdrücklich der der Sprache für überlegen hält. Noch einmal aus einem Brief an Varnhagen, diesmal vom Herbst 1845, in dem Humboldt sich den unmittelbaren Erfolg des ersten Kosmos-Bandes zu erklären versucht: „Es liegt wohl an dem, was die Menschen sich daneben denken und in der Bildsamkeit unserer deutschen Sprache, die es so leicht macht etwas anschaulich zu machen, durch Worte zu mahlen."64 Das „Naturgemälde" (eben daraus besteht ja der erste Band des Kosmos ganz überwiegend), „Naturbild",65 Anschaulichkeit, Beschreibung und „mahlende Ausdrücke" oder „Worte" verweisen (so wie die Schilderung etymologisch auf die Schilderei, das ist das Gemälde verweist) auf das semantische Feld des Malerischen, und zwar in seinem mimetischen,
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Dies unterläuft Gisela Brude-Firnau: „Zur Metaphorik naturwissenschaftlichen Denkens in Alexander von Humboldts .Kosmos', in: Internationaler Germanisten-Kongreß in Tokyo, Bd. 6, Sektion 1 0 - 1 1 , hg. von Yoshinoro Shichiji, München: Iudicium 199, S. 4 4 - 5 2 , hier S. 46. So muß sie auch zu dem Fazit gelangen: „Metaphern erscheinen im Text seltener, als sie aufgrund der Intentionen des Autors [...] zu erwarten wären" (S. 47). Als dergleichen konventionelle Metaphern identifiziert Brude-Firnau „Erdkörper", „Pflanzendecke", „Pflanzengewebe". Häufiger sei der Metapherngebrauch, wenn es um die Charakterisierung der forschenden Tätigkeit gehe, zur Kennzeichnung der Naturerscheinungen bezeichnenderweise aber schon deswegen nicht unerläßlich, weil ja die anschauliche Natur, nicht die unsichtbare der Hypothesen und Theoreme neuester Mikrobiologie und Physik gemeint sei (ebd., S. 49 und 52). K, S. 43. Varnhagen, S. 186. K, S. 40.
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abbildlichen Sinn. Gelegentlich spricht der Verfasser von der „Abspiegelung des großen und freien Naturlebens".66 Die Sprache der Beschreibung orientiert sich also am Verhältnis zwischen Abbild und Gegenstand,67 wobei der Maler im Vorteil ist. „Bei allem Reichthum und aller Biegsamkeit unserer vaterländischen Sprache, ist es doch ein schwieriges Unternehmen, mit Worten zu bezeichnen, was eigentlich nur der nachahmenden Kunst des Malers darzustellen geziemt." So heißt es in den Ideen einer Physiognomik der Gewächse von 1806.68 Noch das kunsthistorische Kapitel aus dem Kosmos ist von der Hoffnung beseelt, dass neuere Entwicklungen in der Malerei und die Erfindung der Daguerrotypie die sprachliche Beschreibung werden übertrumpfen können.69 Die Engführung von Malerei und Descriptio ist jedoch selbst poetologisch fundiert. Die berühmte Horazstelle aus der Arspoetica, „ut pictura poesis", die zur Forderung einer poetischen Malerei oder Schilderei führte, stammt aus einer zunächst poetologischen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Gegenstand und Beschreibung. Die Descriptio bleibt für Humboldt als Grundlage der Landschaftsdichtung verbindlich. Nachahmung der Natur ist noch im Kosmos das Verbindende von Wissenschaft, Dichtung und Malerei: „Aber in dem wissenschaftlichen Kreise, wie in den heiteren Kreisen der Landschafts-Dichtung und der Landschafts-Malerei gewinnt die Darstellung um so mehr an Klarheit und objectiver Lebendigkeit, als das Einzelne bestimmt aufgefaßt und begrenzt ist."70 Humboldts Schriften scheinen eine eher schlichte Auffassung vom „ut pictura poesis [et scienda]" zu verraten. Allenfalls der gewählte „Standpunkt" und die ideale Entfernung von den Phänomenen finden sich als Reflex der künsderischen Disposition eines Gegenstandes der Malerei in der Einleitung zum Kosmos, und gemeint ist mit diesem Bild ein mitderes Niveau der Verallgemeinerung. Humboldt orientiert sich dabei an den Vorgaben der Landschaftsmalerei, die das Konzept der Landschaft als größter anschaulicher Einheit aus der empirischen Natur überhaupt erst prägten. Während in den früheren Texten die Verfahren der Malerei 66 67 68
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K, S. 23. Vgl. Angehrn, Beschreibung zwischen Abbild und Schöpfung, S. 59. AN, S. 251. Vgl. auch Ideen einer Geographie der Pflanzen, S. 64: „Es wäre gewiß ein treffliches, eines gebildeten Künstlers würdiges Unternehmen, die Physiognomien jener Pflanzengruppen, für deren Beschreibung es selbst den reichsten Sprachen an Ausdrücken fehlt, nicht in Büchern oder Treibhäusern, sondern in der Natur selbst, in ihrem Vaterlande zu studieren und sie treu und lebenig darzustellen." Derselbe Text verteidigt jedoch auch die Schematisierungen des Tableau physique mit dem Hinweis, es müsse um die „strenge Befolgung fester Regeln und nicht malerische Ähnlichkeit" gehen (S. 79). K, S. 233. Blumenberg, Lesbarkeit der Welt, S. 299, betont dagegen die mediale Unterlegenheit der neueren Darstellungstechniken und bescheinigt Humboldt, seine Hoffnungen seien illusionär. K , S . 15.
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zur Heuristik der Landschaftsphysiognomik im geographischen Sinne mit berücksichtigt wurden, ergeben sich bei der Anwendung des Begriffs Naturgemälde auf den ganzen Kosmos erhebliche Probleme. Davon wird noch zu sprechen sein. Einmal angenommen aber, dass die Landschaftsmalerei die Repräsentation empirischer Räume als Totalitäten bewältigen kann: so ist die Umsetzung dieser Leistung ins Literarische doch mit erheblichen Problemen verbunden, wie Humboldt sehr wohl weiß: Es ist ein gewagtes Unternehmen, den Zauber der Sinnenwelt einer Zergliederung seiner Elemente zu unterwerfen. Denn der großartige Charakter einer Gegend ist vorzüglich dadurch bestimmt, daß die eindruckreichsten Naturerscheinungen gleichzeitig vor die Seele treten, daß eine Fülle von Ideen und Gefühlen gleichzeitig erregt werde. Die Kraft einer solchen über das Gemüt errungenen Herrschaft ist recht eigentlich an die Einheit des Empfundenen, des Nicht-Entfalteten geknüpft. Will man aber aus der objectiven Verschiedenheit der Erscheinungen die Stärke des Totalgefühls erklären, so muß man sondernd in das Reich bestimmter Naturgestalten und wirkender Kräfte hinabsteigen.71
Die Referentialität der Beschreibung stößt in der Komplexität und der Totalität der Erscheinungen an ihre Grenzen. Der räumlichen Gleichzeitigkeit, die den Eindruck und das Gefühl der Ganzheit auslöst, entspricht linguistisch kein totaüsierendes Zeichen. Humboldt nimmt sich die „Betrachtung alles Geschaffenen, alles Seienden im Räume (der Natur-Dinge und Natur-Kräfte) als eines gleichzeitig bestehenden Naturganzen" vor.72 Oder es „schildert [...] die physische Weltbeschreibung das ZusammenBestehende im Räume, das gleichzeitige Wirken der Naturkräfte und der Gebilde, die das Product dieser Kräfte sind."73 In der Beschreibung muss also das räumlich Simultane in Sukzession aufgelöst und dabei in Bestandteile der Analyse zerlegt werden Zwar sieht es schon die Rhetorik vor: Descriptio zeigt das Körperliche im Gegensatz zur Definitio, und das räumlich Synchrone im Gegensatz zur Narratio, ihr Mittel ist daher vor allem die „enumeratio partium".74 Humboldt hält sich an diese Vorgabe, wenn er in den Ideen einer Geographie der Pflanzen den Hauptteil als Aufzählung der verschiedenen Typen disponiert und sich ausdrücklich eine Schilderung im Zusammenhang erspart.75 Überwiegend jedoch lehnt Humboldt die Aufzählung als Standardverfahren der Beschreibung ab, weil es ihm um komplexe Zusammenhänge geht. Wo in den Ideen einer Physiognomik der Gewächse von dem Vorteil des Malers vor dem Verfasser von Deskriptionen die Rede 71 72 73 74 75
K, S. l l f . K, S. 27. K, S. 34. Vgl. Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1, Sp. 1495. GP, S. 44.
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war, ist außerdem zu lesen: „Auch ist das Ermüdende des Eindrucks zu vermeiden, das jede Aufzählung einzelner Formen unausbleiblich erregen muß."76 Im Kosmos meldet die Vorrede ähnliche Bedenken an: Bei der reichen Fülle des Materials, welches der ordnende Geist beherrschen soll, ist die Form eines solchen Werkes, wenn es sich irgendeines litterarischen Vorzugs erfreuen soll, von großer Schwierigkeit. Den Naturschilderungen darf nicht der Hauch des Lebens entzogen werden, und doch erzeugt das Aneinanderreihen bloß allgemeiner Resultate einen ebenso ermüdenden Eindruck wie die Anhäufung zu vieler Einzelheiten der Beobachtung.77
Eine Möglichkeit, im Haupttext zur höheren Konzentration und Kohärenz der deskriptiven Elemente zu gelangen, besteht darin, vereinzelte Beobachtungen in die ausufernden Fußnoten zu verweisen, die dann allerdings nicht einmal mehr die sinnfällige Ordnung der Aufzählung berücksichtigen. Das Dilemma einer zwangsläufig linearen Beschreibung, die malerische Gleichzeitigkeit nicht nachahmen kann, wurde im 18. Jahrhundert nicht in der Rhetorik, sondern in der Poetik diskutiert. Lessings Laokooti von 1766 brachte die zeitgenössischen Überlegungen zu Fragen der Nachahmung in den verschiedenen Künsten auf den Punkt, indem er dem Postulat des „ut pictura poesis" die konstitutionelle Differenz zwischen der Bildlichkeit mit ihrer räumlichen Simultaneität und dem Dichterischen mit seiner zeitlichen Sukzession entgegensetzte. Der Schwachpunkt der sprachlichen Beschreibung liege demnach gerade darin, dass sie in ihrer Zerlegung und Auflistung die Synthese der Erscheinung zum Ganzen in der Einbildungskraft des Lesers fast unmöglich mache, und eben auf diese Aneignung eines Ganzen durch die Einbildungskraft komme es in der Dichtung an. Mit Lessing gesagt: ich spreche es der Rede als dem Mittel der Poesie ab, weil dergleichen wörtlichen Schilderungen der Körper das Täuschende gebricht, worauf die Poesie vornehmlich gehet; und dieses Täuschende, sage ich, muß ihnen darum gebrechen, weil das Koexistierende des Körpers mit dem Konsekutiven der Rede dabei in Kollision kömmt, und indem jenes in dieses aufgelöset wird, uns die Zergliederung des Ganzen in seine Teile zwar erleichtert, aber die endliche Wiederzusammensetzung der Teile in das Ganze ungemein schwer und manchmal unmöglich gemacht wird. 78
In Schillers Rezension der Gedichte Matthissons ist zu lesen, wie dem Dilemma der Simultaneität der Naturerscheinungen und der notwendig sukzessiven poetischen Rede in der Landschaftsdichtung entgangen 76 77 78
AN, S. 215. K, S. 4. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Uber die Grenzen der Maierei und Poesie [1766], Werke, hg. von Herbert Göpfert, Bd. 6, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996 [München: Hanser 1974], S. 113.
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werden kann: „Die landschaftliche Natur ist ein auf einmal gegebenes Gan2e von Erscheinungen, und in dieser Hinsicht dem Maler günstiger, sie ist aber dabei auch ein sukzessiv gegebenes Ganze, weil sie in einem beständigen Wechsel ist, und begünstigt insofern den Dichter."79 Die Lösung ist daher, sich als Dichter „immer mehr die bewegte als die feste und ruhende Natur" vorzunehmen. Schiller sieht darin eine Möglichkeit, die Lessing der Beschreibung noch absprach und erläutert das Gemeinte an einem Beispiel: „Ob wir gleich diese Bilder nur nacheinander in die Einbildungskraft aufnehmen, so verknüpfen sie sich doch ohne Schwierigkeit in eine Totalvorstellung."80 Humboldts Werke illustrieren immer wieder, was Schiller beobachtet und zur Nachahmung empfohlen hatte. Die Ansichten der Natur lösen die räumliche Gleichzeitigkeit in szenische Bewegung auf. Im Kosmos wird es dann um die Schilderung des Gegenwärtigen als eines Gewordenen gehen, vor allem aber wird dort die Gleichzeitigkeit der Erscheinungen durch ihre Projektion auf die Geschichte ihrer Erkenntnis verzeitlicht. Dennoch hält Humboldt daran fest, dass die Beschreibung sich am Vorbild der Malerei orientieren müsse, dennoch strebt er die Übersicht über das gleichzeitig Bestehende an. So sieht er sich gedrängt, die längst geschmähte poetische Beschreibung zu rechtfertigen. Es geschieht im zweiten Band des Kosmos, der die Literatur als „Anregungsmittel zum Naturstudium" behandelt. Die Verteidigung der Deskription in der Literatur verschiebt die Kritik vom Was aufs Wie: „Wenn demnach die sogenannte ,beschreibende Poesie' als eine eigene für sich bestehende Form der Dichtung mit Recht getadelt worden ist, so trifft eine solche Mißbilligung gewiß nicht ein ernstes Bestreben, die Resultate der neueren inhaltreicheren Weltbetrachtung durch die Sprache, d.h. durch die Kraft des bezeichnenden Wortes, anschaulich zu machen."81 Weiter heißt es: „Die Araber sagen figürlich und sinnig, die beste Beschreibung sei die, ,in welcher das Ohr zum Auge umgewandelt wird',,.82 Und eben nicht an dem deskriptiven Verfahren als solchem liege es, wenn die Beschreibung als Genre nicht überzeuge, sondern an einer inadäquaten Praxis, besonders auch der zeitgenössischen Reiseliteratur, und genauer werden genannt: „ein unseliger Hang zu inhaltloser poetischer Prosa" und die „Leere sogenannter gemütvoller Ergüsse." 83 Jene verweist auf den verlorenen Bezug zur Empirie, diese auf Empfindungen, die nicht an die Erfahrung
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Friedrich Schüler: Über Matthissons Gedichte [1794], in: NA, 22, S. 247. Ebd., S. 275. K, S. 223. Ebd. Ebd.
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der Natur gebunden sind, jene äußert sich als „rhetorische Schwülstigkeit", diese als „trübe Sentimentalität".84 Selbst wo es nicht mehr um Rhetorik sondern ausdrücklich um Poesie geht, gelingt es Humboldt, das Vermittelnde zwischen Natur und Empfindung annähernd aufzulösen, indem er das eine aus dem anderen genuin hervorgehen lässt: Naturbeschreibungen, wiederhole ich hier, können scharf umgrenzt und wissenschaftlich genau sein, ohne daß ihnen darum der belebende Hauch der Einbildungskraft entzogen bleibt. Das Dichterische muß aus dem geahndeten Zusammenhang des Sinnlichen mit dem Intellectuellen, aus dem Gefühl der Allverbreitung, der gegenseitigen Begrenzung und der Einheit des Naturlebens hervorgehen. 85
Es folgt ein Echo auf jene programmatische Charakterisierung der Griechischen Kunst durch „edle Einfalt und stille Größe", mit der Winckelmann den Klassizismus inaugurierte: Je erhabener die Gegenstände sind, desto sorgfältiger muß der äußere Schmuck der Rede vermieden werden. [...] Wer, mit den großen Werken des Alterthums vertraut, in sicherem Besitz des Reichthums seiner Sprache, einfach und individualisirend wiederzugeben weiß, was er durch eigene Anschauung empfangen, wird den Eindruck nicht verfehlen. Er wird es um so weniger, als er, die äußere, ihn umgebende Natur und nicht seine eigene Stimmung schildernd, die Freiheit des Gefühls, in anderen unbeschränkt läßt.86
Die klassizistische Ästhetik, die sich auf die Darstellung einer idealisierten Natur bei den Griechen berief, die Nachahmung der Natur also unter bestimmte Bedingungen stellte, wird hier zum unmittelbaren Vorläufer einer naturbeschreibenden Dichtung, die um so exakter ist, als sie einfach die Naturgesetze in ihrer empirischen Erscheinung respektiert. Zwischen der klassizistischen Ästhetik und der beschreibenden Wissenschaft des 19. Jahrhunderts liegen allerdings wichtige Phasen der Ästhetik- und Poetikgeschichte. Inzwischen wurde betont, dass der Künsder derselben Natur angehöre, die er auch darstellt; seine Leistungen sind gegen die Konventionen von Rhetorik und Regelpoetik den spontanen Seelenvermögen der sinnlichen Erkenntnis und Einbildungskraft zugeschrieben worden; Natur erregt nicht mehr als natura naturata, sondern als natura naturans die Aufmerksamkeit der Philosophie, Naturgeschichte und Ästhetik. Dies alles ist Humboldt nicht fremd, sondern schlägt sich in seinen Schriften als anthropologische Fundierung seines Denkens, der Erkenntnis, der Darstellung nieder, als Berücksichtigung der Einbildungskraft in der wissenschaftlichen Heuristik und in seinem wissenschaftlichen 84 85 86
Ebd. K, S. 223f. K, S. 224.
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Interesse für physiologische Vorgänge oder dynamische Interdependenzen zwischen physikalischen Größen. In der Funktionalisierung des Organischen für die Darstellung der Natur trennen sich jedoch die Wege der neueren Poetik und der wissenschaftlichen Beschreibung Humboldts. Nachahmung der Natur wandte sich von der Mimesis der Merkmale der natura naturata verstärkt zur Nachahmung der in der Natur geltenden Strukturen und Prinzipien,87 unter denen zuerst die Naturgesetzlichkeit der Kausalität faszinierte, dann überwiegend die Ontogenese. Wenn aber Natur vor allem als genetischer Prozess beschrieben wurde, dann manifestierte sich die Dynamik der Schöpfung in den Erscheinungen selbst, dann aber ließ sich auch der künsderische Schöpfungsakt als Konkurrenz zum göttlichen beschreiben. Der Künstler als zweiter Schöpfer erschafft eine mögliche (aber wie die Natur in sich kohärente) Welt im Gegensatz zur wirklichen,88 und zwar, insofern die Produktivität der Natur in ihm wirkt. Bei Kant heißt es: „Genie ist die angeborne Gemütslage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt."89 Dabei verlagert sich das Interesse von den Objekten der Naturnachahmung zur Subjektivität des natürlichen Schöpfungsprozesses im Künstler, in dem nunmehr die Natur autonom wirkt. Kant schließt daraus, „daß Genie dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegenzusetzen sei."90 Die Gründe dafür liegen wiederum in einer spezifischen Konzeption des Organischen: Das Organische ist nämlich nicht nur in der Biologie seit 1800, sondern auch schon in der Philosophie als ein Prinzip charakterisiert worden, das sich selbst generiert, das in sich selbst Mittel und Zweck zugleich ist,91 also nicht auf einen äußeren Urheber angewiesen, der zu definieren wäre. Natur erscheint unter diesem Aspekt als sich selbst organisierend. Wenn aber Kunst die Natur nachahmt, insofern sie sich selbst organisiert, dann agiert sie autopoetisch, kurz, sie lässt sich fortan im Rahmen einer Autonomieästhetik beschreiben. 87
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Hans Blumenberg erinnert an diese Voraussetzung der Kunst als Nachahmung der Natur im Sinne einer Strukturgleichheit zwischen dem Kunstwerk und der Natur, er erinnert zugleich daran, wie das moderne Evolutionsdenken die viel ältere aristotelische Vorstellung von der Natur als Inbegriff der generativen Prozesse in sich aufsaugt und zur Norm für die Kunst macht. Hans Blumenberg: „Nachahmung der Natur". Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: Studium generale 10 (1957) H. 5, S. 266—283, hier S. 273f. Vgl. Blumenberg: „Nachahmung der Natur", S. 282. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 241 f. Ebd., S. 243. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 332f., Hegels Untersuchung des Naturschönen in der Ästhetik geht von der „Lebendigkeit [...] als Teil eines leiblichen Organismus [...], als in sich fortdauernder Prozeß des Idealisierens [...], als „aus sich heraus gestaltend und prozessierend" aus; S. 157-178, hier S. 165.
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Weiter als bis zu dem Punkt, an dem die Einbildungskraft den Zusammenhang objektiver Erscheinungen im Subjekt repräsentiert, bewegt sich Humboldt in seinen Konzeptionen der Naturnachahmung jedoch nicht. Vielmehr versucht er, diesen Zusammenhang zwischen Subjektivität und empirischer Welt in der konsequenten Applikation der Rhetorik zu manifestieren. Die Rhetorik bildet die Objektivität der Phänomene und zugleich ihre Wirkung auf das Gemüt sprachlich ab. Möglich ist es, weil ein struktureller Parallelismus zwischen der Verfassung der empirischen Welt und den Subjekten der Erkenntnis besteht. Humboldt greift auf den strukturellen Parallelismus zwischen der organischen Natur und der organischen Verfassung des erkennenden Menschen zurück. Es bestätigt nur die Möglichkeit einer objektiven Beschreibung. Das Organische ist in der gegenwärtigen Befindlichkeit alles Gleichzeitgen einfach als „gegeben" vorausgesetzt. „So ist es die Aufgabe der physischen Geographie, nachzuspüren, wie auf der Oberfläche der Erde sehr verschiedenartige Formen, bei scheinbarer Zerstreuung der Familien und Gattungen doch in geheimnißvoller genetischer Beziehung zueinander stehen [...] wie die Organismen, ein tellurisches Naturganze bilden."92 Zugleich wirkt das Organische spontan als Wahrnehmungsprinzip im erkennenden Subjekt. Die Anthropologie der Erkenntnis lässt seit den frühesten Ahnungen, die Humboldt rekonstruiert, das Subjekt der Naturerfahrung genetisch aus derselben Natur erwachsen, der auch der Beobachtungsgegenstand angehört. Da ist die Rede von der wunderbar aneignenden Kraft des menschlichen Gemüthes. Wir fühlen uns so mit allem Organischen verwandt, daß, wenn es anfangs auch scheint, als müsse die heimische Landschaft wie ein heimischer Volksdialekt, uns zutraulicher, und durch den Reiz einer eigenthümlichen Natürlichkeit uns inniger anregen als jene fremde üppige Pflanzenfülle, wir uns doch bald in dem Palmen-Klima der heißen Zone eingebürgert glauben. Durch den geheimnißvollen Zusammenhang aller organischen Gestaltung (und unbewußt liegt in uns ein Gefühl der Nothwendigkeit dieses Zusammenhangs) erscheinen unserer Phantasie jene exotischen Formen wie erhöht und veredelt aus denen, die unsere Kindheit umgaben. So leiten dunkle Gefühle und die Verkettung sinnlicher Anschauungen wie später die Thätigkeit der combinirenden Vernunft, zu der Erkenntniß, welche alle Bildungsstufen der Menschheit durchdringt, daß ein gemeinsames, gesetzliches und darum ewiges Band die ganze lebendige Natur umschlinge.93
Das altbekannte Analogon zwischen Makro- und Mikrokosmos erneuert sich mithilfe der Biologie des Organischen. Dabei erscheint es nicht als metaphysische oder ästhetische Prämisse, sondern als evidentes Naturphänomen. Die Korrespondenz zwischen der Organisation der menschlichen Erkenntnis und dem organischen Totalzusammenhang aller biologischen 92 93
K, S. 29f. K, S. 11.
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Erscheinungen garantiert nur die Darstellbarkeit von globalen naturgesetzlichen Zusammenhängen, die sich in der Empirie der einzelnen Erscheinungen nicht konkret manifestieren. Damit ist vorläufig die Objektivität bedeutungsvoller Zusammenhänge gerettet, und auch die objektive Naturschönheit. Humboldt legt damit zugleich die nachahmende Kunst auf historisch ältere Funktionen fest.94 Sie wird einerseits aufgewertet, indem ihr pragmatische Folgerungen zugestanden werden, wiederum anders, als Hegel dies festlegte.95 Wissenschaftliche Erkenntnisse kann sie ganz unmittelbar fördern. Zugleich erscheint die Kunst, im Vergleich mit einer als autonom konzipierten Kunst, abgewertet.96 Ihre Aufgabe besteht in der adäquaten Nachahmung der so und nicht anders seienden Natur.97 Ihre Leistungen sind abhängig von Qualitäten empirischer Natur, und mehr noch, sie wird 94
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Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 1, S. 84: „Man mißtraut der Ästhetik." Vgl. auch S. 85: „Kunst ist nicht autonom"; man streite „darüber, ob die Religion oder die Politik, die Geschichte oder die Natur, die Persönlichkeit oder die Gesellschaft der eigentliche Träger des Schönen ist. Eben deshalb, weil der spekulative Begriff des alles umfassenden Absoluten fragwürdig geworden ist, will man die „positiven" Inhalte der Kunst und Dichtung irgendwo in der natürlichen und geschichtlichen Welt vorgegeben finden." Zuvor schon war bei Sengle von der Erneuerung und Erweiterung des Empirismus die Rede (S. 34—36). Hegel: Ästhetik, S. 82: „Denn andere Zwecke, wie Belehrung, Reinigung, Besserung, Gelderwerb, Streben nach Ruhm und Ehre, gehen das Kunstwerk als solches nichts an und bestimmen nicht den Begriff desselben". Während der Historiker Friedrich Sengle (Biedermeierzeit, Bd. 2. Stuttgart: Metzler 1972) von der gleichzeitigen Verbreitung ungleichzeitiger Kunstvorstellungen ausgeht, arbeiten einige Autoren auf ganz verschiedenen Ebenen die Idealtypik einer neuen Autonomieästhetik heraus. In den Zusammenhang der idealistischen Ästhetik rückt die Abkehr von der Ästhetik der Naturnachahmung : Dieter Henrich: Kunst und Natur in der idealistischen Ästhetik, in: Hans Robert Jauß (Hg.): Nachahmung und Illusion, 2. Aufl., München: Fink 1969, S. 128—134; als Funktion innerhalb einer bestimmten Phase eines ideengeschichtlichen Differenzierungsprozesses zwischen Kunst und Wissenschaft sieht den Gegensatz zwischen Mimesis und Reflexion Gerhart Schröder: Die Kunst und die Wissenschaft. Dokumente zur Geschichte ihrer Kontroverse, in: Nicolas Born und Heinz Schlaffer (Hg.): Literaturmagazin 6. Die Literatur und die Wissenschaften, Reinbek: Rowohlt 1976, S. 8 7 107; als Gründungsakt der ästhetischen Moderne bezeichnet den Abschied von einer unmittelbar erfahrenen, von Gott bzw. den Göttern sprechenden Natur Karlheinz Bohrer: Nach der Natur. Ansicht einer Moderne jenseits der Utopie, in: Merkur 41 0uli 1987) H. 7, Nr. 461, S. 631-645; die .„Weimarer' Konzeption einer autonomen Literatur" bezieht Siegfried J. Schmidt auf „Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert", Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 218. Ganz der linearen Ablösung von „Nachahmungsästhetik, Schöpfungspoetik und artistischem Konstruktivismus" ist verpflichtet die Studie von Günter Peters: Die Kunst der Natur. Ästhetische Reflexion in Blumengedichten von Brockes, Goethe und Gautier, München: Fink: 1993. Vgl. Zimmermann: Zur Geschichte des ästhetischen Naturbegriffs, S. 140: „Damit allerdings mildert er nicht nur die Kluft, die mit der Abkehr vom Mimesisprinzip zwischen Natur- und Kunsterfahrung entstanden ist; er leistet auch dem Mißverständnis Vorschub, daß Kunst weiterhin die Aufgabe habe, möglichst bruchlos den Eindruck ,schöner' Natur zu vermitteln."
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darauf festgelegt, die angenommenen objektiven Qualitäten zu bestätigen. Humboldt hält so lange an der Wahrheitsfahigkeit der rhetorischen Descriptio fest, bis er dem späteren 19. Jahrhundert als Wegbereiter einer realistischen Poetik gelten kann. Kosmos: Beschreibung zwischen Begriff und Bild Einseitige Behandlung der physikalischen Wissenschaften, enloses Anhäufen roher Materialien konnten freilich zu dem, nun fast verjährten Vorurtheile beitragen, als müßte nothwendig wissenschaftliche Erkenntniß das Gefühl erkälten, die schaffende Bildkraft der Phantasie ertödten und so den Naturgemäß stören. Wer in der bewegten Zeit, in der wir leben, noch dieses Vorurtheil nährt, der verkennt bei dem allgemeinen Fortschreiten menschlicher Bildung, die Freuden einer höheren Intelligenz, einer Geistesrichtung, welche Mannigfaltigkeit in Einheit auflöst und vorzugsweise beim Allgemeinen und Höheren verweilt. Dies Höhere zu genießen, müssen in dem mühsam durchforschten Feld spezieller Naturformen und Naturerscheinungen die Einzelheiten zurückgedrängt und von dem selbst, der ihre Wichtigkeit erkannt hat und den sie zu größeren Ansichten geleitet, sorgfältig verhüllt werden. 98
Die genannte Auflösung der Mannigfaltigkeit in Einheit ist nun ein Verfahren, das wenig mit Induktion und Theoriebildung zu tun hat, sondern sichtlich von rhetorischen oder ästhetischen Vorgaben geleitet ist. Es ist ein Hinweis darauf, dass der titelgebende Kosmos nicht nur ein Totalbegriff für das empirisch Gegebene, sondern auch ein Ordnungsprinzip mit ästhetischer Valenz sein könnte. Welcher Art sind also die Vorstellungen und Maximen, die die Behandlung des empirisch Vereinzelten leiten? Haben sie hypothetischen Charakter in bezug auf den denkbaren Zusammenhang aller bekannten Naturgesetze, oder sind sie rein formaler Art, so dass die Disposition des Empirischen eher ästhetischen Gesichtspunkten zu folgen scheint? Die Rede vom erhöhten Standpunkt, die Humboldt liebt, scheint auf die Praxis des Landschaftsmalers hinzuweisen, der seinen Gegenstand nach der Perspektive und dem Abstand, die sich vom gewählten Standpunkt aus ergeben, disponiert. Wenn der menschliche Geist sich erkühnt, die Materie, d.h. die Welt physischer Erscheinungen, zu beherrschen, wenn er bei denkender Betrachtung des Seienden, die reiche Fülle des Naturlebens, das Walten der freien und der gebundenen Kräfte zu durchdringen strebt; so fühlt er sich zu einer Höhe gehoben, von der herab, bei weit hinschwindendem Horizont, ihm das Einzelne nur gruppenweise vertheilt, wie umflossen von leichtem Dufte erscheint. Dieser bildliche Ausdruck ist gewählt, um den Standpunkt zu bezeichnen, aus dem wir hier versuchen, das
98 K, S. 18.
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Die amerikanische Reise und ihre europäische Veröffentlichung Universum zu betrachten und in seinen beiden Sphären, der himmlischen und der irdischen, anschaulich darzustellen."
Die Landschaft aus den Ansichten der Natur war eine repräsentative Einheit, die sich mit den Mitteln der Malerei oder der poetischen Sprache, durch Standpunkt, Ausschnitt aus dem Umgebenden, Selektion und Disposition als Totales wahrnehmen und darstellen ließ. Humboldt fordert zu Recht für diese Art der Darstellung die „beschränkende Individualisirung der Lage."100 Gelegentlich spricht Humboldt vom „landschaftlichen Charakter" des südlichen Himmels und dem „Reiz, der aus der Gruppierung der Sterne erster und zweiter Größe und ihrer Trennung durch Regionen hervorgeht, welche dem bloßen Auge verödet und glanzlos erscheinen."101 Es ist das Äußerste, was dieser Begriff zu umfassen vermag. Das Naturgemälde des ersten Teils des Kosmos versucht nun die landschaftliche Tradition auf das Universum auszudehnen.102 Für das Ganze aller physischen Erscheinungen der Welt kann die Rede vom Standpunkt und vom Überblick - Humboldt sieht es selbst - nur vergleichsweise gelten.103 Was Humboldt für seine Leser als Kosmos schildert ist so wenig ein umfassendes Gemälde wie eine Kugel — in dieser Gestalt jedenfalls zeichnete Wilhelm von Kaulbach den Humboldtschen Kosmos zweimal, indem er seinen Verfasser in eine symbolträchtige Beziehung zur mythischen Gestalt des Atlas stellte (vgl. Abb. 6 und 7).104 99 100 101 102
K, S. 38. AN, S. 216. K, S. 345. Gerhard Hard zeichnet nach, wie Humboldts Geographie durch einen ästhetischen Landschaftsbegriff geprägt wurde, und sieht seine Auffassung vom Kosmos zum Teil als Analogie zum Landschaftlichen, etwa im Begriff des „Ganzen" und des „Zusammenwirkens der Kräfte". Als Wurzel der Kosmoskonzeption erscheint daher bei Hard eine „neue ästhetische Synthesis und .Naturganzheit' [, die] im 18./19. Jahrhundert die alte, kosmostheoretische [ersetzte]" (S. 154). Zu ergänzen ist diese zutreffende Darstellung durch die zunehmende Rhetorisierung, die eine zuvor an der konkreten Praxis der Landschaftsmalerei orientierte Ästhetik des Naturganzen auf dem Wege zur Ausweitung zum Kosmos erfährt (Gerhard Hard: „Kosmos" und „Landschaft". Kosmologische und landschaftsphysiognomische Denkmotive bei Alexander von Humboldt und in der geographischen Humboldt-Auslegung des 20. Jahrhunderts, in: Heinrich Pfeiffer [Hg.]: Alexander von Humboldt. Werk und Weltgeltung, München: Piper 1969, S. 133-177). 103 Vgl. Scott Slovic: Alexander von Humboldt's comparative method of landscape description, in: Publication of the Society for Literature and Science. Vol. V (1990), No. 3, S. 4— 10, hier S. 8. 104 Wilhelm von Kaulbach hat in zwei Varianten Humboldt mit einer Kugel gezeichnet, die die Aufschrift ,Kosmos' trägt. Einmal stützt sich der greise Humboldt auf sie, die ihrerseits von einer als Adas identifizierbaren Gestalt getragen wird (1858). Später zeichnete Kaulbach für seinen Zyklus ,Totentanz' den personifizierten Tod, der Humboldt, der nun selbst zum Atlas geworden ist, die mit Stemlein bedeckte Kosmos-Kugel abnimmt. Dabei kann es sich nicht um eine adäquate Umsetzung des Naturgemäldes aus dem ersten Band des Kosmos handeln. Dieses Naturgemälde hängt eben nicht von einem individualisierbaren
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Humboldt, der Physiker der ganzen Welt, schützt sich durch den Hinweis auf den rhetorischen Gebrauch eines Bildes, das vom „Standpunkt". Insofern aber die Rede vom erhöhten Standpunkt nicht mehr eine konkrete Voraussetzung wissenschaftlicher Erfahrung meinen kann, wie für den Pflanzengeographen, zerbricht auch das Bündnis von Erkenntnis und Erhabenheit. Damit ist aber auch die angenommene Deckung von Objektbezug und Wirkung in der Rhetorik einer Zerreißprobe ausgesetzt. Das Motiv der Erhebung spielt eine ausgezeichnete Rolle in der Geschichte einer Poetik, die zur Subjektivierung aller Erfahrung im lyrischen Ich führt.105 Dieser Topos eines gesteigerten Selbstgefühls ersetzt in der Rhetorik des Kosmos mehr und mehr den Standpunkt eines authentischen Überblicks über empirische Erscheinungen. Wo Erhabenheit zugleich empirische Sachverhalte und ihre angemessene Darstellung meinen soll, diese empirischen Sachverhalte aber nichts anderes meinen als das ganze Universum, da löst sich die Rhetorik des Höheren von der konkreten Erfahrung und droht zum Versatzstück zu werden. Der gewählte „höhere Standpunkt" wird allen Lesern willkommen sein, die bei der Lektüre des Kosmos ihrem Sinn fürs „Höhere" schmeicheln wollen, ob es nun um Kunst, um Wahrheit, um Philosophie, um Gott oder den gesellschaftlichen Rang geht. So prägnant der Titel des Spätwerkes auch ist: das Wort „Kosmos" saugt die lange und komplexe Geschichte seiner Konnotate106 in sich auf und integriert damit zugleich eine heterogene Leserschaft. „Kosmos" ist nicht ein direkter oder indirekter Vergleich, sondern ein mehrdeutiges Konzept, das Wissenschaftliches, Ästhetisches, Philosophisches, Ethisches zugleich meinen kann.107 Zwar versäumt es der Verfasser des Buches mit diesem Titel nicht, seine Leser über die Geschichte des Begriffs zu belehren: Wie das Wort in homerischer Zeit „Schmuck und Ordnung" Standpunkt ab. Vgl. Haiina Nelken: Alexander von Humboldt. Bildnisse und Künsder. Eine dokumentierte Ikonographie, Berlin: Reimer 1980, S. 157f. 105 Karl Pestalozzi: Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik, Berlin: de Gruyter 1970. Das Motiv der Erhebung begleite die Entwicklung der Lyrik auf dem Weg zur Autonomiepoetik, indem sich darin die Entfremdung des empirischen Ich vom Selbst vollziehe (S. 251). 106 Zur Begriffsgeschichte vgl. M. Gatzemeier: „Kosmos", in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, Sp. 1 1 6 7 - 1 1 7 6 . Während sich keine großen Differenzen zur begriffsgeschichtlichen Darstellung bei Humboldt ergeben, ist der Humboldtsche Kosmos selbst als spätes und atypisches Beispiel für die Wiederbelebung des „vollen hellenischen Sinne[s]" ausgegeben (Sp. 1173). 107 Vgl. wiederum Gillian Beer, Problems of Description, S. 45: Während die Präzision von Terminologien Anschlussfahigkeit verhindere, bringe eine Öffnung auf weitere „Levels" des Verständnisses sofort Zweideutigkeit mit sich. Sie sei wesentlich ein Faktor der Rezeption: „The shared assumptions of the group begin to be visible."
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bezeichnete, „später aber zu einem philosophischen Kunstausdrucke, zur wissenschaftlichen Bezeichnung der Wohlgeordnetheit der Welt, ja der ganzen Masse des Raumerfüllenden, d.i. des Weltalls selbst, umgeprägt wurde."108 Und es folgt, mit einer Hommage an August Böckh, eine Erwähnung des Philolaus, dann des Pythagoras, Parmenides, Empedokles, auch fehlt ein Hinweis auf die Übertragung des griechischen Wortes ins Lateinische „mundus", mit einhergehender Veränderung der Konnotate nicht. Humboldt nun legt sich auf folgendes Verständnis fest: „In meinem Entwürfe einer Weltbeschreibung ist Kosmos, wie der allgemeinste Gebrauch in der nachpythagoreischen Zeit es gebietet und wie der unbekannte Verfasser des Buches de Mundo, das lange dem Aristoteles zugeschrieben wurde, das Wort definirt hat, für den Inbegriff von Himmel und Erde, für die ganze Körperwelt genommen."109 So zurückhaltend und durchaus vereinbar mit den strengsten Grundsätzen des Empirikers das klingt -"Inbegriff ist doch wohl anders qualifiziert als die Summe aller Einzelheiten. Und zuvor schon räumte Humboldt ein, daß die Wahl des Titels nicht nur einer deutlicheren Abhebung seines Werkes von Beschreibungen nur der Erde (statt der ganzen Welt) diene, sondern auch einer Rhetorik des Erhabenen verpflichtet sei; denn gegenüber einer Reihe von gebräuchlicheren Bezeichnungen für das Ganze der physischen Natur vertrete Kosmos eine „feierliche und altertümliche Weise," jenes zu bezeichnen. So fließen also mit der Rhetorik des Werkes, das sich im Übrigen an den neuesten Stand der Forschung halten will, doch die implizierten Werte eines historischen und vieldeutigen Begriffes in die Darstellung ein. Wenn schon Inbegriff mehr ist als Summe, so ist Schmuck und Ordnung gewiss noch anderes als Inbegriff. Es wird sich noch zeigen, dass sich die Konnotate des Logisch-Vollkommenen und ÄsthetischHarmonischen aus dem Worte Kosmos in Humboldts spätem Werk ganz absichtsvoll dem Verständnis des Kosmos als Summe aller physischen Erscheinungen überlagern.110 Offensichtlich aber ist ,Kosmos' für Humboldt keine Metapher, die er zur Illustration des von ihm gemeinten Naturganzen heranzieht. Das Wort Kosmos soll zunächst den Status eines Begriffs, eines „philosophischen Kunstausdruckes" haben.111
108 K, S. 33. 109 K, S. 34. 110 Alfred Dove hat zuerst von der „ästhetischen Conception" des Kosmos gesprochen (Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. 2, S. 360). 111 Im Nachhinein lässt sich der Begriff des Kosmos auch als unhintergehbare Metapher bezeichnen, doch muß aus der Sicht des Verfassers des Kosmos von einer Interpretation des Kosmos als Metapher Abstand genommen werden.
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Wie sind nun also die logischen und ästhetischen Implikationen der Ordnung und der Harmonie im Kosmos zu bewerten, wenn der Vefasser etwa sagt: „Eine allgemeine Verkettung, nicht in einfacher linearer Richtung, sondern in netzartig verschlungenem Gewebe [...] stellt sich allmälig dem forschenden Natursinn dar."112 Oder: „Die Natur ist für die denkende Betrachtung Einheit in der Vielheit, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte, als ein lebendiges Ganze."113 Und dann wieder, es gebe „einen nothwendigen Zusammenhang aller Veränderungen im Weltall"114, wenn gesagt wird, Naturgesetze seien „einfach"115 und sogar: „Die Natur aber ist das Reich der Freiheit",116 wenn immer wieder von ihr behauptet wird, sie habe „Größe", das ist Erhabenheit. Was heißt es für den Empiriker, wenn die Natur wieder und wieder als schön bezeichnet wird? Sind objektive Merkmale der Natur gemeint oder Ideen, die ihre Deskription leiten? Einige dieser Konzepte, das der „allgemeinen Verkettung", des Netzes, der Einheit in der Vielheit, der Mannigfaltigkeit, Notwendigkeit und Freiheit, die auf die Natur angewendet werden, haben eine komplizierte ideengeschichtliche Tradition.117 Sie entstammen eben nicht den Begriffsbildungen von ausdifferenzierten naturwissenschaftlichen Disziplinen, sie sind nicht das Ergebnis einer Fachsprachenbildung, sondern sie schleppen die variablen Konnotate und diversen Funktionen ihrer Geschichte mit sich. Sie wurzeln in Ontologien und Metaphysiken, deren fortschreitende Kritik das Fortleben von dergleichen Konzepten nicht überflüssig macht, insofern, als sie sehr wohl von der Erkenntnistheorie, von der Psychologie der subjektiven Vermögen, von der Ästhetik für sich vereinnahmt werden können, im gleichen Maße, in dem sie nicht mehr auf eine göttliche Einsetzung zurückgeführt werden müssen.118 Die Phasen eines solchen
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K , S . 23. K , S . 10. K , S . 24. K , S . 16. K , S . 9. Zur Ideengeschichte der „Kette der Wesen" vgl. Arthur Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens [engl. Erstausgabe 1936], Frankfurt a.M.: Suhrkamp T W 1993. Für das Verständnis von Humboldts Denken ist nützlich, dass nach Lovejoy das Konzept von der Kette der Wesen als „metaphysische Prämisse zur Formulierung eines wissenschaftlichen Forschungsprogramms" für die Biologie des 18. Jahrhunderts fungiert (S. 279), der Gedanke allmählich durch eine zeitliche Dimension aufgeladen wird (Kapitel IX), schließlich der Hinweis auf die Identifikation mit dem Entwicklungsprozeß der Natur selbst. Bei Humboldt überwiegt freilich die Prozessualität der Kultur- und Wissensgeschichte der Natur über die Darstellung eines universalen Naturprozesses.
1 1 8 Vgl. etwa Robert Spaemann über den Prozess der Absetzung des Naturbegriffs v o n der Metaphysik: „Der Naturbegriff wird durch den Gegensatz zum Übernatürlichen so ausgeweitet, daß er dort, w o die Idee des Ubernatürlichen dem kritischen Verdikt der Aufklä-
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Prozesses, den man auch als Säkularisierung bezeichnen mag, sind sehr schwer zu begrenzen und zu bewerten.119 Mit der Konventionalisierung von Begriffen und Bildern geht ihre zunehmende semantische Unbestimmtheit einher, dienen sie mehr und mehr zur rhetorischen Ausschmückung oder um Spielraum für Assoziationen zu geben. Sie bezeichnen nicht mehr spezifische philosophische oder theologische Gehalte, stellen es aber jedem anheim, einzelne Qualitäten und Konnotate, die mit diversen Phasen ihrer Begriffs- und Motivgeschichte einhergehen und nach wie vor zur Suggestion dieser topisch gewordenen Formeln beitragen, aufzurufen. Humboldt beruft sich auf die altbekannten Konzepte, indem er spezifische Begriffe und Bilder zunehmend rhetorisiert und damit weitgehende Unscharfe in ihre Verwendung bringt. Die Unschärfe der Leitideen allein ist es, die die Einheit der empirischen Einzelheiten der physischen Welt wirkungsvoll suggerieren kann, wobei es nicht nur um die Integration der vielfältigen Naturerscheinungen geht, sondern auch um die Integration der Leserschaft, die verschiedene Vorstellungen über Natur mitbringt und im Kosmos wiederzufinden sich anschickt. Durchaus hat es sich Humboldt vorgenommen, viele anzusprechen und zugleich dem Vorbehalt und der Kritik, die aus dieser oder jener Richtung kommen könnten, vorzubeugen und eventuell durch Unbestimmtheit auszuweichen. Darauf deutet zumindest ein Brief an Varnhagen hin, in dem Humboldt zum AtheismusVorwurf eines englischen Rezensenten des Kosmos Stellung nimmt. Danach sei der Vorwurf des Atheismus nicht gerechtfertigt, weil „überall [dies freilich nicht!] von der .Schöpfung' und von dem ,Geschaffenen' im Kosmos die Rede ist."120 Ein solcher Sprachgebrauch gehört nun so weit zu den konventionellsten Bezeichnungen für Natur, dass Rückfragen im Blick auf das Theologische wohl erlaubt sein müßten. Humboldt scheint das Problem ernst genommen zu haben, da er im selben Brief an Varnhagen ausführlich aus der französischen Übersetzung des Kosmos zitiert und damit scheinbar ein Bekenntnis ablegt. Dort hieß es unter anderem: „C'est cette necessite des choses [...] qui constitue [...] la nature obeissante a une
rung verfällt, zum Begriff für die Totalität des Seins wird"; Genetisches zum Naturbegriff des 18. Jahrhunderts, in: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 5 9 - 7 4 , hier S. 66. 1 1 9 So führt Hans-Georg Kemper exemplarisch vor, wie disponibel die Lyrik des 18. Jahrhunderts für ganz entgegengesetzte Interpretationen ist, je nachdem, ob man sich auf eine oberflächliche oder differenziertere Untersuchung der Semantik, auf isolierte oder kontextualisierte Lektüren einlässt. Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisationsprozeß: problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung, Tübingen: Niemeyer, Bd. 1 1981 (=Studien zur deutschen Literatur, 64). 120 Varnhagen, S. 183.
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premiere impulsion donnee."121 Eigene Meinung oder Referat? Die Frage stellt sich, weil Humboldt gleich anschließend aus Kants „Essai sur la theorie et la construction des cieux, publie ä Königsberg 1755" referiert, demzufolge dergleichen Ansichten aus der „domaine de la physique du monde" und der „explication physique" auszuschließen seien. Kant, so sagt Humboldt dazu, sei des Atheismus ganz unverdächtig.122 Womit wiederum die theologischen Ansichten abseits von der Naturwissenschaft gerettet wären, freilich mit der größten Unverbindlichkeit. Der Brief an Varnhagen lässt den Kosmos als authentisches Zeugnis einer Krise im Prozess der Ausdifferenzierung zwischen Wissenschaft, Theologie und Philosophie dastehen. Die Systeme sind nicht soweit gegeneinander abgegrenzt und unabhängig voneinander, dass sich am Sprachgebrauch die Zugehörigkeit zum einen oder anderen Diskurs unmittelbar ablesen ließe. Die Semantik fluktuiert unbestimmt zwischen diversen Kulturbereichen, aber auch zwischen kaum bewertenden Referaten und eigenen Aussagen, die nicht immer deutlich voneinander zu unterscheiden sind. Der französische Kosmos, aus dem zitiert wird, stellt nämlich durchaus ohne Kritik die deistische Auffassung neben die skeptischere neuerer Szientifik, weshalb derjenige Leser, der es möchte, das Buch auch als Beschreibung des objektiv gegebenen harmonischen Kosmos ansehen kann. Die Zuweisung der verschiedenen Bewertungen zu unterschiedlichen Diskursen (Physik und Theologie) ist im Kosmos nicht einmal so eindeutig wie im Brief an Varnhagen; so wenig wie sich die exakten Deskriptionen der avancierten empirischen Forschung im Kosmos von einer Rhetorik älterer Vorstellungen abgrenzen lassen, die „bloß" der Popularisierung, der Erbauung, der Reverenz an liebgewordene Vorstellungen, einer vielleicht trügerischen Didaktisierung komplizierter wissenschaftlicher Sachverhalte zugehört. Das von Humboldt so bezeichnete „Oratorische" enthält Valenzen, die auf das empirisch Beschriebene und vermeintlich kaum Bewertete übergehen. Dieser Zustand einer semantischen Unbestimmtheit, die den Gegenstand der Rede undeutlich bewertet, aber um den Konsens eines denkbar großen und vielfältigen Publikums wirbt, erhellt sogleich im Vergleich des Kosmos mit einem fast einhundert Jahre älteren Text, in dem einige der Humboldtschen Formulierungen wieder begegnen. Johann Georg Sulzer führt in seinen Unterredungen über die Schönheit der Natur die „Abwechslung", „Vollkommenheit", „Müdigkeit", „Übereinstimmung in der Verschiedenheit", die „harmonische Kette der Geschöpfe", und schließlich, „daß in
121 Ebd. 122 Ebd.
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der Natur alles verknüpft sey und sie also nur ein Ganzes ausmache,"123 als Merkmale einer objektiven Schönheit der Natur ein, aber zusätzlich auch als Impuls einer spontanen Gotteserkenntnis und -Verehrung, da ja aus den ästhetisch sich erschließenden Ordnungen auf die göttliche Ordnung und Absicht geschlossen werden muß. Denn notwendig sei es so, „daß wir da, wo wir Ordnung und Schönheit entstehen sehen, schließen, daß einer da ist, der sie würket."124 Noch Humboldts großes schriftstellerisches Vorbild Georg Forster appelliert in seiner „Einleitung zu Anfangsgründen der Thiergeschichte [Buffons]" mit der Überschrift Ein blick in das Gan^e der Natur an die Tradition der Physikotheologie, wenn er Gott als nicht sichtbaren Verursacher der Welt darstellt und weiter behauptet: „Schönheit und Vollkommenheit des Ganzen ist dabey der allgemeine Endzweck der Natur."125 Nun hat sich die kritische Philosophie Kants und die Praxis der empirischen Naturforschung bemüht, die Verknüpfung von Physik, Theologie und Ästhetik, die mit dem teleologischen Parallelismus der schönen, zweckvollen und gottgeschaffenen Natur einhergeht, aufzulösen als zirkelhaft, als nicht beweisbar. Nicht nur der göttliche Plan der Schöpfung zum Wohle des Menschen blieb dabei auf der Strecke, sondern auch der „Realism der ästhetischen Zweckmäßigkeit der Natur", mit Kant zu sprechen,126 das objektiv Naturschöne, von dem Hegel nachdrücklich zeigt, dass es mit dem Kunstschönen, dem Werk des Geistes, weit unterlegen sei: „Denn die Kunstschönheit ist aus dem Geiste geborene und wiedergeborene Schönheit, und um so viel mehr der Geist und seine Produktionen höher steht als die Natur und ihre Erscheinungen, um so viel ist auch das Kunstschöne höher als die Schönheit der Natur."127 Humboldts Kosmos zeigt sich nun als ausgesprochen träge, wo es um das Opfer der objektiven logischen oder äshetischen Ordnung des Naturganzen geht. Zwar finden sich Bekenntnisse zur Physikotheologie bei Humboldt nicht unmittelbar so wie bei Sulzer oder Forster. Doch schon in der Geographie der Pflanzen gab es die „Beschauung einer so wundervollen, großen, oft furchtbaren und doch stets wohltätigen Natur."128 Was 123 Johann Georg Sulzer: Unterredungen über die Schönheit der Natur. Moralische Betrachtungen über besondere Gegenstände der Naturlehre [1770]. Reprint: Frankfurt a.M.: Athenäum 1971, S. 7, 9 , 1 0 , 23, 26, 62. 124 Ebd., S. 128. 125 Forster, Georg: Ein Blick in das Ganze der Natur. Einleitung zu Anfangsgründen der Thiergeschichte, in: ders.: Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, Bd. 8: Kleine Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte, hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin: Akademieverlag 1974, S. 77-97; 4 9 6 - 4 9 7 , hier S. 87. 126 Kritik der Urteilskraft, S. 290. Gemeint ist die Voraussetzung, dass die Natur wesentlich dazu bestimmt sei, für den Menschen schön zu sein. 127 Hegel: Ästhetik, S. 14. 128 G P , S . 71.
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immer an Gottesfurcht und einer gewissen Naturfrömmigkeit hier anklingt, darf von den Lesern auch herausgehört werden. Die Attribute des Göttlichen werden auf die Natur selbst übertragen. Die Beschäftigung mit der Natur birgt daher eine Verheißung, die für die Verluste einer zunehmend säkularisierten Welt entschädigt. Die Anrufung des Höheren in der Einleitung des Kosmos überträgt implizit die Teleologie der göttlichen Schöpfung auf die Teleologie des Bildungsprozesses: Natur, Naturforschung und die Gemeinschaft der Gebildeten beteiligen sich an einer gemeinsamen Dynamik.
Ein deutscher Schriftsteller französischer Sprache Universalismus, Kosmopolitismus, Mehrsprachigkeit Noch bevor Alexander von Humboldt 1804 aus Amerika nach Europa zurückkehrte, schickte er an Marc-Auguste Pictet eine Übersicht über sein geplantes Reisewerk, für das sogleich elf Abteilungen, von der eigentlichen Reisebeschreibung bis zu einzelnen thematischen Bänden, vorgesehen wurden.1 Was in diesem Brief scherzhaft als „carte de restaurateur"2 bezeichnet wurde, berücksichtigte dabei nicht nur unterschiedliche Disziplinen, die sich zu einer Gesamtsicht der bereisten Gegenden zusammenschließen sollten. Humboldt beabsichtigte zugleich, außer für Spezialisten für „gens de goüt"3 zu schreiben. Im übrigen kündigte er einen Werbeprospekt an, und „ce prospectus, il faut le faire en fran^ais, allemand, anglais, hollandais, espagnole et danois."4 Das geplante Reisewerk griff daher in mehrfacher Hinsicht ins Universale aus: Es sollte multidisziplinär sein und tendenziell jedes für die physische Welt wichtige Wissensgebiet abdecken;5 es sollte, das war implizit, Einblicke in globale Zusammenhänge der Naturgeschichte geben;6 es sollte eine möglichst große Gruppe aus den gebildeten Ständen erreichen und nicht zuletzt ein durchaus internationales Publikum. Der Autor selbst also verknüpfte die Universalität der gelehrten Befassung mit seinem latent globalen Forschungsgegenstand mit dem Ziel, seine Schriften möglichst international und allgemein zu verbreiten. Es lag nahe, den Weitgereisten zum Allgegenwärtigen, den Vielseitigen zum Universalisten, den Internationalen zum Kosmopoliten zu stilisieren, oder auch einfach zum Humanisten, wobei jeder einzelne dieser Totalbegriffe sich auf den anderen abbilden ließ. Die Tatsache, dass Humboldt auf deutsch und französisch veröffentlichte, scheint ihn tendenziell aus der Zuständigkeit von Nationalliteraturen überhaupt herauszuheben, ganz unmittelbar in die Weltliteratur. Die neuere Forschung spricht vorsichtiger von Inter- und Transkulturalität, Inter- und Transdisziplinarität und von 1
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Lettres d'Alexandre de Humboldt a Marc-Auguste Pictet (1795-1824), in: Le Globe. Journal Geographique [...], Geneve Novembre-Decembre 1868, S. 158. (Brief vom 3.2.1804). Ebd., S. 161 und 162. Ebd., S. 161. Ebd., S. 161. Ebd., S. 162: „cet ouvrage preuve que mes travaux ont embrasse l'ensemble des phenomenes." Ebd.: „Je leur montre un microcosme sur une feuille."
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Globalisierungsschüben, die bei Humboldt in enger Beziehung zu seinem Kosmopolitismus und seiner Mehrsprachigkeit stehen.7 Damit ist das Pathos des Universalen an spezifische historische Bedingungen zurückverwiesen. Bei näherem Zusehen akkumulieren sich auch Humboldts beeindruckende Sprachkenntnisse nicht zu einer annähernd universalen Gesamtkompetenz. Es ging dabei ganz offenbar auch nicht um die stetige Erweiterung eines einheitlichen linguistischen Horizonts, sondern um die Beherrschung verschiedener Ausschnitte aus Fremdsprachen zu ganz unterschiedlichen Zwecken. Hier die gelehrte Quellenlektüre, dort die Bequemlichkeit des Reisens in einem fremden Lande, dann wieder die angemessene Rede nach den Regeln einzelner Institutionen und gesellschaftlicher Gruppierungen. Die stark voneinander abweichenden Kontexte seiner jeweiligen Sprachstudien sind durch die Biographik belegt. Wie Humboldt das Französische so formvollendet beherrschte wie das Deutsche, wie er im frühen Unterricht und noch in späten Vorlesungsbesuchen das Lateinische und Griechische studierte, sich zum Vergnügen in hebräischer Kurrentschrift übte, wie er auf seinen Reisen englisch und spanisch fließend, das Italienische recht gut erlernte, wie er durch Reiseund Studiengefahrten Kenntnisse des Holländischen, des Dänischen und Schwedischen erwarb, wie er sich auf seine Forschungsreisen vorbereitete, indem er ausdauernd Privatunterricht im Persischen, nur rudimentär jedoch im Arabischen, Sanskrit und Russischen nahm.8 So weit das Spektrum der Interessen gespannt ist, die Humboldt zur Erlernung einer Sprache trieben, so können auch die Sprachen, in denen Humboldt veröffentlichte (lateinisch, deutsch, französisch), sowie die weiteren, in die er seine Schriften übersetzen ließ, nicht als neutrale Substrate von Sachverhalten betrachtet werden, die unverändert von einem Land ins andere transponiert würden. Im Laufe von Humboldts Leben war der Gebrauch einer Sprache in verschiedenen Zusammenhängen bestimmten Dynamiken unterworfen, was sich etwa in seinen Reflexionen über das Verhältnis von gelehrter oder wissenschaftlicher und sogenannter „schöner" Literatur bemerkbar macht, das sich übrigens in verschiedenen Ländern unterschiedlich darstellt; er hatte es mit der fortschreitenden Ausprägung bestimmter Fachsprachen zu tun; weiter mit dem Unterschied zwischen dem Inlands- und Auslandsgebrauch von Sprachen, wobei — im Gegensatz zum 18. Jahrhundert — eine zunehmende Vorliebe der gebildeten Leserschaft zur Lektüre überwiegend oder ausschließlich in 7 8
Vgl. Ottmar Ette: Weltbewußtsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002. Rekonstruiert bei Kurt-R. Biermann, Ingo Schwarz: Der polyglotte Alexander von Humboldt, in: Mitteilungen der Alexander von Humboldt-Stiftung (1997), H. 69, S. 39^44.
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der Muttersprache zu beobachten war.9 Insgesamt wirkten Humboldts Bücher in verschiedenen Ländern nicht nur unterschiedlich; die Originalausgaben erfuhren schon im Übersetzungsprozess eine mehr oder weniger radikale Veränderung. Technische Probleme der Übertragung in eine andere Sprache gingen dabei unmittelbar in inhaltliche Fragestellungen über. Wie sich die angedeutete sprachgeschichtliche Dynamik für den Autor von Werken über die Natur auswirkte, sei für das Lateinische angedeutet. Humboldt erlernte es so gut, wie es für die höhere Bildung eines Vertreters seines Standes üblich war, wahrscheinlich noch besser, nachdem die Mutter besonderes Gewicht auf eine ausgezeichnete Privaterziehung legte. Damit eröffnete sich ihm zugleich der Zugang zur internationalen Gelehrtensprache, die freilich damals schon nicht mehr in allgemeinem Gebrauch war. In Berlin etwa war die dominierende Sprache an der Akademie der Wissenschaften längst französisch. Traditionsgemäß auf Lateinisch erschienen weiterhin Dissertationen an den preußischen Universitäten, aber auch - für Humboldt relevant - botanische Schriften, wegen der bewährten Nomenklatur und Konventionen der wissenschaftlichen Pflanzenbeschreibung. So erschienen Humboldts Florae Fribetgensis Speämen 1793 auf Lateinisch, doch schon die ihr beigefügten AphoHsmi ex doctrinaphjsiologiae chemicaeplantarum wurden, wohl weil die Herausgeber für sie ein allgemeineres naturhistorisches und philosophisches Interesse angenommen hatten, bald ins Deutsche übersetzt.10 Die Beschreibungen aus den Alantes equinoxiales des Reisewerks waren der Tradition folgend lateinisch verfasst; sie wurden aber durch französische Einleitungen und Bildunterschriften begleitet.11 Die anderen Bände der Voyage mussten jeweils aus dem Französischen in die wichtigsten europäischen Sprachen übersetzt werden - unter welchen Mühen wird noch anzudeuten sein. So bedauerte Humboldt im Blick auf die gewünschte internationale Verbrei-
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Dabei geht die Tendenz zur ausschließlich muttersprachlichen Lektüre mit der Transformation von der universalen Gelehrsamkeit ded 18. Jahrhunderts zur Fachgelehrsamkeit des 19. einher. Vgl. Bernhard Fabian: Der Gelehrte als Leser, in: Herbert G. Göpfert (Hg.): Buch und Leser. Vorträge des 1. Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens 13. und 14. Mai 1976, Hamburg: Hauswedell 1977, S. 48-88, hier S. 53f. Friedrich Alexander von Humboldt's [...] Aphorismen aus der chemischen Physiologie der Pflanzen. Aus dem Lateinischen übersetzt von Gotthelf Fischer. Nebst einigen Zusätzen von Herrn Dr. und Prof. Hedwig und einer Vorrede von Herrn Dr. und Prof. Christ. Friedr. Ludwig. Leipzig: Voss und Compagnie, 1794. Vgl. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 255. Durch die Einfügung einer selbständigen Abhandlung (Plantae ayptogamicae) des englischen Botanikers Hooker in die Synopsis plantarum des Reisewerkes kam zu der Kombination Lateinisch-Französisch noch diejenige Lateinisch-Englisch dazu (ebd., S. 320).
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tung seiner Schriften mit guten Gründen die unwiderrufliche Verdrängung des Lateinischen durch nationale Bildungs- und Wissenschaftssprachen.12 Nicht um selber zur internationalen und zeitüberdauernden gelehrten Literatur beitragen zu können, nicht als ein Instrument der wissenschaftlichen Kommunikation pflegte also Humboldt wiederholt und noch im höheren Alter sein Latein; es war, weil sich für ihn seit seinen Göttinger Studien zunehmend historische und kritische Quellenstudien in den Vordergrund schoben. Das Lateinische war im Laufe der Jahre für Humboldt als empirischen Naturforscher fast bedeutungslos geworden. Insofern er sich aber, in der Relation historique, im Examen critique und im Kosmos, als Kulturhistoriker der Naturforschung verstand, mußte er sich zwangsläufig mit der lateinischen und griechischen Literatur seit der Antike auseinandersetzen. Im doppelten Sinne also war für Humboldt das Studium der klassischen Gelehrtensprachen historisch geworden. Das Französische allerdings, in dem Humboldt später so viel publizierte, war ihm zuerst nicht als nationale Bildungs- oder Wissenschaftssprache bekannt geworden. So wie das Lateinische kann es als eine universale Sprache angesehen werden, nicht der Gelehrten, sondern der europäischen Aristokraten; der Französisch-Unterricht sollte dem jungen Humboldt also nicht nur die Sprache seiner mütterlichen Ahnen nahebringen, sondern es ihm zweifellos ermöglichen, ein standesgemäßes Leben in welchem Land auch immer zu führen. In der Tat bewährte sich Humboldt noch bis weit ins neunzehnte Jahrhundert in diplomatischen Missionen, in denen das Französische der europäischen Aristokratie, nicht nur wenn es um die Beziehungen zwischen Paris und Berlin ging, dominierte. Doch auch mit einem so verstandenen Universalismus einer Aristokraten- und Diplomatensprache hat es seine regionalen Bewandtnisse. Wenn am preußischen Hof und an der preußischen Akademie der Wissenschaften das Französische und seine Muttersprachler besonders geschätzt waren, so stellten sich gleichzeitig andere Residenzen und Akademiesitze in anderen deutschsprachigen Regionen anders dar.13 Dem Zufall, dass Paris die Metropole der anvanciertesten Naturforschung war, ist es zu verdanken, dass Humboldt auf französisch publizier12
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Briefe Alexander von Humboldts an seinen Bruder Wilhelm, hg. von der Familie von Humboldt in Ottmachau, Berlin: Gesellschaft deutscher Literaturfreunde 1923, S. 146: „Wie erschwert doch die Verschiedenheit der Sprachen die Verständigung, seit man nicht mehr Latein schreibt! Wieviel Zeit verliert man mit Ubersetzungen!" (1824). Zur Geschichte der Berliner Akademie der Wissenschaften, sofern sie für Humboldt relevant ist, vgl. Beglückende Ermunterung durch die akademische Gemeinschaft. Alexander von Humboldt als Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, hg. von Kurt-R. Biermann, Berlin: Akademie-Verlag 1992 (=Beiträge zur Alexander-von-HumboldtForschung, 17), S. 27-29. Dort auch Hinweise auf die lang anhaltende Dominanz der französischen Sprache in dieser Institution.
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te, und die Prägung durch eine aristokratische Erziehung scheint diese biographische Wendung nur zufällig begünstigt zu haben.14 Aber gerade die Pflege des Französischen an der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin spricht auch für den historischen Zusammenhang von Monarchie und Gelehrtentum, zwischen denen das Französische als Sprache der Philosophes und der aufgeklärten Monarchen vermittelt. Im Pariser Salon findet Humboldt die Allianz von Adel und Wissenschaft wieder, die sich in Berlin schon in seinen Jugendjahren kaum noch bewährt hatte. Die Eleganz, die Humboldts Personalstil im Französischen immer wieder zugesprochen wird, hat jedoch sicherlich ihren Grund in der funktionalen Allianz zwischen einem aristokratischen Dekorum und einer Gelehrtenschaft, die in Frankreich weniger aus der Studierstube und der Universität hervorgeht, als aus dem unabhängigen Status, den königliche Pensionen verleihen. Humboldts Französisch war nicht lebenslang dasselbe, sondern passte sich den Gegebenheiten der diversen gesellschaftlichen Gruppen und publizistischen Aufgaben an, denen er sich gegenüber sah. So entschuldigte er sich in seinem frühen Briefwechsel mit dem Genfer Marc-Auguste Pictet für sein „franc^ais tudesque" und betonte, dass er seine französische Schriftform für unbedingt korrekturbedürftig halte, bevor sie weiteren Wissenschaftlern, etwa in Paris, vorgelegt werden könne.15 Nach seiner Rückkehr aus Amerika, wo er freilich mit Bonpland französisch sprach und zahlreiche Aufzeichnungen in dieser Sprache verfasste, bat er im Essai sur la Geographie desplantes um Verständnis dafür, dass er von der französischen Publikationspraxis entwöhnt sei,16 so wie er es in einem Brief an Goethe von 1806 für das Deutsche tat.17 Dahinter steht eine berechtigte Besorgnis, und es ist verständlich, dass er bis zuletzt seine französischen und deutschen Schriften nicht nur in fachlicher, sondern auch in sprach14
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Biographische Aspekte von Humboldts zwischen Frankreich und Deutschland wechselnden Wohnsitzen beleuchtet Lionel Richard: Alexander von Humboldt, ein französischpreußischer Gelehrter, in: Ottmar Ette u.a. (Hg.): Alexander von Humboldt - Aufbruch in die Moderne, Berlin: Akademie-Verlag 2001 (=Beiträge zur Alexander-von-HumboldtForschung, 21), S. 227-243. Lettres d'Alexandre de Humboldt a Marc-Auguste Pictet, Brief aus Bern vom 30.9.1795 (S. 130) und aus Bayreuth vom 24.1.1796: „j'ai de la difficulte de m'enoncer en fran$ais: c'est une ignorance qui me parait pardonnable, mais eile doit rendre desagreable la lecture de mes memoires. Je vous supplie ardemment, Monsieur, de vouloir bien retrancher, changer le style de mes lettres physiques. C'est un travail ingrat, je le sais; mais vous etes si bon!" (S. 140). [Alexander von Humboldt:] Essai sur la Geographie des Plantes [...], Paris, chez F. Schoell [...] 1807 (^Nachdruck Nanterre: Erasme 1990), S.VII. Dort auch der Hinweis auf die Autorschaft in einer Sprache, die nicht die Muttersprache ist. Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander von Humboldt, hg. von Ludwig Geiger, Berlin: Hans Bondy 1909, S. 298.
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lich-stilistischer Hinsicht gegenlesen ließ. Der Briefwechsel mit Varnhagen belegt dies für die Jahre der Arbeit am Kosmos,18 während sich Humboldt für die eigenhändige Übersetzung der Einleitung ins Französische der Zustimmung von niemand geringerem als „Villemain, Chateaubriand und Victor Hugo" versichert.19 Im Übrigen fallen die Urteile über seine Kompetenz in verschiedenen Sprachen, besonders im Französischen, unterschiedlich aus und reichen von überschwänglicher Bewunderung bis zum Belächeln entschuldbarer Stilblüten.20
Das Reisewerk und seine Übersetzungen Humboldts Arbeiten in deutscher und französischer Sprache, an diesem und jenem Publikationsort, die Sorge um realisierte und gescheiterte Übersetzungsprojekte auch in dritte Sprachen belehren darüber, dass ein vermeintlich überhistorischer Universalismus und Humanismus und wissenschaftliche Konzeptionen, die einer globalen Sicht auf die physische Welt gelten, keineswegs zugleich ein ideengeschichtliches Passepartout auf dem internationalen Buchmarkt darstellen. Nicht nur blieb Humboldts Schriftstellerkarriere zu Lebzeiten weitgehend ein Phänomen der europäischen Kultur mit ihren außereuropäischen Ablegern.21 Auch innerhalb der 18
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Fontane hingegen wundert sich: „Varnhagen galt so sehr als ,erster Stilist', daß Humboldt ihm seinen Kosmos gab, um den Stil in Ordnung zu bringen. Ich bin nicht Humboldt, würde mich aber hüten, meinen Stil bei Varnhagen in die Feile zu geben. Es wirkt alles gedrechselt, schönrednerisch, altjungfernhaft." Theodor Fontane: Briefe an Georg Friedländer, hg. von Walter Hettche, Frankfurt a.M.: Insel 1994, S. 341 (Brief vom 12.4.1894). Briefwechsel mit Bessel, S. 204 (Brief vom 3.6.1845). Die Rede ist von „les fautes de frar^ais (parfois assez amüsantes) de l'auteur de Kosmos qui, dans l'ensemble, maniait admirablement notre langue dans laquelle il publia l'ediüon originale de plusieurs de ses ouvrages scientifiques." Jean Theodorides: Une amitie de savants ou siecle dernier: Alexander von Humboldt et Achille Valenciennes (Correspondance inedite), in: Biologie Medicale 1964, S.VTII. Der Verleger Gide dagegen schrieb anlässlich des Vorwortes von Humboldt zur französischen Gesamtausgabe der Werke Aragos: „Cette langue franfaise, vous avez toujours le droit de l'appeler la vötre, aucun ecrivain de notre pays ne pourrait rendre en plus beaux termes les sentiments qu'avait su vous inspirer le savant et l'ami." (Zit. n. Biermann, Schwarz: Der polyglotte Alexander von Humboldt, S. 40). Die erstaunliche Verbreitung des Kosmos in fernen Ländern, über die sich Humboldt verschiedentlich, auch in einem Brief an August Böckh vom 10. 8.1849 freut, ist denn auch ein Effekt der kolonialen Zweigstellen des angelsächsischen Buchmarktes. (Hoffmann: August Böckh, S. 441). Bezeichnend in diesem Zusammenhang der Brief an Cotta vom 19.6.1850: „aber nach allem, was man mir aus den fernsten Colonien, Indien, China, Neu Holland, dem Cap und Nordamerika schreibt, ist die Zahl der Exemplare ungeheuer." Ebenfalls an Cotta am 16.11.1852: „Wo es in Großbritannien und den Colonien so viele Menschen geben kann, die mich lesen! Es sind jetzt 4 englische Uebersetzungen, 2 span., 2 franz., 1 holländ., 1 ital., 1 schwed., 1 dän., 1 poln., 1 russische Uebers. vom Kosmos, im Ganzen 14." In diesen Zusammenhang gehört auch, dass in Amerika eigene deutschspra-
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europäischen Länder ergaben sich bei der Vermitdung der Schriften Verwerfungen: Sie hängen mit der Disponibilität der Verleger und Übersetzer zusammen, mit der Dauer des Translationsprozesses, mit verschiedenen Lesererwartungen und außerdem mit der kulturell weit differierenden Perspektivierung ein und desselben Problemzusammenhangs aus Humboldts Forschertätigkeit in den Ländern. Nirgends lässt sich das besser rekonstruieren als bei Humboldts eigener Redaktion oder Übersetzung derjenigen Werke, die auf französisch und deutsch erschienen, den beiden Sprachen, die Humboldt druckreif beherrschte. Dass nicht alle Teile des geplanten großen Reisewerks, und ohnehin nicht im gesteckten Zeitrahmen zustande kamen, wurde schon gesagt. Im Hinblick auf die Sprachen, in die alles in kürzester Zeit zu übersetzen sei, täuschte sich Humboldt noch mehr. Selbst die große Parallelaktion einer französischen und deutschen Ausgabe, die Humboldt zunächst allein bewältigen wollte,22 musste bald an verschiedene Übersetzer delegiert werden und erschien weder zeitgleich noch in gleichem Umfang. Alle Varianten der Beteiligung Humboldts an der deutschen Ausgabe der Voyage sind gegeben, wofür ein paar Beispiele genannt seien: Den Auftakt zur vielbändigen Reisedokumentation, die Geographie des Plantes, übertrug er selbst komplett, wobei er, wie noch zu zeigen, einige bezeichnende Änderungen vornahm. Das sogenannte Mexikowerk suchte er 1808 zugleich deutsch und französisch zu verfassen, vertraute dann aber die deutsche Version einem Übersetzer an. Dessen Leistungen veranlassten ihn allerdings, alles drastisch noch einmal zu revidieren, so dass er Cotta 1811 den ersten Band als selbständige Bearbeitung des französischen Textes vorlegte. Cotta zog für die Übersetzung der weiteren Bände einen anderen Autor heran. Anderen Übersetzungen ins Deutsche gab Humboldt nach einem gründlichen redaktionellen Durchgang sein nulla obstat.23 Auch nach ihrem Umfang fielen die Fassungen in verschiedenen Sprachen unterschiedlich aus. In der deutschen Ausgabe der Vues des Cordilleres von 1810 fehlte ein Großteil des französischen Textes,24 und noch die von Humboldt autorisierte Neuübersetzung seines Reiseberichts von Hermann Hauff, die 1859 bis 1860 (teilweise posthum) erschien, ließ
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chige Ausgaben des Kosmos veranstaltet wurden. Vgl. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 396. Ette schränkt denn auch seine Behauptung, der Kosmos sei ein „Welterfolg" sogleich mit der Bemerkung ein, er sei „zumindest in den wichtigsten europäischen Sprachen schon zu Lebzeiten erschienen" (Ette: Weltbewußtsein, S. 95). Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 68. So autorisierte Humboldt die deutsche Ubersetzung des zoologischen Teils, ebd., S. 179. Umgekehrt autorisierte er nach gründlicher Durchsicht die französische Übersetzung der Ansichten der Natur von 1807 wie auch der späteren Ausgaben, ebd., S. 50. Ebd., S. 146.
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ganze 750 Druckseiten der Originalausgabe fort.25 In andere Werke dagegen - der spätere Erscheinungstermin machte es möglich - fügte Humboldt Aktuelles oder Revidiertes ein, in den astronomischen Teil von 1810 zum Beispiel längere wissenschaftsgeschichtliche Exkurse.26 Auch die deutsche Fassung der Asie centrale wies gegenüber der Originalausgabe Ergänzungen im Umfang von 130 Druckseiten auf.27 Manche Ubersetzungen prüfte Humboldt akribisch, etwa die englische Ausgabe des Reiseberichts,28 in anderen Fällen gab er die Verantwortung dafür ab, indem er den Übersetzer/Herausgeber/Bearbeiter auf dem Titelblatt erwähnen ließ 29 Ausgerechnet im Fall des Reiseberichts auf deutsch waren der Verfasser oder der Verleger weniger heikel, jedenfalls erschien 1815—1832 eine Erstausgabe, von der Humboldt noch 1840 behauptete, er habe sie nie zur Ansicht bekommen.30 Humboldt vernachlässigte die Ubersetzungen ins Deutsche, vielleicht gerade weil er hier besonders kompetent gewesen wäre. In einem Brief an Heinrich Christian Schumacher von 1846 findet sich das Bekenntnis: Vielen Dank für Ihre sehr gegründeten Correctionen der Übersetzung der „Asie centrale". Ich habe nie eine Silbe dieser Ubersetzung oder von der Idelerschen des „Examen critique" gelesen, ja ich habe eine solche horreur vor dem Gedanken, [sich] in seine vaterländische Sprache übersetzt zu sehen, daß ich meine 16 Bände der übersetzten „Monuments des peuples indigenes de l'Amerique", des „Essai politique sur la Nouvelle Espagne", der „Voyage aux regions equinoxiales" in meinem Leben nicht im Hause gehabt habe. Ebenso ist es mit dem engflischen], französischen], hollän[ischen], italienischen, ... „Kosmos", ob ich gleich den Übersetzern immer zärtliche Danksagungsbriefe schreibe.31
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Ebd., S. 86. Zu den Unterschieden zwischen der französischen und deutschen Ausgabe des astronomischen Teils vgl. ebd., S. 228. Ebd., S. 360. Ebd., S. 103. So im Falle des erwähnten Centrai-Asien von 1844, das im Titel den Übersetzer Wilhelm Mahlmann als Herausgeber ausgibt, Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 361. Vgl. Brief an Cotta d.J. vom 20.1.1840 „ich habe nie auch nur unaufgeschlagen diese deutsche Uebersezung gesehn." Zit. n. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 83. Zur Geschichte der deutschen Ausgaben der Reisebeschreibung vgl. auch Ottmar Ette: Von Surrogaten und Extrakten: Eine Geschichte der Ubersetzungen und Bearbeitungen des amerikanischen Reisewerks Alexander von Humboldts im deutschen Sprachraum, in: Karl Kohut, Dietrich Briesemeister, Gustav Siebenmann (Hg.): Deutsche in Lateinamerika - Lateinamerika in Deutschland, Frankfurt a.M.: Vervuert 1996, S. 98— 126. Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Heinrich Christian Schumacher. Zum 200. Geburtstag von H. C. Schumacher hg. von Kurt-R. Biermann, Berlin: Akademie-Verlag 1979 (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 6), S. 117.
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Immerhin konnte Humboldt mit dem Verlagshaus Cotta auf einen sehr kontinuierlichen Partner jener französischen Verlage rechnen, die sich in den Jahrzehnten der Veröffentlichung der Voyage ablösten. Schwierigkeiten mit der Zensur scheint es kaum gegeben zu haben,32 Urheberrechtliches war selten Gegenstand der Korrespondenzen über die deutsche nach der französischen Ausgabe. Dagegen waren die Werke in England offenbar urheberrechtlich kaum geschützt,33 weshalb es auch zu konkurrierenden Übersetzungen kam, etwa im Falle der Ansichten der Natur 184934 oder des Kosmos,35 Cotta versuchte seine Interessen zu wahren, indem er das Erscheinen der deutschen Ausgaben zum Teil verzögerte, bis die autorisierte englische Übersetzung auf den Markt kommen konnte.36 Einem regelrechten Handelskrieg scheint die deutsche Ausgabe der Observations astronomiques 1810 zum Opfer gefallen zu sein, da Humboldt sich erinnert, „um der Bücherbesteuerung in Dover zu entgehen", sei „der ganze Vorrath meiner astron. Beobachtungen auf Veranstaltung der Buchhandlung ins Meer geworfen" worden.37 Ein Originaltitel wird durch die Übersetzung zu einem anderen Werk. Die Sprache ist kein neutrales Feld, wie Humboldt selber sehr wohl wusste, da er sich schon früh, und nicht erst auf Anregung seines Bruders, mit den anthropologischen und historischen Aspekten der Sprachen, ihrer Genese und ihren Transformationen befasst hatte. Seinen Korrespondenzen mit Verlegern und seinen eigenen Übersetzungen und Bearbeitungen lässt sich entnehmen, dass er sein Publikum zumindest in Deutschland, Frankreich und England unterschiedlich einschätzte und entsprechend zu bedienen suchte. Gemeint sind damit nicht allein rhetorische oder stilistische Aspekte, sondern zugleich ein epistemologischer Habitus. Am deutlichsten tritt er in allen übersetzten Werken beim Gebrauch unterschiedlicher Maßeinheiten oder spezifischer Fachterminologien zutage, die sich aus der jeweiligen Praxis empirischer Forschung in verschiedenen Ländern ergaben. Im frühen 19. Jahrhundert bemühten sich zwar die Forscher um Normalmaße und ihre internationale Vergleichbar32 33
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Vgl. Brief an Cotta, 15.12.1812. Ein Vertrag zwischen Preußen und England über das Urheberrecht von 1846 scheint auf das nunmehr fortgeschrittene Projekt des Kosmos im Nachhinein nicht mehr anwendbar gewesen zu sein. Vgl. Ulrike Leitner: Die englischen Übersetzungen Humboldtscher Werke, in: Acta historica Leopoldina 27 (1997), S. 63-74, hier S. 71. Zwei Ausgaben: 1849 und 1850; Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 45—49. Drei Ausgaben; ebd., S. 402-415. So für Ansichten der Natur (Vgl. Brief Humboldts an Georg von Cotta vom 21.6.1849, vgl. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 46.) Ebenso für Kosmos Band 3 und 4 (Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 406). Nach einer Noriz von 1850, zit. n. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 230.
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keit. Nicht immer unterzogen sich jedoch die Übersetzer der Humboldtschen Bände der Mühe der vielen Umrechnungen, und wo sie es taten, kam es auch leicht zu erläuternden Kommentaren.38 Hinter den Maßen stehen eben auch differierende Methoden. Damit ist angedeutet, dass es auch kulturell unterschiedliche Auffassungen von Wissenschaft gibt, wenn denn von einer Wissenschaft gesprochen werden kann, und nicht besser von Wissenschaften. So bildeten einzelne Disziplinen, etwa die Mathematik oder die Elektrizitätslehre in Frankreich und Deutschland unterschiedliche Forschungsschwerpunkte heraus,39 sie waren in besonderen Institutionen zu Hause und wurden von unterscheidbaren Gruppen von wissenschaftlich Tätigen ausgeübt: so besteht in Deutschland ein Zusammenhang zwischen dem Aufschwung der Naturwissenschaften und ihrer Forschung und Lehre an Universitäten, während sich in Frankreich lange, aber eben wohl nicht auf Dauer, die Absicherung individueller Wissenschaftler durch öffentliche Ämter oder Pensionen mit ihrer losen Repräsentation in zentralen Akademien bewährte.40 So bildeten sich in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Publikationsorgane mit ihren charakteristischen Rhetoriken oder Fachsprachen heraus, offenbar mit einer in Deutschland länger anhaltenden Vorliebe für Monographien, während andernorts ein dezidierter Ubergang zur naturwissenschaftlichen Veröffentlichung in Zeitschriften stattfand.41 Zu dieser Ausdifferenzierung der Wissenschaften gehört schließlich die in Deutschland, England oder Frankreich durchaus variierende Erörterung der Frage, wo sich denn die Publikationen zu einer Forschungsreise wie 38
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Vgl. etwa die englische Ausgabe des Kosmos, die E.C. Otte für den Verlag Henry Bohn besorgte. Neben der Umrechnung der Maße finden sich als solche gekennzeichnete Anmerkungen der Übersetzerin; vgl. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 411 f. Für die Mathematik zeigt etwa Catherine Goldstein Unterschiede in der Soziologie der Mathematiker, und zwar zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert, wobei sich aber auch zunehmend Unterschiede der Institutionalisierung und der Fragestellungen in den europäischen Ländern zeigen. Ein Topos ist dabei die größere Anwendungsorientierung der französischen „Polytechniques" gegenüber der stärker theoretisch orientierten universitären Mathematik in Deutschland. Catherine Goldstein: Zahlen als Liebhaberei und Beruf im siebzehnten und neunzehnten Jahrhundert, in: Michel Serres (Hg.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998 (1989), S. 4 8 7 - 5 2 5 , hier S. 520. Für die Elektrizitätslehre zeichnet Rudolf Stichweh unterschiedliche Motive und Dynamiken in der französischen und deutschen Forschung nach, die selbst politische Interessen mit einschließen: Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740—1890, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 2 5 2 - 3 1 7 . Robert Fox: Scientific Enterprise and the Patronage of Research in France 1800—70, in: G. L'E. Turner (Hg.): The Patronage of Science in the Nineteenth Century, Leyden: Noordhoff International Publishing 1976, S. 9 - 5 1 . Vgl. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems, S. 301.
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der Humboldt-Bonplandschen innerhalb des Spektrums aller Publikationen in einem Land situieren. Der Verfasser des Reisewerkes wünschte sich zwar für das gesamte Opus eine allgemeine Verbreitung, mußte aber bald einsehen, dass die einzelnen Partien notwendig auf sehr unterschiedlich gelagerte Interessen und verschieden große Kreise gebildeter Leser stoßen würden. So überlegte sich Humboldt, welche der vielen Bände zuerst erscheinen sollten, um das Interesse an der Reise in die Aquinoktialgegenden wachzuhalten, und welche mit größerer Dringlichkeit in andere Sprachen zu übersetzen seien. Tatsächlich verzögerte sich die Übersetzung von Werken, die Humboldt für wichtig hielt, dann lange oder kam gar nicht zustande.42 Das Lavieren zwischen wissenschaftlicher Exaktheit und der erwünschten Lesbarkeit äußerte sich bei der Übersetzungstätigkeit in der Suche nach stilsicheren Spezialisten - ein Anspruch, der sich nur selten verwirklichen ließ. Über Rehfues, den Übersetzer des Mexikowerks ab Band zwei, schrieb Humboldt 1811 an Cotta: „Herr Rehfuess besizt viel Geschmack u. schreibt vortreflich, aber die Geognosie ist ihm sehr fremd. In den Bogen, welche ich corrigirt [...] zurückgegeben, war der wahre innere logische Sinn oft kaum zu errathen." 43 Humboldts Wunsch, der Übersetzer möge im Titel der deutschen Ausgabe für eine freie Bearbeitung verantwortlich zeichnen, entsprach Cotta allerdings nicht.44 Dergleichen Erfahrungen ließen Humboldt der französischen Übersetzung des Kosmos mit Sorge entgegen sehen. Die Schwierigkeit, den Kosmos zu übersezen, ist aber zwiefacher, ganz verschiedener Art. 1. Der rein wissenschaftliche Theil verlangt eine Mannigfaltigkeit von Kenntnissen, die bei einem Uebersezer vergebens in Frankreich gesucht würde 2. Die welche Astronomie, Geognosie, Meteorologie und Terminologie dieser Wissenschaften kennen, sind ganz unfähig, mit Geschmack und Lebendigkeit die rein litterarischen Theile zu übersezen.45
In die Übersetzung teilten sich daher Humboldt, der sich um die Einleitung kümmerte, vorübergehend H. Faye und schließlich Ch. Galusky, der das meiste bewältigte. Die erwähnten Probleme bestätigen, dass Humboldt selbst seine Werke als hybride Texte einschätzte, dass seine mehrfache Kompetenz als Autor angesichts fortgeschrittener diszipünärer Differenzierungen und einer deutlicheren Segmentierung auf den Buchmärkten nur schwer ihr Äquivalent in der umfassenden Befähigung eines 42 43
So wurde weder das Examen aitique, das heißt der Textteil des Atlas Geographique, noch die Α sie centrale ins Englische übersetzt. Vgl. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 195 (Brief an Cotta 11.12.1811).
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Ebd. An Georg von Cotta, 3.2.1845, zit. n. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 416.
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einzelnen Übersetzers fand. Galusky scheint die Schwierigkeiten doch bewältigt zu haben, denn er wurde von der Academie Frangaise für seine Version des Kosmos ausgezeichnet; als erster Übersetzer aus einer lebenden Sprache, wie Humboldt voller Genugtuung vermerkt.46 Dabei wollte die Academie offenbar die in Frankreich traditionsreiche Verbindung von Rhetorik und Gelehrsamkeit hochhalten.47 Besonders die englischen Verleger wünschten, Humboldts Werke im Blick auf kalkulierbare Leserinteressen deutlich der Fach-, Sach- oder Unterhaltungsliteratur zuschreiben zu können. Schon 1806 charakterisierte Humboldt das Interesse englischer Verleger an seinem Reisewerk in einem Brief an Pictet, der sich als Vermitder um die Übersetzung bemühte: „Le resultat [...] est: Monsieur, nous ne voulons aucun ouvrage scientifique, mais des contes ä peu pres comme ceux du Prince Libou, et surtout, surtout cette Statistique du Mexique, pour savoir ce que vaut la cochenille en place."48 Für Humboldt bestätigte sich dadurch ein Eindruck, den er schon gewonnen hatte, als er in Begleitung Georg Forsters die eher gleichgültige Aufnahme von dessen Werken im Londoner Publikum beobachtet hatte.49 Wo Humboldt den Geboten des englischen Buchmarktes nicht folgte, bekam es der Verfasser zu spüren. Im Vorwort zur englischen Ausgabe des Mexikowerkes kritisierte der Übersetzer John Black selber den umständlichen, ausufernden Stil des Originals.50 Der Rezensent des Quarterly Review bemängelte an der Reisebeschreibung, dass sie eine Mischung aus persönlichen Erlebnissen und wissenschaftlichen Beobachtungen darstel-
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Laut Brief an S.H. Spiker 1851, vgl. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 416. Zur Entwicklung der Verknüpfung von Rhetorik, Stil und Naturforschung seit Buffons Rede an der Academie francaise 1753 bis ins 19. Jahrhundert vgl. Wolf Lepenies: Die Speicherung wissenschaftlicher Traditionen in der Literatur: Buffons Nachruhm, in: W.L.: Autoren und Wissenschaftler im 18. Jahrhundert. Linne - Buffon - Winckelmann - Georg Forster - Erasmus Darwin, München: Hanser 1988, S. 6 1 - 8 9 . Lettres d'Alexandre de Humboldt a Marc-Auguste Pictet, S. 174. In einer 1801 entstandenen, nicht zur Veröffentlichung bestimmten Aufzeichnung erinnert sich Humboldt: „Für das, was man in Forster Geist und verschmelzendes Genie nennen kann, haben die Engländer nicht eben Sinn. Sie suchen entschiedenes Dichtertalent, tiefsinnige Philosophie oder gründliche Gelehrsamkeit. Ein Gemisch von alle dem, ein Mensch, der von dem allem nur etwas besaß und mehr Form als Materie war, konnte daher wenige interessieren. Dazu konnte Forster in London nicht Deutsch sprechen, und die Muster, nach denen er sich gebildet, waren Deutsche, Kant, Schiller.. .Seine höchsten Flüge waren unübersetzbar und unverständlich." Alexander von Humboldt. Aus meinem Leben, hg. von Kurt-R. Biermann, München 1987, S. 37. Political Essay on the Kingdom of New Spain [...] by Alexander de Humboldt, London 1811, S. VIII. Zit.n. Leitner: Die englischen Ubersetzungen, S. 66.
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le.51 Und der Herausgeber einer englischen Neuübersetzung der Relation histonque von 1852 begründete sein Unternehmen, indem er behauptete, die ältere Fassung sei „somewhat deficient in that fluency of style without which a translated work is unsatisfactory to the English reader."52 Der leichteren Lesbarkeit und dem Unterhaltungseffekt zuliebe hatte die zweite Übersetzerin der Reisebeschreibung, Th. Ross, zahlreiche Passagen wissenschaftlichen und statistischen Inhalts fortgelassen, auch mit der Begründung, sie seien überholt. Festzuhalten ist, dass die englischen Übersetzer und Verleger in ihrer Praxis der Bearbeitungen und Kürzungen den hybriden Charakter einiger Humboldtscher Werke aufzulösen und ihren Lesern statt dessen Reisebeschreibungen oder Handbücher mit nunmehr unzweifelhaften Gattungsmerkmalen anzubieten suchten. Es handelt sich dabei um verlegerische Strategien, die der vollzogenen Segmentierung des Buchmarktes Rechnung tragen und für die Rezeptionsgeschichte Humboldts wegweisend sein sollten. Seine Werke, die in den wichtigsten deutschen Literaturgeschichten seit Mitte des 19. Jahrhunderts als kanonische Texte vermerkt sind, interessierten die Leser in Europa schon bald nicht mehr in der Originalgestalt und ihren getreuen Übersetzungen, sondern in freien Bearbeitungen, die in der Personalbibliographie lange Listen bilden.53 Eine der frühesten und erfolgreichsten freien Nacherzählungen der Relation histonque waren dabei W. Macgillivrays The Travels and Researches of Alexander von Humboldt von 1832, die im Übrigen eine Darstellung der asiatischen Reise mit einschlossen. Der Bedarf an dergleichen populären Reiseerzählungen war auch in Deutschland so groß, dass Macgillivray sofort übersetzt wurde und in Leipzig drei Auflagen erfuhr.54 In England scheint sich demnach schon früher als anderswo, und, wie gesehen, für Humboldt unübersehbar ein Trend zur pragmatischen Information über bereiste Länder einerseits und zur unterhaltenden Reiseliteratur andererseits abgezeichnet zu haben. Eine Auswertung der Rezensionen zu englischen Übersetzungen ließ jedenfalls den Schluss zu, dass Humboldt die englische Leserschaft im Hinblick auf den Ausbau der eigenen Kolonialmacht interessierte und sofern er spannende Lektüre versprach.,55 nicht jedoch, weil man sich neue Einsichten in ungeahnte 51 52 53 54 55
Quarterly Review 21 (1819), March, S. 320, zit. bei Leitner: Die englischen Übersetzungen, S. 69. Aus dem „Editor's preface", zit. η. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 108. Für die Relation histonque vgl. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 8 9 103, 110-113; für den Kosmos ebd., S. 398-400, Vgl. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 110-112. Rupke, Nicolaas Α.: Die Popularisierung Alexander von Humboldts in der europäischen Zeitschriftenliteratur bis zur deutschen Reichsgründung, in: Gudrun Wolfschmidt (Hg.):
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Zusammenhänge der Naturforschung mit philosophischen Weiterungen erhoffte. Dazu kommen Erwägungen ideologischen Charakters, die Humboldt zeitig, wenn auch nicht schon bei der Abfassung des Originaltextes, berücksichtigte. So bedachte er, dass in Kriegszeiten ein Autor französischer Sprache in England wohl besonderer Empfehlungen bedurfte, und verfasste 1808 eigens eine zehnseitige autobiographische Skizze zum Gebrauch für seinen Vermittler bei der englischen Ausgabe des Reisewerks, Marc-Auguste Pictet; darin rückte er seine Reisen und seine Beziehungen zu Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in England in den Vordergrund.56 Im übrigen bat er Pictet schon 1805, lange bevor seine Relation historique auf französisch erschienen war: „Vous y changerez tout ce qui vous parait trop local, trop en faveur de la France, trop peu Chretien, etc."57 Zugleich ermutigte er dazu, nur Auszüge aus einzelnen Abteilungen der Voyage übersetzen zu lassen.58 Eine Übersetzerin des Kosmos ließ Passagen fort, die auf Humboldts Zweifel an der biblischen Schöpfungsgeschichte schließen ließen, „wahrscheinlich aus Gewissensscrupel", wie Humboldt vermutete: „Das sonderbare Eiland!"59 Dergleichen Eingriffe in den Wordaut veranlassten zwar den Verleger einer Konkurrenzausgabe zu schreiben: „I have not conceived myself justified in omitting passages, sometimes amounting to pages, simply because they might be deemed slighdy obnoxious to our national prejudices."60 Doch die getreuere Übersetzung sollte in der Tat wegen der sichtlichen Reserve gegenüber religiösen Überlieferungen in England auf Kritik stoßen, die Humboldt, wohl wegen geschmälerter Absatzchancen, beunruhigte.61 Er sprach gar von einem andauernden systematischen Widerstand gegen seine Werke in England,62 mit welchem Recht, lässt sich nach den teilweise hohen Auflagen der englischen Ausgaben nicht entscheiden. Auch in Deutschland fühlte sich Humboldt als
56 57 58 59 60 61
62
Popularisierung der Naturwissenschaften, Diepholz, Berlin: GNT-Verlag 2002, S. 223—237, hier S. 231. Lettres d'Alexandre de Humboldt a Marc-Auguste Pictet, S. 1 8 0 - 1 8 9 . Ebd., S. 169 Ebd., S. 167. Briefe von Alexander von Humboldt an Christian Carl Josias Freiherr von Bunsen, Leipzig: Brockhaus 1869, S. 82 (Brief vom 28.9.1846). Zit. n. Leitner: Die englischen Ubersetzungen, S. 72. Vgl. Brief an Varnhagen vom 2.10.1845 mit Bezug auf die Rezension des Westminster Review (Briefe von Alexander von Humboldt an Vanhagen von Ense, Leipzig 1860, S. 182f.) „In England hat man mich, weil ich in Frankreich lebte und wegen meiner politischen Färbung im Quarterly Review 30 Jahre lang verfolgt" (Brief an Cotta vom 26.10.1849); vgl. auch den Brief an denselben Adressaten vom 15.2.1854.
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Wissenschaftler oder als Schriftsteller verkannt.63 Einen Rückschluss lassen dergleichen Vermutungen jedenfalls zu: Das Geschäft der Publikation in verschiedenen Ländern brachte eine Reihe von ideologischen, wirtschaftlichen und konzeptionellen Erwägungen mit sich, die den Originaltext zum Teil drastischen Veränderung aussetzten und den Einfluss des Verfassers auf sein Werk spürbar einschränken konnten. Auf der anderen Seite stand Humboldt diesen Verwerfungen nicht passiv gegenüber, wenn er auch im Laufe der Jahrzehnte nicht alle Ubersetzungsprojekte mit gleicher Umsicht verfolgen konnte. Nur einmal besorgte er die Ausgabe eines Werkes in französischer wie in deutscher Sprache alleine: im Falle des Essai sur la Geographie desplantes, 1807 in Paris und im selben Jahr unter dem Titel Ideen einer Geographie der Pflanzen in Tübingen erschienen. Der Vergleich der beiden Ausgaben beweist, dass Humboldt sich der Ubersetzung mit besonderer Sorgfalt widmete. Mehr noch, die beiden Versionen können als Kunststück der interkulturellen Transposition angesehen werden. Offenbar hatte Humboldt für sein Büchlein und dessen Autor in Deutschland eine ganz andere Stellung vorgesehen als in Frankreich. Essai und Ideen im Vergleich Auf den ersten Blick betreffen die Unterschiede zwischen der deutschen und französischen Version nur Marginales. Die Gegenstände der empirischen Beschreibung sind identisch, mit der Ausnahme, dass in der deutschen Fassung zwei Hauptgruppen von Pflanzenformen zusätzlich aufgelistet werden.64 Maßeinheiten, etwa Toisen, Meter, Schuh sind nicht durchgängig übersetzt, dabei finden sich auch in geringem Umfang Abweichungen in den Größenangaben selbst. Humboldt berücksichtigt außerdem die Orte der Publikation. Einmal rein geographisch, wenn es heißt „zu Paris" statt nur „depuis mon retour de Philadelphie."65 Dann kulturell, wenn etwa in der deutschen Fassung eine kurze Präzisierung zu Georg Forster fehlt, dessen Bekanntheit er beim Publikum wohl voraussetzen darf, dafür aber eine knappe Apposition zu Jean-Baptiste Biot eingefügt wird.66 Und schließlich politisch, wenn aus der „permission", mit der er die spanischen Kolonien habe bereisen können, eine „Freiheit" wird, und sich in der Würdigung „einer edeln Nation" („d'une nation franche et loyale") ganz neu die Formulierung findet: „die im Drange der 63 64 65 66
Vgl. die Briefe an Cotta vom 20.1.1840 und 26.7.1854. Essai, S. 31; Ideen, S. 25-28. Ideen, S. VII; Essai, S. VIII. Ideen, S. III und VII; Essai, S. VI und VIII.
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Begebenheiten ihre Eigentümlichkeiten erhalten hat".67 Hierbei ist 1807 an das französisch besetzte Spanien und nicht nur an dieses eine militärisch bedrängte Land zu denken. Fast gleichzeitig und noch deutlicher sollte Humboldt in den Ansichten der Natur auf die politische Situation anspielen.68 Die Einleitung, die ebenfalls auf die französische Besatzung bezug nimmt, fehlt zwar in der Übersetzung durch J.B.B. Eyries nicht.69 Interessanter ist allerdings, dass Galusky bei seiner französischen Übertragung der dritten Auflage 1849 die Gelegenheit nutzte, in einem Vorwort Humboldts Naturschilderungen gegen die nunmehr ganz andersartigen politischen Probleme in Frankreich anzuführen.70 Die unterschiedlich datierten Ausgaben für die verschiedenen Länder gehen also auf die aktuellen nationalen Gegebenheiten ein. Es ist dabei immer dieselbe Rhetorik der „freien Natur", die gegen die unfreie politische Welt ins Feld geführt wird. Sie lässt sich in ganz unterschiedliche Kontexte transponieren, sofern die Leserschaft sie sich aus dem einen oder anderen Grund assimilieren kann. Die deutschen Ideen einer Geographie der Pflanzen von 1807 sind freilich nicht als Dokument einer politischen Manifestation zu lesen. Ins Gewicht fällt vielmehr eine rhetorische und ideelle Anpassung des französischen Textes an die kulturellen Gegebenheiten in Deutschland. Sie ergibt sich schon daraus, dass die analogen Begriffe aus beiden Sprachen semantisch unterschiedlich weit reichen. „Essai", „Tableau physique", „atmosphere" assoziieren anderes als „Ideen", „Naturgemälde" und „Luftkreis"; „Schöpfung" bezeichnet nicht genau „monde", „zart" hat eine andere Färbung als „elegans".71 Humboldts deutsche Version weicht allerdings nicht nur durch die unvermeidlichen semantischen Verschiebungen von der französischen ab, sondern stellt eine im emphatischen Sinne „deutsche" Fassung dar. Er rückte seinen Essai sur la Geographie des plantes mit der Übertragung in den Zusammenhang des Idealismus und der literarischen Klassik in Deutschland, das heißt er erarbeitete einen Text,
67 68
69 70
71
Ideen, S. XI-XII; Essai, S. XII. AN, S. 8. Andernorts der „Geist" der „von der Gegenwart bedrängt' (AN, S. 172). Vgl. auch GP, S. 66: „So schafft Einsicht in den Weltorganismus einen geistigen Genuß und eine innere Freiheit, die mitten unter den Schlägen des Schicksals von keiner äußeren Macht zerstört werden kann." Tableaux de la Nature [...] par Α. de Humboldt, Paris, chez F. Schoell 1808, Preface de l'auteur, Tome I, S. V - X . Tableaux de la nature. Edition nouvelle [...], Tome 1 et 2, Paris, Gide et J. Baudry 1851, Tome 1, S. VI-VII: „aujourd'hui, apres un Intervalle de plus de quarante annees, il [Humboldt] retrouve la meme tristesse, plus generale et plus profonde. Les circonstances, sous ce rapport, sont plus que jamais favorables au succes de ce livre". Zit. n. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 50. Essai, S. 37, 39, 32; Ideen, S. 33, 35, 29.
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der deutliche Merkmale einer spezifisch deutschen Kultur der Epoche aufweisen sollte. Woran lässt sich das erkennen, und wie kam es dazu? In der Vorrede zu den deutschen Ideen findet sich eine längere Passage, wo in der französischen Version nur eine knappe Entschuldigung wegen des möglicherweise mangelhaften Stils des lang Verreisten steht.72 Diese Passage ordnet Humboldts Pflan^engeographie unmissverständlich der empirischen und beschreibenden Naturforschung zu, begrüßt aber zugleich das „kühne Unternehmen eines der tiefsinnigsten Männer unsers Jahrhunderts", womit niemand anderes als Schelling gemeint ist, von dessen Naturphilosophie und einer höchst wünschenswerten Zusammenarbeit von Philosophen und Empirikern er sich Bahnbrechendes erhofft.73 Und schon kommt Humboldt wieder auf die Authentizität der Beobachtungen zu sprechen, auf die sich die folgenden Ausführungen stützen werden. Scheint daher vordergründig die Hommage an Schelling für die eigenen Forschungen folgenlos, so lässt einen eine weitere Erwähnung des Philosophen in Form eines Zitats aufhorchen: „wenn Geschichte der Naturobjekte freylich nur als Naturbeschreibung gedacht werden kann; so nehmen dagegen, nach dem Ausspruche eines tiefsinnigen Denkers1, selbst Naturveränderungen einen ächt historischen Charakter an, wenn sie Einfluß auf menschliche Begebenheiten haben." Die Fußnote verweist auf Schelling's System des transzendentalen Idealismus,74 Beide Passagen lassen erkennen, dass Humboldt vor allem von einem Aspekt der Schellingschen Naturphilosophie fasziniert war: gemeint ist die Konzeption der Natur, nicht nach der Analytik spezifisch unterschiedlicher Stoffe, sondern nach einer alles umfassenden Dynamik, namentlich genannt werden neben dem „historischen Charakter von Naturveränderungen" der „nie beendigte Streit entgegengesetzter Grundkräfte der Materie", außerdem Phänomene wie „Organismus, Wärme, magnetische und elektrische, der bisherigen Naturkunde so unzugängliche, Erscheinungen".75 Freilich betätigt sich Humboldt in der Pflanzengeographie deswegen nicht sogleich als Naturphilosoph Schellingscher Provenienz. Doch hält er sich den Weg zu denkbaren revolutionären Erkenntnissen, die auf dem Wege der naturphilosophischen Hypothesenbildung gewonnen werden könnten, demonstrativ offen. Die Berücksichtigung der unterschiedlichsten, dynamisch aufeinander bezüglichen Parameter in der Pflanzengeographie stellt sich daher in der deutschen Version noch eher als Vorstufe 72 73 74 75
Essai, S.VII. Vgl. Ideen, Vorrede, S. IV-VI. Ebd., S. 24. Ebd., S. IVf. und VI.
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für eine umfassend philosophische Behandlung der Natur dar, während sie in der französischen Ausgabe als erweitertes Register für erschöpfende empirische Analysen gedeutet werden könnten. Die auch sonst für diese Zeit belegte Annäherung an Schelling sollte es Humboldt möglicherweise auch erleichtern, an naturphilosophische Fragen anzuschließen, mit denen er sich beim deutschen Publikum schon seit seinen A\phorismi ex doctrina... und den Versuchen über die gereifte Muskel- und Nervenfaser bekannt gemacht und die er im Umfeld Goethes erörtert hatte. Goethe, speziell der Verfasser der Pflan^enmetamorphose ist als Widmungsträger ein weiterer Bezugspunkt der deutschen Ausgabe der Pflan%mgeographie. Die Berührung der deutschen Version mit der Philosophie des deutschen Idealismus geht dabei unmittelbar mit einer Stilisierung der deutschen Version zu einem „klassischen" literarischen Text einher. Die gedankliche Sympathie zu Schelling sollte bei Humboldt später vor allem pragmatischen Allianzenbildungen und polemischen Abgrenzungen in der Wissenschaftsorganisation weichen.76 Vorläufig jedoch schien ein gemeinsamer Weg möglich. Sich von der Goetheschen Botanik und einem mit „Klassischem" verbundenem Literaturbegriff zu distanzieren, hielt Humboldt niemals für nötig. Vergleicht man die französische und deutsche Version unter diesen Aspekten, so fällt auf, dass die Pflanzenwelt für das deutsche Publikum lebendiger und dynamischer dargestellt wird, was sowohl Goethe als auch Schelling genehm gewesen sein wird. Wo der Essai etwas „au milieu de ces recherches" suchte, wollen die Ideen „Einsicht in den Weltorganismus" gewinnen;77 die französischen Pflanzen „leben" einfach („vivent"), die deutschen können „sich entwickeln".78 Selbst die „histoire des arbres" gewinnt mit den deutschen „Wanderungen" der Bäume mehr Bewegung.79 Aus einem „tissu de fibres plus ou moins lache" werden „Gefässe, ausgedehnt und von Saft strotzend, oder früh verengt und zu knorriger Holzmasse erhärtend".80 Während sich im Französischen das Gestein veränderte „ä mesure qu'il [l'observateur] s'eloigne du niveau de la mer", heißt es im Deutschen: „Selbst das Gestein [...] verändert seine Natur, je
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77 78 79 80
Vgl. Petra Werner: Übereinstimmung oder Gegensatz? Zum widersprüchlichen Verhältnis zwischen A. v. Humboldt und F.W.J. Schelling, Berlin 2000 (=Berliner Manuskripte zur Alexander-von-Humboldt-Forschung), die Humboldts Verhältnis aus den Quellen belegt und zu dem Fazit kommt, dass eine gedankliche Sympathie eben der Pragmatik gemeinsamer Belange bei gleichzeitig zunehmender intellektueller Distanznahme gewichen sei. Essai, S. 35; Ideen, S. 52 [sie!, muss heißen 32], Essai, S. 14; Ideen, S. 3. Essai, S. IX, Ideen, S. VIII. Essai, S. 33; Ideen, S. 30.
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weiter es sich über die Meeresfläche erhebt," wird also zum Subjekt des Geschehens,81 so wie andernorts die Pflanzengeographie selbst.82 In der deutschen Fassung ist außerdem der Zusammenhang zwischen Natur- und Kulturgeschichte noch stärker herausgearbeitet als im Original, und nicht nur durch die Schellingpassagen, die im Französischen fehlten. In der Betonung der anthropologischen und kulturgeschichtlichen Bedeutung von Vegetationen scheint Humboldt sich auf jene deutsche Universalgeschichte zu beziehen, die er zweifellos von Herder her kannte, und an der er sich schon früh beteiligen wollte, wie aus dem langen Brief an Schiller von 1794 ersichtlich. Noch einmal zum Vergleich der beiden Versionen: Aus „connoissance des formes" wird ein „physiognomisches Studium der organischen Geschöpfe."83 In der allgemeinen Bestimmung des Forschungsfeldes der Pflanzengeographie gab die französische Fassung an, sie „fait une partie essentielle de la physique generale."84 An gleicher Stelle präzisiert die deutsche Version, dass diese „Disciplin" „die interessantesten Materialien zur Geschichte unseres Planeten" enthält.85 Zuerst war nur von „tout les phenomenes" die Rede, dann aber von „allen physikalischen und moralischen Erscheinungen";86 Dinge, die zuerst einfach „observes" waren, sind es im Deutschen „seit Jahrhunderten";87 aus „population" wird „Kultur",88 aus „l'homme" „ackerbauende Völker"89 oder aus den „epoques les plus reculees" „das Menschengeschlecht seit seiner frühesten Kindheit",90 aus „animaux" „Menschen- und ThierRacen",91 aus „civilisation" „Volksmenge und moralische Bildung".92 Wo im Französischen Pflanzen einfach „contraires ä la culture" sind, machen sie „den Nomaden des alten Germaniens ganze Länderstrecken unbewohnbar". 93 „Weltorganismus", „Entwicklung", „Bildung", „Menschengeschlecht", das sind Schlagworte und zugleich Programm einer deutschen Philosophie, die der Naturgeschichte endehnte Konzepte auf Geschichte und Ästhetik ausdehnt.94 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94
Essai, S. 38; Ideen, S. 34. Ideen, S. 14. Essai, S. 13; Ideen, S. 1. Essai, S. 13. Ideen, S. 2. Essai, S. X; Ideen, S. IX. Essai, S. 23; Ideen, S. 15. Essai, S. 17; Ideen, S. 7. Essai, S. 27; Ideen, S. 20. Essai, S. 28; Ideen, S. 21. Essai, S. 19; Ideen, S. 9. Essai, S. 28; Ideen, S. 21. Essai, S. 18; Ideen, S. 8. Eine Umwertung im Sinne der vulgarisierten deutschen Philosophie erfahrt auch ein Titel Humboldts in der Ubersetzung J. L. Idelers: Examen critique de l'Histoire de la Geo-
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Wohl im Blick auf die Kultur von Jena und Weimar, die Humboldt ja persönlich kennengelemt hatte, beteiligte er sich mit den Ideen einer Geographie der Pflanzen an einer Literatur, in der Forschung, Philosophie und Ästhetik gemeinsam repräsentiert sein sollten. Im Gegensatz zum französischen Original bemüht sich daher die deutsche Version um eine größere Anschaulichkeit der deskriptiven Prosa. Eine Passage im Vergleich: „les plantes ligneuses se perdent peu ä peu et font place aux plantes herbacees et alpines; plus haut on ne trouve plus que des graminees et des cryptogames."95 Dagegen im Deutschen: „Den hohen Waldbäumen folgt niedriges Gebüsch mit knorrigen Ästen; diesem folgen duftende Kräuter, deren zartwollige Oberfläche mit gegliederten Saugröhren besetzt ist. Weiter hinauf, in luftdünneren Höhen, wachsen gesellig die Gräser, und an die einförmige Grasflur stösst die Region der kryptogamischen Gewächse."96 Ein weiteres Beispiel: „Des cryptogames analogues, tantot etiolees, tantot colorees, se ramifient sur les voütes des mines et des grottes souterraines"97. Dagegen in den Ideen·. „Ihnen ähnliche Kryptogamen breiten, bald buntgefärbt, bald von blendender Weisse, ihr weiches faseriges Gewebe über die Stalaktiten-Wände unterirdischer Grotten und über das feuchte Holz der Bergwerke aus."98 Der Aufwand an zusätzlichen Adjektiven und Partizipien ist Teil einer stilistischen Hebung der deutschen gegenüber der französischen Fassung, die sich auch sonst beobachten lässt. So wird aus „traditions differens" die „uralte Mythe vieler Völker".99 Andernorts belegen „altgriechische Mythen" etwas, das im Französischen weniger ehrwürdig bezeugt ist: „on a pretendu avoir trouve."100 Humboldt verwendet im Deutschen verstärkt Metonymien: „Gewürme" statt „insectes", „Pflanzendecke" statt „vegetation", „im Inneren der Wälder", statt der Kontinente, die „Pelasger der altgriechischen Eichenwälder", statt „la Grece", „das frische Grün der Wiesen" statt „une vaste prairie", „über Meer und Land" statt „sur toute la surface du globe", „des Atriden" statt „d'Achille", „beide Hemisphären" statt „les deux Ameriques", „gemäßigte Zone" ergänzend zu nur „Europe".101 graphie du Nouveau Continent et des Progres de 1'Astronomie nautique aux quinzieme et sixieme siecles par Alexandre de Humboldt, Paris: Gide 1836, 1837; Kritische Untersuchungen über die historische Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und die Fortschritte der nautischen Astronomie in dem 15ten und löten Jahrhundert von Alexander von Humboldt. Aus dem Französischen übersetzt von Jul. Ludw. Ideler, Berlin: Nicolai 1836. 95 Essai, S. 37. 96 Ideen, S. 53. 97 Essai, S. 14. 98 Ideen, S. 2f. 99 Essai, S. 20; Ideen, S. 10. 100 Ideen, S. 22; Essai, S. 28. 101 Ideen, S. 2, 11, 17, 25, 20, XII, 3; Essai, S. 14, 21, 25, 30, 27, XII, 15.
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Gelegentlich wird aus der wörtlichen Benennung ein Vergleich, aus der „surface de l'Ocean" die „meeresgleiche Ebene".102 Erscheint also der Essai sur la Geographie des Plantes insgesamt nüchterner und eher als ein Handbuch zur Grundlegung weiterer empirischer Studien, so geben sich die Ideen ambitionierter in philosophischer, kulturhistorischer und stilistischer Hinsicht. In einigen Passagen der deutschen Fassung ist ein fühlendes Subjekt der Naturbetrachtung stärker präsent als in der französischen. Der Anblick exotischer Versteinerungen in kalten Klimaten stimmt „betroffen", nichts dergleichen im Französischen.103 Andernortes erinnert Humboldt an die „Wünsche des Landschaftsmalers", während der Essai sich nur für die Botaniker sorgte.104 Schließlich fällt der Vergleich zwischen der Vegetation der Tropenländer und Europas in der deutschen Fassung pathetischer aus: Während im Französischen der Bewohner der Äquatorialgegenden nur den Anblick aller Pflanzen genießen durfte, die ihn ohnehin umgeben, kann er sich im Deutschen aller Pflanzenformen überhaupt erfreuen, und in der Fortsetzung des Gedankens ersetzt der Superlativ der deutschen Fassung den Elativ der französischen. Für die deutschen Leser findet Humboldt noch zusätzliche Worte, um auszudrücken, was ein Europäer „in der Einsamkeit einer öden Heide" („sans sortir de ses foyers", hieß es im Französischen nur) an der tropischen Natur entbehren muss.105
Klassische deutsche Literatur Dass Humboldt sich wahrscheinlich in eine deutsche Literatur im emphatischen Sinne einzureihen wünschte, lässt sich zudem aus dem Vergleich der beiden Widmungsblätter ablesen. Der Essai ist A.L. de Jussieu und R.L. Desfontaines dediziert.106 Der Text in aufwendigen verschnörkelten Schrifttypen nimmt den größten Teil des Blattes ein, wobei der Zugehörigkeit der beiden Botaniker zu den bedeutendsten wissenschaftlichen Institutionen Frankreichs gedacht wird (vgl. Abb. 8). Seitdem sie im neugegründeten Pariser „Jardin des plantes" spezielle Zuständigkeiten für Taxonomie respektive Pflanzenanatomie entwickelt hatten, gelten sie in der Tat in der Wissenschaftsgeschichte als Pioniere einer disziplinären und
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Essai, S. 41; Ideen, S. 37. Ideen, S. 14; Essai, S. 22. Ideen, S. 21; Essai, S. 28. Ideen, S. 31; Essai, S. 34. Eine Reproduktion des Süches von P.J.F. Turpin findet sich bei Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 236.
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institutionellen Differenzierung innerhalb der Botanik.107 Im oberen Drittel des Titelblattes findet sich eine Schmuckvignette: Sie zeigt eine kleine Pyramide, von blühenden Zweigen umrankt, zu deren Füßen die Hauptwerke der Widmungsträger liegen und an der ein Medaillon mit den verschränkten Initialen ihres Nachnamens lehnt. Die Widmung bezieht sich also ganz auf die französische Fachgelehrtenwelt und ihre Einrichtungen, denen auch rhetorisch und (typo)graphisch konventionell gehuldigt wird. Anders dagegen das Widmungsblatt zu den Ideen (vgl. Abb. 9). Nicht nur kann Goethe als exzentrischer Widmungsträger gelten, wenn auch durch die Abbildung der Pßan^enmetamorphose zu Füßen einer Göttin seiner als Botaniker gedacht ist. Die Vignette löst die vorgelegte Pflanzengeographie aus den engeren Grenzen einer definierten Disziplin ausdrücklich heraus. Das Verhältnis von Widmungstext und Vignette hat sich im Vergleich mit der französischen Dedikation umgedreht: Die Zeichnung von B. Thorwaldsen nimmt den größten Raum ein, und sie stellt die Entschleierung der Diana von Ephesus durch Apollo dar, zu lesen also als ein produktives Verhältnis von Kunst und Naturforschung im antikisierenden Gewand. Mehr als Pelasger und Atriden deutet diese in Rom entworfene Vignette auf den Kontext der deutschen Klassik hin. Suchte Humboldt also im Blick auf ein deutsches Publikum, dem Botanik in ein und demselben Bändchen mit Digressionen in Philosophie und Ästhetik angeboten werden durfte, die Ideen über die Grenzen des botanischen Sachtextes hinaus zu treiben, innerhalb derer der Essai verblieb, so liegt dies schließlich auch an einer „klassischen" Kulturpolitik, in deren Einfluss der Forschungsreisende 1804 geriet. Die Erinnerung an die Zeit in Jena und Weimar, die ja schon fast zehn Jahre zurücklag, erfuhr dabei wohl vor allem durch den Bruder eine entscheidende Belebung. Wilhelm von Humboldt setzte sich dafür ein, dass Alexander nach seiner Rückkehr aus Amerika die Laufbahn eines deutschsprachigen Schriftstellers fortsetzen möge, und scheint ihn mit geeigneten Lektüren versorgt zu haben: „jetzt würde mein Bruder vorzüglich deutsche Bücher brauchen. Er findet eine neue Welt überall, und muß sich in sie hineinstudieren."108 So schrieb Wilhelm aus Rom, wo Alexander zu ihm gestoßen war. Dass hierbei nicht nur an deutsche Sprachübungen zu denken ist, steht außer Frage. Denn Wilhelm von Humboldt war zugleich als Linguist, Philosoph und Anthropologe damit beschäftigt, Zusammenhänge zwischen den Nadonalsprachen, kulturellen Eigentümlichkeiten von Völkern, ja selbst originären Wesenszügen von Sprachgemeinschaften zu erforschen — 107 Ilse Jahn (Hg.): Geschichte der Biologie, 3. Aufl., Jena: Fischer 1998, S. 274. 108 Wilhelm von Humboldts Briefe an Johann Gottfried Schweighäuser, hg. und erläutert von Albert Leitzmann, Jena: Fromann 1934, S. 27 (Brief vom 21.6.1804).
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Studien, die übrigens spätestens 1812 im Verein mit dem Bruder auch auf die altamerikanischen Sprachen ausgedehnt werden sollten.109 In den Sog einer solchen bewussten kulturellen Profilierung deutscher Literatur ist Alexander von Humboldt zweifellos geraten, als er die Ideen ψ einer Geographie der Pflanzen formulierte. Dabei gehörte zur Arbeit an einer deutschen „nationalen" Literatur noch nicht einmal der Aufenthalt im Land der Muttersprache. Dass die Übersetzung 1805 in Rom abgefasst wurden, förderte sogar die Stilisierung im Sinne der Deutschen Literatur als legitimer Nachfolgerin der griechisch-römischen Antike, wie sie im Widmungsblatt, in der Rede von Germanen, Pelasgern, Atriden und der Mythologie angedeutet ist. Als Signal ist daher auch die Widmung der Ansichten der Natur „Seinem theuren Bruder Wilhelm von Humboldt in Rom" zu verstehen.110 Einiges deutet daraufhin, dass Wilhelm von Humboldt seinen Bruder an der programmatischen Identifikation der modernen Deutschen mit den alten Griechen beteiligen wollte. Schon 1799 zählte er in einem Brief an Karl Gustav von Brinkmann seinen Bruder zusammen mit Schiller, Gentz, dem Adressaten und dem Absender zu den Deutschen, die Madame de Stäel schon deswegen nicht verstehen könne, weil sie „nie weder ein griechisches noch ein deutsches Wort verstanden hat."111 Der Bruder wurde dabei für die Theorie der besonderen Affinität zwischen Deutschen und Griechen vereinnahmt, die Wilhelm von Humboldt erst in der Auseinandersetzung mit der Weimarer Klassik entfaltet hatte.112 In Rom scheint er sich mit einem gräzisierenden Stilideal im Deutschen angefreundet zu haben, das er sowohl in den Ideen als auch in den Ansichten zu verwirklichen suchte. In seiner Abhandlung zu Goethes Hermann und Dorothea von 1798 hatte Wilhelm von Humboldt nicht nur Goethe mit Homer verglichen, sondern auch auf Besonderheiten der „Diction" und auf die charakteristische Verwendung der „Beiwörter"
109 „Jetzt bin ich für meinen Bruder mit einer Abhandlung über die Amerikanischen Sprachen beschäftigt", heißt es in einem Brief Wilhelm von Humboldts von 1812 an Chrisdan Gottfried Körner (hg. von Albert Leitzmann, Berlin: Bering 1940, S. 87); im selben Brief ist auch davon die Rede, „wie sich von den Sprachen auf die Nationen, ihre Abstammung und Geschichte, und ihren Charakter und ihre Bildung zurückschließen läßt; so wäre ich nicht abgeneigt, darüber etwas Allgemeines zu schreiben, worin dann die Entwicklung der philosophischen Ideen die Hauptsache wäre." 1 1 0 AN, S. 5. 111 Vgl. Wilhelm von Humboldts Briefe an Karl Gustav von Brinkmann, hg. und erläutert von Albert Leitzmann, Leipzig: Hiersemann 1939, Brief vom 13.12.1799. 1 1 2 Vgl. Manfred Landfester: Griechen und Deutsche. Der Mythos einer .Wahlverwandtschaft', in: Helmut Berding (Hg.): Mythos und Nation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 1 9 8 - 2 1 9 .
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aufmerksam gemacht.113 Die in mancher Hinsicht programmatische Schrift veranlaßte Alexander von Humboldt vielleicht auch dazu, für seine Ideen einer Geographie der Pflanzen eine ähnliche Ausstattung zu wünschen, wie er an Goethes Hermann und Dorothea gesehen hatte.114 Humboldts Aufsatz zur Pflanzengeographie und die etwas späteren Ansichten versuchen sich im Gräzisieren.115 In den Ideen sind Pflanzen oder Teile von ihnen „dichtgedrängt", „buchenblättrig", „immerblühend", „großblättrig", „schwarzrissig", „schiefgestreift", „buntfarbig", „weitschattig", „schwerthförmig", „zweyzeilig", „schöngefärbt", haben einen „krautartigen Stamm", „schwarzgeflammte Lamellen", „oft bläulichgrüne, glatte, stechendspitzige" oder „seidenartig glänzende, quergestreifte, fast lilienartige Blätter, von denen die jüngeren, gelblichgrün und eingerollt, senkrecht emporwachsen, indem die älteren, vom Winde zerrissen, mit den Spitzen, wie die Krone der Palmen, abwärts gebeugt sind. Goldgelbe länglichte Früchte, traubenartig zusammengehäuft", Stengel, die sich „kandelaberartig theilen", eine „strahlige Krone auf nackten, geringelten, oft schlangenartig gewundenen Stämmen".116 Die Berge sind „feuerspeyend" („volcaniques"),117 vom „vielbesuchten Pensylvanien" ist die Rede. All diese Epitheta fehlen in der französischen Ausgabe ganz und gar. Mit den verschiedenen, auf den ersten Blick nicht einmal auffalligen Veränderungen, die Humboldt bei der Übersetzung an der Geographie des plantes vornahm, stellte er seine kleine botanische Abhandlung bewußt in den Zusammenhang einer deutschen idealistischen, zugleich philosophischen und schönen Literatur und Schloß damit an ein Motiv in seiner Schriftstellerkarriere an, das in den späten 90er Jahren schon angeklungen war, als er sich für Schillers Hören engagierte und die Nähe Goethes suchte, und das er weiterverfolgen würde, indem er eine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit dem Verleger Schillers und Goethes initiierte: Er bereitete sich darauf vor, ein Autor der deutschen Sprache nicht nur im linguistischen, sondern auch im ideellen Sinne zu werden, und passte sich damit ganz offensichtlich neueren Entwicklungen zur Nationalisierung von Literatur und Bildung seit 1800 an. Seine Mehrsprachigkeit führte 113 Wilhelm von Humboldt: Über Göthes Herrmann und Dorothea, in: Werke, hg. von Albert Leitzmann, Bd. 2, Berlin: Behr 1904 (Nachdruck Berlin: de Gruyter 1968), S. 1 1 3 - 3 2 3 , hier S. 174 und 311 f. 1 1 4 Vgl. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 37, dort der Hinweis auf den betreffenden Brief an J.F.Cotta vom 14.2.1807. 115 Friedrich Muthmann: Alexander von Humboldt und sein Naturbild im Spiegel der Goethezeit, Zürich, Stuttgart: Artemis 1955, S. 71: „Er erinnert an griechische Vorbilder; oft scheinen sogar seine Ausdrücke in ihrer unmittelbaren Leuchtkraft dem Wortschatz des Homer entnommen zu sein." 1 1 6 G P , S . 4, 1 1 , 2 6 , 2 7 , 2 5 , 2 6 . 1 1 7 GP, S. 6.
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nicht dazu, dass er ein europäischer Schriftsteller wurde; vielmehr versuchte er, sich in zwei Sprachen jeweils ein eigenes Autorenprofil zu schaffen. „Die deutsche Gefühlsweise" Einfacher wäre es sicherlich gewesen, wenn sich Humboldt als Registrator rein sachlicher Mitteilungen verstanden hätte, die sich auch international leichter hätten verbreiten lassen. Ganz abgesehen von den ihn bedrängenden historischen, philosophischen und ästhetischen Fragen hing jedoch auch sein Verständnis von Autorschaft und literarischem Ruhm eng von der Weiträumigkeit seiner Themen und der Ambitioniertheit der damit einhergehenden Form- und Stilfragen ab. Im Kosmos ist es schließlich deutlich ausgesprochen, dass sein Wunsch, als Autor zu überleben, sich mit der Geschichtlichkeit seiner ästhetischen und kulturellen Beschäftigungen erfüllen könnte, während die positive Naturforschung lediglich veraltet. Es ist ein eher deutscher Weg, den Humboldt mit diesem Selbstverständnis als Autor eingeschlagen hat. Wenn nämlich ganz allgemein die grundsätzlicheren philosophischen und historischen Fragen, die mit der Naturforschung einhergehen, in den verschiedenen Ländern mit deutlicheren Unterschieden erörtert werden als die empirische Forschung,118 so bestand in Deutschland im ganzen 19. Jahrhundert eine besondere Neigung, Ästhetisches, Philosophisches, Kulturgeschichtliches mit Fragen der Naturwissenschaft zu verbinden, oder, wie es aus soziologischer Sicht heißen konnte, es bestand „ein erhöhter Weltbildbedarf."119 Dieser Herausforderung hat sich Humboldt besonders gestellt, insofern er deutsche Werke schrieb,120 je weiter das Jahrhundert voranschritt desto mehr. Die 118 Stichweh konstatiert noch für das Ende des 19. Jahrhunderts: „Internationalität der Wissenschaft gilt auf der Ebene der Fakten und experimentellen Beobachtungen, während Theorien, Hypothesen, methodische Themata etc. einen deutlich nationalen Index tragen"; Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems, S. 436. 119 Ebd., S. 317. Uwe Pörksen weist auf die Verspätung hin, mit der Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern die Nationalsprache als Gelehrtensprache akzeptiert habe. Da dies erst im späten 18. Jahrhundert geschehen sei und mit der Etablierung einer gebildeten Öffentlichkeit und der Hochkonjunktur naturwissenschaftlicher Begründungen für die Weltinterpretation schlechthin zusammenfalle, ergebe sich in Deutschland ein enger Nexus zwischen Nationalliteratur, Naturforschung und Philosophie. Uwe Pörksen: Aspekte einer Geschichte der deutschen Naturwissenschaftssprache und ihrer Wechselwirkungen zur Gemeinsprache, in: ders.: Deutsche Wissenschaftssprachen. Historische und kritische Studien, Tübingen: Narr 1986, S: 10-39, hier S. 19 und 29. 120 So beobachtet Wilhelm Richter, dass gegenüber der französischen Voyage die „deutschgeschriebenen Werke das Allgemeine, menschlich Interessierende" betonen. Wilhelm Richter: Der Wandel des Bildungsgedankens. Die Brüder Humboldt, das Zeitalter der Bildung
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Arbeit an den späteren Werken und Ausgaben akzentuierte daher die nationalen Lesererwartungen, konstruierte sie allerdings nicht erst nachträglich für die betreffenden Schriften. So bezeichnete Humboldt im Rückblick die Ansichten der Natur als sein Lieblingsbuch und als „rein auf die deutsche Gefühlsweise berechnetes Buch".121 Er sorgte sich um die Ubersetzung des Kosmos ins Französische, etwa im Brief an Friedrich Wilhelm IV., in dem er dem Adressaten bestätigte, wie schwierig manches in die farbenlose, ungeschmeidig-nüchterne französische Sprache zu übertragen sein würde. Die angeregte Furcht, hier durch eine ungeschickte Ubersetzung lächerlich gemacht zu werden, hat mich zu dem bitteren Entschluß gebracht, die ersten fünf Bogen selbst zu übersetzen. Es ist eine schmerzhafte Operation „incorpore vivo" gewesen, eine Entäußerung von allem, was einen Hauch des Lebens, der Beseelung gibt; ein ewiges Umschreiben und Tappen nach Äquivalenten. 122
Mit ähnlichen Gründen warnte er Hermann von Pückler-Muskau vor einer französischen Ubersetzung eines Werks, die „der Anmuth, der Naturwahrheit, der schönen Harmonie der Sprache" wohl kaum gerecht werden könne.123 Die Relation historique hingegen bezeichnete er als ein Buch, das „unserer Litteratur leider! fremd geblieben ist,"124 Gerade die Aufnahme des zweiten, kulturgeschichtlichen Bandes des Kosmos wurde für Humboldt zu einem Prüfstein auf national unterschiedliche Lektüregewohnheiten, wobei ihn die freundliche Aufnahme in Deutschland und die kritische in England nicht überraschen konnten.125 Dabei ist nicht auszuschließen, dass man in England die Breite der ästhetischen Überlegungen Humboldts im Kosmos in gleichem Maße für überflüssig hielt, wie man deutliche Bekenntnisse zur Religion vermißte, das heißt wohl, die Kunst wurde dort nicht als mögliches Substitut der Religion gedeutet.126
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und die Gegenwart, Berlin: Colloquium (—Historische und pädagogische Studien, hg. von Otto Büsch und Gerd Heinrich, 2), S. 27. Varnhagen, S. 244 (Brief vom 15.10.1849, anlässlich der dritten Auflage). Alexander von Humboldt und das Preußische Königshaus, S. 182 (Brief vom 15.3.1845). Briefwechsel des Fürsten Hermann von Pückler-Muskau, hg. von Ludmilla AssingGrimelli. 5. Bd. Berlin: Wedekind und Schwieger 1874, Nachdruck Bern: Herbert Lang 1971, S. Hf. (Brief vom 27.12.1844). Brief an Cotta, 20.1.1840. Briefe an Cotta vom 12.4.1847, 28.11. 1847, wo Humboldt bekennt, dass „an dieser deutschen Stimmung, mir dem Greise, viel liegt", zugleich darauf eingeht, dass der erste und zweite Band des Kosmos unterschiedliche Leserinteressen bedienen, und vom 15.2.1854, wo von der Ablehnung des zweiten Bandes, den Humboldt für den besten hält, in einer englischen Rezension die Rede ist. Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems, S. 209, weist darauf hin, dass „die ästhetische Konzeption der Natur [...] in einer Beziehung funktionaler Äquivalenz zur Religion" stehe.
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Sind die Bewertungen, die in dergleichen Äußerungen mitschwingen, authentische Bekenntnisse zu einer deutschen Literatur oder wendige Hommagen an ein national gesinntes Publikum? Blieb Humboldt ein deutscher Autor, aus Tradition, aus Neigung? Oder weil er nur in Deutschland als „Naturalist" wirklich in die Literaturgeschichte eingehen konnte, das heißt aus taktischen Erwägungen, während in Frankreich und England die Naturforschung schon längst von der schönen Literatur Abschied nahm? Die Frage nach Humboldts Fortune in der Literaturgeschichte ist erst später zu verfolgen. Vorläufig jedoch ist noch einmal daran zu erinnern, wie leicht linguistische Besonderheiten der einzelnen Sprachen und unterschiedliche kulturelle Traditionen sich polemisch verwerten lassen. Die sprach- und ideengeschichtlich begründeten Unterschiede gingen unmittelbar in die Rhetorik vom Wesen der einzelnen Nationalcharaktere über, derer sich Humboldt seltener bediente, als dass sie auf ihn angewendet wurde. Dies ist umso auffalliger, als Wilhelm von Humboldt die Nationalsprachen an die anthropologische Rekonstruktion von Nationalcharakteren zurückzubinden suchte. 127 Alexander von Humboldt schöpfte indessen die Möglichkeiten, nationale Stereotype für seine Wahrnehmung in Deutschland oder Frankreich geltend zu machen, kaum aus. Es konnte zwar von Vorteil sein, wenn er als Deutscher für gelehrt und gründlich galt, oder von Nachteil, wenn dies mit Umständlichkeit und Pedanterie identifiziert wurde. Umgekehrt konnte Humboldt es nur begrüßen, als Franzose identifiziert zu werden, galten sie doch als elegant und eloquent, doch wäre dies mit dem Risiko verbunden gewesen, zugleich als oberflächlich und geschwätzig zu wirken. 128 Humboldt jedoch hielt sich mit der Bemühung solcher Stereotype sehr zurück, nur gelegentlich findet sich eine Spur, etwa in einem Privatbrief an die deutsche Frau eines russischen Ministers. Er wolle sich kurz fassen, damit die Gräfin Cancrin „nicht in Versuchung fallen [könne], wie unsere niederrheinischen Nachbaren, deutsch und langweilig für synonym zu halten." 129 127 Vgl. Günter Oesterle: Kulturelle Identität und Klassizismus. Wilhelm von Humboldts Entwurf einer allgemeinen und vergleichenden Literaturerkenntnis als Teil einer vergleichenden Anthropologie, in: Bernhard Giesen (Hg.): Nationale und kulturelle Identität, 3. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 304-349. 128 Zu den nationalen Stereotypen über Deutsche und Franzosen vgl. die Dokumentation von Ruth Florack: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen: nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart, Weimar: Metzler 2001. Die Einleitung betont, dass sie in beiden Ländern gleichermaßen lange vor der Nationalbewusstseinsbildung in Gebrauch kamen und sowohl positiv als auch negativ konnodert sein können, das heißt je nachdem, was sie jeweils beweisen oder wiederlegen sollen, aufgerufen werden. 129 Im Ural und Altai. Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Graf Georg von Cancrin aus den Jahren 1827—1832, Leipzig: Brockhaus 1869, hier im Brief an Gräfin Cancrin vom 29.8.1829, S. 89f.
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Umso häufiger wurden die üblichen Topoi auf die öffentlich zwischen Deutschland und Frankreich changierende Person Humboldt angewandt. Die Verknüpfung zweier nationaler Stereotype in der Charakterisierung Humboldts wird schon in den dreißiger Jahren geläufig, wenn gesagt wird, Humboldt verbinde „mit dem Glänze der französischen Darstellungsweise [...] die deutsche Gründlichkeit" oder wenn er als „Meister der Rede" bezeichnet wird, als „ein wundervoller Erzähler, der mit französischem Esprit deutsche Gediegenheit" verbinde.130 Folgenreich ist die Ausnutzung dieser Stereotype für die Mobilisierung nationaler oder gar nationalistischer Energien. Fichtes Reden an die deutsche Nation entstanden, als Alexander von Humboldts Ansichten der Natur, dieses „auf die deutsche Gefühlsweise berechneten Buch", im Naturempfinden einen Ausgleich für die politische Bedrängnis suchten. Das historische Umfeld war für beide dasselbe, wenn auch Alexander von Humboldt nicht die Politisierung der Kultur anstrebte, die Fichte beabsichtigte. Bei Fichte ist von der „Überlegenheit der deutschen Sprache" die Rede, ihre Naturgemäßheit wird gegen die „Künstlichkeit" der französischen ausgespielt,131 ein Schriftsteller solle vor allem „die Nation um sich versammeln;"132 einmal mehr werden „Gründlichkeit, Ernst und Gewicht unserer Denkweise" gepriesen.133 Die Wendung von den nationalen Sprachen und Kulturen ins Politische, die sich bei Fichte findet, lässt sich bei Humboldt kaum nachweisen. Erst der Verfasser des Kosmos behauptet einen Zusammenhang zwischen der vaterländischen Nationalsprache und der Befähigung zur Naturerkenntnis, wobei er sich patriotisch im Sinne einer Nation von Dichtern und Denkern äußert.134 Die polemische Beziehung auf einen normativen Nationalcharakter fehlt allerdings nicht im engsten Familienkreis, bei Bruder und Schwägerin, die sie jahrelang auch auf ihren in Frankreich lebenden Verwandten anwendeten. Die tendenziöse Applikation nationaler Stereotypen verwundern nicht in einem Kontext, in dem es auch im Anschluss an Herder eine philosophische Beschäftigung mit dem Geist der verschiedenen Völker gab, die wohl umso stärker forciert wurde, als Literatur und Sprache in 130 Gespräche, S. 1 2 8 , 1 8 3 . 131 Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation, Stuttgart: Kröner 1938 [1807/08], S. 51 f. 132 Ebd., S. 210. 133 Ebd., S. 217. 134 „Stolz auf das Vaterland, dessen intellectuelle Einheit die feste Stütze jeder Kraftäußerung ist, wenden wir froh den Blick auf diese Vorzüge der Heimath. Hochbeglückt dürfen wir den nennen, der bei der lebendigen Darstellung der Phänomene des Weltalls aus den Tiefen einer Sprache schöpfen kann, die seit Jahrhunderten so mächtig auf Alles eingewirkt hat, was durch Erhöhung und ungebundene Anwendung geistiger Kräfte, in dem Gebiete schöpferischer Phantasie, wie in der ergründenden Vernunft, die Schicksale der Menschheit bewegt" (K, 26).
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Deutschland ein Nationalbewusstsein in dem Maße verkörpern sollten, als es politisch schlecht stand.135 Die betreffenden privaten Äußerungen von Wilhelm und Caroline von Humboldt seien schon deswegen rekapituliert, weil sie am Anfang einer bis heute nicht beruhigten Geschichte der polemischen Vereinnahmung Humboldts für Deutschland, Frankreich oder den Kosmopolitismus stehen. Schon 1804 wünschte Caroline, ihr Mann möge den Schwager „zum Beibehalten seiner Deutschheit" ermahnen.136 Wilhelm beschwichtigte, gewisse Wesenszüge seien „nur die Außenseite einer tiefen inneren Regsamkeit, die auf etwas Besseres und Höheres hinausgeht. Darin ist er doch wieder echt deutsch und wahrhaft zu achten." 137 Als jedoch Alexander von Humboldt auf Dauer seinen Wohnsitz in Paris nahm und zusätzlich die politische und militärische Lage zwischen Preußen und Frankreich eskalierte, bedauerte der Bruder 1813 im Brief an seine Frau, dass Alexander dort geblieben sei und nicht am Krieg teilgenommen habe. 138 1814 war dann davon die Rede, er habe „unglückliche Vorurteile für alles Französische in der Kunst." 139 Caroline tadelte 1815 „sein Ergreifen des französischen Wesens als Deutscher" 140 , und beklagte 1817: „Das Französische ist in seine tiefste Individualität eingegangen," was man schon daran erkenne, dass er gar kein Interesse an „alten Kunstwerken", das heißt an der für das „deutsche Wesen" vereinnahmten gotischen Kunst habe.141 Eigenschaften eines vermeintlichen Kollektivindividuums Volk gingen unmittelbar in eine kulturelle und politische kontrastive Polemik über. Sollte es bei den Nationalcharakteren offenbar um urwüchsige Wesenszüge gehen, so blieb im ehelichen Briefwechsel freilich ungeklärt, ob Alexander von Humboldts Verhalten und Erscheinung als kulturelles und gesellschaftliches Produkt seines Aufenthaltes in Frankreich anzusehen seien. Die Genese des beklagten Phänomens steht wohl auch nicht zur Debatte, wo die Argumentation sich im Kreis bewegt: „Daß er französisch ist durch und durch, fühlt sich besonders daran, wie er nie den deutschen Geist begreift. Er hat auch den von 1813 nicht begriffen." 142
135 Vgl. das Kapitel „Kulturaustausch und politische Gegnerschaft von 1789 bis 1848" bei Florack: Tiefsinnige Deutsche, besonders S. 703f. 136 Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, hg. von Anna von Sydow, Bd. 1—7, Berlin: Mitder 1910-1916, Bd. 2, S. 226 (Brief vom 22.8.1804). 137 Ebd., S. 252 (Brief vom 18.9.1804). 138 Ebd., Bd. 4, S. 188 (Brief vom 6.12.1813). 139 Ebd., S. 352 (Brief Wilhelms vom 14.6.1814). 140 Ebd., Bd. 5, S. 88 (Brief vom 5.10.1815). 141 Ebd., Bd. 6, S. 81 (Brief Carolines vom 25.12.1817). 142 Ebd., S. 85 (Brief Carolines vom 27.12.1817).
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Zwar hatte Wilhelm von Humboldt Verständnis dafür, dass sein Bruder nur in Paris die richtigen Voraussetzungen für seine wissenschaftliche und publizistische Arbeit fand. Institutionelle und sozialgeschichtliche Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich, die jeweiligen Sprachen und kulturellen Gepflogenheiten, denen Alexander von Humboldt sich anpasste, wurden jedoch aus der Sicht von Bruder und Schwägerin zu Wesenszügen, die sich urwüchsig in der Politik wie in der Publizistik, im Denken wie im Ethos ausprägen mussten, mit eindeutig zugeordneten Bewertungen: Dem zweiten Teil der Relation bistonque sehe man „den Einfluß der Sprache [...] sehr an; es sind eine Menge von Stellen, die wirklich deutsch nicht würden gesagt worden sein, weil sie zu alltäglich geklungen hätten. Es ist unendlich schade für Alexander, daß er diese Wendung genommen hat."143 Als Alexander von Humboldt den Bruder ermunterte, für ein französisches Publikum eine Würdigung Schillers zu schreiben, und es ganz ins Belieben des Autors stellte, ob er sie deutsch oder französisch abfassen wollte, begründete er es mit Wilhelms Stilsicherheit im Französischen.144 Der jedoch lehnte ab und erklärte sich außerstande, französisch über Schiller zu schreiben, als habe er es für jeden anderen, wohl minder „deutschen" Gegenstand, leisten können.145 Die mindestens ambivalente Meinung Wilhelm Humboldts zu diesem Problem kommt gut in einem Brief an August Wilhelm Schlegel zum Ausdruck, ein Zeitgenosse, der sich ebenfalls für die Publikation in beiden Sprachen entschieden hatte: Ich kann zwar nicht läugnen, daß auch ich der Meynung bin, daß der Geist eines Schriftstellers nur bei dem Gebrauch Einer Sprache, und zwar derjenigen, die von Kindheit an die seinige gewesen ist, seine ganze Fülle, Gediegenheit und Freiheit hat, und daß derjenige doppelt zu verlieren Gefahr läuft, welcher die Deutsche mit der Französischen vertauscht. Bei den guten Schriftstellern dieser Art merkt man allerdings den Werken selbst keinen positiven Mangel darin an, allein es entsteht das billige Bedenken, ob das Werk nicht noch und viel anders, ohne dies Aufopfern des natürlicheren und vollkommneren Mittheilungsmitels geworden seyn würde. 146
So heißt es, wobei der Bruder ausdrücklich mit gemeint ist.
143 Ebd., S. 43 (Brief vom 8.11.1817). 144 in: Briefe Alexander von Humboldts an seinen Bruder Wilhelm. Herausgegeben von der Familie Humboldt in Ottmachau. Berlin: Gesellschaft deutscher literaturfreunde 1923, S. 114 (Brief vom 24.8.1821). 145 Vgl. die Briefe vom 24.8. und 21.10.1821, ebd., S. 116, 117. Alexander von Humboldt lenkt ein, indem er den internationalen Kulturkonflikt entschärft: „Ich werde [...] erklären, daß in Deiner Weigerung nichts Feindliches liegt." 146 Briefwechsel zwischen Wilhelm von Humboldt und August Wilhelm Schlegel, hg. von Albert Leitzmann. Mit einer Einleitung von B. Delbrück, Halle: Niemeyer 1908, S. 4 (Brief vom 10.5.1818).
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Dergleichen Äußerungen über Alexander von Humboldt und seine Arbeit sind subjektive Bewertungen, zumeist auch privaten Charakters, ernst zu nehmen allerdings, insofern sie darauf schließen lassen, wie eine deutsche Literatur gezielt in Absetzung von anderen „Nationalkulturen" profiliert wurde. Dass die deutsche Literatur der Epoche sich zum Teil außerhalb des deutschen Sprachraumes entwickelte, und Alexander von Humboldt so wie August Wilhelm Schlegel und andere dazugehörte, ist eine nüchterne Beobachtung. Weniger zurückhaltend sind die Bewertungen, die bis in die Gegenwart hinein Alexander von Humboldt polemisch für Deutschland reklamieren oder ihn als Franzosen denunzieren. Ein Porträt erklärt „die charmante Grazie" des jungen Humboldt mit der „südfranzösischen Abkunft der Mutter", 147 wobei es keine Rolle zu spielen scheint, dass der Sohn offenbar unter der rigiden und höchst distanzierten Haltung seiner Mutter litt, während sein preußischer Vater wegen seiner Gewandtheit und Lebhaftigkeit geschätzt war; ein Biograph sieht in seinem Helden, doch offenbar mit Vorbehalt, den „Sohn des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts, also ein Sohn der Französelei jener Zeit", vermerkt dann aber mit Genugtuung: „seit den 1830er Jahren rührte sich das Preußentum in ihm."148 Die Literaturgeschichte nach „deutschen Stämmen und Landschaften" von Josef Nadler behauptet, „Alexander von Humboldt vertrat bei der französischen Wissenschaft die wachsende Weltmacht des deutschen Geistes."149 Was sich politisch, wissenschafts- und kulturhistorisch durchaus konkretisieren ließe, erfahrt durch dergleichen Interpretationen am Leitfaden von nationalen Stereotypen folgenreiche Einfarbungen. Doch auch die Freude über das Internationale als schlechthinniges Positivum ist zu dämpfen. Wenn ein Biograph der 1980er Jahre meint: „In Frankreich hatte er die letzten, dumpfen Schlacken deutscher Naturphilosophie abgestreift", wobei seine Publikationspraxis „in wunderbarem Aufschwünge die Internationale der Naturwissenschaften vorwegnehme^..]," 150 so belehren die enormen Schwierigkeiten, denen Humboldt beim Transfer jedes einzelnen seiner Werke von einem Land ins andere begegnete, eines Besseren. Er hatte es eben nicht mit einer Internationale der Wissenschaften zu tun, sondern mit nationalen und sogar regionalen 147 Rudolf Zaunick (Hg.): Alexander von Humboldt. Kosmische Naturbetrachtung. Sein Werk im Grundriß, Stuttgart: Kröner 1958, S. VIII. 148 Ewald Banse: Alexander von Humboldt. Erschließet einer neuen Welt, Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 1953 (=Große Naturforscher, hg. von H.W.Frickinger, 14), S. 124. 149 Josef Nadler: Literaturgeschichte nach deutschen Stämmen und Landschaften. Zweiter Band: Geist (1740-1813), Berlin: Propyläen 1938, S. 33. 150 Werner Rübe: Alexander von Humboldt. Anatomie eines Ruhmes, München: Deutscher Kunstverlag 1988, S. 129 und 138.
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Wissenschaftskulturen. Doch selbst sich mit ihnen bestens auszukennen, hätte Humboldt nicht genügen können, denn während es am Anfang seiner Karriere wohl nichts gab, was als internationale Wissenschaftspublizistik bezeichnet werden könnte, sondern höchstens eine europäische Gelehrtenkultur, schlug er später einen Weg ein, der zur Ausprägung unterschiedlicher Autorenprofile je nach der Sprache, in der er ein Originalwerk verfasste, führte. Was er schrieb, überschnitt sich nur teils mit der wissenschaftlichen Fachprosa der europäischen Länder, und größte Mühen verwendete er auf ein Werk, das nur in den deutschen Literaturgeschichten zum kanonischen Text gekürt wurde, ein Prozess, den er nach Kräften zu fördern suchte. Die reduktive Sicht auf Humboldts internationale Autorschaft geht dann leicht in die zuversichtliche Behauptung über, er habe für Leser aller Schichten geschrieben. Doch Humboldt schrieb nicht für ein homogenes Publikum in Europa oder gar der ganzen Welt, so wenig wie er für Leser aller Schichten schrieb.
Naturforschung als Bildung: Von der Vorlesung zum literarischen Kanon
Die Kosmosvorlesungen 1827/28 Humboldts Rückkehr nach Berlin Alexander von Humboldts endgültige Übersiedlung von Paris nach Berlin im Jahre 1827 hat seit der Biographik des späten 19. Jahrhunderts zu gewichtigen Bewertungen eingeladen. So heißt es, Humboldt habe sich seitdem von der aktiven wissenschaftlichen Forschung zunehmend zurückgezogen und sei mehr und mehr zum bloßen Repräsentanten der Wissenschaft geworden. 1 Damit einher oder im Widerspruch dazu finden sich Interpretationen der Rückkehr in die Heimat als symptomatisch für einen epochalen Wandel in der Wissenschafts- und Kulturgeschichte Deutschlands überhaupt. Bezeichnen nicht die Jahre der Ubersiedlung den Beginn des beispiellosen Aufschwungs der Naturwissenschaften in Deutschland, parallel zur abnehmenden Geltung der bis dahin führenden französischen Naturforschung, 2 ob Humboldt nun geistesgegenwärtig die Zeichen der Zeit für sich genutzt oder die Entwicklungen durch sein persönliches Engagement entscheidend mitgeprägt hat? Triumphieren die Naturwissenschaften nicht jetzt erstmals in ihrer bis dahin chancenlosen Rivalität mit den Geisteswissenschaften,3 und markiert nicht Humboldts Rückkehr nach Deutschland das Ende der Naturphilosophie, ja gar der Romantik?4 Steht schließlich das erste spektakuläre Ereignis, das sich nach 1 2 3
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Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. 2, S. 97. Vgl. Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, 3. Aufl., Bd. 3, Freiburg: Herder 1950, S. 198ff. Durchaus tendenziös dabei die Bewertung von Emile du Bois-Reymond in seiner Gedächtnisrede von 1883. Er meint, dass die Kosmosvorlesungen „zum erstenmal eine gebildete deutsche Zuhörerschaft ahnen ließen, daß es noch etwas anderes auf der Welt gebe, als schöne Literatur und Musik, als das ,Morgenblatt' und Henriette Sonntag, als Hegels dialektische Luftschlösser und Raheis hochgestimmte Tändeleien". In: Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Emil du Bois-Reymond, hg. von Ingo Schwarz und Klaus Wenig, Berlin: Akademie-Verlag 1997 (=Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 22), S. 200. Hanno Beck: Alexander von Humboldt, Bd. 2, Wiesbaden: Franz Steiner 1961, S. 84. Schon 1866 referiert Friedrich Albert Lange diesen Trendwechsel, wonach der deutsche Idealismus (Fichte, Hegel, Schelling) seit etwa 1830 die Reaktion eines radikalen MateriaIismus (z.B. Ludwig Büchner) nach sich gezogen habe, wobei Lange allerdings die einfach erscheinende Opposition korrigiert: Während der gegen den Idealismus zu Felde ziehende Vulgärmaterialismus seinerseits, jedoch unreflektiert, metaphysischen Letztbegründungen verpflichtet sei, gebe es in der Philosophiegeschichte beachtenswerte, wenn auch zuletzt problematische anthropologisch begründbare Verbindungen der subjektiven und objektiven Natur. Die Beispiele, die Lange für einen die Naturwissenschaft fördernden nichttrivialen Synthese-Versuch nennt, heißen Spinoza, Kant (der vorkritischen Phase), Herder,
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seiner Ansiedlung in Berlin an Humboldts Namen knüpft, die Kosmosvorlesungen, nicht am Anfang jener Wissenschaftspopularisierung, die die Kluft zwischen Fachforschung und einem wirklich demokratischen Publikum zu überwinden sucht?5 Solche Interpretationen stehen deutlich im Zeichen des späteren Wissens um Späteres, wo sie nicht zuspitzen, was schon zur Zeit von Humboldts Umsiedlung vorsichtiger bewertet worden wäre.6 Seit 1805 war er ordentliches Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften,7 in der er sich bis 1807 und dann bei einem Aufenthalt 1823 wieder engagierte. Zusätzlich zu einer Pension der Akademie erhielt er eine königliche und den Titel eines Kammerherrn, ebenfalls ab 1805, nach der Rückkehr aus Amerika; seine Dienste nahm der preußische Hof seitdem immer wieder, vor allem bei Reisen Friedrich Wilhelms III. nach Frankreich, ins Rheinland, nach England und Italien in Anspruch; dass endlich die Anwesenheit des Gelehrten in Berlin und Potsdam gewünscht wurde, damit musste Humboldt jederzeit rechnen, zumal er wiederholt wichtige Ämter, unter anderem 1811 das Kultusministerium und 1815 die preußische Gesandtschaft in Paris ausgeschlagen hatte; begrenzte diplomatische Missionen waren ihm jedoch wiederholt anvertraut (und auch zusätzlich honoriert) worden. Ausgedehnte Reisen nach Deutschland hat es in den Jahren vor dem Umzug sehr wohl gegeben, so wie monatelange Aufenthalte in Paris auch später. Die Bedeutung der französischen Hauptstadt für die Naturwissenschaft und Publizistik war das wichtigste Motiv für Humboldt, so lange dort zu verweilen. Die Umsiedlung nach Berlin jedoch verdankt sich sicherlich nicht der Rivalität der beiden so unterschiedlichen Hauptstädte in der Wissenschaft, sondern Humboldts Abhängigkeit vom preußischen Hofe. Was nun die Verlagerung von der aktiven Wissenschaft zur Repräsentation betrifft: Auch in Paris war Humboldt gesellschaftlich sehr gegen-
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Goethe. Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus, hg. und eingeleitet von Alfred Schmidt, Frankfurt a.M. 1974, S. 519, 593. Diese Signalwirkung der Kosmosvorlesungen betonte die Humboldt-Forschung der DDR, z.B. Jürgen Kuczinsky: Zum Briefwechsel bürgerlicher Wissenschaftler, Berlin: AkademieVerlag 1976, S. 97. Ein Beispiel für die Kombination zweier Schlagworte, nämlich vom „Siegeszug des naturwissenschaftlichen Weltbildes" und von Humboldt als Pionier naturwissenschaftlicher Popularisierung ist etwa Susanne Päch: Alexander von Humboldt als Wegbereiter naturwissenschaftlicher Volksbildung, München 1980 (^Sonderdruck aus Philosophia Naturalis, Bd. 17, 1979, H. 4), hier S. 495. In diesem Sinne differenzierend Kurt-R. Biermann: Alexander von Humboldts wissenschaftsorganisatorisches Programm bei der Ubersiedlung nach Berlin, in: K.-R. Biermann: Miscellanea Humbolddana, Berlin: Akademie-Verlag 1990 (=Beiträge zur Alexander-vonHumboldt-Forschung, 15), S. 1 6 9 - 1 7 1 . Zum korrespondierenden Mitglied war er schon 1800, während seiner amerikanischen Reise, gewählt worden.
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wärtig und in verschiedenen Sphären, die ihre Aufgabe nicht nur in der neuesten Forschung sahen; auch dort schon war er längst als Mediator und Moderator tätig und erfuhr mit zunehmenden Lebensjahren, wie eigene Forschungen historischen Charakter annahmen und ihn, zusammen mit seinen Ehrungen und Mitgliedschaften, zum Symbol dessen machten, woran er zugleich weiterarbeitete. In Berlin dagegen sollte er besonders magnetische und astronomische Studien fortsetzen. Ältere Arbeiten wurden dort ergänzt und revidiert, und die Auswertung der amerikanischen Reise war ja noch längst nicht abgeschlossen. Die asiatische Expedition, schon seit etwa 1810 immer wieder verschoben, sollte sich im Zeichen eher pragmatischer Forschungsmotive erst 1829, von Berlin aus, verwirklichen, danach war sie zu dokumentieren. Und wer von dem allmählichen Versiegen der wissenschaftlichen Produktivität des sechzigjährigen Humboldt spricht, muss sich fragen lassen, ob etwa die extensiven Quellenstudien, die für das Examen critique und für den Kosmos zu betreiben waren und ihn bis zum Tode beschäftigten, keine wissenschaftlichen waren. Dergleichen Nachfragen führen zu Widersprüchen zwischen der historischen Situation und späteren Bewertungen: Wie erklärt sich denn, dass sich Humboldt persönlich doch ganz entgegen der allmählichen Verlagerung des Schwerpunkts von den Geisteswissenschaften zu den Naturwissenschaften, die mit ihrem Triumphzug am Ende des Jahrhunderts enden sollte, zunehmend und verstärkt historischen und philologischen Studien widmete? Konnte er, so sehr er sich auch für die Professionalisierung der Institutionen und Forschungen in Preußen einsetzte, diesen Triumphzug absehen, zumal als Element nationaler Machtentfaltung? Kann er wirklich als Streiter für die Naturwissenschaften auf Kosten der Geisteswissenschaften angesehen werden? Waren seine Kosmosvorlesungen tatsächlich die Antwort auf eine unüberbrückbar scheinende Kluft zwischen Fachgelehrten und dem einfachen Publikum? Oder sind dies nicht vielmehr Polarisierungen und Zuspitzungen, die den Zustand einer sehr viel weiter fortgeschrittenen diszipünären und institutionellen Differenzierung, Professionalisierung und Spezialisierung in frühere Jahre hineinlesen? Bekannt und gerne wiederholt sind abfällige Äußerungen Humboldts über Berlin, das aus seiner Sicht nicht mit Paris konkurrieren konnte. 8 Die Bemerkungen scheinen sich dabei jedoch weniger auf den Zustand der wissenschaftlichen und künstlerischen Einrichtungen und Betätigungen als solche zu beziehen, vielmehr auf ein allgemeines intellektuelles, gesell8
Vgl. wiederum Biermann: Alexander von Humboldt in Berlin, in: ders. Biermann: Miscellanea Humboldtiana, Berlin: Akademie-Verlag 1990 (=Beiträge zur Alexander-vonHumboldt-Forschung, 15), S. 33-42.
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schaftliches und politisches Klima. Was die Lage der Naturwissenschaften betrifft, so macht sich im Rückblick der Vorsprung von Paris vor Berlin eher in der Zahl exzeptioneller Wissenschaftlerpersönlichkeiten bemerkbar. Die Einrichtungen, mit denen Humboldt in Berlin in Verbindung stand und die er etwa den Gästen auf der Versammlung der Naturforscher und Arzte 1828 zum Besuch empfahl, zeigen, dass sich die Naturwissenschaften in Berlin allgemein im Aufschwung befanden.9 Humboldts Engagement für die Einrichtungen der Forschung und Lehre weisen in zwei Richtungen gleichzeitig: Zum einen unterstützte er, wie sich noch genauer zeigen wird, entschieden Tendenzen zur Professionalisierung einzelner Disziplinen, zum anderen galt sein Engagement der Bündelung der diversen Bestrebungen.10 Er besuchte den Verein für Gartenbau, war Ehrenmitglied der königlichen botanischen Gesellschaft und der Akademie der Künste, nahm Anteil an der Ausbildung von Militärärzten, engagierte sich für die Gründung eines Polytechnikums, letzteres erfolglos, erfolgreich dagegen für den Neubau einer Sternwarte und für die Einrichtung eines meteorologischen Instituts, er war mit Carl Ritter 1828 bei den Gründern einer geographischen Gesellschaft, trug in der Akademie vor, hielt an der Universität wie in der Singakademie Vorlesungen, aber auch bei Hofe und im adligen Salon, befand sich im Kuratorium eines Gremiums, das bedürftigen Künsdern und Wissenschaftlern zu Hilfe kommen sollte, empfahl Kunstwerke, Instrumente, Bücher zum Ankauf, lehnte es jedoch ab, Museumsdirektor zu werden, beeinflusste Berufungen an die Universität und die Vergabe von Stipendien, Reisezuschüssen, Pensionen, Gratifikationen und Ehrungen, war seit 1844 und zeidebens als erster Kanzler des Ordens „pour le merite" tätig, freilich auch im Staatsrat und im Kapitel des Schwarzen Adlerordens. So sehr dies darauf hindeutet, dass Humboldt ungewöhnliches Ansehen genoss und erstaunlichen Einfluss hatte, so sehr beweist es auch, dass er es generell mit einer Flexibilität der Aufgabenbereiche zu tun hatte und mit der Zulässigkeit kompetenter Einflussnahmen von den Rändern der Institutionen her. Auch in Berlin gelang es ihm also, die schon für seine Pariser Jahre bezeichnende soziale Indetermination mit einer kommunikativ überaus exponierten Stellung zu verbinden — eine Kombination, die für keine andere berufliche Tätigkeit so vorteilhaft ist wie für die eines 9
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Vgl. Marc Schalenberg, Rüdiger vom Bruch: London, Paris, Berlin. Drei wissenschaftliche Zentren des frühen 19. Jahrhunderts im Vergleich, in: Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, hg. von Richard van Dülmen und Sina Rauschenbach, Köln, Weimar: Böhlau 2004, S. 6 8 1 - 6 9 8 . Die Autoren sehen zwar Unterschiede in den Organisationsformen, doch seien die wissenschaftlichen Institutionen und die Intensität wissenschaftlichen Arbeitens ungefähr gleichgewichtig, wobei Berlin der Urbanität Londons und Paris weniger entgegensetzen konnte. Biermann, Miscellanea Humboldtiana, S. 33f.
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Schriftstellers. Hofmann und Privatmann, Aristokrat und Bürger, Spezialist und Universalist, Professioneller und Dilettant: Im Schutze dieser gewissermaßen transversalen und verallgemeinerten sozialen Existenzform ließ sich am besten „Welt" in Literatur verwandeln. Die einzelne Persönlichkeit Humboldt wurde mit zunehmendem Alter in den Augen der Öffentlichkeit zur personifizierten „Instanz", und zwar als Repräsentant des Zeitalters schlechthin. Der ungewöhnlich weite Spielraum, der Humboldt in seinen Aktivitäten zur Verfügung stand, verdankt sich auch seiner Kunst, die Öffentlichkeit seines ansonsten wenig definierten Status stets erneut zu untermauern, vor allem durch ein enges Bündnis mit der Berliner Presse, die regelmäßig, offenbar zumindest monatlich eine Meldung zu seiner Person herausgab.11 Zwei der wichtigsten Initiativen, die Humboldt schon während des ersten Jahres seiner Anwesenheit in Berlin ergriff, führen beide bei aller Flüchtigkeit des gesellschaftlichen und institutionellen Engagements zu einem Maximum an öffentlicher Repräsentation und symbolischem Mehrwert. Es handelt sich um die berühmt gewordenen Kosmosvorlesungen, die im November 1827 begannen, und die Präsidentschaft über die Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte, die im September 1828 stattfand.
Humboldts Vorträge und sein Publikum Die Berliner Kosmosvorlesungen von 1827/28 sind die deutsche Variante eines Zyklus von allgemeinverständlichen Vorträgen, die Humboldt bereits 1825 bis 1827 in Paris im Hause der Marquise de Montauban gehalten hatte. Andererseits sind die Vorträge, die er 1805/6, 1823 und seit 1826 immer wieder vor den versammelten Mitgliedern der Berliner Akademie der Wissenschaften hielt, das Pendant der zahlreichen Vorträge und Berichte seit 1798 vor der Pariser Academie des Sciences. Während die Pariser Vorträge häufig in französischen Fachzeitschriften abgedruckt und vielfach übersetzt wurden, gingen die Berliner von 1805 und 1823 in die verschiedenen Ausgaben der Ansichten der Natur ein und wurden dadurch in gewissem Sinne populär. Spätere Akademievorträge verwerteten auch früher schon Vorgetragenes oder Publiziertes und wurden ihrerseits in deutschen Zeitschriften publiziert. Eben in seiner Eigenschaft als Mitglied der preußischen Akademie der Wissenschaften war Humboldt auch berechtigt, an der jungen Berliner Universität zu lesen, 12 welche
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Biermann, Miscellanea Humboldtiana, S. 36. Vgl. Beck: Alexander von Humboldt, Bd. 2, S. 80.
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Möglichkeit er schon wenige Monate nach seiner Umsiedlung nutzte. Vom November 1827 bis zum April 1828 hielt er dort 61 Vorlesungen. Wahrscheinlich weil der Zyklus auf so große Nachfrage stieß, dass die Hörer im Saal keinen Platz mehr fanden, entschloss sich Humboldt zu einer stark gestrafften Parallelveranstaltung in der Singakademie, dem damals größten Auditorium Berlins, wo er von Dezember bis April sechzehn Mal vortrug. Während sich wohl keine Mitschriften der Pariser Vorträge und der Universitätslesungen erhalten haben, liegt neuerdings eine Reinschrift nach Mitschriften aus der Singakademie im Druck vor.13 Der fünfbändige und unvollendete Kosmos von 1845 bis 1859 dagegen kann als späte umfängliche Erweiterung und Druckversion der drei Vorlesungszyklen gelten. Weitere Vorträge hielt Humboldt vor den Versammlungen der deutschen Naturforscher und Ärzte in Berlin, Breslau, Jena, immer wieder im Institut National in Paris und in der Berliner Akademie sowie bei Hofe. Eine spätere Einladung Friedrich von Raumers, in Berlin einen allgemein zugänglichen Zyklus von Vorlesungen zu halten, hat Humboldt mit Hinweis auf sein hohes Alter dankend ausgeschlagen.14 Der Überblick über Humboldts Vortragstätigkeit zeigt je nach Blickwinkel die Dynamik oder Trägheit institutioneller Differenzierung in bezug auf die Naturwissenschaften. Die erste Öffentlichkeit naturgeschichtlicher Vorträge lernte Humboldt ja um 1786 in den gelehrten Gesellschaften Berlins kennen, in der es zur allgemeinen Diskussion des Vorgestellten kam, das aus ganz unterschiedlichen Bereichen stammte. Vierzig Jahre später bestanden dieselben Gesellschaften nicht mehr und konnten schon gar nicht in gleichem Maße das intellektuelle Klima der ganzen Stadt prägen: Doch naturforschende Gesellschaften und Vereine, getragen von Laien und Spezialisten, spielten noch lange in ihrer regionalen Diffusion eine bedeutende Rolle für die Wissenschaft, in Ergänzung oder als Ersatz der stärker professionalisierten Institutionen. Ja diese Gesellschaften haben selbst eine disziplinäre Spezialisierung mitgetragen und häufig eine Professionalisierung erfahren, durchaus auch den Mangel einer eigenen universitären Forschung am Platze ausgeglichen.15 Die bedeutende Senckenbergische Gesellschaft in Frankfurt, der Humboldt angehörte, zählt dazu, oder eben auch die Gesellschaft der deutschen Naturforscher und Ärzte, von der noch die Rede sein wird. Die Geschich13
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Alexander von Humboldt: Über das Universum. Die Kosmosvorträge 1827/28 in der Berliner Singakademie, hg. von Jürgen Hamel und Klaus-Harro Tiemann in Zusammenarbeit mit Martin Pape, Frankfurt a.M. Leipzig: Insel 1993. Litterarischer Nachlaß von Friedrich von Raumer. Erster Band. Berlin: Emst Siegfried Mitder 1869, S. 22 (Brief von 1841). Vgl. Andreas Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1 8 4 8 - 1 9 1 4 , München: R. Oldenbourg 1998, S. 9 6 - 1 0 9 .
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te der naturforschenden Vereine und Gesellschaften in Deutschland bezeugt, dass von einer eindeutigen Dichotomisierung von Fachgelehrtentum und Laienbildung, Professionalisierung und Popularisierung im 19. Jahrhundert kaum zu sprechen ist.16 Eine andere Institution, die der junge Humboldt in Berlin kennengelernt hatte, der literarisch-künsderische Salon dagegen, war in Deutschland immer noch oder wieder aktuell, stand allerdings kaum noch im Zeichen der Naturforschung, wie dies noch in Goethes Weimar der 1790er Jahre der Fall gewesen war. Dass Humboldt den literarischen Gesellschaften ausgesprochen ablehnend gegenübergestanden hätte, ist wohl eine Unterstellung aus der Sicht des naturwissenschaftsgläubigen späteren Jahrhunderts.17 Es ist wohl eher so, dass diese Zirkel Humboldts Interesse weniger weckten, insofern sie nicht mehr eine gemischte Gesellschaft Gebildeter vereinigten, in der jedes Thema aus Wissenschaft und Kultur gleichermaßen hätte vertieft werden können. Anders die Situation in Frankreich: Hier versammelte der Salon der Herzogin de Montauban die für Paris seit langem charakteristische Öffentlichkeit von Adel und Bürgertum, Künstlern und Wissenschafdern, die auch für Humboldts Darstellung der „physique du monde" ein geeignetes Forum bot. Die Zuhörerschaft war in diesem Salon offenbar Repräsentant der Leserschaft, die Humboldt schon 1804 im Auge hatte, als er schrieb, er wolle für die „gens du gout" schreiben.18 Es ist eine Qualifikation der Öffentlichkeit, die zwar über die Gelehrten hinausgeht, jedoch weit vor der Gesamtheit aller Lesenden halt macht. In Deutschland fand Humboldt wohl nirgends ein vergleichbares Publikum, auch und erst recht nicht am preußischen Hof, der ihm doch sehr wohlwollend gegenüberstand. Einmal, 1837, scheint Humboldt mit einer Privatvorlesung im Hause der Fürstin Lucie Pückler-Muskau an die Pariser Verhältnisse angeknüpft zu haben, doch blieb es wohl bei diesem einen Versuch. Eine Animosität Humboldts gegen literarische Salons oder andere Milieus der schönen Literatur in Berlin läßt sich nicht nachweisen, zumal sich unter der großen Zahl der
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Daum: Wissenschaftspopularisierung, S. 12. So Alfred Dove in Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. 2, S. 104: „er hatte den Schritt von poetischem zu rein wissenschaftlichem oder politischem Interesse, den die Masse der Gebildeten in Deutschland erst nach der Julirevolution that, längst vorausgethan. Hatte er dichterischer wie systematisch philosophischer Thätigkeit acüv immerdar ferngestanden, so war er nun auch passiv fast unempfindlich für ihren künstlich weiter getriebenen Fortgang geworden. Für ihn hatte es keinen Verstand mehr, wenn die Hitzig, Alexis, Holtei, Chamisso, Varnhagen, Stägemann und Genossen zu einem rein literarischen Verein zusammentraten, um sich allwöchentlich die neuesten Erzeugnisse der Dichtkunst vorzulesen." Lettres d'Alexandre de Humboldt a Marc-Auguste Pictet (1795-1824), in: Le Globe. Journal de Geographie... Geneve, Novembre-Decembre 1868, S. 158 (Brief vom 3.2.1804).
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Geförderten und Protegierten auch die Namen Ferdinand Freiligraths, Bettine von Arnims und Ludwig Tiecks finden. Nicht „gens du gout", sondern „gebildete Stände",19 später als Bildungsbürgertum bezeichnet,20 waren in Deutschland Humboldts Publikum, ob er sich nun an die Mitglieder der Akademie, an Universitätsangehörige oder auch an eine nicht akademisch gebildete Zuhörerschaft wandte, wie in der Singakademie. Für ein solches Publikum hatte sich in Berlin seit Jahren eine adäquate Institution gebildet, nämlich die öffentliche Vorlesung. Schon 1789 hatte Humboldt zumindest einmal einer Vorlesung von Karl Philipp Moritz über Ästhetik beigewohnt, seit 1801 waren Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Adam Müller, Fichte und Schleiermacher mit Vortragzyklen zur Kunst und Literatur, Geschichte und Politik, Philosophie und Theologie aufgetreten, die zum gesellschaftlichen Ereignis und Tagesgespräch wurden, neben dem kulturellen auch einen wirtschaftlichen Erfolg bedeuten konnten und als Wegbereiter und Komplemente jenes regulären Vorlesungsbetriebs gelten, der mit der Universitätsgründung von 1810 einsetzte.21 Wenn Humboldt in vieler Hinsicht mit seinem neuen Wohnort unzufrieden war: Die Kultur der öffentlichen Vortragszyklen, die er in Berlin vorfand, scheint zumindest in Deutschland einmalig gewesen zu sein. Er stellte sich mit den Kosmosvorlesungen sogleich in die Reihe der prominenten Redner, wobei er mit dem naturwissenschaftlichen Gegenstand ein neues Feld besetzte: neu in Berlin, nicht etwa in London, wo zum Beispiel die London Royal Institution seit 1799 sogenannte „Weihnachtsvorlesungen für die Jugend" veranstaltete, in der prominente Naturforscher Vorträge hielten.22 Auch nicht neu in Paris; dort hatte Humboldt sicherlich mehreren öffentlichen Vorlesungen seines Freundes Arago über Astronomie beigewohnt. In gewissem Sinne handelte es sich in der Berliner Singakademie um ein demokratisch zusammengesetztes Publikum. Hatte Carl Gustav Carus Humboldts Verdienste um eine Popularisierung der Naturwissenschaft in 19
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Zu den Termini Öffentlichkeit, „gens du gout" und „gebildete Stände" vgl. den Artikel von Peter-Uwe Hohendahl: Öffentlichkeit/Publikum, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, S. 583-637, hier S. 591. Zur Genese und Struktur des Bildungsbürgertums in Deutschland vgl. Reinhart Koselleck: Einleitung - Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung, in: ders (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 2: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart: Klett-Cotta 1990, S. 1 1 - 4 6 . Stichweh spricht von einer „Berliner Protouniversität". Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740—1890, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 309. Zu populären Vorlesungen naturwissenschaftlichen Inhalts in England vgl. Walter Gerlach: Entstehung und Entwicklung der modernen Naturwissenschaften, in: Wolfgang Laskowski (Hg.): Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft. Ihre Bedeutung für den Menschen von heute, Berlin: de Gruyter 1970, S. 63ff., hier S. 79.
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Deutschland an seine Ansichten und Reisebeschreibung geknüpft, so würdigte er dabei eine Behandlung der Wissenschaft für die „Menge" und für ein „gewöhnliches Publikum".23 Was unter einem solchen zahlreichen Publikum zu verstehen sei, deutet ein Bericht Wilhelm von Humboldts in einem Brief an einen Schwiegersohn an: „Wenn man die beiden Kurse auf der Universität und in der Singakademie zusammennimmt, so hat er 1400 Zuhörer, 1300 gewiß. Nur sehr wenige gehen in beide Vorlesungen." Der König nehme gelegentlich teil, ,,[d]er übrige Hof fehlt nie. Überhaupt hat man nie ein so gemischtes Auditorium gesehen."24 Die Spenersche Zeitung meldete, „sämmtliche hiesigen Lehrer" hätten daran teilgenommen; aufschlussreich ist der Dank des Landschaftsmalers Waagen an Humboldt.25 In einem späteren Brief des Redners an Raumer ist von „dem gemischtesten Publikum (König und Maurermeister)" die Rede,26 doch wer ist damit gemeint — einer von vielen Handwerkern oder vielleicht nur der eine Bauunternehmer Karl Friedrich Zelter, der zugleich Leiter der Singakademie war und an Goethe von dem Ereignis berichtete, für das er seinen Saal zur Verfügung gestellt hatte?27 Vom „Handwerker" ist es für einige Biographen nicht weit bis zum Arbeiter, von dessen Anwesenheit in den Kosmosvorlesungen nun wirklich kein Zeitgenosse berichtet.28 Zugänglichkeit ist nicht nur eine Frage der Öffentlichkeit de jure.29 Sie bestimmt sich zum Beispiel auch über den Eintritt, und hierbei fällt in der Tat, sehr im Gegensatz etwa zu den Vorlesungen August Wilhelm Schlegels, auf, dass Humboldt gratis zu hören war. Es gibt aber auch Zugangsbeschränkungen konventioneller Art. Warum müsste sonst immer wieder betont werden, dass Frauen, ja in revolutionärer Weise, erstmals an einer Vorlesung aus dem Bereich der Realwissenschaften teilnahmen?30 Die intellektuelle Reife, die der Besuch der Vorlesung voraussetze, wurde jedenfalls Frauen abgesprochen, nicht jedoch anderen unter den genann23
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Carl Gustav Carus: Denkwürdigkeiten aus Europa, zu einem Lebensbild zusammengestellt von Manfred Schlösser, Hamburg: Marion von Schröder 1963, S. 87: „Für Humboldt wird immer der Ruhm bleiben, dergleichen Schranken [zwischen Wissenschaft und gewöhnlichem Publikum] durchbrochen zu haben." Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, hg. von Anna von Sydow, Bd. 7: Reife Seelen. Briefe von 1 8 2 0 - 1 8 3 5 , Berlin 1916, S. 326 (Brief vom 10.1.1828). Vgl. Beck: Humboldt, Bd. 2, S. 81 Litterarischer Nachlaß von Friedrich von Raumer, S. 22 (Brief von 1841). Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832, MA, Bd. 23.2, S. 1090 (Brief vom 28.1. bis 3.2.1828). Vgl. Werner Rübe: Alexander von Humboldt. Anatomie eines Ruhmes, München: Deutscher Kunstverlag 1988, S. 151: Humboldts Botschaft gelange „in die tieferen Schichten des Volkes zu den Handwerkern, den Arbeitern hinab." Vgl. Peter Philipp Riedl: Öffentliche Rede in der Zeitenwende: Deutsche Literatur und Geschichte um 1800, Tübingen: Niemeyer 1997 (=Studien zur deutschen Literatur 142), S. 221 Rübe: Alexander von Humboldt, S. 151.
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ten Gruppen von Zuhörern, die auch nicht einschlägig vorgebildet waren, etwa Militärs, Verwaltungsbeamte, Hofadel. Eine Nichte Humboldts kolportiert: „Heute war des Onkels Vorlesung wieder unendlich interessant, und Herrn Saphirs Witz traf nur für die erste Hälfte zu. Er hatte im Courier gesagt: ,Der saal faßte nicht die Zuhörer, und die Zuhörerinnen faßten nicht den Vortrag.' Mitunter mag er wohl recht haben, was meine Wenigkeit betrifft, allein ist es doch sehr selten, daß ich es gar nicht faßte, denn verstehen und behalten sind auch noch verschiedene Dinge."31 Gegenüber der skeptischen Nachfrage, inwieweit denn Damen von den Kosmosvorlesungen profitiert haben könnten, gab Humboldt zurückhaltend zur Antwort, das sei ganz gleichgültig, sofern sie nur kämen.32 Es wird sich noch zeigen, dass er keinen Anlaß sah, in der Präsentation seines Stoffes auf die vermeintliche Ignoranz der Damen unter seinen Zuhörern Rücksicht zu nehmen. Zwischen dem impliziten Ausschluss von Frauen und dem von Ungebildeten besteht jedenfalls ein Unterschied. Doch gerade die denkbaren Hindernisse im Blick auf das Bildungsniveau33 sind soziologisch nur schwer zu fassen. Schiller hatte zwar mit „Volksredner" oder „Volksschriftsteller" jeden bezeichnet, „der nicht ausschließend an den Gelehrten sich wendet".34 Aber was ist darunter zu verstehen: Ist jeder irgend akademisch Gebildete ein Gelehrter? Umfaßt das nichtgelehrte Volk nicht Hochgebildete und gänzlich Illiterate? Im Hinblick auf Humboldts Zuhörerschaft bleiben viele Fragen offen: Die Hörer der Universität brauchten zwar viel mehr Ausdauer, als die an der Singakademie, denen nur ein Viertel des Umfangs zugemutet wurde; aber hatte Humboldt in Paris nicht über Jahre hinweg im Salon vorgetragen, und fanden sich die Akademiemitglieder nicht jeweils nur für eine Stunde ein? Wie regelmäßig die Zuhörer kamen, ob es Überschneidungen zwischen dem Publikum der verschiedenen Veranstaltungen kam, - es bleibt bei Vermutungen, zumindest was das empirische Publikum der Kosmosvorlesungen betrifft. Von diesem, das erstaunlich gemischt gewesen zu sein scheint,35 kann ein implizites, eine ideelle Zuhörerschaft unterschieden werden, das sich durchaus aus Mitschriften und Druckfassungen rekonstruieren lässt.36 31 32 33 34
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Zit. η. A. v. Humboldt: Über das Universum, Vorwort, S. 23. Beck, Humboldt, Bd. 2, S. 83. Riedl, S. 221. Friedrich Schiller: Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen (1795), in: F.S.: Werke in drei Bänden, hg. von G. Göpfert, München: Hanser 1966, Bd. 2, S. 5 2 1 539, hier S. 524. Beck erhebt es gar „zu einer Art deutscher Nationalversammlung". Zur Unterscheidung zwischen dem empirischen und dem ideellen Begriff des Publikums, vgl. den Handbuchartikel „Öffentlichkeit/Publikum" in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, S. 584, 598.
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Die Anreden, mit denen sich Humboldt an seine Zuhörer wendet, sind, soweit dokumentiert, denkbar neutral, und zwar in der Mitschrift der Singakademie wie zuvor in den Ansichten der Natur und später im Kosmos. Sie bedenken das „Publikum",37 in der Singakademie wieder eine „achtbare Versammlung",38 erst im Kosmos das „deutsche Publikum".39 Typische Merkmale der Rede und des Vortrags gehen dabei über in das, was für Texte der Wissenschaftspopularisierung, auch zum Druck bestimmte, kennzeichnend ist: Dies betrifft die größere Anschaulichkeit, das Anknüpfen an Situationen und Kenntnisse, über die viele oder alle verfügen, die argumentative Vermittlung mit allgemein menschlichen Empfindungen und Wahrnehmungen, der Hinweis auf pragmatische Weiterungen.40 Vor allem aber zeigt es sich darin, dass kein neuer, auch nur empirischer wissenschaftlicher Inhalt verhandelt wird, sondern lediglich zusammengefasst, was andernorts längst entwickelt und dokumentiert wurde. Laienkultur oder Expertensynopse? Der Verzicht auf das wissenschaftlich Neue als Kennzeichen populärer Darstellungen unterscheidet dabei deutlich die öffentliche Rede oder Schrift des 19. Jahrhunderts von der Publikationspraxis bis ins späte 18. Jahrhundert, das heißt auch noch der schriftstellerischen Anfange Humboldts. Grenzt die Wissenschaftsgeschichte schon seit Aristoteles esoterische von exoterischen Gehalten wissenschaftlicher Bemühungen ab,41 und stellen während der gesamten Lebenszeit Humboldts Schriften gelehrten Inhalts ganz unterschiedliche Voraussetzungen an ihre Leser, so konnte sich ein großer Teil der wissenschaftlichen Neuerungen des 18. Jährhunderts noch in allgemein philosophischem Gewände und mit einem geringen Aufwand an Fachterminologie, also für Gebildete ohne disziplinäre Spezialisierung, präsentieren. Dies gilt, insofern allgemein nachvollziehba37 38 39 40
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AN, S. 7. A. v. Humboldt: Über das Universum, S. 94, S. 210: „diese Versammlung". K, S. 3. Zu den gängigen Strategien populärwissenschaftlicher Texte vgl. Walter D. Wetzeis: Versuch einer Beschreibung populärwissenschaftlicher Prosa in den Naturwissenschaften, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 3 (1971), Η. 1, S. 7 6 - 9 5 , hier S. 84, und Daum: Wissenschaftspopularisierung, S. 252f. Demnach sind klassische Verfahren der Popularisierung die Berufung auf Erfahrungstatsachen, Alltägliches, Biographisches, der Verzicht auf die Explikation des Erkenntnisganges, die eidetische Methode, Analogiebildungen, Metaphern, Verzicht auf Fremdwörter. Lutz Danneberg, Jürg Niederhauser unterschieden zwischen „akroamatischen und exoterischen Schriften": Von Aristoteles geheimer Lehre zu Sokals Experiment, in: dies. (Hg.): Darstellungsformen der Naturwissenschaften im Kontrast. Aspekte, Methodik, Theorie und Empirie, Tübingen: Gunter Narr 1998, S. 9 - 2 0 , hier S. 10.
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re Naturgesetze den Begriff von Naturwissenschaft überhaupt prägten und daher Astronomie und Mechanik zu Leitwissenschaften wurden. Populär sind diese Naturwissenschaften im Gegensatz zu einem älteren Verständnis von Erudition insofern, als sie nicht der Kompetenz einer restriktiven, etwa klerikalen oder universitären Elite vorbehalten bleiben.42 Dem kam in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entgegen, dass nun immer mehr Leser immer mehr Bücher zu immer ausgedehnteren profanen Lektüren nutzten. Doch blieb die Schicht der Lesenden immer noch so winzig klein, dass von Wissenschaftspopularisierung im Sinne einer echten Diffusion im 18. Jahrhundert kaum die Rede sein kann. Die Popularisierung der Wissenschaft im 19. Jahrhundert setzt nun im Gegensatz dazu eine so weit fortgeschrittene Spezialisierung voraus, das heißt eine neue Exklusivität des wissenschaftlichen Wissens, dass der Popularisator sich entweder auf das Referat wichtiger Ergebnisse beschränken muss oder das Propädeutikum eines einzelnen Forschungszweiges versucht, in beiden Fällen aber wahrscheinlich Spezielles in Allgemeinverständliches zurück übersetzt.43 Wo sind nun Humboldts allgemeinverständlich gehaltene Vorträge in dieser Dynamik, die auf Wissenschaftspopularisierung hinausläuft, anzusiedeln? Von Vorteil für die öffentliche Wahrnehmung von Humboldts Forschungen war, dass seine Studien allesamt den deskriptiven Wissenschaften angehörten, während die experimentellen und theoretischen Disziplinen mit ihrem wesentlich größeren Aufwand an Hypothesenbildung auch größere Darstellungsprobleme mit sich bringen. Für Humboldt konnte die beschreibende Naturforschung jederzeit an die individuelle Erfahrung gebunden werden. Alleine dadurch unterschied sich diese spezifische Naturwissenschaft nicht von einem Allgemeinwissen, das durch seinen subjektiven Vollzug oder Nachvollzug zur „Bildung" wird.44 42
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Vgl. Wetzeis: Vesuch einer Beschreibung, S. 80. Klassische Texte einer so verstandenen allgemeinverständlichen Naturwissenschaft sind in Deutschland Gottscheds Übertragung von Fontenelles Entretiens sur ία pluralite des mondes, 1686, 1722, Francesco Algarottis Newtons Welt-Wissenschaft für das Frauenzimmer 1745, Leonard Eulers Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände der Physik und Philosophie 1769—1773; aus dem Bereich der Zoologie und Botanik Charles Buffons Histoire naturelle (ab 1750 auch in deutscher Sprache), Rousseaus Botanik für Frauenzimmer 1781. Vgl. Daum: Wissenschaftspopularisierung, S. 265ff. Ebd., S. 81. Vgl. Laetitia Boehm: Wissenschaft und Bildung. Aspekte der beiden Wissensformen in historischen Erfahrungsräumen, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 83— 114: Humboldtsche Bildung beruhe „auf einem nicht fixierbaren, individuell aktiv angeeigneten Kompositum aus Erfahrung, Wissen und Können" (S. 90); insofern ist Humboldts empirische Wissenschaft, solange sie Erfahrung nicht standardisiert, sondern individuelle Erfahrung als Erkenntnisprämisse zulässt, der Bildung im Sinne des bürgerlichen Ideals analog.
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Für diese Wissenschaften ist im fortgeschrittenen Stadium der disziplinaren Differenzierung und angesichts der Komplexität der Herleitungen und Voraussetzungen jeder einzelnen Hypothesenbildung Unanschaulichkeit, ja Unverständlichkeit fast unvermeidbar.45 Doch selbst die an sich schon dankbarere Popularisierung der beschreibenden Naturwissenschaften, die denn auch den größten Teil der einschlägigen Versuche im 19. Jahrhundert, Wissenschaft allgemeinverständlich darzustellen, ausmacht,46 kann oberflächlicher oder tiefer ansetzen, wie aus einigen Diskussionen im Umfeld Humboldts deutlich wird. Mit einer authentischen Popularisierung seiner Wissenschaft hatte es etwa Humboldts Freund Fra^ois Arago zu tun, der von 1812 bis 1845 gerne das Deputat des Bureau de longitudes übernahm, im Auditorium der Pariser Sternwarte eine öffentliche Vorlesung über Astronomie zu halten. Humboldt, der ein Vorwort zur französischen Werkausgabe Aragos verfasste, bezeichnete das Publikum dieser Vorlesungen als „toutes les classes de la societe", wobei „societe" gewiss nicht alle und jeden umfaßt 47 Durchaus vertraut war Humboldt durch Arago auch mit einem spezifischen Darstellungsproblem solcher populären Vorlesungen. Arago hatte sich nämlich dagegen entschieden, eine Fortschrittsgeschichte der wissenschaftlichen Entdeckungen zu erzählen,48 sondern sich statt dessen eine allgemeinverständliche Darstellung der Disziplin in ihrem gesamten Umfang zugetraut, was die allmähliche Einführung aller relevanten Probleme, ja sogar die Herleitung der dazu nötigen mathematischen Sätze mit einschloss. Im Vorwort der Druckfassung dieser populären Astronomie schreibt Arago: „Ich behaupte, daß es möglich sei, die Astronomie nutzenbringend vorzutragen, ohne sie zu verkleinern, fast hätte ich gesagt, zu entwürdigen, und zwar so, daß die schwierigsten Begriffe derselben auch für diejenigen verständlich werden, welche der Mathematik fast fremd sind." Die Frage: „auf welches Maaß mathematischer Vorkenntnisse darf
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Dass eine kognitive und danach auch semantische Unverständlichkeit der Logik bestimmter Forschungs- und Theoriebildungsprozesse inhärent sei, darin sind sich sogar die sonst so Gegensätzlichen, Gadamer und Luhmann einig: Hans-Georg Gadamer: Die Ausdruckskraft der Sprache. Zur Funktion der Rhetorik für die Erkenntnis, in: Jahrbuch der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt 1979, S. 4 5 - 5 5 ; Niklas Luhmann: Unverständliche Wissenschaft. Probleme einer theorieeigenen Sprache, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt 1979, S. 34—43. Daum: Wissenschaftspopularisierung, S. 6. Oeuvres de Frangois Arago, Tome premier, Paris 1854, S.XXIII. Franz Arago's sämmtliche Werke. Mit einer Einleitung von Alexander von Humboldt. Deutsche Originalausgabe, 1. Bd., Leipzig 1854, S. XVI: „von allen Klassen der Gesellschaft". Dies sollte Justus von Liebig in seinen überaus erfolgreichen chemischen Briefen von 1844 tun.
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ich bei meinen Zuhörern rechnen?" — diese Frage beantwortet Arago mit: „Ich [...] will gar nichts voraussetzen."49 Auch Friedrich Wilhelm Bessel, ein weiterer mit Humboldt befreundeter Astronom, hatte sich zunächst für eine allgemeinverständliche Darstellung und ähnlich wie Arago die Herleitung aller Voraussetzungen seines Fachgebietes vorgenommen, stieß dabei jedoch auf immer größere Schwierigkeiten. Humboldts Kommentar zu dieser Frage in einem Brief von 1844 führt vor, warum er erfolgreicher war als sein Kollege vom astronomischen Fach, und um welchen Preis: Ich begreife auch vollkommen, wie Ihnen mehr daran liegt, die Möglichkeit des Erkennens, den Geist strenger Methoden zu entwickeln, als [...] die bloßen Thatsachen zu geben. [...] Ich kann mir erlauben, in dem Geiste meines Buches, das bloß das schon Erforschte darlegt, nicht verspricht zu erzählen, wie man gefunden hat, ich kann mir erlauben, den Leser mit der Phrase abzufertigen: Große Astronomen haben bestimmt ... In Ihrem Werke ist das Wie die Hauptsache.50
Popularisierung der Wissenschaft kann also eine allgemeinverständliche Darstellung ihrer disziplinären Arbeitsweise bedeuten oder eine Rekapitulation ihrer Ergebnisse. Im Falle Humboldts ist diese letztere Aufgabe noch darum erleichtert, dass die deskriptiven Verfahren, die er nutzt, ja weitgehend die allgemeinsprachlichen sind.51 Und dies so sehr, dass auch noch bestimmte einschlägige Fachbeiträge Humboldts als allgemeinverständlich gelten können. In der Tat gibt es selbst innerhalb der beschreibenden empirischen Forschungen Bereiche, die sich dem Alltagsverständnis mehr anbequemen als andere, angefangen von der Botanik und Zoologie etwa und endend vielleicht in der stärker mathematisierten Astronomie. Diese Beobachtung lässt sich sogar zu der Behauptung zuspitzen, dass Humboldt weniger seine Wissenschaften popularisierte, als dass er an einer überkommenen Beschreibung empirischer Phänomene festhielt, während die Fachdisziplinen sich mehr dem Hypothetischen und Experimentellen oder der Elaboration einer eigenen deskriptiven Terminologie zuwandten. In dem Maße, in dem die Wissenschaften ihre Gegenstände disziplinär definierten, konnte dann vielleicht auch auffallen oder stören, was früher weniger bedenklich gewesen wäre, nämlich dass Humboldt in 49 50
51
Franz Arago's Sämmtliche Werke, Bd. 11, Leipzig 1855, S. VII, XI, XII. Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Friedrich Wilhelm Bessel, hg. von Hans-Joachim Felber, Berlin: Akademie-Verlag 1994 (=Beiträge zur Alexander-vonHumboldt-Forschung, Bd. 10), S. 159. Vgl. auch den materialreichen Beitrag von Kurt-R. Biermann: F. W. Bessels Projekt einer populären Astronomie in seinem Briefwechsel mit Alexander von Humboldt, in: K.-R. Biermann: Miscellanea Humboldtiana, Berlin: Akademie-Verlag 1990 (=Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 15), S. 1 4 0 - 1 4 5 . Vgl. Kapitel: Rhetorik der descriptio, Nachahmung der Natur, wissenschaftliche Beschreibung.
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ein und demselben Buch vereinigte, was zunehmend in eine Fachpublizistik in diversen Organen der einzelnen Disziplinen einerseits und eine schöngeistige Reiseliteratur oder kulturgeschichtliche Publizistik zu zerfallen begann. Von der Irritation, die Humboldts hybrid wirkende Relation historique genau aus diesem Grund auf dem stärker segmentierten englischen Buchmarkt auslöste, war schon die Rede. Für die stärker spezialisierten Fachdisziplinen dagegen wurde eine Vermittlung an ein allgemeingebildetes, aber nicht fachgelehrtes Publikum nötig. Humboldt scheint den Möglichkeiten einer solchen Popularisierung ambivalent gegenüber gestanden zu haben, wie etwa sein Briefwechsel mit Heinrich Christian Schumacher zeigt, der bei Cotta ein astronomisches Jahrbuch herausgab. Einmal macht ihm die Veröffentlichung einen zu elitären Eindruck: „aber das Format und der Preis und die wenige Mannichfaltigkeit, und das Ernsteste des Magnetismus und der Cometenberechnung behandelnden Aufsätze unserer berühmtesten Freunde [...] Ich glaube, daß in Hinsicht der Mannichfaltigkeit und des lebendigeren Vortrage wir uns mehr Arago nähern sollten."52 Dann heißt es wieder zu einer anderen Ausgabe desselben Jahrbuchs: „Eine ernste, ,weniger spielende' Redaction gefallt mir wohl. Die Redaction von Gauß und Bessel ist untadelhaft, klar und angenehm, aber die Gegenstände, welche beide behandeln, sind dem großen Publikum zu speciell."53 Er empfiehlt Alfred Dove für „einzelne populäre Aufsätze" 54 und bietet schließlich einen eigenen Beitrag an: „Über %wei Versuche, den Gipfel des Chimbora^o erreichendazu die Bemerkung: „da das Publikum das dramatisch halsbrechende liebt, so habe ich einige Hoffnung, daß das Gemisch von diesem dramatischen und freundlich unterrichtenden Ihrer Nachsicht werth sein wird." 55 Allerdings weist Humboldt den Herausgeber des astronomischen Jahrbuchs darauf hin, dass er eben diesen Aufsatz auch vor der Versammlung der Naturforscher und Arzte in Jena vorzutragen gedenkt.56 Damit wird deutlich, dass Humboldt als Popularisator gar nicht so sehr daran interessiert war, seine Darlegungen aus der sozialen Schicht der akademisch Gebildeten oder gar Naturforscher unterschiedlicher Disziplinen herauszutragen.
52
53 54 55
56
Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Heinrich Christian Schumacher, hg. von Kurt-R. Biermann, Berlin: Akademieverlag 1979 (^Beiträge zur Alexander-vonHumboldt-Forschung, 6), S. 53 (Brief vom 2.3.1836). Ebd., S. 58 (Brief an Schumacher vom 18.3.1836). Ebd., S. 71, Brief vom 23.4.1836. Ebd., S. 73. Zum Zusammenhang der Beiträge für das astronomische Jahrbuch vgl. auch den Brief vom 1.5.1837 mit dem Lob: „Pgnaz von] Olfers Aufsatz ist vortrefflich gehalten und ganz so populär als man ihn hier wünschen durfte." Ebd., S. 73: „Ich nehme die Abhandlung aber mit nach Jena, sie ist eine der Marionetten, die ich dort spielen lasse" (Brief vom 21.9.1836).
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Scheint sich Humboldt nämlich, ob durch konservative Darstellungsformen oder eine neue Tendenz zur bloßen Rekapitulation von wissenschaftlichen Befunden sei dahingestellt, einer viel größeren Öffentlichkeit anzubequemen als etwa Arago oder Bessel, die Kompliziertestes vermitteln wollten, so heißt dies noch lange nicht, dass er wirklich so viele wie möglich erreichen wollte. Im Gegenteil. An skeptischen Äußerungen gegenüber einer so weit gehenden Popularisierung fehlt es nicht. Das Seinige meinte er mit den Kosmosvorlesungen dazu beigetragen zu haben, und sah keine Veranlassung das Experiment zu wiederholen, und so reagierte er reserviert auf Raumers Einladung zu weiteren populären Vorträgen: das Wenige, was ich vor 1000 Zuhörern, vor dem gemischtesten Publikum (König und Maurermeister) in der Singakademie geleistet habe, schützt mich vor dem Vorwurfe, das Popularmachen des Wissens zu tadeln. Mit dem Wissen kommt das Denken, und mit dem Denken der Ernst und die Kraft in die Menge. [...] Ob aber nicht Institute, in denen berühmte Männer halbjährig jeder Einzelne 8—10 Stunden halten und in denen man sicher ist, wöchentlich dreimal in mehreren aufeinanderfolgenden Stunden Vorträge zu hören, eingreifender sind, will ich nicht entscheiden. Multa fiunt eodem sed aliter.57
Auf die Unterschiede zwischen einer guten und einer falschen Allgemeinverständlichkeit legte Humboldt auch sonst größtes Gewicht. Die gute scheint ein gemischtes Publikum aus Fachvertretern diverser Disziplinen ins Auge zu fassen, die schlechte ein denkbar großes und bequemes Laienpublikum. So äußerte sich Humboldt zustimmend über Gauß: „dieser klagt die populären wissenschaftlichen Vorträge und populären Bücher an. Dem Menschen, sagt er schön, bleibt nur klar, was ihm im Lernen einige Anstrengung kostet."58 Bessel warnte er, seiner allgemeinverständlichen Astronomie den Titel „Unterhaltungen" zu geben: „da denkt man an Gespräche, an Popularisierungen, an alles, was dies ernste, großartige Unternehmen nicht ist."59 Bessel seinerseits hatte ja schon früher beteuert: „Als Mittel, die Zeit, auf deren Erscheinen ich hoffe, herbeizuführen, betrachte ich populäre Darstellungen; nach der Art Aragos etwa, nicht nach der Art Derer, welche Unrichtigkeit und Leichtigkeit für Popularität halten."60 So lag es nahe, gerade Bessel gegenüber zu betonen, dass der Kosmos sich im Grunde an eine einschlägig instruierte Leserschaft richte: „Der eigentliche Genuß meiner Arbeit ist also auf die berechnet, die da wissen. Es kann auch den Hochbegabtesten, Vielumfassendsten 57 58
59 60
Litterarischer Nachlaß Friedrich von Raumers, S. 22, Brief von 1841. Briefe Alexander von Humboldt's an Ignaz von Olfers. Generaldirektor der Kgl. Museen in Berlin. Herausgegeben von Dr. E.W.M. v. Olfers, Königsberg, Nürnberg, Leipzig Sebald 1913, S. 168 (Brief von 1853). Ebd., Brief vom 14./15.4.1844, S. 166. Briefwechsel mit Bessel, S. 140, Brief vom 5.7.1840.
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nicht gleichgültig, untheilnehmend lassen, wenn er in wenigen Stunden einmal alles recapituliren kann, was von der ungeballten, zerstreuten Materie des Weltalls an bis zur geographischen Vertheilung der Moose und Steinflechten in unserem Zeitalter als Bestand von Thatsachen angenommen wird."61 Der Umfang seines Gegenstandes, das heißt die Ausdehnung der Erdbeschreibung zur Beschreibung des Alls, des Kosmos, verdanke sich ebenfalls der Resonanz von seiten der Gelehrten unter seinen Zuhörern in Frankreich und Deutschland: der M u t h [Erde u n d H i m m e l zugleich zu behandeln] ist mir g e w o r d e n , weil in den 2 Collegien, die ich in Berlin u n d 3 J a h r e lang in Paris zur la Physique d u M o n d e gelesen, ich glaubte, b e m e r k t zu haben, daß gerade die gleichmäßige B e handlung der himmlischen u n d irdischen E r s c h e i n u n g e n m e i n e n Z u h ö r e r n , w e n n sie schon wissenschaftliche V o r b e r e i t u n g besaßen, einen E i n d r u c k ließ, v o n d e r G r ö ß e des G e g e n s t a n d e s hinterließ, der zu großartigeren A n s i c h t e n in jeglicher Sphäre die specielle U n t e r s u c h u n g leiten kann. 6 2
So im Brief an Bessel vom 15. April 1844, womit zugleich ausgesprochen wäre, dass die Darstellung des Ganzen für ein fachübergreifendes Publikum durchaus als Anregung zu speziellen wissenschaftlichen Studien mit interdisziplinärem oder allgemein „philosophischem" Horizont anzusehen sind. Zwischen allgemeinverständlich im Sinne einer transdisziplinären Wissenschaft und einem im weitesten Sinne populären Vortrag unterschied also Humboldt genau, bis in den Kosmos selbst. In den „Einleitenden Betrachtungen" wird die Vermittlung an ein allgemeines Publikum dringend von der genauen wissenschaftlichen Vorbereitung des Autors abhängig gemacht.63 Kurz darauf erfahrt das Goethesche Zitat aus den Aphorismen zur Naturwissenschaft: „Die Deutschen besitzen die Gabe, die Wissenschaften unzugänglich zu machen" eine unmissverständliche Interpretation: Die Methoden der wissenschaftlichen Erkenntnis sollen sich nicht als Hindernis vor die Darstellung der allgemeinen Ergebnisse stellen, in Humboldts Worten: „Bleibt das Gerüst stehen, so wird uns
61 62 63
Briefwechsel zwischen Humboldt und Bessel, S. 158. Ebd., S. 168. K , S. 21: „Man unterscheide sorgfaltig zwischen dem Lehrenden, welcher die Auswahl und Darstellung der Resultate übernimmt, und dem, der das Dargestellte, als ein Gegebenes, nicht selbst Gesuchtes, empfängt. Für jenen ist die genaueste Kenntniß des Speciellen unbedingt nothwendig; er sollte lange das Gebiet der einzelnen Wissenschaften durchwandert sein, selbst gemessen, beobachtet und experimentirt haben, um sich mit Zuversicht an das Bild eines Naturganzen zu wagen. [...] Sollte sich nicht in allen einzelnen Theilen das große Naturgemälde mit scharfen Umrissen darstellen lassen, so wird es doch wahr und anziehend genug sein, um den Geist mit Ideen zu bereichern und die Einbildungskraft lebendig und fruchtbar anzuregen."
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durch dasselbe der Anblick des Gebäudes entzogen".64 Schlechte Popularisierung ist damit nicht gemeint.65 Rhetorik der mündlichen und schriftlichen Rede Nur mit Einschränkungen und unter bestimmten Prämissen lässt sich der fünfbändige Kosmos als ein klassischer Text der Wissenschaftspopularisierung ausgeben. Anders steht es um die Kosmosvorlesungen. Vieles, vor allem die Auswahl der Gegenstände, der Verzicht auf wissenschaftlich Neues und die Herleitung der Erkenntnisse, vor allem aber der Stil der Rede, der einem wenig vorbereiteten Publikum weit entgegenkommt, weisen darauf hin, dass die Vorträge in der Singakademie unter dem Stichwort Wissenschaftspopularisierung zu verzeichnen sind. Aus der Sicht der modernen Naturwissenschaft erscheint der populäre Vortrag vor allem als Reduktion komplexer Sachverhalte und Rückübersetzung fachspezifischer Termini und Probleme in Alltagssprache und Alltagswissen. Allerdings lassen sich Humboldts öffentliche Vorträge auch von viel älteren wissenschaftlichen Konventionen her deuten, nämlich aus der Tradition des akademischen Vortrags heraus, der selbst da, wo er sich an ein durchaus erudiertes Publikum wendet, einer bestimmten Rhetorik folgt. Der akademische Vortrag stellt sich herkömmlich anders dar als die wissenschaftliche Abhandlung, er berücksichtigt die kommunikative Situation der Mündlichkeit im Gegensatz zur Schriftlichkeit. Ein großer Teil der neueren Strategien zur Popularisierung ist daher im Grunde Derivat einer älteren rhetorischen Tradition, die nicht primär zwischen dem gelehrten und dem ungelehrten Publikum unterscheidet, sondern zwischen dem Leser und dem Hörer. Dabei bezieht sich Humboldt nicht auf die gängige Praxis des akademischen Vortrags, sondern auf seine ideale Gestalt.66 Humboldts populärste Schriften zu Lebzeiten, die Ansichten der Natur, waren ursprünglich akademische Vorträge, nämlich mündliche Beiträge für die Mitglieder der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Die zahlreichen Anmerkungen und Ergänzungen, die von Auflage zu Auflage dazugekommen sind, haben das Buch für die Leser, die wohl weiterhin 64 65 66
K, S. 21. K, S. 23. Überliefert ist, dass er sich kritisch über den Usus äußerte, in der universitären Vorlesung zu diktieren. „Mit der Abschaffung des Diktirens würden aber die Professoren ihrer Eloquenz freien Lauf lassen können; der Gedanke würde nicht jeden Augenblick eingezwängt, unterbrochen werden, und die Deutsche Gelehrten-Sprache würde dadurch mehr Leben, Action und Kolorit erhalten. Dies aber würde ein Gewinn für die Sprache und selbst für die Wissenschaft werden." A. v. Humboldt: Gespräche, S. 150.
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den Haupttext schätzten, sicherlich nicht populärer gemacht. Der Verfasser der Ansichten unterschied zunächst wohl ausdrücklich nicht zwischen den Gelehrten, für die sie zuerst gedacht waren, und allgemein gebildeten Lesern. Gewiss, Humboldt hatte es in der Akademie nicht mit einem Fachpublikum zu tun, sondern mit einer Versammlung unterschiedlicher Gelehrter. Vor allem aber hatte er es mit einer Zuhörerschaft zu tun, und die Rhetorik des Vortrags empfahl sich in der Druckfassung einer weniger vorgebildeten Leserschaft. Obwohl die Gegenstände der Ansichten wissenschaftlich neu sind, erschließen sie sich dem gelehrten wie dem ungelehrten Publikum gleichermaßen, insofern sie deskriptiv sind und rhetorisch auf das begrenzte Fassungsvermögen einer Zuhörerschaft Rücksicht nehmen. Ganz ähnlich wird es sich auch mit den Eröffnungs- und Plenumsvorträgen Humboldts auf den Versammlungen der deutschen Naturforscher und Ärzte in Berlin, Jena und Breslau verhalten: Sie sind zuerst Texte der Mündlichkeit für ein gemischt gelehrtes Publikum, und erst zweitens in der Druckfassung für ein breiteres Publikum geeignet. Die Rhetorik des akademischen Vortrags geht also der ausdrücklichen Bemühung um Popularisierung voraus. So auch in einem Vortrag Über die Haupt-Ursachen der Temperatur-Verschiedenheit auf dem Erdkörper, mit dem Humboldt sich im Juli 1827, kurz nach seiner Übersiedlung nach Berlin, in der Akademie der Wissenschaften zurückmeldete. Nicht nur der Mangel an wissenschaftlich Neuem würde diesen Beitrag für ein durchgehend wissenschaftlich gebildetes Publikum als populären auszeichnen. Er übt sich auch sonst in Allgemeinverständlichkeit und zeugt von rhetorischer Ambitioniertheit.67 Während der Titel die Abhandlung einer wissenschaftlichen Fragestellung verspricht, steht der Vortrag zunächst einmal in der Nachbarschaft von Humboldts „Antrittsrede", mit der er sich 1805 als neues Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften vorgestellt hatte.68 Auch dieser Vortrag ist zunächst eine Hommage an die Institution, in der Humboldt sich erneut vorstellt, und eine programmatische Beschwörung wissenschaftlicher Bestrebungen und ihrer „höheren" Zwecke überhaupt. Die repräsentative Funktion von Akademievorträgen zieht eine Rhetorik nach sich, die sich gegen die Darstellung eines wissenschaftlichen Sachverhalts durchsetzt: „Oeffentliche akademische Sitzungen", heißt es da, sind nicht dazu geeignet, abgesonderte B e o b a c h t u n g e n zu erörtern, o d e r b l o ß e n Zahlen-Verhältnissen e r m ü d e n d nachzuspüren. K ü r z e , w e l c h e die A c h t u n g gegen
67
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Einer der prächtigen Sonderdrucke hat sich in der der Privatbibliothek Karl August Varnhagen von Enses wiedergefunden, mit dem Vermerk „Geschenk vom Verfasser". Heute Staatsbibliothek Berlin. Antrittsrede gehalten bei seiner Einfuhrung in die Königl. Preuß. Akademie der Wissenschaften von Alexander von Humboldt. Ein Abdruck für Freunde, Berlin 1805.
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Naturforschung als Bildung: Von der Vorlesung zum literarischen Kanon den H ö r e n d e n gebietet, steht der Vollständigkeit jeder empirischen Untersuc h u n g entgegen. D a s Einzelne kann gefällig n u r dann die A u f m e r k s a m k e i t auf sich ziehen, w e n n es d e m A l l g e m e i n e n untergeordnet, auf h ö h e r e Naturansichten hindeutet. E i n e r b e s o n d e r n Nachsicht k ö n n t e sich die aphoristische B e h a n d l u n g e m p f e h l e n , w e n n es ihr gelänge, dieselbe K l a s s e v o n Erscheinungen vielseitig zu beleuchten, eine Fülle v o n Ideen in schneller Folge zu erwecken, und so die freie Thätigkeit des Geistes zu beschäftigen. 6 9
Auch dann, wenn es wirklich um die Entfaltung eines sachlichen Zusammenhangs geht, gebietet sich die Rücksicht auf die spezielle Situation der Rede, die daher eine bestimmte Rhetorik fordert. Solche Überlegungen werden Humboldt bewogen haben, die Vorlesungen in Universität und Singakademie frei, nur gestützt auf Stichpunkte zu halten.70 Das Ergebnis ist ein Sprechakt,71 die geistige wie physische Gegenwart des Redners, die denn auch ihre Wirkung auf das Auditorium nicht verfehlte. Wilhelm von Humboldt schrieb anerkennend: „Es ist aber auch nicht möglich, besser zu lesen, man mag auf den Vortrag oder die Sachen sehen."72 Seine Frau ging in ihrer Begeisterung weiter und berichtete von dem Charisma des Redners. In ihrem Brief an die Tochter, der später noch genauer zu lesen sein wird, werden dessen Darlegungen zu authentischen Äußerungen eines heroisierten Individuums, das in sich den ganzen Umfang des naturgeschichtlichen Wissens verkörpert.73 Was Alexander von Humboldt in der Konversation im Freundeskreis, in Salon und Gesellschaft begonnen hatte, die spontane Mitteilung, ist dabei bis an den Rand der Anonymität von gedruckten Publikationen getrieben. Zelter berichtet denn auch bewundernd, was Humboldt, unterstützt von der Akustik des Konzertsaals, vor ungefähr tausend Zuhörern auch stimmlich geleistet habe.74 Die Publikation des Kosmos, der ausdrücklich an die Vorlesungen des Jahres 1827/28 anschloss, sollte daher auch den Charakter der mündlichen Rede wahren. Zwischen Vortrag und Buch veränderte sich allerdings die kommunikative Situation erheblich, wie auch Humboldt bewusst war. Anfangs scheint er zwar eine schleunige Drucklegung der Vorlesungen 69 70
71
72 73 74
Alexander von Humboldt: Über die Hauptursachen der Temperatur-Verschiedenheit auf dem Erdkörper, Berlin: F. Dümmler 1827, S. 4. Vgl. Humboldts Brief an Bessel vom 14.7.1833: „Ich sprach ganz frei, hatte aber die Gewohnheit, noch an demselben Tage, was mir in der freien Rede gelungen schien, zu dictiren und zu erhalten", Briefwechsel zwischen A. v. Humboldt und F. W. Bessel, S. 82. Heinrich Bosse: Der Autor als abwesender Redner, in: Paul Goetsch (Hg.): Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England und Frankreich, Tübingen: Narr 1994, S. 2 7 2 - 2 9 0 , S. 287. Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, Bd. 7, S. 326. Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, Bd. 7, S. 325. Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, MA, Bd. 20.2, S. 1090. Zur kulturellen Interpretationen der menschlichen Stimme im Kontext der Zeit vgl. Bettina Hey'l: Goethes und Zelters Reflexionen über die menschliche Stimme, in: J B D S G 40 (1996), S. 1 8 1 - 2 0 9 , über die Kosmosvorlesungen S. 192.
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erwogen zu haben, doch nahm er bald davon Abstand.75 Öffentlich drohte er mit einer Anzeige gegen jede unautorisierte Veröffentlichung einer Mitschrift,76 entschied sich dann aber auch gegen eine zu frühe autorisierte Druckfassung: Hr v. Cotta hat mir den Vorschlag gemacht, das gesprochene Wort durch einen geübten Schnellschreiber ans Papier zu heften, dessen Aufzeichnungen nach jeder Vorlesung durchzusehen und das also gewonnene Manuscript ihm nach Stuttgart zu schicken, damit er es gleich in die Druckerei geben und bogenweise verwenden könne. Er verspricht sich von dieser Manipulation mit — ganz frischer Waare einen großartigen Erfolg und hat mir in dieser Aussicht glänzende Propositionen gemacht. [...] Ich habe ihm geantwortet: ,Nicht Alles, was man auf dem Katheder spreche, könne so ohne Weiteres gedruckt werden; was für die Presse und durch diese für eine längere Zukunft bestimmt sei, müsse wohl und reiflich überlegt, dann niedergeschrieben, überarbeitet, geläutert und gesichtet und mit den Beweisstücken der Schriftsteller in Noten und Citaten beglaubigt werden; in der Richtung kenne er ja meine Manier zu schreiben; ich würde aber auf Grundlage der Notizen, welche ich für meine freien Vorträge [...] benutze, ein Buch über physische Geographie abfassen. 77
So an den Geographen Heinrich Berghaus. Dennoch deutete Humboldt schon früh an, dass er in der Suggestion eines mündlichen Vortrags im Buch ein Erfolgsrezept sah. In einem Brief an Cotta schrieb er noch während der laufenden Veranstaltung: „Ich darf mir schmeicheln, daß in diesem Umfange und in dieser Einheit wohl noch nie das Ganze der physischen Erscheinungen in den himmlischen Räumen und auf unserem Planeten vorgetragen ist", und gibt der Hoffnung Ausdruck, „daß der Succeß des Gelesenen nicht unter dem des Gesprochenen stehe". Weiter heißt es „Ich lasse übrigens dem Werke die Form einer Rede."78 Ausgerechnet Goethe fiel in Humboldts Schriften eine heikle Implikation der oratorischen Disposition auf, die er als Konkurrenz von Sachlogik und Wirkungsabsicht identifizierte. Anlässlich der Lektüre von Humboldts Fragmens de geologie et de climatologie AsiatiquesJ9 die der Verfasser ihm zugeschickt hatte, schrieb Goethe, wiederum an Zelter: Das außerordentliche Talent dieses außerordentlichen Mannes äußert sich in seinem mündlichen Vortrag, will überreden und den Zuhörer glauben machen, er überzeuge ihn. Wenige Menschen sind fähig überzeugt zu werden, überrreden lassen sieht die meisten, und so sind die Abhandlungen die uns hier vorgelegt werden wahrhafte Reden, mit großer Facilität vorgetragen, so daß man sich zu75 76 77 78 79
Über das Universum, Vorwort S. 26f. Petra Werner: Himmel und Erde, Berlin: Akademie-Verlag 2004, S. 14f. Briefwechsel Alexander von Humboldt's mit Heinrich Berghaus aus den Jahren 1825 bis 1858, 2 Bde., 2. Aufl., Jena: Hermann Costenoble 1869. Brief an Cotta vom 1.3.1828. Alexander v. Humboldt: Fragmens de geologie et de climatologie Asiatiques, 2 Bände, Paris 1831.
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letzt einbilden möchte man begreife das Unmögliche. Daß sich die Himalaja Gebirge auf 25000' aus dem Boden gehoben und doch starr und stolz als wäre nichts geschehen in den Himmel ragen, steht außer den Grenzen meines Kopfes in den düstern Regionen wo die Transsubstantiation pp. hauset und mein Cerebralsystem müßte ganz umorganisiert werden, was doch schade wäre, wenn sich die Räume für diese Wunder finden sollten. [...] Ich wiederhole: Unser Welteroberer ist vielleicht der größte Redekünsder. Da seinem ungeheuren Gedächtnis alle facta gegenwärtig sind, so weiß er sie mit der größten Geschicklichkeit und Kühnheit zu brauchen und zu nützen. Wer aber vom Metier ist, sieht ziemlich klar wo das Schwache sich am Starken hinanrankt und das Starke gar nicht übel nimmt sich etwas bekleidet, verziert und gemildert zu sehen.80
Weniger auf die geologische Formation des Himalaja, von Goethe als ein „mit Kunst und Energie vorgetragenes Paradox" bezeichnet, wohl aber auf die Redaktion des Kosmos ist die kritische Anmerkung zu Humboldts rhetorischem Argumentationsstil mit Gewinn zu beziehen. In diesem Spätwerk schiebt sich nämlich vor die Verbindlichkeit einer mündlichen Rede, die es vor allem vermeidet, die Zuhörer zu ermüden und zu überfordern, eine andere Funktion der Rhetorik, nämlich die Persuasion. Die „Einleitende[n] Betrachtungen über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses und die wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze" geben zwar laut Auskunft des Verfassers eine Rekapitulation der Berliner Vorlesung, ob der universitären oder der an der Singakademie ist nicht ganz klar, zumal die Mitschrift der letzteren gar keine Präliminarien enthält. An Bessel schreibend begründet Humboldt 1833 jedenfalls die Rekonstruktion der freien Rede von vor sechs Jahren für den Kosmos damit, dass er „dem Ganzen einige individuelle Erinnerung an meine Vorlesungen zu geben" wünsche.81 Vor allem die selbstauferlegte Regel, den Hörer durch Kürze vor Ermüdung zu bewahren, hat der Verfasser des Kosmos gebrochen. Dass der Redner der Vorlesungen von vor zwanzig Jahren und der Verfasser des fünfbändigen Werkes ein- und derselbe sein sollten, dies zu erkennen legte weniger der Text nahe, als es die Erwartungen der Leser beschworen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass Humboldts Popularisierung der Naturforschung, wenn man sie so bezeichnen will, eine Grundlage in der durchaus konservativen Bewahrung eines rhetorischen Präsentationsmodus hat, der mündliche wie schriftliche Ausführungen an den Erfordernissen einer konventionalisierten Rede ausrichtet, weniger jedoch, wie in der modernen Fachliteratur zunehmend üblich, an der reinen Sachbezogenheit der Darstellung. Um Goethes Formulierungen aufzunehmen: Am Starken der empirischen Daten rankt sich das Schwache, nämlich der Gedanke einer schönen Ordnung des Kosmos empor, während dieses Starke, die unübersehbare Fülle empirischer 80 81
MA, 20.2, S. 1552 (Brief vom 5.10.1831). Briefwechsel mit Bessel, S. 82.
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Details, es „gar nicht übel nimmt", sich als Kosmos etwas bekleidet, verziert und gemildert zu sehen. Humboldts Leser jedenfalls haben die Motive, die hinter seiner Rhetorik der Persuasion stehen, das Bedürfnis die physische Welt als Ganzheit schön und erhaben zu finden, geteilt. Wenn die Beschreibung der physischen Welt zum Weltbild wird, dann ist dies nicht zu trennen von der ins Schriftliche gewendeten Redekunst, die auch eine Überredungskunst ist. Die Aufwertung, die der Gegenstand der Rede in der rhetorischen Behandlung erfahrt, setzt Humboldts Rhetorik deutlich von der didaktischen Bearbeitung naturwissenschaftlicher Gegenstände in anderen populärwissenschaftlichen Vorträgen oder Veröffentlichungen der Zeit ab. Die pragmatischen Gattungen der didaktischen Prosa erhielten sich im 19. Jahrhundert relativ konstant, auch wenn es inzwischen um die Vermittlung neuer naturwissenschaftlicher Sachverhalte ging. Die Briefform, der Dialog, die Erzählung, die „Biographie" eines Naturproduktes, es sind im 19. Jahrhundert weit verbreitete Genres populärer Wissenschaftsvermitdung.82 Bemerkenswert sind diese Fortführungen des Traditionellen allenfalls im Kontext einer Naturwissenschaft, die sich in Terminologie und Präsentationsformen von den Konventionen der älteren expositorischen Literatur zunehmend unabhängig macht. Hierbei handelt es sich tatsächlich um Formen der Diffusion und Popularisierung. Wirkt sich das „Oratorische" der mündlichen wie der schriftlichen Rede günstig für eine Verbreitung naturgeschichtlicher Ausführungen aus, so darf doch bei Humboldts Kosmos und den ihm vorausgehenden Vorlesungen nicht an eine spezielle Didaktisierung oder gar Ubersetzung für ein möglichst breites Publikum gedacht werden. Die Klarheit, zu der sich Humboldt gegenüber den wissenschaftlichen Kollegen verschiedener Disziplinen verpflichtet fühlte, mochte gebildeten Laien entgegenkommen, sie wurde wohl nicht eigens auf sie abgestimmt. Nirgends finden sich denn auch in Mitschriften und Druckfassungen eine besondere Anrede des Laienpublikums, die floskelhafte Berücksichtigung der Jugend oder der Damenwelt. Im Gegenteil scheint sich Humboldt in dieser Hinsicht besonders zurückgehalten zu haben. Gönnerhaftes, Schmeichelhaftes wie ausdrücklich Belehrendes gegenüber „schwächeren" Teilen seines Publikums vermied er. An du Bois-Reymond schrieb er: „Ihre Rede ist ganz Ihrer würdig, geistreich zusammengedrängt, vielleicht zu reich an Gleichnissen die wie Sie wissen die Zuhörerinnen immer an die Imbecillität erinnern die man bei Ihnen [sie!] voraussetzt. ,Ich weiß nicht, sagt 82
Eine gute Aufzählung von Beispielen bei Wolfgang Rohe: Literatur und Naturwissenschaft, in: Edward Mclnnes und Gerhard Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit (= Hansers Sozialgeschichte der Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, B. 6), München 2 2 1 - 2 4 1 , 7 6 8 - 7 7 1 .
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Wilh[elm] Schlegel, ob meine Zuhörerinnen verstehen was ich wegen Einmengung schwarzen Marmors eine Zebra-Architektur nenne so will ich denn sagen daß es ein eselsartiges Thier mit schwarzen Streiffen giebt.. Λ"83 Rhetorik also: ja, aber eine spezielle Rhetorik der popularisierenden oder didaktisierenden Anbiederung: nein. In den Kosmosvorlesungen wie im Buch, das fast zwei Jahrzehnte später daraus hervorgehen sollte, ist Rhetorik nicht ein Mittel der Vereinfachung, wenn Vereinfachung die Übersetzung eines komplizierten Sachverhaltes für ein wenig vorbereitetes Publikum sein soll. Vielmehr geht es Humboldt um eine spezifische Qualifizierung seines Gegenstandes.84 Die physische Welt soll rhetorisch als schöner und geordneter Zusammenhang erscheinen. Mit der Verbreitung an ein allgemein gebildetes Publikum hat das nicht deswegen zu tun, weil es nicht einschlägig vorgebildet wäre, sondern weil die physische Welt erst in einem solchen Publikum zum Gegenstand kultureller Identität und zu einem welterschließenden Symbol wird. Erst wenn Natur rhetorisch zum Kosmos wird und damit zugleich Wahrheit und Schönheit für sich in Anspruch nimmt, wird Naturforschung zur Bildung. Bildung aber ist nicht als ein beliebiges Wissen zu verstehen, sondern als idealer Zusammenhang zwischen einem Sachbereich, der geistigen Beschäftigung damit, den einzelnen Subjekten dieser Beschäftigung, ihrer Gemeinschaft. Und dieser Zusammenhang ist, wie Humboldt wusste, ein vitales Motiv öffentlicher Symbolisierung und gesellschaftlicher Modernisierung. Naturforschung als Bildung Humboldts erste Bildungseindrücke waren einem Rationalismus verpflichtet, der sich jedem beliebigen Gegenstand von schulgerechten philosophischen Leitsätzen her näherte, und als solche galten Naturgesetze selbst. Der ältere Humboldt hingegen hatte es mit einer Naturwissenschaft zu tun, die theoretisch und mathematisch vorging, aber nicht philosophisch in einem allgemein gängigen Sinne des Wortes. Mit dem Autoritätsverlust einer Philosophie, die sich auch in der alltäglichen Praxis der Verständigung bewährte, kam es, wie Rudolf Stichweh darlegt, zu einer „Deinsütutio83 84
Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Emil du Bois-Reymond, S. 1 1 5 (Brief vom 19.3.1850). Vgl. Kurt Bayertz: Spreading the Spirit of Science. Social Determinants of the Popularization of Science in Nineteenth Century Germany, in: Terry Shinn, Richard Whidey (Hg.): Expository Science: Forms and Functions of Popularisation. Sociology of the Sciences IX, 1985, S. 209-227, S. 212: Humboldt gehe es um eine philosophische Idee, nicht um Diffusion im spezifisch sozialen Interesse.
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nalisierung einer Vielzahl von kommunikativen Überbrückungen [...], die noch im 18. Jahrhundert die Wissenschaft mit einem breiten außerwissenschaftlichen Publikum verbinden."85. Gemeint ist damit, dass der Standpunkt kaum mehr gefunden wird, der die Gesamtheit aller Wissenschaften gegenüber ihren diversen Vertretern zusammenfasst, dass immer geringere Aussichten bestehen, einzelne Fachwissenschaften oder gar die Wissenschaft als solche für ein Laienpublikum zugänglich zu machen, dass keine allgemeine Regel gilt, nach der Wissenschaft in alltägliches Orientierungswissen überführt werden könnte. Philosophisches Denken, das je nach Erfordernis auf metaphysische Voraussetzungen zurückgeht oder pragmatische Folgen einschließt, gilt nicht mehr als konventionelle Grundlage jeder vernünftigen Rede über was auch immer. Dafür springt die Bildungsidee ein und hilft auch bei der Einbindung von Wissenschaft in weitere kulturelle und soziale Zusammenhänge. Bildung verallgemeinert individuelle Prozesse, sei es in der Natur, sei es in der Biographie jedes Einzelnen zu einer Entwicklung, die symbolisch auf die Natur als ganze, auf kulturelle, ökonomische, gesellschaftliche und politische Prozesse übertragen werden kann. Das Bildungsideal wird zum Angelpunkt der Vermittlung zwischen individualisierenden und sozialisierenden Tendenzen, zwischen Autonomie und Integration.86 Der Begriff Bildung hat in anderen europäischen Sprachen kein Äquivalent, das alle semantischen Implikationen dieses Begriffs widerspiegelte, und eben diese Prägnanz und Mehrschichtigkeit hebt auch die deutsche Bildungsgeschichte als Mentalitäts-, Institutionen- und Ideengeschichte in vieler Hinsicht von den Entwicklungen in den benachbarten Ländern ab. Mit der spezifisch deutschen Karriere des Begriffs Bildung und seiner Konnotate setzte sich Humboldt intensiv auseinander, insofern er für ein deutsches Publikum schrieb. Mit dem philosophischen Komplex, an den 85 86
Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems, S. 55, auch S. 52f. Zur Problem- und Begriffsgeschichte der Bildung vgl. Rudolf Vierhaus: „Bildung", in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart: Klett 1972, S. 5 6 8 - 5 5 1 . Zur gegenseitigen Legitimation diverser „Bildungsprozesse" vgl. Koselleck: Zur anthropologischen und semantischen Struktur, S. 20: „Die Übertragung des selbstreflexiven Bildungsbegriffs auf andere Handlungseinheiten: auf das Volk, die Nation, die Gemeinschaft, die Gesellschaft, die Kindheit, die Jugend oder den Staat, schließlich auf die Natur und die Geschichte, alle diese einer Bildung fähigen Handlungseinheiten oder Subjekte werden zu Derivaten der Selbstbildung." Freilich scheint die Bildung der Natur weniger ein Derivat menschlicher Selbstbildung zu sein, als dass die Analogiebildung beider erst zur Formulierung des spezifischen Bildungsgedankens seit dem goethezeitlichen Neuhumanismus führt. Wenn Stichweh zu Recht von der „Bildungsidee als Entwicklungstheorie" spricht, so weist dies ebenfalls auf die naturgeschichtliche, genauer biologische Genese des Bildungsgedankens hin. R.S.: Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung, in: Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, München: Fink 1991, S. 9 9 - 1 1 2 , hier S. 106.
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die neuhumanistische Bildung am besten anschließen konnte, der spätaufklärerischen Anthropologie, war er schon in Berlin bekannt geworden. In Jena wurde er mit den symbolischen Weiterungen der Entwicklungsphysiologie vertraut. Schon 1797 sah Wilhelm von Humboldt in seinen Ideen einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates "ψ bestimmen eine Analogie zwischen der natürlichen und der kulturellen „Bildung", zwischen der organischen und der geistigen, der intellektuellen und ästhetischen, der theoretischen und der praktischen: Dabei auch betonte er auch, dass das Naturstudium dem selbstreflexiven Prozess der menschlichen Bildung nur förderlich sein könne: „Das ewige Studium der Physiognomik der Natur bildet den eigentlichen Menschen. Denn nichts ist von so ausgebreiteter Wirkung auf den ganzen Charakter als der Ausdruck des Unsinnlichen im Sinnlichen, des Erhabnen, des Einfachen, des Schönen in allen Werken der Natur und Produkten der Kunst, die uns umgeben."87 Ausdrücklich ist von der „Analogie zwischen den Gesetzen der plastischen Natur und denen des geistigen Schaffens"88 die Rede. Die Idealisierung der Bildung („denn alle Bildung hat ihren Ursprung allein im Innern der Seele")89 steht insofern nicht im Widerspruch zur Vorbildlichkeit natürlicher, organischer Bildungsprozesse, als die Seele als lebendige imaginiert wird, als Keim gewissermaßen, aus dem sich alles andere entfaltet.90 Wilhelm von Humboldt schließlich war maßgeblich daran beteiligt, den komplexen Bildungsbegriff im reformierten preußischen Universitätsund Gymnasialwesen institutionell zu verankern.91 Mit seinen Vorlesungen suchte nun Alexander von Humboldt nach seiner Rückkehr nach Berlin 1827 nicht nur Anschluss an die Institution der Universität, sondern auch an jenes Bildungsideal, an das inzwischen die Identität eines großen Teils der „gebildeten Stände" gebunden war. Zwei Interessen verschränkten sich dabei: Zum einen sollte die Naturforschung als Bildung öffentlich 87 88 89 90
91
Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, Stuttgart: Reclam 1987, S. 105. Ebd., S. 108 Ebd., S. 87. Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt a.M., New York: Campus 1993, S. 23: „Die Säkularisierung der Bildungsidee im 18. Jahrhundert besteht in der Abwendung von der Idee der radikalen Umwandlung und der Hinwendung zur Idee des allmählichen Wachstums [...] das christliche Siegelmodell wird durch das organische Saatkorn-Modell ersetzt." Vgl. Die Idee der deutschen Universität. Die fünf Grundschriften aus der Zeit der Neubegründung durch klassischen Idealismus und romantischen Realismus, hg. von Ernst Amrich, 2. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964; Vgl. auch Theodore Ziolkowski: Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1994, darin das Kapitel „Die Universität: Modell des Geistes", das abschließend die „Berliner Universität als Institutionalisierung des Ideals von Jena" darstellt (S. 363-390).
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legitimiert werden; zum anderen der Bildung mit der empirischen Natur ein außerordentlich symbolträchtiger Gegenstand erschlossen werden. Humboldt konnte dies leisten, indem er an die Identifikation von Bildung und biologischer Ontogenese des späten 18. Jahrhunderts wieder anschloss, die indessen aus der konventionellen Rede von Bildung verdrängt worden war. Indem Humboldt sich vornahm, die einzelnen Teile der Natur allmählich zum Ganzen zusammenzuschließen, gab er seinen Kosmosvorlesungen zugleich den Inhalt und die Form der Bildung. Von der „Uebersicht der Zustände im Allgemeinen", von der Betrachtung der „einzelnen Theile der großen Gesammtheit gewissermaßen als coexistierend" bis zur „Idee von der Einheit des großen Natur Ganzen",92 entfalten die Vorlesungen in der Singakademie verschiedene Grade und Qualitäten der Natur, die in ihrer Totalität gipfeln. Die Deskriptionen und Aufzählungen einzelner Phänomene haben dabei zunächst etwas Enzyklopädisches. Lexika, Handbücher, Enzyklopädien bewährten sich wohl zuerst, weil sie die Massen des spezielleren Wissens auch für Kundige aus angrenzenden Fächern zu erschließen halfen. Erst allmählich wurden sie zu einem bevorzugten Bildungsmittel für Laien, die in der gebildeten Konversation bestehen wollten.93 Das Material, das Humboldt in seinen Vorlesungen und im Kosmos entbreitet, bewährt sich zum Teil auf ähnlichen Wegen wie das der Enzyklopädien, zumal in der Trennung des Wichtigen vom Unwichtigen. Eine Synthese bieten Nachschlagewerke, zumal wenn sie nach Schlagworten geordnet sind, jedoch kaum, selbst wenn sie, wie J.G. Meusel schon 1800 forderte, den „Zusammenhang der einzelnen Teile der Wissenschaft besonders zu zeigen" hatten.94 Um einen höheren Standpunkt bemüht sich Humboldt dagegen konsequent, wenn auch nicht systematisch. Zunächst auf dem Wege einer nach und nach aufgebauten Darstellung des Ganzen, dann durch eine Bewertung dieses Ganzen, die offensichtlich die Möglichkeiten des strengen Empirikers hinter sich läßt. Zwar setzt der Redner an zu erklären, „wie noch die Weltbeschreibung die auch als Wissenschaft zu stellen sey, [...] doch nur Materialien liefert, zu einer rationellen Naturphilosophie, deren letzter Zweck ein vernunftmäßiger Begriff der Natur seyn muß."95 Doch Humboldt versucht gar nicht erst, 92 93
94 95
A. v. Humboldt: Über das Universum, S. 43 und 147. Vgl. Uwe Puschner. Mobil gemachte Feldbibliotheken. Deutsche Enzyklopädien und Konversationslexika im 18. und 19. Jahrhundert, in: IASL, 8. Sonderheft: Literatur, Politik, und soziale Prozesse, Tübingen: Niemeyer 1997, S. 6 2 - 7 7 , S. 65f.; Ulrike Spree: Das Streben nach Wissen: eine vergleichende Gattungsgeschichte der populären Enzyklopädie in Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 2000. Puschner: Mobil gemachte Feldbibliotheken, S. 63. A. v. Humboldt: Über das Universum, S. 136.
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eine solche rationelle Naturphilosophie zu entwerfen. Einen längst überlieferten Hauptsatz der Philosophie stellt er stattdessen ohne jeden Beweis, ohne Herleitung vor seine Zuhörerschaft hin: „Die Natur ist Einheit und Vielheit; sie ist der Inbegriff der Naturdinge, und der Naturkräfte — die Naturerkenntniß mithin die Kentnnis der Dinge neben oder nacheinander."96 Zum Gegenstand der Bildung im idealen Sinne wird eine so verstandene Natur allerdings erst in dem Moment, in dem Humboldt das „Natur Ganze" auf andere Totalitäten bezieht und argumentativ damit verknüpft: Der einzelne bildet sich, Nationen und die Menschheit, die Sprache, die Kultur und die Geschichte, das Gefühl, die Ästhetik und die Erkenntnis. Sie alle vollziehen sich im Selbstbezug ganz analog zu dem Urphänomen einer sich unentwegt fortsetzenden Selbstbildung der Natur: Ich begnüge mich mit der Andeutung, wie sich allmälig die Idee von der Einheit des großen Natur Ganzen verbreitet hat. Ein dunkles Gefühl, eine begeisterte Ahnung derselben, müssen wir selbst bei den sogenannten wilden Völkern voraussetzen; das vernunftmäßige Begreifen jenes Natur Ganzen kann sich aber nur bei gebildeten Nationen vorfinden: so wie der Horizont der Erkenntniß sich in allen Wissenschaften erweitert, so rückt auch dieser Begriff uns näher und näher. Mit gewonnener geistiger Freiheit wird der Glaube an die Einheit der Natur, zur lebhaften Erkenntniß, zum klaren Begreifen.97
Alexander von Humboldt schließt nun von der natürlichen auf die kulturelle Bildung, indem er in der zehnten seiner Kosmosvorlesungen Anthropologie betreibt. Mit der Naturwissenschaft vom Menschen wird von der organischen Bildung zur kulturellen die Brücke geschlagen: „Das höchste Ziel aller Naturbetrachtung kann nur erreicht werden durch klare Erkenntnis unserer eigenen Natur, und wir wenden uns daher zur Betrachtung der höchsten Stufe organischer Bildung auf unserem Planeten, zu der des Menschen."98 Die organische „Bildung" wird zum idealen Gegenstand der geistigen „Bildung", die sich im gebildeten und bildenden Umgang mit der Natur zugleich selbst reflektiert. Unversehens verwandelt sich Anthropologie in Humanismus. Humboldt wird zwar im zweiten Teil der Vorlesung als „Systematiker"99 „den Menschen" in seinen verschiedenen Rassen benennen, doch streben die einleitenden Sätze sofort zur einheitlichen Abstammung der Menschenrassen und daher zur „Einheit der Menschenart."100 Dabei wiederholt sich nicht nur auf dem höchsten Niveau die These von der Einheit der Natur überhaupt, Humboldt kann so hinter der einen „Men96 97 98 99 100
Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
147. 127. 130. 127.
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schenart" und der „Menschennatur" den „Grundsatz von der Einheit des Menschengschlechts" aufrufen, und, wie implizit deutlich wird: die Humanität. Die These von einem ursprünglichen Unterschied der Rassen wird sogleich über die Erörterung der Sklaverei und ihre Achtung zurückgewiesen. Die „anerkannte Einheit" des Menschengeschlechts definiert sich bei Humboldt dabei gar nicht naturgeschichtlich induktiv; dass die verschiedenen Rassen Varianten einer einzigen Menschenart seien, ist eine Behauptung, die sich an die Forderung von der Unveräußerlichkeit der menschlichen Freiheit anschließt und ist eine Konsequenz aus naturrechtlichen Prämissen. Es ist dieser argumentative Kurzschluss, der aus der empirischen Naturbeschreibung einen geeigneten Gegenstand idealistischer Bildung mit ihren Wertbegriffen macht. Freiheit ist ein Konzept, das fur den Naturforscher und Systematiker verschiedener Völkerstämme und Rassen sicherlich unwichtig wäre, wenn nicht ein enger Zusammenhang zwischen der Einheit der Natur, der Menschheit und der Qualität des Menschheitsbegriffes gesucht würde. Genau dies nun unternimmt Humboldt in der zehnten Kosmosvorlesung. Freilich stellen die greifbaren Unterschiede zwischen Rassen und Völkern diesen idealistischen Humanismus auf eine schwierige Probe. Fallen nicht die Unterschiede vor allem im Hinblick auf körperliche Schönheit und „verschieden entwickelte Intelligenz", die sich sogleich in „Dichtkunst und Litteratur"101 äußert, ungünstig für den Humanismus des einheitlichen Menschengeschlechts aus? Humboldt referiert verschiedene Meinungen und hält sich mit eigenen Urteilen zurück. Aber dass es überhaupt um schöne, ja „schönste Menschenbildung"102 geht, dass Humboldt zum Schluss kommt, „so müssen wir doch einen abstracten Urtypus der Schönheit anerkennen, unabhängig von den Conventionellen Begriffen der Anmuth und des Ebenmaaßes, einer höhern Ideenwelt angehörend",103 das alles beweist, dass Humboldt Naturwissenschaft genau in dem Maße in ein öffentliches Bildungsdenken einfügt, in dem er auch die Werte einer idealistischen, humanistischen Bildung in die Naturgeschichte wieder hineinlesen kann. Wird sich auch niemals auf empirischem Wege die materiale Einheit des „Natur Ganzen", der Geschichte und der Menschheit nachweisen lassen, so sind sie ein Einheitliches und Ganzes schon deswegen, weil sich an ihnen die selben idealen Werte manifestieren, die auf Metaphysisches verweisen und doch ganz naturgegeben sein sollen, nämlich Schönheit, Freiheit, Wahrheit. Sie sind genau jener Mehrwert des vorgeblich Empiri-
101 Ebd., S. 129. 102 Ebd., S. 134. 103 Ebd., S. 129.
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sehen, der auch für die Wirkung des Bildungsgedankens immer wieder geltend gemacht werden muss. Noch eindeutiger fast führte es Humboldts Akademievortrag über die Temperatur-Unterschiede vor: Die Klimaforschung gipfelt in der Anthropologie, die unversehens zur Kulturgeschichte wird.104 Der Vortrag des Empirikers endet nämlich gut winckelmannisch, indem er an den Zusammenhang zwischen dem blauen Himmel über der Ägäis und dem Inbegriff der Humanität, den Griechen, erinnert. Zwar distanziert sich Humboldt von einer „nun schon veralteten Philosophie, die der ersten Mitte des achtzehnten Jahrhunderts angehört", das heißt von älteren KlimaKulturtheorien. Und dennoch beschwört Humboldt abschließend „Jene hochgerühmte Intelligenz, deren Entwickelung durch ein mildes Klima zwar nicht erzeugt, aber begünstigt wird". Sie habe „sich unwandelbar erhalten unter den Bewohnern des altgriechischen Bodens". Humboldt stellt die ganze Menschheit nun als Erben jener altgriechischen Kultur hin, und zieht von der Klimaforschung, das heißt der Kulturgeschichte, über ein kulturelles Menschheitsideal den Schluß bis zu dem Postulat politischer Freiheit: Denn die „hochgerühmte Intelligenz [...] hat sich in demselben Stamme bewahrt, von der dunklen Sagengeschichte der .glänzenden Orchimenos' an, bis zu dem blutigen Kampfe, welcher, in beiden Weltteilen, wo irgend die Menschheit sich des Erbteils Hellenischer Kultur erfreut, alle edelen Gemüter bewegt." 105 Es ist eine Anspielung auf den griechischen Befreiungskampf, in dem sich die Bestimmung der griechischen Kultur zur Freiheit zu manifestieren scheint, in dem aber auch ein Symbol für die gemeinsame Wurzel von Humanität, Freiheit und Bildung in der Natur erkannt wird. Die argumentative Verknüpfung von Naturerscheinungen, speziell der Entwicklung, und ethischen Normen, besonders der Freiheit, macht aus der Bildungstheorie zugleich eine Gesellschaftstheorie, für alle, die liberal und fortschrittlich gesinnt sind, wie Humboldt. 106 In einem Brief an Bessel wird daher vom Naturforscher eine Darstellung in der Weise erwartet, „daß der Gedanke sich frei wie die Natur entfalte." 107
104 „So wie jedes Bestreben des Menschen nach einem wissenschaftlichen Begreifen von Natur-Erscheinungen sein höchstes Ziel nur in dem klaren Erkennen unserer eigenen Natur erreicht; so führt auch die Untersuchung, deren Hauptmomente uns hier beschäftigt haben, zuletzt auf die Art, wie klimatische Verhältnisse sich in dem Charakter, dem KulturZustande, vielleicht selbst in der Sprach-Entwickelung einzelner Völkerstämme, offenbaren" (ebd., S. 23). 105 Ebd., S. 24. 106 Stichweh (Bildung, Individualität, S. 107) stellt daher dar, wie die „Bildungstheorie quasi als Gesellschaftstheorie ein universalistisches theoretisches Lösungsangebot für alle Fragen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft" fungiert. 107 Briefwechsel mit Bessel, S. 160 (Brief Humboldts vom 2.4.1844).
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Divulgation und Erhebung Eine zur Bildung, zum Humanismus, ja zum Freiheitsideal erhobene Naturwissenschaft, wenn es denn überhaupt noch Wissenschaft ist, eignet sich zur Vermittlung an verschiedene Hörer und Leser und zur Vermittlung unter verschiedenen Hörern und Lesern. Auch die Experten auf ihren jeweiligen Fachgebieten, die einen Überblick über das Ganze und eine fundierte Herleitung der Einheit aller Phänomene vermissen, verständigen sich auf dem Umweg über allgemein anerkannte Ideale, mit denen sich nun auch die Naturforschung umgibt. Was Humboldt wenige Monate nach den Kosmosvorlesungen für die Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte veranstaltete, wird dies bestätigen. Naturwissen als Bildung eignet sich weiter zur Vermitdung zwischen Fachleuten und Laien, zur nachträglichen Legitimierung und Außendarstellung eines immer autonomeren, aber auch immer abseitigeren Bereichs.108 Gerade dort, wo an die Einheit des Menschengeschlechts appelliert wird, entstehen Wertvorstellungen vom Humanen jenseits von Ständen, Konfessionen, Nationen, Epochen und Geschlechtern.109 Wo Bildung sich aber einer größeren Zuhörerschaft öffnet, gibt sie sich andererseits auch wieder elitär, nicht durch formale Zugangsvoraussetzungen, sondern durch das „Höhere", das in ihr verhandelt wird und sich nur an „höheren" Gegenständen offenbart.110 Der sozialen Geltung der Bildungsidee wohnt diese Ambivalenz inne: formal hat jeder zu ihr Zugang, inhaltlich gibt sie sich exklusiv, und ihre jeweiligen Gegenstände können die verschiedenen Teilnehmer an der gebildeten Rede ebenso vereinen wie zur Absetzung von Bildungs fernen ermächtigen. Wilhelm von Humboldt hatte von der gemischten Gesellschaft gesprochen, die den Vorlesungen beiwohne, was auf Demokratisierung hindeutet. Andernorts jedoch sagte er über die Kosmosvorlesungen: „man ist, ehe es angeht und wenn es aufgehört hat, in großer Gesellschaft, und in einer, die wenigstens augenblicklich weniger nüchtern und weniger frivol gestimmt ist, als man es sonst findet."111 In dieser Bewertung spiegelt sich die seiegierende Wirkung kultureller Bildung wieder: eine Gemeinschaft aufeinander einzuschwören, unter Ausschluß derjenigen, die da nicht wissen.
108 Vgl. Stichweh: Bildung, Individualität, S. 111. 109 Assmann (Arbeit am nationalen Gedächtnis, S. 29) spricht von der „Erfindung des Menschen als allgemeiner Norm". 110 Koselleck: Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung, S. 29: „formal ist Bildung allgemein, inhaltlich elitär". 111 Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, Bd. 7, S. 326 (Brief vom 10.1.1828 an Hedemann).
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Im Kosmos sollte Humboldt an die erhebende Wirkung von Bildung appellieren, indem er sie unmissverständlich als Privileg kennzeichnete, das den Bildungsbeflissenen gewissermaßen nobilitiert: „Wem daher seine Lage es erlaubt, sich bisweilen aus den engen Schranken des bürgerlichen Lebens heraus zu retten, ,erröthend, daß er lange fremd geblieben der Natur und stumpf über sie hingehe', der wird in der Abspiegelung des großen und freien Naturlebens einen der edelsten Genüsse finden, welche erhöhte Vernunftthätigkeit dem Menschen gewähren kann." 112 Die intellektuelle Erhebung umgibt den bürgerlichen Alltag mit Attributen des Erhabenen, das auch als Standesprivileg erscheint. Humboldts Kosmosvorlesungen lösen in der Wahrnehmung von Zeitzeugen das bezeichnende Wechselspiel von Gruppenbildung und individueller Erfahrung aus. Es handelt sich dabei wesentlich um einen sozialpsychologischen Vorgang, bei dem die Zuhörer ihre säkularen Heilserwartungen auf den Repräsentanten und das öffentliche Symbol des erhabenen Geistes, den Redner Humboldt projizieren. Karl von Holtei berichtet in diesem Sinne: die ganze schöne Welt — alle sind versammelt, um Belehrung und Freude in den Worten zu finden, die der große Mann aus dem Schatze seiner Erfahrungen und Kenntnisse spendet. Achthundert Menschen atmen kaum, um den Einen zu hören. Es gibt keinen großartigeren Eindruck, als die irdische Macht zu sehen, wie sie dem Geiste huldigt; und schon deshalb gehört Humboldts jetziges Wirken in Berlin zu den erhebendsten Erscheinungen der Zeit. 113
In der Tat ist es nicht leicht zu entscheiden, ob Humboldt mit seinen Vorlesungen mehr die Naturwissenschaft durch die Verzahnung mit dem Bildungsidealismus populär gemacht, ob er einen Eckstein zur Aufwertung der Naturwissenschaft durch kulturelle Würden gelegt hat, oder ob er nicht dem bereits ausgeprägte Bildungsideal mit einem verhältnismäßig neuen Stoff, der empirischen Natur, zu neuer symbolischer Strahlkraft verholfen hat. Der Bildungsgedanke mit seinen psychologischen, politischen, sozialen Implikationen scheint durch die Unterlegung mit der empirischen Naturforschung plausibler geworden zu sein. Humboldts Kosmosvorlesungen zeitigen jedenfalls bei den Zuhörern beide Effekte: Komplizierte Sachverhalte sind mit der öffentlichen Kultur nun so weit verbunden, dass sie ihr Esoterisches einbüßen, sich leichter mit banalen alltäglichen Erscheinungen versöhnen lassen. Humboldt erwähnt einmal jene Berliner Dame, die in einem Geschäft ein „siriusweites Band" verlangt habe. 114 112 K, S. 23. 113 Zit. η. A. v. Humboldt: Über das Universum, Vorwort, S. 21. 114 Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und C.[arl] G.[ustav] Jacob Jacobi, hg. von Herbert Pieper, Berlin (DDR): Akademie-Verlag 1987 (=Beiträge zur Alexander-von-
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Andererseits erfahrt das gelehrte Wissen, das zur bloßen Masse chaotischer Erscheinungen herabzusinken drohte eine Nobilitierung, die zur Sinnstiftung der Lebenswelt im großen Stil beiträgt. Die Ideale, an die sich der Bildungsgedanke der Brüder Humboldt bindet, bewähren sich wohl genau in dem Moment, in dem ein einzelner sich selbst als verwandt mit den Erscheinungen der Bildung empfindet, den Naturphänomenen, den Kunstwerken, den großen Totalitäten der Sprachen, der Geschichte, der Nationen. Vom „Innern der Seele", sprach Wilhelm von Humbldt, in dem „alle Bildung [...] ihren Ursprung habe". 115 Eine gewisse Anmutung durch den Gegenstand der Bildung und durch jene, die sich ihrerseits damit befassen, das Gefühl, erhabener und schöner Dinge teilhaft zu werden — sie sind der Auslöser und der stetige Antrieb, den unabschließbaren Prozess der Bildung weiterzutreiben. Alexander von Humboldt kann in den Kosmosvorlesungen seine Naturwissenschaft wohl nicht besser für einen idealistischen Bildungsgedanken geltend machen, als durch den Bericht von seinen eigenen Initiationen. Sie sind Bildungserlebnisse par excellence, gefühlsgesättigte Erfahrungen, die Humboldt aus verschiedenen Kulturgattungen, aus der Literatur, der Gartenkunst, der Malerei bezog: Wenn ich angeben soll, was mir zuerst die Sehnsucht nach erweiterter Weltansicht erweckt, und mich zur Unternehmung großer Reisen angetrieben hat, so war es: Georg Forster's Schilderung der Südseeinseln, der Anblick des großen Drachenbaumes im hiesigen botanischen Garten, u. Hodges vortreffliche Zeichnungen, welche ich bei meiner frühesten Reise nach England zu sehen Gelegenheit hatte. 116
Humboldt betont die ästhetische und emotionale Grundlage seines speziellen Wissens. Wie ein nüchternes Echo seiner frühen Einsichten in die Anthropologie der niederen Seelenvermögen und der Kultur der Empfindsamkeit klingen nun seine kargen Worte über die „Ursachen, welche in der neuesten Zeit dem Studium der Natur so fördernd gewesen sind, und wodurch die Liebe zur Betrachtung der Natur so lebhaft erregt wurde."117 Es sei einer „mehr aesthetischen Beschreibung der Naturwissenschaften überhaupt" zu verdanken, unter anderem der „Art, wie in unserer Zeit die Landschaftsmalerei die Pflanzen-Physiognomik darstellend, die Ansicht uns fremdartiger Naturscenen versinnlicht." 118 Auf den Wechsel von Versinnlichung und Idealisierung kommt in der Bildung Humboldt-Forschung, 11), S. 110 (Brief vom 27.12.1846). Vgl. auch Zelter an Goethe MA, 20.2, S. 1093: „Eine Dame welche Humbolds Vorlesungen besucht bestellt sich ein Kleid und verlangt die Oberärmel zwei Siriusweiten geräumig zu machen." 115 116 117 118
W. v. Humboldt: Ideen zu einem Versuch, S. 87 A. v. Humboldt: Über das Universum, S. 21 Of. Ebd., S. 210. Ebd.
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vieles an. In den Singakademievorlesungen scheinen die flüchtigen Andeutungen zur „aesthetischen Beschreibung" der Natur eher ein freundlicher Abschied von einem Publikum zu sein, für dessen „Theilnahme" der Redner schon zuvor gedankt hatte; als ginge es nun darum, die Zuhörer auf einen Alltag vorzubereiten, in dem sie der Naturwissenschaft nur näher rücken können, wenn sie sich das Gemeinsame des Schönen und der Erkenntnis in der naturwissenschaftlichen Bildung vergegenwärtigen. Der zweite Band des Kosmos wird die Beschäftigung mit dem Naturganzen viel ausführlicher und mit guten Gründen ausschließlich von der Seite der Kulturgeschichte angehen. Die Kulturgeschichte der Begeisterung für die Natur, der ästhetischen wie der intellektuellen, wird dem Publikum in den Vorlesungen wie im späteren Kosmos aber um so näher liegen, je mehr sich der Verfasser selbst zu seiner Begeisterung und seinem Bildungsidealismus bekennt und ihn verkörpert. Eine eindrucksvolle Deutung jenes eigentümlichen Prozesses, in dem sich ein Bildungserlebnis an der Inspiration durch einen exzeptionell Gebildeten entzündet, gibt Caroline von Humboldt in einem Bericht über die Vorlesungen. Sie schreibt am 7.12.1827 ihrer Tochter: Alexanders Vorlesungen, die zweiten, in der Singakademie haben gestern ihren Anfang genommen. Alexander war so befangen die erste Viertelstunde lang, daß es mich tief rührte. Auch sein Vortrag hatte für mich Anklänge der tiefsten Wehmut. Ein so wahrhaft guter, so grenzenlos gelehrter Mensch, daß, wie er einem die unermeßlichen Räume des Weltalls mit der Gewalt seines Geistes erschließt, man zugleich in die wunderbare Tiefe des menschlichen Fassungsvermögens blickt und einen die Ahnung lichthell überfliegt, nach außen und nach innen gleiche Unendlichkeit — ach, und doch nicht glücklich! 119
Mit Caroline von Humboldt darf das Publikum eine Offenbarung des „Unermeßlichen" erfahren, jeder einzelne darf die Erhebung eines exemplarischen Menschen durch seine Bildung nacherleben.120 Bildung als selbstreflexiver Prozess zwischen Individuation und Sozialisation vollzieht sich exemplarisch in den Vorlesungen als Kommunikation zwischen dem Bildungshelden und denen, die sich mit ihm identifizieren. Auch die Vossische Zeitung interpretiert in ihrer Würdigung der Kosmosvorlesung das Ereignis als Spiegelung einer exemplarischen Begeisterung im „Innern":
119 Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, Bd. 7, S. 325. 120 Ähnlich Gabriele von Bülow über die Vorträge ihres Onkels am 1.2.1828: „Mit jedem Male werden die Vorlesungen schöner, es herrscht eine vollendete Klarheit darin, und eine solche Größe der Ansichten, daß sie wirklich erhebend auf Gemüt und Verstand wirken". Gabriele von Bülow. Tochter Wilhelm von Humboldts. Ein Lebensbild aus den Familienpapieren Wilhelm von Humboldts und seiner Kinder 1791-1887, hg. von Anna von Sydow, Berlin: Mittler 1924, S. 195.
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Nicht den berühmten Gelehrten, sondern nur den Träger und Verkünder der Wissenschaft sahen und hörten wir, der sein hohes Ziel aus dem würdigen Standpunkt betrachtend, auch nothwendig allgemeine, warme Begeisterung dafür erwecken mußte. Aus dem bloßen Reiz eines gewöhnlichen Interesses entstand daher wohl für jeden Anwesenden eine wichtige Angelegenheit seines Innern. Gewiß wird daher dem tiefer empfindenden Sinne diese schöne, belehrende Zeit denkwürdig bleiben, und die einfach erhebenden Worte, mit denen der verehrte Lehrer seine Vorträge Schloß, indem er die innersten Beweggründe enthüllte, die ihn zuerst mit so warmer fruchtbarer Liebe für die Wissenschaft entzündet haben, werden noch lange wohltuend nachklingen, ja für immer wenigstens die Spur ihres defen Eindrucks zurücklassen. 121
Aus dem Kontrast zwischen der Individualität der Person und der Erhabenheit ihrer Beschäftigungen entsteht ein Pathos, und sei es das Pathos der Gründlichkeit, der Erfahrung, der Vielseitigkeit, vor allem aber der Verwandlung des Sinnlichen in Übersinnliches, in Freiheit, Wahrheit, Schönheit, Geschichte, Kultur. Das Pathos der kollektiven Erhebung eines Publikums, das sich in dem einzelnen Bildungsheros und seiner Erhebung spiegelt, zeitigt das Paradox jeden echten Bildungserlebnisses, das Paradox von Nobilitierung und Divulgation. 122 Es liegt nahe, dergleichen Bildungserfahrungen als Erbe religiöser Erfahrungen zu betrachten.123 Jener General Witzleben, der an den Singakademie-Vorlesungen den christlichen Geist vermisste, 124 übersah vielleicht, dass die profane Rede vom Kosmos so weit an quasi-religiöse Werte wie Freiheit, Schönheit, Wahrheit gebunden war, dass sie Religion ersetzen konnte; vielleicht auch witterte er einen Konkurrenten für das Tradierte. Nur diesen Wertvorstellungen einer rudimentären Metaphysik innerhalb eines weltlichen Bildungsdenkens jedenfalls verdankt es die populäre Darstellung Humboldts, dass sie gelehrtes Wissen für Fragen der lebensweltlichen Orientierungen tauglich macht. 125 Dies geschieht sehr indirekt. Noch hält sich Humboldt zurück mit dem Ruf nach einer umfassenderen naturwissenschaftlichen Kultur, die den wirtschaftlichen und sozialen 121 Beat Friedrich von Tscharner in der Vossischen Zeitung vom 28.3.1828, zit. η. A. v. Humboldt: Über das Universum, Vorwort, S. 34f. 122 Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis, zeigt, wie aus dem „Ideal privatmenschlicher Allseitigkeit" und der „Innerlichkeit" dennoch ein Instrument gesellschaftlicher und öffentlicher Integration und Distinktion wird (S. 27). 123 Von der „religiösen Gestalt der Bildungsidee" spricht Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis, S. 46. 124 Beck: Alexander von Humboldt, Bd. 2, S. 83. 125 Vgl. Jürgen Habermas: Umgangssprache, Wissenschaftssprache, Bildungssprache, in: Merkur 32 (1878), S. 327-342: Bis zum Ende des 19. Jahrhundert halte sich das „Mißverständnis, als könnten Wissenschaften weltanschauliche Fundamente legen", dies sei aber nur Anzeichen dafür, dass das öffentliche Bewußtsein damals noch vom Wahrheitsbegriff der Theologie und vom Wissenschaftsverständnis der philosophischen Tradition geprägt war" (S. 340).
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Wohlstand fördern könne, und der sich in der Einleitung zum Kosmos findet.126 Große ökonomische und technische Projekte regte Humboldt bei den Regierenden an, die sie umsetzen konnten, nicht in öffentlichen Vorlesungen. Um Freiheit und ihr Gegenteil, die Sklaverei, geht es in den Vorlesungen allerdings, um die Unterstellung einer naturgegebenen Sinnhaftigkeit des menschlichen Daseins, um die natürlichen Ursprünge der Kultur, die nicht anders als gut sein kann. Die Darstellung der Natur selbst nimmt unter der Hand Züge einer Offenbarung an, und was substantiell Sinn hat, darf auch in den Sinnfragen des täglichen Lebens bemüht werden. Wissen und Werte, Wahrheit, Ästhetik und Ethos sind hier eng verzahnt. Wissenschaft wird vor den Augen des Publikums in symbolische Ordnung mit hohem ästhetischem Wert umgewandelt, Orientierungswissen wird es daher noch vor jeder pragmatischen Anwendbarkeit, allein durch die Darstellung von umfassender Bedeutsamkeit. Damit lässt sich kompensieren, dass überlieferte Symboliken nicht mehr zur Krisenbewältigung taugen, damit lassen sich aber auch Besorgnisse beschwichtigen, die naturwissenschaftliches Wissen selbst hervorgerufen hat. Dies betrifft einmal die Unüberschaubarkeit empirischen Wissens schlechthin, von dem jeder wahrnehmen kann, dass es stetig zunimmt. Es betrifft aber auch konkrete Phänomene, die Angst machen: um 1830 wurde, um nur ein Beispiel zu nennen, die Möglichkeit eines apokalyptischen Kometeneinschlags auf der Erde diskutiert.127 Die Fachwissenschaft und andere Autoren öffentlicher Rede wetteiferten in Interpretationen dieses Risikos. Die Debatte absorbierte offenbar viele Besorgnisse, die nicht genuin mit einer astronomischen Frage verbunden waren, jedenfalls verselbständigte sich die Kometenangst, jeder wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Entzauberung der Gefahr zum Trotz, die Berechnung der Unwahrscheinlichkeit vermochte nichts gegen kollektive Angst. Nur insofern sich Wissenschaft mit anderen Wertsphären alliiert, kann sie in die öffentliche Stimmung eingreifen: Als Satire, als Parodie, als Predigt, und dann vor allem durch Amalgamierung mit politischen und religiösen Fragen.
126 K , S . 24f. 127 Dies und einige der im folgenden referierten Phänomene bei Olaf Briese: „Auf d'Astronomie hab' ich irzt einen Zorn." Kompetenzkämpfe zwischen Literatur und Wissenschaft anläßlich des Halleyschen Kometen von 1835, in: IASL 24 (1999), H. 2, S. 7 1 - 8 7 .
Die Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte
1828 Eine „Versammlung von Litteraten" Im Jahr 1828 übernahm Humboldt zusammen mit dem Zoologen Hinrich Lichtenstein die Geschäftsführung für die Versammlung der Naturforscher und Ärzte in Berlin. Hauptsächlich dem Engagement Humboldts schreibt es die Wissenschaftsgeschichte zu, wenn die noch junge Einrichtung der jährlichen Tagung in diesem Jahr und an diesem Ort ein bedeutenderes Ansehen gewann. Der prominente Name eines der Vorsitzenden habe nicht nur fast doppelt so viele Teilnehmer nach Berlin gelockt, nämlich 458, als sich im Jahr zuvor noch in München trafen.1 Auf Humboldts Initiative ging auch die Einteilung in Fachsektionen sowie die Unterscheidung zwischen Plenar- und Sektionsvorträgen zurück, die fortan weiter bestehen sollte. Von dem Glanz des Beiprogramms ist in dem amtlichen Bericht Lichtensteins und Humboldts wie in weiteren ausführlichen Quellen die Rede.2 Dass Humboldts Wirken für die Versammlung eine bemerkenswerte Etappe in seiner Laufbahn als Schriftsteller darstellte, hat jedoch noch niemand behauptet. Zwar ist Humboldts Eröffnungsrede, als prachtvoller Sonderdruck erschienen,3 in den amtlichen Bericht aufgenommen und auch sonst sofort weit verbreitet, immer wieder als wissenschafts- und ideengeschichtliche Quelle zitiert worden.4 Und Lorenz Oken attestierte Humboldts Vortrag „Begeisterung, Beredsamkeit und Salbung."5 Doch die Konventionalität dieser wie anderer Eröffnungsreden und Grußadressen anläßlich der 1 2
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Vgl. Heinrich Schipperges (Hg.): Weltbild und Wissenschaft. Eröffnungsreden zu den Naturforscherversammlungen 1822 bis 1972, Hildesheim: Gestenberg 1976, S. 12. Amtlicher Bericht über die Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Berlin im September 1828, erstattet von den damaligen Geschäftsführern A. v. Humboldt und H. Lichtenstein, Berlin: Trautwein 1829; Versammlung der Naturforscher und Aerzte zu Berlin, im September 1828, in: Isis (1829), H. 3 u. 4, Sp. 2 1 7 - 3 8 0 ; Johann Jakob Sachs: Die Versammlung der deutschen Naturforscher und Aerzte in Berlin i. J. 1828, kritisch beleuchtet, Leipzig: Brockhaus 1828. [Alexander von Humboldt:] Rede, gehalten bei der Eröffnung der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Berlin, am 18ten September 1828. Von Alexander von Humboldt, Berlin: Druckerei der Königl. Akademie der Wissenschaften. 1828. Wiederabdruck auch in Max Pfannenstiel (Hg.): Kleines Quellenbuch zur Geschichte der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. Gedächtnisschrift für die hundertste Tagung der Gesellschaft. Im Auftrag des Vorstandes der Gesellschaft, Berlin, Göttingen, Heidelberg: Springer o. J., S. 65-70. Isis (1829), S. 253.
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Versammlungen liegt auf der Hand: dazu gehören eine einleitende Captatio benevolentiae, Dank an die Organisatoren, an Geldgeber und Patrone, unterstützende Behörden und Regierungsstellen, Städtelob des austragenden Ortes und seiner wissenschaftlichen Einrichtungen, Ehrung verstorbener und verhinderter Mitglieder, schließlich das Preisen des Herrschers oder doch wenigstens des Vaterlandes.6 Für originelle Ideen lässt die Gattung also wenig Raum. Wenn überhaupt, interessieren diese Reden ideengeschichtlich, und sozialgeschichtlich, insofern sie auf die beteiligten Institutionen hinweisen.7 Was Humboldts Eröffnungsrede in dieser Hinsicht verrät, wird noch zu zeigen sein. Für die Sozialgeschichte der Literatur ist aber auch ein ganz anderer und noch kaum beachteter Aspekt der Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte erhellend: Tatsächlich waren nämlich die jährlichen Tagungen in erster Linie Zusammenkünfte von Autoren, wenn auch einer bestimmten Ausrichtung. Die Voraussetzung zur Teilnahme war nicht einfach die Qualifikation als Fachmann, sondern der Nachweis von einschlägigen Publikationen. Noch die Einladung zur Tagung 1828 präzisiert: „Nach §. 3. und 4. [der Statuten] ist jeder Schriftsteller im naturwissenschaftlichen oder ärztlichen Fache zur Mitgliedschaft berechtigt. Wer aber nur eine Inaugural-Dissertation verfasst hat, kann nicht als Schriftsteller angesehen werden."8 Schon durch diese rein formale Voraussetzung hob sich die Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte deutlich von den Akademien ab. Humboldt bezeichnete in der Eröffnungsrede jede Akademie als „geschlossene Einheit", die als exklusives Forum jährlicher Publikatonen wirke.9 Ganz anders dagegen in den Augen der Geschäftsführer die Versammlung, die denn auch nicht nur ihren Mitgliedern Rechenschaft schulde, sondern der Öffentlichkeit insgesamt. So schließt denn das Vorwort des amtlichen Berichts mit der „Überzeugung [...], daß dieser Bericht ein ganz öffentlicher sein müsse", weshalb er nicht als Sonderdruck an die Mitglieder gehe, sondern für alle Interessierten im Verlags-Buchhandel käuflich gemacht werde.10 Im Namen derselben Öffentlichkeit verwies der offizielle Bericht auch auf weitere Zeitungsartikel und Dokumentationen zur Veranstaltung.11 Die Kehrseite des durch6 7
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Die konventionellen Merkmale der Eröffnungsreden zählt Schipperges auf: Weltbild und Wissenschaft, S. 2. Vgl. Hans Querner, Heinrich Schipperges (Hg.): Wege der Naturforschung 1 8 2 2 - 1 9 7 2 im Spiegel der Versammlungen Deutscher Naturforscher und Arzte. Im Auftrag der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Arzte anläßlich ihres 150-jährigen Bestehens, Berlin, Heidelberg, New York: Springer 1972. Amtlicher Bericht, S. 3. Amtlicher Bericht, S. 15. Amtlicher Bericht, S. II. Amtlicher Bericht, S.[57],
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aus öffentlichen Charakters der Versammlung und der Zugänglichkeit für interessierte Zaungäste benennt der aufmerksame Beobachter Johann Jakob Sachs: „was Wunder! Daß es auch an berliner Sarkasmen in den kleineren Tageblättern und an Caricaturen nicht fehlte."12 Die Besucher der Berliner Versammlung werden sich im Übrigen gefreut haben, in Humboldt einem ihrer prominentesten Schriftstellerkollegen zu begegnen. Umgekehrt nutzte Humboldt die Gelegenheit nach Kräften, um sich nach langjähriger Abwesenheit bei seinen deutschen Kollegen wieder bekannt zu machen. Die Begrüßung der Gäste in Berlin formulierte er kurzerhand um zu einem Dank für den Willkommen seiner eigenen Person im Mittelpunkt der deutschen Gelehrtenschaft.13 Humboldt stellte sich bei dieser Gelegenheit offen oder versteckt in eine Reihe mit den deutschsprachigen Koriphäen der Wissenschaft und Größen der Literatur. So setzte er mit seinen Hommagen an Goethe eine Serie von gegenseitigen Würdigungen fort, die das Ansehen beider nur stärken konnten.14 Die persönliche Begegnung von Schriftstellern in entspannter Atmosphäre war der Hauptzweck der Tagungen, und so war es auch von dem Initiator der ersten Versammlung 1822, Lorenz Oken, vorgesehen, der sich von der Geselligkeit die Schlichtung von Animositäten und Rivalitäten, die Befreiung aus wissenschaftlichen Sackgassen, die Überwindung von Provinzialismen erhoffte, wie sie mit der Unpersönlichkeit publizierter Aussagen und Anonymität vereinzelter Lektüren einhergehen.15 Okens Bemühungen in dieser Hinsicht gelten als romantische Verklärung des Gesprächs, der Geselligkeit, der Freundschaft, die freilich in der Geschichte des frühen Liberalismus und Nationalismus durchaus auch politisch progressiv wirken sollten. Humboldt stellte sich in seiner Eröffnungsrede entschieden in die Tradition der früheren Zusammenkünfte. Nichts könne „das Bild des gemeinsamen Vaterlandes erfreulicher vor die Seele stellen, als die Ver-
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Sachs: Die Versammlung der deutschen Naturforscher, S. 4. Vgl. Hartmut Böhme: Goethe und Alexander von Humboldt, in: Ernst Osterkamp (Hg.): Wechselwirkungen. Kunst und Wissenschaft in Berlin und Weimar im Zeichen Goethes, Bern, Berlin u.a: Peter Lang 2002 (=Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 5), S. 1 6 7 - 1 9 2 , S. 168. Böhme rekonstruiert sie ebenfalls, wobei er betont, wie ambivalent einige dieser gegenseitigen Hommagen zu bewerten sind. Im gegebenen Zusammenhang hebt er eine Münze zum Gedenken an die Berliner Versammlung des Jahres 1828 hervor, die das Widmungsblatt von Humboldts Ideen zu einer Geographie der Pflanzen an Goethe zitiert (Goethe und Alexander von Humboldt, S. 173). Zur Gedenkmünze vgl. auch Amtlicher Bericht, S. [57]. Zur Entstehungsgeschichte der Versammlung allgemein vgl. Heinz Degen: Die Gründungsgeschichte der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte, in: Naturwissenschaftliche Rundschau (1955), H. 11, S. 4 2 1 ^ 2 7 ; H. 12, S. 4 7 2 - 4 8 0 .
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Sammlung",16 das „weite Gebiet der deutschen Nation" wird in verschiedenen Metonymien, nach Landschaften und ihren würdigsten Vertretern beschworen, und gilt „überall, wo die deutsche Sprache ertönt". Weiter heißt es, „Deutschland offenbart sich gleichsam in seiner geistigen Einheit."17 Dazu gezählt wird auch der „gothisch-skandinavische Norden". Und auch sonst folgt Humboldt seinem Vorgänger Lorenz Oken, wenn er deutlich macht, dass der Zweck des Vereins nicht in Vorlesungen und ihrer jährlichen Veröffentlichung nach Art der Akademien bestünde. Es gehe vielmehr um „die aufhellende Macht des Gesprächs", die alle Streitigkeiten in einen Wettbewerb zugunsten der Wissenschaft verwandeln könne. Dem Idealismus von Okens Geselligkeitskultur hat Humboldt dennoch eine etwas modernere Wendung gegeben. Ihm konnte es nicht darum gehen, etwa zu den Zeiten der Berliner Naturforschenden Gesellschaft zurückzukehren, wo aus der gelehrten Geselligkeit Publikationen in allgemein aufklärerischen Organen von eher regionaler Wirksamkeit ausgingen. Die Teilnehmer der Tagung waren etablierte Autoren eines viel weiter anonymisierten Publikationsbetriebes, und Humboldts Politik in bezug auf die Schriftsteller, die sich in der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte organisiert hatten, deutet darauf hin, dass er diesen Prozess für unumkehrbar hielt. Zum einen hatte Humboldt schon in einem Informationsschreiben an die Eingeladenen und in der Eröffnungsrede die Bildung von Sektionen vorausgesetzt.18 In der Eröffnungsrede heißt es denn auch in einer bezeichnenden Nuance: „Der Hauptzweck dieser Gesellschaft, ist die persönliche Annäherung derer, welche dasselbe Fach der Wissenschaften bearbeiten."19 Das spontane Gespräch der Kollegen wird nunmehr als wichtige Funktion einer sich beschleunigenden Fachforschung ausgegeben,20 weniger als Harmonisierung einer einheitlichen Naturforschung. Mit der Sektionsbildung sollte einhergehen, dass von nun an und immer mehr zwischen wichtigen plenumstauglichen, zunehmend allgemeinverständlichen und repräsentativeren Darlegungen einerseits und immer spezielleren Fachvorträgen unterschieden wurde. Oken konnte sich mit 16 17 18 19 20
Amtlicher Bericht, S. 13. Amtlicher Bericht, S. 14. Amtlicher Bericht, S. 8, 16. Amtlicher Bericht, S. 15. „Wer golden die Zeit nennt, wo die Verschiedenheit der Ansichten, oder wie man sich wohl auszudrücken pflegt, der Zwist der Gelehrten, geschlichtet sein wird, hat von den Bedürfnissen der Wissenschaft, von ihrem rastlosen Fortschreiten, eben so wenig einen klaren Begriff, als derjenige, welcher, in träger Selbstzufriedenheit, sich rühmt, in der Geognosie, Chemie oder Physiologie, seit mehreren Jahrzehenden, dieselben Meinungen zu verteidigen." Amtlicher Bericht, S. 15.
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diesen Entwicklungen nur schwer anfreunden.21 In seinem Bericht in der Isis bekannte er sich nur eingeschränkt zur Einrichtung von Sektionen und blieb im übrigen dabei: „Die Gelehrten, welche im September zusammen kommen, haben des Jahres über genug gearbeitet, daß ihnen wohl eine Erholung zu gönnen ist; und das sollen die Versammlungen seyn: eine Ferienreise und nichts anderes."22 Die Einrichtung von Sektionen trug allerdings nicht nur der fortschreitenden Disziplinenbildung und Professionalisierung Rechnung, die etwa Fr. Buchholz in einer eigenen Denkschrift auf der Berliner Versammlung entschieden befürwortete.23 Tatsächlich spiegelte die Sektionsbildung auch die Entwicklungen des Buch- und Zeitschriftenmarktes wider; da standen immer mehr Fachjournalen für einen speziellen Leserkreis immer weniger Monographien oder gar naturgeschichtlich allgemein bildende Werke gegenüber, die sich auf den neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse gründeten. Bezeichnend dafür ist, dass in Berlin ein neues medizinisches Journal in der einschlägigen Sektion vorgestellt werden konnte.24 Humboldts eigene Beiträge zu den Versammlungen deutscher Naturforscher und Arzte bewegen sich ganz im Rahmen dieser Differenzierung. Dem Plenum trug er 1833 in Breslau etwas über „Anregungsmittel zum Naturstudium" und 1836 in Jena „Über die Verschiedenheit des Naturgenusses" vor.25 Nachzulesen war dies später im vielverbreiteten Kosmos. Humboldts Berliner Demonstration einiger „Versuche der galvanischen Wirkung bei Unterbindung der Nerven, nach seinen neuesten in Paris bekannt gemachten Entdeckungen"26 wurde dagegen in der zoologischen Sektion vorgeführt. Die spätere Veröffentlichung des Vorgetragenen blieb überwiegend den einzelnen Mitgliedern überlassen. Zwar warb Oken in Berlin um Beiträge oder Auszüge von Abhandlungen für die Isis,21 doch konnte die 21
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Amtlicher Bericht, S. 1 6 , 2 9 . Vgl. auch: Die Entwicklung und Differenzierung von Fachabteilungen auf den Versammlungen von 1828 bis 1913. Bibliographie zur Erfassung der Sektionsvorträge mit einer Darstellung der Entstehung der Sektionen und ihrer Problematik von Hermann Lampe, Hildesheim: Gerstenberg 1975 (=Schriftenreihe zur Geschichte der Versammlungen deutscher Naturforscher und Aerzte. Dokumentation und Analyse, hg. von Hans Querner, 2), S. 10. Isis (1829), H. 4, Sp. 366. F. Buchholz: Über die Zusammenkünfte der Physiker unserer Zeit. Neue Monatsschrift für Deutschland September 1828, z.T. wieder abgedruckt in: Isis (1929), H. 4, Sp. 360-366. Amtlicher Bericht, S. 48. Vgl. Die Vorträge auf den allgemeinen Sitzungen auf der 1.-85. Versammlung 1 8 2 2 - 1 9 1 3 , zusammengestellt von Hermann Lampe und Hans Querner. Mit einer Bibliographie der Berichte über die Versammlungen von Ilse Gärtner, Hildesheim: Gerstenberg 1972 (^Schriftenreihe zur Geschichte der Versammlungen deutscher Naturforscher und Aerzte. Dokumentation und Analyse, hg. von Hans Querner, 1). Amtlicher Bericht, S. 41. Amtlicher Bericht, S. 26.
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Zeitschrift keineswegs als offizielles Publikationsorgan der Versammlung gelten. Und in einem Brief an Cotta aus dem Jahre 1834 sah Humboldt keine Möglichkeit, diese „Versammlung von Litteraten" erfolgreich zur Bildung von Herausgeber- oder Autorengremien zu animieren. Schon 1828 war in einem Brief an den Mathematiker Dirichlet im Blick auf die „irruption des naturalistes" von dem „cahos de cette foire litteraire" die Rede gewesen.28 An Cotta schreibt Humboldt nun, ebenfalls wenig schmeichelhaft: aber ich kenne das innere Wesen einer solchen dramatischen Vorstellung, welches man eine ,Zusammenkunft deutscher Naturforscher und Aerzte' nennt, nur zu genau, um Sie nicht zu warnen, sich ja in keine Abhängigkeit von jener Gesellschaft, die aus zufällig sich zusammentreffender, in jedem Jahre wechselnder Gelehrter, keineswegs Repräsentanten des deutschen Wissens besteht, zu sezen, besonders der Gesellschaft nicht erlauben, Ihnen ein Redactions Comittee zu ernennen. Sie werden, mein Verehrtester, eine Zahl mittelmässiger Menschen da nicht vermeiden können, die Ihnen in der Folge hinderlich werden. Eine solche Zusammenkunft, deren hoher Werth als aeusseres Merkmal einer noch nicht ganz untergegangenen moralischen Einheit unseres zertrümmerten und verläumdeten gemeinsamen Vaterlandes ich gewiß anerkenne, kann Ihr Annuaire so wenig leiten als einen Plinius herausgeben.29
Lorenz Oken hatte im Vorfeld der ersten Versammlung einige „Hauptvorschläge" gemacht. „1) Gemeinschaftliche Herausgabe der Arbeiten aller naturforschenden Gesellschaften; 2) Zusammenwirken bey einer Herausgabe eines naturhist. Wörterbuches; 3) desgleichen bey dem schon erscheinenden medicinischen."30 Keines der Projekte konnte verwirklicht werden. Und auch mit seinem Engagement für eine Pliniusausgabe war Oken nur teilweise erfolgreich. Schon 1828 war diskutiert worden, inwieweit die Versammlung sich zur Veranstaltung dieser Ausgabe einer finanzkräftigen Institution, etwa der preußischen Akademie der Wissenschaften, affiliieren könne, nachdem schon die bayerische Akademie abgewunken hatte. Es lief darauf hinaus, dass ein einzelner Philologe aus privaten Spenden ein begrenztes Reisestipendium zur Kompiladon eines Oxforder Kodex erhielt.31 Erst sehr spät kam es, abgesehen von den amtlichen Berichten, zu eigenen Publikationen im Auftrag der Versammlung, deren Schwerpunkte nicht zufällig im Wissenschaftshistorischen und 28
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Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Peter Gustav Lejeune Dirichlet, hg. von Kurt-R. Biermann, Berlin: Akademie-Verlag 1982 (=Beiträge zur Alexander-vonHumboldt-Forschung, 7), S. 46. Im übrigen wird die Versammlung gerechtfertigt: „Elle a cependant un cöte serieux c'est une noble manifestation de l'unite scientifique de l'Allemagne; c'est la nation divisee en croyance et en politique qui se revele ä elle-meme dans la force de ces facultes intellectuelles." Brief an Johann Georg Cotta vom 12.9.1834, Degen: Die Gründungsgeschichte, Bd. II, S. 474. Amtlicher Bericht, S. I i i .
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Repräsentativen liegen. Dazu gehört auch Ein Liederbuch für Naturforscher und Aerate. Als Festgabe für die Mitglieder der 41. Versammlung in Frankfurt a.M. aus dem Jahre 1867.32 Eine wichtige Aufgabe dieser Publikationen war, die Identität der versammelten deutschen Naturforscher und Ärzte nach innen und außen darzustellen. Darin stehen sie in einer Reihe mit den mehr gemütlichen oder prächtigen Veranstaltungen im Beiprogramm der Tagungen.33 Auch in dieser Hinsicht heben die Berichte die Verdienste Humboldts um die Berliner Versammlung hervor. Er habe es verstanden, durch seine ausgezeichneten Verbindungen zum Hofe den begleitenden Konzerten und Empfängen einen besonderen Glanz zu verleihen. Ein Zeuge spricht von „grandiosen Vorbereitungen zu[m] Empfange" der Gelehrten.34 Dabei ist, nicht von den Zeitgenossen, aber in neuerer Zeit, übersehen worden, dass die Geschäftsführer der Tagung von 1828 keineswegs nur die Repräsentation der Naturforscher und Ärzte im Auge hatten, weshalb auch der institutionelle Ort der festlichen Rhetorik und Symbolik in diesem Jahr nicht der gleiche war wie in den Jahren zuvor und danach. Humboldt, der als Geschäftsführer selber in mehr als einer Rolle agierte, der verschiedene Loyalitäten zugleich ausübte, machte aus dem Ereignis die gemeinsame Repräsentation der Wissenschaft und ihrer Fachvertreter, des preußischen Staates und der Monarchie sowie einer breiten bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit. Die Interessen dieser Akteure in Akten symbolischer Repräsentation erfolgreich zusammengeführt zu haben, stellte einen neuen Schwerpunkt in der Geschichte der Versammlungen dar, der so bald nicht wiederholt werden konnte, für die gemeinsame Geschichte der Modernisierung von Wissenschaft, Gesellschaft und Staat aber von großem Interesse war.35 Die Politik, die Humboldt dabei verfolgte, ist nicht zu trennen
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Ein Liederbuch für Naturforscher und Aerzte. Als Festgabe für die Mitglieder der 41. Versammlung in Frankfurt a.M., Frankfurt a.M.: Sauerländer 1867. Vgl. Myles W. Jackson: Harmonious Investigations of Nature: Music and the Persona of the German Naturforscher in the Nineteenth Century, in: Science in Context 16 (1/2), 1 2 1 - 1 4 5 (2003), S. 129. Zur Festkultur und Rhetorik der Versammlungen, ihrem über die Jahrzehnte gleichbleibenden Charakter und ihrer politischen Funktion vgl. Andreas W. Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848-1914, München: R. Oldenbourg 1998, S. 127-140. Sachs: Die Versammlung der deutschen Naturforscher, S. 45. Ähnlich Oken, der kolportiert, von allen Versammlungen bisher sei es „in Berlin am großartigsten" gewesen. (Isis (1829), S. 367). Auf die überzeugende Darstellung des gemeinsamen Interesses einer zunehmend differenzierten Fachwissenschaft und ihrer gemeinsamen Repräsentation wird zurückgeführt, dass sich unter dem Eindruck der Berliner Versammlung kurz darauf die British Association for the Advancement of Science konstituierte. George Basalla, William Coleman, Robert H. Kargon (Hg.): Victorian Science. A Self-Portrait from the Presidential Addresses of the British Association for the Advancement of Science, New York: Doubleday 1970, S. 4.
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von seinen Bemühungen als Literat und Mediator in literarischen und künstlerischen Angelegenheiten. „Die Würde der Wissenschaft und des Staates" 1822 hatte Lorenz Oken zur ersten Versammlung nach Leipzig eingeladen. Eine fortschrittlich denkende Gruppe, der Naturforscher und Ärzte eben, sollte in ihrer Vereinigung die politische Einigung der deutschen Nation vorwegnehmen. Von den Teilnehmern der ersten Tagung der Naturforscher und Ärzte in Leipzig wollten einige anonym bleiben, weil sie sich in der Verbrüderung mit dem liberalen Oken zu kompromittieren fürchteten.36 Ohne Zweifel ging es dabei nicht primär um die Eröffnung eines Forums für aktuelle wissenschaftliche Entdeckungen, sondern um die Gründung einer Gesellschaft mit politischer und kultureller Signalwirkung, eine öffentliche Wirkung freilich, die im Umfeld der Demagogenverfolgungen der des Konspirativen glich. Als die Einladungen zur Berliner Versammlung 1828 persönlich und in verschiedenen Zeitschriften ergingen, meinte keiner mehr wie auf der Gründungsversammlung seine Anonymität wahren zu müssen. Schon die Veranstaltung des Vorjahres in München war unter größter öffentlicher Teilnahme festlich vonstatten gegangen. In Berlin planten Humboldt und Lichtenstein unter ganz anderen Voraussetzungen als Oken 1822 in Leipzig. Nichts mehr vom Subversiven, vom Aufbegehren gegen Kleinstaaterei, Feudalismus, gegen die Verkrustungen lokaler Institutionen und ihrer Konservatoren. Humboldt inszenierte nur zum Teil eine idealistische Einheit als Vorspiel der politischen, hauptsächlich aber nahm er eine politische Einheit, wo er sie finden konnte, nämlich in Preußen. Der amtliche Bericht ist darin unmissverständlich: Die „Versammlung von Gelehrten" sollte eine „der Würde der Wissenschaft und des Staates angemessene Gestaltung finden".37 Die Beteiligung staatlicher Behörden und von Staatsmännern, speziell des Kultusministers Karl Freiherr Stein von Altenstein, aber auch der Polizei unter Kamptz, die schließlich für eine offizielle Einladung des inkriminierten Oken gewonnen wurde,38 die Bewilligung staatlicher Mittel, spielt daher im Bericht von der Organisation der Veranstaltung eine große Rolle. Und schon nicht mehr als unabhängige Individuen oder schlicht als Deutsche ohne politische Nation kamen die Mitglieder nach Berlin: Ein großer Teil der Besucher wurde zur Teilnahme verpflichtet, insofern sie 36 37 38
Vgl. Degen: Die Gründungsgeschichte, Bd. II, S. 476. Amtlicher Bericht, S. 1. Vgl. Beck: Humboldt, Bd. 2, S. 86.
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als Professoren der Naturwissenschaft oder der Medizin an preußischen Universitäten publizierten und lehrten. Kein geringerer als der Nachfolger Wilhelm von Humboldts im Amt des Kultusministers, Stein von Altenstein, lud durch eine „Hohe Verfügung" dringlich alle „Professoren der Naturwissenschaften sämtlicher Landesuniversitäten", das heißt in Königsberg, Greifswald, Breslau, Halle, Berlin und Bonn ein.39 Sie sollten nicht nur persönlich erscheinen, sondern geeignete Personen aus der betreffenden Provinz zur Teilnahme gewinnen, wozu bei Bedürftigkeit auch Reisestipendien in Aussicht gestellt wurden.40 Der Amtliche Bericht verzeichnet alle 31 Adressaten des Schreibens, ein imposanter Verteiler. Außer Bekanntmachungen in Berliner und anderen Zeitungen sowie Rundschreiben an Teilnehmer früherer Versammlungen versandten die Organisatoren eine Beitrittserklärung an „sämtliche in Berlin ansässige Schriftsteller aus dem Fach der Naturforschung und Heilkunde".41 Aus Berlin kamen dann 195 von den insgesamt 458 Mitgliedern, eine wohl nahezu erschöpfende Vertretung der preußischen Hauptstadt auf der Tagung. Die Organisation der praktischen Belange beweist den gleichen Zug zum großen Stil und zur effizienten Verwaltung. Über 260 Privatquartiere wurden in der Nähe des Tagungsortes für die auswärtigen Gäste besichtigt und vorbestellt, Boten empfingen die Ankommenden und begleiteten sie zu ihren Unterkünften und zum Tagungsbüro, die polizeiliche Meldepflicht entfiel für die offiziellen Teilnehmer, die vom Komitee zentral übernommen wurde. Jedem Mitglied wurde vorab für die Plenarsitzungen ein fester Platz im großen Saal der Singakademie angewiesen. Nicht nur für einen Speisesaal und kleinere Restaurationsräume wurde gesorgt; die Teilnahmekarte berechtigte täglich und kostenlos zum Besuch aller königlichen Sammlungen, Museen, Lesekabinette, Bibliotheken, Labore, speziell aller „naturhistorischen und medicinischen Anstalten der Universität und Residenz", aber auch der Kunstsammlungen.42 Der Bericht dokumentiert, dass Humboldt, der übrigens zuvor nie an einer der Tagungen teilgenommen hatte, und Lichtenstein nicht nur als turnusmäßige Vorsitzende eines privaten Wandervereins wirkten, sondern auch als Regierungsbevollmächtigte, denen die Autorität zentraler Behörden zur Verfügung stand. Die doppelte Loyalität Humboldts als königlicher Kammerherr und Vorsitzender der Versammlung bewährte sich dabei durch die überzeugende Verzahnung institutioneller und wissenschaftlicher Interessen. Dass es um den Progress der universitären Natur39 40 41 42
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forschung und Medizin ging, war schon aus der Präsenz aller einschlägig Forschenden und Lehrenden der preußischen Universitäten und medizinischen und gewerblichen Lehranstalten zu erkennen, unter denen auffallig viele Neugründungen waren. Dafür stand auch der Name des Geschäftsführers Hinrich Lichtenstein, zu der Zeit Rektor der jungen Berliner Universität und Erneuerer der zoologischen Sammlungen. Die Öffnung aller Berliner Einrichtungen, die irgend mit Medizin, Naturforschung und Technologie zu tun hatten, bewies, dass die Professionalisierung der Wissenschaft in Berlin und Preußen sehr dynamisch voranschritt. Um eine flächendeckende Erfassung aller relevanten Institutionen ging es auch bei den Einladungen zur festlichen Gala am 18. September im königlichen Schauspielhaus. Unter den Honoratioren wurden eigens die Berliner Gymnasialdirektoren und Leiter der Krankenhäuser und der Ingenieursschule eingeladen, dazu naturwissenschaftlich besonders engagierte Lehrer, die ausgewählte Studenten und Schüler („die hoffnungsvollsten Zöglinge")43 mitbringen durften. In dieser Geste klingt die preußische Schul- und Hochschulreform wider, etwa die zentrale Koordination von Hochschulreife, Lehrerexamen und der universitären Berufungspraxis durch das Kultusministerium, wie sie Wilhelm von Humboldt zuerst vorgesehen hatte.44 Nicht nur die Sache sollte dadurch gefördert werden, etwa die Möglichkeit, die Naturforschung in den Curricula der Gymnasien und Hochschulen zu stärken. Es handelte sich umgekehrt ja auch um eine Darstellung der fortschrittlichen preußischen Bildungseinrichtungen für die auswärtigen Gäste. Noch in der Einladung stellte es sich so dar, als habe Humboldt persönlich zu einem Fest eingeladen 45 und in einem Brief an Gauß steigerte sich Humboldt gar in die Formulierung hinein: „[Sie] müssen [...] einem Feste beiwohnen, welches ich 600 Freunden, im Concertsaal des Schauspielhauses geben werde! Der König und der Kronprinz haben versprochen, dabei zu sein."46 An dem hochoffiziellen Charakter der Veranstaltung konnte aber schon wegen der Anwesenheit des Hofes kein Zweifel sein. Der Bericht resümiert den Erfolg der Gala: „Die Absicht, sowohl den Kreis der versammelten würdigen Gelehrten des Auslands und der Provinzen hier in seinem Glänze zu zeigen, als auch diesem die Hauptstadt des Preußischen Staates nach ihrem ganzen Gehalt an Vergegenwärtigern der höchsten geistigen Interessen vorzuführen und so 43 44
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Ebd., S. 18. Steven Turner: The Growth of Professorial Research in Prussia, 1 8 1 8 to 1848 - Causes and Context, in: Russell Mc Cormmach (Hg.): Historical Studies in the Physical Sciences, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1971, S. 1 3 7 - 1 8 2 , S. 140. Amtlicher Bericht, S. 12. Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß, hg. von KurtR. Biermann, Berlin: Akademie-Verlag 1977 (=Beiträge zur Alexander-von-HumboldtForschung, 4), S. 35.
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zwischen beiden Teilen die edelste Art der Annäherung zu bewirken, schien auf das Vollkommenste gelungen."47 Dem gleichen Zwecke kam es wohl zugute, dass sowohl zu den Plenarsitzungen ausgewählte Honoratioren und Studenten eingeladen wurden, während zur gemeinsamen Mittagstafel im Exerzierhaus zu den 600 Teilnehmern mit Familienangehörigen auch noch hundert Berliner Interessierte dazu stoßen konnten. Der enorme Ansturm war durch die Ausgabe von Eintrittskarten zu begrenzen.48 Professionalisierung und Institutionalisierung, die aus der imposanten Liste der mitwirkenden und zugeladenen Einrichtungen Berlins sprechen, sind verwandt mit Disziplinenbildung und Spezialisierung. Schon in den Informationsblättern, die vorab an die Eingeladenen verschickt wurden, hieß es, es seien „Räume, in welchen die Gelehrten eines und desselben Faches sich abgesondert von den übrigen versammeln und besprechen können", vorgesehen.49 Die große Zahl der Teilnehmer legte eine Teilung in Sektionen nahe, die durch die Veranstalter vorbereitet wurde, als für die chemisch-physikalische Sektion das chemische Laboratorium, für die geognostisch-mineralogische und für die astronomisch-geographische Sektion das Mineralien-Kabinett, für die anatomisch-physiologische das anatomische und für die zoologische das zoologische Museum als Tagungsstätten zur Verfügung gestellt wurden. Außerdem tagten eine botanische und eine practisch-medizinische Sektion. Die Themen der Verhandlungen und Vorträge sind im Bericht bereits nach Sektionen geordnet aufgelistet. Die Tagung förderte also die Stärkung der Disziplinen ebenso, wie das Ansehen einer schon weit differenzierten Landschaft wissenschaftlicher Institutionen in der preußischen Metropole. Humboldt, der sich von den Vorzügen zentraler Wissenschaftsorganisationen vor allem in Paris, aber auch in London hatte überzeugen können, schwebte offenbar eine ähnlich konzentrierte preußische Wissenschaft vor, die für die deutschsprachigen Staaten, ja für eine zukünftige deutsche Nation Vorbild werden konnte. Die Genehmigung der Versammlung per Kabinets-Ordre50 war unvermeidlich. Doch wohl niemals zuvor wurden auf einer Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte die Interessen des gastgebenden Staates so gründlich verfolgt und deutlich in Szene gesetzt. Der amtliche Bericht spricht denn auch mit gutem Grund von der „Würde der Wissenschaft als der des Staates", der die Gestaltung der Versammlung angemessen sein sollte.51 Oken war der 47 48 49 50 51
Amtlicher Bericht, S. 18. Isis (1829), S. 241. Amtlicher Bericht, S. 12. Ebd., S. [1], Amtlicher Bericht, S. [1].
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erste, der in seinem Bericht den Erfolg der starken Allianz von Wissenschaft, Monarchie und Staat im Falle Preußens anerkannte, zumal er glaubte, die unbedingt demokratisierende Wirkung einer engagierten Wissenschafts- und Bildungspolitik in Berlin beobachtet zu haben.52 Die gesamte Veranstaltung charakterisierte er als ein „Nationalfest [...], ähnlich den Versammlungen bey den olympischen Spielen."53 In der Eröffnungsrede Humboldts hat man ein Stück „Byzantinismus" erkennen wollen,54 wohl im Blick auf die abschließenden Worte, in denen von der Größe, Erhabenheit, der Huld des Herrschers und des Herrscherhauses die Rede ist und von der Königsstadt Berlin. Aber sind das nur Ornamente eines höfischen Gebahrens? Gerade in diesem Jahr, das die Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte erstmals nach Preußen führte, liegt die Rationalität einer Rhetorik und Symbolik auf der Hand, die monarchische und bürgerliche, wissenschaftliche und staatliche Belange zusammenführt. Wo es gelingt, die Identität der beteiligten Akteure, des Souveräns und der Verwaltungsbeamten, der Gelehrten und der Künstler, nicht zuletzt der teilnehmenden Öffentlichkeit in gemeinsamen Auftritten zu festigen, weil sie sich auch gegenseitig legitimieren und stärken, da sind Krisen bei der rasanten Modernisierung und Differenzierung der Gesellschaft und ihrer Institutionen leichter zu bewältigen. Die Symbolik und Rhetorik des Festes, auf die Humboldt so viel Wert legte, spielen eine enorme Rolle bei dem Prozess, in dem sich der Schwerpunkt der Wissenschaft von den königlichen Akademien an die Universitäten verlagerte und aus den königlichen Sammlungen des Souveräns Schauplätze bürgerlicher Berufsausübung wurden.55 Tatsächlich spielt das Konkurrenzverhältnis zwischen der Versammlung der Naturforscher und Ärzte und dem älteren Modell der Akademien in den Berichten und Kommentaren auch dieser Naturforscherversammlung eine Rolle, zumal sich die universitäre Naturforschung und Medizin noch keineswegs völlig etabliert hatte.56 Die königlichen Sammlungen, das königliche Schauspielhaus, die Potsdamer Pfaueninsel mit ihren botanischen und zoologischen Raritäten57 führen die Berichte über die Tagung des Jahres 1828 weniger als 52 53 54 55 56 57
Isis 1829, Sp. 217. Isis 1829, S. 234. Siegmund Günther: Alexander von Humboldt. Leopold von Buch, Berlin: Ernst Hoffmann 1900 (=Geisteshelden 39), S. 121. Vgl. Turner. The Growth of Professional Research, S. 137ff. Isis (1829), S. 360, 364, dort Buchholz als sehr kritisch gegenüber den Akademien zitiert, moderater Oken S. 366. Zur Expedition der Naturforscher zur Potsdamer Pfaueninsel vgl. Gerhard Engelmann: Alexander von Humboldt in Potsdam. Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages, Potsdam 1969, S. 16-20.
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Orte einer monarchischen Repräsentation als bürgerlicher Professionsausübung und wissenschaftlicher Disziplinenbildung vor. Okens Bericht etwa setzt mit einer mehrseitigen Schilderung der Berliner wissenschaftlichen Institutionen ein, denen an anderer Stelle das Loblied des Berliner Vereinswesens folgt. Dies alles dokumentiert einen Prozess, in dem sich die Monarchie verbürgerlicht in gleichem Maße, in dem die bürgerlichen Gelehrten ihre Bildungsideale und ihre Repräsentation dem aristokratischen Habitus anpassen.58 Huldvoll etwa mischen sich die Angehörigen des Königshauses unter die Gelehrtenschaft, und stellen sich dabei als Teil der Leserschaft dar: „Ihre königl. Hoheiten der Kronprinz und Prinz Albrecht geruhten in längerem Verweilen Sich auf das huldvollste mit den Gelehrten zu unterhalten, die Sie bereits aus ihren Schriften kennen gelernt hatten."59 Indessen verherrlicht sich aber auch die deutsche Gelehrtenschaft in einer Folge glanzvoller Feste, die viel weniger im Zeichen des politischen Radikalismus und der Kritik am Fürstenstaat standen, als bei einer von Lorenz Oken ins Leben gerufenen Vereinigung von Akademikern hätte erwartet werden können.60 Oken war ja seit seiner Teilnahme auf dem Wartburgfest der Polizei verdächtig. Doch das Gebäude der Singakademie, wo wenige Monate zuvor noch die Kosmosvorlesungen stattgefunden hatten und in der dann auch das Plenum tagen sollte, das Exerzierhaus und das Schauspielhaus, übrigens alles neueste Beispiele des Berliner Klassizismus, wurden innen festlich nach Entwürfen Schinkels dekoriert,61 wobei sich die Naturforscher an Repräsentationsformen des Hofes wo nicht an sakrale Bauformen 62 erinnert fühlen durften. In der Singakademie wurde noch vor der Eröffnung der Versammlung für die Gäste Georg Friedrich Händeis Alexanderfest mit dem Libretto 58
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Vgl. Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt a.M., Leipzig 1999, S. 70, dort wird die Nachahmung aristokratischer Verhaltensweisen als wichtiges Element des bildungsbürgerlichen Engagements dargestellt. Amtlicher Bericht, S. 18. Zum Zusammenhang einer bürgerlichen Festkultur und der Herstellung politischer Öffentlichkeit seit der französischen Revolution vgl. Dieter Düding: Einleitung, in: ders., Peter Friedemann, Paul Münch (Hg.): Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek: Rowohlt Taschenbuch 1988, S. 10—24. Speziell zum Beitrag der Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte zum Nationalliberalismus Kurt Bayertz: „Siege der Freiheit, welche die Menschen durch Erforschung des Grundes der Dinge errangen." Wandlungen im politischen Selbstverständnis deutscher Naturwissenschafder im 19. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 10 (1987), S. 1 6 9 - 1 8 3 , hier S. 170f. Vgl. Sachs, Die Versammlung der deutschen Naturforscher, S. 46; Isis (1829), S. 241. Von der Singakademie, die „nun aus einem Tempel Polyhimniens in einen Tempel der Isis umgeschaffen war", ist bei Oken, Isis (1829), S. 253 die Rede. Bei Sachs, Versammlung deutscher Naturforscher, S. 50, wird das Schauspielhaus zu einem „Tempel deutschen Ruhmes".
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John Drydens aufgeführt. Das Oratorium, das im zweiten Teil die Einrichtung einer friedlichen zivilen Kultur nach siegreichen Feldzügen preist, eignete sich zur Verklärung des preußischen Staates nach den napoleonischen Kriegen ebenso wie zur Feier einer bürgerlichen Kultur, die zum Ruhme einer neuen Friedensordnung beiträgt.63 Auch die Ärzte und Naturforscher waren ja im Zeichen eines konstruktiven Miteinanders als Bürger eines geistigen geeinten Vaterlandes zusammengekommen. Die Namensgleichheit des mazedonischen Eroberers und des Helden vom Orinoko wird im Übrigen zu Wortspielen eingeladen haben. Erinnerte die Aufführung an die besten Zeiten der höfischen Repräsentation, so waren dabei nur die Solosänger „königliche", während die Chorsänger der Singakademie Mitglieder eines bürgerlichen Vereins waren so gut wie ihre Gäste, und das klassizistische Gebäude der Singakademie im Grunde ein Vereinslokal. Die beiden Berliner Liedertafeln, die zur Gala im königlichen Schauspielhaus beitrugen und außerdem ein Mittagessen während der Tagung mit ihrem Gesang begleiteten, ergänzten und bestätigten in ihrer Vereinskultur die Ideale der Naturforscher und Ärzte. Karl Friedrich Zelter hatte die Liedertafel 1808 anläßlich der Rückkehr Friedrich Wilhelms III. aus dem Exil und in Zeiten der französischen Besatzung als patriotische Vereinigung begründet, in der nur solche Herren Mitglied werden durften, die sich zumindest für die Vereinszwecke als Komponisten und Autoren von Liedertexten bewährten.64 In den musikalischen Darbietungen spiegelte sich also der vaterländische und bildungsbürgerliche Idealismus, der auch die Naturforscher und Ärzte laut Statut antrieb. Dass Gesang gesellig sei und Gemeinschaft stifte, davon war übrigens schon Oken seit den ersten Leipziger Tagen der Versammlung überzeugt, und seit der Dresdner Tagung 1826 kam es zur Beteiligung einer Liedertafel. In Berlin befand man sich aber an dem Ort, von dem die Bewegung der Liedertafeln ausgegangen war, und die Gesänge, die beim Mittagessen oder im Schauspielhaus vorgetragen wurden, passen zum Geiste der musikalischen wie der wissenschaftlichen Vereinigung. Außer einem Domine salvumfac regem erklangen Lieder nach klassischen Texten des Horaz, von Goethe und Schiller, Das deutsche Ued von Schmidt von Lübeck und Zelter, das Bundeslied von Theodor Körner und Rungenhagen, Die goldne Zeit von Rückert und Wollank.65 Sachs schreibt in seiner „kritischen Beleuchtung" der Versammlung: „Zu einer wahren Flamme des
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Zur Bedeutung des musikalischen Teils der Versammlungen, zur Aufführung des ,Alexanderfestes' und zum Beitrag von Singakademie und Liedertafeln vgl. Jackson: Harmonious Investigations, hier S. 138. Vgl Jackson: Harmonious Investigations, S. 126. Isis (1829), S. 274-277, S . 3 5 2 f .
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loyalen Nationalsinns entzündete aber Arndt's, von Reinhard componirtes Lied ,Das deutsche Vaterland'." 66 Lagen die Ziele beider, der Liedertafeln wie der Versammlung, so nahe beieinander, dass die einen den anderen aus der Seele sangen, wenn von Verbrüderung, Fortschritt, Vaterland und Freiheit die Rede war, so kann es nicht verwundern, dass eine ganze Reihe der Berliner Beteiligten Chorsänger und Naturforscher in Personalunion waren, unter ihnen auch der Geschäftsführer neben Humboldt, der Zoologe Hinrich Lichtenstein, ein Patensohn Carl Maria von Webers. 67 Dennoch war es der bekanntlich unmusikalische Alexander von Humboldt, der den jungen Felix Mendelssohn-Bartholdy mit der Komposition einer Festkantate eigens für die Naturforscherversammlung beauftragte. Den Text verfaßte Ludwig Rellstab.
Öffentliche Festkultur: Repräsentierte Naturforschung Die Kantate „Begrüßung" von Felix Mendelssohn-Bartholdy und Rellstab handelt, eingerahmt vom Herrscherlob und einer Bitte um Gottes Segen, von naturgeschichtlichen Phänomenen, vor allem auch genetischen, die leicht auf politische und kulturelle Erscheinungen zu übertragen sind. Die Kasuallyrik nimmt das urzeitliche Chaos, den Streit der Elemente und die Harmonisierung der Naturkräfte durch „des Lichtes wunderbare Klarheit" als Vergleich für eine neue Friedensordnung in der Menschenwelt. „Versöhnt ist jetzt der Elemente Chor [...] Hoch wölbt sich der Äther / Und blinkende Sterne / Ziehn goldener Kreise / Sanft strahlende Bahn." Und im Rezitativ heißt es dann „Und wie der große Bau der Welt sich ordnet, / So bildet sichs auch in des Menschen Brust. / Es wohnt die wilde Kraft der Elemente / In seiner Seele, die verderblich wirkt / Wenn nicht ein großes, leuchtend hohes Ziel / Zur Einheit schlichtet starrer Kräfte Zwist." 68 Der Text, an sich wenig originell, suchte doch alle Gäste einer Veranstaltung gemeinsam anzusprechen und zugleich einen Staat und eine Monarchie, eine virtuelle Nation, ein geteiltes und zur Einigkeit aufgerufenes Gelehrtentum. Zuvor hatte sich Humboldt, entgegen den Gepflogenheiten bei früheren und späteren Eröffnungsreden, mit naturalen Metaphern und Vergleichen sehr zurückgehalten.69 Er appellierte an die Einheit der (Sprach)Nation und die gemeinsamen Ziele der Naturforschung und Ärzteschaft. 66 67 68 69
Sachs: Die Versammlung der deutschen Naturforscher, S. 47. Jackson: Harmonious Investigations, S. 135. Amtlicher Bericht, S. 21. Schipperges: Weltbild und Wissenschaft, S. 1, 8, 16.
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Wenn er jedoch von „wahrem und tiefem Gefühl der Einheit der Natur"70 sprach, so führte er dazu nur aus, dass es eine Kontintuität von Erscheinungen gebe, mit denen die Forscher befasst seien, von der anorganischen Materie bis zu den physiologischen und pathologischen Prozessen der höchsten Organismen. Ein kritischer Beobachter wie der Kantianer Johann Jakob Sachs zitierte Humboldt zustimmend, stellte aber zusätzlich die Einheit der Natur aus der Sicht der diversen wissenschaftlichen Disziplinen als eine echte Herausforderung und Chance der versammelten deutschen Naturforscher und Ärzte dar.71 Gemeinsam sei ihnen vor allem die positive Methode, aus der sich ja vorerst kein Begriff der ganzen und einheitlichen Natur ableiten lasse. Die „physische Philosophie der Natur" müsse erst noch entwickelt werden, die überzeugend an die Stelle der metaphysischen treten könne. Die Physiologie könne dabei die Rolle einer Leitwissenschaft spielen.72 Bei einer disziplinär und erkenntnistheoretisch so instabilen Lage verspricht eine Kasuallyrik umso mehr Erfolg, die immer wieder naturale Kräfte mit politischen und professionellen Dynamiken vergleicht und ihre Harmonisierung beschwört. Doch noch andere Symbole einer idealen Einheit der Naturforscher wurden in Berlin in Szene gesetzt. Der Saal des königlichen Schauspielhauses wurde nach einem Entwurf seines Architekten Schinkel „in einen Tempel deutschen Ruhmes verwandelt", wie Sachs berichtet.73 Der „Amtliche Bericht" reproduziert die Anordnung einer Wandverkleidung, die zwischen die Säulen gegenüber dem Eingang zum Saal gesetzt wurde.74 In fünf Kolonnen waren darauf die Namen von 71 Naturforschern und Ärzten der ferneren und jüngsten Vergangenheit geprägt, im weitesten Sinne dem deutschsprachigen Raum angehörend, darunter Leibniz und Kant. Zu beiden Seiten fanden sich Zitate je eines Arztes und eines Naturforschers. Ihre Namen: Schiller und Goethe. Das Schillersche Distichon ist das Konzentrat von dem, was Reilstab auf Kantatenlänge ausführte: „ - es entbrennen im feurigen Kampf / die eifernden Kräfte, / Grosses wirket ihr Streit, Grösseres / wirket ihr Bund". Deutungsbedürftiger dagegen die letzte von vier Strophen aus Goethes „Eins und Alles" auf der linken Seite der fünf Kolonnen: „Es soll sich regen, schaffend handeln / Erst sich gestalten, dann verwandeln, / Nur scheinbar steht's Momente still. / Das Ew'ge regt sich fort in allen: /
70 71 72 73 74
Amtlicher Bericht, S. 15. Sachs: Die Versammlung deutscher Naturforscher, S. 5f. Ebd., S. 7. Sachs: Die Versammlung deutscher Naturforscher, S. 50. Amtlicher Bericht, S. [19],
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Denn Alles muss in Nichts zerfallen, / Wenn es im Seyn beharren will".75 Das Zitat hätte an diesem Ort Goethes Zustimmung nicht gefunden, heißt es.76 Zum repräsentativen Zwecke eignete es sich zweifellos hervorragend. Es ließ für die Versammelten den Rückschluß von der Natur auf den Erkenntnis- und Forschungsprozess zu, der von der ständigen Bewegung und Verwandlung bei aller Kontinuität, von der Hinfälligkeit sonst bewährter Meinungen und der Erneuerung aus vermeintlich erstarrten Lagen heraus zehrt. Zu diesem unermüdlichen Prozess der Naturforschung gehört auch der sinnbildliche oder tatsächliche Tod des einzelnen Gelehrten. Doch durch die Teilnahme am rasdosen, wenn auch immer wieder stagnierenden Erkenntnisprozess kann jeder einzelne in das „Ew'ge", sei es der Wahrheit, sei es der Geschichte eingehen. Diese Interpretation der Zeilen liegt jedenfalls nahe, wenn sie gleich neben der prunkvollen Liste illustrer Namen stehen, unter denen Goethe als epochemachender Naturforscher gleich noch einmal genannt ist. Die Symbolik des Festes lässt die Erhebung der versammelten Naturforscher und Ärzte zu historischen Würden ahnen und eröffnet ihnen einen Blick in ihre mögliche Verewigung. Die Feiernden sollen sich ja durch die illustren Namen beflügelt fühlen, bis hin zur Möglichkeit, dass auch die weniger Etablierten, die Jüngeren und Jüngsten unter den Besuchern sich eines Tages in der Gesellschaft der kanonisch gewordenen Größen wiederfinden könnten. Es ist ein Kanon der Geisteshelden, der den gleichen Gesetzen der Beharrung und Verwandlung unterworfen ist, wie die Natur in Goethes Zeilen. Dabei spielt die räumliche Disposition der Tafel eine große Rolle. Die Heroen der vergangenen und gegenwärtigen Naturforschung haben in einen Tempel mit fünf Säulen ihren Eingang gefunden, wenn er auch nur provisorisch in die Logenränge des Schauspielhauses eingefügt ist. Der Grund der Inschriften himmelblau, die Namenzüge in Gold und Silber aufgetragen: Es ist ein Himmel, eine Apotheose der Heroen des Geistes. Die Feier bewegt sich dabei in der Mitte von Gottesdienst und Heldenverehrung mit Anklängen an die höfische Repräsentation. Dazu gehört auch das Zusammenwirken der Künste, auf das Humboldt bei der Inszenierung setzt. Im Brief an Mendelssohn-Bartholdy von Anfang September des Jahres ist zu lesen: „Herr Hofrath Esperstedt hat sehr leicht, Ihren (meinen) Gründen, die canonisirten grossen Männer des blauen Olymps recht in den Dampf einer Sternenschaar zu sezen nachgegeben. Das ist eine gute Nachricht. Ihre Zaubertöne werden senkrecht zum Olymp des decorateur aufsteigen [...] 75 76
Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Erich Trunz, Bd. 1, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 369. Das Zitat sei nicht im Sinne Goethes, der das Gedicht als Parodie gemeint habe, so Schipperges in: ders., Hans Querner (Hg.): Wege der Naturforschung, S. 22.
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Gehen Sie gütigst, lieber Felix, um alles zimmern, bauen, beschränken zu lassen wie Sie es befehlen." 77 Im Übrigen beeilt sich Humboldt, von der geplanten Inszenierung des Olymp sofort nach Weimar, an Kanzler Friedrich von Müller zu berichten. 78 Dazu bildet das Gebäude der Singakademie mit dem ausgeklügelten Sitzplan, ebenfalls im amtlichen Bericht reproduziert, das Pendant. Zwar waren in den Grundriss dieses vorübergehenden „Tempels der Isis" nicht die Namen der Gäste eingetragen, sondern nur für jeden Besucher sein Platz mit roter Tinte markiert. Eine aktuelle Teilnehmerliste wurde jedoch noch während der Tagung ausgegeben, und mehr noch, dem Bericht fügte man, wie schon im Vorjahr in München, eine lithographierte Liste der eigenhändigen Unterschriften aller Mitglieder bei. Flüchtige Namenzüge verwandelten sich in ein für alle Zeiten festgehaltenes historisches Ereignis, auf halbem Wege zu der Inschriftentafel der erhabensten Namen und der erhebensten Gedanken aus der Naturforschung. Die Schriftzüge sind zugleich die knappste Darstellung dessen, was eine „Versammlung von Litteraten" ist. Um die sinnfällige Einreihung der Versammlung in die kulturelle Identität und das kulturelle Gedächtnis der Teilnehmer, der gastgebenden Hauptstadt und der bildungsbeflissenen Öffentlichkeit ging es also, und ging es bereits in Humboldts Eröffnungsrede, in der einige der großen Namen auch schon beschworen wurden, und zwar ebenfalls in einer räumlichen Disposition. Natürlich sollten damit die Gäste aus verschiedener Herren Länder besonders begrüßt werden, aber doch auch eine imaginäre Landkarte des Vaterlandes umrissen, das im Geiste der Gelehrten mehr Realität hatte, als in der politischen Praxis. Und so wie bei der festlichen Gala wurden die Gäste eingeladen, ihre Versammlung als Pendant jenes Ensembles von Geisteshelden anzusehen, das Humboldt zusammenstellte: „Was kann das Bild dieses gemeinsamen Vaterlandes erfreulicher vor die Seele stellen, als die Versammlung, die wir heute zum ersten Male in unsern Mauern empfangen." 79 Und ehrende Erwähnung finden das Neckarland, „wo Kepler und Schiller geboren wurden", das „Land[...] des Copernicus," und zur Begrüßung der Gäste aus Schweden, Norwegen, Dänemark, Holland, England und Polen finden Linne, Scheele, Bergmann ihren Platz in der Rede. Die „Betrachtungen über den geistigen Reichtum des Vaterlandes" schließen mit einigen Namen von „Patriarchen des vaterländischen Ruhmes", die an der Versammlung, mehr oder weniger unfreiwillig, nicht teilnehmen konnten. An erster Stelle 77 78 79
Autograph der Oxford Bodleian Library, Transkription der Leipziger Felix-Mendelssohn Briefausgabe, BBAW. Ebd. Amtlicher Bericht, S. 13.
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„Goethe, den die großen Schöpfungen dichterischer Phantasie nicht abgehalten haben, den Fortscherblick in alle Tiefen des Naturlebens zu tauchen", außerdem Olbers, Blumenbach, Sömmering.80 Goethe und Schiller, die mehrfach erwähnten und zitierten, tragen weit über ihre naturwissenschaftlichen Verdienste hinaus zur festlichen Repräsentation der Versammlung bei. Zitiert und beschworen wurden sie, wo immer die Naturforscher und Ärzte zusammentrafen, und der alte Goethe fand Anlass, die Versammlungen zu verwünschen, die jeweils eine Flut von Tagungstouristen nach Weimar führte.81 Die Anrufung der klassischen Größen erklärt sich leicht mit dem Pathos des „geistigen Vaterlandes" und einem Bildungsdenken, die von der Identität der versammelten Gelehrten nicht zu trennen sind. Ihre Erfolge sind die des Geistes, der zwar auch der Geist einer neuerdings nobilitierten medizinischen und Natur-Wissenschaft ist. Zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Nationalkultur werden die Repräsentanten dieser neuen Wissenschaften jedoch nur, wenn es ihnen gelingt sich im Glanz von Musik und Architektur oder im Schatten der Poesie zu verewigen und zum Teil einer kanonischen Geschichte zu werden. Wer Humboldts Einsatz für die festliche Repräsentation des disziplinären und institutionellen Wissens kennt, den er im Vorfeld der Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte gezeigt hat, und ihn als Einsetzung von Symbolen ernst nimmt, wird auch den Kosmos anders lesen. Auch dieses späte Werk ist unter anderem eine Arbeit am Kanon der Namen, die nicht vergessen werden dürfen, der herausragenden Leistungen, die als Symbole in die historische Identität einer Epoche eingehen sollen. Keinen Olymp ließ Humboldt in diesem Buch zimmern, keinen dunkelblauen Sternenhimmel malen, von dem sich in silbernen Lettern die Namen der Verewigten abheben. Die unsterblichen Philosophen und Mathematiker, Reisenden und Entdecker, Forscher und Gelehrte, die zur allmählichen Erkenntnis der ganzen physischen Welt beigetragen haben, er setzt sie ein für allemal an den Platz im Kosmos, den sie zuerst erschlossen haben. Die ganze physische Welt wird zum Olymp.
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Amtlicher Bericht, S. 14f. Vgl. Hans Querner, H. Schipperges (Hg.): Wege der Naturforschung, S. III.
Die Entstehung der physischen Welt in den Geschichtswissenschaften Der Kosmos im frühen Wettbewerb der „zwei Kulturen" Seit seiner ersten Ausgabe in den Jahren 1845 bis 1859 genießt der Kosmos den Ruf eines Werkes, das ebenso einmalig wie exemplarisch ist.1 Exzeptionell ist dabei vor allem seine geschichtliche Stellung, die offenbar bis heute zu Identifikationen oder Polemiken einlädt. In diesem Buch mischen sich nämlich progressive mit traditionalistischen Tendenzen in auffälliger Weise. Für die einen läutete das Wagnis den Beginn eines neuen Zeitalters naturwissenschaftlicher Bildung ein, für die anderen war das Unternehmen in seinem konsequenten Ganzheitsdenken das letzte Zeugnis einer vergehenden Epoche, das von Anfang an als historisches Monument enthüllt wurde.2 Noch die neueste Ausgabe wird in Deutschland mit einem ausgesprochen wertkonservativen Gestus vorgestellt, wobei sie diesen Klassiker eben wegen seiner Verwurzelung im Bildungsidealismus des 19. Jahrhunderts als richtungweisend für das 21. Jahrhundert empfiehlt wird.3 Der Humboldt-Biograph Alfred Dove machte zuerst auf die zugleich modernisierende wie antimodernisierende Tendenz des Buches aufmerksam. Dove, ein im Übrigen höchst gewissenhafter und reflektierter Autor, verfuhr dabei durchaus auch polemisch. Schon im Blick auf die Kosmosvorlesungen stellte er klar, dass sie „laut und bestimmt vor aller Welt den Umschwung der Zeiten" verkündeten, das heißt den Sieg der Erfahrung über die Spekulation, den Beginn einer pragmatischen Ära technologischer 1
2 3
Vgl. Wolfgang Rohe: Literatur und Naturwissenschaft, in: Edward Mclnnes und Gerhard Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit (=Hansers Sozialgeschichte der Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 6), München 1996, S. 211-241, 7 6 8 771: Die Rede ist von dem „fast schon anachronistische[n] Versuch einer Gesamtschau aller naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Er liegt in Alexander von Humboldts Kosmos exemplarisch und nahezu singular vor" (S. 215). Der Kosmos sei „gleich einem Dokument aus vergangenen Tagen." Franz Schnabel: Alexander von Humboldt, in: Hochland 52 (1959/60), S. 13-33, hier S. 32. „Dem 21. Jahrhundert, dessen wichtigste Ressource das Wissen sein wird, kann er [Humboldt] in mehr als einer Hinsicht als Vorbild dienen" (Kosmos, S. VII). Vgl. auch den 32seitigen Prospekt des Frankfurter Eichbom-Verlags, in dem neben einer Neuausgabe der Ansichten der Natur und der deutschen Erstausgabe der Ansichten der Kordilleren vor allem die Neuausgabe des Kosmos beworben wird. Der Herausgeber Hans Magnus Enzensberger behauptet einleitend: „Deutschland ist auf Alexander von Humboldt angewiesen, wenn es die Herausforderungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts bestehen will" und stellt den Verfasser des Kosmos als historisches Vorbild dar (S. 5).
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und ökonomischer Expansion. 4 Zwar wußte Dove, dass sich das Verständnis von dem, was Naturwissenschaft sei, seit dem Erscheinen des Kosmos, wie viel mehr seit Humboldts frühen Erfahrungen als Naturforscher gewandelt hatte. Das schien aber zweitrangig angesichts eines Wettbewerbs zwischen einer schöngeistigen und einer wissenschaftlichtechnologischen Kultur, der nun endlich zugunsten der letzteren entschieden zu werden versprach. Dove wertete dies als Zeichen des Fortschritts, und eben deswegen auch Humboldts Versuch, zugleich an einer ambitionierten literarischen Kultur mitzuwirken, als teilweise verfehlt und im Grunde veraltet. Wo er sich mit den Grenzüberschreitungen zwischen Wissenschaft und Literatur im Kosmos befasste, machte Dove auf Schwächen aufmerksam, auf uneingelöste Ansprüche und auf einen bezeichnenden Anachronismus: Humboldt habe sein Stilideal schon vierzig bis fünfzig Jahre vor der Abfassung seines Spätwerks entwickelt, unmittelbar im Umfeld der Kultur von Weimar und Jena. 5 Es sei ein problematisches Erbe, insofern Humboldt in der beschreibenden Prosa nicht annähernd das leisten könne, was Goethe ihm vorgemacht habe, und dann natürlich auch im Blick auf die umfassenden epistemologischen Veränderungen, denen sich eine „physische Weltbeschreibung" der Jahrhundertmitte im Gegensatz zur Weimarischen Naturforschung gegenübersehe.6 Für Dove, so scheint es, ist die Trennung der zwei Kulturen längst vollzogen und nicht mehr rückgängig zu machen, und der Kosmos deshalb bei allen Verdiensten ein exzentrisches Werk, fortschrittlich in der Sache, anachronistisch im Vortrag. Es handelt sich um eine durchaus repräsentative Meinung, der Emil du Bois-Reymond ganz ähnlichen Ausdruck verlieh.7 Andere dagegen rühmten die meisterliche Prosa des Kosmos, und mit dieser Begründung fand er auch Eingang in die Literaturgeschichten. 8 Dabei ging es aber wohl mehr um die Reklamierung eines repräsentativen Titels für die Nationalkultur als um eine literaturgeschichtliche Würdigung im strengeren Sinn. Der Hinweis auf die goethezeitlichen Wurzeln dieses literarischen Stils war um so unverbindlicher, als er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon zur Floskel geworden war, die in gewissem Sinne legitimierte, aber zu keiner ernsthaften kunsttheoretischen Auseinandersetzung verpflichtete.9 Die schöne Prosa wurde als Beweis dafür 4 5 6 7 8 9
Dove, in: Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. 2, S. 144. Ebd., S. 375. Ebd., S. 376. Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Emil du Bois-Reymond, S. 193. Vgl. das anschließende Kapitel. Ein Beispiel für die unverbindliche Erhebung zu Klassikerwürden bei Harig, der meint, die Ansichten der Natur und der Kosmos gehörten „ebenso zu den Meisterwerken der deutschen Literatur wie die Dichtungen Goethes und Schillers." Gerhard Harig: Alexander von Humboldt - Wissenschafder und Humanist. Zu seinem 100. Todestag, in: Zeitschrift für
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angesehen, dass moderne Naturwissenschaft nicht zwangsläufig aus dem öffentlichen Raum kultureller Sinnstiftungen herausfallen müsse.10 Die in schöner Form verhandelte Sache, nämlich die physische Welt nach dem erreichten Stand des Wissens, schien objektiv gegeben. Der Verfasser des Kosmos hatte sich aus der aktiven Naturforschung zurückgezogen und rekapitulierte ausschließlich affirmierte Erkenntnisse.11 Schon unter den Zeitgenossen meinten zwar manche Spezialisten, dass einige Kapitel, die in ihre Kompetenz fielen, hinter dem neusten Stand der Forschung zurückgeblieben seien.12 Humboldt jedoch hatte unbestreitbar mit seinem Kosmos die Naturwissenschaft definitiv zu einer Sache des allgemeinen Bildungswissens gemacht.13 Humboldt war der Gedanke an einen Wettbewerb zwischen den Kulturen durchaus gegenwärtig, doch suchte er zu vermitteln. Die Vorliebe für Belebung des Gewerbefleißes und für die Theile des Naturwissens, welche unmittelbar darauf einwirken (ein charakteristisches Merkmal unseres Zeitalters), kann weder den Forschungen im Gebiete der Philosophie, der Alterthumskunde und der Geschichte nachteilig werden, noch den allbelebenden Hauch der Phantasie den edlen Werken bildender Kunst entziehen. W o unter dem Schutz weiser Gesetze und freier Institutionen alle Blüthen der Cultur sich kräftig entfalten, da wird im friedlichen Wettkampfe kein Bestreben des Geistes dem andern verderblich. 14
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deutsche Philosophie 7 (1959), S. 253—270. Ähnlich unbedenklich verfuhr Bölsche. Er pries den „lichten Bau der physischen Weltbeschreibung des greisen Alexander von Humboldt, in deren kosmischem Rahmen unter der Form der dichterischen Naturanschauung die ganze Poesie mit Leichtigkeit eine Stelle gefunden hätte." (Wilhelm Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Aesthetik, Leipzig: Carl Reissner 1887, S. 6). Vgl. kürzlich noch Wolfgang Frühwald: Das Talent deutsch zu schreiben. Goethe Schiller — Thomas Mann, Köln: Dumont 2005, S. 211. Alexander von Humboldt habe eine Sprachkultur der Naturwissenschaft in Deutschland gestiftet, die bis heute vorbildlich sei. Cannon bezeichnet den Kosmos daher als Spätwerk, der keine Forscher mehr stimuliere und insofern nicht mehr unter dem Stichwort der „Humboldtian Science" zu behandeln sei. Susan Faye Cannon: Science in Culture: The Early Victorian Period, New York: Dawson and Science History Publications 1978. Vgl. auch Hanno Beck: Physikalische Geographie und Philosophie der Natur im Werk Alexander von Humboldts, in: Klaus Hammacher (Hg.): Universalismus und Wissenschaft im Werk und Wirken der Brüder von Humboldt, Frankfurt a.M.: Klostermann 1976 (=Studien zur Philosophie und Literatur des 19. Jahrhunderts, 31), S. 29-33, S. 30: „Der Kosmos [...] war die Form, in der sich die Resignation des Forschungsreisenden, Geographen und Naturforschers vollzog" (S. 29f.). Vgl. Franz Schnabel: Geschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 3: Erfahrungswissenschaften und Technik, 3. Aufl., Freiburg: Herder 1950, S. 206, über die skeptische Aufnahme des Kosmos durch Fachwissenschaftler. Vgl. wieder Dove: „er hat [...] unserer Naturwissenschaft in den Kreis der die gesamte Nation interessierenden Literatur den Eintritt eröffnet" (Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. 2, S. 386). K, S24.
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Die gute Absicht schützte sein Werk nicht davor, in den Wettlauf zwischen der schöngeistigen Kultur und dem technologisch-szientifischen Denken um die höhere öffentliche Geltung hineingezogen zu werden. Humboldt selbst vermutete, dass am Ende keiner mit den unterschiedlich gewichteten Bänden des Kosmos zufrieden sein werde. An Cotta schrieb er am 28. 11.1847: „Vielleicht finden gerade die, welche sich über wissenschaftliche Uberhäufungen in dem ersten Bande beschwerten, in dem 2ten Bande des Physikalischen nicht genug."15 Die Frage der Zugehörigkeit des Kosmos zur schönen Literatur oder zur Naturwissenschaft konnte zu keiner Zeit dadurch entschieden werden, dass man den Autor genau dabei beobachtete, wie er mal wissenschaftlich exakt verfuhr und sich dann wieder in einem anspruchsvollen Schreibstil übte. Die verhandelte Sache, nämlich das Ganze der physischen Welt, existiert nicht unabhängig von bestimmten Verfahren der Darstellung. Naturgemälde, wie Humboldt sie entwarf, stehen im Kraftfeld der Landschaftsmalerei und anderer synoptischer Abbildungsverfahren; sie bedienen sich altbewährter Topoi der Rhetorik. Überall verrät die Präsentation der Natur bei Humboldt ein starkes Autorsubjekt, das seinen Lesern die Kriterien für ihre Ganzheit und Einheit an die Hand gibt. Unter den wenigen, denen dies auffiel oder problematisch erschien, sticht wiederum Alfred Dove durch seine scharfsinnige Analyse hervor. Nachdem der Kosmos weder etwas wissenschaftlich Neues biete noch ein „philosophischer W u r f sei, so „entsprang seine universelle Tendenz offenbar einem blos ästhetischen Anstosse". Und weiter heißt es: Alle Erscheinungen gruppenweise zu einem Ganzen zusammenzuordnen unter dem ausdrücklichen, von heilsamer Resignation auf den Standpunct gesicherter Erfahrung gebotenen Verzicht auf ihre Unterordnung untereinander und zuletzt unter ein einheitlich herrschendes Princip, das ist, wenn eines, ein ästhetisches Unternehmen, eine Conception freilich von der Art, wie sie als Bestandteile eines nicht rein rationalen Systems oft uneigentlich mit dem Namen philosophisch' belegt werden. 16
Dove deutet an, dass die ästhetische Suggestion eine erkenntnistheoretische Leistung ersetze und führt als Beleg für die insgesamt schwankende rationale Basis des Kosmos die Tatsache an, dass Humboldt in seinen Bemerkungen zum Verfahren besser zu sagen wisse, was er nicht wolle, als was er beabsichtige. Von Doves grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber dem Kosmos ist zweierlei ausdrücklich ausgenommen: einmal die positive Wirkung der informativen Passagen für eine allgemeine Wahrnehmung der Naturwissenschaft in der gebildeten Öffentlichkeit, und ferner der zweite kul15 16
BBAW. Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. 2, S. 359.
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turgeschichtüche Band. Nur in ihm scheinen sich die Sachlichkeit und Souveränität der methodischen und stilistischen Behandlung glücklich zu verbinden. Nicht nur sei die ,Geschichte der physischen Weltanschauung' auf die „umfassendste kritische Quellenforschung" gegründet.17 Auch sonst überzeuge im zweiten Band der Zusammenhang zwischen Objekt und Präsentation, denn „historische Darstellungen, wie sie in jenem vorherrschen, entnehmen ja das Gesetz ihres Ganges unmittelbar ihrem Stoffe selber", womit die Chronologie der Ereignisse, die Gliederung nach Perioden, der „Folgenreichtum von Begebenheiten" gemeint sind.18 Literaturgeschichtliches dürfe im Übrigen auch in freierem Stil behandelt werden, während sich jede dichterische Ambition in der empirischen Deskription verbiete.19 Dass es sich mit der strukturellen Analogie von Gegenstand und Darstellung in der Historiographie so einfach keineswegs verhält, wird noch zu zeigen sein. Wichtig ist zunächst, dass der Kosmos, sofern er ein geschichtliches Werk ist, selbst in der Wahrnehmung eines so kritischen Lesers wie Dove wieder in den Kontext einer zu seiner Zeit hoch aktuellen Wissenschaft und Kultur mit eminenter öffentlicher Wirkung rückt. Humboldts Biograph prophezeit denn auch der „Geschichte der physischen Weltanschauung" „noch für die fernste Zukunft einen unvermindert hohen Werth."20 Ein Schlüssel für den überragenden Erfolg des zweiten Bandes könnte darin liegen: Nirgends lassen sich die zugleich fortschrittlichen (positivistischen, empiristischen) und traditionalistischen (universalistischen, ganzheitlichen), die szientifischen und die ästhetischen Aspekte des Buches so gründlich bündeln und harmonisieren, wie im geschichtlichen Denken des Verfassers, mit dem er sich in der Tat auf der Höhe der Zeit zeigt. So ist der zweite Band schon vor seinem Erscheinen auf eine besonders breite Wirkung hin angelegt worden: „Wenn mich meine Erwartung nicht täuscht, so wird der 2te Th. des Kosmos einem grösseren, nicht physikalisch, aber allgemein gebildeten Publikum durch Inhalt und Lebendigkeit des Styls mehr gefallen als der erste Theil."21 Wer wie Dove die herausragende Stellung von Humboldts kulturhistorischer Arbeit erkannte, fühlte sich dennoch nicht ermutigt, sie genauer zu untersuchen.22 Gerne wiederholt zwar die Biographik, dass sich Hum17 18 19 20 21 22
Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. 2, S. 373 Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. 2, S. 372. Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. 2, S. 372, 374. Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. 2, S. 373. Brief vom 12.4.1847, BBAW. Erst Ottmar Ette legt mit einer gelegentlichen Bemerkung zur „Geschichte als Organisationsprinzip des Kosmos" eine Spur für einen neuen Ansatz der Interpretation. Nachwort zu Reise in die Äquinoktialgegenden des Neuen Kontinents, Frankfurt a.M. Leipzig: Insel 1991, Bd. 2, S. 1590.
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boldt bei der Redaktion mit Historikern und Philologen vom Fach beriet.23 Und bekannt ist auch, dass der zweite Band die höchsten Auflagen erreichte.24 Nach wie vor aber wird er eher als Exkurs bewertet in einem mehrbändigen Buch, das der empirischen Welt gewidmet ist und ein Werk der exakten Naturbeschreibung sein soll. In den anderen Bänden scheinen die häufigen quellenkundlichen und ideengeschichtlichen Partien dagegen restlos in der Strategie der Literarisierung, Popularisierung und im Allgemeinbildungsprogramm aufzugehen. Humboldt selbst lockte seine Leser auf diese Fährte, als er in der Einleitung schrieb, dass die „Schilderung an Einheit, an Frische, an Leben" gewinne, „wenn sie an eine bestimmte Epoche geknüpft ist", nämlich an die Gegenwart 25 Des „classischen Alterthums" und des „fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts" habe er „bisweilen" erwähnt, damit seine Leser sich „dem Kreise streng dogmatisierender Meinungen [...] entziehen und sich in das freie, phantasiereiche Gebiet älterer Ahnungen [...] versenken" könnten.26 Historische Reminiszenzen dienten demnach der Anschaulichkeit und leichteren Lesbarkeit, so wie an anderer Stelle der Verzicht auf Fachtermini oder die Wahl konkreter Beispiele. Und wenn der kulturhistorische zweite Band als etwas ganz anderes erschien, das mit den empirischen Darstellungen des ersten, dritten, vierten und fünften wenig gemeinsam hatte, so legte Humboldt ebenfalls die Sonderstellung dieses einen Teils etwas mißverständlich nahe. Er stellte nämlich die Darstellung „der reinen Objectivität äußerer Erscheinungen" im Naturgemälde des ersten Bandes, und die nun im dritten Band fortzusetzen sei „dem Reflex eines, durch die Sinne empfangenen Bildes auf das Innere des Menschen, auf seinen Ideenkreis und seine Gefühle"27 gegenüber, als würde das jeweils deutlich getrennt verhandelt. In einem Brief an Bessel dagegen bekannte Humboldt, dass die kulturgeschichtlichen Teile des Kosmos, die als ausufernde Abschweifungen angesehen werden könnten, ihren Ursprung in seinem persönlichen Modus des Erkennens haben, in dem das eine vom andern nicht zu trennen sei: Es wird vielfach gesagt werden, daß von dem allen vieles den Naturforscher gar nicht interessiert, daß mein Buch in Geschichte der Literatur, der Landschaftsmalerei, der Gartenkunde, der Weltgeschichte hinüberschweife. Ich aber habe seit 4 0 Jahren die Natur nie allein objectiv vorstellen können, sie erscheint mir immer zugleich als in dem Menschen reflectirt, in dem Einzelnen seine Einbildungskraft 23 24 25 26 27
Zur Geschichte der für den Kosmos notwendigen Recherchen vgl. Petra Werner: Himmel und Erde, Berlin: Akademie Verlag 2004. Fiedler, Leitner: Alexander von Humboldts Schriften, S. 390. K, S. 5. K, S. 6. K, S. 386.
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Naturforschung als Bildung: Von der Vorlesung zum literarischen Kanon belebend, sich im Inneren abspiegelnd, Kunst erzeugend, verschieden nach dem Naturgefühl der Volksstämme, in der ganzen Menschheit durch Weltbegebenheiten (Völkerzüge, Eroberungen, Schiffahrt, astronomische] Entdeckungen, die den Schiffer leiten) modificirt.28
Das Unverständnis, das Humboldt im Blick auf den zweiten Band befürchtet, blieb auch nicht aus. „Ich lerne aus dem Quart. Review, daß der 2te Band [...] füglich hätte unterdrückt werden sollen. Ich behaupte dagegen mit Selbstliebe, daß gerade dieser zweite Band für Anmuth der Sprache und Fülle der Ideen das beste ist, was ich je geschrieben habe."29 Tatsächlich kommen auch in den anderen Bänden des Kosmos die objektiven Erscheinungen ohne den ideen- oder kulturgeschichtlichen Reflex kaum vor. Kein Kapitel ist rein deskriptiv in der Darstellung eines der Zeit enthobenen allgemeinen Sachverhalts aus dem Bereich der physischen Welt. Man nehme etwa aus dem dritten Band, der das „Naturgemälde" des ersten detailreich ausführt, das Kapitel „Zahl, Vertheilung und Farbe der Fixsterne. — Sternhaufen (Sternschwärme). — Milchstraße, mit wenigen Nebelflecken gemengt."30 Die Sachlichkeit der Überschrift täuscht den Leser insofern, als das ganze Kapitel im Grunde eine historische Erzählung der Entdeckung und Erforschung der genannten Phänomene ist. In vielen, vielen weiteren Passagen des Kosmos, oft über ganze Kapitel und erst recht im Uberblick über alle fünf Bände erkennt jeder, der sich den Gattungscharakter historiographischer Darstellungen vergegenwärtigt, einzelne Elemente, wenn nicht gar substantielle Grundlagen eines Geschichtswerkes wieder. Das betrifft formale Aspekte, Methodisches, Termini, Hypothesenbildungen und schließlich fundamentale erkenntnistheoretische Voraussetzungen. Es reicht vom Zitat eines kritisch geprüften historischen Dokuments über die Erzählung von einmaligen Ereignissen, weiter über die Zuschreibung von Taten und Leiden zu individuellen oder kollektiven Subjekten, bis zur Rekonstruktion von kausalen, finalen und wahrscheinlichen Zusammenhängen in Zeit und Raum, die nichts anderes als historischen Sinn zur Ansicht bringen. Nicht nur im Raum hat der Betrachter des Kosmos seinen Platz, sondern auch in der Zeit, und so hängt alles Wissen, jede Erkenntnis der physischen Natur von einem Subjekt ab, das stets seine Historizität gegenwärtig hält. Kurzum: Der Erkenntnisbegriff, der den Kosmos beherrscht, ist mindestens ebenso ein geschichtswissenschaftlicher wie ein naturwissenschaftlicher.
28 29 30
Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Friedrich Wilhelm Bessel, hg. von Hans-Joachim Felber, Berlin: Akademie-Verlag 1994 (=Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 10), S. 210. An Cotta, 15.2.1854, BBAW. K, S. 440-467.
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Die Zeichen wissenschaftlicher Bearbeitung der Historie sind in diesem Buch allgegenwärtig. Schon deswegen relativiert sich eine häufig wiederholte Meinung, dass nämlich die Kulturgeschichte die populäre Einkleidung eines simplifizierten Naturwissens sei. Im Einzelnen wird die historische Darstellung die Lesbarkeit fördern. Die Erzählung von dem, was Wissenschafder im Troß Alexanders von Mazedonien im mittleren Orient fanden, beflügelt die Leser wohl mehr als die Aufzählung von indigenen Spezies jener Zonen. Die Erklärung eines Naturgesetzes fesselt weniger als die Erzählung seiner Entdeckung.31 Anderswo aber erschwert die Wissenschaftlichkeit von Humboldts geschichtlichem Denken das Verständnis.32 Insgesamt vereinfacht das Historische des Kosmos die Problemstellung keineswegs, sondern verlagert sie auf eine andere Ebene, auf der dann erst der Naturwissenschaft ein Weg in ein ambitioniertes Bildungsprogramm eröffnet wird. Die Verfahren der Geschichte, auf die sich Humboldt im Kosmos bezieht, sind also nicht an sich einfacher als die der Naturwissenschaft. Die Historiographie hat freilich gegenüber der empirischen Naturforschung den Vorteil, dass sie ausdrücklich bedeutungsvolle Zusammenhänge selbst universalen Ausmaßes theoretisch zuläßt und methodisch reflektiert. Wenn also der Kosmos auch ein historiographisches Werk ist, dann stellt sich schließlich die Frage, ob die angenommene Ganzheit und Einheit der physischen Natur nicht eigentlich ein Effekt der historischen Entfaltung und Interpretation des empirischen Gegenstandes ist. Die Klammer für die Einheit und Ganzheit der Natur liefern dann nicht nur systematische und bildkünsderische Ordnungsvorstellungen, wie sie in das „Naturgemälde" eingeflossen sind. Mindestens genauso wichtig für die Suggestion der Einheit des Kosmos wäre der Entwurf eines kohärenten historischen Ablaufs. Die Erzählungen von der geschichtlichen Erfahrung des Kosmos umreißen dabei die Fülle der empirischen Erscheinungen schärfer, als der weit überdehnte Begriff des Gemäldes es zu leisten vermöchte. So darf auch angenommen werden, dass die enorme Suggestion, die der Kosmos auf Zeitgenossen und Spätere ausübte, nicht eigentlich eine der „schönen Ordnung" der objektiven empirischen Natur oder eines lebendigen Naturgemäldes ist, sondern eine der kulturge31
32
So zählen Begebnisse aus Wissenschaftlerbiographien, dramatische Entdeckungsmomente, die Beziehung der Naturphänomene auf menschliche Wertkategorien traditionell zu den Mitteln der Wissenschaftspopularisierung. Daum betont denn auch, dass dieses vermeintlich populäre Werk „alle Merkmale der Wissenschaftsprosa" aufweise und nennt: „Lange und oft fremdsprachige Zitate, Forschungsdiskussionen, Anmerkungen, etymologische Diskurse, eine Menge von Daten und Zahlen und historische Einschübe": Andreas Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1 8 4 8 - 1 9 1 4 , München: R. Oldenbourg 1998, S. 276.
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schichtlichen Sinnstiftung. Humboldt versöhnt seine Leser mit der Unüberschaubarkeit des Universums dabei weniger durch einen verständlichen Uberblick über die Summe aller Erscheinungen, sondern weil er sie mit dem historischen Prozeß, der sie umfängt, kompatibel macht. Die Natürlichkeit der Geschichte und die Geschichtlichkeit der Natur Kulturgeschichte der physischen Welt zu schreiben, das scheint das Mittel der Wahl gewesen zu sein, um vielen Lesern den Kosmos als schöne und sinnvolle Einheit nahezubringen. Die nachvollziehbaren Zusammenhänge der Geschichte machten einen Sinn anschaulich, der sich aus der Empirie der Objekte gar nicht mehr rekonstruieren ließ. Das ist eine Unterstellung, der Humboldts Kosmos mit einigen ernst gemeinten Voraussetzungen gegenübertritt. Eine davon scheint zunächst banal: „Die Menschheit verarbeitet in sich den Stoff, welchen die Sinne ihr darbieten. Die Erzeugnisse einer solchen Geistesarbeit gehören eben so wesentlich zum Bereich des Kosmos als die Erscheinungen, die sich im Inneren abspiegeln."33 Geist und Stoff summieren sich in der Addition zum Universum. Darüber hinaus gibt es aber noch zwingendere Zusammenhänge zwischen der physischen Natur und der Kultur. Humboldt sucht sie auf, indem er in der Natur so weit wie möglich ihren geschichtlichen Charakter erkennt und gleichzeitig in der Geschichte der Menschheit einen natürlichen Prozess. Die physische Welt erscheint immer dann als historisch, wenn sie aus der Allgemeinheit von wiederholbaren Abläufen herausgehoben und auf einmalige Ereignisse und epochale Entwicklungen bezogen wird. Gemeinsam ist dabei der kulturfähigen Menschheit wie der physischen Natur, dass sie sich im Raum entfalten, und zwar auf einer Zeitachse, die nicht umkehrbar ist. Beide lassen sich im Lichte von Naturgesetzen, vor allem der Kausalität betrachten, im Banne einer Notwendigkeit, die überall da, wo sie nicht wissenschaftlich nachgewiesen werden kann, durch die Rekonstruktion des Wahrscheinlichen ersetzt wird. Die konsequente Ausrichtung der Historiographie am naturgesetzlichen Denken seit dem 18. Jahrhundert erleichtert nun die Annahme, dass auch naturale Prozesse unter Umständen nicht nach dem Muster von Kreisläufen ablaufen, sondern individuellen Charakter haben können. Ihrer Natürlichkeit tut diese „Individualität" keinen Abbruch. Im späten 18. Jahrhundert, als Humboldt am Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn stand, war die These von der Geschichtlichkeit des Universums in Deutschland durch Kant und Herder sanktioniert. Die Leitwissenschaft 33
K, S. 387.
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der historisierten Natur ist dabei die Geognosie. Seit dem 18. Jahrhundert erhärtete sich die Annahme, dass erdgeschichtliche Phasen an geologischen Befunden abgelesen werden könnten. Mit Buffons Hpoques de la Nature von 177834 strahlte diese Vorstellung weit in das kulturelle und politische Leben aus. Als Humboldts Interessen ihn 1791 an die Freiberger Bergakademie führten, galt sie in Europa als führende Institution, die unter Abraham Gottlob Werner die Erforschung erdgeschichtlicher Prozesse auf eine empirische Basis stellen half. Die Genauigkeit der Terminologie und der Deskription, die Fülle und Breite des gesammelten Materials erlaubten es, unterschiedliche Epochen der Erdgeschichte im Gegensatz zur biblischen Schöpfungsgeschichte wissenschaftlich zu unterscheiden, selbst wenn annähernde Datierungen Spekulation blieben. Zugleich aber stellte die Geologie, der nun soviel Aufmerksamkeit galt, ein reiches Reservoir von Symbolisierungen zur Verfügung, die in der klassischen und romantischen verarbeitet wurden.35 Zumal der Streit zwischen Neptunisten und Vulkanisten, in dem eine kontinuierliche Entwicklung der Erde einerseits gegen katastrophale Szenarien andererseits ins Feld geführt wurde, gewann im Umfeld der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege symbolische Bedeutung. Humboldts Interessen als Geologe galten nach seiner Abwendung vom Neptunismus der Erforschung der vulkanischen Tätigkeit und von Erdbeben besonders, mit der Folge, dass im Kosmos die Geschichtlichkeit der Natur durchaus dramatische Züge annehmen kann. Die Kapitel, die im vierten und fünften Band den Vulkanen gewidmet sind, beanspruchen unverhältnismäßig viel Platz. Am Beginn des Kosmos wird die Dynamik der Natur jedoch noch stetig aus der Gleichzeitigkeit aller Phänomene heraus entwickelt. „Physische Weltbeschreibung\ so wird einleitend definiert, sei „Betrachtung alles Geschaffenen, alles Seienden im Räume [...] als eines gleichzeitig bestehenden Naturganzen."36 Insofern ist das gegebene Mittel der Darstellung das geschriebene Naturgemälde, das in der Nachzeitigkeit der Beschreibung Simultanität vorstellt. Allmählich erweitert sich der gleichzeitige Kosmos aber in eine vierte Dimension: So sind „Gebirgsarten thätig und bewegend [...] oder leidend und bewegt", und zwar in einer „gegenseitigen Kraftäußerung."37 Und schließlich schlägt Humboldt die Brücke vom gleichzeiti34 35
36 37
Buffon, Georges Louis Leerere: Epoques de la Nature 1778, dt. 1781. Die Arbeit von Michaela Haberkorn: Naturhistoriker und Zeitenseher. Geologie und Poesie um 1800. Der Kreis um Abraham Gotdob Werner (Goethe, Alexander von Humboldt, Novalis, Steffens, Gotthilf Heinrich Schubert), Frankfurt a. M.: Lang 2004 (=Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, 87) konnte nicht mehr eingesehen werden. K, S. 27. K, S. 29.
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gen Wirken der Naturkräfte bis zur Geschichtlichkeit als Voraussetzung der Naturerkenntnis. Das Seiende ist aber, im Begreifen der Natur, nicht von dem Werden absolut zu scheiden: denn nicht das Organische allein ist ununterbrochen im Werden und Untergehen begriffen, das ganze Erdenleben mahnt, in jedem Stadium seiner Existenz, an die früher durchlaufenen Zustände [Steinschichten]. In diesem Sinne wären Naturbeschreibung und Naturgeschichte nicht gänzlich voneinander zu trennen. Der Geognost kann die Gegenwart nicht ohne die Vergangenheit fassen. Beide durchdringen und verschmelzen sich in dem Naturbilde des Erdkörpers, wie, im weiten Gebiete der Sprachen, der Etymologe in dem dermaligen Zustande grammatischer Formen ihr Werden und progressives Gestalten, ja die ganze sprachbildende Vergangenheit in der Gegenwart abgespiegelt findet.38
Die diversen erdgeschichtlichen Formationen, die als Strata zur Ansicht kommen, nehmen daher ganz urwüchsig evolutionäre und revolutionäre Momente in die Simultaneität des Bildes auf. Unter der Hand nimmt es den Charakter einer Erzählung an. Die Erzählung der Erdgeschichte ließe sich auch völlig unabhängig von der geschichtlichen Überlieferung der Menschheit darstellen. Sie fände ihre Fortsetzung in der Geschichte der biologischen Evolution. Dass Charles Darwins The Origin of Species genau in dem Jahr 1859 erschien, in dem Humboldt starb und der Kosmos für alle Zeiten Fragment blieb, hat man zwar als Zeichen dafür genommen, dass dieses Spätwerk auch wissenschaftsgeschichtlich obsolet sei. Die Differenzen zwischen Darwins und Humboldts Verständnis von Geschichte liegen aber nicht etwa darin, dass dieser bei der Historizität der Erdgeschichte stehengeblieben wäre und die Veränderlichkeit von Arten ignoriert hätte. Der Unterschied, der sich polemisch als Fortschrittlichkeit oder Rückschrittlichkeit der jeweiligen Darstellung deuten ließ, liegt in der konsequenten Unterordnung des humboldtschen Kosmos unter die Zeit der historischen Uberlieferung. Während Darwin seine Zeitgenossen provozierte, indem er den Menschen zur beiläufigen Erscheinung in der Geschichte des Universums machte, faßte Humboldt wo immer es ging die weltzeitliche Extension des Universums in die ungleich engeren Grenzen der Humangeschichte. Diese Kombination von Natur- und Menschengeschichte hat im Kosmos auch erkenntnistheoretische Gründe. Bei Darwin distanziert sich das Subjekt der Erkenntnis von jenem homo sapiens, der wie zufällig am Ende einer evolutionären Kette steht. Anders bei Humboldt: Nicht nur ist die Humangeschichte eine Fortsetzung und Steigerung der Naturgeschichte. Das Erkenntnissubjekt kann so wenig aus der Historie herausfallen wie aus der Natur, die ihr zugrundeliegt. Die Erforschung der Natur wie der 38
K, S. 34.
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Geschichte ist daher immer zugleich auch Selbsterkenntnis. Humboldts Versuch einer physischen Weltbeschreibung bevorzugt denn auch jene Ausschnitte aus der Naturgeschichte des Kosmos, die sich mit der Geschichte menschlicher Überlieferung decken, dagegen weniger die „Weltzeit" seit den Anfängen allen Seins und auch nicht die reine Gegenwart, deren umfassende Kenntnisse gewissermaßen aus dem Zeitfluß herausgehoben würden. Eine große Rolle spielt neben der Epoche geschichtlicher Überlieferung auch eine durchaus historisch aufgefaßte Lebenszeit, wie später noch zu zeigen ist. Wenn aber der Kosmos vor allem beschrieben wird, wie er in der Zeit historischer Überlieferung zur Ansicht kommt, so sind dadurch Beobachtungen langfristiger natürlicher Prozesse auf ein paar tausend Jahre begrenzt. Zur Leitwissenschaft einer solchen historischen Naturbeobachtung wird die Astronomie, diejenige beschreibende Wissenschaft, für die es die menschheitsgeschichtlich ältesten Zeugnisse gibt. Ihre frühesten Überlieferungen haben bis heute nicht aufgehört für die Forschung relevant zu sein. Vieles aus der physischen Astronomie könne, wie es im Kosmos heißt, „ohne generelle Kenntniß des bisher Beobachteten kein Interesse erregen."39 Humboldt reduziert dabei die zeitlichen Abläufe des „siderischen Teils" nicht auf eine rein mathematische Zeitachse, noch nicht einmal auf die Technizität von Kalenderdaten, sondern bescheinigt den Phänomenen wo es geht Ereignischarakter. Das plötzliche Verschwinden oder Erscheinen von Sternen, das „als eine Begebenheit in den Welträumen Erstaunen erregt,"40 gehört zu den einmaligen Ereignissen, deren Dokumentation nur durch Zeitzeugen geleistet werden kann. Doch auch andere periodische oder individuelle Phänomene können nur in der Weise der historischen Überlieferung empirisch erfaßt werden: Solche „Naturbegebenheiten," wie Humboldt sie gerne nennt, sind Planetenbewegungen, Meteoriteneinschläge, Kometenpas sagen, atmosphärische Erscheinungen, Phänomene der Meteorologie, Hydrographie und Geologie, vor allem auch Veränderungen der Land-Wasser Grenzen, Vulkanausbrüche und Erdbeben, die weltweite Migration von Pflanzen, Tieren, Ethnien. Sie sind in ihrer räumlichen wie zeitlichen Ausdehnung bevorzugte Gegenstände einer „Weltbeschreibung", die sich naturgemäß für kleine Zyklen, engere Schauplätze und einzelne Spezies nicht interessiert. „Naturhistorische" Erscheinungen im Zeitrahmen der Humangeschichte stellen besondere Anforderungen an eine physische Weltbeschreibung, die Humboldt allerdings zum Vorteil für die beabsichtigte schöne Ordnung des Kosmos zu nutzen sucht. Wo sie chaotisch erscheinen, 39 40
K, S. 20. K, S. 466.
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kompensieren sie dies doch durch „Größe", wie sich im Titel eines Akademievortrags Humboldts schon andeutet: „Über die drei großen Naturbegebenheiten, welche die Hochebene von Quito ganz verändert haben...". 41 Mit Strabo als gewissenhaftem Augenzeugen von Vulkanausbriichen42 läßt sich der Horizont des zeitgenössischen Naturwissenschafders ins Monumentale universalhistorischer Uberlieferung erweitern. Die Erhabenheit der Natur entsteht dabei auch als Effekt der altehrwürdigen Quellen aus fernen Zeiten, vor allem wenn es das „classische Alterthum" ist, das bemüht wird.43 Was einerseits aber, etwa im Vergleich zu Humboldts eigener Bezeugung eines Vesuvausbruchs, als erhebende Erweiterung des kulturellen Horizonts wirkt, begrenzt andererseits auch die beängstigende Unendlichkeit der universalen Natur auf das Maß, wenn schon nicht eines Menschen, so doch der Menschheit. Schon aus diesem Grund nutzt Humboldt so oft wie möglich die Erzählung von einer Entdeckung oder das Zitat einer historischen Beschreibung. Einheit, Ganzheit, Größe und Schönheit der Natur kommen effektvoll zur Ansicht, weil sie in der Monumentalität der geschichtlichen Überlieferung gespiegelt werden. Wenn die Geologie ihr Forschungsobjekt als geschichtliches vorstellt, die Astronomie die Unvermeidbarkeit einer wesentlich historischen Naturwissenschaft illustriert, so wird in der Biologie die Verbindung der physischen Natur mit der Humangeschichte zugleich zum Objekt wie zur Leitfigur der Darstellung des Kosmos. Zwei Qualitäten zeichnen die organische Welt gegenüber den zeitlichen Verläufen in der Astronomie und in der Geologie aus: zum einen die Homogenität von Prozessen und funktionalen Wechselwirkungen, das heißt des angenommenen universalen Zusammenhangs von allem mit allem. Der Beweis für die Einheit in der Mannigfaltigkeit des biologischen Kosmos ist zwar empirisch nicht zu erbringen, als Hypothese ist er aber allgemein anerkannt. Humboldt dehnt nun im Blick auf den Kosmos den natürlichen Zusammenhang des organischen Lebens über den Globus, mindestens aber auf kontinentale Größen aus. Die geographische Distribution von Pflanzen und Tieren steht im Mittelpunkt des organischen Teils der physischen Erdbeschreibung, wobei es entschieden um die historische Dynamik dieser Verteilung von Spezies geht. Daher befaßt sich Humboldt gar nicht mit der Ontoge41
42 43
A m 28.11.1939 liest Humboldt in der Berliner Akademie „über die drei großen Naturbegebenheiten, welche die Hochebene von Quito ganz verändert haben, besonders die große Katastrophe von Riobamba am 4.2.1797." K, S. 288f. Dass im „ästhetischen Naturbild [...] Raum für ein Element historischer Suggestion" sei, und dass die Sehnsucht nach dem historisch und geographisch Fernen oft zugleich auftrete, betont Jan Huizinga: Naturbild und Geschichtsbild im 19. Jahrhundert, in: Corona 5 (1934/35), H. 5, S. 536-362, hier S. 557f.
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nese organischer Formen, sondern vor allem mit ihrem Gattungscharakter, mehr noch mit typischen Formen des Zusammenlebens. Es sei die Aufgabe der „physischen Geographie, nachzuspüren, wie auf der Oberfläche der Erde sehr verschiedenartige Formen, bei scheinbarer Zerstreuung der Familien und Gattungen, doch in geheimnißvoller genetischer Bezihung zu einander stehen (Bezihungen des gegenseitigen Ersatzes und Ausschließens), wie die Organismen, ein tellurisches Naturganzes bilden f...]." 44 Der angenommene Zusammenhang aller biologischen Erscheinungen untereinander bereitet auf die Homogenität und Kohärenz auch allen menschlichen Lebens vor, das ja Teil der organischen Welt ist. Eine zweite wichtige Qualität dieser organischen Welt ist ihre Fähigkeit zur Höherentwicklung. Humboldt spricht von dem „der ganzen Natur innewohnenden Principe der Steigerung und sich individualisierenden Entfaltung der Organe."45 Ganz in der Tradition der Aufklärung sieht der Kosmos die Menschheit und die geschichtliche Welt als eine Steigerung des Naturganzen an.46 Seit Humboldts Jugendtagen wurden die physiologischen Grundlagen solcher Steigerungsprozesse verstärkt erforscht. Neben der Geologie war dies ein weiteres Forschungsgebiet, auf dem sich Humboldts Interessen mit denen Goethes trafen. Morphologische Modelle und organologische Prozesse traten dabei an die Stelle der älteren Metaphern von der Kette der Wesen oder der Stufenleiter der Natur. Die natürlichen genetischen Beziehungen und die organischen Prozesse der höheren Lebewesen gipfeln in der Menschheit, die ihrerseits aber noch nicht am Ende ihres Entwicklungsprozesses angelangt ist. Recht, Sprache, Kultur entstehen unmittelbar aus der natürlichen Existenz des Menschen und bleiben weiter entwicklungsfähig.47 Wo die eigentliche biologische Genese endet und in mehrfache Determinationen durch Umweltbedingungen übergeht, wird im Blick auf die Frühgeschichte der Kultur auch bei Humboldt nicht genau differenziert. Die Rede vom Leben, vom organischen Zusammenhang, von der Entwicklung der Geschichte und der Erkenntnis geht ins Metaphorische über, ohne dass die substanzielle Verbindung mit den biologischen Grundlagen gekappt würde. Humboldt schließt damit an jene Gründer einer eigenständigen Kulturgeschichte an, die wie Diderot und Herder organische Prozesse als Modell für künstlerische, intellektuelle Vorgänge und geschichtliche
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K, S. 30. Ebd. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart: Klett Cotta 1981, S. 633. Kondylis, Die Aufklärung, S. 421.
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Entwicklungen nehmen.48 Von dieser Konstruktion der Geschichte nach dem Muster naturaler Entwicklungsprozesse wird auch Wilhelm von Humboldt in seinem Aufsatz Über die Aufgabe des Geschichtschreibers von 1822 ausgehen, der wiederum ein Schlüsseltext für Alexander von Humboldts Geschichtsdenken im Kosmos ist.49 Die Zugehörigkeit des Menschen zur organischen Welt sensibilisiert ihn dabei für den organischen Zusammenhang aller Lebewesen untereinander, eine Vorstellung, die Humboldt als allgemeine Konvention in der Einleitung zum Kosmos noch einmal aufruft. „Wir fühlen uns so mit allem Organischen verwandt", heißt es da. „Durch den geheimnißvollen Zusammenhang aller organischen Gestaltung (und unbewußt liegt in uns das Gefühl für die Nothwendigkeit dieses Zusammenhangs) erscheinen unserer Phantasie jene exotischen [Pflanzen-] Formen wie erhöht und veredelt aus denen, die unsere Kindheit umgaben."50 Das heißt nichts anderes, als dass die anthropologische Gewissheit eines natürlichen Zusammenhangs als Vorgriff auf den vermutlich niemals zu erbringenden wissenschaftlichen Beweis der Einheit der ganzen Natur zugelassen wird. 48
Vgl. Robert Spaemann: Genetisches zum Naturbegriff des 18. Jahrhunderts, in: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 59-74, S. 66. Einen Übergang zu diesem Denken bezeichnet Spaemann, wenn er „die Einfügung der Natur in einen heilsökonomischen Zusammenhang" zum Motiv dafür macht, dass der „Naturbegriff selbst zu einem Moment der Geschichtstheorie" wird (S. 66). Soweit die philosophiegeschichtliche Begründung. Dagegen beziehen sich neuere Wissenschaftshistoriker zugleich auf philosophische wie wissenschaftsgeschichtliche Herleitungen. Peter Hanns Reill zeichnet in mehreren Beiträgen einen Zusammenhang zwischen moderner Historiographie und anthropologischer Naturforschung bei Herder und Wilhelm von Humboldt nach. Peter Hanns Reill: Herder's Historical Practice and the Discourse of Late Enlightenment Science: in: Wulf Koepke (Hg.): Johann Gottfried Herder. Academic Disciplines and the Pursuit of Knowledge, Columbia 1996, S. 13—21; Wolfgang Pross: Die Begründung der Geschichte aus der Natur. Herders Konzept von „Gesetzen" in der Geschichte, in: H.E. Bödeker, Peter Hanns Reill, Jürgen Schlumbohm (Hg.): Wissenschaft als kulturelle Praxis 1750-1999, Festschrift Rudolf Vierhaus, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1999 (—Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte), S. 187-225. Vgl. im selben Band auch den Beitrag von Jörn Garber: Selbstreferenz und Objektivität. Organisationsmodelle von Menschheits- und Weltgeschichte in der deutschen Spätaufklärung (S. 137—185). Was hier über die Spätaufklärung gesagt wird, setzt Humboldt in seinem Kosmos voraus: „Die Geschichte ist das Medium, durch das die Natur des Menschen entfaltet wird und die Historie ist die Wissenschaft, die diese genetische Attribuierung zu leisten hat." (S. 153). Die genannten Beiträge revidieren dabei eine Geschichtsschreibung der Geschichtswissenschaft, die „monolinear" verfahrt (Garber, S. 175), indem sie über ihre Herkunft aus interdisziplinären Diskursen hinwegsieht.
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Vgl. Peter Hanns Reill: Science and the Construction of The Cultural Sciences in Late Enlightenment Germany: The Case of Wilhelm von Humboldt, in: History and Theory 33 (1994), S. 345—366. Reill macht dabei die methodische Annäherung von Empirie und „Anschauung", Erklärung und Beschreibung in der gemeinsamen Genese von Geschichtschreibung und Biologie plausibel. K, S. 11.
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Das Bewusstsein von der Teilhabe des Wissenschafders und Künstlers am Naturprozess entscheidet zuerst über die adäquate Erkenntnis und Darstellung der Natur. Humboldt impliziert dies, als er am Ende seiner Einleitung aus Schellings Akademierede „Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur" zitiert: „Nicht ein todtes Aggregat ist die Natur: sie ist dem begeisterten Forscher (wie Schelling in der trefflichen Rede über die bildenden Künste sich ausdrückt) die heilige, ewig schaffende Urkraft der Welt, die alle Dinge aus sich selbst erzeugt und werktätig hervorbringt".51 Und im Anschluß an dieses Zitat wird die physische Weltbeschreibung einmal mehr von den Einzelforschungen der Disziplinen und vom enzyklopädischen Verfahren abgesetzt. Humboldts Verbeugung vor Schelling, den er sonst zu dieser Zeit nicht allzu hoch schätzte, könnte als Versuch angesehen werden, in den Kreis der Leser auch noch solche zu ziehen, die Humboldts Ablehnung der romantischen Naturphilosophie ihrerseits ablehnten. Humboldt hatte aber sicherlich nichts einzuwenden gegen den naturgegebenen Zusammenhang zwischen der humanen Wissenschaft und der „bewußtlosen Wissenschaft", die den Naturformen immanent ist, zwischen der künstlerischen Schöpferkraft und den Naturkräften, die in Schellings Rede hergestellt werden.52 Im Kosmos suchte er diese Zusammenhänge ebenfalls, freilich nicht auf dem Wege der Spekulation, sondern indem er neuen empirischen Belegen für alte Annahmen nachspürte. Der Königsweg von der Natur zur Kultur war für Humboldt indessen der Ursprung der Sprachen. Schon für die Anthropologie der Aufklärung war die Entstehung der Sprache (neben der des Rechts) ein wichtiges Forschungsfeld. Humboldt hatte sich 1788 die aktuelle kontroverse Diskussion über den Ursprung der Sprache im Blick auf die Examensarbeit des befreundeten Theologen Wegener über das Pfingstwunder vergegenwärtigt. Die frühen eher spekulativen Untersuchungen fanden nun durch die empirische Unterlegung der These von der Entwicklungsfähigkeit von Sprachen in den vergleichenden linguistischen Studien des Bruders Wilhelm von Humboldt ihre Fortsetzung. Alexander verfolgte diese Forschungen nicht nur aufmerksam. Er betätigte sich auch als Herausgeber posthumer Schriften, speziell des grundlegenden Werkes über die Kawisprache. Dabei galten die Sprachen nicht mehr nur als Grenzphänomen zwischen Natur und Kultur, ihre Genese und Entwicklungsfähigkeit schien auch die These von der strukturellen Analogie zwischen kulturellen 51
52
K, S. 25. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur, in: Fritz Strich (Hg.): Deutsche Akademiereden, München: Meyer und Jessen 1924, S. 21—45. Humboldt schätzte die Rede so sehr, dass er sie am Hofe zum Vortrag brachte. Vgl. den Brief an Varnhagen vom 22.4.1841, in: Varnhagen, S. 87. Schelling: Uber das Verhältnis, S. 26 und 23.
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und organischen Prozessen zu erhärten. Bei Wilhelm von Humboldt heißt es: „Das Menschengeschlecht ist eine Naturpflanze [...] nur mit dem Unterschied, dass sich im Keim der Bildung selbst zu den Kräften [aller Tiere] die Idee der Sprache und Freiheit gesellt."53 Im Kosmos werden nun die Sprachen als „Objecte einer Naturkunde des Geistes" bezeichnet.54 Dann wieder ist zu lesen, es seien die „Sprachzustände, in denen das Menschengeschlecht im eigentlichsten Sinne des Worts als ein lebendiges Naturganze betrachtet wird."55 Die historische Sprachvergleichung weise „in eine dunkle Ferne, in eine solche, zu welcher keine Tradition hinaufreicht", sie ermögliche eine vorgeschichtliche Anthropologie, die Rekonstruktion der Verteilung und Wanderung von Völkern. Im Übrigen spricht Humboldt vom „Organismus" der Sprachen.56 Da nun Sprachen die Voraussetzung und das Medium jeder geistigen Betätigung und jeder Erkenntnis sind, manifestiert sich in ihnen zuerst die natürliche Grundlage des universalen kulturellen Prozesses. Wie weit diese organische Dynamik selbst in den intellektuellen Bemühungen substantiell präsent ist, wird nicht erörtert. Die Formulierungen lassen sowohl auf ein biologisches Wesen der Kultur als auch auf eine Analogie zwischen Natur und Kultur schließen. Die „wachsende Erkenntniß", die „Keime aller späteren Fortschritte", die „geistige Entwickelung", die „gewurzelt sei" in der „Civilisation der Griechen und Römer", die „Bildungsfahigkeit", die „intellectuellen Entwicklungsprocesse."57 Alles spricht dafür, dass das geistige Streben als Gattungsmerkmal des biologischen Wesens Mensch angesehen wird, dessen natürliche Veranlagung es ist, seine intellektuellen Fähigkeiten zu erweitern: „Ein erhaltendes Princip nährt den ewigen Lebensproceß der fortschreitenden Vernunft."58 Da wo die Dynamik der Natur, die Entwicklung des Menschen, der Kultur- und Erkenntnisprozeß argumentativ so eng miteinander verbunden werden und sich gegenseitig bestätigen, steht seit dem späten 18. Jahrhundert ein Begriff zur Verfügung, um dies alles auf einen Nenner zu bringen. Es ist der Begriff der Bildung, der von Herders, Goethes und Wilhelm von Humboldts Schriften aus der Zeit der Weimarer Klassik mit einer Fülle von Implikationen weit in die Wissenschaftlichkeit des Kosmos hineinragt. Für Humboldts Leser konnte um 1850 herum die physiologische Konnotation des Bildungsbegriffs schon gegenüber einem verallge53 54 55 56 57 58
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden I, Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Stuttgart: Cotta 1960, S. 569. K, S. 243. Vgl. auch S. 187: „Sprache aber ist ein Theil der Naturkunde des Geistes." K, S. 243. K, S. 243. K, S. 279, 280, 283, 286, 296. K,S. 313.
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meinerten Verständnis wissenschaftlicher und künstlerischer Erziehung in den Hintergrund getreten sein. Der Kosmos erinnerte nun in seiner Semantik organischer Kulturprozesse an die ältere Tradition. Während aber zuvor die Biologie ein Modell war, mit dessen Hilfe die Kontingenz historischer und biographischer Abläufe zu einer ideellen Einheit zusammengefasst werden konnte, nutzte Humboldt nun den am Bilde des Organischen vereinheitlichten Geschichtsbegriff, um die unkontrollierbare Fülle der empirischen Natur zu homogenisieren. Wilhelm von Humboldt hatte gefordert, dass sich die Universalgeschichte verstärkt auf die physischen, speziell geographischen Grundlagen der Ereignisgeschichte besinnen müsse, weil der Mensch als biologisches Wesen an den Naturvorgängen teilhabe.59 Alexander von Humboldt drehte nun diese Verknüpfung in die andere Richtung: Insofern die physische Natur seit Menschengedenken in historischen Quellen beschrieben und reflektiert wird, erfasst die Universalgeschichte des Naturwissens die Ganzheit der einheitlichen Natur selbst. Die Verfahren der Geschichtswissenschaft treten im Kosmos daher immer wieder ordnend und bewertend vor die Vielzahl empirischer Datenerhebungen der beschreibenden Naturforschung. Freilich verlagert sich mit der Einbindung der geschichtlichen Quellen und ihrer Wissenschaft das Problem der Kohärenz, das sich schon in der reinen Deskription der physischen Welt stellte, nur in ein anderes Gebiet. Der Überblick droht nämlich in den Geschichtswissenschaften so sehr zu schwinden wie in den Naturwissenschaften, wenn sie denn empirisch verfahren sollen. In der Einleitung zum ersten Band des Kosmos erwähnte Humboldt das absehbare Veralten des Wissens als Problem der empirischen Forschung. Seinem späten Hauptwerk wünschte er historische Beständigkeit, insofern es selbst als Kulturzeugnis zu lesen sei.60 Im Vorwort zum fünften Band nimmt die Wahrnehmung der Beschleunigung des historischen Erkenntnisprozesses tragische Züge an. Der Verfasser bekennt, in der Mitte des 19. Jahrhunderts bei der Darstellung des Kosmos einer noch nie gekannten Fülle von Kenntnissen gegenüber zu stehen, viel schwieriger sei nun „die Zusammenstellung des Entwicklungsfähigen zu einem Naturganzen."61 Fast scheint es, als habe die Explosion des Wissens auch die Besinnung auf den historischen 59
60 61
In den Betrachtungen über die Weltgeschichte bemängelt W. von Humboldt, dass „das Menschengeschlecht [...] nicht genug nach dem Zusammenhange mit dem Erdboden und dem Weltall, rein naturgeschichtlich" betrachtet werde. Weiter heißt es: „Die Menschheit kann aber nur in der, der Erscheinung nach, ganz körperlichen Natur leben und weben, und trägt selbst einen Theil dieser Natur in sich" (W. v. Humboldt: Werke in fünf Bänden I, S. 567, 570). Über die Ideengeschichte Wilhelm von Humboldts und ihre Wiederkehr im Kosmos an anderem Ort noch ausführlicher in diesem Kapitel. K, S. 7. K, S. 869.
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Zusammenhang der Erkenntnis immer schwieriger gemacht. Was soll nämlich im zitierten Satz der Entwicklung fähig sein, die Natur oder das geschichtlich entfaltete Wissen? Wenn Humboldt an dieser Stelle von seinem Kosmos als von einer „noch nie ausgeführten Composition"62 spricht, dann wohl auch deswegen, weil er konsequent das Objektive mit dem Subjektiven des „Entwicklungfahigen" verbindet. Methoden der physischen Weltanschauung und der Geschichtschreibung Der Kosmos entfaltet eine eigene Form der Naturgeschichte, in der die physische Welt als Objektbereich nahe an jenen heranrückt, der durch die Historiographie bearbeitet wird. Wo die Natur nicht geradezu als Ereignis und Begebenheit in Erscheinung tritt, ist doch ihre Fähigkeit zur Entwicklung und Steigerung ein Merkmal ihrer Geschichtlichkeit. Daher ist Naturgeschichte im Kosmos nicht mit jenem wissenschaftlichen Verfahren der Beschreibung einzelner Naturobjekte zu verwechseln, das bis zum Ende des 18. Jahrhunderts allgemein verbreitet war, dann durch die speziellen Hypothesen- und Theoriebildungen in einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen verdrängt wurde und dennoch in Laienforschung und Pädagogik noch lange überlebte. Von dieser Art der Naturgeschichte, verstanden als „specielle Naturbeschreibung", wünscht Humboldt in der Einleitung seinen Kosmos deutlich abzusetzen.63 Die Genese dieser Naturgeschichte ist ihm dennoch einen begriffsgeschichtlichen Exkurs wert. Humboldt erinnert an Aristoteles, der unter Historie „eine Erzählung von dem Erforschten, dem sinnlich Wahrgenommenen" verstanden habe.64 Er nennt Plinius den Älteren mit seiner Historia naturalis und auch den „Neffen", mit der „Geschichte der Natur".65 Weiter heißt es: „Im classischen Alterthum trennen die frühen Historiker noch wenig die Länderbeschreibung von der Darstellung der Begebenheiten, deren Schauplatz die beschriebenen Länder gewesen sind. Physische Geographie und Geschichte erscheinen lange anmuthig gemischt."66
62 63 64
65 66
Ebd. K, S. 27. In diesem Sinne auch die Formulierung: „Klare Ansicht der Natur, wenn auch nur eine historische [...]", S. 19. Zu ergänzen wäre: im Gegensatz zu den Spekulationen der Philosophie und den Erfindungen der Poesie. Zur gemeinsamen Wurzel empirischer Natur- und Geschichtsforschung im aristotelischen „Historia"-Begriff vgl. Alexander Demandt: Natur- und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 6 (1983), S. 59ff., hier S. 60. K, S. 35. K, S. 35.
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Es scheint sich um ein sehr schlichtes Verständnis von Empirie zu handeln, dem die Handlungen individueller Akteure und die Objekte der Natur gleich viel wert sind, und das nun, angesichts avancierter Meß- und Beobachtungsverfahren, im Lichte einer umfassenden Mathematisierung und Theoretisierung der Naturwissenschaft nicht mehr tragbar ist. Dennoch greift Humboldt immer wieder auf historische Quellen mit ihrer „anmutigen Mischung" zurück, deren Objektivität bei weitem nicht an die Standards der ihm zeitgenössischen Naturforschung heranreicht. Nicht nur Historiker wie Herodot, Tacitus, Cäsar, Strabo dürfen zu Wort kommen, selbst die Argonautensage und andere Uberlieferungen vorgeschichtlichen Charakters werden bemüht, und zwar keineswegs nur im explizit kulturgeschichtlichen Teil, sondern auch da, wo es um die Beschreibung des Objektiven geht. Die Bezüge auf die Quellen sind dabei keine Ausschmückung der Sache, die für die ungeübten Leser zu abstrakt zu werden droht. Sie sind schlicht empirisches Material. Herkömmliche Naturgeschichte schreibt Humboldt daher durchaus, wenn er einzelne Phänomene beschreibt und dabei ohne Zögern auf die Überlieferung, besonders gerne auch der „Alten" zurückgreift. Aus dem traditionellen Verständnis der empirischen Beschreibung nach Autoritäten entwickelt er jedoch allmählich den historischen Zusammenhang aller Erkenntnisbemühungen heraus. Zunächst nutzt Humboldt diese Materialen gerne, weil viele Naturerscheinungen einmalig sind und in der Vergangenheit liegen. Je näher allerdings die Zeitachse sich der Gegenwart nähert, desto deutlicher wird, dass eine physische Weltbeschreibung auch nach dem gegenwärtigen Stand der Kenntnisse ohne die Wissenschaftsgeschichte nicht möglich ist. Zwar haben sich der Radius der empirischen Beobachtungen und die Materialbasis zu Humboldts Lebzeiten explosionsartig erweitert. Einzelne Disziplinen, die Humboldt professionalisiert, bemühen sich um die Simulation von Ubiquität, etwa in der Meteorologie oder in der Magnetismusforschung. Dennoch drängt Humboldt seinem Leser die Einsicht auf, dass die Erkenntnis der Einheit und Ganzheit der Natur nur als geschichtlicher und unabschließbarer Prozess gedacht werden kann, wobei neueste Datenerhebungen sich nicht substantiell von historischen Dokumenten über empirische Erscheinungen aus der Natur unterscheiden. In jedem Fall sind sie Quellen, deren Zuverlässigkeit geprüft werden muss, bevor ihr wissenschaftlicher Wert festgestellt werden kann. Gleich einleitend versichert der Verfasser des Kosmos·. „Ueberall sind die bibliographischen Quellen, gleichsam die Zeugnisse von der Wirklichkeit und dem Werthe der Beobachtungen, da wo es mir nöthig schien sie in Erinnerung zu bringen, von dem Texte getrennt mit der Angabe der Seitenzahl in Anmerkungen an das Ende eines jeden Abschnittes ver-
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wiesen."67 Er verspricht in einem Brief, dass er den Kosmos mit den „sichersten Zahlenwerthen" ausgestalten werde und erwähnt in diesem Zusammenhang die „in Fächer getheilten Pappkästen", mit denen er arbeitet.68 Alles sei Ergebnis von „Selbsterfahren oder Nachforschen in dem in vielen Sprachen mühsam Gelesenen."69 Im Kosmos betont der Verfasser, dass er eigene Schriften nur nach Originalausgaben zitiert, „da es hier auf große Genauigkeit numerischer Verhältnisse ankam und ich in Beziehung auf die Sorgfalt der Uebersetzer von großem Mißtrauen erfüllt bin."70 Und wieder in der privaten Korrespondenz hält sich Humboldt etwas darauf zugute, dass er in den zahlreichen Fußnoten nicht nur Belege anführt, sondern regelrechte Forschungsdiskussionen anstrengt.71 Bei einer so einheitlichen Behandlung des geschichtlichen und empirischen Materials verschiebt sich die Aufmerksamkeit des Autors häufig von dem Sachbereich der physischen Natur zu dem der Quellenlage. Seine Autorität und Kompetenz hofft er dabei zu unterstreichen, indem er sich in den Tugenden des Gelehrten, vor allem des Philologen, übt. Zur wissenschaftlichen Seriosität gehört der verantwortliche Umgang mit den Unsicherheiten der Uberlieferung: „Was wir den Anfang der Geschichte nennen, [ist] nur das Selbstbewußtsein später Generationen"; und Humboldt erinnert daran, „wie vieles von einer alten Cultur selbst bei europäischen Nationen für uns spurlos verschwunden ist, wie die Geschichte der frühesten Weltanschauung auf einen engen Kreis beschränkt bleibt."72 Häufig können nur Regelmäßigkeiten ohne jeden Anspruch auf den Status von Naturgesetzlichkeit aufgestellt werden, wenn etwa in der Vulkanologie ein „Mangel der historischen Nachrichten" mit der „Complication der Naturerscheinungen" zusammenfällt.73 Oder: „Wo die Quellen sparsamer fließen, ist die Combination schwieriger."74 Die lükkenhafte Überlieferung geht bruchlos in die Lückenhaftigkeit der empirischen Befunde über. 67 68 69 70 71
72 73 74
K, S. 6. Brief an Bessel, 14.7., S. 82. Ebd. K, S. 6. An Bessel, 22.3.1844, S. 157: „Jeder Abschnitt hat eine große Zahl von Noten wie in den Ansichten der Natur, nicht etwa bloß Beweisstellen, sondern Anführung entgegengesetzter Meinungen, da ich es mir zum Gesetz gemacht, im Text nur immer eine feste Meinung, der ich anhänge, auszusprechen." Vgl. auch den Brief an Ignaz von Olfers von 1846: „Die vielen Hundert Noten enthalten nicht bloße Citate, sondern verständliche Entwickelungen, Rechtfertigungen." Briefe Alexander von Humboldt's an Ignaz von Olfers. Generaldirektor der Kgl. Museen in Berlin, hg. von Dr. E.W.M. v. Olfers, Königberg Nürnberg: Sebald 1913, S. 107. K, S. 260. K, S. 748. K, S. 244.
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Ein weiteres von Humboldt reflektiertes Problem ist die zeitliche und räumliche Diskontinuität der Überlieferung. Keine Erkenntnis scheint genuin aus der Ansicht des Objekts zu entstehen, sie setzt sich immer in ein stetiges oder unstetiges Verhältnis zu früherem Wissen. Kolumbus zitierte Aeneas Sylvius Piccolomini, verrät aber nirgends eine Kenntnis des Milione von Marco Polo, wie Humboldt aus eigenem Quellenstudium belegen kann.75 Dantes überragende Darstellungen in der Göttlichen Komödie dagegen seien nicht nur auf Intuition und Divination zurückzuführen, sondern mindestens genauso auf die profunde Erudition dieses Universalgelehrten.76 Dann wieder heißt es: „Wie spät sind Hieroglyphen und Keilschriften gelesen worden, vor denen Jahrtausende lang Heerschaaren und Caravanen vorbeigezogen waren, ohne etwas von ihrem Inhalte zu ahnden!"77 Leonardos eminente Leistungen auf dem Gebiet der Naturforschung blieben einer kontinuierlichen Uberlieferung lange Zeit „durch das Mißgeschick sonderbarer Verhältnisse entzogen."78 Privilegiert ist in jedem Fall die „Erzählung eines Augenzeugen", etwa Tycho Brahes De admiranda Nova Stella,79 vorzuziehen sind ferner Aufzeichnungen unmittelbar nach der Beobachtung und in situ.80 Zweifelsfalle sollen als solche bezeichnet werden. Im Übrigen wird vor anachronistischen Quelleninterpretationen gewarnt, besonders, wo ältere Spekulationen mit neueren empirischen Befunden verwechselt zu werden drohen. Umso gewichtiger sind dann die Ergebnisse von quellenkritischen Prüfungen, die einer historischen Auffassung nicht nur Aktualität, sondern auch wissenschaftliche Reflektiertheit bescheinigen.81 Aus naheliegenden Gründen entfaltet Humboldt solche quellenhistorischen Würdigungen besonders gründlich im Blick auf die Geschichte der neuzeitlichen Erforschung Amerikas, die er schon im umfangreichen Examen critique rekonstruiert hatte. Im zweiten Band des Kosmos werden quellenkritische Referate aus diesem Buch wörtlich in ausufernde Fußnoten übernommen.82 Meistens tritt Humboldt aber nicht als Spezialist mit Exzerpten aus eigenen Studien auf. Er verläßt sich auf die Vorarbeiten, die jeweils Autoritäten auf einzelnen Gebieten geleistet haben. Dabei unterwirft er sich den wissenschaftlichen Standards besonders der Philologie 75 76 77 78 79 80 81
82
K, S. 325. K, S. 346. K, S. 284. K, S. 343. K, S. 466f. K, S. 733. Z.B.: „um aber dem Verdacht zu entgehen, daß ich die Ansichten der neueren Physik den Beobachtungen des Columbus unterlege [...]", worauf extensive Zitate aus der Relation critique folgen. Ebd., S. 339. K, S. 350-353.
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und Historiographie und zehrt von dem Ansehen der Rigorosität, Redlichkeit, Verläßlichkeit, die das spezifische Ethos der Wissenschaft auszeichnen.83 Die Zitate anerkannter Kapazitäten auf den einzelnen Gebieten verstärken nicht nur die Autorität der Erwähnten. Gleichzeitig legitimiert sich der Verfasser des Kosmos durch die stetigen Verweise auf die Seriosität wissenschaftlicher Verfahren selbst als Teil der akademischen Gemeinschaft, wenn nicht gar als einer, der im Zentrum eines multidisziplinären Verbundes steht.84 Das Wissen von der ganzen Welt ist daher viel weniger als simultane Übersicht gedacht, wie es der Terminus „Naturgemälde" suggeriert, sondern als quasi natürlicher Forschungsprozess, wobei die Gelehrten der einzelnen Gebiete gewissermaßen die Menschheit als Gattung repräsentieren. Institutionalisierung der Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft Humboldt scheint in der Übung des Philologenhabitus an seine frühen Studien in Göttingen anzuknüpfen, wo er sich 1789 von der Aufbruchstimmung begeistern ließ, die mit der Entwicklung eines historischkritischen, komparativen Quellenstudiums in den Seminaren Heynes und Michaelis' einherging. Die frühesten Studien Humboldts zur Lexik und Etymologie technischer Begriffe im Lateinischen waren das erste Ergebnis dieser methodischen Schulung, die er zeit seines Lebens phasenweise wieder aufnahm. In Paris beobachtete er die Fortschritte der Orientwissenschaften und Archäologie und rekonstruierte akribisch die Quellen zu prä- und postcolumbianischen Amerikareisen. Er erlebte, wie Friedrich August Wolf an der jungen Berliner Universität mit seinen philologischen Seminaren zum Vorbild für wissenschaftliche Lehre schlechthin wurde. Noch 1833—35 begab sich Humboldt in die Vorlesungen August Böckhs, den er auch zur quellenhistorischen Unterfütterung seines Kosmos konsultierte. 1837 verzichtete er auf die Teilnahme an der Versammlung der Naturforscher und Ärzte, um stattdessen anlässlich der Säkularfeier der 83
84
Vgl. Holger Dainat, Rainer Kolk: „Geselliges Arbeiten". Bedingungen und Strukturen der Kommunikation in den Anfängen der Deutschen Philologie, in: DVjS SH 1987: Von der gelehrten zur disziplinaren Gemeinschaft, hg. Von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, S. 7—41. Das öffentliche Ansehen und die Profilierung der Philologen in Deutschland scheint dabei von der überschaubaren Zahl bekannter Persönlichkeiten in diesem Fachgebiet begünstigt worden zu sein (S. 19). Die Unterwerfung unter die Normen der philologischen und geschichtlichen wie der diversen naturwissenschaftlichen Disziplinen kann dabei auch als Anerkennung jener sozialen Kontrollmechanismen gelten, die eine scientific community bestimmen. Vgl. Warren O. Hagstrom: The Scientific Community, New York London: Basic Books 1965. Im Übrigen legitimiert sich der Verfasser eines Werkes, das sichtlich wissenschaftliche Standards respektiert, auch gegenüber den Laien unter den Lesern.
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Georgia Augusta an der Gründungstagung des deutschen Philologenverbandes in Göttingen teilnehmen zu können. Unter dem Eindruck seines Bruders, den er allerdings auch selbst zu vergleichenden Studien anregte, verinnerlichte Alexander von Humboldt außerdem den Gedanken der unhintergehbaren Sprachlichkeit des Wissens, und zwar einer Sprachlichkeit, deren historische Genese und Variation stets zu bedenken sei. Der Kosmos evoziert die friedliche Koexistenz der naturwissenschaftlichen, der historisch-philologischen Disziplinen und der Kunst aber nicht nur deswegen, weil es dem Verfasser aus Gründen seiner eigenen wissenschaftlichen Formation wichtig gewesen sein muss. Humboldt verfolgte die Institutionalisierung und Professionalisierung verschiedener Forschungsfelder besonders an den reformierten preußischen Universitäten genau, wobei ihm durchaus bewusst war, dass die Philosophie und die historische Quellenkunde eine gewichtige Rolle bei der Verwissenschaftlichung vieler Disziplinen spielten.85 Für Böckh war die Philologie das Instrument historischer Erkenntnis schlechthin, und Friedrich August Wolf erklärte die Altertumskunde zum Paradefall wissenschaftlicher Betätigung86 und zum goldenen Weg zu jedem individuellen Bildungsziel.87 Dieser institutionelle und programmatische Kontext wirkt sich deutlich auf den Wissenschaftsbegriff aus, den der Kosmos zu verbreiten sucht, speziell auf die Historisierung der Erkenntnis. Zunächst einmal spricht sich Humboldt, der gewiss nicht verdächtigt werden kann, vor technologischen und ökonomischen Anwendungen der Naturwissenschaften zurückzuschrecken, entschieden für einen Begriff reiner Naturwissenschaft aus. „Wie in jenen höheren Kreisen der Ideen und Gefühle, in dem Studium der Geschichte, der Philosophie und der Wohlredenheit, so ist auch in allen Theilen des Naturwissens der erste und erhabenste Zweck ein innerer., nämlich das Auffinden von Naturgesetzen, die Ergründung ordnungsgemäßer Gliederung in den Gebilden, die Einsicht in den nothwendigen Zusammenhang aller Veränderungen im Weltall."88 Wenn aber Erkenntnis als solche in den Mittelpunkt der 85
86
87
88
Zum Zusammenhang der institutionellen Entwicklung der preußischen Universitäten und des neuen Wissenschaftsbegriffs vgl. Steven Turner: The Growth of Professorial Research in Prussia, 1 8 1 8 to 1848 — Causes and Context, in: Russell McCommarch (Hg.): Historical Studies in the Physical Sciences, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1971, S. 1 3 7 - 1 8 2 . Vgl. Ulrich Muhlack: Zum Verhältnis von Klassischer Philologie und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, in: Hellmut Flashar, Karlfried Gründer, Axel Horstmann (Hg.): Philologie im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1979, S. 2 2 5 - 2 3 9 , S. 230, 233 und 239. Wilhelm Voßkamp: Bildung als Synthese, in: Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S. 1 5 - 2 4 , S. 20. K, S. 24.
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wissenschaftlichen Anstrengungen rückt, dann kann dies nur die Folge einer doppelten Abgrenzung sein: Einerseits von einer Naturwissenschaft, die sich als Propädeutikum praktischer Ausbildungsgänge versteht, der Medizin, des Bergbaus, der Landwirtschaft etwa; andererseits von einer älteren Erkenntnistheorie, die sich vor allem auf die Metaphysik gründete. Humboldt besinnt sich in der Einleitung zum fünften Band noch einmal auf diesen Paradigmawechsel jeder Naturforschung: Für die „metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft des unsterblichen Philosophen von Königsberg" könne es keine Fortsetzung geben, die für die Naturwissenschaft irgendwelche Folgen hätte.89 Als unausgesprochene Voraussetzung begleiten metaphysische Sätze zwar noch lange die Naturforschung des 19. Jahrhunderts, sicherlich auch den Kosmos, wenn er die Schönheit, die Harmonie, die Erhabenheit der Natur unbefragt voraussetzt. Offiziell wird jedoch die Metaphysik für die Naturforschung irrelevant, einmal wegen der Widerspenstigkeit des Empirischen, dann auch wegen der radikalen Historisierung des Erkenntnisprozesses. So schreibt Humboldt: „die Unvollendbarkeit des Erkennens für jeden einzelnen Zeitpunct der Speculation machen gewissermaßen die Aufgabe einer theoretischen Naturphilosophie zu einer unbestimmten.''''90 Das vorläufige Ende einer solchen Philosophie der Naturwissenschaft sieht Humboldt ohne Bedauern. Stattdessen nämlich lässt sich die neue Naturwissenschaft durch eine Erkenntnisphilosophie belehren, die sich weit mehr mit den Voraussetzungen und Operationen des Denkens als solchen befasst und Wissenschaft wesentlich als Beschäftigung des Geistes mit sich selbst versteht. Am Beginn dieser Wissenschaft stehen Texte wie die Kritik der reinen Vernunft eben desselben Kant, Hegels Phänomenologie des Geistes, Fichtes Wissenschaftslehre. Humboldt hütet sich zwar, sich auf die Komplikationen einzulassen, die eine konsequente Anwendung der idealistischen Philosophie auf die naturwissenschaftlichen Disziplinen mit sich brächte. Doch längst ist, zumal in Preußen, die idealistische Philosophie für die Praxis des Seminarbetriebs und eines weithin wirksamen Bildungsidealismus gezähmt worden.91 In dieser Gestalt wird die Führungsrolle der philosophischen Fakultäten bei der Neuordnung des Wissenschaftsbetriebs auch für die Öffentlichkeit akzeptabel. Auch Alexander von Humboldt bezieht sich im Kosmos auf pragmatische Versionen des idealistischen Wissenschaftsbegriffs, wobei ein eingängiges Zitat aus Hegels Philosophie der Geschichte nicht schaden kann: Wissenschaft fängt erst an, wo der Geist sich des Stoffes bemächtigt, wo versucht wird, die Masse der Erfahrungen einer Vernunfterkenntniß zu unterwerfen; sie ist 89 90 91
K , S . 871 f. K, S. 869. Vgl. wiederum Theodore Ziolkowski: Das Amt der Poeten, München: Beck 1994, S. 363ff.
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der Geist, zugewandt zu der Natur. Die Außenwelt existirt aber nur für uns, indem wir sie in uns aufnehmen, indem sie sich in uns zu einer Naturanschauung gestaltet. So geheimnißvoll unzertrennlich als Geist und Sprache, der Gedanke und das befruchtende Wort sind, eben so schmilzt, uns selbst gleichsam unbewußt, die Außenwelt mit dem Innersten im Menschen, mit dem Gedanken und der Empfindung zusammen. ,Die äußerlichen Erscheinungen werden so', wie Hegel sich die der Philosophie der Geschichte ausdrückt, ,in die innerliche Vorstellung übersetzt'. Die objective Welt, von uns gedacht, in uns reflectirt, wird den ewigen, nothwendigen, alles bedingenden Formen unserer geistigen Existenz unterworfen. [...] Eine Geistesarbeit beginnt, sobald, von innerer Nothwendigkeit getrieben, das Denken den Stoff sinnlicher Wahrnehmungen aufnimmt. 92
Was Humboldt sonst von Hegels Philosophie der Geschichte hielt, wird noch zu bedenken sein. Das Zitat beweist im übrigen weniger, dass Humboldt ein Kenner der neuesten Erkenntnisphilosophie war, als dass eine alltagsfähige Version dieser idealistischen Philosophie schon so weit den Begriff von Wissenschaft durchdrungen hatte, dass er ganz allgemein als Reflexion des Geistes auf seine eigenen Operationen gefasst wurde. Wenn aber Wissenschaft überhaupt dadurch gekennzeichnet ist, dass sie ihren „inneren Zweck" im reflektierten Vollzug der Erkenntnis hat, dann finden auch die naturwissenschaftlichen Disziplinen ihren Platz an der philosophischen Fakultät,93 wobei sie die ideengeschichtlichen und kulturhistorischen Voraussetzungen ihrer eigenen Praxis zu bedenken hat. Diese erkenntnistheoretische Prämisse unterstellt alle Disziplinen dem historischen, eigentlich sogar philologischen Denken. Am Ende des zweiten Bandes heißt es grundsätzlich: Was die Fortschritte der Erkenntniß in dem neunzehnten Jahrhundert besonders befördert und den Hauptcharakter der Zeit gebildet hat, ist das allgemeine und erfolgreiche Bemühen den Blick nicht auf das Neu-Errungene zu beschränken, sondern alles früher Berührte nach Maaß und Gewicht streng zu prüfen, das bloß aus Analogien Geschlossene von dem Gewissen zu sondern, und so einer und derselben strengen kritischen Methode alle Theile des Wissens, physikalische Astronomie, Studium der irdischen Naturkräfte, Geologie und Alterthumskunde zu unterwerfen. Die Allgemeinheit eines solchen kritischen Verfahrens hat besonders dazu beigetragen die jedesmaligen Grenzen der einzelnen Wissenschaften kenntlich zu machen.94
Dies gilt genau so auch für Humboldts eigene Disziplin: „Die rationellen Hülftsmittel der sich allmälig entwickelnden Lehre vom Kosmos [sind] 92 93
94
K, S. 37. Die Leitvotstellung vom technischen Innovationspotential der Naturwissenschaften ersetzt historisch erst später die idealistische Vorstellung von der Einheit von Forschung und Lehre, wobei die Philosophische Fakultät als Muster der wissenschaftlichen Praxis überhaupt gilt. Vgl. Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1 8 3 1 - 1 9 3 3 , Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 39. K, S. 384f.
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Erforschung des Sprachbaues, Entzifferung alter Schriftzüge und historischer Monumente in Hieroglyphen und Keilschriften, Vervollkommnung der Mathematik." 95 Dabei unterzieht sich der Kosmos als Grundwerk eines neuen Forschungsgebiets genau derselben Mühe, der sich in jenen Jahren jede wissenschaftliche Disziplin mit dem Anspruch reiner Wissenschaftlichkeit aussetzen musste. Die Hyperdisziplin der physischen Weltbeschreibung rekonstruiert zunächst einmal ihre wissenschafts- und ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Nichts anderes leistet die „Geschichte der physischen Weltanschauung" im zweiten Band. Insofern aber verschiedene Disziplinen an der neuen Wissenschaft der physischen Welt beteiligt sind, bittet Humboldt in ausgedehnten Korrespondenzen eine Reihe von Kollegen verschiedener Fächer um disziplinengeschichtliche Belehrung. 96 Auch der Mathematiker Carl Gustav Jacob Jacobi wird in eine ausufernde Korrespondenz über die Geschichte von Algebra und Analysis verwickelt. Jacobi kann als fast idealtypisches Beispiel dafür gelten, wie im Rahmen der Universitätsreform an einer preußischen Hochschule ein wissenschaftliches Fach mit Hilfe historisch-kritischer Quellenkunde als reine Wissenschaft institutionalisiert wurde. In Königsberg erhielt Jacobi 1827 einen Lehrstuhl mit dem erklärten Ziel, dort reine Mathematik zu unterrichten, also nicht, wie herkömmlich, im Zusammenhang mit Ökonomie oder Technologie. Der neue Lehrstuhl für Mathematik wurde daher wie andernorts in Preußen Lehrstühle für Chemie oder Biologie an der philosophischen Fakultät angesiedelt. Der theoretische Unterricht, den Jacobi offenbar auch gegen erhebliche Widerstände bodenständiger Kollegen durchführte, ging dabei mit einem gründlichen Studium der Mathematikgeschichte einher. Die Methoden des kritischen Quellenstudiums, das dafür vorausgesetzt wurde, hatte Jacobi im philologischen Seminar August Böckhs erlernt.97 Humboldts Briefwechsel mit Jacobi zeugt nun von der Mühsal, basale Termini wie Algebra, Analysis, Arithmetik historisch zu rekonstruieren, ihre Verfahren aus ihrer geschichtlichen Genese heraus zu reflektieren und somit für die theoretische Mathematik überhaupt erst tauglich zu machen. Die Rekonstruktion der Problemgeschichte des eigenen Fachs fungiert dabei auch als Legitimation eines neuen Gelehrtentypus, der sich nicht mehr als Lehrer zweckvoller Kompetenzen versteht, sondern als Vertreter einer reinen Wissenschaft. Er reiht sich in eine Entwicklungsgeschichte seines Fachs ein, an der er selbst weiterschreibt. Die Energie der eigenen intellektuellen Leistungen wird dabei so in einem umfassenden historischen Erkenntnisprozess verwur95 96 97
K, S. 243. Vgl. Petra Werner: Himmel und Erde, Berlin: Akademie-Verlag 2004, S. 109-166. Ebd.
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zeit,98 der auch die Identität der Fachkollegen untereinender und nach außen hin stärkt." Nach außen, weil die Wahrnehmung einer immer spezielleren Forschung in der Öffentlichkeit schwierig wird. Die Besinnung auf historische Quellen dagegen ist ein allgemeines Verfahren kultureller Sinnstiftung, das jeder Gebildete im Prinzip nachvollziehen kann, so wie die Erzählung von Entwicklungen und Errungenschaften, die zur Vorgeschichte der eigenen Leistungen erklärt werden. Mit der „Geschichte der physischen Weltanschauung" aus dem zweiten Band bekannte sich Humboldt unmissverständlich zum Verfahren der historischen Legitimation der eigenen Forschung vor Fachkollegen und Laienpublikum. Andere betrachteten die Orientierung an den Gepflogenheiten der Philologie und Geschichtswissenschaft als Hindernis auf dem Wege einer konsequenten Ausdifferenzierung der Naturwissenschaften auch in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit. Der Astronom Friedrich Wilhelm Bessel beschwerte sich 1840 bei Humboldt: Ich hege die Hoffnung, dass eine Zeit kommen werde, welche dem Publico Einsichten in Erscheinungen der Natur bringen wird. Bis jetzt ist es, vorzüglich in Deutschland, nur gtammaticalischen und historischen Dingen zugänglich. Man fühlt dieses lebhaft, wenn man versucht, ihm etwas außer seinem Kreise liegendes darzustellen; allenthalben wird man in die Rolle versetzt, in welcher ein Lehrer sein würde, der seine Leseschüler für eine Feinheit der Sprache empfänglich machen wollte. 100
Dass Bessel selbst in das Beispiel des Sprachunterrichts zurückfällt, bestätigt nur das Richtige seiner Beobachtung und erinnert an den Vorteil, in dem sich die historischen Wissenschaften gegenüber den neuen spezialisierten Naturwissenschaften befanden. Seit der Mechanik Newtons und der Erforschung der Organismen war das naturwissenschaftliche Denken nicht mehr für die Weltdeutung allgemein erschließend gewesen, nur noch einzelne Fachtermini waren in den Alltagswortschatz übernommen worden. Dagegen teilten sich die historischen und philologischen Disziplinen ihre Begriffe mit der alltäglichen Rede unter Gebildeten schon deswegen, weil ihre Gegenstände traditionell im höheren Unterricht verhandelt wurden.101 Der Naturkundeunterricht spielte eine weit geringere Rolle und 98
Zur Funktion der Wissenschaftsgeschichte bei der Legitimation von disziplinaren Gemeinschaften vgl. Rudolf Stichweh: Wissenschaft Universität Professionen. Soziologische Analysen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 66. Die Rede ist davon, „wie die Kommunikation in einem autopoietischen Wissenschaftsystem die allopoietische Vergangenheit der Wissenschaft integrieren kann." 99 Vgl. Jochen Zwick: Akademische Erinnerungskultur, Wissenschaftsgeschichte und Rhetorik im 19. Jahrhundert. Über Emil Du Bois-Reymond als Festredner: in: Scientia poetical (1997), S. 120-139, S. 123. 100 Briefwechsel zwischen A. v. Humboldt und F. W. Bessel, S. 140 (Brief vom 5.7.1840). 101 Uwe Pörksen erklärt damit die Dominanz des geisteswissenschaftlichen Denkens in Wörterbüchern und im Erbwortschatz: Aspekte einer Geschichte der deutschen Naturwis-
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mußte daher vielfach als Sachteil dem Sprachunterricht untergeordnet werden oder im Stile der Philologie und Geschichte eingeführt werden.102 Humboldt stellte sich über jede Konkurrenz zwischen den Naturwissenschaften und den historischen Disziplinen, als er schon im Vorfeld seiner Kosmosvorlesungen bekannt gab, er wolle „zeigen, daß ich nicht gekommen bin, um am Hofe zu leben, sondern daß geistige Bestrebungen allein den Menschen ehren können."103 Im Namen des Geistes der idealistischen Wissenschaft fand die universitäre Forschung in den gebildeten Ständen Widerhall, es sollte Geisteswissenschaft sein, nicht insofern sie im Gegensatz zur Naturwissenschaft stand, sondern insofern sie überhaupt Wissenschaft sein wollte. Bis weit in die zweite Hälfte des Jahrhunderts, als längst die Anwendbarkeit von Naturwissenschaften und Technologien aus Deutschland weltweit als vorbildlich galt, stellte sich die akademische Welt im Namen des Geistes als Zentrum der nationalen Kultur und Identität dar.104 Die Menschheit und ihre Ideen Die „geistigen Bestrebungen", die Humboldt in seinen Vorlesungen und zweifellos auch im Kosmos seinem Publikum nahe bringen wollte, beschränkten sich nicht auf die gewissenhafte Prüfung von Quellen und gründliche Fußnoten. Auf die Vitalität des Erkennens kam es ihm an, und er vermittelte sie seinem Publikum am erfolgreichsten als Kulturhistoriker der physischen Weltbeschreibung. Während die deskriptiven Teile des Kosmos durchgehend die Philologentugenden des historisch-kritischen Bezugs auf die Quellen vorführen und sich dadurch als wissenschaftlich seriös ausweisen, schreibt der zweite Band eine regelrechte Kultur- und Ideengeschichte der wissenschaftlichen und künstlerischen Naturbeschreibung und ist wohl aus diesem Grund der bis heute bekannteste. Die ganze Natur ist ein erhabener Gegenstand, fast noch erhebender aber ist senschaftssprache und ihrer Wechselwirkung zur Gemeinsprache, in: Deutsche Wissenschaftssprachen. Historische und kritische Studien, Tübingen: Narr 1986, S. 10-39, S. 10. 102 Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt a.M. Leipzig: Insel 1999, S. 198. 103 Zit. n. Biermann: Miscellanea Humboldtiana, S. 36. 104 Fritz Strich hat die enorme Ausstrahlung, die das Pathos des Geistes der Universitätswissenschafder auf die Öffenntlichkeit ausübte, zum Anlass genommen, um eine Reihe von „klassisch" gewordenen Akademiereden in einer Anthologie zu vereinen. Einleitend zu den Vorträgen heißt es: „Der akademische Geist will das Leben der Nation vom Geist aus deuten, klären, lenken und gestalten, ein Leuchtturm des Geistes gleichsam für das Leben sein. Es gibt denn auch wirklich kein deutsches Problem, das nicht von dieser Seite aus in den Reden der akademischen Feste behandelt worden wäre." Fritz Strich (Hg.): Deutsche Akademiereden, München: Meyer und Jessen 1924, o. S.
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eine Weltgeschichte, die dem Leser schmeichelt, mit seinen eigenen Bildungsbestrebungen Teil eines universalen Kulturprozesses zu sein. Der Übergang vom kritischen Quellenstudium zur großen kulturhistorischen Erzählung ist dabei problematisch. Denn der Zusammenhang der Abläufe ergibt sich durchaus nicht folgerichtig aus der Menge der Daten, und seien sie noch so sehr auf ihre Kohärenz geprüft. So natürlich, wie Alfred Dove im Blick auf den zweiten Kosmosband annahm, ergibt sich in der Historiographie die Darstellung aus ihrem Objekt keineswegs.105 Humboldt befand sich genau im gleichen Fall wie alle Historiker, die sich entscheiden müssen zwischen der Fülle detaillierter Quellenstudien von begrenztem Interesse und gefahrlich oberflächlichen Gesamtdarstellungen, die sich ungeprüft auf Vorarbeiten Dritter verlassen müssen und in der Auswahl mit einer gewissen Willkür verfahren.106 Überall, wo er nicht selbst als Fachmann gelten konnte, hoffte Humboldt das Fundament für seine Darstellung bei anerkannten Autoritäten verschiedener Disziplinen fänden zu können. Unter den Kapazitäten, die er um synthetische Darstellungen bestimmter Problemfelder ersuchte, befand sich auch der Mathematiker Carl Gustav Jacob Jacobi. Humboldt bat ihn um eine Zusammenstellung solcher historischer Daten, die sich besonders für die Erzählung einer kohärenten Ideengeschichte des Kosmos nutzen ließen: W a s ich v o n I h n e n erflehe, ist f ü r jede der g r o ß e n M ä c h t e des A l t e r t h u m s einige Zeilen, w e l c h e charakterisiren, etwas Bezeichnendes — u n d dann, w o die W u r z e l n v o n dem s c h o n zu a h n d e n sind, w a s fast zwei J a h r t a u s e n d e später es möglich gemacht hat, den W e g der W e l t k ö r p e r zu b e s t i m m e n [...] Ich h a b e im K o s m o s die Analyse m e h r m a l s als ein mächtiges O r g a n (eine neue K r a f t ) a u f g e f ü h r t . D i e G e s c h i c h t e des K o s m o s m u ß also andeuten, w i e diese K r a f t sich allmählich ausgebildet hat. D i e Schwierigkeit ist nicht zu u m g e h e n . 1 0 7
Es interessiere ihn speziell der „erste hellenische Keim zu allen künftigen Fortschritten des mathematischen strengen Naturwissens."108 Jacobi 105 Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. 2, S. 372. 106 Für die Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung charakterisiert Jürgen Fohrmann dieses Dilemma. Während die Literaturgeschichte unterkomplex sei, sei die Miszellenwirtschaft überkomplex. Jürgen Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Kaiserreich, in: Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S. 576-604, hier S. 577. 107 Brief von September 1846; Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und C.[arl] G.[ustav] Jacob Jacobi, hg. von Herbert Pieper, Berlin (DDR): Akademie-Verlag 1987 (=Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 11), S. 75. Vgl. auch den Brief vom 8.11.1846: „In mein Werk gehört nicht die Geschichte der Mathematik, aber leise Berührung des Aufkeimens der Gedankenfolge, ohne welche die Gesetze der Bewegung der Himmelskörper, sei es in der Hypothese der Epicyclen oder in der Massenanziehung, nicht hatten ergründet werden können" (S. 84). 108 Ebd., S. 84.
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konnte, so ausführlich er Humboldt auch schrieb, das Gewünschte nicht bieten. Sein Standpunkt blieb der eines kritischen Historikers, der die empirische Basis für eine Ideen- und Begriffsgeschichte der Mathematik noch für viel zu unzureichend hielt, um große Linien zeichnen zu können. An Humboldt schrieb er im Dezember 1846: „Es fehlen fast alle Vorarbeiten, kein Citat besagt das, was es vorgiebt. [...] Zunächst auch fehlt es an neuen guten Ausgaben der wichtigsten Quellen."109 Am Ende mußte Humboldt seinen Kosmos schreiben, ohne je eindeutig erfahren zu haben, was mathematische Analysis eigentlich sei. Gegenüber Jacobi verhehlte er seine Enttäuschung nicht ganz, ja er schien ihn sogar an eine wichtige Aufgabe des Historikers erinnern zu wollen: Ich hatte mir ehemals, ohne daran zu denken, wie die ideellen Dinge allmälig entstehen, mir eingebildet, man könne vor Newton 3 oder 4 Zeitepochen angeben, die dem Menschen mathematisch geholfen haben, in die Welträume zu dringen, die himmlischen Bewegungen begreifen zu können, wie zu Galilei's Zeiten die Entdeckung des Fernrohrs dem Menschen ein materielles Organ gegeben hat, die Existenz und Lage der himmlischen Körper zu erpähen. [...] Die Frage, was hat vorher in der Gedankenwelt vorgehen müssen, daß es 1846 möglich geworden ist, den Ort des transuranischen Planeten zu bestimmen, ist aber eine sehr natürliche Frage. ,Le dout nait de ce que l'homme a la vue courte et l'esprit curieux'.110
Im Kosmos findet sich schließlich nur in einer Fußnote ein kurzer Hinweis auf Jacobi.111 Die Briefe an Jacobi sprechen es deutlich aus: Humboldt ging es um Ideengeschichte, um die „allmälige" Entstehung der „ideellen Dinge", und ihr Subjekt, auch das wird gesagt, ist „der Mensch." Die einleitenden Seiten zur „Geschichte der physischen Weltanschauung" im zweiten Band des Kosmos distanzieren sich dann auch deutlich von einer materialen Geschichte der Naturwissenschaften, ebenso wie von einer Geschichte systematischer Erkenntnis oder der Form der enzyklopädischen Darstellung. Was angestrebt wird, ist mehr, ist die Präsentation der „Hauptmomente der allmähligen Entwicklung und Erweiterung des Begriffs vom Kosmos, als einem Naturganzen" und die „Darstellung des Strebens der Menschheit das Zusammenwirken der Kräfte in dem Erd- und Himmelsraume zu begreifen."112 Dass es sich um eine Fortschrittsgeschichte handelt, innerhalb derer auch Etappenziele bezeichnet werden können, steht für Humboldt fest. Im Übrigen aber ist sie „nur ein Theil der Culturgeschichte selbst."113 Diese „Culturgeschichte" präsentiert Humboldt allerdings hauptsächlich als „Geschichte des Gedankens von der Einheit 109 110 111 112 113
Ebd., S. 100. Ebd., S. 103, Brief vom 22.12.1846. K, S. 348. Ebd. K, S. 241.
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in den Erscheinungen und von dem Zusammenwirken der Kräfte im Weltall."114 Für die Entwicklung der leitenden Gedanken nimmt Humboldt durchaus materielle Voraussetzungen an. Dazu gehören „Begebenheiten [...] welche einen entscheidenden Einfluß auf die geistigen Bestrebungen der Menschheit und auf die erweiterte Weltansicht auszuüben vermochten".115 So wichtig die Besinnung auf die geographischen und kulturgeschichtlichen Voraussetzungen der Erkenntnis ist, so wenig liegt in ihnen der Zweck der Darstellung. „Wir verweilen nicht sowohl bei der Erzählung von Begebenheiten als bei der Wirkung [...] auf die Entwicklung der Idee des Kosmos."116 So vollzieht sich die Arbeit an der Kulturgeschichte der Naturerkenntnis in zwei Phasen: Hilfswissenschaften wie die Linguistik, die Archäologie, die Geschichte der Reisen und Kolonisierungen und die spezielle Wissenschaftsgeschichte arbeiten der „klaren Entwickelung von leitenden Ideen" zu, „solchen, welche einige der Wege bezeichnen, die der Physiker als Geschichtsforscher durchlaufen muß."117 Die Idee des Kosmos verwirklicht sich allmählich in der gesamten Menschheit, und auch das Hauptwerk des alten Humboldt will nichts anderes geben als „die Resultate der Naturforschung [ ] in ihrer großen Beziehung auf die gesammte Menschheit betrachtet."118 Sie ist daher im Grunde nur in eine Universalgeschichte aller Zeiten einzubetten. Dafür spricht nicht nur die Totalität und Erhabenheit des Gegenstandes, die ganze physische Welt, der nur ein ebenso erhabenes Subjekt gerecht werden kann, die gesamte Menschheit. Dafür gibt es auch sachliche Gründe: Die ganze Welt kommt nur in Gestalt ihrer geographischen Vielfalt zur Ansicht. Die unterschiedliche Ausprägung der Kulturen in Abhängigkeit von ihren spezifischen Lebensbedingungen führt daher ganz natürlich zur Erkenntnis verschiedener Aspekte des Kosmos. Der klare Himmel Ägyptens fördert die Sternkunde, die Vulkanausbrüche am Ätna und Vesuv zu Zeiten der Geschichtschreibung ihre verlässliche Deskription, die Vielgliedrigkeit des Mittelmeerbeckens eine Seefahrt, die ein ganzes Spektrum von geographischen Räumen zusammenführt. Der Universalhistoriker der physischen Weltbeschreibung zieht daher die Leistungen einzelner Kulturen und Epochen in einen immer umfassenderen und einheitlicheren Erkenntnisprozess zusammen, so wie immer mehr empirische Gesetze und Hypothesen die Idee des Kosmos konkretisieren.
114 115 116 117 118
K, S. K,S. K,S. K, S. K, S.
241. 242. 242. 243f. 9.
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Erscheint aber auf den ersten Blick die Universalgeschichte der Idee vom Kosmos als eine Erzählung von der zunehmenden Verdichtung und Vernetzung zerstreuter Kenntnisse, so stehen andererseits der Vorstellung von der progressiven Entfaltung einer einheitlichen Menschheit in ihrem Wissen um die ganze Welt erhebliche Schwierigkeiten gegenüber. Dazu gehören die Ungleichzeitigkeit der verschiedenen Hochkulturen, die Diskontinuität der Leistungen und Überlieferungen einzelner Völker und das asymmetrische Verhältnis zwischen Hegemonialmächten und Kolonien auch in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht. Die Schwierigkeiten umgeht Humboldt durch einige Prämissen und bestimmte Verfahren der Kohärenzbildung. 119 Zunächst wird die anthropologische Einheit des Menschengeschlechts vorausgesetzt, auch wenn die frühesten Zeugnisse die Gattung Mensch bereits in verschiedene Rassen und distinkte Siedlungsräume teilen. Tatsächlich handelt es sich bei der angenommenen Einheit des Menschengeschlechts nicht nur um einen naturgeschichtlichen Befund, sondern auch um die Aufstellung bestimmter Normen. Schon Voltaire hatte als Kulturhistoriker die Verschiedenheit der Rassen und Kulturen durch den Hinweis auf die angeborene Vernunft eines jeden Menschen aufgehoben. 120 Die Kulturgeschichtschreibung in Deutschland hatte diesen Gedanken mit einem geschichtsphilosophischen Telos versehen: In der Gattung Mensch ist die Humanität ein Potential, eine Aufgabe, die sich in der Universalgeschichte erst noch realisieren soll. Vor allen Dingen Herders Schriften, unter denen der Kosmos „Die Ideen zur Geschichte der Menschheit" zitiert,121 verhalfen dieser Vorstellung in Deutschland zu weiter Verbreitung. Diese spezifisch deutsche Historiographie, die Universalgeschichte vor allem als verheißungsvolle Kulturgeschichte schreibt, 122 und deren Übergewicht gegenüber einer nationalen politischen Geschichtschreibung mit der Rückständigkeit der deutschen
119 Das Ergebnis veranlasst Bernhard Sticker in einer Gedenkrede zu bekennen, „daß ich nur wenige Weltgeschichten kenne, die mit gleicher Spannung geschrieben sind." Bernhard Sticker: Humboldts Kosmos. Die wirkliche und die ideale Welt. Rede anläßlich der 100. Wiederkehr des Todestages von Alexander von Humboldt am 6. Mai 1959, Bonn: Hanstein 1959, S. 25. 120 Zur Geschichte der Universalgeschichtsschreibung vgl. Wolfgang E.J.Weber: Universalgeschichte, in: Michael Maurer (Hg.): Aufriß der historischen Wissenschaften in sieben Bänden, Bd. 2: Räume, Stuttgart: Redam 2001, S. 15-98; zu Voltaires Essai sur les moeurs er l'esprit des nations von 1756, S. 55. Vgl. auch Michael Maurer: Neuzeitliche Geschichtschreibung, in: ders.: (Hg.): Aufriß der historischen Wissenschaften in sieben Bänden, Bd. 5: Mündliche Überlieferung und Geschichtsschreibung, Stuttgart: Reclam 2003, S. 281-499, S. 320. 121 K, S. 310. 122 Zum programmatischen Kulturbegriff, der die deutsche Kulturgeschichtsschreibung prägt, vgl. Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 196.
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Staatsbildung erklärt wird,123 nutzt Humboldt im Kosmos zum Vorteil seiner Ideengeschichte der physischen Welt. Die fortschreitende Erforschung der ganzen Welt kann er dabei als vornehmstes Gebiet bezeichnen, auf dem sich die Menschheit veredelt. Da gilt die „Einsicht in den Zusammenhang der lebendigen Kräfte des Weltalls als die edelste Frucht der menschlichen Cultur, als das Streben nach dem höchsten Gipfel, welchen die Vervollkommnung und Ausbildung der menschlichen Intelligenz erreichen kann."124 Nirgends scheut sich der Verfasser des Kosmos, Menschheit und Menschengeschlecht als Protagonisten seiner Universalgeschichte zu benennen. Vom Gebrauch des Wortes Humanität distanzierte er sich offenbar erst, als er auf seine allmähliche Abwertung im Alltagsgebrauch aufmerksam wurde.125 Zwischen der genetischen Einheit des Menschengeschlechts und der idealisierten Zusammenfassung aller kulturellen Entwicklungen zur einen Menschheit entfaltet sich die Universalgeschichte der Welterkenntnis durchaus diskontinuierlich. Gerade die „Göttinger Schule", die Humboldt 1789 besucht hatte, leistete nun im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts den bedeutendsten Beitrag zur Verwissenschaftlichung jener Universalgeschichte, die Voltaire vorbereitet hatte und Herder verfolgte.126 Die Göttinger Koriphäen der Historiographie, August Ludwig von Schlözer und Johann Christoph Gatterer, hörte Humboldt nicht. Immerhin belegte er einen Kurs über neuere Geschichte bei Spitder, über den er schrieb: „Seine Darstellung der Geschichte, seine Aneinanderkettung der Begebenheiten ist meisterhaft."127 Im Übrigen gab die historische Quellenkritik, die Humboldt in den Seminaren Heynes, Michaelis erlernte,128 das 123 Von einer „staatslosen Kulturgeschichtschreibung in Deutschland" spricht daher schon Fueter, und von einer charakteristischen Uberschätzung der Sprachgemeinschaft, nachdem in der Restaurationszeit in Deutschland Sprache und Kultur als einziges „einigendes" Band angesehen wurden. Eduard Fueter: Geschichte der neueren Historiographie, München, Berlin: Oldenbourg 1936 (Reprint: Zürich, Schwäbisch Hall: Orell und Füssli 1985), hier S. 566 und 421. 124 K, S. 241. 125 In einem Brief an Varnhagen von Ense vom 29.3.1840, in dem er verschiedene Formulierungen um den Begriff Menschheit zur Diskussion gestellt werden, heißt es auch: „.Humanität' gebe ich auf jeden Fall auf, nachdem ich eben im letzten Bande von Campe's Wörterbuch so viele Moquerien darüber lese." Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858, 4. Aufl., Leipzig: Brockhaus 1860, S. 75. 126 Zur „Göttinger Schule" der Historiographie vgl. Weber: Universalgeschichte, S. 57; Maurer: Neuzeitliche Geschichtschreibung, S. 327, 345f. 127 Ebd. 128 Vgl. den Brief an Wegener vom 17. 8. 1789: „Der Prozessor] Hugo [...] interpretirt hier die Römfischen] Geseze mit philologischer] Gelehrsamkeit, weil man den Sinn des Gesezgebers nur dann fassen kann, wenn man weis, in welchem Gehalt die Worte bei ihm und überhaupt bei seinem Zeitalter standen" JB, S. 69.
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beste Propädeutikum für eine empirische Rekonstruktion großräumiger Zusammenhänge. Der das Quellenstudium ergänzende Sachunterricht, der sich mit den geographischen, sozialen, ökonomischen und politischen Voraussetzungen kultureller Leistungen befasste, erleichterte auch die Rekonstruktion jener Wege, auf denen Kenntnisse aus verschiedenen Epochen und Regionen in Beziehung zueinander traten. Das vergleichende Studium unterschiedlicher alter Kulturen war eine Spezialität des Göttinger Religionshistorikers Michaelis, den Humboldt ebenfalls hörte.129 Möglicherweise gaben die komparativen Verfahren der Philologen sogar den Anstoß, auch in der empirischen Naturforschung geographisch vergleichend vorzugehen.130 In Heynes Seminaren konnte Humboldt dagegen lernen, Urkunden der ältesten Mythologie auf ihren empirischen Gehalt zu prüfen und in die Vorgeschichte einer zunehmenden Rationalisierung und schließlich Verwissenschaftlichung einzureihen.131 Der Kosmos behandelt Quellen zur Mythologie durchgehend als wichtige Dokumente der Frühgeschichte physischer Weltanschauung. Alle diese Verfahren jedoch, so sehr sie Argumente für immer größere Kohärenzen liefern, erbringen noch keine Universalgeschichte der Erkenntnis der gesamten physischen Welt. Dazu bedurfte es wohl erst noch der theoretischen Formulierung von Ideengeschichte, die Humboldt in den Schriften Wilhelms finden konnte, vor allem im Aufsatz Uber die Aufgabe des Geschichtschreibers des Jahres 1821, von dem sich der Bruder in Paris sofort fasziniert zeigte: „Ich lese Deine wundervolle Abhandlung über die Geschichte immer wieder."132 In dieser Schrift, die während der Abfassung des Kosmos zwischen Varnhagen von Ense und Alexander von Humboldt offenbar erneut ausführlich erörtert wurde,133 und dann auch an herausragender Stelle zitiert wird, heißt es: Außer den „wirkenden und schaffenden Kräften" der Natur und Kultur sei noch „ein mächtiger 129 K . S . 258. 130 Diesen Zusammenhang zwischen universalgeschichtlicher Vorbildung und Humboldts Pflanzengeographie sieht jedenfalls Charles Minguet, auch unter Hinweis auf den großen Brief an Schiller von 1794. Charles Minguet: Alexandre de Humboldt. Historien et Geographe de l'Amerique Espagnole (1799-1804), Paris 1969, S. 75f. 131 Wichtige Quellen sind daher für den Kosmos Völckers Mythische Geographie der Griechen und Römer oder Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker oder Jacob Grimms Mythologie. Vgl. auch die kritische Auseinandersetzung mit einer Hypothese Heynes zu einer „Im Althertum weit verbreiteten astronomischen Mythe" in einer Fußnote zu Kosmos, S. 559, außerdem ein Zitat aus einer semantikgeschichtlichen Studie Heynes in Kosmos, S. 57. Zu Michaelis und Heynes Philologie im Blick auf die Kontinuität von Mythos, Poesie und Wissenschaft vgl. Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 204f. 132 Briefe Alexander von Humboldts an seinen Bruder Wilhelm, hg. von der Familie von Humboldt in Ottmachau, Berlin: Gesellschaft der Literaturfreunde 1923, S. 114. 133 Vgl. den Brief an Varnhagen vom 10.5.1837, in: Varnhagen, S. 39f.
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wirkendes, nicht in unmittelbarer Sichtbarkeit auftretendes, aber jenen Kräften selbst den Anstoss und die Richtung verleihendes Princip übrig, nemlich Ideen, die, ihrer Natur nach, ausser dem Kreise der Endlichkeit liegen, aber die Weltgeschichte in allen Theilen durchwalten und beherrschen."134 Selbst wenn der Kosmos mit Wilhelm von Humboldts grundlegender Schrift die Idee vom Ganzen der physischen Natur voraussetzt, die die „Weltgeschichte in allen Theilen durchwaltet und beherrscht", so bleibt immer noch die Schwierigkeit, diese Idee aus allen historisch existierenden Vorstellungen vom Kosmos zu homogenisieren. Dazu müsste nämlich ein Bewusstsein angenommen werden, dass durch alle Zeiten und Räume hindurch diese Idee trägt. Alexander von Humboldt gelingt es, diese Einheitlichkeit eines Kulturprozesses zu konstruieren, ohne die Diskontinuität der Kulturen zu leugnen. „Im grauen Alterthume, gleichsam am äußersten Horizont des wahrhaft historischen Wissens, erblicken wir schon gleichzeitig mehrere leuchtende Punkte, Centra der Cultur, die gegeneinander strahlen."135 Um nun die Ideengeschichte des Kosmos einheitlich zu gestalten, hypostasiert Humboldt einen gemeinsamen Fokus für alle ideengeschichtlichen Linien, die gebündelt bis in die Gegenwart gespiegelt werden. Es sei „am geeignetsten in der Geschichte der Weltansicht von Einer Völkergruppe auszugehen, in der unsere jetzige wissenschaftliche Cultur und die des ganzen europäischen Abendlandes ursprünglich gewurzelt sind."136 Gemeint ist natürlich das griechischrömische Altertum, von dem Humboldt sogleich zugeben muss, dass in ihm keineswegs die urspünglichen Wurzeln der Welterkenntnis liegen. Denn die „Geistesbildung der Griechen und Römer ist allerdings ihrem Anfange nach eine sehr neue zu nennen, im Vergleich mit der Cultur der Ägypter, Chinesen und Inder."137 Zum Repräsentanten der Menschheit wird die abendländische Kultur in der Nachfolge der Griechen und Römer jedoch dadurch, dass sich einzig in ihr eine ununterbrochene Überlieferung der frühesten Erkenntnisse nachweisen lässt. Die griechischrömische Antike hat allein das ältere Naturwissen und gleichzeitige Einflüsse aus fernen und nahen Kulturen übernommen und tradiert. In der Neuzeit seien dann auf dem Wege der Entdeckungen und Kolonisierungen die „europäischen Culturvölker [...] gleichsam allgegenwärtig geworden."13»
134 135 136 137 138
W. v. Humboldt: Werke in fünf Bänden, Bd. 1, S. 599, 600f. K , S . 245. Vgl. auch K, S. 283. Ebd. K , S . 246.
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Angesichts der verworrenen Überlieferung kann Humboldt nur in der griechisch-römischen Antike den ersten Sachwalter einer universalen Ideengeschichte finden. Der Mittelmeerraum in seiner speziellen geographischen Beschaffenheit sei dazu prädestiniert gewesen, zum „Ausgangspunkt der wichtigsten Weltbegebenheiten" zu werden, hier habe alles die „Erweiterung des Ideenkreises" gefördert und die „fortschreitende Erweiterung des Weltbewußtseins."139 In diesem besonderen, vielgestaltigen und doch homogenen Raum konzentrieren sich die kulturellen Errungenschaften viel weiterer Erdstriche und aller menschheitlichen Epochen in einen kontinuierlichen Überlieferungsstrom. Humboldts Kommentar zum Frontispiz der Relation historique dehnt die zivilisierende Leistung der alten Griechen für das ganze Abendland noch auf den Neuen Kontinent aus, indem Amerika nun seinerseits durch den Alten Kontinent zivilisiert wird: Das Frontispiz, gestochen nach der Zeichnung von Herrn Gerard, stellt das von Minerva und Merkur über die Übel der Conquista getröstete Amerika dar. Man liest unten auf dem Kupferstich die Worte: humanitas, litterae, fruges. Der jüngere Plinius schrieb an Maximus, Quästor Bithyniens und zum Gouverneur der Provinz Achaja ernannt: .Denken Sie daran, daß die Griechen den anderen Völkern die Zivilisation, die Wissenschaften und den Weizen gegeben haben.' Diese gleichen Wohltaten verdankt Amerika dem Alten Kontinent (vgl. Abb. 2).140
Sicherlich bedarf es einiger Stilisierungen, um den Mittelmeerraum, die griechisch-römische Antike, das Abendland so weit miteinander zu identifizieren, dass sie zum Protagonisten der universalen Ideengeschichte des Kosmos werden können. Der Verfasser des Kosmos ist überzeugt, dass die Kontinuität des kulturtragenden Kollektivs sich empirisch nachweisen lässt, das heißt dass die Ideengeschichte sich aus der Immanenz der empirischen Geschichte heraus entwickelt. Das antike Griechenland wird dabei wie beim Bruder Wilhelm von Humboldt 141 zum exemplarischen Fall einer ebenso individuellen wie idealen Kulturepoche. Es ist nämlich an die einmaligen Bedingungen ihrer Entstehung und Entfaltung gebunden, und der Kosmos besteht auf der „Individualität und uralten Verschiedenheit der Stämme in welche die Nation sich theilte."142 Auf der anderen Seite aber steht über allen Kontrasten das „Gnechenthum", in dem sich zuerst menschheitsgeschichtlich prägende Ideen manifestieren.143 Gemeint
139 K, S. 248, 249, 250. 140 Supplement zum ersten Band der Reise in die Aquinoktialegenden, Bd. 2, S. 1609. 141 Muhlack: Zum Verhältnis von klassischer Philologie und Geschichtswissenschaft, 232: Wilhelm von Humboldt werte „die Antike, speziell das griechische Altertum, sozusagen als die individuelleste und damit am meisten historische Epoche der Geschichte." 142 K, S. 265. 143 In der vergleichenden Kulturgeschichte bezog sich Humboldt schon in den λ/ues des Cordilleres et Monuments des Peuples de l'Amerique (Paris: Schoell 1810) auf die römische, vor allem aber griechische Kultur.
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ist dabei vor allem die Idee der Freiheit, die Alexander von Humboldt so wie sein Bruder zuerst bei „den Griechen" auftreten sieht, und eine wichtige Etappe in der Realisierung menschlicher Kultur überhaupt bezeichnet.144 Bei den Griechen realisiert sich zuerst, wozu die Menschheit bestimmt ist, die Freiheit.145 Eine Ideengeschichte, die ihre leitenden Ideen aus der Immanenz der konkreten Begebenheiten entwickelt, ist das beiden Brüdern Humboldt gemeinsame Ideal von Geschichtschreibung.146 Dieses Ideal bestimmt auch Alexander von Humboldts Urteile über wichtige Historiker und Geschichtsphilosophen seiner Zeit. An Hegels Philosophie der Geschichte bemängelte er, besonders im Briefwechsel mit Varnhagen, dass die geschichtsphilosophisch systematisierten Linien sich von der Empirie der geographischen und historischen Verhältnisse verselbständigten, ob darin nun Krokodile als harmlos ausgegeben werden oder das amerikanische Rindfleisch als minderwertig.147 Über Niebuhr dagegen äußerte sich Humboldt noch 1852 gegenüber dem jungen Historiker Friedrich Althaus kritisch. Er sei „nicht zum Zusammenhang einer freien Weltansicht gekommen; der Begriff der allgemein menschlichen Freiheit ist ihm nicht aufgegangen."148 So sehr nun Humboldt mit seinem Bruder im Kosmos von einer progressiven Entfaltung der menschlichen Kultur ausging, so sehr sah er doch den Entwicklungsprozess als durchaus unabgeschlossen, sogar als unabschließbar an. Bildung, Humanität und Freiheit blieben eher eine Aufgabe. So sah Humboldt nicht wie Hegel die Geschichte an das Ende ihrer Entwicklungsstadien gelangt, schon gar nicht das Höchstmaß an Freiheit verwirklicht, und ähnlich kritisierte er die Tendenz der „Historisch-politischen Zeitschrift" Rankes. Wiederum gegenüber Friedrich Althaus äußerte er: „Nichts sei allerdings den Völkern mehr zu wünschen als friedlich-organische Entwicklung; allein jene halb philosophischkonstruierende, halb artistische Tendenz der ,Historisch-politischen 144 Vgl. K, S. 253; und „Über die Aufgabe des Geschichtschreibers", S. 601. 145 K,S. 187. 146 Zur Abgrenzung dieser Ideenlehre Humboldtscher Prägung von Hegels teleologischer Ideengeschichte vgl. Fueter: Geschichte der neueren Historiographie, S. 423. 147 Brief an Varnhagen vom 1.7.1837, S. 44f. Es konnte nicht ausbleiben, dass den Kosmos aus dem Lager der Hegelianer der Vorwurf traf, dass darin „Empirismus und Idealismus" nicht zur Synthese kämen: Gustav Biedermann: Die speculative Idee in Humboldt's Kosmos. Ein Beitrag zur Vermitdung von Philosophie und Naturforschung, Prag: Calve 1849, S. 8. Hegels Reaktion auf den Vorwurf mangelnder Empirie habe in der gelassenen Antwort „Um so schlimmer für die Wirklichkeit" bestanden. Zit. n. Friedrich Kitder: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München: Fink 2 2001, S. 101. 148 Gespräche Alexander von Humboldts, hg. v. Hanno Beck, Berlin: Akademie-Verlag 1959, S. 326. Im Kosmos gehört dennoch Niebuhr, wie übrigens auch Hegel zu den häufiger zitierten Autoren.
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Zeitschrift', wonach die Gegenwart selbstgefällig als das vernünftige Produkt der geschichtlichen Entwicklung dargestellt werde, führe auf gefährliche Abwege."149 Nun fehlt allerdings auch der Kulturgeschichte des Kosmos, wie übrigens auch der physischen Weltbeschreibung selbst nicht eine „halb philosophisch-konstruierende, halb artistische Tendenz." In der Universalgeschichte wiederholt sich nämlich dasselbe Dilemma, mit dem schon die physische Weltbeschreibung konfrontiert war, und was Humboldt von der Naturforschung sagt, betrifft genauso die Historiographie: „Erfahrungswissenschaften sind nie vollendet."150 Zwangsläufig geht daher die „Behandlung einer empirischen Wissenschaft, oder vielmehr eines Aggregats von Kenntnissen" über in die „Anordnung nach leitenden Ideen, die Verallgemeinerung des Besonderen, das stete Forschen nach empirischen Gesetzen." Und da geschieht in der Naturwissenschaft genau das gleiche wie in der Geschichtschreibung: Der Zusammenhang jedes Einzelnen mit dem Ganzen wird energisch behauptet und zur allgegenwärtigen Arbeitshypothese, obwohl er weit entfernt von seinem empirischen Nachweis ist. Im Vorwort zum Dritten Band rekapituliert Humboldt noch einmal den vorläufigen Charakter desjenigen Ganzen, um das es der physischen Weltbeschreibung wie der Universalgeschichte geht: Die Unvollendbarkeit aller Empirie, die Unbegrenztheit der Beobachtungssphäre macht die Aufgabe, das Veränderliche der Materie aus den Kräften der Materie selbst zu erklären, zu einer unbestimmten. [...] Unsere Kenntniß von der Urzeit der physikalischen Weltgeschichte reicht noch nicht hoch genug hinauf, um das jetzt Daseiende als etwas Werdendes zu schildern. // Wo demnach der Causalzusammenhang der Erscheinungen noch nicht hat vollständig erkannt werden können, ist die Lehre vom Kosmos oder die physische Weltbeschreibung nicht eine abgesonderte Disciplin aus dem Gebiete der Naturwissenschaften. Sie umfaßt vielmehr dieses ganze Gebiet, die Phänomene beider Sphären, der himmlischen und der tellurischen; aber sie umfaßt sie unter dem einigen Gesichtspunkte des Strebens nach der Erkenntniß eines Weltganzen.151
Dieser homogenisierende Gesichtspunkt ist nun in Analogie zur Universalgeschichte gedacht, wie das unmittelbar anschließende Zitat aus Wilhelm von Humboldts Aufsatz Über die Aufgabe des Geschichtschreibers zeigt: Wie ,bei der Darstellung des Geschehenen in der moralischen und politischen Sphäre der Geschichtsforscher nach menschlicher Ansicht den Plan der Weltregierung nicht unmittelbar erspähen, sondern nur an den Ideen erahnden kann, durch die sie sich offenbaren'; so durchdringt auch den Naturforscher bei der Darstellung der kosmischen Verhältnisse ein inniges Bewußtsein, daß die Zahl 149 Gespräche, S. 279. 150 K , S . 35. 151 K , S . 397.
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der welttreibenden, der gestaltenden und schaffenden Kräfte keineswegs durch das erschöpft ist, was sich bisher aus der unmittelbaren Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen ergeben hat.152 Damit dreht Alexander von Humboldt nur das Argument um, mit dem sein Bruder den Zusammenhang der Universalgeschichte plausibel gemacht hatte, nämlich mit dem Hinweis auf die Gleichartigkeit aller Kräfte in Kultur und Natur. Alle lebendigen Kräfte, der Mensch, wie die Pflanzen, die Nationen, wie das Individuum, das Menschengeschlecht, wie die einzelnen Völker, ja selbst die Erzeugnisse des Geistes, so wie sie auf einem, in einer gewissen Folge fortgesetzten Wirken beruhen, wie Literatur, Kunst, Sitten, die äussere Form der bürgerlichen Gesellschaft, haben Beschaffenheiten, Entwicklungen, Gesetze mit einander gemein.153 Und weiter schreibt Wilhelm von Humboldt: „Alles was geschieht, steht, dem Räume und der Zeit nach, in unzertrennlichem Zusammenhange." 154 Daher leistet der Historiker wenig anderes als der Künstler: „Die historische Darstellung ist wie die künstlerische, Nachahmung der Natur [...] Die Nachahmung der organischen Gestalt." 155 Von der Analogie zwischen Weltgeschichte und physischer Weltbeschreibung bis zu ihrer methodischen Durchdringung liegt im Kosmos nur ein kleiner Schritt. In der Einleitung heißt es: Wie die Weltgeschichte, wo es ihr gelingt, den wahren ursachlichen Zusammenhang der Begebenheiten darzustellen, viele Räthsel in den Schicksalen der Völker und ihrem intellectuellen, bald gehemmten, bald beschleunigten Fortschreiten löset; so würde auch eine physische Weltbeschreibung, geistreich und mit gründlicher Kenntniß des bereits Entdeckten aufgefaßt, einen Theil der Widersprüche heben, welche die streitenden Naturkräfte in ihrer zusammengesetzten Wirkung dem ersten Anschauen darbieten.156 Das Ganze der Natur lässt sich aber nur dann darstellen, wenn der Physiker der Welt den Mut zum typisch universalgeschichtlichen Vorgriff auf den empirisch nie erweisbaren Zusammenhang aufbringt. Die Einheit, welche der Vortrag einer physischen Weltbeschreibung, wie ich mir dieselbe begrenze, erreichen kann, ist nur die, welcher sich geschichtliche Darstellungen zu erfreuen haben. Einzelheiten der Wirklichkeit, sei es in der Gestaltung oder Aneinanderreihung der Naturgebilde, sei es im Kampfe des Menschen gegen die Naturmächte, oder der Völker gegen die Völker, alles was dem Felde der Veränderlichkeit und realer Zufälligkeit angehört, kann nicht aus Begriffen abgeleitet (construirt) werden. Weltbeschreibung und Weltgeschichte stehen daher auf derselben Stufe der Empirie; aber eine denkende Behandlung beider, eine sinn152 153 154 155 156
Ebd. W. v. Humboldt: Schriften, Bd. I, S. 599. W. v. Humboldt: Schriften, Bd. 1, S. 597. Ebd. S. 591. K , S . 19.
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Naturforschung als Bildung: Von der Vorlesung zum literarischen Kanon volle Anordnung von Naturerscheinungen und von historischen Begebenheiten durchdringen tief mit dem Glauben an eine alte innere Notwendigkeit, die alles Treiben geistiger und materieller Kräfte, in sich ewig erneuernden, nur periodisch erweiterten oder verengten Kreisen, beherrscht. Sie führen (und diese Nothwendigkeit ist das Wesen der Natur, sie ist die Natur selbst in beiden Sphären ihres Seins, der materiellen und der geistigen) zur Klarheit und Einfachheit der Ansichten, zur Auffindung von Gesetzen, die in der Erfahrungs-Wissenschaft als das letzte Ziel menschlicher Forschung erscheinen. 157
Am Ende bleibt nur die Gewissheit, dass die Natur selbst die physische wie die geistige Entwicklung der Menschheit vorantreibt. Die Wertsphären des Historischen und Natürlichen stabilisieren sich gegenseitig und vereinigen sich in einer allumfassenden Entwicklung.158 Wer den Kosmos liest, darf sich daher als Teil eines dynamischen Bildungsprozesses betrachten, sei es, dass die Gattung Mensch lebt und sich entfaltet, sei es, dass ihre Kultur sich entwickelt. Bildung, die im Kosmos als Wissen von der Einheit der Natur erscheint, ist dabei eine vitale Lebensäußerung und zugleich ein geschichtsphilosophisches Versprechen, geeignet heilsgeschichtliche Erwartungen vorläufig zu ersetzen. Dabei kann die Erkenntnis, zu der der Kosmos als Bildungslektüre schlechthin einlädt, sich unmittelbar in die Lebenswelt einfügen. Die Einleitung zum Kosmos stellt es jedenfalls in Aussicht. Da ist nämlich die Rede davon, wie „der Mensch, indem er die verschiedenen Entwicklungsstufen seiner Bildung durchläuft, minder an den Boden gefesselt, sich allmälig zu geistiger Freiheit erhebt."159 Und gleich anschließend präzisiert Humboldt, dass das Subjekt dieses Bildungsprozesses, die Menschheit, sich in einer spezifischen gesellschaftlichen Schicht der Gegenwart verkörpert. Es sind alle gebildeten Stände, und wer sich zu Humboldts Zuhörern oder Lesern zählt, darf sicher sein, dazuzugehören, „denn ein eigener Charakter unseres Zeitalters spricht sich in dem Bestreben aller gebildeten Stände aus, das Leben durch einen größeren Reichtum von Ideen zu bereichern. Der ehrenvolle Antheil, welcher meinen Vorträgen in zwei Hörsälen dieser Hauptstadt geschenkt wird, zeugt für die Lebendigkeit eines solchen Bestrebens."160 157 K, S. 22f. Für Friedrich Sengle in seiner Würdigung des Kosmos ein erschließendes Zitat, das ihn veranlasst, „nicht ohne elegisches Bewußtsein" auf das zu blicken, was zu Humboldts Zeit als „populär" galt, wobei Sengle ebenfalls entschieden die Popularisierung als Vermassung von dem anspruchsvollen Bildungsverständnis des Kosmos absetzt. Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 2, S. 292. 158 Den „gegenseitig sich erläuternden und stabilisierenden Verweisungszusammenhang", den das Bildungsdenken in Deutschland hervorbringt, legt Reinhart Koselleck der gesellschaftlichen Reichweite des Bildungsideals in Deutschland zugrunde. Reinhart Koselleck (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 2: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart: Klett-Cotta 1990, S. 35. 159 K, S. 17. 160 K,S. 17.
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Am Ende der Einleitung bedarf es nur noch einer „flüchtigen Andeutung": Vervollkommnung des Landbaus, [...] Aufblühen der Manufacturen, [...] Vervielfältigung der Handelsverhätnisse, und ungehindertes Fortschreiten der Cultur der Menschheit, wie in den bürgerlichen Einrichtungen, stehen (das ernste Bild der neuen Weltgeschichte dringt diesen Glauben auch dem Widerstrebendsten auf) in gegenseitigen, dauernd wirksamen Verkehr miteinander. 161
Die Nutzanwendung aus der Lektüre des Kosmos bleibt seinen Lesern überlassen. Sie kann die Konversation in der privaten Geselligkeit bereichern, sie kann die Freiheit des Geistes von politischen Zwängen suggerieren oder den Glauben bestärken, dass Bildung den Weg in öffentliche Ämter des Staates oder bürgerlicher Vereine ebnet, sie kann im Glauben an den wirtschaftlichen Aufschwung bestärken. Für welche Geschichte diese große Erzählung von der physischen Weltanschauung162 eine größere Rolle gespielt hat: für die des Liberalismus oder der deutschen Staatswerdung,163 des privaten Lebens164 oder der Wissenschaft, das wird sich kaum rekonstruieren lassen.
Die Geschichte der Naturbeschreibung von Homer bis Humboldt So dynamisch die „Geschichte der physischen Weltanschauung" auch ist, mit der Humboldt den zweiten Band des Kosmos abschließt, so felsenfest stehen doch viele ihrer Begebenheiten und Namen an ihrem universalhistorischen Platz. Humboldts Ideengeschichte ist Entwicklungsgeschichte, zugleich ist sie aber auch eine Galerie der großen Namen und 161 K, S. 25. 162 Dass es sich beim Kosmos um eine „große Erzählung" handelt, vielleicht gar um den Versuch eine „künstliche Mythologie" zu schreiben, vermutet Ottmar Ette: Weltbewußtsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002, S. 119. 163 So lässt sich der Kosmos zweifellos in die Geschichte jenes Zusammenhangs einfügen, der nach Pierangelo Schiera in Deutschland maßgeblich an der Modernisierung des Staates beteiligt war: Gemeint ist der spezifisch deutsche Zusammenhang von Liberalismus, Wissenschaft, Bildungsdenken und Konstitutionalismus. Pierangelo Schiera: Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992 [1987 II Mulino Bologna]. So fehlt auch bei Schieras Sozial- und Wissenschaftsgeschichte der Genese des modernen deutschen Staates und des ihn tragenden Bürgertums der Hinweis auf Alexander von Humboldt nicht (S. 20f.). 164 Für Aleida Assmanns These, dass die „Bildungsidee" die „effektive Spaltung in Privatheit und Öffentlichkeit noch vertieft hat", wird sich jedoch die Rezeptionsgeschichte des Kosmos nicht heranziehen lassen: Einiges spricht dafür, dass die Verbreitung dieses Buches sich auf einige Institutionen bürgerlicher Öffentlichkeit (Universität, Akademie, Vereine) stabilisierend ausgewirkt hat. Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt, New York: Campus 1993, S. 59.
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epochemachenden Ereignisse, die der Historiker verewigt. In den anderen Teilen des zweiten Bandes, die ebenfalls universalgeschichtliche Abrisse sein sollen — der poetischen Naturbeschreibung, der Landschaftsmalerei und des Gartenbaus - , in diesen Teilen tritt das Element der Entwicklung noch deutlicher hinter die Geltung klassischer Leistungen zurück. Zugespitzt gesagt, die betreffenden Kapitel präsentieren am erzählenden Faden entlang nichts anderes als einen Kanon von Autoren und Werken, wobei die Diachronie der Erscheinungen in die Gleichzeitigkeit eines zuverlässigen Bestandes übersetzt wird.165 Dabei gehen die Kapitel über Literatur, Malerei und Gartenkunst wie die Geschichte der physischen Weltanschauung zunächst von einer überzeitlichen anthropologischen Gegebenheit aus. Die Vernunft ist allen Menschen gemeinsam und treibt zu allen Zeiten zu immer neuen Erkenntnisleistungen an. Ganz genau so ist auch die Sensibilität für die Schönheit und Erhabenheit der Natur angeboren.166 Im Kapitel über die Naturbeschreibung heißt es etwa: „Dem Menschen unbewußt, gesellt sich früh, was die umgebende, mehr oder minder anregende Natur in der Seele abspiegelt, zu dem, was tief und frei in den ursprünglichen Anlagen, in den inneren geistigen Kräften gewurzelt."167 Oder Humboldt vermutet, es „sei immerdar in der Brust des Menschen dem tiefen Naturgefühl eine gewisse Wehmut beigemischt."168 Dann wieder heißt es, es werde „die Außenwelt dem angeregten Dichter fast unbewußt ein Gegenstand der Phantasie."169 Im Verständnis der älteren Vermögenspsychologie handelt es sich dabei um sogenannte niedere Wahrnehmungsvermögen, die Humboldt allerdings seit je sehr hoch schätzt. Die Ahnungen der Seele bereiten nämlich rationalere Erkenntnisse der höheren Wahrnehmungsvermögen vor und ergänzen sie, vor allem, wenn die Einbildungskraft vermittelt. Genau aus diesem Grund verzeichnet Humboldt im Kosmos auch die Geschichte der ästhetischen Naturaneignung unter der Überschrift „Anregungsmittel zum Naturstudium". Sie werden noch vor der eigentlichen Geschichte der physischen Weltanschauung abgehandelt, weil die psychologischen Motive, die jeder ästhetischen Naturbetrachtung zugrundeliegen, kulturanthropologisch einer archaischeren Phase entstammen, aber 165 Vgl. Achim Hölter: Kanon als Text, in: Maria Moog-Grünewald (Hg.): Kanon und Theorie, Heidelberg: Winter 1997 (=Neues Forum für vergleichende Literaturwissenschaft, 3), S. 2 1 - 3 9 , hier S. 26. 166 Vgl. Cedric Hentschel: Zur Synthese von Literatur und Naturwissenschaft bei Alexander von Humboldt, in: Heinrich Pfeiffer (Hg.): Alexander von Humboldt. Werk und Weltgeltung, München: Piper 1969, S. 3 1 - 9 1 , hier S. 81 f. 167 K, S. 197. 168 K, S. 194. 169 K , S . 193.
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auch, weil der Übergang von den „Anregungsmitteln" zur eigentlichen Ideengeschichte des Kosmos in der Hierarchie der Vermögen einer Steigerung entspricht. Im Übrigen können die Kapitel zu den Anregungsmitteln und zur physischen Weltanschauung ganz analog verfahren. In beiden Fällen geht es darum, „nur wenige leitende Ideen zu entwicklen, daran zu erinnern, wie die Naturwelt in verschiedenen Zeitepochen und bei verschiedenen Volksstämmen so ganz anders auf die Gedanken- und Empfindungswelt eingewirkt hat."170 Gemeinsam ist dem Naturgefühl wie der rationalen Weltanschauung der genuine Zug aufs Ganze. Während aber die Erforschung der Natur nur über bestimmte Geistesoperationen zu umfassenden Aussagen gelangt, trifft das angeborene Empfinden unmittelbar auf eine als Ganzes erfahrene Natur. Humboldt spricht von einer „geheimnißvollen Analogie zwischen den Gemüthsbewegungen und den Erscheinungen der Sinnenwelt."171 Die Merkmale dieser einheitlich und umfassend gedachten Sinnenwelt sind „gestaltenreiche Mannigfaltigkeit", „Reichthum", „Ueppigkeit", „Wechselwirkung der Elemente", „erhabene Größe", ein „individueller Charakter", „Eigenthümlichkeit", sie ist „topographisch, aber auch malerisch", kurz, sie erscheint nicht anders denn als „Landschaft."172 Ohne dass dies ausdrücklich gesagt würde, schreibt Humboldt daher im Grunde die Universalgeschichte eines literarischen Motivs. Es leitet ihn bei der Sichtung des Materials, das demnach nicht auf eine bestimmte Gattung beschränkt bleibt, etwa auf die Lehrdichtung der Natur. Geeignete Belege finden sich in Lyrik, Drama, Epos und Prosaerzählung, aber auch in Briefen, Tagebüchern und Reisebeschreibungen. Gegen „malende Poesie" und „beschreibende Poesie" 173 setzt Humboldt seine Idealvorstellung von Naturschilderung ab. Zu der Komplexität einer empirisch erfahrenen Landschaft soll der Ausdruck des authentischen Naturgefühls hinzukommen, wodurch erst „Naturdichtungen im höheren Sinne des Worts" entstehen.174 Dieses Gefühl bezeichnet Humboldt von Fall zu Fall als „zart", „einfach", „ t i e f , „innig", „alles durchdringend", „häufig ausbrechend", vor allem aber immer wieder als „lebendig."175 Der Zusammenklang zwischen Seele und Natur ist dann urwüchsig, wenn beiden die Qualität der Lebendigkeit und Individualität gemeinsam ist. Im Idealfall sind Naturschilderungen an „individuelle Localitäten gebunden, daher, was hauptsächlich Leben giebt, aus selbst-
170 171 172 173 174 175
K,S. 189. K.S.219. K, S. 191,192,193,198, 200, 202, 207 und öfter. K,S. 223. K,S. 223. K, S. 194, 198, 204, 207, 210, 213, 214.
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empfangenen Eindrücken geschöpft." 176 Einer homogenen Erzählung dieser speziellen Universalgeschichte steht anscheinend nichts mehr im Wege. Das Objekt, die Landschaft, gibt es immer und überall, das Subjekt, die Naturempfindung selbst, wird als anthropologische Universalie ausgegeben. Beide ergänzen sich zur Totalität des Ästhetischen, das nur noch in seinen regionalen und historischen Varianten zu rekonstruieren ist, wie Humboldt in der Uberschrift „Naturgefühl nach Verschiedenheit der Zeiten und der Völkerstämme" in Aussicht stellt. So einfach verhält es sich dann aber doch nicht. Problematisch ist an dieser Konzeption zunächst, dass Werke der „schönen Literatur" kurzerhand als Dokumente eines psychologischen Phänomens genommen werden.177 Die Rolle, die der jeweilige Stand des empirischen Wissens im kreativen Prozess spielt, ist bei Humboldts nirgends methodisch reflektiert, so wenig wie jenes Wissen, das in der Poetik und Rhetorik systematisiert wird. Alle rhetorischen und stilistischen Merkmale verhelfen dem Ausdruck eines vermeintlich spontanen Gefühls nur im Nachhinein zu unterschiedlichen Spielarten, wobei die verschiedenen Gattungen dem mehr oder weniger günstig sind.178 Humboldt weiß zwar, dass die gemeinte Empfindung ausschließlich in literarischen Zeugnissen überliefert ist.179 Dennoch ist die Gestalt der Uberlieferung nicht das Primäre, sondern historisch wie sachlogisch sekundär. Humboldt nennt dann die „idealisierende Kunst, deren Beruf es ist die Wirklichkeit zu einem Bilde zu erheben." 180 Das ist nicht nur unverbindlich, es klingt sogar so, als steigere die Kunst nur das Ganzheitliche, das sich in der zündenden Verbindung von Subjektivität und empirischer Landschaft ohnehin darstellt, indem es dieses Totale von den Resten des Zufälligen befreit. Andernorts lässt Humboldt die „harmonische Verknüpfung der Darstellung der Natur mit dem Ausdruck der angeregten Empfindung" gelingen oder auch nicht, warum, wird kaum erforscht.181 Jeder historische Wissensstand, alle Kunst der Poetik und Rhetorik, verstärkt nur das innige Verhältnis zwischen der Dichterseele und der empirischen Natur. Dabei wirkt sicherlich die Ästhetik der Empfindsam176 K , S. 207. 177 D i e Literaturgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts nehme die Poesie mehr als „expressive Funktion" denn als „Sparte literaler Kultur". S o Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtschreibung, S. 586. 178 „die F o r m e n der Dichtungsarten, auf welche bei der E i g e n t ü m l i c h k e i t griechischer Geistesentwicklung das Alterthum sich beschränkte, gestatten den naturbeschreibenden Theilen nur eine mäßige Entfaltung", K , S. 193. 179 K , S. 191: „Wir können auf die Sinnesart der alten Völker nur aus den Aeußerungen der Naturgefühle schließen, welche in den Ueberbleibseln ihrer Litteratur ausgesprochen sind." 180 K , S . 207. 181 K , S . 220.
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keit noch nach, in deren Zeichen der junge Humboldt seine extensiven Brieffreundschaften gepflegt hatte. Am Ende seines Lebens kann der Verfasser des Kosmos an die Erben dieser älteren Ästhetik anschließen. Inzwischen hat sich der poetische Ausdruck der Empfindung in der jüngeren Geschichte des Geniegedankens etabliert. Es ist die Ästhetik einer Subjektivität, deren vitalen Äußerungen alle Mittel der Kunst wie beiläufig zur Verfügung stehen. Längst ist diese Subjektivität selbst in den Mittelpunkt der Literaturgeschichtschreibung gerückt. Unter den Zeitgenossen Humboldts sind es etwa die ihm wohlbekannten Brüder Schlegel, die als Subjekt der Historie das „poetische Gefühl" oder gar die Poesie selbst bemühen. An die Stelle dieses poetischen Gefühls können aber auch der Nationalcharakter oder der christliche Glaube treten.182 Der Held dieser Geschichte, das sind dann nicht die Dichter oder die Leser, die Angehörigen einer Kultur- oder Sprachgemeinschaft, es ist die Subjektivität selbst. Diese Subjektivität wird mit totalisierenden Prädikaten ausgestattet, die in den einzelnen Texten wiederkehren, ja der Einheitlichkeit und Ganzheit der Poesie und der Werke selbst zugeschrieben werden können.183 Genau dieser Art ist auch das Naturgefühl, das Humboldt in seiner Geschichte der Naturbeschreibung agieren lässt. Es tritt unmittelbar für die schöpferische Leistung des Dichters ein, so dass jede Überlegung zu spezifischen Ästhetiken oder Poetiken entfallen kann. Die Probleme einer Literaturgeschichtschreibung, die ein originäres Gefühl zum Subjekt ihrer Jahrhunderte umspannenden Erzählung macht, sind bekannt.184 Bestenfalls bemüht sich der Historiker darum, hermeneutisch aus den Quellen die Genese des betreffenden Empfindens herauszulesen. Dabei werden die verschiedenen Entfaltungen eines in der Geschichte identischen Subjekts aus der Immanenz der Zeugnisse entwickelt. Natürlich muss die Geschichte eines solchen bis heute anhaltenden Phänomens alles ausschließen, was dem widerspricht oder in einer 182 Vgl. Jürgen Fohrmann: Einleitung. Von den deutschen Studien zur Literaturwissenschaft, in: Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S. 1-14, hier S. 5. 183 Die Totalitätsprädikate, die der Poesie wie der menschlichen Seele zugleich zugesprochen werden, seien dabei der Ausgangspunkt für die spezifischen Konstruktionen, die Historiker bei der Homogenisierung ihrer Literaturgeschichten ab 1800 vornehmen. Jürgen Fohrmann: Literaturgeschichte als Stiftung von Ordnung. Das Konzept der Literaturgeschichte bei Herder, August Wilhelm und Friedrich Schlegel, in: Albrecht Schöne (Hg.): Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985, Bd. 11. Historische und aktuelle Konzepte der Literaturgeschichtschreibung. Zwei Königskinder? Zum Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft, hg. von Wilhelm Voßkamp und Eberhard Lämmert, Tübingen: Niemeyer 1986, S. 75-84, hier S. 80. 184 Außer den genannten Schriften von Jürgen Fohrmann sind die hier referierten Probleme vor allem analysiert bei Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München: Fink 2003.
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bestimmten Epoche ohne weitere Folgen blieb. Wie leicht kann aus einem solchen „vorwärts blickenden Nachvollzug" eine Teleologie werden, die ein rezentes Phänomen rückwirkend zum Zielpunkt jeder Entwicklung erklärt.185 Erst in der Gegenwart manifestiert sich dann das gesuchte poetische, nationale oder eben auch Naturempfinden auf zufriedenstellende Weise in den Kunstwerken. Alles Bisherige wird dann zum Gegenstand einer „diagnostischen Historie", die frühere Werke daran bemißt, ob sie den gesuchten subjektiven Ausdruck erfolgreich vermitteln oder daran scheitern. 186 Humboldts Kapitel über Naturbeschreibung vereinigt alle diese Aspekte der Literaturgeschichten, die ein vorgeblich spontanes Gefühl historisch zu legitimieren suchen. Dass die Geschichte des Naturgefühls nicht einfach Varianten einer universalen angeborenen Empfindung aufzählen darf, sondern mit viel komplexeren Problemen der historischen Konstruktion und Rekonstruktion einhergeht, ist dem Verfasser von der ersten Seite an bewusst. Er befasst sich sofort mit einer bis heute verbindlichen Schrift zur Ästhetik des modernen Naturempfindens, nämlich mit Schillers großer Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung". Sie war 1794 genau in den Monaten entstanden, in denen ihr Verfasser Alexander von Humboldt zur Mitarbeit an den Hören gewinnen wollte. 187 Der Kosmos zitiert daraus eine längere Passage über das „sentimentalische [...] Interesse, mit welchem wir Neueren an Naturscenen und Naturcharakteren hangen können". 188 Humboldt traut sich zwar zu, Schillers These von der Modernität des Naturgefühls einige antike Belege entgegenstellen zu können. Er bezieht sich auf neuere Studien, die auch bei den Griechen ein authentisches Naturgefühl nachweisen wollen.189 Weiter kündigt Humboldt an, dass sich das Gesuchte leichter in Werken aus dem hebräischen und indischen Altertum finden lasse als in denen der griechisch-römischen Antike. Im Grunde sind dies aber nur Differenzierungen an einem Gesamtbild, das erst in der jüngsten Vergangenheit alle Voraussetzungen für die gewünschte Naturschilderung wiederfindet. Humboldt muss feststellen, dass „Naturbeschreibung, sei sie Darstellung des Reichthums und der Ueppigkeit tropischer Vegetation, sei sie die lebendige Schilderung der Sitten der Thiere, gleichsam nur in der neuesten Zeit ein abgesonderter Zweig der Litteratur geworden." 190 Von diesem
185 186 187 188 189
Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, S. 265. Ebd., S. 285. Vgl. NA, 26, S. 45. K, S. 191. Eine Fußnote nennt „Eduard Müller über Sophokleische Naturanschauung und die tiefe Naturempfindung der Griechen". K, S. 191. 190 K , S . 192.
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„Gefühl unserer modernen Sinnesart" kann Humboldts Darstellung nirgends absehen. So muss Humboldt besondere Vermittlungen suchen, um die „moderne" sentimentalische Richtung überhaupt noch an die älteren Uberlieferungen anschließen zu können. Da hilft eine Ideengeschichte, die im Naturgefühl der älteren Kulturen eine Vorform des modernen erkennt, das sich nach und nach in der Geschichte entfaltet. Schon aus der älteren Abhandlung seines Bruders „Uber die Aufgabe des Geschichtschreibers" war Alexander von Humboldt diese Methode der materialen Rekonstruktion ideengeschichtlicher Entwicklungen bekannt. Nur wenige Jahre vor der Abfassung des zweiten Kosmosband.es, 1840, erschien dann eine bedeutende Umsetzung dieser ideengeschichtlichen Methode in Gestalt von Georg Gottfried Gervinus „neuere Geschichte der poetischen NationalLitteratur der Deutschen."191 Der Kosmos ziüert dieses Werk an herausragender Stelle, nämlich auf der ersten Seite des Kapitels zum Naturgefühl, in eben derselben Fußnote, in der sich auch die Belege zu Schillers Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung finden, wie auch auf der letzten Seite.192 Damit macht Humboldt deutlich, dass er sich nicht nur mit der Philosophie einer radikal historisierten Ästhetik befasst hat, sondern sich auch auf ihre materialreiche historiographische Rekonstruktion einläßt. Gervinus hatte es sich zur Aufgabe gemacht, in den älteren Dichtungen die allmähliche Emergenz eines Nationalgeistes nachzuzeichnen, und zugleich die Literaturgeschichte als einen Prozess zunehmender Subjektivierung und Individualisierung charakterisiert.193 Und auch Humboldts Kapitel über die „Naturbeschreibung" schreibt weitgehend von der ideengeschichtlichen Genese des modernen Naturgefühls. Zwar wird allerorten und zu jeder Zeit ein gewisses Naturempfinden vorausgesetzt. Das Subjekt der Anthropologie differenziert sich jedoch allmählich aus zu einer historisierten Subjektivität, wobei der Begriff der Individualisierung den Historiker bei der Würdigung der einzelnen Zeugnisse leiten kann. So heißt es im Kosmos: „Leidenschaftliche Liebe zum Naturstudium, welche hauptsächlich vom Norden ausging, entflammte die Gemüther. Intellectuelle Größe der Ansichten wurde der materiellen Erweiterung des Wissens beigesellt, und die dichterisch sentimentale Stimmung des Zeitalters individualisierte sich seit dem Ende des verflossenen Jahrhunderts in litterarischen Werken, deren Formen der Vorzeit unbekannt waren."194
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Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtschreibung, S. 581. K , S . 191, S. 223. Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtschreibung, S. 584. K , S . 215.
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Nun hat es Humboldt aber nicht, so wie Gervinus, mit der Geschichte der neueren Litteratur allein zu tun. Universalgeschichte will er durchaus schreiben, um die konstruktive Analogie von Subjekt und Objekt wahren zu können, die dann auch die Geschichte der physischen Weltanschauung beherrschen wird. Nur die Menschheit aller Zeiten erfährt die ganze Welt. Von diesem Anspruch und von den Problemen, die er sich damit einhandelt, berichtet Humboldt 1846 in einem Brief an Ignaz von Olfers: Ich habe den Stolz zu glauben, daß der zweite Band mehr noch, als der frühere, die eigentliche Natur meiner Komposition (die Außenwelt als ein Weltganzes von der Menschheit erkannt und auf sie reflektiert, auf sie schöpferisch wirkend) offenbaren wird. [...] Die Schwierigkeit, die Literatur aller Völkerracen in den Kontrasten der christlichen und unschristlichen Zeiten nach der einigen Rücksicht auf Belebung des Naturgefühls zu durchlaufen, mit wenigen Zügen zu charakterisieren, das Verschiedenartigste zu konzentrieren, in abgemessenen Proportionen als Züge eines Bildes darzulegen, über den Gegenständen zu schweben und durch sorgfältiges Ausmalen einzelner Ideengruppen den Leser zu fesseln, — diese Schwierigkeit ist so groß gewesen, daß schon deshalb die Arbeit die erflehte Nachsicht verdient. 195
Die gewaltigen Mühen sieht man dem fertigen Kapitel über das Naturgefühl in der Tat an. Zwar hat Humboldt wie gewohnt ein hochrangiges Netz von Korrespondenten zur Vorauswahl und Bewertung des Quellenmaterials eingeladen. An Olfers schreibend, lässt er eine Reihe imposanter Namen Revue passieren. Er sei unterstützt worden: für die griechische und römische Literatur durch Boeckh, die Minnesinger durch Jakob und Wilhelm Grimm, für die Inder durch meinen Bruder, Lassen und den neuen Herausgeber des Mahabharata Dr. Goldstücker in Königsberg, für Calderon und die englischen Dichter Tieck, für das Arabische durch [Georg Wilhelm Friedrich] Freytag, für die chinesische Gartenpoesie durch Stanislas Julien. Alle diese Quellen (für mich eigens geschriebene Aufsätze) sind in Noten des zweiten Teils des Kosmos zitiert.196
Die Vorarbeiten, auf die sich Humboldt verlässt, können die problematische Natur seiner Unternehmung jedoch nicht glätten. Seinen Korrespondenten gab er nämlich einen gewichtigen Katalog von Anforderungen an die gesuchten Texte mit, der vielfach nur zu der erwartbaren Enttäuschung führen konnte. In Humboldts Brief an Wilhelm Grimm vom 15. September 1845 ist zu lesen, in welche engen Bahnen er seine Adressaten lenkte: Die Extreme von dem, was ich behandle, sind Rousseau, Bernardin de St. Pierre in ,Paul et Virginie'. Nicht Buffon der nur prächtig ist, Georg Forsters Beschreibung] von Otahiti, Chateaubriand. // Idem rettet sich wohl nicht viel das mittelalterliche germanische Element? Ich bitte bloss um Meinungen, Aus195 Olfers, S. 106f. 196 Ebd.
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spriiche, leitende Ideen, ich brauche von Ihnen keine Beweise. Nach der Natur meines Buches erlaube ich mir bloss Nennung von Namen, Hinweisungen. 197
Die genannten Autoren geben eine ideengeschichtliche und ästhetische Norm vor, auf das alles Frühere vorbereiten wird, an dem es sich messen lassen muss. Die teleologische Geschichtschreibung, die in der Gegenwart den erfolgreichen Abschluss der vorbereitenden Jahrhunderte erkennt, hatte Humboldt zwar im Blick auf die aktuelle Politik abgelehnt. Im literaturgeschichtlichen Teil des Kosmos kann er sich der Suggestion einer solchen legitimierenden Historiographie nicht entziehen. Der Erfolg des modernen Empfindens verweist die älteren Vorläufer zugleich auf die niederen Ränge. Eine polarisierende Bewertung leitet die Ubersicht über die Quellen. Humboldt kündigt denn auch Wilhelm Grimm einen Aufsatz an „über mangelndes oder in Beschreibungen überströmendes Naturgefühl verschiedener Völkerrassen und verschiedener Zeitepochen."198 Zugleich wird Grimm eingeladen, seine Auskünfte an der Grenze zwischen „Natursinn" und „eigentlicher Sentimentalität", offenbar im Sinne Schillers, anzuordnen. Was dabei zu erwarten ist, nimmt Humboldt vorweg: „Eigene und individuelle (von wirklicher Landschaft hergenommene) Naturbeschreibung gab es wohl nicht: das Naturbeschreibende ist wohl nur Beiwerk, abgerechnet die ewigen Beschreibungen der Jahreszeiten, des Sonnenaufganges?" Es folgen flüchtige Nachfragen nach spezifischen Gattungen und ihrer Ergiebigkeit für die Fragestellung. Die verbindlichen und sorgfältigen Antworten Wilhelm und auch Jacob Grimms vom 20. September 1845 können Humboldts Vermutungen nur noch absegnen, indem sie sich der gleichen negierenden Syntax bedienen: „so haben die älteren dichter sich niemals einer abgesonderten Naturschilderung hingegeben als einer solchen, die kein anderes ziel hat als den eindruck der landschaft aufdas gemüt.mit den glänzendsten Farben darzustellen."199 Um dennoch eine Universalgeschichte des poetischen Naturgefuhls schreiben zu können, läßt sich Humboldt auf fünf verschiedene Operationen ein: die finalistische Bewertung geeigneter Beispiele aus der Geschichte; die Kritik jener älteren Autoren, die am Naturgefühl scheitern; die Kompensation fehlender Dokumente durch die Würdigung von kollektiven Tugenden, die sich nicht in literarischen Texten manifestieren; die abermalige Bestätigung der großen kanonischen Autoren; schließlich die Einfügung eigener Landschaftsskizzen in jene historischen Abschnitte, die besonders arm erscheinen. Zunächst also werden Zeugnisse der älteren Literatur in eine Teleologie eingearbeitet, die dann bei Goethe und Chateaubriand ihr Ziel erreicht. 197 Brief vom 15. Sept. 1845, Abschrift der Alexander von Humboldt-Forschungsstelle. 198 Ebd. 199 Zit. n. der Transkription der Humboldt-Forschungsstelle.
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„Landschaftliche Schilderungen" seien „schon [!] häufiger in die Romane der griechischen Prosaiker eingewebt."200 Bei Cicero fänden sich „Anklänge tiefer Gemütlichkeit", wo nicht „Anklänge moderner Sentimentalität."201 Bei Basilius dem Großen „sprechen sich [...] Gefühle aus, welche sich mit denen der modernen Zeit weit inniger verschmelzen als alles, was uns aus dem griechischen und römischen Alterthume überkommen ist."202 Das Buch Ruth erscheint durch Goethes Zustimmung geadelt.203 Das Tagebuch des Kolumbus kann als Zeugnis für die Epoche der großen Entdeckungen herangezogen werden, „welche jene moderne Stimmung vorbereiteten."204 Humboldt findet darin offenbar erstmals genau jene Subjektivität wieder, die seine gesamte Darstellung leitet: „Wir lernen hier aus dem Tagebuche eines litterarisch ganz ungebildeten Seemannes, welche Macht die Schönheit der Natur in ihrer individuellen Gestaltung auf ein empfängliches Gemüth auszuüben vermag. Gefühle veredeln die Sprache [...] Individualität des Beobachteten führt allein zur Naturwahrheit in der Darstellung."205 Im späten 18. Jahrhundert gelangt dann die Geschichte des poetischen Naturgefühls endlich an ihr Ziel, Humboldt nennt mit uneingeschränkter Zustimmung Rousseau, Bernardin de St. Pierre, Chateaubriand, Georg Forster und Goethe. Die zweite Argumentationslinie spricht den älteren Quellen die gesuchten Qualitäten ab. Die „Aeußerungen der Naturgefühle" bieten sich „nur sparsam dar", „Naturdichtung als ein abgesonderter Zweig der Litteratur war den Griechen völlig fremd. Auch die Landschaft erscheint bei ihnen nur als Hintergrund."206 Es fehle den didaktischen Gattungen „das innere Leben, eine begeisterte Anschauung der Natur."207 Was schon bei den Griechen vermisst werde, sei „noch sparsamer bei den Römern zu finden."208 „Das Romantische der Naturscenen beschäftigte sie nie."209 Es sei „zu bedauern, daß Tibullus keine große naturbeschreibende Composition von individuellem Charakter hat hinterlassen können"210 - als hätte es nur geringfügig günstigerer Umstände bedurft, damit dies möglich würde. Wer aber tätig wurde, versagt: „Eine gewisse rednerische Ausbildung des Styls konnte nicht ersetzen, was an einfachem Gefühl und idealisierender 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210
K,S. K, S. K, S. K, S. K,S. K,S. K,S. K,S. K,S. K,S. K,S.
195. 197. 202 212. 220. 216. 191 f. 193. 195. 200. 198.
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Begeisterung abging."211 Allenthalben drängt sich das moderne Bewusstsein in die Aufzählung historischer Kulturen. Die römische Nation, in der das Landleben eine so große Rolle gespielt habe, „hätte zu anderen Hoffnungen berechtigt."212 Die dritte Argumentationslinie gleicht den Mangel an geeigneten Zeugnissen durch den Hinweis auf die vorzüglichen Charaktereigenschaften eines Volkes aus. Zwar sollte das authentische Naturgefühl nicht anders als in literarischen Texten überliefert sein, wie es anfangs hieß. Mit der Bezeichnung der „Litteratur als dem geistigen Ausdruck alles Volkssinnes"213 ist aber auch die Möglichkeit angedeutet, von dieser literarischen Uberlieferung absehend unmittelbar vom Volkssinn zu sprechen. Und Humboldt tut es. Er schreibt, dass ein „inniges, alles durchdringendes Naturgefühl aus den germanischen Sitten und allen Einrichtungen des Lebens, ja aus dem Hange zur Freiheit hervorleuchtet]." 214 Geeignete Belege dafür sind dann kaum noch anzuführen. So gerät der Kosmos passagenweise in den Sog einer nationalen Literaturgeschichtschreibung, die einen Nationalcharakter hypostasiert, noch bevor es eine Nation und geeignete Zeugnisse dafür geben kann. Das Lob der germanischen Sitten verschleiert aber nur vorübergehend Humboldts eigentliche Präferenz. Sie liegt nach wie vor im Altertum, zumal im griechischen. Auch hier jedoch wird der für das Naturgefühl doch dürftige Quellenbefund gewaltsam ausgeglichen. Humboldt vermisst die Sensibilität für die Natur „nicht in der Empfänglichkeit des griechischen Volkes, sondern in den Richtungen seiner litterarischen Productivität."215 Im Grunde kann Humboldt zwar nur Schillers Urteil Recht geben, der in den Dichtwerken der Griechen nichts Sentimentalisches findet. Aber noch auf der letzten Seite des Kapitels werden die „großen Werke des Alterthums" als unabdingbares Pensum in der Schule der modernen Landschaftsbeschreibung ausgegeben216 - ein Beweis mehr dafür, wie sehr Humboldts Neuhumanismus in der Tradition der Rhetorik und Poetik steht. Das Kapitel endet denn auch mit einem Lobpreis auf Goethe. Er habe das „Bündniß [erneuert], welches im Jugendalter der Menschheit Philosophie, Physik und Dichtung mit einem Bande umschlang."217 Die historische Zeit, die das Kapitel über Naturbeschreibung erzählend durchlaufen musste, wird getilgt, indem der Zeitgenosse Goethe und die alten Grie211 212 213 214 215 216 217
K,S. K, S. K, S. K,S. K,S. K,S. K, S.
198. 196. 196. 204. 195. 224. 224.
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chen gleichermaßen als exemplarische Erscheinungen des Menschengeschlechtes gepriesen werden. Die Gattung Mensch, von Natur aus zu Philosophie, Physik und Dichtung disponiert, erscheint in ihnen als Humanität, als zugleich historisch individualisierte wie klassische Manifestation einer idealen Gesamtheit aller logischen und ästhetischen Vermögen. Der Leser wird abschließend eingeladen, sich von dieser Humanität gewinnen zu lassen, indem Humboldt rhetorisch fragt: „Wer hat mächtiger hingezogen in das ihm geistig heimische Land, wo // Ein sanfter Wind vom lauen Himmel weht, / / Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?" Das zitierte Lied der Mignon ist aber eben kein spontaner Ausdruck umfassender Menschlichkeit, die fühlt, was sie erfährt, und bedenkt. Weder singt es von Goethes authentischer Italienerfahrung, schon gar nicht zeugt es von seinem pflanzengeographischen Studium. Es ist vielmehr das Ergebnis der suggestiven Subjektivierung einer seit Jahrhunderten bewährten Topik.218 Humboldts Versehen, wenn es denn eines ist, ergibt sich konsequent aus der Anlage des gesamten Kapitels. Denn im Grunde geht es ihm nicht um die Zusammenstellung von landschaftsbeschreibenden Texten, sondern um die Anpassung des anerkannten literarischen Kanons an eine moderne, naturempfindende und naturerforschende Bildung, die vor der Weltgeschichte legitimiert werden soll. Dabei bleibt der Kanon durchaus unangetastet,219 und so müssen denn auch Homer, Sophokles, Lukrez, Dante, Ariost, Calderon, Camöens, Shakespeare und Goethe genannt werden, mögen sie im übrigen Landschaften beschrieben haben so viel oder so wenig sie wollten. Bezeichnend für diese Reduktion des gesuchten Naturgefühls auf den klassischen Bestand ist Humboldts Brief an Tieck, indem es wirklich nur noch um die Nennung obligatorischer Namen zu gehen scheint: „Ich flehte um Bezeichnung durch einen symbolischen Seidenfaden, ohne allen schriftlichen Commentar [...] von zwei Stellen des Calderon und eines gewissen Shakespeare, den Sie vielleicht auf dem Tische haben, in denen sich Naturgefühl und ein Hang zu Naturbeschreibung finden."220 Das Gefühl der Natur, es soll in den Klassikern leben seit je; nicht weil Humboldts Leser eingeladen werden, es in ihren Texten zu studieren, sondern weil dieses neue Naturgefühl durch die bedeutendsten Namen legitimiert werden soll. Dies kann nur durch die konsequente
218 Zum topischen Charakter des Gedichtes vgl. Werner Ross: ,Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?' Zur Vorgeschichte einer Goethe-Strophe, in: Germanisch-romanische Monatsschrift N.F. 33 (1951/1952), S. 172-188. Vgl. auch den Kommentar von HansJürgen Schings zu Wilhelm Meister; MA, Bd. 5, S. 743. 219 Zur enthistorisierenden Wirkung des Kanons vgl. Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis, S. 62. 220 Karl von Holtei (Hg.): Briefe an Ludwig Tieck, Bd. 2, Breslau 1864, S. 27.
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Kontamination von Kanon und Landschaftsschilderung geschehen, auch wenn sie dabei passagenweise gewaltsam verfahrt. Ein so imposanter Kanon kann dann durch Humboldt auch um einige bislang weniger bekannte Namen erweitert werden. Christoph Kolumbus nimmt sich in der Liste exzentrisch aus, nicht jedoch, wenn alles auf die Empirie der Naturwahrnehmung ankommt, die der Schilderung zugrundeliegt. Auf den letzten Seiten des Kapitels schließlich legt Humboldt ein persönliches Bekenntnis zu jenen Autoren ab, die ihrerseits den Autor Humboldt geprägt haben. „Der Schriftsteller, welcher in unserer vaterländischen Litteratur nach meinem Gefühle [!] am kräftigsten und am gelungensten den Weg in dieser Richtung eröffnet hat, ist mein berühmter Lehrer und Freund Georg Forster gewesen. Durch ihn begann eine neue Ära wissenschaftlicher Reisen [...]." 221 Hier wie in den Zeilen über Bemardin de St. Pierre wirft der Gewürdigte seinen Glanz zurück auf den Laudator. Bemardin de St. Pierre's Meisterwerk Paul und Virginia hat mich in die Zone begleitet, der es seine Entstehung verdankt. Viele Jahre lang ist es von mir und meinem theuren Begleiter und Freunde Bonpland gelesen worden: dort nun (man verzeihe den Anruf an das eigene Gefühl) in dem stillen Glänze des südlichen Himmels, oder wenn in der Regenzeit, am Ufer des Orinoco, der Blitz krachend den Wald erleuchtete, wurden wir beide von der bewundernswürdigen Wahrheit durchdrungen, mit der in jener kleinen Schrift die mächtige Tropennatur in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit dargestellt ist.222
Die Stimme des Literarhistorikers reiht sich unauffällig in den Chor der kanonischen Dichter mit ein, deren Erbe er antritt. Aber schon in vorangehenden Passagen ist Humboldt, der bekannte Prosaiker exotischer Landschaften gelegentlich zu hören. Wo es nämlich wirklich gar nichts zu finden gibt, was den Klassikern der Literatur und dem sentimentalischen Wanderer durch empirische Landschaften gemeinsam ist, da verleiht der Beschreibungskünstler Humboldt den jahrhundertelang vernachlässigten Landstrichen eine Stimme und bindet in seiner historischen Erzählung doch noch zusammen, was die Historie selbst nicht zusammenfügte: Die alten Römer und das Alpenglühen, den nach Tomi verbannten Ovid und die von Sommerblumen wogenden Steppen, die Araucana des Alonso de Ercilla und die Darstellung „mit ewigem Schnee bedeckter Vulkane, heißer Waldthäler und weit in das Land eindringender Meeresarme."223 221 K , S . 223.
222 K.S.221. 223 K, S. 218. „Von dem ewigen Schnee der Alpen, wenn sie sich am Abend oder frühen Morgen röthen, von der Schönheit des blauen Gletschereises, von der großartigen Natur der schweizerischen Landschaft ist keine Schilderung aus dem Alterthum auf uns gekommen" (S. 200). „Der Verbannte sah freilich nicht die Art von Steppen, welche im Sommer mit vier bis sechs Fuß hohen, saftreichen Kräutern dicht bedeckt sind und bei jedem Windeshauch das anmuthige Bild bewegter Blüthenwellen darbieten" (S. 197).
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Diese eigenartige Universalgeschichte des literarischen Naturgefühls, die um ihres Zusammenhangs willen so viele Namen nennt, die wenig beweisen,224 viel Tadel und meist sehr verhaltenes Lob ausspricht, von der Gegenwart in die fernste Vergangenheit springt und wieder zurück, sie empfiehlt dem Leser mit kleinen Naturskizzen, mit autobiographischen Bekenntnissen, ja durch die Kenntnis der physischen Welt selbst einen neuen ungenannten Klassiker, einen Schriftsteller, dem unausgesprochen ein Platz neben Chateaubriand und Goethe gebührt: es ist Alexander von Humboldt selbst. Das literaturgeschichtliche Kapitel des Kosmos legitimiert mit dem klassischen Kanon das moderne Naturgefühl. Zugleich macht es aus Humboldt, dem leidenschaftlichsten Botschafter der sentimentalischen Landschaftsbeschreibung, einen kanonischen Autor.
224 Eben darin bestätigt sich der Gattungscharakter des Abschnitts, der vor allem einen Kanon installieren will, also nach wenigen Auswahlkriterien ein komplexes Phänomen zur leichteren Handhabung vereinfacht. Gerade dieser Absicht wirken Bernhard von Cottas Briefe über Alexander von Humboldt's Kosmos, Bd. 2, o.O. 1849 entgegen, indem sie ausführlich aus den von Humboldt genannten Quellen zitieren und weitere Autoren nennen (S. 50-229).
Der Autor Humboldt: Von den klassischen Studien zum „Klassiker" der deutschen Literatur Humboldt als kanonischer Autor der deutschen Literatur Schon zu Lebzeiten ist Alexander von Humboldt der Rang eines bedeutenden Vertreters der deutschen Literatur zugeschrieben worden. Während man ihn international vor allem als Forscher, als Reisenden, als Wegbereiter politischer Befreiung achtet, dessen Name zur ehrenden Erinnerung Schulen und Städten, Flüssen und Gebirgen verliehen wurde,1 liegt in der deutschen Kulturgeschichte ein besonders starker Akzent auf dem Verfasser von Werken, die auf Dauer einen Platz im Kanon der deutschen Literatur beanspruchen.2 Dafür spricht die Präsenz der Ansichten und des Kosmos sowie geeigneter Blütenlesen in populären Reihen des Reclam- oder des Insel-Verlages. Ein Text wie die Ideen einer Geographie der Pflanzen wird zumindest als „Klassiker der Naturwissenschaft" in der nach dem Herausgeber Wilhelm Ostwald benannten Reihe in hohen Auflagen verbreitet. Auch die überwiegende Zahl der wissenschaftlichen und populären deutschen Literaturgeschichten würdigt Humboldts Gestalt und seine Werke. Dafür nur ein Beispiel: Rudolf von Gottschall, dessen Deutsche Nationalliteratur des 19. Jahrhunderts seit 1855 in mehreren Auflagen erschien, handelt Alexander von Humboldt unter der Überschrift „Deutsche Originalcharaktere" ab. Er bezeichnet ihn nicht nur als „Heros des Wissens und Forschens" und erinnert an ein „Wanderleben voll grandioser Poesie"; er sieht in ihm auch den Vermittler der „Überlieferungen des Goethe-Schiller'schen Kreises" an jüngere Generationen und bezeichnet die 1
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Ulrich-Dieter Oppitz: Der Name der Brüder Humboldt in aller Welt, in: Heinrich Pfeiffer (Hg.): Alexander von Humboldt. Werk und Weltgeltung, München: Piper 1969, S. 2 7 7 - 4 2 9 (Dokumentation). Vgl. Nicolaas A. Rupke: Die Popularisierung Alexander von Humboldts in der europäischen Zeitschriftenliteratur bis zur deutschen Reichsgründung, in: Gudrun Wolfschmidt (Hg.): Popularisierung der Naturwissenschaften, Diepholz, Berlin: GNT-Verlag: 2002, S. 223-237. Rupke befasst sich mit der Rezeptionsgeschichte, die gegenüber dem wissenschaftlichen Gehalt der Werke „die angebliche Tatsache, daß diese ein Teil der deutschen Literatur waren" betont (S. 233). Rupke sieht die Propagierung eines „Goethe der deutschen Naturwissenschaft" und eines Klassikers der deutschen, nicht also französischen Literatur im Zusammenhang der deutschen Einigung und Reichsgründung (S. 234). Franz Schnabel dagegen meint, auch international gelte Humboldts Ansehen weniger der deutschen Wissenschaft als der deutschen Literatur (Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Band: Erfahrungswissenschaft und Technik, 2. Aufl., Freiburg: Herder 1950, S. 205).
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Ansichten der Natur, vor allem aber den Kosmos als „ein nationales Vermächtnis des greisen Gelehrten". Gelobt wird der „Stil, der ebenso wissenschaftlich angemessen, wie geschmackvoll gefugt und frisch und lebendig" sei. Weiter ist davon die Rede, dass Humboldt die „Wissenschaft durch klassische Geschmacksbildung" geadelt habe. Von Gottschall fasst zusammen: „Der Einfluß auf das ganze geistige Leben, auf die poetische Naüonallitteratur konnte nicht ausbleiben."3 Die Selbstverständlichkeit, mit der geschichtliche Darstellungen wie die zitierte Humboldt zur Nationalliteratur zählen, ist zunächst überraschend, denn die immer wieder genannten Titel gehören nicht zu den üblichen Texten in einem Kanon deutscher Klassiker. Die Reise in die Aquinoktialgegenden des Neuen Kontinents hatte Humboldt ja auf Französisch verfasst, und bis in die jüngste Zeit blieb die Geschichte der deutschen Übersetzungen höchst problematisch.4 Die Ansichten der Natur und der Kosmos, die noch häufiger genannt werden als die Reisebeschreibung, sind im Grunde naturkundliche Abhandlungen mit einem gewaltigen Apparat wissenschaftlicher Anmerkungen, also auch nicht der bevorzugte Gegenstand literarhistorischer Würdigungen. Soweit aber Literaturgeschichten darüber entscheiden, wer vermöge seiner Werke einen Anspruch darauf hat, die nationale Kultur seiner Epoche zu repräsentieren, herrscht bis heute Einigkeit darüber, dass Alexander von Humboldt dazugehören soll.5 3
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Die deutsche Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Literarhistorisch und kritisch dargestellt von Rudolf von Gottschall, 6., vermehrte und verbesserte Auflage, Breslau: Eduard Trewendt 1891, S. 18-20. Im Übrigen wird Humboldt als Wegbereiter des Gottschall wichtigen poetischen Realismus gegen die Dichter der Romantik ausgespielt. Die Bemerkung von Heinrich Kurz, Humboldt gelte in Frankreich seit seiner Voyage als „classischer Schriftsteller", bildet, soweit ich sehe, in der deutschen Literaturgeschichtschreibung des 19. Jahrhunderts, eine Ausnahme. Heinrich Kurz: Geschichte der deutschen Literatur mit ausgewählten Stücken der vorzüglichsten Schriftsteller, Leipzig: Teubner 1859, 3. Bd., S. 763. Werner Kohlschmidt: Geschichte der deutschen Literatur vom Jungen Deutschland bis zum Naturalismus, Stuttgart: Reclam 1975; Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur zwischen Restauration und Revolution. 1815-1848, 3 Bde., Stuttgart: Metzler 19711980 (zahlreiche Nennungen und eingehendere Charakterisierungen); Hans-Dietrich Dahnke, Thomas Höhle, Hans-Georg Werner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur 1789-1830, Berlin: Volk und Wissen 1978 (=Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis zur Gegenwart, hg. von Klaus Gysi u.a., Bd. 7); Horst-Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Reinbek bei Hamburg, Bd. 6, 1980, S. 180ff., Bd. 7, 1982, S. 97ff. Gert Ueding: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution 1789-1815, München, Wien: Hanser 1987 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 4), S. 112f., 781 f.; Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Zweiter Teil: Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration 1806-1830, München: Beck 1989, S. 203f.; Wolfgang Rohe: Literatur und Naturwissenschaften, in: Edward Mclnnes und Gerhard Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848—1890 (= Hansers Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 6), München, Wien: Hanser 1996, S. 211-241. Neues Handbuch
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In Deutschland erscheinende Handbücher der Weltliteratur reservieren ihm ebenfalls einen sicheren Platz.6 Der Klassikerstatus von Werken wie Ansichten der Natur oder Kosmos entscheidet sich dabei offensichtlich nicht allein durch die literarische Maßgeblichkeit dieser Texte. Beteiligt daran sind Mechanismen der öffentlichen Zuschreibung von kultureller Geltung, die wie im Falle Gottschalls ebenso auf plakative Elemente der Biographie zurückgreifen wie auf eingängige Ideen des gewürdigten Autors. Vom „Heros des Wissens und Forschens" wendet sich erst der Blick zu dem literarischen Werk, in dem sich die exzeptionelle Leistung des bedeutenden Mannes niederschlägt. Die Literatur wird hier nicht in einer Geschichte von Texten als Artefakten erwähnt, sondern insofern sie die Kultur der Epoche repräsentiert, wozu sie sich allerdings nur qualifiziert, wenn sie irgendwie schön ist. So rechnet auch Robert Prutz den Kosmos zu den „Werken von der allgemeinsten kulturhistorischen Bedeutung und der künstlerischen Form".7 Ein Autor deutscher Sprache wird in der Literaturgeschichtschreibung bevorzugt zum Symbol der Nationalkultur, wenn er überhaupt allgemein wahrgenommene Texte hinterlässt. In Deutschland sind nämlich unter den verschiedenen Möglichkeiten, zum Repräsentanten nationaler Kultur und Geschichte zu avancieren, literarische Leistungen besonders begünstigt, seit die Glanzzeit der Dichtung um 1800 dem deutschen Publikum über die Enttäuschungen politischer Niederlagen und Stagnationen hinweghalf.8 Die Literatur von Weimar und Jena und ihre großen Exponenten konnten in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Repräsentanten der Nation schlechthin gelten. Humboldt hatte sich mit diesem Gedanken angefreundet, und verstand ihn zu seinem Vorteil zu nutzen. An Ludwig Tieck schrieb er schmeichelnd von den „drei Heroen unseres Vaterlandes, Göthe, Tieck und Schiller."9 Humboldt fehlt in dieser Reihe, doch noch
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der Literaturwissenschaft, hg. von Klaus von See, Wiesbaden: Athenaion, Bd. 17, Europäische Romantik I—III (1980). Heinrich Hudde: Naturschilderung bei den Rousseaunachfolgern, in: Klaus Heitmann (Hg.): Europäische Romantik. Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 15), Wiesbaden: Athenaion 1982, S. 135-152. Kindlers Neues Literaturlexikon, hg. von Walter Jens, Bd. 8, S. 189-192 {Ansichten der Natur und Kosmos). Das Buch der 1000 Bücher. Autoren, Geschichte, Inhalt und Wirkung, hg. von Joachim Kaiser, Dortmund: Harenberg 2002, S. 533 (Artikel von Christoph Wetzel über Kosmos). Robert Prutz: Begriff, Wesen und geschichtliche Entwicklung der Literaturgeschichte als Wissenschaft, in: ders.: Schriften zur Literatur und Politik, hg. von Bernd Hüppauf, Tübingen Niemeyer 1973, S. 107-131, hier S. 120. Vgl. Maximilian Nutz: Das Beispiel Goethe. Zur Konstituierung eines nationalen Klassikers, in: Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S. 605-637, hier S. 612. Karl Holtei (Hg.): Briefe an Tieck, Bd. 2, Breslau 1864, S. 29. Vgl. auch den Brief an Ignaz von Olfers von 1838: Humboldt habe Goethe und Schiller gekannt, Rückert und Tieck weniger (S. 25).
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zu seinen Lebzeiten sollten andere dafür sorgen, dass er sie fortsetzte: „die Heroen der Poesie sind nicht mehr, aber Deutschland hat noch einen Alexander von Humboldt"10 Die Klassikertauglichkeit von jüngeren Kandidaten konnte sich nach Goethes Tod durch ihre Vereinbarkeit mit dem Paradigma des klassischen Erbes oder gar durch den Nachweis unmittelbarer Filiationen erweisen. Genau so sieht es auch Alfred Dove in seinem Artikel für die Λllgemeine deutsche Biographie, die schon zitiert wurde. Humboldt wurde zum Symbol seiner Epoche, indem er Goethes Erbschaft antrat. Dass Humboldt so gut wie Goethe schrieb, war für diese Nachfolge nicht Voraussetzung, dass er als junger Mann mit Goethe zu tun gehabt hatte und wie Goethe Natur für zugleich wahr, schön und gut hielt, hingegen schon. Alexander von Humboldt war daher aus biographischen und ideengeschichtlichen Gründen durch die Literaturgeschichtschreibung begünstigt. Während einige Literarhistoriker ihn wohl nur deswegen berücksichtigten, weil er einst zum Kreis um Goethe und Schiller dazugehörte, ja den ganzen Komplex Weimar-Jena durch seinen nachmaligen Weltruhm aufwertete,11 betonten andere dagegen seine Beteiligung an den ideellen und literarischen Traditionen, die von Weimar in das spätere 19. Jahrhundert führen. Auch Rudolf von Gottschall strich heraus, dass mit Alexander von Humboldt die Gegenwartsliteratur unmittelbar an das Erbe der deutschen Klassik anzuschließen und damit ein vielversprechender Boden für die Literatur der Zukunft bereitet sei. Die seinerzeit moderne Literatur des poetischen Realismus sollte in Humboldt ihr Vorbild erkennen.12 Während die Rezeption in der Literaturgeschichtschreibung offensichtlich ist, offenbart sich die literarische Rezeption wohl in den meisten Fällen nicht so ausdrücklich wie in Stifters Nachsommer, dessen Held und IchErzähler unter allen Bänden die er in einer wohlbestückten Privatbibliothek findet, ausgerechnet Humboldts Reise auswählt.13 Damit konnte dem 10 11
J.[ohann] W.[ilhelm] Schäfer: Handbuch der Geschichte der deutschen Literatur, Bremen: Schünemann 1855, S. 538. Vgl. etwa August Koberstein: Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Fünfte, umgearbeitete Aufl. von Karl Bartsch, 3. Bd: Vom zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts bis zu Goethes Tod, Zweiter Teil, Leipzig: F.C.W. Vogel 1873. Friedrich Vogt, Max Koch: Geschichte der Deutschen Literatur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Leipzig, Wien: Verlag des Bibliographischen Instituts 1897, S. 665; James K. Hosmer: A short history of German Literature, New York: Charles Scribner's 1899, S. 318. Bei Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Zweiter Band: Geist ( 1 7 4 0 1813), Berlin: Propyläen 1938, S. 395, liegt der Akzent auf der Kulturlandschaft Jena um
1800. 12 13
Vgl. auch Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Nationalliteratur, Bd. 2, Leipzig 1853, S. 556. Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Eine Erzählung, hg. von Max Stefl, Augsburg: Adam Kraft 1954.
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empirisch-naturwissenschaftlichen Denken der Epoche in unbestimmter Weise Genüge geschehen, ohne dass dabei die große Tradition und der künstlerische Anspruch zu opfern waren. Modernisierung und Traditionalismus schienen in der Biographie und im Werk Humboldts symbolhaft versöhnt. 14 Zu einem nationalen Symbol in Gestalt eines literarischen Klassikers wurde Humboldt also nicht allein, weil das Werk in Form und Gehalt durch seine Maßgeblichkeit aus der zeitgenössischen Produktion hervorragt. Repräsentant der Kultur seines Zeitalters wurde Humboldt vor allem dadurch, dass in seiner Person und seinem Denken die naturwissenschaftlich-technische Modernisierung mit der Gestalt einer nationalliterarischen und nationalkulturellen Überlieferung zu vereinbaren schien. Merkmale der Nationalliteratur mußten in seinen Schriften dabei freilich nachgewiesen werden. Da die bekanntesten Werke im Sinne einer kanonischen Literatur aber sicherlich höchst problematisch waren, einigten sich viele auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen Dichtung und beschreibender Wissenschaft: die schöne Sprache. Sie wird in den literargeschichtlichen Würdigungen des Autors Humboldt in stereotypen Wendungen als Totalität beschworen, die offenbar keiner weiteren Analyse bedarf. Schon Theodor Mündt lobte die „plastische Schönheit des Humboldt'schen Stils", tatsächlich noch in deutscher wie in französischer Sprache. 15 Andere sprechen vom „glänzendsten sprachlichen Gewand", 16 von der „innerlichst vergeistigte[n] Sprache mit poetischer Färbung", 17 von den „klassisch schön geschriebenen Werke[n]", 18 von „klassischer Prosa", 19 von „tiefstem Gehalt und klassischer Form", 2 0 von „unerreichter Schön-
14
Andere Literaturgeschichten, die mit Humboldt die Kontinuität zwischen Klassik und Realismus herausstreichen, sind: Alfred Biese: Deutsche Literaturgeschichte, Bd. 2: V o n Goethe bis Mörike, 15. Aufl., München: Oskar Beck 1919, S. 60S; Ernst Alker: Geschichte der deutschen Literatur von Goethes T o d bis zur Gegenwart, 1. Bd., Stuttgart: Cotta 1949, S. 76. Vgl. auch Ladislao Mittner: Storia della Letteratura tedesca II: Dal pietismo al romanticismo (1700-1820), Bd. 2, 2. Aufl., Turin: Einaudi 1982, S. 607.
15
Theodor Mündt: Allgemeine Literaturgeschichte. 3. Bd: Die Literatur der Revolutionsperiode, Berlin: Simion 1846, S. 345. Vgl. auch Th. Mündt: Geschichte der Literatur der G e genwart. Vorlesungen über deutsche, französische, englische, spanische, italienische [...] Literatur, Leipzig: Simions 1953, S. 367. W. Lindemann: Geschichte der deutschen Literatur, Freiburg: Herder 1866, S. 671. J.J. Honneger: Literatur und Cultur des Neunzehnten Jahrhunderts, Leipzig: J.J.Weber 1865, S. 73. Robert Koenig: Deutsche Literaturgeschichte, 11. Aufl., Bielefeld, Leipzig: Velhagen und Klasing 1881, S. 488. Hermann Kluge: Geschichte der deutschen National-Literatur. Zum Gebrauche an höheren Unterrichtsanstalten und zum Selbststudium bearbeitet von dems., 17. Aufl., Altenburg: Bonde 1886, S. 241 Gotthold Klee: Grundzüge der deutschen Literaturgeschichte für höhere Schulen und zum Selbstunterricht, 17. Aufl., Berlin: Bondi 1916, S. 136.
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heit, Kraft und Anschaulichkeit des Ausdrucks",21 zählen die Ideen einer Geographie der Pflanzen und die Ansichten zu „den bedeutendsten Prosawerken" der schönen Literatur,22 der Verfasser sei einer der „glänzensten Schilderer in deutscher Sprache"23, seine Sprache sei „eine edle."24 Selbst skeptischere Literarhistoriker, die sich kritisch mit Humboldts Leistungen und Stil befassen, stehen sichtlich im Banne der einmal vollzogenen Kanonisierung dieses Autors, indem sie in ihren Darstellungen doch nicht auf seine Erwähnung verzichten zu können glauben.25 Als fester Bestandteil der Literaturgeschichte überlebt Humboldt dann immerhin in der Parodie auf seinen Stil in Immermanns Münchhausen.26 Aus dem offiziellen Kanon kann er wohl nur verdrängt werden, um in einem negativen Kanon einen zweifelhaften Ruhm zu bewahren.27 Die stereotype Betonung der schönen Sprache bezieht sich in der Literaturgeschichtschreibung nicht auf die spezifische Zeichenhaftigkeit eines poetischen Kunstwerks, es beschwört immer zugleich die Mutter21 22
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24 25
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Friedrich Kummer: Deutsche Literaturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Dresden: Carl Reißner 1909, S. 186. Otto von Leixner: Geschichte der deutschen Literatur. Zweiter Teil, Leipzig: Spamer 1910, S. 572. Vgl. auch Karl Storck: Deutsche Literaturgeschichte, 8. Aufl., Stuttgart: Muth 1919, 5. 386: Die Ansichten und der Kosmos gehören „zu den bedeutendsten Prosawerken der deutschen Literatur". Adolf Bartels: Geschichte der deutschen Literatur. Große Ausgabe, 2. Bd.: Die neuere Zeit, Leipzig Haessel 1924, S. 201. Dass Humboldts Vorbild in dieser Hinsicht Varnhagen von Ense gewesen sei, unterdrückt Bartels, der diese Freundschaft zum Anlass für einen antisemitischen Ausfall nimmt. Ludwig Salomon: Geschichte der deutschen Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts, Stuttgart: Levy und Müller 1881, S. 221. Vgl. etwa Eduard Engel: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Leipzig, Wien: Freytag Tempsky 1906, S. 1151: Der Kosmos sei ein Musterbeispiel für die „rettungslose Vergänglichkeit selbst der wertvollsten wissenschaftlichen Literatur" und müsse „jeden nichtschöpferischen Schriftsteller zur Bescheidenheit mahnen." Den Stil der „etwas gar zu poetisch stilisierten" Ansichten kritisiert Richard M. Meyer: Die deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. und fortgesetzt von Hugo Bieber, 6. Aufl., Berlin: Bondi 1921, S. 15. Schon Wilhelm Scherer wies auf die Problematik eines beschreibenden Stils hin, der auf termini technici nicht verzichte und daher „Goethes Anschaulichkeit" nicht erreiche. Wieder zementiert der Vergleich mit Goethe einen Zusammenhang, der durch die absprechende Bewertung Humboldts dann nicht mehr aufgelöst werden kann. Wilhelm Scherer: Geschichte der Deutschen Literatur, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1883, S. 622. Hugo Bieber: Der Kampf um die Tradition. Die deutsche Dichtung im europäischen Geistesleben 1830-1880, Stuttgart: Metzler 1928 (=Epochen der deutschen Literatur. Geschichtliche Darstellungen, hg. von Julius Zeitler, Bd. 5), S. 186. Vgl. auch Ludwig Reimers: Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa, München: Beck 1991, S. 216f. Humboldt dient hier als abschreckendes Beispiel für den exzessiven Gebrauch von „blumigen Beiwörtern". Alfred Estermann: „Die besten Bücher aller Zeiten und Litteraturen". Studien zu einer Umfrage aus dem Jahre 1889, in: Archiv zur Geschichte des Buchwesens 31 (1988), S. 259—268. Eduard von Hartmann zählt dort den Kosmos zu den „Büchern, welche auszuschließen sind" (S. 266).
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spräche als Existenzweise der Kulturgemeinschaft, die zugleich Nation ist. Humboldt versuchte mit seinem Kosmos den besonderen Qualitäten der deutschen Sprache gerecht zu werden und ihre Eigentümlichkeiten zu nutzen.28 Die Rede ist von der „Bildsamkeit unserer deutschen Sprache" und „unserer herrlichen, schmiegsamen, harmonischen, darstellenden Sprache."29 Nicht zuletzt der Ausprägung eines betont deutschen Schreibstils dienten die ausführlichen Beratungen mit Varnhagen von Ense. Dem Autographensammler Varnhagen überließ Humboldt dann auch gerne den handschriftlichen Brief Friedrich Rückerts vom März 1846, in dem er schreibt: „Gott gebe Ihnen recht viele gute Stunden zur glücklichen Vollendung Ihres großen Werkes, das mir gegenwärtig mehr am Herzen liegt, als irgend ein eigenes. Denn es ist das Ehrenmal Deutschlands, seine Vertretung vor Europa, und ich bin als Deutscher stolz darauf, daß Sie's nicht französisch geschrieben haben."30 Rückerts Enthusiasmus ist durch einige Passagen des Kosmos gedeckt, die ebenfalls die besondere Qualität der deutschen Sprache preisen, ein Lob, das wohl auf das Buch zurückfallen soll und für dieses Buch in Anspruch nimmt, zur „intellectuellen Einheit des Vaterlandes" beizutragen: Darum ist das Wort mehr als Zeichen und Form, und sein geheimnißvoller Einfluß offenbart sich am mächtigsten da, wo er dem freien Volkssinn und dem eigenen Boden entsprießt. Stolz auf das Vaterland, dessen intellectuelle Einheit die Stütze jeder Kraftäußerung ist, wenden wir froh den Blick auf diese Vorzüge der Heimath. Hochbeglückt dürfen wir den nennen, der bei der lebendigen Darstellung der Phänomene des Weltalls aus den Tiefen einer Sprache schöpfen kann, die seit Jahrhunderten so mächdg auf Alles eingewirkt hat, was durch Erhöhung und ungebundene Anwendung geistiger Kräfte, in dem Gebiete schöpferischer Phantasie, wie in dem der ergründenden Vernunft, die Schicksale der Menschheit bewegt.31
Scheint also einerseits die Erhebung Humboldts zum deutschen Nationalautor zum Teil die Folge eines Ruhmes, der nicht unmittelbar literarischen Meriten zu verdanken ist, so hat doch auch der Schriftsteller Humboldt schon früh daran gearbeitet, einst diesen Status erreichen zu können. Die Möglichkeiten, ein öffentliches Interesse für seine Schriften zu wecken, das schließlich zu einem internationalen und im emphatischen Sinne 28
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Gelegentlich gesteht Humboldt seinem Verleger Cotta, der auch geschäftlich auf die Entwicklung eines nationalliterarischen Marktes setzte, „daß an der deutschen Stimmung mir, dem Greise, viel liegt", und fügt hinzu, das „habe ich Ihnen ja in Horchheim in der großen Naivität meines Charakters gestanden." (Brief vom 28.11.1847). Diese Passage, wenn überhaupt eine bei Humboldt, lädt zur dekonstruktiven Lektüre ein. Varnhagen, S. 186 und S. 215. Varnhagen, S. 206. K, S. 26.
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nationalen Interesse wurde, diese Möglichkeiten hat er wahrgenommen. Es beginnt mit der Performation deutscher Sprache, es setzt sich fort in der Wahl von symbolträchtigen Inhalten, etwa der Natur, die nicht nur eine wissenschaftlich erforschte, sondern auch eine schöne und erhabene ist; es geht um die Verwendung von Gattungen und Formen, die eine heterogene Leserschaft integrieren, es geht schließlich um die Profilierung als öffentliche Autorgestalt, an der in den Schriften selbst und ihrem Kontext gefeilt wird. Schon die Zeitgenossen konnten jedoch erkennen, dass die Qualifizierung Humboldts zum Nationalautor auch ein Effekt schon weit zurückliegender früher Prägungen war, der späte Erfolg einer Epoche, die für die Produktion von symbolträchtigen Werken in besonderer Weise disponiert war. Die Verallgemeinerung des differenzierten Wissens, die als besondere Leistung Humboldts gewürdigt wurde, zehrte von einem älteren Verständnis von Literatur, das von eben der modernen Differenzierung und Spezialisierung der Wissenschaft wie des literarischen Marktes noch nicht geprägt war.
Humboldts Erziehung zum Schriftsteller: drei historische Modelle von Autorschaft Der junge Privatschüler Humboldt wurde zunächst mit einem Amalgam von drei Autortypen vertraut gemacht, wobei es jeweils nicht um die Vorbereitung auf spezialisierte wissenschaftliche Arbeit ging, sondern um generalisierbare Fähigkeiten. Im Unterricht wurde ihm Logik, Grammatik, Rhetorik und in gewissem Umfang Poetik vermittelt. Dabei wirkte ein aus dem 17. Jahrhundert überkommenes Verständnis von Autorschaft noch nach. Es geht zunächst um die Vorbereitung auf die akademische Laufbahn, die als solche mit der Veröffentlichung von Schriften verbunden ist und gegebenenfalls mit der Existenz eines poeta doctus verschmelzen kann. Zum Autor wird ein Zögling dabei, indem er sich systematisch und methodisch die überlieferten Regeln und Normen aneignet. Die gründliche Kenntnis der Autoritates legitimiert den Verfasser und setzt ihn in ein Verhältnis der Nachahmung und Uberbietung seiner Vorbilder. Diesem traditionellen Autorkonzept blieb Humboldt zeit seines Lebens verpflichtet. Es war für seine schriftstellerische Tätigkeit nicht ausschließlich bestimmend, wurde in der Forschung jedoch bislang eher unterschätzt. Zum einen äußert es sich in der Sorgfalt, die bis zum Kosmos auf das „Oratorische" verwandt wird, vor allem in der Bedienung von adäquaten Stilniveaus. Zum anderen in der stetigen Beziehung auf die Quellen, unter denen die der römischen und griechischen Antike bis zuletzt einen besonderen Rang genießen. Zwar verjüngt sich dieses überkommene Autorbild
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im Laufe der Jahrzehnte durch das immer größere Gewicht empirischen Datenmaterials, durch die disziplinare Erneuerung des Quellenstudiums in der historiographischen und philologischen Praxis, durch Vergleiche mit den Überlieferungen weiterer Kulturkreise sowie durch die veränderten Funktionen, die dem Quellenstudium nun öffentlich zugeschrieben werden. Zeit seines Lebens aber wird Humboldt auch den traditionellen Typus des gelehrten Schriftstellers verkörpern. Ein Rhetoriker bleibt er bis zuletzt. Und noch 1856 porträtiert Eduard Hildebrandt Alexander von Humboldt in seinen privaten Arbeitsräumen zwischen überquellenden Bücherregalen, Zettelkästen, Kartenwerken und naturkundlichen Präparaten, antiken Plastiken und antikisierenden Büsten, indem er die Ikonographie des Gelehrten in seiner Studierstube aufruft (vgl. Abb. 10). Die Gestalt Humboldts, mit einem Manuskript auf den Knien, ist dabei nicht in die Mitte des Bildes piaziert, weil ihrem überdimensionierten Haupt in einigem Abstand und symmetrisch ein Globus gegenübergestellt ist, der das universale Wissen des Weisen und die physische Welt symbolisiert. 32 Im Zentrum der Darstellung gibt eine geöffnete Flügeltür den Blick auf ein nach oben gerichtetes Teleskop und einen Adler mit entfalteten Schwingen frei, Chiffren des erhabenen und sich erhebenden Geistes. Repräsentanten der moderneren speziellen Naturwissenschaften werden so nicht porträtiert. Ebenfalls noch in Jugendtagen wurde Humboldt zugleich im Sinne eines anderen Typs von Autorschaft erzogen. Dabei pflegen die Literaten geselligen Umgang, Briefwechsel und Gespräche als soziale und diskursive Vorstufen ihrer schriftstellerischen Betätigung. Diese Form der Soziaüsation zur Autorschaft ist charakteristisch für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Humboldt nutzte sie nicht nur, um bestimmte Textsorten (Dialog, Brief, Essai) einzuüben, sondern auch, um Zugang zu Institutionen und Organen zu finden, für die er publizieren konnte, das heißt zu halb öffentlichen literarischen und gelehrten Gesellschaften mit den ihnen affiliierten Zeitschriften. Zwar wurde in der wissenschaftlichen Publikationspraxis die Geselligkeit als Ausgangspunkt von Autorschaft in dem Maße überflüssig, in dem sich Disziplinen professionalisierten und sich eigene Institutionen mit dazugehörigen Zeitschriften und Jahrbüchern schufen. Auch in Humboldts Biographie wird diese neue Autorrolle des Fachwissenschaftlers eine Rolle spielen. Bis in den Kosmos hinein klingt hinter den fachwissenschaftlichen Erörterungen und den Regeln des Austauschs innerhalb einer oder mehrerer Scientific Communities jedoch immer noch die gesellige Kommunikation unter Gleichgesinnten an. So ist
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Haiina Nelken: Alexander von Humboldt. Bildnisse und Künstler. Eine dokumentierte Ikonographie, Berlin: Reimer 1980, S. 137.
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rekonstruiert worden, dass die extensiven Briefwechsel Humboldts mit einer Fülle von Partnern aus den unterschiedlichsten Bereichen der Wissenschaft, Kultur und des öffentlichen Lebens eine wichtige Vorstufe der eigentlichen schriftstellerischen Arbeit darstellen, die die Gestalt des fertigen Kosmos spürbar prägt.33 Die Versendung der Briefe an Vertreter ganz unterschiedlicher Fächer, Berufe und Funktionen zeigt dabei, dass die Korrespondenz nicht überwiegend disziplinäre Wissenschaft erschließt, sondern generell Wissen und im Grunde genommen „Welt". Die informellen Relationen spielen dabei eine wichtige Rolle. Der Verfasser des Kosmos erwähnt denn auch nicht seine Kollegen, zumal er ja niemals offiziell einem professionellen Kollegium beitrat, sondern bezieht sich auf eine Vielzahl von Persönlichkeiten, von Fra^ois Arago bis Ludwig Tieck, die es ihm gestatten, immer wieder seinen „Freunden" zu danken oder an „meinen Bruder" zu erinnern. Es sind Gepflogenheiten, die Humboldt vom geselligen 18. Jahrhundert über die Konversationskultur des frühen 19. bis in die vierziger und fünfziger Jahre bewahrt hat. Erleichtert wurde Humboldt die Praxis der geselligen, informellen Kommunikation durch seine Prominenz. Schon den Zeitgenossen musste die Fülle von Freundschaften und Beziehungen, auf die Humboldt zurückgreifen konnte, als Attribut eines in seiner Epoche sehr alt (und mächtig) Gewordenen erscheinen, nicht als Standard aktueller wissenschaftlicher Kommunikation. Eine dritte Variante der Sozialisation zum Schriftsteller erfuhr Humboldt durch die konsequente Einübung in subjektive und individualisierte Schreibweisen im Kontext der literarischen „Empfindsamkeit". Insofern sie sich vor allem auf die anthropologischen Voraussetzungen der Einbildungskraft und die Manifestationen der Empfindung berufen, treten sie gegen die Tradition des „poeta doctus" und des Schulgelehrten an, was nicht ausschließt, dass Schriftsteller dieser Epoche beiden Autorkonzeptionen zugleich verpflichtet blieben. Der Gedanke der unhintergehbaren Subjektivität von Autorschaft ist zwar vor allem für eine psychologisierende fiktionale Literatur folgenreich gewesen und hat zur Ausdifferenzierung eines autonomen Literaturbegriffs beigetragen. Indessen war auch für Humboldt, dessen Interessen vor allem der deskriptiven Naturforschung galten, die Einübung in diese Form subjektiver Autorschaft folgenreich. Das im engeren Sinne Autobiographische und die Thematisierung der eigenen Subjektivität, die in den frühen Privatbriefen so dominant sind, sollten in seiner publizistischen Praxis zwar so gut wie keine Rolle spielen. Humboldt hat denn auch alle autobiographischen Zeugnisse, die der psychologischen Selbstanalyse und dem Bekenntnis
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Vgl. Petra Werner: Himmel und Erde, S. 9 7 - 1 1 2 .
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gewidmet sind, vernichtet oder zumindest nicht zum Druck bestimmt. Dagegen spielen der anthropologische Zusammenhang von Subjektivität und Objektwelt und das Zusammenspiel von Ratio und Empfindung eine große Rolle in seinen Reflexionen zur Naturerkenntnis. Das Empfinden bleibt ein unverzichtbares Motiv der wissenschaftlichen Befassung mit Natur. Es erlaubt gelegentlich einen heuristischen Vorgriff auf größere, empirisch erst noch zu füllende Einheiten und Zusammenhänge. Subjektivität ist aber auch der Fokus, in dem sich ein gemischtes, aus allen gebildeten Ständen rekrutiertes Publikum bündeln läßt. Der Appell an die Empfindung wirkt als ein Angelpunkt der Totalisierung von Kenntnissen, aber auch als bevorzugtes Mittel der kulturellen Symbolisierung und Verallgemeinerung. Die drei Facetten der frühen literarischen Sozialisierung zeigen die Merkmale einer Übergangszeit, auch was die Unbestimmtheit dieser Propädeutik im Blick auf später denkbare professionelle Praxen des Schreibens betrifft. Ein angehender Schriftsteller, der wie Humboldt mit den genannten Autormodellen vertraut wurde, legte sich damit noch nicht auf ein Gebiet publizistischer Arbeit fest. Von seiner literarischen Sozialisation ausgehend hätte er Lyriker, Dramatiker, Romanschriftsteller, Philosoph, Universitätsprofessor, Staatsmann, Verwaltungsbeamter, Pädagoge werden können: Die Vorbereitung auf das Handwerk des Schreibens, die er schon früh genossen hatte, qualifizierte zu allem in gleichem Maße. In der Tat steht Humboldts Neigung zur Existenz eines „Litteraten" anfangs noch sehr im Zeichen der Unbestimmtheit. Zuerst befasste er sich mit sprachgeschichtlichen Überlegungen zur antiken Technik, dann mit Botanik, Geologie, Physiologie und Elektrizität zugleich, er verfolgte Pläne hinsichtlich der Philosophie der Natur, der Altphilologie wie der Universalgeschichte gleichermaßen. Neben gelehrten Abhandlungen schrieb er Aphorismen, einen fiktiven Dialog, eine Traumerzählung und eine didaktische, bekenntnishafte Briefe und solche mit amtlichen Berichten oder wissenschaftlichen Beobachtungen. Humboldts literarische Vielseitigkeit ist zunächst ein Effekt seiner weithin traditionellen Vorbereitung auf die Autorschaft, die noch kein dezidiertes Bekenntnis zur Autonomieästhetik oder zu streng ausdifferenzierter disziplinärer Wissenschaft verlangt. Von dieser Unbesdmmtheit bewahrt noch der Kosmos gewisse Merkmale. Wenn er einerseits verallgemeinert, was er aus einer Fülle von modernen Einzeldisziplinen und Detailkenntnissen zusammenträgt, so ist er doch zugleich auch das späte Produkt aufklärerischer Schreibweisen, die sich mit allem befassen können und dabei Philosophie, Wissenschaft und Ästhetik nicht getrennt behandeln müssen. Ob Humboldt nun den Traditionen einer empfindsamen, geselligen und gelehrten Schreibkultur bewusst treu blieb oder sich von ihrer deter-
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minierenden Wirkung zum Teil nicht lösen konnte — in jedem Fall ist diesem schriftstellerischen Konservativismus wohl ein Teil seines Erfolgs bei der viel jüngeren Leserschaft zuzuschreiben. In den traditionellen Elementen von Humboldts Schriften erkannte das Publikum Vertrautes wieder. E s ließ sich auf Pflanzengeographie, Vulkanismus, das Ansehen des Universums und die Fauna des Tropenwaldes sicherlich auch deswegen lieber ein, weil ihm diese Gegenstände in enger Verbindung mit herkömmlichen Elementen der Rhetorik präsentiert wurden. Differenziertes Wissen bot Humboldt seinen Lesern in schwach spezifizierter Gestalt an. Wer unter Literatur immer noch eher Rhetorik verstand als autonome Poesie, unter Philosophie immer noch Aufklärung statt die großen Systeme des Idealismus, unter Gelehrsamkeit nicht nur den Beleg aus fachwissenschaftlichen Abhandlungen, sondern auch das Aristoteles- oder Pliniuszitat, konnte sich leichter mit Humboldts Schriften vertraut machen. Das konservative Element in Humboldts Handwerk des Schreibens bewährte sich über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Ein großer Teil der Leserschaft orientierte sich offenbar noch lange an den Spuren älterer Modelle, ohne den idealtypisch angenommenen Dynamiken der Differenzierung und Modernisierung von Kunst und Wissenschaft unverzüglich zu folgen.
Der wissenschaftliche Autor Die älteren Modelle von Autorschaft konnten allerdings nicht unverändert aus dem späten 18. Jahrhundert bis in die Mitte des 19. getragen werden. Humboldts Laufbahn als Schriftsteller vollzog sich daher, indem er verschiedene Elemente seiner vielseitigen Vorbereitung auf das Handwerk des Schreibens an neuere Gepflogenheiten anpasste. Von der alten Geselligkeit zu neuen disziplinären Gemeinschaften, von der Sprache der Empfindsamkeit bis zu einer Alltagskultur des Naturgefühls, von der früheren Gelehrsamkeit bis zum wissenschaftlichen Historismus führten ihn einige dieser Wege. Im Prozess der Anpassung und Erweiterung schriftstellerischer Konventionen an veränderte Kontexte wurde Humboldt allerdings auch mit neuen Paradigmen von Autorschaft vertraut. Zum einen betrifft das die Ausdifferenzierung von wissenschaftlichen Disziplinen, die mit einer eigenen Publikationspraxis einhergeht. Humboldt näherte sich ihr schon mit den frühen Schriften zur Botanik, Geologie, Physiologie und Physik. Am Beispiel der Versuche über die gereifte Muskel- und Nervenfaser lässt sich aber leicht erkennen, dass diese Schriften in der Disziplinengeschichte (etwa der Physiologie und Physik) einer noch frühen, mit Thomas Kuhn zu sprechen „vorrevolutionären" Phase ange-
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hören. Spekulative, philosophische, autobiographische, dialogische und allgemein markiert rhetorische Elemente sind für sie prägend. Aufsätze, die in Zeitschriften zur Naturforschung erscheinen, sind häufig noch in Briefform verfasst und wenden sich tendenziell an ein Publikum, das sich aus interessierten Laien und Naturforschern mit wenig definierten Interessengebieten zusammensetzt. Im Anschluss an die amerikanische Reise ging Humboldt davon aus, dass die einzelnen Bände der geplanten Dokumentation sich an unterschiedliche Leser wenden würden. Ein großer Teil seiner Schriften verrät nun eine strengere Orientierung an Standards, die zunehmend an wissenschaftliche Professionalisierung erinnern. Nach seiner Rückkehr mussten Humboldt und Aime Bonpland ihr aufsehenerregendes Unternehmen öffentlich legitimieren, nämlich die Erhebung einer so beispiellosen Fülle von Materialien aus den unterschiedlichsten Bereichen der Statistik, Historie und Naturkunde durch zwei Privatpersonen. In Paris wurden sie dabei wohl so nachdrücklich wie nie zuvor mit der Trennung des forschenden und gelehrten Handelns in Dilettantismus einerseits und wissenschaftliche Professionalisierung andererseits konfrontiert. In ersten Vorführungen präsentierte Humboldt 1804 seine Materialien als Ergebnisse akribischer Studien, die der kritischen Sichtung durch die französischen Gelehrten standhalten sollten. Die publizistische Auswertung der Sammlungen und Datenerhebungen musste den Ansprüchen der zunächst informell als Zeugen geladenen Forscher genügen. Dass Humboldt auf einzelne Forschungsgebiete nur durch autodidaktische Studien vorbereitet war, brauchte dabei kein Nachteil zu sein, da ja zu dieser Zeit in den meisten Disziplinen noch keine geregelten Curricula an höheren Bildungseinrichtungen bestanden. Umso wichtiger war nun die Begründung durch immanente Standards der empirischen Forschung, speziell durch die Genauigkeit der in situ erhobenen Daten, die einer systematischen, vor allem auch mathematischen Nachprüfung standhalten mussten. Dass ihn der persönliche Umgang mit herausragenden Forscherpersönlichkeiten in Paris zu einer größeren Strenge in der Behandlung wissenschaftlicher Fragestellungen ermutigt habe, erkannte Humboldt selbst dankend an. Es umschreibt nur den privaten Aspekt einer semi-institutionellen Profilierung, auf die er sich als Dokumentator einer ersten, ausschließlich wissenschaftlichen Zwecken gewidmeten Privatreise dieses Umfangs einlassen musste. Titel wie Analyse de l'eau du Rio Vinagre dans les Andes de Popayan, avec des eclaircissements geognostiques et physiques sur quelques phenomenes que presentent le soufre, l'bydrogene sulfure et l'eau dans les volcansM sind für ein bereits speziali34
Annales des chimie physique 28 (1824), S. 113-136.
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siertes Publikum gedacht. So rechtfertigte er sich vor jenen sozialen Gemeinschaften, die mehr und mehr das Ansehen einer regelrechten Scientific Community annahmen.35 Die Veröffentlichungen wurden dann von Fachkollegen rezensiert und führten zur Mitgliedschaft in wissenschaftlichen Vereinigungen und Akademien. Die Schriften ausgesprochen spezialistischen Charakters aus den folgenden Jahren weisen zwar noch lange Spuren der älteren, an Quellen und Autoritäten orientierten Gelehrsamkeit, einer Rhetorik der Subjektivität und geselliger Kommunikation auf, lassen sich aber durchaus in eine moderne Disziplinengeschichte einordnen. Zu Recht bezieht sich ein großer Teil der Humboldtforschung auf seine wissenschaftlichen Schriften zu einzelnen Gebieten, wobei sie in Referaten und Wertungen meist von ihren traditionelleren Elementen gereinigt und in einen linearen Modernisierungsprozess der Disziplinen eingeordnet werden. Von der Reputation als Experte auf einzelnen wissenschaftlichen Gebieten führt allerdings selten ein Weg zu literarischer Prominenz. Eine Möglichkeit dazu besteht zwar in der Popularisierung eines zunehmend esoterischen Expertenwissens. In der Tat werden Humboldts Kosmosvorlesungen und sein großes Spätwerk immer wieder unter dem Aspekt der Diffusion professioneller Wissenschaft beschrieben. Indessen liegen die Gründe für die größere Verbreitung von Humboldts Schriften weniger in der nachträglichen Popularisierung speziellen Wissens, wobei etwa der Appell an das Schöne, an die Empfindung, an die Kulturgeschichte mehr oder weniger didaktische Hilfsmittel der Veranschaulichung wären. Humboldt vertritt nämlich schon früh neben einem modernen wissenschaftlichen Naturbegriff und den Publikationsformen, die dazu gehören, einen philosophischen oder kulturhistorischen im Zusammenhang mit einem ganz anderen Verständnis von Literatur und Autorschaft. Es geht dabei weder um die Fortsetzung der wissenschaftlichen Literatur in der Popularisierung, noch um eine einfache Fortschreibung der schriftstellerischen Praxis, auf die Humboldt in Jugendtagen vorbereitet wurde. Vielmehr stellen die Ansichten der Natur, die Ideen einer Geographie der Pflanzen und der Kosmos Beiträge zu einer spezifischen deutschen Bildungsliteratur mit dem Anspruch auf einen dauernden Platz in der Nationalliteratur dar.
Der Verfasser repräsentativer Bildungslektüren Wenn disziplinäre Studien und das Umfeld der Pariser Gelehrten Humboldt als Autor wissenschaftlicher Literatur spezialisierten, so hat auch die 35
Vgl. Kapitel: Versuche über die gereifte Muskel und Nervenfaser.
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Profilierung als Autor repräsentativer Bildungslektüren ihre Geschichte. Es handelt sich zunächst um eine Abwandlung oder Erneuerung jenes Universalismus und jenes allgemeinen Literaturbegriffs der Berliner Spätaufklärung, der noch wenig zwischen philosophischer, wissenschaftlicher und „schöner" Literatur unterschied. Besonders die popularphilosophische Anthropologie der verschiedenen Erkenntnisvermögen konnte in ein neuhumanistisches Bildungskonzept eingehen. Von dieser Anthropologie her ließ sich zuerst die Ganzheit der Natur auf die Gesamtheit der menschlichen Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Empfindungsvermögen beziehen, auf Wissenschaft, Gefühl und Ästhetik. Die Kontinuität von Mensch und Natur, die in der Anthropologie thematisiert wurde, fand ihre Fortsetzung in einer Universalgeschichte, die Kultur als Verlängerung der Naturprozesse dachte. Während des Studiums in Göttingen, durch die persönliche und fachliche Bekanntschaft mit Georg Forster und Heyne, mit Lichtenberg und Blumenbach konnte Humboldt einen vertieften Eindruck davon gewinnen, wie sich Naturforschung und Philosophie, Philologie und Geschichte diskursiv verzahnten. Die philologischen, historischen, juristischen, theologischen, physikalischen und naturkundlichen Studien vollzogen sich im Zeichen origineller Grenzüberschreitungen, im Modus der weitreichenden Komparation, im Blick auf philosophische und erkenntnistheoretische Weiterungen und, sofern sie als Publikationen vorlagen, mit einer öffentlichen Wirkung, die über den traditionellen universitären Unterricht weit hinausreichte. Während eines Aufenthaltes in London erfuhr Humboldt jedoch auch, dass die Werke seines Reisebegleiters und Mentors Georg Forster eben wegen ihres vielseitigen Inhalts und ihrer uneindeutigen Gattungszugehörigkeit die allgemeine Anerkennung ihres Verfassers behinderten. Ein unveröffentlichtes autobiographisches Bekenntnis, in dem Humboldt auch von heftigen Adoleszenzkrisen berichtet, spricht von der unterschiedlichen Wahrnehmung Forsters in Deutschland und England. Der Verfasser scheint den Misserfolg Forsters als eigene narzisstische Kränkung zu erfahren. Er kompensiert seine Depressionen mit wilden Reiseträumen, deren eskapistischen und pubertären Charakter er im Rückblick ausdrücklich betont. Später, nach den pragmatischen Studien in Hamburg und an der Bergakademie in Freiberg und einigen Jahren erfolgreicher Verwaltungstätigkeit im Bergbau, findet Humboldt Gelegenheit, seine Wahrnehmung der literarischen Arbeit positiv zu formulieren, und erstmals ist explizit davon die Rede, dass er die Laufbahn eines „Litteraten" anstrebe. Die Aufenthalte in Jena und Weimar der Jahre 1794 bis 1797, die Bekanntschaft mit den Kreisen um Schiller und Goethe, die Teilnahme an programmatischen und theoretischen Gesprächen scheinen Humboldt erstmals zu einer
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kritischen Auseinandersetzung mit dem historischen Strukturwandel des literarischen Marktes ermutigt und mit den Möglichkeiten einer offensiven Literaturpolitik und mit einem repräsentativen Konzept deutscher Nationalliteratur bekannt gemacht zu haben. Wilhelm von Humboldt war es, der zunächst die entscheidenden Bekanntschaften vermittelte; der Bruder sollte auch in den Jahren nach Alexanders Rückkehr aus Amerika und noch viel später in Berlin der Moderator von Ideenkomplexen sein, die aus der Weimarer und Jenaer Klassik in das Berlin der Reformära und der Restauration reichten. Ab 1794 betrafen die Reflexionen einen komplexen Zusammenhang literaturpolitischer und wissensgeschichtlicher Elemente. Humboldt wurde mit diesen Zusammenhängen sofort bekannt, als man ihn für die Mitwirkung an den Hören gewann. In der Einladung zur Mitarbeit, in der programmatischen Einleitung und in Gesprächen mit dem Herausgeber Schiller, an denen Alexander von Humboldt mit seinem Bruder teilgenommen haben wird, ging es um die problematische Differenzierung des Wissens und verschiedener Lesergruppen, denen nun durch eine Zeitschrift und eine Literatur zu begegnen sei, die in sich Wissenschaft und Kunst, Philosophie und Unterhaltung vereinige und damit ein nationales Publikum aller gebildeten Stände erst hervorrufe. Diesem Idealbild eines deutschen Publikums aller gebildeten Stände sollte eine Nationalliteratur angeboten werden, die sich ausdrücklich als entdifferenzierend verstand. Schillers Reflexionen ordnen diese Entdifferenzierung der menschlichen Vermögen und Funktionen vor allem einer neuen Autonomieästhetik zu, den künstlerischen Betätigungen des freien und unabhängigen Menschen. Humboldt hat sich zwar kaum näher mit der klassischen Autonomiepoetik vertraut gemacht. So wichtig aber die Stilisierung der Jahre von Weimar und Jena zur Kunstperiode für die Ästhetikgeschichte wurde, so wenig determinierte die Konzentration auf die autonome Ästhetik das Verhalten jener Leser, die sich bis das spätere 19. Jahrhundert hinein gerne auf die Weimarer Klassik beriefen. Wer Alexander von Humboldt im Kontext und als legitimen Erben von Goethe und Schiller sah, bezog sich auf Bildung, auf gebildete und bildende Werke, unter denen sich Iphigenie ebenso befinden durfte wie Herders Ideen, die Götter Griechenlands wie Humboldts Ansichten der Natur. Rekonstruiert man die Gegenstände jener Gespräche und Studien, die Humboldts Aufenthalte in Jena und Weimar füllten, und vergegenwärtigt man sich seinen einzigen Beitrag zu den Hören, die Erzählung Der rhodische Genius, so finden sich so gut wie alle Leitgedanken, aus denen sich die Programmatik der deutschen Klassik abstrahieren läßt: Die Antike als ideale Epoche der Menschheit, Physiologie, Biologie und Anatomie als Propädeutika aller Studien, die sich mit der menschlichen Natur befassen, die ästhetische wie wissenschaftliche Rekonstruktion der menschlichen
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Gestalt, die Prozesshaftigkeit und das Entwicklungsdenken, sei es als Geschichtlichkeit, als Experiment, als literarischer Versuch, die Wechselwirkungen von subjektiver Wahrnehmung und objektivem Phänomen. Es ging die organische Biologie, die Morphologie und Physiologie in die Anthropologie über und diese in die Pädagogik und alles zusammen in das Ideal eines Menschen, der seine natürlichen und kulturellen Voraussetzungen frei, vielseitig und unvollendbar entfaltet. Waren für Humboldt schon in Göttingen die Wege von Blumenbachs Kollegium über Biologie und Lichtenbergs physikalische Demonstrationen bis zur Anthropologie und Philosophie und bis zu vergleichenden Antikenstudien und zur Philologie denkbar kurz gewesen, so nun auch wieder in Jena und Weimar: Loders Anatomiekurse, Goethes Morphologie, Wilhelm von Humboldts Anthropologie der Geschlechter, Alexander von Humboldts galvanische Experimente zur Lebenskraft, Fichtes Wissenschaftslehre, Wilhelm Meister und Schillers Hören lagen zeitlich und räumlich sehr dicht beieinander. Es waren vor allem die semantischen Felder um die Begriffe „Bildung", „Leben", „Entwicklung" und „Gestalt", die versprachen, distinkte Bereiche der Erkenntnis und Ästhetik, nämlich Naturforschung, Kunst und Geschichte auf eine neuhumanistische Anthropologie zurückzuführen. Diese Verzahnung von Diskursen, die sich andernorts unüberholbar auszudifferenzieren schienen, konnte dann auch in einen umfassenden Begriff nationaler Literatur eingehen. Zunächst glaubte Alexander von Humboldt den Komplex aus Bildung, Naturforschung und Kunst mit dem Konzept einer repräsentativen Bildungslektüre am besten zu vereinbaren, indem er eine didaktische Erzählung verfasste. Während Schiller diese Bemühung als untauglich wahrnahm, ist sie zweifellos wie einige der späteren Schriften Humboldts als repräsentative Bildungslektüre konzipiert und kann als Fortsetzung der Jenaer Literaturpolitik um 1800 angesehen werden kann. Die konzeptionelle Verquickung von Wissensbeständen, die Naturforschung, Ästhetik und Geschichte zugleich umfassten, der Versuch diese komplexen Ideen in einer anspruchsvollen und national wirksamen Literatur zu repräsentieren, muss Humboldt fasziniert haben. Deutscher Nationalautor zu werden, diese Perspektive eröffnete sich, wenn irgendwo, dann in Weimar und Jena. Vorläufig blieb Humboldt der große Erfolg versagt, aber nicht nur ihm, sondern auch den Hören insgesamt. Während die meisten der mehr oder weniger arrivierten Autoren den hohen Anforderungen des Herausgebers nicht genügen konnten, ließ Schiller selbst denkbare Allianzen gerade mit jüngeren Autoren scheitern. Der Gedanke einer verschiedene Interessen vereinigenden Nationalliteratur ließ sich also nicht auf der Spur der ambitionierten Zeitschrift verfolgen, sondern eher im sehr viel pragmatischer und weiter gefaßten
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Literaturbegriff Goethes. Auf Goethe wird sich Humboldt auch immer wieder beziehen, wenn er einzelne seiner deutschsprachigen Titel zu einem literarischen Erfolg führen will. Während Humboldt im Mai 1795 mit Goethe vormittags galvanische Elemente durchführte, auf der Suche nach der Lebenskraft, verfaßte dieser nachmittags seinen Aufsatz über „Literarischen Sanscülottismus".36 Der Aufsatz erscheint im selben Heft wie der Rhodische Genius. Darin wird definiert, was ein „klassischer Nationalautor" sei. Er entsteht, heißt es da, wenn er in der Geschichte seiner Nation große Begebenheiten und ihre Folgen in einer glücklichen und bedeutenden Einheit vorfindet; wenn er in den Gesinnungen seiner Landsleute Größe, in ihren Empfindungen Tiefe, und in ihren Handlungen Stärke und Konsequenz nicht vermißt; wenn er selbst, vom Nationalgeiste durchdrungen, durch ein einwohnendes Genie sich fähig fühlt, mit dem Vergangenen wie mit dem Gegenwärtigen zu sympathisieren; wenn er seine Nation auf einem hohen Grade der Kultur findet, so daß ihm seine eigene Bildung leicht wird; wenn er viele Materialien gesammelt, vollkommene oder unvollkommene Versuche seiner Vorgänger vor sich sieht, und so viel äußere und innere Umstände zusammen treffen, daß er kein schweres Lehrgeld zu zahlen braucht, daß er in den besten Jahren seines Lebens ein großes Werk zu übersehen, zu ordnen und in einem Sinne auszuführen fähig ist.37
Vom Autor verlangt Goethe Genie, Professionalität und ein begünstigendes gesellschaftliches Umfeld. Der polemische Aufsatz grenzt seinen Literaturbegriff nachdrücklich von einer beliebigen Tagesproduktion ab, begrenzt ihn aber nirgends auf die reine Poesie. Wer sich auf diesen Aufsatz beruft, darf daher auch nicht ausschließen, dass ein Nationalautor etwa mit dem „Versuch einer physischen Weltbeschreibung" hervortritt. Bis zum Kosmos vergingen jedoch noch viele Jahre, in denen Humboldt sich als Verfasser deutscher Werke auf die in Weimar und Jena kennengelernten Programmatiken bezog. Dass dies nicht naiv geschah, erkennt man an der gezielten Stilisierung der Ansichten der Natur und der deutschen Fassung der Ideen ψ einer Geographie der Pflanzen für ein deutsches Publikum. Humboldt suchte dabei die Zugehörigkeit zu einer Literatur und einer Autorengruppe, die er nach seiner Rückkehr aus Amerika für noch erfolgreicher halten musste als während seiner persönlichen Besuche in Jena und Weimar in den vorausgegangenen Jahren. In dem Maße aber, in dem die denkwürdigen Zusammenkünfte des ausgehenden 18. Jahrhunderts in eine historische Ferne rückten und aus der Literatur der deutschen Klassik „klassische Literatur" wurde, änderte 36
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Auf die Gleichzeitigkeit der Goetheschen Beschäftigungen weist Theodore Ziolkowski hin, der sich jedoch um die möglichen Auswirkungen auf Humboldt nicht weiter kümmert. Theodore Ziolkowski: Das Wunderjahr in Jena. Geist und Gesellschaft 1794/95, Stuttgart: Klett-Cotta 1998, S. 203. MA, 4.2, S. 16f.
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sich auch Humboldts Verhältnis zu diesem Phänomen. Aus dem Versuch der Teilhabe und Mitwirkung an der erfolgversprechenden Literaturpolitik Schillers und Goethes wurde der Anspruch, ihre Erbschaft anzutreten. Einige der früheren deutschsprachigen Werke Humboldts lassen sich im Umfeld der deutschen Klassik situieren; der Kosmos dagegen ist schon vor seiner Drucklegung zum Klassiker der deutschen Literatur bestimmt, mit welchem Erfolg auch immer. Der Klassiker der deutschen Literatur: Im Zeichen Goethes In den deutschen Literaturgeschichten genießen drei wichtige Werke Humboldts den Status von kanonischen Werken. Die Reisebeschreibung, vor allem aber die Ansichten der Natur und der Kosmos. Schon zu Lebzeiten behaupteten sich die beiden deutschsprachigen Titel dauerhaft in der Wahrnehmung des Publikums. Sie stellen eine Auslese aus dem Gesamtwerk dar, die Humboldt selbst veranlasste, über die Differenz von gelehrter Literatur und „deutscher Litteratur" nachzudenken. Am 26.7.1854 beschwerte er sich gegenüber Cotta über die in Deutschland herrschende völlige Unkenntniß meiner besten Arbeiten [...] In der deutschen Litteratur existiren nur zwei meiner Schriften, die einen Ruf als Gelehrter gründen können, die Ansichten und der Kosmos [...] Ich seze Ansichten und Kosmos tief unter das, was ich Gründliches, neue Wege in verschiedenen Wissenschaften eröffnend, hervorgebracht habe. Nicht 1/8 ist in die deutsche Litteratur als Uebersezung übergegangen, in welcher Nüchternheit (Ungeschmak) die Reise und Neu Spanien! [...] Die einzige sorgfältige Bearbeitung einer französischen Schrift von mir sind die 3 Bände der Geschichte der Entdeckungen, die ich der Nicolaischen Buchhandlung verdanke.
Zeigte sich Humboldt in diesem Brief enttäuscht über die Differenzierung eines Buchmmarktes, die ihn als „Gelehrten", der sich eben nicht als Fachwissenschaftier verstehen wollte, den angemessenen Platz in der deutschen Litteratur verwehrte, so finden sich schon in den Ansichten Spuren der Absicht, an einer spezifisch deutschen Literatur teilzuhaben. Der Kosmos ist von vorneherein als Summe eines sich selbst schon symbolisch werdenden Lebens, als absolut singuläres Unternehmen und als Beitrag zur deutschen Nationalliteratur konzipiert worden. Dazu gehört das Umfassende und mehr noch Totale des Gegenstandes, dazu gehört die Einreihung der modernen Empirie in die Tradition der größten Kosmologien seit der Antike, das Pathos der Universalität des entfalteten Wissens, der von Beginn an historische Blick auf das aktuelle Werk; dazu gehört aber auch die gezielte Inszenierung von Autorfunktionen, die das Werk und seinen empirischen Verfasser in ein Spannungsverhältnis gegenseitiger Bedeutungszuschreibung stellen. Das Buch präsentiert seinen
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Autor als Klassiker, der Verfasser verleiht seinem Spätwerk die Weihen des kanonischen Textes. Zur Profilierung der eigenen Autorwürde gehört in den späteren Lebensjahren die wiederholte und fast stereotype Erinnerung an die Verbindungen des jungen Alexander von Humboldt mit den Geistesgrößen von Weimar und Jena. Die frühen Dokumente der gegenseitigen Bekundungen und Hommagen gehen dabei gleitend in die autobiographische und kulturgeschichtliche Bearbeitung dieser Beziehungen über, wobei der frühe Tod Schillers verhinderte, dass er an dem Spiel gegenseitiger, zunehmend selbstreflexiver Reminiszenzen beteiligt wurde. Es konnte jedoch zwischen Humboldt und Goethe, Humboldt und seinem Bruder Wilhelm über lange Jahre fortgesetzt werden konnte. An zwei Gedichte Brinkmanns „an A.v.H.", die in Schillers Musenalmanch auf das Jahr 1798 veröffentlicht worden waren,38 erinnerte der so Geehrte später nicht mehr, vielleicht auch, weil sie zumindest kommentierungsbedürftig waren, wenn nicht gar zu kritischen Fragen Anlass gegeben hätten. Auch dass Humboldt sich durch sein Engagement in Weimar und Jena berechtigt fühlte, seine Reisebeschreibung Schiller zu widmen, der potentielle Widmungsträger jedoch gleichzeitig Cotta vom Verlag dieses Titels abriet, verraten die Ausgaben der Relation histoHque nicht. Die Ansichten der Natur empfehlen sich dafür mit dem Verweis auf die schwierige nationale Lage und einem Schillerzitat. Die zweite Ausgabe 1827 bringt zusätzlich den Rhodischen Genius mit einer Erinnerung an die angeblich günstige Aufnahme dieser Erzählung durch den Herausgeber der Horen.i9 Jetzt geht es schon um historische Selbsdegitimation im Zeichen der Klassik. Die Ideen einer Geographie der Pflanzen sind Goethe gewidmet, das Titelblatt nach einer Zeichnung Berthel Thorwaldsens rückt das Buch in den Kontext einer schöngeistigen, nicht im engeren Sinne wissenschaftlichen Literatur. Goethe wird dieses Buch sehr wohlwollend in seiner Zeitschrift zur Naturwissenschaft rezensieren und ein eigenes Profil nach der Lektüre mit einer Ehrung Humboldts 1812 veröffentlichen. In die Zeitschrift Zur Naturwissenschaft überhaupt wird er eine sehr respektvolle, wenn auch distanzierte Anzeige der Schrift Ober den Bau und die Wirkungsart der Vulkane von 1823 einrücken.40 Schon 1808 lässt Goethe eine Romangestalt in den Wahlverwandtschaften, Ottilie davon träumen, wie es wäre, sich
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NA, 40, S. 2 5 0 - 2 5 3 . „An Alexander von Humboldt, wegen der kühnen Idee, die er gefaßt hat, einen Juden durch chymische Operation hervorzubringen" und „An Alexander von H. bey Uebersendung eines Lukrez". Über diese günstige Aufnahme auch im Brief an Varnhagen vom 1.11.1827, in: Varnhagen, S. 2. MA, 12, S. 735.
Der Autor Humboldt
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einmal mit Alexander von Humboldt unterhalten zu dürfen.41 Unter dem Datum vom 12. Juni 1816 dankt Goethe mit einem Gedicht für die Zusendung einer pflanzengeographischen Schrift, die ihn aus der Trauer um seine kürzlich verstorbenen Frau gerissen habe.42 Humboldt nimmt das Spiel von Reminiszenzen, die seinen eigenen Namen mit dem Goethes in Verbindung bringen, wieder auf, als er sich mit den Kosmosvorlesungen und als Präsident der Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte nach langen Jahren wieder an das deutsche Publikum wendet. Zwar wurde auch Humboldt aus dem Briefwechsel mit Körner 1849 plötzlich bewußt, dass Schiller von ihm keineswegs so angetan war, wie lange Jahre angenommen,43 und auch gewisse Vorbehalte von Seiten Goethes sind hinter seinen auf den ersten Blick durchaus günstigen Äußerungen über Humboldt zu erkennen.44 Zu unterscheiden ist jedoch zwischen komplexeren Verhältnissen im Sachlichen und Persönlichen und einer öffentlichen Repräsentation, bei der es mehr auf Schlaglichter als auf penible Analysen ankommt. So nahm Humboldt gerne die Einladung an, zu einer Ausstellung im Weimarer Schloß 1828 eine Grußadresse zu verfassen, die offiziell die schöne Eintracht von Wieland, Herder, Goethe und Schiller bekräftigte, während ihm wohlbekannt war, dass die persönlichen Beziehungen zwischen den vieren durchaus von Spannungen geprägt waren. Er verglich die Begegnung so vieler „großer Gestalten" mit ,,jene[n] ewigen Lichter[n] der Himmelsräume, von denen die größeren bald einsam zerstreut, wie Sporaden im ungemessenen Meere, bald anmuthig in Gruppen vereinigt den frommen Sinn des Menschen anregen, ahndungsvoll ihn auf des Ewigen unbekannten Weltplan, auf noch unergründete Weltgesetze hinleiten."45 In einem Brief an 41
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Vgl. Goethes Brief vom 5.10.1809: „Sie werden gewiß freundlich aufnehmen, daß darin Ihr Name von schönen Lippen ausgesprochen wird. Das was Sie geleistet haben, geht soweit über die Prosa hinaus, daß die Poesie sich wohl anmaßen darf, Sie bei Leibesleben unter ihre Heroen aufzunehmen" (Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander von Humboldt, S. 303). Zum Kontext dieser Erwähnung vgl. Gerhard Schulz: „Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen". Ober Goethe, Alexander von Humboldt und einen Satz aus den Wahlverwandtschaften', in: ders.: Exotik der Gefühle, München: Beck 1998, S. 48—74. MA, 11.1,1, S. 167: „An Trauertagen / Gelangte mir Dein herrlich Heft! / Es schein zu sagen: / Ermanne Dich zu fröhlichem Geschäft! / Die Welt, in allen Zonen grünt und blüht, / Nach ewigen beweglichen Gesetzen; / Das wußtest Du ja sonst zu schätzen, / Erheitre so durch mich Dein schwer bedrängt Gemüth." Vgl. Litterarischer Nachlaß von Friedrich von Raumer. Erster Band. Berlin: Ernst Siegfried Mittler 1869, S. 24. Hartmut Böhme: Goethe und Alexander von Humboldt. Exoterik und Esoterik einer Beziehung, in: Ernst Osterkamp (Hg.): Wechselwirkungen. Kunst und Wissenschaft in Berlin und Weimar im Zeichen Goethes, Bern, Berlin u.a.: Peter Lang 2002 (=Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 5), S. 167-192. Vgl. Beilage zu Nr. 327 der Aüg. Zeitung, Freitag 23.11.1849, S. 5089. Julius Petzholdt bezog denselben Text auf die Vollendung der Danteübersetzung von Philaletes [König Jo-
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Friedrich von Raumer klingt es schon weniger feierlich, wenn von derselben Ausstellung die Rede ist, zugleich aber von den vor nicht zu langer Zeit erschienen Briefen Schillers an Körner: Ich sei ohne Spur von Einbildungskraft, ein beschränkter Verstandesmensch, und meine v o r h a b e n d e Reise lasse keine wichtigen Resultate erwarten. Sehr lustig ist es, daß m a n im Schlosse zu Weimar Schiller und Herder zusammengebannt. Herders Werke nennt, in denselben Briefen, Schiller A u s f l ü s s e innerer Fäulniß, b ö s e Säfte, deren die N a t u r sich endedigt. — D a o b e n werden die großen Geister sich zwischen d e m G e w ö l k vermeiden. 4 6
Humboldt verzichtet also nicht auf die Legitimierung durch klassische Tradition und die Stärkung des Mythos Weimar, sondern akzentuiert nur die Erbfolge, wobei nun endlich auch Herder beim Namen genannt wird. Der Zufall der Zeitgenossenschaft ließ sich mit zunehmendem Alter mehr und mehr zu einem Zusammenhang gegenseitiger Beglaubigung von Epoche und Individualität stilisieren: „Wir halten es, mein Bruder Wilhelm und ich, zu den erfreulichsten und erhebenden Ereignissen unserer vielbewegten Existenz, in der wichtigen Epoche, in der wir auftraten, mit den intellectuellen Mächten der Zeit, Schiller, Goethe, Wolf, Laplace, Wollaston ..., in enger Verbindung gelebt zu haben." 47 Die öffentliche Anerkennung der Beziehungen zur Weimarer Klassik wirkte sich auch günstig auf das Verhältnis des Cotta-Verlags zu seinem Hausau tor Humboldt aus. Schon im August 1805 schrieb Alexander von Humboldt an Johann Friedrich Cotta, es sei sein „alter, schon in Amerika gehegter Wunsch, mit dem Freunde unseres Schiller in nahe Verbindung zu treten."48 Im Todesjahr des Verlegers 1833 setzt Humboldt die Korrespondenz mit dem Sohn und Erben Johann Georg Cotta fort, indem er die Vorbereitung des Kosmos sogleich zu einer Frage der ideellen Nachfolge, der Treue gegenüber dem väterlichen Erbe und der klassischen Tradition erhob. Immer deutlicher wurden dabei die ökonomischen Erfolge des Verlags mit der kulturellen Verpflichtung gegenüber dem klassischen Erbe gegeneinander verrechnet: „Ich weiß, dass ausser ihrem schönen väterlichen Erbtheil, Sie durch sich selbst auch reichlich begütert sind, daß also neben Ihren Unternehmungen mit den Götheschen u. Schillerschen Erben ,die phys. Weltbeschr.' für Sie kein pecuniäres Unternehmen sein kann." 49 Dass Erbe verpflichtet, sprach auch ein Brief von 1838 deutlich
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hann von Sachsen]; vgl. Dante Alighieri: Göttliche Komödie. Metrisch übertr. u. mit krit. u. hist. Erl. Vers. v. Philaletes, 5. Unver. Abruck d. bericht. Ausgabe von 1865-1866, Leipzig, Berün 1904, Bd. 1, S. IX. Hinweis von H. Pieper, BBAW. Litterarischer Nachlaß von Friedrich von Raumer. Erster Band, Berlin: Ernst Siegfried Mittler 1869, S. 24f. Briefwechsel zwischen A. v. Humboldt und F. W. Bessel, S. 88 (Brief vom 27.7.1834). BBAW. BBAW.
Der Autor Humboldt
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aus: „Sie sind der edle Erbe einer Zuneigung, die meine und die Schillersche Familie Ihrem theuren Vater geweiht hat."50 Spätestens mit der Drucklegung des Kosmos schien der jüngere Cotta den Vorteil erkannt zu haben, der mit der Beschwörung der historischen Verbindung zwischen Goethe, Schiller und Alexander von Humboldt einherging. Den Autor des Kosmos begrüßte der Verleger im Brief vom 28.12.1844 als Nationalautor, wobei ihm die Assoziationen zwischen den Eigenschaften eines klassischen Werkes und der schönen Ordnung des Kosmos gelegen kamen: Mit der einzigen Ausnahme der Schiller'schen u. Goethe'schen Schriften hat die J.G.C.B, noch nie die Publication eines Werkes fördern helfen dürfen, das so unsterblichen Werth hat, so ganz den Stempel der vollendetsten Classicität im Style als in seiner wissenschaftlichen Bedeutung als Kosmos an sich trägt. // Alles, was mit dieser Erscheinung zusammenhängt, welche als Stern erster Größe in der deutschen Literatur dastehen wird, wird von mir persönlich mit derjenigen gewissenhaften Vorliebe u. mit dem Eifer betrieben werden, der eine Folge anererbter, unbegränzter Verehrung für E.E. und Ihren unsterblichen Ruhm sind.
Spätestens mit dem Erscheinen des zweiten Bandes, der den Erfolg des ersten in Deutschland noch übertraf, erfüllten sich alle Hoffnungen, die Cotta in Humboldts ideelle Nachfolge des klassischen Erbes gesetzt hatte. Die große Nachfrage nach dem Kosmos, erklärte Cotta, „ruht aber, wie natürlich, auf dem seit den besten Erscheinungen von Schiller und Göthe nicht mehr dagewesenen, aller Orten in ganz Deutschland sich kundgebenden Verlangen des Publicums, in den Lesegenuß dieses 2ten Theiles Ihres unsterblichen Werkes zu kommen."51 Humboldt sollte fortan ohne Scheu Cotta an die Großzügigkeit des Verlagshauses Schiller und Goethe gegenüber erinnern, so oft er zusätzliches Geld forderte.52 Einer Neuausgabe der Geographie der Pflanzen schließlich wünschte Humboldt Thorwaldsens Stich erneut beizuheften, denn es „wäre jetzt eine Nachfeier zu Göthe's Ruhme."53 Und zu Humboldts wohl auch. In seinen späteren Jahren galt Humboldt als Vermitder zwischen der historisch gewordenen Weimarer Klassik und der Gegenwart. Die Assoziation von Goethe und Humboldt wurde zu einem „Topos der deutschen 50 51 52
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Brief von Cotta vom 20.1.1840, vgl. auch Brief vom 23.4.1840. Brief von Cotta vom 3.12.1847. Vgl. den Brief vom 13.2.1849: „Ihre Familie hat sich so großartig gegen Schiller benommen, daß ich wohl das Vertrauen hegen darf [...]" sowie den Brief vom 25.8. 1849: „Ich bin nicht Schiller und nicht Göthe, aber das Viele das Ihr Haus für diese gethan, giebt mir die Gewißheit, daß Sie über das unter andern Umständen etwas eng stipulierte Gern hinausgehen." Und am 2.5.1855: „Es ist schön und für mich in meinem .unwahrscheinlichen' Alter ein freudiges Geschick, daß von dem im In- und Auslande verehrten Vater, dem Freunde Schillers, Goethe's und meines Bruders, sich die gemüthliche Theilnahme auf Sie, den mir theuren Sohn, vererbt hat." Vgl. Brief vom 7.9.1849.
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Kulturgeschichte". Weit über die Bedeutung hinaus, die diese Begegnung für die Biographie der Beteiligten hätte haben können, erkannte man darin im 19. Jahrhundert ein Symbol der Einheit von Naturwissenschaft und Kunst. 54 Die Identifikation der beiden Symbolgestalten reicht bis in die Ikonographie. Ein spätes Porträt Humboldts von Julius Schräder von 1859, das ihn anachronistisch als Greis vor den verschneiten Gipfeln des Chimborazo und Carguairazo zeigt (vgl. Abb. 11), scheint durch Heinrich Christoph Kolbes Porträt des alten Goethe vor dem Vesuv inspiriert zu sein. 55 Eine populäre Illustration, Andreas Müllers Stich von 1860 für die „Gartenlaube" zeigt Goethe und Alexander von Humboldt gemeinsam im Freien und setzt Wilhelm von Humboldt und Schiller gleich dazu. Indessen stellt sich Humboldt nicht nur in Erinnerung an die frühen Begegnungen in Goethes Nachfolge. Der repräsentativen Stellung des Autors Humboldt kommt eine an Goethe erinnernde Engführung von langem Leben, Werk, universaler Bildung und Betätigung zugute. Dabei suchte Goethe offenbar als einer der ersten in seiner bekannten Art Humboldts Leben von dem Makel des Zufälligen zu befreien und zum Symbol zu stilisieren. Sulpiz Boisseree bezeugt Goethes Empörung aus gegebenem Anlass. „Elendes Volk, bemüht sich alles Höhere und Edle herab zu ziehen; da soll man einem Kerl, wie dem K. glauben, daß ein Zufall zu Humboldts Reise Veranlassung gegeben!" 56 Gemeint ist der Humboldt persönlich sehr vertraute Botaniker Kunth, der es wohl besser gewußt haben dürfte. Vor aller lebensgeschichtlichen Abrundung erleichterten jedoch gewisse biographische Parallelen die Identifikation Humboldts mit Goethe, an dessen monumentalisierter Sinnbildlichkeit kein Zweifel bestand. Die Treue, die Goethe wie Humboldt über Jahrzehnte ihrem Souverän bewahrten, fiel auf. 57 Friedrich Wilhelm IV. habe den ersten, ihm gewidmeten Band des Kosmos mit einem Zitat aus Torquato Tasso 54
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Vgl. Nicolaas A. Rupke: Goethe und Alexander von Humboldt, in: Elmar Mitder (Hg.): „Göthe ist schon mehrere Tage hier, warum weiß Gott und Göthe", Götringen: 2000 (=Göttinger Bibliotheksschriften 13), S. 1 9 7 - 2 1 0 , hier S. 202f. Renato G. Mazzolini: Bildnisse mit Berg. Goethe und Alexander von Humboldt, in: HiN V, 8 (2004). Die Haltung Humboldts entspricht bei diesem Bild, das ihn in freier Landschaft zeigt, genau derjenigen des Stubengelehrten in Hildebrands bereits erwähntem Bild. Sulpiz Boisseree: Briefwechsel/ Tagebücher. Faksimiledruck nach der 1. Auflage von 1862, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1970, Bd. 1, S. 476f. (Tagbucheintrag vom 17.5.1826). Vgl. auch Goethes Brief an Wilhelm von Humboldt vom 16.5.1821: „wie viele hoffnungs- und tatenreiche Anfange habe ich denn in meinem Leben so folgenreich fortsetzen und glanzreich wachsen sehen?" (Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander von Humboldt, S. 308). Vgl. Alexander von Humboldt und das Preußische Königshaus. Briefe aus den Jahren 1 8 3 5 - 1 8 5 7 . Herausgegeben und erläutert von Conrad Müller. Mit elf Bildtafeln und einem Faksimile, Leipzig: F.F. Köhler 1928, S. XIV.
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entgegengenommen: „So halt' ich's endlich denn in meinen Händen und nenn' es in gewissem Sinne mein." 58 Die beiderseitige Verbindlichkeit von Höfling und Fürst funktionierte als gegenseitig legitimierender Pakt und konnte öffentlich als Versöhnung von Adel und Bürgertum, Herrschaft und Kultur wahrgenommen werden, zur Bestätigung einer bürgerlichen Identität.
„Das Werk meines Lebens" und seine Bestimmung für den literarischen Kanon Wirksamer als jede biographische Parallele lässt sich allerdings ein durch Goethe zum Symbol erhobenes Lebensideal verwerten, in dem die individuelle Biographie auf die Gesamtheit der menschlichen Vermögen, auf die organische Natur, auf die vitale Kraft des eigenen Bildungsstrebens, auf das Wissen einer gesamten Generation, auf ein vielbändiges Oeuvre und auf die Repräsentanz einer Epoche und einer gebildeten Gesellschaft bezogen wird. Es handelt sich um einen Komplex von naheliegenden Assoziationen, die dann, von Humboldt mit getragen, zum Idealbild eines Nationalautors zusammenschießen. Auf den ersten Blick scheint die Identifizierung von Leben und Werk in Humboldts Laufbahn keine große Rolle zu spielen. Eine Autobiographie, die der symbolischen Überhöhung des Lebens gedient hätte, gibt es nicht und sollte es wohl auch nicht geben. 59 Die Jugendbriefwechsel, die viel Autobiographisches enthalten, immer wieder von einer intensiven Beschäftigung mit der eigenen Subjektivität zeugen und gelegentlich bekennenden Charakters sind, hat Humboldt offenbar nie für eine Veröffentlichung in späten Jahren in Betracht gezogen. Autobiographische Abrisse, die im Anschluss an die amerikanische Reise und im Zusammenhang mit der Redaktion eines Lexikonartikels verfasst wurden, dienen einem praktischen Zweck, nicht der Deutung des gesamten Lebenszusammenhangs. Die Zurückhaltung in autobiographischen Schreibweisen bedeutet allerdings nicht, dass Humboldt völlig auf die Sichtbarkeit eines „Ich" in seinen Schriften verzichtet hätte. Die Reisebeschreibung, die als
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Vgl. Dove, in Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. 2, S. 389. Vgl. den Brief an Cotta vom 11.4.1859. Humboldt bestätigt darin, dass er trotz lukrativer Angebote von Verlegern keine Autobiographie verfassen werde, und begründet die Ablehnung damit, dass er „ohne polirische Indiscretionen solche Selbstbiographie nicht anfertigen kann:" Es bleibt bei einer Chronologie für „die 9te Auflage des Conversations Lex. von Brockhaus."
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Gattung selbst zur Autobiographik gezählt werden kann,60 präsentierte in Gestalt der Relation histonque verschiedene Aussagesubjekte, die jeweils als „Humboldt" bezeichnet werden können. Zwar ist dieses „Ich", häufig als „der Reisende" oder der „Wanderer" versachlicht, nicht eng an die Zufälle einer konkreten Reise- und Lebenserfahrung gebunden. Mit umso größerer Wirkung präsentiert die Reisebeschreibung das Subjekt verallgemeinernder Rede in mehreren Nuancen: der empirische Reisende Humboldt, der Fokus der erzählten Wahrnehmung und Beschreibung, der Forscher, der Gelehrte, der die empirischen Befunde auf die monumentalen Wissensbestände des Abendlandes bezieht, das Redesubjekt, das jeweils die Aussage und den Aufbau des Textes organisiert:61 Alle diese Facetten amalgamieren sich zum Gesamtbild einer öffentlichen Person des erfahrenen und allwissenden Humboldt, in dem die Wissenschaft und die Welt mit der historischen, individuellen Gestalt verschmelzen. Die Projektion auf den Lebenszusammenhang als ganzen fehlt dabei noch. In der Korrespondenz mit Varnhagen dokumentiert sich ein gewisses Interesse an dem Genre des Lebensbildes. Vor allem im Zusammenhang mit der Würdigung des Bruders scheint sich Humboldt mit Problemen der biographischen Stilisierung beschäftigt zu haben.62 Im Vorwort zu einer posthumen Ausgabe von Wilhelm von Humboldts Sonetten befasst sich der Bruder des Verstorbenen mit dem zwingenden Zusammenhang von Leben und Werk, der sogleich zu einer Frage des Überlebens im Werk gemacht wird: „Die Sonette meines Bruders [...] sind [...] als ein Tagebuch zu verstehen, in dem ein edles, still bewegtes Seelenleben sich abspiegelt. [...] Die kleinen poetischen Schöpfungen [...] enthalten gleichsam die Selbstbiographie, die Charakterschilderung des theuren Bruders, dessen Beispiel wesentlich auf meine geistigen Bestrebungen eingewirkt hat und den ich so viele Jahre zu überleben bestimmt bin."63 Wird also in der Deutung Alexander von Humboldts das Werk zum Inbegriff des Lebens, das doch beendet ist oder zu enden droht, so sichert er zur anderen Seite hin die Integrität von Subjektivität und Werk, indem er sie als Spiegel der physischen Welt ausgibt: „In dem innersten empfanglichen Sinn des Menschen reflectirt lebendig und wahr sich die physische
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Ralph-Rainer Wuthenow: Autobiographien, in: Vom Nachmärz zur Gründerzeit: Realismus 1848—1880 (Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Bd. 7, hg. von Horst Albert Glaser), Reinbek 1982, S. 89-100, hier S. 97. Die Analyse der verschiedenen Redeinstanzen in der Relation histonque nimmt Ottmar Ette im Nachwort der Reise vor (S. 1576-1581). Vgl. auch Ette: Weltbewußtsein, S. 161, wo „komplex ineinandergeschachtelte Erzählerfiguren" genannt werden. Varnhagen, S. 111 (Brief vom 13.6.1843). Wilhelm von Humboldt: Sonette, Berlin: Georg Reimer 1853, S. III-IV.
Der Autor Humboldt
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Welt." Und weiter ist die Rede von den „Sprachformen, die aus der Individualität des Charakters gleichsam organisch erwachsen."64 Zu diesem Zeitpunkt hat Alexander von Humboldt allerdings schon längst die Semantik des Lebenswerks offiziell auf den Kosmos übertragen und damit dieses Buch mit einem wichtigen Signal für eine symbolische Lektüre versehen. Schon 1830 schreibt er, noch mit Blick auf die Kosmosvorlesungen, aus denen dann der Kosmos werden soll, an Arago: „Je vais porter ä Paris tout mon cours allemand d'Astronomie et de Geographie physique pour pouvoir te consulter sur bien des points. J'ai la pretention d'y tout cencentrer. / C'est l'ouvrage de ma vie entiere, auquel je mets plus de soin."65 Die Formulierung wird fast zur Formel, die auf deutsch lautet wie in einem Brief an Bessel von 1834: „Es ist das Werk meines Lebens, soll abspiegeln, was ich mir für Vorstellungen und Trugbilder von dem ergründeten und nicht ergründeten Zusammenhange der Erscheinungen schuf. Das Werk, das ich vor 20 Jahren (auch prätentionsvoll und zu unbestimmt) das ,Buch von der Natur' nennen wollte, hat also subjective Wichtigkeit.66 Die „subjective Wichtigkeit" entsteht auch aus der Parallele von Lebenslauf und fortschreitendem Wissen, wobei das selbst akkumulierte Wissen und das zunehmende Wissen der Epoche gemeint sind. Die Summe dieses Wissens ziehen zu können, sein Zerfallen in Spezielles und Unübersichtliches aufhalten zu können, das verspricht der Verfasser des Kosmos kraft seiner Biographie und mit dem Hinweis auf sein Bestreben, das gewissermaßen naturwüchsig in ihm wirkt: Wenn durch äußere Lebensverhältnisse und durch einen unwiderstehlichen Drang nach verschiedenartigem Wissen ich veranlaßt worden bin mich mehrere Jahre und scheinbar ausschließlich mit einzelnen Disziplinen: mit beschreibender Botanik, mit Geognosie, Chemie, astronomischen Ortsbestimmungen und Erdmagnetismus als Vorbereitung zu einer großen Reise-Expedition zu beschäftigen; so war doch immer der eigentliche Zweck des Erlemens ein höherer. Was mir den Hauptantrieb gewährte, war das Bestreben die Erscheinungen der körperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhange, die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganze aufzufassen. 67
Die Disziplinen sind hier nicht als unhintergehbare Praxis naturwissenschaftlicher Forschung beschrieben, sondern als Propädeutik in einem individuellen Bildungsweg. Individuation vollzieht sich als Integration des Vereinzelten zum Ganzen. Was hier behauptet wird, empfiehlt sich als 64 65
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Ebd., S. V, VII. Correspondance d'Alexandre de Humboldt avec Frangois Arago. 1 8 0 9 - 1 8 5 3 . Publiee avec une preface et des notes par E.-T. Hamy, Paris: Ε. Guilmoto 1907, S. 94 (Brief aus Potsdam vom 10.7.1830). Briefwechsel zwischen A. v. Humboldt und F. W. Bessel, S. 82 (Brief vom 14.7.1833). K, S. 3.
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exemplarischer oder stellvertretender Bildungsprozess allen Lesern, die mit der Reduktion unüberschaubarer Wissensbestände auf die eigene Fassungskraft beschäftigt sind. Die Suggestion dieses Modells geht von der Transformation vermeintlich synchroner Sachverhalte in eine biographische und biologische Dynamik über, von der dann nicht mehr gefragt wird, an welchem Punkt sie eigentlich ihr Ziel erreicht. So stellt es die Vorrede eingangs dar.68 Am Ende der Vorrede hat sich jedoch das Verhältnis von synchron verfügbarem Wissen und dynamischem Bildungsprozeß umgedreht. Da ist von „zunehmender Schärfe der Instrumente und allmäliger Erweitrung des Horizonts der Beobachtung" die Rede und davon, dass „veraltete naturwissenschaftliche Schriften als unlesbar der Vergessenheit übergeben werden." 69 Ist daher inzwischen das Objektwissen einer unhintergehbaren Dynamik unterworfen, so präsentiert sich nun das Subjektive, nämlich die „Tiefen der Gefühle und der schöpferischen Einbildungskraft" der „rein litterarischen Geistesproducte" als gewissermaßen zeidos. „Ein Versuch, die Natur lebendig und in ihrer erhabenen Größe zu schildern, in dem wellenartig wiederkehrenden Wechsel physischer Veränderlichkeit das Beharrliche aufzuspüren, wird daher auch in späteren Zeiten nicht ganz unbeachtet bleiben." 70 Einerseits darf die allmählich sich vollendende Erkenntnis Humboldts nach Belieben auf die Entwicklung individueller oder kollektiver Bildung, ja auf den gesellschaftlichen Fortschritt schlechthin bezogen werden; andererseits bietet der Verfasser am Ende der Vorrede Bildung in ihrer statischen, in ihrer kanonischen Gestalt an, als das Bleibende, was die Dichter stiften. Zwischen dem transdisziplinären Erforscher der ganzen Natur und dem Schriftsteller, der vermöge seiner Einbildungskraft die ganze Natur darstellen kann, liegt jedoch ein Sprung von einem kulturellen System ins andere, von der Wissenschaft in die schöne Literatur. Nicht mehr die Einheit des Objekts, mit dem sich der Autor beschäftigte, sondern nur noch die biographische Integrität des Subjekts, das jeweils mit Natur befasst ist, kann zwischen beidem vermitteln. Der Lebenszusammenhang muss also gegen die längst vollzogene Ausdifferenzierung zwischen „Wis68
Wie Maximilian Nutz (Das Beispiel Goethe, S. 617) im Blick auf die Kanonisierung Goethes vorführt, kann „der Sinnzusammenhang eines großen Lebens [...] die Funktion eines Ersatztelos übernehmen, das den drohenden Verlust universalgeschichtlicher Perspektiven der Humanisierung des Menschengeschlechts kompensiert." Nutz weist auch auf die für diesen Vorgang günstige Aquivokation von Leben und Werk hin (S. 608) und auf Varnhagen von Ense als Vordenker einer harmonischen Synthese von Subjektivität und objektiven Ordnungen.
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K , S. 6. K , S. 7.
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senschaft" und den „Tiefen des Gefühls" aufgeboten werden. Während die Empfindung und die Einbildungskraft sich ohne weiteres individualisieren lassen, ist es mit dem empirischen Wissen der Welt kaum möglich. Es kann nur geschehen, indem Humboldt konsequent versucht das zu überlisten, was Hans Blumenberg die Diskrepanz von „Lebenszeit und Weltzeit" genannt hat. In seinem Buch mit diesem Titel beschreibt Blumenberg, wie Natur nach dem „Primat der exakten Wissenschaftlichkeit" immer weniger der Inbegriff der Objekte ist, die ein „als Naturstück sich auffassendes Subjekt" sich aneignen könne.71 Und noch ein Zitat, das für die Lektüre des Kosmos zu vergegenwärtigen ist: „Die Institutionalisierung der Wissenschaft hat gegen die lebensweltliche Diskontinuität der Erfahrung deren Homogenisierung durchgesetzt."72 Die Tendenz dieser Entwicklung dreht Humboldt jedoch in der autobiographischen Perspektivierung der Wissenschaftsgeschichte wieder um. Er ist zwar bei der Darstellung der ganzen physischen Welt auf die Vorlagen eines hochdifferenzierten Wissens angewiesen. Doch stellt er diese institutionalisierten Wissensbestände gerne als lebensgeschichtliche Kontinuität von Erfahrungen dar. Es ist nicht Humboldt, der die Wissenschaft der Epoche zusammenfasst und übersichtlich darstellt, sondern umgekehrt, aus der Rekonstruktion der Wissensbestände soll man Humboldt verstehen lernen, wie im Brief an Encke von 1844 bekräftigt: „Das Subjective mag vorwalten, man soll nach meinem Tode aus meinen Schriften einmal lesen, mit wem ich gelebt, wer auf mich eingewirkt hat. Darin liegt keine Schande."73 Der Biograph Alfred Dove, der dieses Zitat heranzieht, um die Intentionen hinter dem Kosmos zu rekonstruieren, verübelt seinem Verfasser die „Subjectivität": „Nirgend vielleicht macht sich diese Subjectivität greisenhafter geltend als in der erwähnten Einleitung zum fünften Bande."74 Was Dove jedoch nicht bemerkt, ist die bedeutsame Engführung von Subjektivität, Autobiographie, Epoche und universalem Wissen, aus der Humboldt erst die Beschreibung der gesamten physischen Welt entstehen läßt. Es ist ein Verweisungszusammenhang von jeweils kleineren bis zu immer größeren Individualitäten, die das Unermessliche auf die Dimension zurückfuhren, in der es in die Nationalliteratur und das Bewusstsein der Gebildeten eingehen kann. So kommentiert Humboldt den dritten Band des Kosmos, in einem Brief an Bunsen:
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Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, 3. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 29. Ebd., S. 173. Zit. n. Dove in Bruhns: Alexander von Humboldt, Bd. 2, S. 372. Ebd., S. 418.
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Naturforschung als Bildung: Von der Vorlesung zum literarischen Kanon A n d e m einzelnen Material ist v o n mir gesammelt u n d niedergeschrieben v o m L e b e n mit Laplace, A r a g o , D a v y u n d W o l l a s t o n an bis z u m Leben mit Bessel, Encke, Argelander u n d Melloni. Wissbegierde hat gemacht, dass w o h l wenige M e n s c h e n , 6 2 J a h r e lang (so w e i t ist es her, als G e o r g F o r s t e r m i c h in die V o r w e l t zu Sir J o s e p h Banks, Cavendish, William Herschel führte), so viel aus d e m U m gange b e r ü h m t e r Zeitgenossen g e s c h ö p f t h a b e n als ich! 7 5
Zunächst scheint Humboldt sein langes Leben noch über seine Grenzen ausdehnen zu wollen, indem er sich im Verhältnis mit den viel Älteren und Jüngeren zeigt. Doch die historischen Grenzen der mittelbar erfahrenen Epochen sind auch schnell erreicht. Humboldt setzt nun die individuelle Erkenntnis der Natur über die Erfahrung ihm persönlich Bekannter Zeugen hinaus in die Weltgeschichte des Naturwissens fort. Geschichte rückt, wie es wiederum Blumenberg darstellt, vermittelnd zwischen die Lebenszeit und die Weltzeit. Humboldt kennt jedoch noch einen anderen Weg, um seine Lebenszeit nicht vollends an ein Kollektivsubjekt der Wissensgeschichte preisgeben zu müssen. Zwei Möglichkeiten gibt es, aus der unaufhaltsamen Geschichtlichkeit der wissenschaftlichen Naturerkenntnis herauszuspringen: Mythisierung und Kanonisierung. Auf jene lässt sich Humboldt eher im Scherz und in privaten Briefwechseln oder Gesprächen ein: Er spricht von seinem „grauen Orinokohaupt",76 seinem „präadamitischen Alter", seinem „Uralter", bezeichnet sich als „antedeluvianischen [...] Reisenden"77 oder gerne als „Der Alte vom Berge"78 und grüßt „mit urweltlicher Verehrung."79 Der Stilisierung ins Prähistorische stellt sich die Utopie und Ubiquität an die Seite. Er ist nicht nur der Alte vom Berge, sondern auch der Mann aus den Wäldern des Orinoko, also in märchenhafte Fernen, außerhalb der Tagesgeschichte und der Lokalgegebenheiten gestellt. Schon in der Geogra-
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Der Autor Humboldt
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phie der Pflanzen betonte er seine Kenntnis beider Hemisphären,80 also doch wohl der ganzen Welt, eine Suggestion, die er in der Konversation gerne wachhielt. „He had the gift of making himself ubiquitous", faßte Louis Agassiz den Eindruck zusammen, den er bei vielen weckte.81 Eine Karikatur aus dem Jahr 1853 nimmt die Rede von Humboldts Allgegenwärtigkeit auf, indem sie unter der Überschrift „Ein deutscher Bürger beider Welten" den kopflastigen Feldforscher, den Knotenstock in der einen, den backsteinartigen Kosmos in der anderen Hand auf einen winzigen Globus stellt. Sein Schatten reicht bis ans Ende der Welt (vgl. Abb. 12).82 Vom Scherz und der Koketterie der gelegentlichen Äußerungen und Mythisierungen führt ein moderaterer Weg in den Kosmos·. „Ich übergebe am späten Abend eines vielbewegten Lebens dem deutschen Publikum ein Werk, dessen Bild in unbestimmten Umrissen mir fast ein halbes Jahrhundert lang vor der Seele schwebte."83 Und: „Es ist mir ein Glück geworden, das wenige wissenschaftliche Reisende in gleichem Maaß mit mir getheilt haben: das Glück, nicht bloß Küstenländer, wie auf den Erdumseglungen, sondern das Innre zweier Continente in weiten Räumen [...] zu sehen."84 Was der empirische Autor nicht nachweisen kann, Unsterblichkeit und Allgegenwärtigkeit, das sucht die Bestimmung des Lebenswerkes zu einer kanonischen Bildungslektüre zu erreichen.85 Humboldts ausgeprägter Sinn für Kanones verriet sich in seiner tatkräftigen Unterstützung der Dekorateure, die für das Berliner Fest der deutschen Naturforscher und Ärzte des Jahres 1828 die Namen der 80 81
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GP, S. 53, 55. Gespräche, S. 123. In den Gesprächen auch weitere Zeugnisse: „Während des Essens führte er uns nach Chili und China, nach Mexiko und Kamschatka, in die Sonne und auf den Merkur. Alles mit einem leichten Faden umschlungen" (zu Friedrich Trendelenburg, S. 128); „In einem Jahre [...] war ich zugleich in Mexiko, in Peru, in der Südsee und in Rom; in einem anderen in der chinesischen Provinz Iii, in Sibirien, in Berlin und Paris" (zu Friedrich Althaus, S. 290); „Wem hat er nicht alles die Hand gedrückt, w o ist er überall gewesen, ein menschlicher Tempel" (zu Bayard Taylor, S. 378). Haiina Nelken: Alexander von Humboldt. Bildnisse und Künsder, Berlin: Reimer 1 9 8 0 , S. 116. K , S. 3. K, S. 4. Eine allgemeine Beschreibung der verschiedenen Funktionen v o n Kanones gibt Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und polirische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck 2 0 0 0 (=Becksche Reihe 1307), S. 127: „Wir bestimmen Kanon daher als das Prinzip einer kollektiven Identitätsstiftung und -Stabilisierung, die zugleich Basis individueller Identität ist, als Medium einer Individuation durch Vergesellschaftung, Selbstverwirklichung durch Einfügung in das ,normative Bewußtsein einer ganzen Bevölkerung' (Habermas). Kanon stiftet einen Nexus zwischen Ich-Identität und kollektiver Identität. Er repräsentiert das Ganze einer Gesellschaft und zugleich ein Deutungs- und Wertsystem, im Bekenntnis zu dem sich der Einzelne der Gesellschaft eingliedert und als deren Mitglied seine Identität aufbaut."
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Naturforschung als Bildung: Von der Vorlesung zum literarischen Kanon
Größten silberfarbig auf blauem Grunde anordnen sollten, auf die Apotheose der Verewigten anspielend. Dass die Liste der Berühmten eines Tages um den Namen des prominenten Gastgebers zu verlängern sein würde, ließ sich denken. Im Brief an Felix Mendelssohn sprach Humboldt selbst von der Monumentalisierung der historischen Naturforscher und Arzte als einem Kanon. Von diesem Kanon ist es nicht weit zum Kosmos, der mit der Beschreibung der physischen Welt den Katalog der Helden, die sich um ihre Erkenntnis verdient gemacht haben, gleich mitliefert. Nicht nur der literargeschichtliche, der kunsthistorische, der landschaftsgärtnerische Teil listet unvergessliche und unverzichtbare Werke auf, auch die Geschichte der physischen Weltanschauung tut es, und auch das Naturgemälde und einzelne Deskriptionen ziehen die lobende Erinnerung an die Entdecker und Gelehrten stets im Text oder in den Fußnoten mit. In die verschiedenen Kataloge der wichtigen Namen lässt Humboldt seinen eigenen immer wieder einfließen. Sei es, dass er sich auf eigene Studien bezieht, sei es, dass seine eigene Kunst der Landschaftsschilderung aus den Würdigungen der Maler und Dichter durchschimmert. Die „Anregungsmittel zum Naturstudium" deuten durch Humboldtzitate den Platz an, der zumindest seinen Ansichten in der Weltliteratur der Naturbeschreibung zu reservieren ist, die Ideen einer Geographie der Pflanzen weisen der neuesten Landschaftsmalerei den Weg. Humboldt macht sich implizit zum Historiker und Laudator seiner selbst. Ähnliches gilt für die großen Werke der Naturphilosophie und Naturbeschreibung. Plinius ist einer der Vorläufer Humboldts, und zu zwei anderen bekennt er sich in der Einleitung zum fünften Band, anthropologische oder autobiographische Parallelen unterstreichend: „Als Descartes an seinem Kosmos, le Traite du Monde, arbeitete" — mit diesen Worten leitet Humboldt eine Klage über die Mühsal der Arbeit ein, unter der schon sein Vorgänger unter historisch weniger komplexen Bedingungen gelitten habe. 86 Geradezu als „translatio imperii" wird eine andere Nachfolge beschrieben: „Ich wünschte ein Werk zu liefern nach dem großen Vorbilde der Exposition du Systeme du Monde von Laplace, in dessen anregender Nähe ich in Arceuil und im Bureau des Longitudes auf der Pariser Sternwarte mit Gay-Lussac und Arago, über zwanzig Jahre das Glück hatte zu verleben." 87 Humboldt bietet seinem Publikum einen bislang wenig geläufigen Objektbereich, die empirische Natur, als Bildungsinhalt an, der aus seiner Biographie in die der Leser übergeht und von dort in die kulturelle Identität und eine gesellschaftliche Dynamik. Zugleich aber verallgemeinert er 86 87
K, S. 686. K , S . 871.
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den historischen Überblick, den er persönlich hat, zum Kanon, in dem er selber, seine Leistungen und Schriften zum historischen Datum werden. Insofern er die Textform des Kanons aufgreift, sucht der Kosmos seine Wirkung nicht mehr in einem gebildeten Publikum, sondern in der Repräsentation, der Geschichtschreibung, der gesellschaftlichen und nationalen Funktion der Bildung. Der Kosmos wird daher nicht nur zu einem offiziell anerkannten Bestandteil der Nationalliteratur, weil er individuell repräsentiert, was viele oder alle interessieren kann oder sollte. Humboldts „Lebenswerk" ist zugleich ein Werk darüber, was Nationalliteratur, was Bildung leisten sollen, es ist die normative Beschreibung des allgemeinen Phänomens, auf das der Kosmos als physische Weltbeschreibung den exemplarischen Fall darstellt. Der Verfasser entfaltet rhetorisch das Bildungsideal und die öffentliche Sphäre, in deren Zusammenhang sein Buch seinen Rang auf Dauer behaupten soll. Der Kosmos formuliert nicht nur Inhalte, die symbolisch zu lesen wären, es schreibt zugleich vor, was Natur, Kultur, Sprache, Nation, Freiheit, Geist Geschichte zu einem unauflöslichen Komplex macht, nämlich Bildung. Vor allen Dingen versucht Humboldt, diesen Zusammenhang von Bildendem, SichBildendem und Gebildetem aus ihrer urwüchsigen Natürlichkeit herzuleiten. Als Text manifestiert der Kosmos aber weniger die Genese aller Totalitäten aus der Natur, sondern ihren sprachlichen, rhetorischen Ursprung. Dennoch ist der Kosmos ein objektives Buch. Objektiv wohl nicht im Blick auf die Ganzheit und Einheit der Empirie, denn sie bleibt der Effekt einer Konstruktion; objektiv aber im Erfassen eines normativen und mentalitätsgeschichtlichen Komplexes, in dem „Bildung" als stetige Verstrebung und gegenseitige Legitimation von Natur und Kultur, von Individuum und Gesellschaft, von Zustand und Prozess, von Sprache und Volk, von Freiheit und Ordnung, von Geist und Geschichte gemeint ist. Nicht die ganze empirische Natur wird hier abgebildet, jedoch die Funktion der einheitlichen Physischen Welt für die Gesellschaft der Gebildeten sehr wohl. Wenn Humboldt sich seinen Lesern als Symbol des Wissens über den empirischen Kosmos darstellte, so darf man bezweifeln, dass es diesen Kosmos empirisch überhaupt gab. Zum Symbol seiner Epoche, die gesellschaftliche und kulturelle Differenzierung durch Bildung aufzuhalten suchte, wurde Humboldt allerdings auch. Zwei oder drei seiner Werke sind in den Kanon der deutschen Nationalliteratur eingegangen. Vielen, die sie nie gelesen haben, genügt die Vorstellung, dass sie dort an ihrem Platze sind.
Abbildungen
Abbildungsnachweis Abb. 1: Die Gartenlaube 1860, S. 229. Exemplar der Verfasserin. Abb. 2, 3, 10: Alexander von Humboldt. Netzwerke des Wissens. Hg. von der Kunstund Ausstellungshalle Bonn 1999, S. 132, 148, 185. Abb. 4 und 5: Goethe und die Kunst. Ausstellungskatalog, hg. von Sabine Schultze, Ostfildern: Hatje 1994, S. 496, 503. Abb. 6, 7, 11, 12: Haiina Nelken: Alexander von Humboldt. Bildnisse und Künstler. Eine dokumentierte Ikonographie, Berlin: Reimer 1980, S. 157, 158,169, 116. Abb. 8: Alexander von Humboldt: Essai sur la Geographie des Plantes. Reprint. Nanterre: Erasme 1990. Abb. 9: Otto Krätz: Goethe und die Naturwissenschaften, München: Callwey 21998, S. 117.
Abb. 1: Kupferstich nach Andreas Müller aus der Gartenlaube 1860.
A b b . 2: K u p f e r s t i c h v o n Barthelemy Roger nach einer Z e i c h n u n g v o n I?ran/.)toin. Q. 4'a/zurZ/M H^tttUU
Abb. 8: Widmungsblatt zum Essai sur la Geographie desplantes 1807.
Abb. 9: Widmungsblatt an Goethe von 1807 aus den Ideen einer Geographie der Pflanzen nach einer Zeichnung von Berthel Thorwaldsen.
Abb. 11: Alexander von Humboldt, Ölgemälde von Julius Schräder 1859.
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Abb. 12: „Ein deutscher Bürger beider Welten". Karikatur von H. C. König 1853.
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Personenregister Achilleus Tatius 116 Ackermann, Paul 109 Agassiz, Louis 471 Albrecht, Prinz von Preußen 379 Alexander von Mazedonien 393 Althaus, Friedrich 115,117, 423 Anaxagoras 116 Arago, Fran ? ois 338, 343-346, 450, 467, 469, 472 Argelander, Friedrich 470 Ariosto, Ludovico 438 Aristophanes 104 Aristoteles 116,133, 290, 341, 404, 452 Arndt, Ernst Moritz 381 Arnim, Bettine von 338 Äschylos 95,116 Bachelard, Gaston 124,165 Bacon, Francis 162, 216 Banks, Joseph 470 Barth, Karl Friedrich 80 Bartsch, August Johann Georg Carl 127 Basilius d. Gr. 436 Baumgarten, Alexander Gottlieb 81 Beer, Ephraim 46ff. Berghaus, Heinrich 107, 208, 351 Bernardin de St. Pierre, Jacques Henri 226, 257f., 434, 436,439 Berthollet, Claude-Louis 200 Bertuch, Friedrich Justin 251 Bessel, Friedrich Wilhelm 344-347, 352, 360, 391,413, 467, 469 Biester, Johann Erich 34-36, 40f., 77, 198 Biot, Jean-Baptiste 310 Black,John 307 Blumenbach, Johann Friedrich 21, 94, 105,129,172, 385, 455, 457 Blumenberg, Hans 103, 211 f., 239f., 469f. Böckh, August 94f., 98, 107ff., l l l f . , 117, 290, 408f., 412, 434 Böhme, Hartmut 17 Bois-Reymond, Emil du 98f., 106,117, 161,353, 387 Boisseree, Sulpiz 464 Bonpland, Aime 1, 177f, 180f., 191, 193, 199, 201 f., 236, 240, 254, 300, 439, 453, 478
Bopp, Franz 95, 111 Borchardt, Rudolf 9 Bouguer, Pierre 196 Bouquet, Louis 246 Brahe, Tycho 407 Brinkmann, Karl Gustav von 44, 135, 318, 460 Brockes, Barthold Hinrich 229 Bruce, H. 105 Buchholz, Friedrich 371 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 85,124, 209, 226, 229, 230f., 294, 395, 434 Bunsen, Carl Josias Freiherr von 469 Büsch, Johann Georg 42f. Calderon de la Barca, Pedro 434, 438 Camöens, Luis de 438 Campe, Joachim Heinrich 37f., 68f., 72, 77, 84, 257 Carus, Carl Gustav 216, 240, 338 Cäsar, Gaius Julius 116, 405 Cavendish, Henry 470 Cervantes, Miguel de 71, 78 Champollion, Jean F r a ^ o i s 94 Chateaubriand, Francois Rene de 226, 228, 257, 273, 301, 434ff., 440 Chladni, Ernst Florens Friedrich 172 Cicero, Marcus Tullius 104, 116, 436 Claudius, Mathias 43 Cook, James 184 Cotta,Johann Friedrich 138, 306, 351, 372, 462 Cotta J o h a n n Georg 139, 250, 459, 462f. Cuvier, Georges 183, 203 Dante Alighieri 407, 438 Darwin, Charles 396 Davy, Humphrey 469 Defoe, Daniel 257 Delambrejean Baptiste Joseph 196 Deila Porta, Giovanni 239 Descartes, Rene 472 Desfontaines, R.L. 316 Diderot, Denis 77, 399 Diede, Charlotte 153 Diodor 116 Diogenes Laertius 116
520
Personenregister
Dirichlet, Peter Gustav Lejeune 372 Dohm, Christian Wilhelm 38, 40, 41, 77 Dove, Alfred Iff., 345, 386f., 389f., 415, 444, 469 Dryden, John 380 Düsen, Robert van 11
4 3 5 ^ 3 8 , 440f., 444, 455-461, 463ff., 490 Goldstücker, Theodor 434 Gottschall, Rudolf von 441^-44 Grimm j a c o b 109, 209, 434f. Grimm, Wühelm 209, 434f.
Ebeling, Christoph Daniel 42 Empedokles 290 Encke, Johann Franz 470 Engel, Johann Jakob 21, 38, 40f., 77f., 83, 86, 97 Ercilla, Alonso de 439 Ette, Ottmar 17, 189,211 Euripides 116 Eyries, J.B.B. 311
Hacken, Philipp 250 Haeften, Reinhard von 55, 61, 63 Haenke, Thadäus 255 Hagstrom, Warren Ο. 14 Händel, Georg Friedrich 379 Hard, Gerhard l l , 2 2 3 f . Hase, Carl Benedikt 94 Hauff, Hermann 206 Haym, Rudolf 38 Hegel, Georg Wühelm Friedrich 77, 92, 267ff, 286, 294, 41 Of, 423 Hentschel, Cedric 11 Herder, Johann Gottfried 77, 83-88, 111, 128, 142, 149-152, 155, 218, 243, 255f, 314, 323, 394, 399, 402, 418f, 456, 461 f. Herodot 108,116, 405 Herschel, William 470 Herz, Henriette 39,41 f , 44, 46, 49f, 71, 97 Herz, Marcus 34f., 41, 48, 52, 75 Hesiod 116 Heyne, Christian Gotdob 36, 42, 94, 98f, lOOf, 104ff, 111,114,117, 408, 419f, 455 Hippokrates 78, 116 Holtei, Karl von 362 Homer 101, 104,111, 116, 318, 427, 438 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 78, 104, 279, 380 Hufeland, Christoph Wühelm 172 Hugo, Gustav 105 Hugo, Victor 301 Humboldt, Alexander Georg von 326 Humboldt, Caroline von 130, 200, 324, 350, 364 Humboldt, Caroline von, geb. von Dacheröden 42, 125 Humboldt, Marie Elisabeth von, geb. Coulomb 33, 37, 39, 298, 326 Humboldt, Wühelm von 10, 22f, 33ff, 37f, 44, 46, 56f, 59, 64, 68f, 73, 75, 77, 94ff, 100, 105, 109, l l l f f , 117, 122, 125,127, 129f, 132f, 135, 138, 142, 153,156,173, 197f, 209, 218, 270f, 317f, 322-325, 339, 350, 356,
Faye, H. 306 Fernow, C. G. 225 Fichte, Johann Gottlieb 77, 127, 147, 152, 155, 323, 338, 410, 457 Fischer, Ernst Gottfried 38, 86ff., 187 Forster, Georg 21, 34, 89,101, 106,184, 195, 216, 226, 244, 255, 257, 273, 294, 307, 310, 363,434, 436, 439, 455, 470 Forster, Therese, geb. Heyne 42 Foucault, Michel 14 Fourcroy, Antoine Francois de 193 Freiesleben, Karl 43, 55, 58-63, 65, 72, 139 Freytag, Georg Wilhelm Friedrich 434 Friedrich II. (der Große) 210 Friedrich Wilhelm III. 207, 332, 380 Friedrich Wilhelm IV. 321, 464 Galusky, Ch. 306, 311 Gatterer, Johann Christoph 419 Gauß, Karl Friedrich 183, 345f., 376 Gay-Lussac, Louis Joseph 251 f., 472 Gedike, Friedrich 36, 41 Gentz, Friedrich von 318 Gerard, Francois 188, 422 Gervinus, Georg Gottfried 433f. Gilpin, William 225 Gmelin, F.G. 205 Goethe, Johann Wolfgang von 1, 3, 6, 8, 22f., 67, 72, 121-125,127-131,139, 142,146,150,153ff„ 165,173, 216, 226, 239, 241, 246, 249, 250-254, 300, 313, 317ff., 337, 339, 347, 351 f , 369, 380, 382f, 385, 387, 399, 402,
Personenregister 361, 375f., 400-403, 409, 420-425, 433f., 450, 456f„ 460, 462, 464, 466 Hume, David 77 Immermann, Karl Leberecht 446 Jacobi, Carl Gustav Jacob 412, 415f. Jacobi, Friedrich Heinrich 34ff., 71, 82, 86, 100 Jacobi, Max 127,129 Jerusalem, Johann Friedrich 83 Julien, Stanislas 434 Jussieu, Antoine Laurent de 241, 316 Kamptz, Karl 374 Kant, Immanuel 21, 75f., 85, 134,150, 164, 218, 227, 233, 236, 257,260ff., 267ff., 284, 293f., 382, 394, 410 Karl August, Herzog von Sachsen-Weimar 125 Kaulbach, Wilhelm von 288 Kepler, Johannes 384 Klein, Ernst Ferdinand 38 Klopstock, Friedrich Gottlieb 43 Kolbe, Heinrich Christoph 464 Kolumbus, Christoph 1, 407, 436, 439 Kopernicus, Nikolaus 384 Körner, Christian Gottfried 132,139, 156, 461 f. Körner, Theodor 380 Koselleck, Reinhart 35 Kuhn, Thomas 14, 159 Kunth, Karl Sigismund 202 La Condamine, Charles Marie de 196 Laktanz 78 Lamethrie, Jean Claude de 43 Laplace, Pierre Simon 200, 462, 469, 472 Lassen, Christian 95, 112, 434 Latreille, Pierre Andre 203 Lavater, Johann Caspar 239 Leibniz, Gottfried Wilhelm 64, 76, 81, 85, 382 Leonardo da Vinci 407 Lepenies, Wolf 261 Lessing, Gotthold Ephraim 77, 82f., 111, 141, 281 f. Letronne, Jean-Antoine 94 Lichtenberg, Georg Christoph 21, 75f., 82, 94,105,216, 455, 457 Lichtenstein, Martin Hinrich 367,374ff., 381 Linne, Karl von 240f., 253, 257, 384
521
Livius, Titus 116 Locke,John 77, 83 Loder, Justus 127, 129f., 160, 457 Longus116 Lorrain, Claude 224 Löwenberg, Julius 206 Lucan116 Lukrez (Titus Lucretius Caro) 438 Macgillivray, W. 308 Maclean, Archibald 70 Matthisson, Friedrich 281 Melloni, Macedonio 470 Mendelssohn, Henriette 42 Mendelssohn, Moses 34f., 38, 40£, 77£, 80, 83, 8 6 f , 111 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 381, 383, 472 Meusel, J.G. 357 Meyer, Johann Heinrich 127, 129 Michaelis, Johann David 36, 94, 98, 105£, 111,114, 408, 419f. Mitscherlich, Eilhard 95 Montauban, Nathalie de 335, 337 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de 243 Moritz, Karl Pilipp 38, 41, 76, 97, 338 Müller, Adam 338 Müller, Andreas 464 Müller, Friedrich von 384 Mündt, Theodor 445 Mutis, Jose Celestino 191 Nadler, Josef 326 Napoleon Bonaparte 209 Nerciat, Andrea de 94 Neumann, Johann Leopold 69 Newton, Isaac 85 Nicolai, Friedrich 35, 40f., 77, 207 Niebuhr, Barthold Georg 117, 423 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 216 Oken, Lorenz 367, 369-372, 374, 377, 379f. Olbers, Wilhelm 385 Olfers, Ignaz von 434 Oltmanns, Jabbo 202 Origenes116 Ostwald, Wilhelm 441 Ovid (Publius Ovidius Naso) 116, 439 Parmenides 290 Petrarca, Francesco 64
522
Personenregister
Petronius Arbiter 105 Pfaff.Johann Friedrich 172, 255 Piccolomini, Aeneas Sylvius 407 Pictet, Marc-Auguste 172, 296, 300, 307, 309 Pindar 95,116 Platner, Ernst 77 Plato 116 Plautus, Titus Maccius 104,105 Plinius (Gaius Plinius Caecilius Secundus, d.J.) 188, 422 Plinius (Gaius Plinius Secundus, d.Ä.) 101, 116,131,133, 372,404, 472 Plutarch 116 Polo, Marco 407 Polybius 116 Pope, Alexander 81, 83 Poussin, Nicolas 224 Prutz, Robert 443 Pückler-Muskau, Hermann Fürst von 321 Pückler-Muskau, Lucie Fürstin von 337 Pythagoras 116, 144f., 290 Ramler, Karl Wilhelm 36, 41 Ranke, Leopold von 109, 423 Raumer, Friedrich von 109, 336, 339, 346, 462 Recke, Elisa von der 41, 46 Reichardt, Johann Friedrich 138 Reimarus, Johann Albert Heinrich 43 Rellstab, Ludwig 381 f. Ritter, Carl 334 Ritter, Joachim 25, 156 Ritter, Johann Wilhelm 166 Ross, Th. 308 Rousseau, Jean Jacques 65f., 77, 258f., 434, 436 Rückert, Friedrich 380, 447 Runge, Philipp Otto 225 Rungenhagen, Karl Friedrich 380 Sachs, JohannJakob 369, 380, 382 Sacy, Silvestre de 94 Saphir, Moritz Gottlieb 340 Saussure, Horace Benedict de 251 f. Scheele, Karl Wilhelm 384 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 77,216,218, 256, 270, 273, 312f, 401 Schiller, Charlotte von 125 Schüler, Friedrich von 22f., 25, 28, 72£, 110,121,123-128,130-140,142, 146-153,155-158, 219, 233, 236, 255, 281 f., 314, 318f., 325, 340, 380,
382, 384f., 432f., 435,437, 441, 443f., 455, 456f., 459, 460-464 Schinkel, Karl Friedrich 382 Schlegel, August Wühelm 109, 325f., 338f., 354 Schlegel, Friedrich 49, 140 Schleiermacher, Friedrich 338 Schleucher, Kurt 4 Schlözer, August Ludwig von 419 Schnabel, Johann Gottfried 257 Schönberger, Lorenz Adolf 246 Schräder, Julius 464 Schumacher, Heinrich Christian 303, 345 Schütz, Christian Gottfried 126 Semler, Ch. A. 225 Seneca, Lucius Annaeus 162 Sengle, Friedrich 11,12, 25 Shakespeare, William 438 Simmel, Georg 221 Sokrates 78, 116 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 49 Sömmering, Samuel Thomas 172, 385 Sophokles 116, 438 Soulavie, Jean-Louis 256 Spinoza, Baruch de 77, 82f. Spittler, Johann Thimoteus, Freiherr von 94, 419 Stäel, Germaine de 318 Starcke, Thomas 251 Stein von Altenstein, Karl Friedrich 374f. Sternberger, Dolf 222 Sterne, Lawrence 185 Stichweh, Rudolf 179, 354 Stifter, Adalbert 444 Stolberg, Christian Graf von 43 Strabo 101, 108, 116, 398,405 Struve, K.F. 240 Sueton (Gaius Suetonius Tranquillus) 116 Sulzer, Johann Georg 225, 293f. Süßmilch, Johann Peter 83 Tacitus, Publius Cornelius 405 Teller, Wühelm Abraham 36, 41 Terenz (Publius Terentius Afer) 78 Theophrastes 116 Thomasius, Christian 53 Thorwaldsen, Bertel 249, 252f, 260, 317, 460, 463 Tibull (Albius TibuUus) 116, 436 Tieck, Ludwig 49, 338, 434, 438, 443, 450 Turpin, Pierre Jean Francois 246 Usteri, Paul 43, 205
523
Personenregister Valenciennes, Achille 183, 203, 212 Varnhagen von Ense, August 117, 212, 236,273f., 276, 278, 292f., 301, 420, 423, 446f., 466 Varnhagen, Rahel, geb. Levin 39, 45 Veit, Dorothea, geb. Mendelssohn 50 Vergil (Publius Vergiüus Maro) 78, 101, 104,116 Villemain, Abel Frangois 301 Villoisin, Jean Baptiste Gaspard d'Ansse 94 Vitruv (Vitruvius Pollio) 116 Volta, Alessandro 172 Voltaire (Francois Marie Arouet) 77, 418 Voß, Johann Heinrich 137 Wattenbach,Paul Christian 43 Weber, Carl Maria von 381 Wegener, Wilhelm Gabriel 34ff., 42, 55f., 58, 60f., 64, 69, 76ff., 81 ff., 97f., 101, 104f., 111,401
Werner, Abraham Gotdob 22, 395 Wiegleb, Johann Christian 75 Wieland, Christoph Martin 46, 49, 71, 153f., 461 Willdenow, Karl Ludwig 33, 64, 197, 199,
202
Winckelmann, Johann Joachim 97, 115, 243, 283, 360 Wolf, Friedrich August 94,100, 408f., 462 Wolff, Christian 77, 79, 87 Wollank, Friedrich 380 Wollaston, William Hyde 462, 469 Woltmann, Karl Ludewig 105, 126 Wolzogen, Caroline von 42 Zelter, Karl Friedrich 339, 350f., 380 Zimmermann, Eberhard August Wilhelm von 255 Zöllner, Johann Friedrich 38, 40f., 48, 72, 86